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German Pages 576 Year 2020
Julia Elven Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Kulturen der Gesellschaft | Band 44
Julia Elven (Dipl.-Soz.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Sie promovierte im Fach Soziologie an der Universität zu Köln und forscht zu sozialen, insbesondere organisational vermittelten Bedingungen von Bildungsprozessen in Studium und beruflicher Laufbahn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien sozialen Wandels, Bildungs- und Laufbahnforschung sowie Organisationsforschung.
Julia Elven
Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis Eine praxistheoretische Forschungsperspektive
Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2020 Diese Dissertation wurde von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln (August 2019) angenommen.
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Inhalt
Danksagung ................................................................................... 9 1
Einleitung................................................................................ 11
Teil I: Soziologie sozialen Wandels 2
Sozialer Wandel als Gegenstand soziologischer Theorienbildung ........................ 21
3 3.1 3.2 3.3
Die modernisierungstheoretische Hegemonie der Soziologie sozialen Wandels ......... 25 Soziologie – Moderne – Sozialer Wandel .................................................................... 25 Wandel als konstitutiver Aspekt von Moderne ............................................................ 29 Sozialer Wandel als Modernisierung .......................................................................... 31
4 4.1 4.2 4.3
Zwei Lesarten von Moderne und alternative Rekonstruktionen sozialen Wandels ....... 43 Sozialer Wandel im modernisierungstheoretischen Narrativ ......................................... 45 Kulturtheoretische Narrative und sozialer Wandel....................................................... 58 Konsequenzen der kulturtheoretischen Kritik an der modernisierungstheoretischen Lesart sozialen Wandels ......................................................................................... 67
Sozialer Wandel als Analysefluchtpunkt einer relationalen Soziologie ................... 71 Das Problem substanzialistischer Grundannahmen bei der Rekonstruktion sozialen Wandels ................................................................... 71 5.2 Relationale Soziologie und theoretische Empirie als Grundlagen einer praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels ............................................... 76 5.3 Implikationen eines praxistheoretischen Zugangs der Erforschung sozialen Wandels ......... 81 5 5.1
Teil II: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis 6 6.1 6.2 6.3
Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels ................. 89 Pluralität der praxistheoretischen Perspektive........................................................... 89 Zentrale Prämissen einer praxistheoretischen Soziologie ............................................. 90 Praxistheoretische Prämissen und sozialer Wandel .................................................... 105
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Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels ......................................................109 7.1 Konzepte inkorporierter und objektivierter Praxis als Fluchtpunkte der Wandelanalyse ..... 109 7.2 Der Wandel transversaler Praxismuster ................................................................... 126 7.3 Situation und Kontext .......................................................................................... 132 8 8.1 8.2 8.3
Praxis der Reproduktion und des Wandels ............................................. 135 Soziale Reproduktion durch herrschaftsstabilisierenden Wandel................................... 135 Unbestimmtheitszonen und Praxis des Wandels ........................................................ 138 Kreative Praxis als Praxis des Wandels? ...................................................................144
9 9.1 9.2 9.3
Wandel als praxistheoretische Analysekategorie ...................................... 153 Der dynamische Kern des Praxiskonzepts und die instabile Stabilität der Praxisformen .... 153 Grundzüge einer praxistheoretischen Wandelkonzeption.............................................. 157 Praxistheoretische Wandelforschung ...................................................................... 164
Teil III: Gegenwartsdiagnosen als Zugang einer praxeologischen Wandelforschung 10 Gegenwartsdiagnosen und sozialer Wandel ............................................ 171 10.1 Abgrenzung von modernisierungstheoretischen Gegenwartsdiagnosen ........................... 172 10.2 Praxisfokussierende Gegenwartsdiagnosen zwischen Modernetheorie und Gesellschaftsanalyse ........................................................................................... 175 11 11.1 11.2 11.3
Modernetheorie und Gegenwartsdiagnose .............................................. 179 Die organisierte Moderne....................................................................................... 179 Das Ende der Eindeutigkeit ................................................................................... 183 Wandel von Modernität und Gesellschaftlichkeit: Integration durch Arbeit, Kontingenzsteigerung und Individualisierung.......................................................... 186
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Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnose .........................................195
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Praxeologische Gegenwartsdiagnosen als Interpretationen gegenwärtiger Wandlungsprozesse.....................................................................201 13.1 Ökonomisierung.................................................................................................. 201
13.2 Prekarisierung .................................................................................................... 214 13.3 Ästhetisierung.................................................................................................... 220 13.4 Singularisierung ................................................................................................. 232 14
Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen als analytisches Netzwerk der Rekonstruktion sozialen Wandels ...................................................... 243 14.1 Von der modernisierungstheoretischen Konvergenz zur praxistheoretischen Vernetztheit analytischer Perspektiven............................................................................... 243 14.2 Die spezifische Konstitution praxistheoretischer Gegenwartsdiagnosen......................... 247 14.3 Der Wandel transversaler Logiken als Perspektive auf gewandelte gesellschaftliche Integrationsmuster, Kontingenzsteigerung und Individualisierung ................................ 255
Teil IV: Wandelrekonstruktionen in spezifischen Praxisvollzügen – Exemplarische Analyse des Wandels sozialer Praxis in Handlungsorientierungen und Lebensentwürfen von Existenzgründerinnen 15
Lebensentwürfe als Kristallisationspunkt sozialen Wandels: Analytische Fluchtpunkte und methodisches Vorgehen ........................................................... 263 15.1 Datenbasis: Erzählungen aus dem Alltag von Existenzgründerinnen .............................. 263 15.2 Sozialer Wandel und die spezifische Konstitution von Lebensentwürfen: Fragestellung und analytische Fluchtpunkte................................................................................ 267 15.3 Rekonstruktive Analyse des Wandels von Lebensentwürfen: Synchrone und diachrone Perspektive ....................................................................................................... 270 16 Die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen ......... 289 16.1 Flexible Arbeitswelt und prekäres Unternehmertum .................................................... 291 16.2 Selbstständige Frauen als ›besondere‹ Existenzen? Erodierende Geschlechterordnungen und Unternehmerinnen ihrer Selbst........................................ 295 16.3 Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft als gesellschaftliche Avantgarde ............................................................................ 302 17 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5
Lebensentwurfstypik .................................................................. 307 Lebensentwurf und Handlungsorientierungen des Typus ›Pfad‹ ................................... 307 Lebensentwurf und Handlungsorientierungen des Typus ›Drift‹.................................... 337 Lebensentwurf und Handlungsorientierungen des Typus ›Fügung‹................................ 368 Spuren gewandelter transversaler Logiken............................................................... 407 Variabilität und Zusammenspiel von Praktiken der sozialen Integration, der Kontingenz und der Individualisierung .................................................................................... 422
18 Familienfallanalyse ..................................................................... 431 18.1 Familie Töbelmann ...............................................................................................431
18.2 Familie Berg....................................................................................................... 462 18.3 Familie Wunsch .................................................................................................. 490 18.4 Fallvergleich: Soziogenese gewandelter Lebensentwürfe und transversaler Logiken ..........516 19
Fazit: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis ...................................... 527
Literatur .................................................................................... 539
Danksagung
Das vorliegende Buch ist die Veröffentlichung meiner Dissertation, die 2019 von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Meinen herzlichen Dank möchte ich meiner Betreuerin und ersten Gutachterin Prof. Dr. Susanne Völker aussprechen für ihre den soziologischen Blick beständig weitende und zugleich schärfende Begleitung. Die wertschätzende wie kritische Unterstützung und Begutachtung durch sie und meine Zweitgutachterin Prof. Dr. Julia Reuter bildeten wesentliche Gelingensbedingungen dieser Studie. Meine Forschungsarbeit knüpft an theoretisch-konzeptionelle Überlegungen und vor allem die empirische Basis des BMBF-geförderten Forschungsprojekts ›Familiale Voraussetzungen von Gründungsneigung und Gründungserfolg von Frauen‹ an, das an der Universität Augsburg unter der Leitung von Dr. Anna Brake durchgeführt wurde, der ich ebenfalls für kritischkonstruktive Diskussionen und Anmerkungen danke. Meinen Kolleg*innen an der Universität Augsburg wie auch an der PhilippsUniversität Marburg, vor allem aber Prof. Dr. Susanne Maria Weber, an deren Professur ich als Mitarbeiterin in verschiedene Forschungskontexte eingebunden war, danke ich für die wunderbare gemeinsame Arbeit an der Herstellung wissenschaftlicher Erfahrungsräume, die immer wieder einen fruchtbaren Austausch unterschiedlicher Perspektiven entstehen ließen. Dies kennzeichnete auch die Kolloquien der von Susanne Völker und Prof. Dr. Markus Dederich geleiteten Gruppe ›Sozialer Wandel, Interkulturelle Bildung und Inklusion in Schule und Gesellschaft‹ (Graduiertenschule der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln), dessen interdisziplinäre und offene Diskussionsatmosphäre sehr bereichernd war, sowie das von Susanne Weber geleitete Kolloquium ›FutureNAUTS – Futurability, Networks and Path Innovation‹ (Fachbereich Erziehungswissenschaften der Uni Marburg), an dem ich regelmäßig als Gastwissenschaftlerin teilnehmen durfte. Schließlich gilt mein besonderer Dank meinen Eltern, meinen Freund*innen und Jörg Schwarz, der durch seine fachliche wie persönliche Unterstützung, Inspiration und Reflexion die vorliegend Arbeit mitermöglicht hat.
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Einleitung
Problemaufriss Sozialer Wandel gilt als einer der »allgemeinsten Grundbegriffe der Soziologie« (Zapf 2018: 367). Er wird vor allem dann genutzt, wenn Sozialität in ihrer (regelmäßigen) Dynamik erforscht oder diskutiert werden soll. Auch wenn der Wandelbegriff in einem weiteren Sinne durchaus Anwendung findet, um Veränderungen etwa in einer bestimmten Region, einem Wirtschaftszweig oder einer Jugendszene zu analysieren, so zielt er doch im engeren Sinne auf Transformationsprozesse, die über die Grenzen einzelner sozialer Felder hinausweisen (Scheuch 2003a). Im 20. Jahrhundert hat sich dabei eine Definition sozialen Wandels etabliert, die insbesondere auf die systematische Veränderung sozialer Strukturen abzielt – seien dies Basisinstitutionen, gesellschaftliche Allokations-, Integrations- und Differenzierungsprinzipien oder Strukturen sozialer Schichtung. Hierin kommt eine Dominanz strukturfunktionalistischer bzw. modernisierungstheoretischer Theorietraditionen zum Ausdruck, die aus mindestens zwei Gründen erstaunlich ist: 1) Die Hegemonie strukturfunktionalistischer bzw. modernisierungstheoretischer Ansätze, die Mitte des 20. Jahrhunderts schon als Zeichen einer Überwindung des vorparadigmatischen Status der Soziologie gedeutet wurde, ist nach und nach der verbreiteten Erkenntnis gewichen, dass es sich bei den Sozialwissenschaften um multiparadigmatische Disziplinen handelt, deren Stärke gerade in der Vielfalt ihrer Theorien besteht. Zur Erosion der modernisierungstheoretischen Dominanz hat nicht zuletzt sozialer Wandel beigetragen: Die in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher spürbaren sozialen Umbrüche in modernen Gesellschaften machen die Grenzen der Deutungs- und Prognosemöglichkeiten von Modernisierungstheorien sichtbar. Die Annahme, dass sozialer Wandel als beständig fortschreitende Modernisierung, in linearer und global konvergierender Form sowie nach ›rationalen‹, in Gesetzmäßigkeiten erfassbaren Prinzipien vonstattengeht, erwies sich als verfehlt. In vielen soziologischen Teilgebieten (Arbeits- und Industriesoziologie, Bildungssoziologie, Familiensoziologie, Wissenssoziologie etc.) formt inzwischen ein breites Repertoire an theoretischen Perspektiven den Diskurs. Umso irritierender nimmt es sich aus, dass gerade in der soziologischen Wandelforschung nach wie vor strukturfunktionalistische und (funktions-)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
strukturalistische Perspektiven über die Deutungshoheit hinsichtlich allgemeiner Definitionen und angemessener Forschungszugänge verfügen. 2) Zudem weist die Forschungslandschaft eine Vielfalt empirischer Arbeiten auf, die sich (implizit und explizit) mit sozialem Wandel beschäftigen und nicht modernisierungstheoretischen Prämissen folgen. Insbesondere einer relationalen Soziologie zusprechende Ansätze – unter denen die praxiszentrierenden Zugänge einen Schwerpunkt bilden – betreiben eine intensive Wandelforschung. Dabei umfasst die Bandbreite der Zugänge so unterschiedliche Ansätze wie etwa gegenwartsanalytische Ökonomisierungs-, Prekarisierungs-, Ästhetisierungs- oder Singularisierungsdiagnosen, aber auch stärker auf spezifische Praxisvollzüge bezogene Forschungen, die etwa den Wandel von Lebensführung, Familienkonstellationen, geschlechtsspezifischer Subjektivierung oder Arbeitsformen analytisch fokussieren. Im Gegensatz zu beispielsweise phänomenologisch orientierten Ansätzen, die bisweilen ebenfalls Wandelprozesse in den Blick nehmen, können praxistheoretisch ausgerichtete Zugänge dabei auch Umbrüche in transversal wirksamen, Praxisarrangements übergreifenden sozialen Logiken, impliziten Wissensordnungen und Bedeutungsgefügen erfassen. Sie bieten sich daher an, um das, was der Wandelbegriff auf einer heuristischen Ebene zu erfassen versucht, theoretisch zu konzeptualisieren und dabei die Problematiken einer modernisierungstheoretischen Konzeption zu vermeiden. Dennoch verbleibt die Definitionsmacht über sozialen Wandel auf Seiten (zumeist implizit) modernisierungstheoretisch ausgerichteter Zugänge, was auch damit zusammenhängt, dass seitens der Praxistheorien eine systematische Auseinandersetzung mit der Wandelthematik seit Jahren im Status eines Desiderats verharrt (Lash 1995; Ebrecht 2004). Praxistheorien konterkarieren wesentliche sozialtheoretische und -ontologische sowie epistemologische Prämissen der Modernisierungstheorien. Das macht die Explikation einer praxeologischen Wandeltheorie gleichsam lohnend und kompliziert, denn die im soziologischen Diskurs dominante Auffassung sozialen Wandels muss zunächst relativiert und sodann theoretisch reformuliert werden, ohne dabei den Charakter dieser analytischen Basiskategorie zu zerstören. Als besondere Herausforderung kann dabei die oft implizit mitgeführte Grundannahme gelten, dass sozialer Wandel einer generalisierbaren Logik folgt und daher verschiedene empirisch beobachtbare Wandlungsprozesse bei genauerer Analyse in einem zentralen Wandelprinzip konvergieren, sich empirische Wandelphänomene also umgekehrt – liegt das Prinzip einmal offen – theoretisch ableiten, erklären und sogar prognostizieren lassen. Die praktische Produktion sozialen Wandels wird hingegen dezentral gedacht. Zwar lassen sich sehr wohl transversal wirksame soziale Logiken rekonstruieren, diese werden jedoch in historisch und (sozial-)räumlich spezifischer Form praktisch hervorgebracht und sind unscharf, was zugleich ihre Stabilität und Instabilität bzw. Fluidität erklärt. Im Praxisvollzug können divergente, sogar konfligierende, sich wechselseitig unterlaufende Logiken wirksam sein. Die Konsequenz ist jedoch, dass es den sozialen Wandel nicht geben kann, also eine maßgebliche Suchrichtung der Wandelforschung aufgegeben werden muss. Eine praxistheoretische Perspektive ermöglicht es, das kontingente, vielfältige und ungleichzeitige Geschehen sozialen Wandels zu rekonstruieren. Sie ist besonders geeignet, die Hervorbringung sozialer Transformationen in ihrer Dezentralität zu erfassen, was damit zusammenhängt, dass ihre Basiskategorie – Praxis – grundsätzlich dyna-
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misch angelegt ist. Praxis – auch die routinierteste – wird zwar immer strukturiert durch habitualisierte und institutionalisierte Bedingungen, aber zugleich auch immer situativ – und das bedeutet: niemals identisch – hervorgebracht. Hierin liegt das strukturstrukturierende, prinzipiell wandeloffene Potenzial sozialer Praxis. Mit Blick auf die Wandelforschung bedeutet dies jedoch, dass unterschieden werden muss zwischen dieser dynamischen praktischen Unschärfe und dem, was sozialer Wandel bezeichnet. Dieses Problem ist – im Sinne der praxistheoretischen Basisprinzipien – nicht nur theoretisch-konzeptionell, sondern zugleich empirisch zu lösen. Die forschungsleitenden Fragen der vorliegenden Arbeit lauten daher: Wie wird ›sozialer Wandel‹ praxistheoretisch rekonstruierbar? Wie geht praxistheoretische Forschung bei der empirischen Rekonstruktion sozialen Wandels vor? Und: Was kommt dabei in den Blick, was in der ›klassischen‹ Wandelforschung verborgen bleibt?
Aufbau und Argumentationsstruktur der Arbeit Das Buch gliedert sich in vier Teile: Zunächst soll der soziologische Diskurs um sozialen Wandel näher in den Blick genommen werden, um die Problemlagen, Desiderata und Potenziale eines veränderten Blicks auf Wandel herausarbeiten zu können. Daran anschließend nehme ich eine praxistheoretische Reformulierung sozialen Wandels vor, expliziere also das wandelanalytische Potenzial praxistheoretischer Prämissen, Grundbegriffe und Analysekonzepte. Im dritten Teil betone ich praxistheoretische Gegenwartsanalysen als einen Zugang zur Erforschung sozialen Wandels, um abschließend im vierten Teil der Arbeit anhand einer empirischen Analyse des Wandels von Lebensentwürfen akademisch ausgebildeter Existenzgründerinnen die Analyse des Wandels konkreter Praxisvollzüge als einen komplementären Zugang der praxeologischen Erforschung sozialen Wandels vorzuschlagen. Mit diesem Vorgehen soll die spezifische Form der Gegenstandserschließung einer praxeologischen Forschung nachvollzogen werden, die ich auch als Stärke der praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels hervorheben möchte: Der praxistheoretische Zugang kann der unangemessenen Schließung und Prädetermination einer modernisierungstheoretisch informierten Wandelforschung entgehen, weil Instrumentarium und Forschungsstrategie die Differenzierung von Kontinuität und Diskontinuität sowie von Mikro- und Makrophänomenen unterläuft. Gemeinsam mit der theoretisch-konzeptionellen Dezentrierung von Wandelprozessen resultiert ein Forschungsansatz, der nicht auf eine funktionaldifferenziert erarbeitete analytische Konvergenz, sondern auf eine vernetzte, sich wechselseitig anregende und aufgreifende Forschung zielt. Diese Vorgehensweise legen sowohl die wissenschaftstheoretischen Prämissen als auch die Analysekonzepte der Praxistheorien nahe. Zur Erschließung eines praxistheoretischen Zugangs der Erforschung sozialen Wandels habe ich daher einen konzentrischen Arbeitsmodus gewählt, der die forscherische Seitwärtsbewegung Michel Foucaults (»wie ein Krebs«, Foucault 2006, S. 116) zum Vorbild hat und nicht nur unterschiedliche theorienkonstitutive Denkrichtungen nachvollziehen soll, die sozialen Wandel in ein neues Licht rücken, sondern auch die verschiedenen Forschungsarbeiten aufgreifen will, die Wandel bereits praxistheoretisch denken und thematisieren.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Teil I: Soziologie sozialen Wandels Zunächst soll im Rahmen eines (fokussierten) Überblicks über den soziologischen Diskus um sozialen Wandel herausgearbeitet werden, wie der Begriff innerhalb der Disziplin gemeinhin aufgefasst wird. Wie einleitend bereits angesprochen, spielen hier modernisierungstheoretische Konzeptionen und mithin die konzeptionelle und gedankliche Verkopplung von Wandel und Moderne eine zentrale Rolle. Mit Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz (2007) kann argumentiert werden, dass dieses Problem nicht auf die Wandelforschung beschränkt ist, sondern zentrale modernisierungstheoretische Prämissen generell als Narrative tief im soziologischen Diskurs verankert sind und daher den Blick auf Sozialität oft implizit präformieren. Gerade weil diese Prämissen meines Erachtens ganz erheblich und weitestgehend unreflektiert auf die Routinen der soziologischen Thematisierung von Wandelprozessen einwirken, halte ich es für wesentlich, diese eingehender zu beleuchten. Daher greife ich die Argumentation von Bonacker und Reckwitz auf, werde sie auf die soziologische Betrachtung sozialen Wandels erweitern bzw. zuspitzen und den modernisierungstheoretischen Basisannahmen anschließend kulturtheoretische Perspektiven gegenüberstellen, um Engführungen in der dominanten Konzeptualisierung sozialen Wandels und mithin die Dringlichkeit eines grundlegenden Perspektivwechsel zu verdeutlichen. Abschließend soll die Explikation einer praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels vorbereitet werden, indem ihre ontologischen, epistemologischen, wissenschafts- und sozialtheoretischen Grundlagen umrissen werden.
Teil II: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis Der zweiten Teil gilt der Explikation der theoretisch-konzeptionellen Basis einer praxistheoretischen Erforschung sozialen Wandels: Zunächst werden theorienkonstitutive Grundüberlegungen (Materialität und Körperlichkeit, Historizität und Zeitlichkeit, praktische Logik, Wissen und symbolische Ordnung, Macht und soziale Ungleichheiten) ausgeführt und als prämissiver Rahmen aufgespannt, in dem eine praxeologische Rekonstruktion sozialen Wandels zu verorten ist. Hieran anschließend sollen verschiedene Analysekonzepte auf ihr Potenzial hinsichtlich einer systematischen Erfassung von Wandelphänomenen befragt und geschärft werden (Konzepte inkorporierter und objektivierter Praxis: Habitus, Subjekt, Feld, Lebensform sowie Konzepte zur Erfassung transversaler Praxismuster, insbesondere: Dispositiv). In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Analysekonzepten deutet sich bereits an, dass ein besonderer Vorzug der praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels die konzeptuelle Verkopplung von transversal wirksamen Logiken mit den spezifischen, durchaus divergenten, sogar ambivalenten Formen ihrer Hervorbringung darstellt. Dies hängt mit der Situiertheit und Kontextualität sozialer Praxis zusammen, auf die ich im Anschluss an die Darstellung der Analysekonzepte eingehen möchte. Zudem werden einige praxistheoretische Forschungsansätze vorgestellt, die sich empirisch mit Wandelprozessen in konkreten Praxisvollzügen auseinandersetzen und anhand derer sich die Bandbreite der Erforschung sozialen Wandels als Wandel sozialer Praxis verdeutlicht. Abschließend schlage ich eine praxistheoretische Konzeption sozialen Wandels vor und expliziere deren Potenzial entlang einiger theoretischer Besonderheiten, die we-
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sentliche Veränderungen in der wandelforscherischen Fragerichtung und Forschungsstrategie bedingen (Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität; Vielfalt praktischer Formen und Rationalitäten; Kontingenz). Sozialer Wandel zeigt sich dann als Wandel transversal wirksamer sozialer Logiken, die in kontextspezifischer und daher vielfältiger Form praktisch produziert werden. Ihre Hervorbringung ist raumzeitlich gebunden, sie sind durchzogen von Kontinuitäten und zugleich Diskontinuitäten, von Ambivalenzen und Interferenzen und entfalten nicht zuletzt (akteurs- und kontextbezogen) höchst ungleiche Wirkungen. Die Uneindeutigkeiten sich wandelnder transversaler Logiken dürfen jedoch nicht als um einen ›wahren‹ Kern sozialen Wandels oszillierende Abweichungen verstanden werden, vielmehr sind sie (struktur-)konstitutiv. Die praxistheoretische Perspektive darf daher nicht nur danach fragen, welche transversal wirksamen Logiken sich wandeln, sie muss immer auch danach fragen, in welchen Formen diese (gewandelten) Logiken praktisch hervorgebracht werden. Hieraus lassen sich Implikationen für die empirische Erforschung sozialen Wandels ableiten: Praxis ist weder einer soziologischen ›Mikro-‹ noch einer ›Makroperspektive‹ zuzuordnen, sondern produziert (quer hierzu) Homologien in spezifischen Praxisvollzügen wie auch in weitreichenden Institutionen – daher darf zwischen beiden Phänomenen kein substanzieller Unterschied gedacht werden. Dies bedeutet, dass für die Erforschung sozialen Wandels unterschiedliche empirische Ansatzpunkte möglich und nötig sind. Dabei steht weder die Herausarbeitung gewandelter transversaler Logiken noch die Erforschung der spezifischen praktischen Hervorbringung dieser Logiken im Zentrum einer Praxeologie sozialen Wandels, vielmehr geht es um die Relationierung beider Aspekte.
Teil III: Gegenwartsdiagnosen als Zugang einer praxeologischen Wandelforschung Als besonders prominente Zugänge, die sich bereits mit dem Wandel sozialer Praxis auseinandersetzen, fallen zunächst (im weitesten Sinne) praxistheoretisch orientierte Gegenwartsdiagnosen ins Auge. Sie zielen auf die Analyse sich wandelnder transversaler Logiken und sollen im dritten Teil zunächst vorgestellt und auf ihre Implikationen hinsichtlich einer praxeologische Wandelforschung befragt werden. In diesem Zuge wird auch ihr heuristisches Potenzial für die Erforschung sozialen Wandels in spezifischen Praxisvollzügen herausgearbeitet. Ich unterscheide zwei Formen praxistheoretisch informierter Gegenwartsdiagnosen: Einerseits beziehe ich mich auf Modernetheorien, die Modernität nicht als Gesellschaftsform, sondern als kulturelles Muster betrachten, welches zwar besonders wirkmächtig und daher eng mit den Formen der praktischen Hervorbringung von (okzidentaler) Gesellschaftlichkeit verquickt, jedoch nicht mit ihnen identisch ist. Bezeichnend für diese Perspektive ist, dass die kulturellen Grundmuster von Modernität als ambivalent und der Modus ihrer praktischen Hervorbringung als wandelbar verstanden werden. Als besonders einschlägig können in dieser Hinsicht die Modernetheorien von Peter Wagner, Zygmunt Bauman und Bruno Latour gelten. Andererseits stelle ich gesellschaftstheoretisch angelegte (praxeologische) Gegenwartsdiagnosen vor, die sich zumeist auf die Herausarbeitung eines spezifischen Wandelprinzips bzw. einer bestimmten transversalen Logik konzentrieren, ohne
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
jedoch – dies unterscheidet sie von modernisierungstheoretischen gegenwartsdiagnostischen Ansätzen – die jeweils anderen Analysefluchtpunkte als inkommensurabel auszuschließen oder sie der eigenen Perspektive unterzuordnen. Vielmehr zeigt sich an vielen Stellen ein fruchtbarer Austausch zwischen den verschiedenen Zugängen. Näher diskutieren werde ich sechs verschiedene Gegenwartsdiagnosen, die sich (nicht ganz trennscharf) vier Wandeldiskursen zuordnen lassen: Ökonomisierung (Bourdieus Forschungen zur Intrusion der neoliberalen Logik; die Arbeiten von Foucault und den Governmentality Studies zu neoliberalen Regierungsformen), Prekarisierung (der praxistheoretisch inspirierte Teildiskurs zu Prekarität als gegenwärtiger Ordnungsund Steuerungslogik), Ästhetisierung (Boltanskis und Chiapellos Konzept des ›Neuen Geistes des Kapitalismus‹; und Reckwitz’ genealogische Forschung zur ›Erfindung der Kreativität‹) und schließlich Singularisierung (Reckwitz). Anschließend werden die Spezifika praxistheoretischer Gegenwartsdiagnosen zusammengefasst und konzeptionelle Elemente herausgestellt, die für eine praxistheoretische Analyse sozialen Wandels konstruktiv sind. Zugleich zeigt sich, dass die Konturen gewandelter transversaler Logiken nur um den Preis der systematischen Vernachlässigung ihrer teils hoch divergenten und ambivalenten Hervorbringungsmodi herausgearbeitet werden können. Zwar schließen praxistheoretisch orientierte Gegenwartsdiagnosen analytisch wesentlich stärker als andere Gesellschaftsanalysen an konkrete Praxisvollzüge an. Ambivalenzen und Interferenzen sowie die ungleichen Wirkungen der praktischen Hervorbringung sozialen Wandels kommen im Rahmen eines gegenwartsdiagnostischen Zugangs jedoch (naheliegenderweise) nicht dezidiert in den Blick.
Teil IV: Wandelrekonstruktionen in spezifischen Praxisvollzügen – Exemplarische Analyse des Wandels sozialer Praxis in Handlungsorientierungen und Lebensentwürfen von Existenzgründerinnen Daher soll abschließend anhand der exemplarischen Analyse sozialen Wandels im Kontext spezifischer Praxisvollzüge ein Forschungszugang erprobt werden, der auf die praktische Diversität und auf die wechselseitige Brechung in der Hervorbringung gewandelter transversaler Logiken fokussiert. Dabei greife ich auf Daten des Forschungsprojekts »Familiale Voraussetzungen von Gründungsneigung und Gründungserfolg« (Leitung: Anna Brake) zurück, in dessen Rahmen Existenzgründerinnen und deren Eltern biografisch-themenzentriert interviewt wurden und unterziehe diese einer Sekundäranalyse, in deren Zentrum die Rekonstruktion von Lebensentwürfen steht. Aus verschiedenen Gründen eignen sich die Daten meines Erachtens außerordentlich gut, um sozialen Wandel in einer praxistheoretischen Weise zu erforschen, nicht zuletzt, da sich die Gründerinnen in dynamischen sozialen Kontexten bewegen. Diese werden im Kapitel ›die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen‹ genauer dargelegt. Die empirische Analyse praktischen Wandels, der sich in den Lebensentwürfen der Gründerinnen dokumentiert, folgt dabei zwei Blickrichtungen: Einerseits wird eine synchrone Perspektive eingenommen, aus der die Lebensentwürfe auf Spezifika der gegenwartsanalytisch herausgearbeiteten transversalen Logiken hin untersucht werden. Diese Logiken können, so sie denn für die jeweiligen Lebensentwürfe bedeutsam sind, in
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ihrer spezifischen praktischen Hervorbringung rekonstruiert und hinsichtlich unterschiedlicher Wirkungsweisen befragt werden. Ergebnis dieser Analyse ist eine sinngenetische Lebensentwurfstypik mit drei Ausprägungen (›Pfad‹, ›Drift‹ und ›Fügung‹), in denen sich die Produktion gewandelter transversaler Logiken in divergenter Form dokumentiert. Andererseits wird eine diachrone Perspektive eingenommen, indem je Typus ein exemplarischer Lebensentwurf familienfallanalytisch rekonstruiert wird. Dabei kommen sowohl die sozialen Entstehungskontexte als auch familial geteilte Orientierungsmuster der Lebensentwürfe in den Blick. Anhand der lebensentwurfsbezogenen generationalen Differenzen kann dem Wandel transversaler Logiken in seiner sozialräumlichen Spezifik nachgespürt werden. Der Zugang ermöglicht also eine soziogenetische Interpretation der Hervorbringungsmodi gewandelter transversaler Logiken. Mit der praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels schlage ich eine Analyseperspektive vor, die sowohl einen Beitrag zur Erforschung sozialen Wandels als auch einen Beitrag zum sich beständig transformierenden und mit gesellschaftlichem Wandel korrespondierenden Analyseinstrumentarium der Praxistheorien leisten soll.
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Teil I: Soziologie sozialen Wandels
2 Sozialer Wandel als Gegenstand soziologischer Theorienbildung
Sozialer Wandel gilt als »Schlüsselbegriff« (Pries 2016) und zugleich »wichtige Spezialität« der Sozialwissenschaften (Scheuch 2003b: 373). Der Begriff ›Social change‹ bzw. ›sozialer Wandel‹ wurde Anfang der 1920er Jahre durch den amerikanischen Soziologen William F. Ogburn (1981: 179) mit der Absicht eingeführt, die soziologischen Bemühungen »um objektive Beschreibung und um Unabhängigkeit von Werturteilen« zu verdeutlichen. Er markiert damit eine Abgrenzung gegen ältere Konzeptionen gesellschaftlicher Veränderungen, die diese als ›Fortschritt‹ oder ›Evolution‹ erfassen und entsprechend sowohl normativ grundieren als auch mit einer mehr oder weniger deutlichen teleologischen Vorstellung sozialer Wandlungsprozesse versehen. Bis heute wird ›sozialer Wandel‹ in enger fachlexikaler Definition von fortschritts- oder evolutionstheoretischen Entwürfen abgegrenzt (Rammstedt 2011), was jedoch nicht immer der theoretisch-konzeptionellen oder empirischen Ausarbeitung des Begriffs entspricht. Zur näheren Begriffsbestimmung stellt die einschlägige Überblicksliteratur zumeist allgemein auf die Veränderung sozialer Strukturen ab (Abels 2009b; Lehner 2011; Zapf 2016), sodass sich ›sozialer Wandel‹ auf diverse Analysekategorien und gesellschaftliche Bereiche beziehen kann: auf Institutionen, Werte, gesellschaftliche Verteilungsprinzipien oder auch Machtverhältnisse, auf Handlungsmuster ebenso wie auf Teilsysteme und Strukturen der Weltgesellschaft. Der Begriff weist also eine enorme konzeptionelle Breite auf und gilt entsprechend als »Sammelbecken zur Bestimmung vielfältiger sozialer Prozesse« (Jäger & Weinzierl 2011: 13) – als »Passepartout-Begriff« (Vester 2009: 151), der es erlaubt, soziale Phänomene dynamisch zu rahmen. Bei genauerer Betrachtung kann jedoch festgestellt werden, dass die explizite Theoretisierung sozialen Wandels von sozialwissenschaftlichen Prämissen dominiert wird, die Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz (2007; Reckwitz 2008c) als Beschreibungsmuster eines ›modernisierungstheoretischen Narrativs‹ zusammenfassen. Dieses korrespondiert mit einem soziologischen Selbstverständnis als ›Wissenschaft der Moderne‹, welches bereits bei der disziplinären Formierung eine wesentliche Rolle spielt, und in drei ›großen Erzählungen‹ der ›Kapitalisierung‹ (Marx), der ›Rationalisierung‹ (Weber) und der ›funktionalen Differenzierung‹ (Durkheim, Simmel) eine gegenstandsbezogene Konkretisierung
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
erfährt. Der im gemeinsamen Suffix dieser Kernbegriffe sprachlich abgebildete kontinuative bzw. progressive Aspekt zeigt bereits die hohe Bedeutung des Wandels in den entsprechenden Theorien an. »Die klassischen soziologischen Theorien der Moderne sind damit Theorien der ›Modernisierung‹, die von einer Ausbreitung und Steigerung der als modern anerkannten gesellschaftlichen Strukturprinzipien in Raum und Zeit ausgehen. Sie setzt sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den insbesondere US-amerikanischen, strukturfunktionalistischen modernization theories […] fort und beeinflusst am Ende des 20. Jahrhunderts auch Theorien der Hochmoderne wie die der ›reflexiven Modernisierung‹, welche von einer weiteren Steigerbarkeit moderner Prinzipien in der Gegenwartsgesellschaft ausgehen.« (Reckwitz 2008c: 226f.; H.i.O.) Die Prämissen des modernisierungstheoretischen Narrativs sind jedoch auch jenseits jener explizit wandelbezogenen Theorien in der Soziologie weit verbreitet und beherrschen wohl nach wie vor »das Zentrum der soziologischen Perspektive« (Bonacker & Reckwitz 2007: 8). Dabei werden sie nicht unbedingt offen adressiert, sondern mit spezifischen Formen der Gegenstandsrekonstruktion, der Ausrichtung von Forschungsfragen, mit zugrundeliegenden Epistemologien und Ontologien zumeist eher impliziert. Mit Blick auf die hohe Relevanz, die Prozessen und Dynamiken im Horizont der Modernisierung zugesprochen wird, ist es umgekehrt nicht verwunderlich, dass eine modernisierungstheoretische Perspektive gerade in der Konzeptualisierung sozialen Wandels besonders erfolgreich ist. So weist Walter Reese-Schäfer darauf hin, dass gerade umfassende strukturelle und soziokulturelle (intergenerationale) Wandlungsprozesse, »[t]raditionell […] im Paradigma der Modernisierungstheorie interpretiert worden [sind], die in allen Sozialwissenschaften als Grundmuster zu finden ist« (Reese-Schäfer 2013: 340). Zwar ermöglichen auch Forschungszugänge, die (wie etwa die Theorien Michel Foucaults oder Pierre Bourdieus) explizit von modernisierungstheoretischen Basisannahmen abgegrenzt sind, eine differenzierte Auseinandersetzung mit sozialen Veränderungsprozessen. Eine Konzeptualisierung des Wandelbegriffs findet dann jedoch meistens – wenn überhaupt – nur implizit statt (Jäger & Weinzierl 2011). Dieser Umstand mag dazu beitragen, dass trotz der gegenwärtig beachtlichen Rezeptionsintensität kultur- und vor allem praxistheoretischer Forschungsansätze, die Soziologie sozialen Wandels nach wie vor modernisierungstheoretisch geprägt ist. Dabei sind insbesondere kulturtheoretische, praxiszentrierende Perspektiven geeignet, den Diskurs um sozialen Wandel in fruchtbarer Weise zu revitalisieren. Denn anders als die modernisierungstheoretisch imprägnierten Ansätze gehen sie von einer relationalen Konstitution des Sozialen aus und ermöglichen daher einen alternativen konzeptuellen Zugang sowie neue Fragerichtungen und Analyseperspektiven. Dies unterscheidet sie von Wandelkonzepten, die sich zwar von zentralen modernistischen (etwa strukturfunktionalistischen) Theorien abgrenzen, implizit allerdings dennoch Prämissen des modernisierungstheoretischen Narrativs zugrunde legen, wie zum Beispiel die ›no-theory of social change‹ Raymond Boudons (1983b) oder einige neoevolutionistische Theorien (Preyer 2016) – insbesondere jene, die differenzierungstheoretische Gesellschaftstheorien handlungstheoretisch unterfüttern (Pollack 2016; Schmid 2016).
2 Sozialer Wandel als Gegenstand soziologischer Theorienbildung
Im Folgenden werde ich den Vorschlag eines kultur- bzw. im engeren Sinne praxistheoretischen Verständnisses von sozialem Wandel als Alternative zu üblichen, modernisierungstheoretisch grundierten Konzeptionen explizieren. Ausgangspunkt bildet dabei die enge Verschränkung und wechselseitige Konstituierung von ›Soziologie‹, ›Moderne‹ und ›sozialem Wandel‹ (Kapitel 3). Denn »Gesellschaft als soziologischer Begriff könnte selbst eine Chiffre dafür sein, daß sich die Welt nicht mehr von selbst versteht und keine unwandelbare Gestalt besitzt, sondern sich in permanenter Veränderung befindet, die nicht nur gestaltet werden kann, sondern permanent gestaltet werden muß« (Nassehi 2001: 209; H.i.O.); daher soll zunächst einleitend der Stellenwert sozialen Wandels im soziologischen Diskurs diskutiert (3.1) und dessen grundlegende Bedeutung für ein ›klassisches‹ Verständnis von Moderne (als deren Reflexionsinstanz sich die Soziologie begreift) umrissen werden (3.2). Hieran schließt sich eine Zusammenfassung der besonders einschlägigen Konzeption sozialen Wandels als ›Modernisierung‹ an (3.3). Um den Reiz eines alternativen Zugangs und Desiderata hinsichtlich einer Veränderung der Konzeptionen, Fragerichtungen und Analysezugänge aufzuzeigen, arbeite ich anschließend zunächst entlang vierer Basisannahmen des modernisierungstheoretischen Narrativs (Bonacker & Reckwitz 2007) die konstitutiven Prämissen eines entsprechenden Grundverständnisses sozialen Wandels heraus (4.1). Bis heute hält sich im soziologischen Diskurs eine implizite Vorstellung von ›der Moderne‹ als relativ strukturhomogenes, expandierendes soziales Gebilde, das einer unbändigen immanenten Steigerungslogik folgt. Anthony Giddens bringt diesen Entwurf sozialen Wandels als ›Fahrt mit dem Dschagannath-Wagen‹ auf den Punkt (Giddens 1996). Die oft unreflektierten Fundamente solcher Wandelkonzepte lassen sich wiederum aus einer kulturtheoretischen Perspektive kritisieren und mit entgegengesetzten Narrationen konterkarieren (Bonacker & Reckwitz 2007). Besonders prominent gelingt dies Shmuel N. Eisenstadt (2000), der auf Basis eines kulturtheoretischen Forschungsprogramms die Polysemien ›der Moderne‹ aufdeckt (4.2) und die Entwicklung multipler Modernen schlussfolgert. Eine praxistheoretische Perspektive ermöglicht es nun, nicht nur die grundsätzliche Heterogenität zwischen verschiedenen modernen Kulturen und deren Entwicklungen festzustellen, sondern vielmehr jede Form von Moderne ihrerseits als uneinheitliches, umkämpftes und kontingentes Praxisgefüge zu rekonstruieren, welches die Bedingungen sozialen Wandels, wie auch die Logik, der Wandelprozesse folgen, praktisch hervorbringt und verändert. Konstitutiv für eine solche Perspektivverschiebung ist ein relationales soziologisches Grundverständnis (Kapitel 5). Die Basiskonstitution einer relationalen Soziologie bildet den Ausgangspunkt für die Explikation einer praxistheoretischen Perspektive auf sozialen Wandel, welche im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit unternommen wird.
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3 Die modernisierungstheoretische Hegemonie der Soziologie sozialen Wandels
3.1
Soziologie – Moderne – Sozialer Wandel
Zur Annäherung an die Beziehung zwischen (dem Interesse an) sozialem Wandel und der Konstitution der Soziologie, bietet es sich an, zunächst mit Armin Nassehi nach dem zentralen Bezugsproblem der Soziologie zu fragen, wobei er diese Frage an die konkreten Bedingungen knüpft, unter denen Soziologie vorstellbar, sogar notwendig wird: »Auf welches gesellschaftliche Problem reagiert die Entstehung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin?« (Nassehi 2011: 21) Dieser Blickrichtung folgend lassen sich verschiedene Knotenpunkte ausmachen, von denen ich drei hervorheben möchte. Erstens kann die Frage eine historisch-kausale Beziehung nahelegen, denn die Entstehung der Soziologie als neue Wissenschaft ist womöglich eine Reaktion auf neue, also veränderte (soziale) Verhältnisse. So wäre sozialer Wandel auf einer basalen Ebene die Voraussetzung und der Auslöser für diesen Entstehungsprozess und tatsächlich koinzidiert die Herausbildung der Soziologie mit massiven sozialen Umbrüchen in der ›westlichen Welt‹, sodass durchaus »[d]er Ursprung der Soziologie […] in der Erschütterung der europäischen Gesellschaft« ausgemacht werden kann (Dilthey 1959: 4). Dieser ›Ursprungsmythos‹ (Lichtblau 2017), der die Soziologie als wissenschaftliche Antwort auf einschneidend neue und umfassende Fragen, Probleme und Bedürfnisse beschreibt, wird von Philip Abrams besonders anschaulich anhand der Beobachtungen des Schriftstellers Alphonse de Lamartine (1790-1869) illustriert: »Diese Zeiten sind Zeiten des Chaos; Meinungen wogen durcheinander; Parteien sind ein Mischmasch; die Sprache der neuen Ideen ist noch nicht geschaffen; nichts ist schwieriger als eine gute Definition seiner selbst in religiöser, philosophischer und in politischer Hinsicht zu geben. Man fühlt, man weiß, man lebt und, so nötig, stirbt man für irgendeine Sache, doch man kann sie nicht benennen. Unserer Zeit ist es zum Problem geworden Dinge und Menschen zu klassifizieren. Die Welt hat ihren Katalog durcheinander gebracht« (Lamartine zitiert nach Abrams 1981: 80).
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Die Bemerkung des Comtes-Zeitgenossen Lamartine skizziert in gewisser Weise das Aufgabenprofil der Soziologie, die antritt, das den Menschen fremd gewordene soziale Geschehen in wissenschaftlich-rationalen Denkkategorien zu ordnen und Begriffe für ein soziologisches Verstehen und Erklären zu schaffen. Er charakterisiert jedoch nicht nur die gesellschaftlichen Erschütterungen, auf welche die Entstehung der Soziologie reagiert, sondern verweist implizit auch auf die praktische Voraussetzungshaftigkeit dieser Entstehung. Dementsprechend geht, zweitens, die Herausbildung der Soziologie notwendig mit einem Wandel des Denkens und Wahrnehmens einher – konstitutives Element für die Entstehung dessen, was sich als Sozialwissenschaft etabliert hat, ist ein spezifisches Welt- und Selbstverhältnis: Eine wissenschaftliche Bearbeitung ›der Gesellschaft‹ – wie auch ›der Geschichte‹ oder ›der Kultur‹ – setzt deren Entdeckung als Wirklichkeitsfelder voraus (Tenbruck 1989: 81). Mit ihnen sind unhinterfragte Vorstellungen von der Welt verknüpft, die das soziologische Denken fundieren, etwa ein lineares und universelles Zeitverständnis und ein globales Raumverständnis. So ist die aufklärerische Grundidee einer prinzipiellen Gestaltbarkeit der Welt durch den Menschen sowie das daran angeschlossene ›Emanzipationsversprechen‹ (Bonacker & Römer 2008: 362) ebenso konstitutiv für die Soziologie wie die Vorstellung einer ›geordneten Natur der Dinge‹ (Strasser & Randall 1979: 13) und die später insbesondere durch Durkheim vorgenommene Trennung von Natur und Gesellschaft (Lemke 2007: 248). Die Grundannahmen ließen sich ohne Schwierigkeiten erweitern, sollen hier aber vor allem darauf verweisen, dass bestimmte Vorstellungen von der Welt und von den Menschen Voraussetzung sind für die Entstehung der Soziologie. Genau genommen sind sie nicht bloße Voraussetzung, die Herausbildung spezifischer Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster geht vielmehr mit der Herausbildung der Soziologie und anderer Institutionen einher. Soziologie ist Teil der neuen Perspektive und konstituiert diese wiederum ihrerseits. Das Verhältnis von Soziologie und sozialem Wandel ist also nicht (nur) im Sinne einer Reaktion auf soziale Umbrüche zu verstehen, vielmehr ist Soziologie bedingt durch ein grundlegendes Andersdenken und ist zugleich Teil und Ausdruck dieser Veränderungen. Schließlich ist drittens hervorzuheben, dass die Soziologie als ›Reflexionswissenschaft‹ (Müller-Doohm 1999) konstituiert ist, um eben jene sozialen Veränderungsprozesse, die bereits angedeutet wurden, zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Das fragliche Bezugsproblem der Soziologie sieht Nassehi in einer entfremdeten Gesellschaft, deren Ordnung nicht mehr auf eine religiös vermittelte transzendente Instanz rückzuführen ist, sondern die Ordnung und Sinn nun aus sich selbst schöpfen muss, womit sie zwar an Gewissheit verliert, andererseits aber an Gestaltungsspielraum in sämtlichen sozialen Belangen gewinnt. Die Verhältnisse bieten also zugleich Anlass und Möglichkeit für eine Instanz der gesellschaftlichen Selbstreflexion, es geht also »nicht nur darum, dass sich die Welt dynamisiert hat und sich schneller veränderte, sondern […] vor allem auch darum, dass die Gesellschaft nun selbst sowohl Adressat als auch Publikum dieser Dynamik wurde« (Nassehi 2011: 25). Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Selbstdeutung werden als Dauereinrichtungen vor allem deshalb notwendig, weil der Gegenstand der Betrachtung beständig Veränderungen unterworfen ist. Die zentrale Aufgabe der Soziologie ist also per se be-
3 Die modernisierungstheoretische Hegemonie der Soziologie sozialen Wandels
zogen auf eine sich andauernd wandelnde Gesellschaft. Zwar unterschieden Protosoziolog*innen wie Auguste Comte systematisch zwischen statischen und dynamischen Elementen des Sozialen, jedoch war »[i]hr Ziel, die Gesellschaft zu analysieren, […] mit dem Studium des sozialen Wandels identisch« (Strasser & Randall 1979: 13). Nassehi führt entsprechend auch die wissenschaftliche Konsolidierung der Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf zurück, »dass die Erfahrung einer brüchig gewordenen Welt nun umgemünzt wurde in soziologische Analysen von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen« (Nassehi 2011: 27) und zwar mit dem Ziel, Erkenntnisse über den Zustand der Gesellschaft, über ihre Gegenwart zu gewinnen, welche sich maßgeblich in Dynamiken der ›Rationalisierung‹, der ›Differenzierung‹, der ›Vergesellschaftung‹ etc. ausdrückten. Bekanntlich wurde und wird die soziologische Beschreibung dieser durch verschiedenste Dynamiken gekennzeichneten Gegenwartsgesellschaft mit ›Moderne‹1 auf den Begriff gebracht. Soziologie kann demnach als eine Disziplin verstanden werden, die sich mit ›der Moderne‹ herausgebildet hat und die zugleich bestrebt ist, eben diese Moderne wissenschaftlich zu erfassen, zu verstehen bzw. zu erklären und kritisch zu kommentieren. Dabei handelt es sich keineswegs um das Aufgabengebiet einer speziellen Soziologie, sondern um das Konstituens der gesamten Disziplin – oder wie Peter Wagner anmerkt: »Von einer Soziologie der Moderne zu sprechen, scheint bestenfalls ein Pleonasmus zu sein.« (Wagner 1995b: 9) Damit ist dem eng verknüpften begrifflichen Paar ›Soziologie‹ und ›sozialer Wandel‹ mit ›Moderne‹ ein schillernder und mehrdeutiger dritter Begriff beigefügt, der ebenso elementar und mit den beiden anderen Begriffen jeweils ebenso intensiv verwoben ist. Analog zur Verschränkung von Soziologie und sozialem Wandel lässt sich zunächst erstens ›Moderne‹ als jenes Ereignis sozialer Veränderung thematisieren, welches initial für die Entstehung der Soziologie verantwortlich zeichnet. Die ›Zeiten des Chaos‹ – wie Lamartine sie nennt – sind moderne Zeiten. Moderne ist in diesem Sinne also eine Art Epochenbezeichnung und als solche weit über die Soziologie hinaus, etwa in der Politik, der Kunst- und Literaturgeschichte oder auch in der Ökonomie etabliert. Allerdings führen die verschiedenen Perspektiven auf das ›moderne Zeitalter‹ bereits zu der Einsicht, dass hier wohl kaum von Gleichem gesprochen wird: So variieren Beginn und Basismerkmal der Moderne je nach Blickwinkel erheblich, angefangen mit der geistesgeschichtlichen Wende der Renaissance, über die industrielle Revolution in der Mitte oder die Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zum im 19. Jahrhundert vollzogenen Bruch mit der akademischen Malerei. Moderne zeichnet sich – als Epoche verstanden – also offenbar durch eine Vielzahl an Nullpunkten aus. Zweitens lässt sich Moderne als spezifische Erfahrung und als Form der Interpretation dieser Erfahrung verstehen: »Modern zu sein bedeutet, sich selbst als autonom zu begreifen; es bedeutet, jede Quelle außerhalb seiner selbst als Richtschnur für das
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Wobei Lichtblau darauf hinweist, dass die ›soziologischen Klassiker‹, denen ein vitales forscherisches Interesse am ›Durchbruch zur Moderne‹ (Schwinn 2006a: 13) zugesprochen wird, nicht das Substantiv ›Moderne‹ nutzten, »sondern allenfalls von der ›neuen Zeit‹ beziehungsweise ›modernen Zeit‹ oder schlicht ›Neuzeit‹« sprachen (Lichtblau 2002: 10).
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eigene Handeln abzulehnen« (Wagner 2009: 8). Dies schließt aber auch die ambivalente Erfahrung ein, von den im Geiste moderner Autonomie entstehenden Institutionen wiederum eingeschränkt zu werden (Wagner 2007). In dieser zweiten Hinsicht ist Moderne keine Epoche, sondern ein bestimmtes Denken, Wahrnehmen und Empfinden, basierend auf jenen voraussetzungsvollen, aber unhinterfragten Grundannahmen, die bereits als Bedingung für die Entstehung der Soziologie angesprochen wurden, zum Beispiel spezifische Temporal- und Spatialschemata oder ein wissenschaftlich-rationalistischer Weltzugang. Allerdings ist zu beachten, dass sich ›Moderne‹ als unmittelbare, praktische Erfahrung von ihrer wissenschaftlichen Rekonstruktion grundlegend unterscheidet. Erst die soziologisch-begriffliche Konzeptualisierung macht diese wiederum auch sozialwissenschaftlich erforschbar. Drittens bezeichnet Moderne daher ein grundlegendes soziologisches Beobachtungsschema (Bonacker & Reckwitz 2007: 7), mit dem das Spezifische einer – je nach theoretischem Zugang – institutionellen Ordnung, Sozialstruktur, Kultur, Haltung, Subjektform etc. systematisch erfasst und als modern verstanden bzw. eingeordnet werden kann. Modern ist dabei eine der grundlegendsten Beobachtungskategorien der Soziologie und trägt zentral zu deren Selbstreferenzialität bei: Denn Soziologie schließt sich als moderne Erfindung in ihren eigenen Gegenstandsbereich ein (Nassehi 2011), wird also ihrerseits von diesem Beobachtungsschema erfasst und rekonstruiert sich selbst als moderne Struktur. »Frühere Epochen kennen keine Soziologie, und womöglich kennt die Soziologie auch keine früheren Epochen. Das heißt nicht, dass die Soziologie nicht frühere gesellschaftliche Formationen zum Gegenstand hätte, aber sie beobachtet diese stets mit einer Nomenklatur, die eine moderne Nomenklatur nicht nur deshalb ist, weil sie sich in der Zeit der Moderne ereignet, sondern weil das Gesellschaftliche erst einem modernen Beobachter als Gesellschaftliches erscheint.« (Nassehi 2009: 13, H.i.O.) Soziologie ist also zutiefst modern. Umgekehrt ist Moderne jedoch »in ihrem inneren Wesen zutiefst soziologisch« (Giddens 1996: 60), denn Selbstbezüglichkeit und Reflexivität – das Interesse am Beobachten und Analysieren des sozialen Geschehens – sind kennzeichnend für das moderne Zusammenleben, weit über die soziologische Disziplin und das wissenschaftliche Feld hinaus. Moderne und Soziologie konstituieren sich also wechselseitig: moderne Gesellschaften sind durch soziologische Selbstbetrachtung gekennzeichnet und »Soziologie ist in ihrem Grundverständnis um die Frage zentriert, was das Moderne der modernen Gesellschaft ausmacht« (Reckwitz 2005: 65)2 . 2
Reckwitz zufolge spricht einiges dafür, dass die Soziologie in ihrer konstitutiven Grundfrage weniger auf ›das Soziale‹, sondern vielmehr auf die Spezifika der Moderne ausgerichtet ist: Nicht nur sei ihre Gründung aus dem Interesse an der Erforschung moderner Gesellschaftsstrukturen erfolgt, auch stünde bis heute die Frage nach den Eigenheiten ebendieser Modernität im Zentrum des soziologischen Interesses. Auch die »Detailanalysen der soziologischen Empirie – von der Wirtschafts- bis zur Familiensoziologie […] – lassen sich in diesem Sinne kaum als Arbeit an einem Verständnis des Sozialen im Allgemeinen, sondern als Arbeit an einem Verständnis der modernen Vergesellschaftung in ihrer Besonderheit verstehen« (Reckwitz 2005: 74). Damit relativiert er die Kritik von Georg Kneer und Markus Schroer (2009), nach deren Auffassung der Umstand, dass nicht alle Soziologien auf die Produktion von Gesellschaftstheorie orientiert sind, ge-
3 Die modernisierungstheoretische Hegemonie der Soziologie sozialen Wandels
Die Entstehung der Soziologie kann also als Teil eines sozialen Wandlungsprozesses verstanden werden, der in spezifischer Weise erfahren und interpretiert wurde und zu einer bestimmten »Anschauungsweise, wie Menschen ihr Leben verstehen« führte, deren Besonderheit in einer »Verpflichtung zur Selbstbestimmung« liegt (Wagner 2007: 15). Zugleich bildeten sich Institutionen, Praktiken und Ordnungen des Zusammenlebens, die dieser grundlegenden Autonomie entsprechen, sie (re-)produzieren und evident machen. Soziologie – als in diesem Zuge möglich und sinnvoll gewordene reflexive Instanz – beschreibt und analysiert diese spezifischen Konstellationen von Weltund Selbstverhältnissen und sozialer Ordnung als modern bzw. Moderne. Mit Selbstbestimmung und Selbstverantwortung hinsichtlich sozialer Geschehnisse geht wiederum (das Wissen um) die beständige Möglichkeit zur Veränderung einher – diese Möglichkeit ist modernem Denken, Wahrnehmen und Handeln sowie modernen Institutionen immanent. Damit sind jedoch Wandelbarkeit und Wandel selbst konstitutive Merkmale moderner Strukturen: »Diese besondere gesellschaftliche Formation ›der Moderne‹ verändert sich selbst weiterhin in unberechenbarer Weise, möglicherweise auch in ihren Strukturmerkmalen – die gesellschaftliche Selbsttransformation scheint geradezu ein Strukturprinzip der Moderne darzustellen.« (Reckwitz 2005: 75)
3.2
Wandel als konstitutiver Aspekt von Moderne
Diesen Gedanken möchte ich etwas genauer beleuchten: Die Moderne, als jener gesellschaftliche Zustand, in dem die aufklärerische Prämisse des autonomen Menschen unhinterfragte Grundlage der Welt- und Selbstverhältnisse ist, zeichnet sich in der Konsequenz durch eine prinzipielle Wandelbarkeit aus. Soziale Verhältnisse sind also insofern modern, »als ihre Änderbarkeit und damit Vergänglichkeit in ihrer Definition mitgedacht wird« (Kaufmann 1986: 292). Dass eine Vorstellung von Moderne immer schon auch Wandel einschließt, ist bereits auf rein begrifflicher Ebene augenfällig. Hans Ullrich Gumbrecht stellt in begriffsgeschichtlicher Hinsicht drei Konnotationen von ›modern‹ heraus, die seinen Analysen zufolge historisch von variierender Relevanz waren: Modern kann demnach erstens gegenwärtig (im Gegensatz zu vorherig), zweitens neu (im Gegensatz zu alt) und drittens vorübergehend (im Gegensatz zu ewig) bedeuten (Gumbrecht 1978: 96). Dabei sind an den jeweiligen Sinn umfängliche Wirklichkeitskonzeptionen gebunden. Sowohl der soziologische Diskurs um ›Moderne‹ als auch jener um ›sozialen Wandel‹ verweisen auf die Voraussetzung eines hoch spezifischen Zeitschemas, das so grundlegend für die Selbst- und Weltverhältnisse moderner Gesellschaften ist,
gen die Annahme einer grundsätzlichen disziplinären Ausrichtung auf Moderne spricht. Reckwitz negiert keineswegs die Relevanz soziologischer Grundbegriffe wie Handeln, Struktur, Macht usw., verweist jedoch darauf, dass auch andere Sozialwissenschaften mit eben jenen Begriffen arbeiten. »Aber was die Soziologie von diesen Disziplinen weiterhin unterscheidet, ist ihr dezidiertes, eindeutiges Interesse an einer Theoretisierung der Strukturmerkmale der Moderne im Unterschied zu nicht-modernen Formen menschlichen Zusammenlebens, ihr Gegenwartsinteresse an den Bedingungen der ›Modernität‹« (Reckwitz 2005: 74).
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dass es weitestgehend naturalisiert wurde: »Die Behauptung, Zeit sei eine ›gegebene‹ lineare Größe, unendlich teilbar und fließe kontinuierlich in die Zukunft ab, bestimmt nicht nur das klassische naturwissenschaftliche Denken, sondern ist auch ein unbefragter Bestandteil unseres Alltagswissens.« (Hohn 1988: 121) Ein Blick in jene Vergangenheiten, in denen Zeit etwa zyklisch aufgefasst wurde, führt die raumzeitliche Spezifik einer Vorstellung vor Augen, die Zeit als unidirektionalen Strom entwirft. Die lineare Zeitvorstellung geht einher mit der Idee einer singulären Gegenwart, die sich gegen eine unwiderrufliche Vergangenheit und eine noch nicht existente Zukunft abgrenzt und ist damit sowohl Voraussetzung für das epochale Selbstverständnis von Moderne, einschließlich der Vorstellung eines epochalen Wandels als auch für eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich in jedem Moment aktualisiert. Gumbrecht setzt sich nun mit den spezifischen Qualitäten einer solchen modernen Vorstellung von Gegenwart näher auseinander und sieht diese unter anderem in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ verdeutlicht3 . So setzt etwa die Forderung, »daß der Vorrang, der bisher den ›antiken Anciens‹ zugemessen wurde, nun auf die ›modernen Anciens‹ als Vertreter einer Gegenwart übergehen müsse«, nicht nur die Entdeckung einer originären, einer eigenen neuen Beschaffenheit der Gegenwart voraus, sondern zugleich auch deren Auszeichnung gegenüber dem Vergangenen. Der Terminus ›modern‹ dient also »zur Bezeichnung einer in ihrem Eigenwert erkannte[n] Epoche der Gegenwart« (Gumbrecht 1978: 100). Diese ist durchdrungen von Neuartigem und Fortschrittlichem, welches wiederum positiv konnotiert ist. Zugleich wird jedoch potenziell jede Vergangenheit als vergangene Gegenwart rekonstruierbar. Entsprechend markiert das Prädikat ›modern‹ auch die aktuelle Gegenwart als zukünftige Vergangenheit und somit als alterndes Neues. Es bringt also »das Transitorische des historischen Augenblicks« (Gumbrecht 1978: 101) auf den Begriff: dem Modernen haftet etwas konstant Veränderliches an. Entsprechend integrieren auch »Zentralkategorien des modernen Selbstverständnisses« (Nassehi 2001: 215), wie Fortschritt oder auch Entwicklung, diesen Zeit- und Veränderungsbezug. Sie erlauben, »einen tiefgreifenden Erfahrungswandel sprachlich zu artikulieren« (Koselleck 2010: 123). Dabei zielen diese Kategorien nicht einfach auf einmalige (soziale, historische politische etc.) Umbrüche, vielmehr handelt es sich um prozessbezogene, auf Veränderung (genauer: auf Innovation) ausgerichtete Begriffe. Die mit ›Moderne‹ gefassten Erfahrungen schließen also das Gewahrwerden einer gewandelten, neuartigen Gegenwart ein, die sich von der Vergangenheit fundamental unterscheidet. Sie sind darüber hinaus aber auch durch Dynamisierung gekennzeichnet, durch die Präsenz auf Dauer gestellter Veränderung. Bei der Beantwortung der Frage, inwiefern sozialer Wandel ein konstitutiver Aspekt von ›Moderne‹ ist, fließen also die drei von Gumbrecht aufgezeigten Konnotationen zusammen: Die Zentrierung von 3
Bei der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ (um 1700) handelt es sich um einen Jahrzehnte andauernden Literat*innenstreit, der sich an der Statuierung der Antike als absoluten Maßstabs in geschmacklichen Fragen entzündete (Jauß 2007). Dabei stellten ›les Modernes‹ die normative Ausrichtung an den als zeitlos und universell deklarierten ästhetischen Standards antiker Vorbilder in Frage, arbeiten demgegenüber »Maßstäbe des zeitbedingten oder relativen Schönen heraus und artikulieren damit das Selbstverständnis der französischen Aufklärung als eines epochalen Neuanfangs.« (Habermas 1988: 17)
3 Die modernisierungstheoretische Hegemonie der Soziologie sozialen Wandels
Gegenwart, welche in spezifischer Weise als zwischen Vergangenheit und Zukunft stehendes neues, aber vergängliches Moment produziert wird sowie die Novität des Jetzt, das sich in beständiger Obsoleszenz, in andauernder Bewegung und damit in kontinuierlichem Wandel befindet. Michel Foucault (1990) weist jedoch darauf hin, dass sich ein modernes Welt- und Selbstverhältnis – eine ›Haltung der Moderne‹ – nicht in erster Linie durch die Wahrnehmung von Neuheit bzw. Vergänglichkeit auszeichnet. Modern-Sein charakterisiert er nicht als Möglichkeit, die »fortdauernde Bewegung anzuerkennen und anzunehmen; im Gegenteil, es bedeutet eine bestimmte Haltung gegenüber dieser Bewegung einzunehmen« (Foucault 1990: 42). Zwar bildet die implizite und diffuse Vorstellung einer gegen Vergangenheit und Zukunft abgegrenzten und dabei beständig vorübergehenden Gegenwart die notwendige Basis für eine moderne Haltung. Diese zeichnet sich aber vor allem durch eine bestimmte Form der reflexiven Beziehung zu eben dieser Gegenwart aus (Foucault 1990: 47). Nicht einfach nur die Erfahrung und Erkenntnis, dass sich die Welt verändert, sondern der reflexive Umgang damit, die Haltung gegenüber der Veränderlichkeit sind konstitutiver Bestandteil von Moderne.
3.3
Sozialer Wandel als Modernisierung
Soziologische Theoriebildung kann nun als eine Variante dieses modernen Umgangs mit Veränderlichkeit verstanden werden. Die Modernisierungstheorien bilden den Kern des soziologischen Diskurses um sozialen Wandel, wobei die modernisierungstheoretischen Prämissen weit über deren konkrete Konzepte hinaus Wirkung entfalten. Sie stellen Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur in der Soziologie, sondern auch in den Politikwissenschaften, der Ökonomie, den Geschichtswissenschaften etc., ein weites und bedeutendes Forschungsgebiet dar und fundieren auch nach ihrer Hochphase in den 1950er und -60er Jahren bis heute die Wandelforschung. Darüber hinaus konnten sie erfolgreiche Lesarten der ›soziologischen Klassiker‹ als ›Vorläufer‹ der Modernisierungstheorien etablieren und deren Forschungsarbeiten in der Rezeption auf modernisierungsbezogene Aspekte fokussieren. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirft Max Weber (1988a) die Frage auf, warum jenseits der westlichen Welt keine gesellschaftliche Entwicklung den Weg des für den Okzident typischen Rationalismus einschlägt – ohne damit jedoch im engeren Sinne eine modernisierungstheoretische soziologische Strömung zu begründen. Erst in den 1950er Jahren wird der Begriff ›Modernisierung‹ systematisch eingeführt. Er bildet dabei das Zentrum einer Forschungsperspektive, die zwar »Max Webers Fragestellung aufnimmt, aber mit den Mitteln des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus bearbeitet« (Habermas 1988: 10). Damit stellen die Modernisierungstheorien auch eine gewichtige Basis für jenen ›orthodox consensus‹ dar (Giddens 1979), der im 20. Jahrhundert den soziologischen Diskurs beherrschte und erst ab den 1970er Jahren verstärkt in die Kritik gerät. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn Hans-Peter Müller und Michael Schmid (1995a: 29) die mit Parsons’ Strukturfunktionalismus fundierte Modernisierungstheorie als »orthodoxes Paradigma« der Wandelforschung identifizieren und diese zugleich als »Höhe- und Endpunkt des Paradigmas sozialen Wandels« beschreiben (Müller &
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Schmid 1995a: 18f.), auch wenn viele ›klassische‹ modernisierungstheoretische Konzeptionen der 1950er und 1960er eher lose und oft verkürzend auf Parsons’ theoretische Überlegungen bezogen sind (Joas & Knöbl 2017). Trotz strukturfunktionalistisch-modernisierungstheoretischer Hegemonie entsteht bereits in den 1960er Jahren ein uneinheitlicher, aber vernehmlicher Gegendiskurs (Knöbl 2001), der eine Vielzahl an Kritiken gegen die dominante Perspektive vorbringt4 .
Drei Schwerpunkte der Modernisierungstheorien Um das Feld der Modernisierungstheorien zu ordnen, benennt Wolfgang Zapf (2006) drei Schwerpunkte des Diskurses, die verschiedenen historischen Kontexten zuzurechnen und hinsichtlich ihrer Fragerichtungen zu unterscheiden sind. Erstens verweist er auf die klassische Soziologie und deren Interesse an jenen Entwicklungen, in deren Verlauf sich seit den politischen, ökonomischen und sozialen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts die westlichen modernen Gesellschaften herausgebildet haben. (Proto-)Soziologen wie Karl Marx, Herbert Spencer, Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim und Max Weber werden daher nachträglich als Wegbereiter oder sogar Begründer der Modernisierungsforschung geltend gemacht. Im Zentrum dieser frühen theoretischen Auseinandersetzungen mit sozialen Dynamiken stehen Fragen nach Ursachen, Formen und Gesetzmäßigkeiten: Steht Wandel im Zeichen einer natürlichen Evolution oder wohnt sozialen Tatbeständen eine spezifische Eigendynamik inne? Folgt er festgelegten Stufen? Bedeutet er Fortschritt, Zerfall oder beides? Welche Dynamik bildet die Fluchtlinie gesellschaftlicher Entwicklung: Differenzierung? Rationalisierung? Kapitalisierung? (Scheuch 2003a) Die konzeptionelle Bandbreite innerhalb der ›klassischen‹ Diskussion um sozialen Wandel schlägt sich in den zu seiner Spezifikation verwendeten Begriffen wie ›Fortschritt‹, ›Evolution‹, ›Revolution‹, aber auch den Leitprinzipen benennenden Begrifflichkeiten (›Rationalisierung‹, ›Differenzierung‹ etc.) nieder. Der Modernisierungsbegriff hingegen wurde erst rückwirkend auf diese bezogen, wobei im Zuge der Einordnung als ›Theorien der Modernisierung‹ (vgl. z.B. Lahusen & Stark 2000) offene Fragen und Ambivalenzen, die in die klassische Diskussion um Wandel eingebettet waren, tendenziell unterschlagen werden. Diese speziellen Lesarten, welche lange Zeit »die Wahrnehmung der Klassiker der Soziologie als Vorläufer der Modernisierungstheorie« (Bonacker & Römer 2008: 362) geprägt haben, werden seit einiger Zeit kritisiert (Wehling 1992) und die klassischen Theorien als differenzierte Rekonstruktionen ambivalenter Wandelprozesse (wieder-)entdeckt (Scheuch 2003a). Zweitens verweist Zapf auf die vor allem in den 1950er Jahren geführte Diskussion um die ›Entwicklung‹ als ›rückständig‹ wahrgenommener Länder. Im Schnittfeld politischer, ökonomischer und entwicklungssoziologischer Fragestellungen kam der Begriff
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Die verschiedenen Positionen im soziologischen Modernisierungsdiskurs des 20. Jahrhunderts werden von Jeffrey Alexander (1994) aus einer neofunktionalistischen Perspektive zusammengefasst. Ein Überblick über die verschiedenen Konzepte bzw. den Diskurs der Modernisierungstheorien findet sich unter anderem bei Zapf (1971b, 1991a), Schelkle et al. (2000), Knöbl (2001), Scheuch (2003a) und Schwinn (2006b).
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der Modernisierung bereits zum Einsatz, noch bevor er zur Analyse sozialer Wandelprozesse westlicher Gesellschaften herangezogen wurde. Dabei knüpfen die Modernisierungsforscher*innen an der protosoziologischen Idee einer gestuften, von allen Gesellschaften gleichermaßen zu durchlaufenden Entwicklung an und entwerfen verschiedene Modelle zur Erforschung (›nachholender‹) gesellschaftlicher Entwicklung. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei der von Rostow (1971) als ›take-off‹ bezeichnete Übergang vom traditionalen Zustand eines ›Volkes‹ in den dynamischen Zustand der Modernisierung. Einmal auf den Weg gebracht – so die Vorstellung –, bilden ›rückständige‹ Gesellschaften jene strukturellen Merkmale aus, die kennzeichnend für bereits moderne Gesellschaften sind – »less developed societies acquire characteristics common to more developed societies« (Lerner 1968: 386). Die vordringlichen Fragen dieser entwicklungssoziologischen Modernisierungsforschung lauten entsprechend: Welche Faktoren evozieren Entwicklung und wie interferieren diese? Welchen Modernisierungsgrad hat eine jeweilige Gesellschaft schon erreicht? Und: Wie kann die Modernisierung von Gesellschaften unterstützt werden? Daher wurden innerhalb dieser – vor allem politisch motivierten (Berger 2006) – modernisierungstheoretischen Perspektive insbesondere anwendungsorientierte Modellierungen sozialen Wandels zur Erforschung auslösender Faktoren, relevanter Rahmenbedingungen, prognostizierbarer Verläufe und potenzialreicher Eingriffsmöglichkeiten entwickelt, wobei für die einzelnen Modelle üblicherweise universelle Gültigkeit vorausgesetzt und auch beansprucht wurde. Nicht zuletzt aufgrund der interdisziplinären Grundlagen des Diskurses florierte eine Vielzahl recht unterschiedlicher Erklärungsansätze: So identifizierte der Ökonom und Politikwissenschaftler Walt Rostow (1960) Industrialisierung und Produktivitätssteigerung als Motor der Modernisierung, während der Soziologe Daniel Lerner (1971) die Relevanz von Lebensstil und Persönlichkeit betonte, wohingegen der Politikwissenschaftler Gabriel Almond (1963) wiederum auf die Relevanz spezifischer politischer Haltungen und Attribute der Bevölkerung verwies. Als dritten Schwerpunkt der Modernisierungstheorien benennt Zapf jene Ansätze, die zwar an entwicklungssoziologische Überlegungen und Begrifflichkeiten anknüpfen, sich aber insbesondere mit der Modernisierung moderner Gesellschaften auseinandersetzen. Ähnlich wie ihre konzeptionellen Vorgänger identifizieren sie den Bruch mit der Tradition als zentrales Prinzip der Moderne. Darüber hinaus betonen sie jedoch eine konstante Orientierung auf Veränderung, im Sinne von Neuerung, als maßgebliches Charakteristikum: »Jeder einmal erreichte Zustand ist jetzt davon bedroht, seinerseits überholt zu werden. […] Der Übergang zur modernen Welt bedeutete daher nicht einfach den Eintritt in ein anderes Stadium der Geschichte, sondern er ist Basis für eine ganz neue Dynamik, eine Beschleunigung des Wandels und eine Steigerung des Tempos, die vor nichts Halt macht«. (Berger 2006: 201) Sozialer Wandel wird aus dieser Perspektive also als ein auf Dauer gestelltes und daher in seinen grundlegenden Funktionsprinzipien zu erforschendes Problem in den Blick genommen. Die forschungsleitenden Fragen zielen entsprechend auf die Herausarbeitung genereller Aspekte von Modernisierung: Was unterscheidet moderne Gesellschaften grundsätzlich von traditionalen Gesellschaften? Welcher Logik folgt der für moderne Gesellschaften charakteristische anhaltende Wandel? Wie sind die diversen modernen Gesellschaftsstrukturen miteinander verknüpft und in ihrer Dynamik von-
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einander abhängig? Grob lassen sich dabei zwei Zugänge unterscheiden (Zapf 1971a): Jene Ansätze, die explizit und systematisch auf die Erarbeitung theoretischer Konzepte der Modernisierung orientiert sind und jene, die zwar lose auf diese theoretischen Prämissen verweisen, Modernisierung jedoch vornehmlich in deskriptiver Form über deren empirisch zu beobachtenden Eigenschaften konturieren. Beide Vorgehensweisen schließen dabei an den Strukturfunktionalismus Talcott Parsons’ an, dessen Großtheorie nicht nur vielfältige Ansatzpunkte zur theoretischen Ausschärfung, sondern auch Heuristiken für weniger theoretisch ausgerichtete Zugänge liefert. Sie werden im soziologischen Diskurs zumeist als ›klassische‹ Modernisierungstheorien bezeichnet.
Die klassischen Modernisierungstheorien Als ›klassisch‹ sind jene Modernisierungstheorien benannt, die Mitte des 20. Jahrhunderts den soziologischen Diskurs dominierten und grundsätzlich – wenn auch relativ uneinheitlich und mehr oder weniger explizit – auf strukturfunktionalistische Basisannahmen rekurrierten. Teilweise beziehen sich schon ältere Konzepte der (nachholenden) Modernisierung zur theoretischen Fundierung ihrer Stufenmodelle auf den Strukturfunktionalismus (Lerner 1968; Rostow 1960). Denn auch diese zielten bereits auf ein relativ hohes Abstraktionsniveau sowie einen allgemeinen Erklärungsanspruch, um auf unterschiedliche Schwellenländer anwendbar zu sein. »Die strukturell-funktionale Theorie bot sich deshalb als Theorierahmen an, weil sie schon grundbegrifflich unterschiedliche Strukturen (Institutionen) für die Erfüllung grundlegender Funktionen und multiple manifeste wie latente Funktionen gegebener Strukturen konzipiert.« (Zapf 1991b: 32) Klassische Modernisierungstheorien können in ihrem Forschungsinteresse also sowohl auf nachholende Entwicklung nicht-moderner Gesellschaften als auch auf die anhaltende Modernisierung moderner Gesellschaften ausgerichtet sein. Sie werden durch ihre strukturfunktionalistischen Prämissen geeint, die sich wiederum in vier Basisannahmen ausdrücken lassen: Modernisierung ist demnach 1.) ein progressives Geschehen, in dessen Verlauf Gesellschaften in immer funktionalere Strukturen evolvieren; sie vollzieht sich 2.) systemisch und wird durch kausale Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Funktionsbereichen vorangetrieben; sie folgt 3.) universellen Prinzipien und ist daher ein globaler Prozess, der zudem 4.) irreversibel ist (Degele & Dries 2005). Die voluntaristische Handlungstheorie und strukturfunktionalistische Systemtheorie Talcott Parsons’ sowie später auch seine evolutionstheoretischen Arbeiten bieten den wohl umfänglichsten und einheitlichsten Rahmen zur Analyse von Modernisierungsprozessen. Sie bilden daher den theoretischen Fluchtpunkt der klassischen Modernisierungstheorien und können in der Folge auch als paradigmatisch für die Konzeption sozialen Wandels gelten (Müller & Schmid 1995a) – nicht nur, weil sich keine andere Theorie eine solche Deutungshoheit verschaffen konnte, sondern auch, weil sich kaum ein anderer Diskurs so intensiv und zentral mit sozialem Wandel auseinander gesetzt hat, wie der modernisierungstheoretische. Allerdings – so geben Hans Joas und Wolfgang Knöbl (2017) zu bedenken – beziehen sich viele der klassischen Modernisierungstheorien nur ausschnitthaft und unterkomplex auf Parsons’ Theoriengebilde und ignorieren oft seine explizit auf den Wandel von Gesellschaftssystemen zielenden Arbeiten (Par-
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sons 1960, 1964, 1971c). Diese wurden freilich erst zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu dem die funktionalistische Fundierung der Modernisierungstheorien bereits in vollem Gange war und eigene Wege eingeschlagen hatte. So kommt es zu dem merkwürdigen Umstand, dass viele Modernisierungstheorien »zwar ohne das Parsonssche Werk nicht zu verstehen« sind, ihre Konzepte »jedoch andererseits mit ebendiesem Werk auch an durchaus zentralen Stellen im Widerspruch standen« (Joas & Knöbl 2017: 430). Parsons versteht sozialen Wandel als Anpassung sozialer Systeme an die wechselhafte Umwelt, mit der üblicherweise Prozesse der (Wieder-)Herstellung eines innersystemischen ›stabilen Gleichgewichts‹ einhergehen5 . Der Begriff ›sozialer Wandel‹ kennzeichnet also auf allgemeinster Ebene den durch Veränderung der geltenden institutionellen Ordnung charakterisierten Wechsel vom einem Zustand der Gesellschaft in einen anderen, markiert mit anderen Worten den »Wandel im Typ der Gesellschaft« (Lockwood 1971: 124). Auch leitet Parsons einen Fluchtpunkt sozialen Wandels in Form eines funktionalistisch bestimmbaren Entwicklungsziels ab (Parsons 1971b): Aus strukturfunktionalistischer Perspektive gewährt eine ›konsensuell-rechtlich integrierte Gesellschaft‹ in höchstem Maße gesellschaftliche Anpassungs- und Steuerungskapazitäten und sichert so ihr überleben. Diese Gesellschaftsform ist daher nicht auf kulturelle Besonderheiten zurückzuführen, sondern erklärt sich aus den universellen Eigenschaften sozialer Systeme, welche sich entlang der vier Funktionssysteme Adaptation, GoalAttainment, Integration und Latency konkretisieren lassen. Ergebnis sind vier ›Entwicklungsuniversalien‹, die sozialen Wandel über die jeweiligen systemischen Funktionsbereiche strukturieren und mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später von jeder Gesellschaft herausgebildet werden, um ihren Fortbestand zu gewährleisten6 . Parsons identifiziert Bürokratie, Geld und Marktorganisation, demokratische Assoziation und generelle universalistische Normen als diese vier Universalien. Nicht nur lassen sich innerhalb der Funktionsbereiche je spezifische Entwicklungsuniversalien bestimmen, Parsons geht zudem davon aus, dass in jedem Bereich auch eigene Formen sozialen Wandels produziert werden, gesellschaftliche Entwicklung also von jedem der vier Funktionssysteme evoziert werden kann und entsprechend unterschiedlich ausfällt. Im Bereich Adaptation erfolgt Wandel über ein ›adaptive upgrading‹, womit eine Anhebung des gesellschaftlichen Standards und zunehmende (adaptive) Anpassung an die Umwelt bezeichnet ist. Im Bereich Goal-Attainment findet Wandel durch Differenzierung statt, also in Form einer immer detaillierteren Unterscheidung unterschiedlicher Problem- und Funktionsbereiche und einer immer komplexeren arbeitsteiligen Zuweisung von Zuständigkeiten und Problembearbeitungen. Im Bereich Integration zeigt sich Wandel als Inklusion, im Sinne einer Eingliederung bislang nicht integrierter Akteure und (Teil-)Systeme, insbesondere durch politisch-rechtliche
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Ein gesellschaftliches Gleichgewicht kann statisch, aber auch dynamisch sein, insofern als die Stabilität in dynamischen Systemen von kontinuierlicher Variation abhängt. Solche stabilisierenden Veränderungsprozesse unterscheidet Parsons systematisch von jenen, die die Struktur eines Systems grundlegend verändern, um sie der Umwelt anzupassen (vgl. Parsons 1981: 104). Allerdings ist für Parsons auch denkbar, dass sich Nischen bilden, in denen Gesellschaften dem Anpassungs- und Entwicklungsdruck entgehen und ohne nennenswerten Wandel verharren können (Parsons 1975).
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Maßnahmen. Und schließlich realisiert sich Wandel im Bereich Latency als Wertegeneralisierung, d.h. als Umwandlung partikularistischer in universalistische Werte (Parsons 1971b). Parsons entwirft also eine mehrdimensionale Wandeltheorie, wobei er davon ausgeht, dass der Wandel von Gesellschaften zumeist in Form funktionaler Differenzierung erfolgt (Parsons 1971a, 1981), die zugleich wichtiger Indikator für den Fortschrittsgrad einer Gesellschaft ist. Offen bleibt jedoch die Frage nach den konkreten Auslösern und Abläufen von Wandlungsprozessen auf der Handlungsebene (Joas & Knöbl 2017). Zwar stellt Parsons mit den ›pattern variables‹ auch ein mehrdimensionales handlungstheoretisches Analyseinstrumentarium bereit, um die komplexen Handlungsorientierung in modernen Gesellschaften rekonstruieren zu können. Anhand von fünf Dichotomien7 lassen sich Orientierungsmuster für konkrete Handlungssituationen ableiten, die in unterschiedlichen Mischverhältnissen gesellschaftlich institutionalisiert werden. Jede Dichotomie weist nun einen traditional und einen modern konnotierten Pol auf. Diese Konnotationen sind jedoch irreführend: Parsons weist (nicht zuletzt in seinen professionstheoretischen Arbeiten) darauf hin, dass in modernen Gesellschaften Kombinationen von Orientierungen beider Pole hoch funktional sein können, sich die pattern variables also nicht in eine Generaldichotomie ›traditional – modern‹ überführen lassen. Parsons legt damit sowohl für die Erforschung sozialen Handelns als auch für die Analyse sozialen Wandels jeweils komplexe, durch einen systemtheoretischen Rahmen zusammengehaltene Theorien vor. Die Verbindung zwischen den handlungstheoretischen und den evolutionstheoretischen Arbeiten bleibt jedoch vage, sodass die meisten modernisierungstheoretischen Ansätze Mitte des 20. Jahrhunderts eher allgemein am Modell der pattern variables anschließen, dieses entlang der verkürzenden Dichotomie von ›traditional – modern‹ dynamisieren (Joas & Knöbl 2017), oder aber die Entwicklungsuniversalien als Heuristik nutzen, ohne an deren theoretischen Fundierung mitzuwirken. Diese Tendenzen fallen zusammen mit einer Hinwendung zur verstärkt quantitativ-empirischen Erforschung sozialen Wandels und der Abkehr von theoretischen ›Kolossalgemälden‹ (Scheuch 2003a: 17). Waren die modernisierungstheoretischen Modelle der nachholenden Entwicklung noch auf gesamte Gesellschaftssysteme ausgerichtet, so setzen sich mit der Fokussierung von Wandlungsprozessen in bereits modernen Gesellschaften vermehrt Theorien mittlerer Reichweite durch (Scheuch 2003b) und mit ihnen die Überzeugung, dass sich »Modernisierungsprozesse […] auch ohne ›große Theorie‹ studieren« lassen, denn: »Ihre empirische Erforschung hat häufig andere Entwicklungslinien betont, als sie etwa durch die Kreuztabellierungen von Parsons’ soziologischer Theorie nahegelegt werden.« (Berger 2006: 210) Zugleich ist ein wesentlicher Teil der klassischen modernisierungstheoretischen Ansätze dem Vorwurf ausgesetzt, sich zwar latent auf funktionalistische Basisannahmen zu beziehen, die Forschungsarbeit jedoch nicht systematisch auf theoretische Konzepte rückzubinden. Vielmehr zielten sie auf die Katalogisierung von Modernisierungsmerkmalen und -prozessen,
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Affectivity/Affective neutrality; Self-orientation/Collectivity-orientation; Universalism/Particularism; Ascription/Achievement; Specificity/Diffuseness (Parsons et al. 1951: 77).
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nehmen sich also deutlich deskriptiver aus, als es der strukturfunktionalistische Überbau zunächst vermuten lässt. Außerdem schließen sie unmittelbar an Begriffe der soziologischen Klassiker an, ohne diese theoretisch stringent einzuordnen – wenngleich der Strukturfunktionalismus zumindest impliziter Bezugshorizont bleibt. Im Zentrum stehen dann modernisierungsrelevante Prozesse, die als Rationalisierung, Säkularisierung, Industrialisierung, Individualisierung etc. identifiziert, in ihren Einzelheiten erfasst und auf ihre Wechselwirkungen hin untersucht werden (vgl. z.B. Degele & Dries 2005; Kocka 2006; Zapf 1971b). Entsprechend diffizil ist es, einen gemeinsamen Kern der klassischen Modernisierungstheorien und eine geteilte definitorische Grundlage ihres Modernisierungsbegriffs zu bestimmen. Auch hier wird zumeist der Weg der Katalogisierung beschritten (Degele & Dries 2005), der wiederum zu einer lediglich merkmalbasierten Definition von Modernisierung führt. Prominent geworden ist Samuel Huntingtons (1971) Zusammenstellung von neun Charakteristika: Modernisierung ist demnach revolutionär, denn sie bedeutet einen fundamentalen Bruch, einen Wechsel von Tradition zu Moderne; sie ist komplex und nicht auf einen einzelnen Faktor rückführbar; sie ist ein systemischer, kohärenter Prozess, Veränderungen eines gesellschaftlichen Faktors stehen immer in Beziehung mit der Veränderung anderer Faktoren; sie ist global und geht von den westlichen auf die nicht-westlichen Gesellschaften über, ist aber immer zumindest teilweise endogen; Modernisierung ist aber auch ein andauernder Prozess, der viel Zeit benötigt; sie entwickelt sich außerdem in einer Phasenabfolge, bei der Stufen unterschieden werden können, die von alle Gesellschaften durchlaufen werden; sie wirkt homogenisierend, fördert also die Konvergenz zwischen Gesellschaften; und sie ist irreversibel, zwar kann es zu partiellen Entwicklungsrückschritten kommen, es ist jedoch nicht möglich, dass Gesellschaften hinter eine einmal erreichte Stufe zurück fallen; schließlich ist Modernisierung ein progressiver Prozess, der auf lange Sicht die gesamte Menschheit bereichert. Viele der von Huntington zusammengetragenen Basisannahmen sind inzwischen grundlegend kritisiert worden. Die damit einhergehende Relativierung der Modernisierungstheorien erfolgte aus verschiedenen Richtungen. Bereits seit den 1960er Jahren machen sich theoretische Strömungen vernehmlich – Dependenztheorie, Weltsystemtheorie, die Befreiungsphilosophie, Theorien der Postmoderne und des Postkolonialismus (vgl. Kapitel 3.3) –, welche die verdeckten normativen Grundlagen der Modernisierungserzählung kritisieren und dekonstruieren. Darüber hinaus wird jedoch auch Kritik am theoretisch-konzeptionellen Fundament geübt. Knöbl (2001) sieht daher das Scheitern der klassischen Modernisierungstheorien theorienimmanent begründet: »Die Modernisierungstheorie war auf zu wenig stabile Fundamente gebaut; es gab in ihr Schwachstellen, die sich nicht beheben ließen, Schwachstellen auch deshalb, weil die Theorie zwar einige begriffliche Instrumente der Parsonsschen Theorie übernahm, insgesamt aber die Komplexität des Parsonsschen Gedankengebäudes zerstörte und ein bei Parsons so nicht zu findendes, allzu vereinfachtes Bild von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen entwickelte.« (Joas & Knöbl 2017: 438) Allerdings richtet sich ein nicht unwesentlicher Teil der Theorienkritik auch gegen das von Parsons entworfene evolutionstheoretische Konzept sozialen Wandels selbst (Eisenstadt 1979; für einen Überblick vgl. Joas & Knöbl 2017; Müller & Schmid 1995a). Die Kritik
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zielt auf so unterschiedliche Aspekte wie Vagheit bzw. Unklarheit der Begriffe, unzureichende Theoretisierung von Wandelursachen bzw. zu deskriptive Ausarbeitung der Entwicklungsuniversalien, mangelnde Mikrofundierung oder auch auf die Basisannahme einer gesellschaftsimmanenten Tendenz zum Systemgleichgewicht. Auch konnten viele modernisierungstheoretisch formulierte Hypothesen zu sozialem Wandel empirisch nicht bestätigt werden (Scheuch 2003b): Weder die These einer irreversiblen Ausdifferenzierung sozialer Systeme, noch die Annahme, Traditionen würden im Laufe der Zeit verblassen und in globale Wertesysteme überführt, halten einer Überprüfung stand. Vielmehr lassen sich in modernen (europäischen) Gesellschaften Entdifferenzierungsprozesse beobachten (Knoblauch 2002) und verschiedene empirische Befunde weisen darauf hin, dass Traditionen durch die Moderne nicht etwa aufgelöst werden, sondern diese – im Gegenteil – deren spezifischen Entwicklungsweg beeinflussen (Kocka 2006: 66). Dies rückt schließlich auch den in den klassischen Modernisierungstheorien vernachlässigten Aspekt der Kultur ins Blickfeld.
Neomodernistische Modernisierungstheorien Ausgehend von Parsons’ theoretischen Überlegungen wurde die funktionalistische Konzeption sozialen Wandels verschiedentlich weiterentwickelt, insbesondere in Richtung einer handlungstheoretischen Fundierung, einer schlüssigen Integration konflikttheoretischer Überlegungen, sowie eines systematischen Einbezugs von Kultur (Alexander 1993; Eisenstadt 1979; Münch 1988, 1993). Die betreffenden Ansätze werden zumeist unter den Labeln ›Neo-Funktionalismus‹ (Alexander) oder ›Differenzierungstheorien‹ zusammengefasst (Joas & Knöbl 2017), firmieren aber auch unter Bezeichnungen wie ›Modernisierung II‹ oder ›neo-modernism‹ (Alexander 1994; Zapf 2006). Sie grenzen sich explizit von den klassischen Modernisierungstheorien und ihrem vergröbernden und verkürzenden Umgang mit Parsons’ Sozialtheorie ab (Schwinn 2009). Trotz voluntaristischer Handlungstheorie denkt Parsons sozialen Wandel ausgehend von Systemstrukturen, denen die Akteure letztendlich unterworfen sind. Er versteht sie als ›Handlungsträger‹, die in organisierten Handlungssystemen bestimmte Rollen ausagieren (Parsons 1981: 104) und entsprechend keinen (oder nur sehr geringen) Einfluss auf sozialen Wandel nehmen. Zwar vermutet Parsons den Schlüssel zu einer überzeugenden Wandelkonzeption in einer tragfähigen Verknüpfung von Handlungsund Ordnungs- bzw. Wandeltheorie (Parsons & Shils 1951), doch bleibt diese ein zentrales Desiderat seines Strukturfunktionalismus8 . Hier setzt nun ein Teil der neomodernistischen Ansätze an und arbeitet eine detaillierte Mikrofundierung moderner Entwicklungsprozesse aus. Wolfgang Zapf (2006) etwa konzipiert sozialen Wandel als Produkt handelnder Individuen und Gruppen, die jeweils nach neuen Möglichkeiten der Zielerreichung und Werterealisierung suchen, wobei die Durchsetzungschancen von den zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen abhängen. Wandel kommt dann als
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Die zentralen Leerstellen sehen Joas und Knöbel (2017: 116) einerseits in der fehlenden Verbindung zwischen pattern variables und den Funktionsanforderungen von Handlungssystemen, andererseits in der unzureichenden Plausibilisierung eben jener, von Parsons als universell gültig identifizierten, pattern variables.
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durchaus konfliktiver Prozess in den Blick, bei dem ›Modernisierer*innen‹, ›Bewahrer*innen‹ und ›Zuschauer*innen‹ konkurrieren. Michael Schmid (2016: 361) ist davon überzeugt, dass die neomodernistischen Ansätze durch eine neue, auf das Handeln der Akteure zentrierte Evolutionstheorie »einige der schwerwiegendsten Mängel ihrer klassischen Vorgängertheorie vermeiden kann«: In letzter Instanz wird sozialer Wandel auf die »Entscheidungen sozial bzw. institutionell gebundener Akteure« zurückgeführt, wobei Institutionen zwar als Selektoren wirken, ihrerseits jedoch vom Handeln der Akteure abhängen und somit der Wandel von Institutionen eine aggregierte Form akteursbasierter Wandlungsprozesse darstellt. Dieses Grundmodell sozialen Wandels sei so tragfähig, dass es – so Schmids Hoffnung – »die Soziologie von ihrer unfruchtbaren ›multiplen Paradigmastase‹ zu befreien verspricht« (Schmid 2016: 361). Auch aus der Konfliktsoziologie gehen Weiterentwicklungen bzw. konflikttheoretische Fundierungen des Strukturfunktionalismus hervor: »Autoren wie Ralf Dahrendorf und Lewis Coser haben gezeigt, dass funktionalistische Ansätze in der Tradition von Parsons dazu neigen, sich gesellschaftliche Integration als einen konfliktfreien Zustand vorzustellen und damit systematisch das Charakteristikum moderner Gesellschaften verfehlen.« (Bonacker 2009: 180) Während Lewis Coser – eine Variante des Strukturfunktionalismus pflegend, die sich nicht gänzlich mit den orthodoxen Theoriestrukturen deckt – bereits früh eine insbesondere konflikttheoretische Lesart im Rahmen des Paradigmas zu etablieren versucht (Coser 1956), strebt Richard Münch (1988) mit seinem neofunktionalistischen Ansatz eine Kombination verschiedener Novellierungsstrategien an. Seine in erster Linie handlungstheoretische Erweiterung integriert konflikttheoretische Lesarten sozialer Dynamiken, jedoch ohne sie zum zentralen Fluchtpunkt soziologischer Erklärung zu erheben: »Wir können den Konflikt als einen bewegenden Faktor begreifen, der zur Auflösung und Neuformulierung bestehender Institutionen drängt. Die Neuformulierung alter und die Etablierung völlig neuer Institutionen unterliegt jedoch denselben Bedingungen wie jede Ordnungsbildung überhaupt. […] Die kulturelle Legitimation von Institutionen durch rationale Argumentation und die Ausdehnung der Sozialisation, in deren Verlauf das Individuum in immer weitere soziale Kreise hineinwächst, üben selbst Druck auf den Wandel von Institutionen in die Richtung eines größeren Zwangs zur Rechtfertigung von Normen durch allgemeine Werte aus.« (Münch 1988: 109) Eine herausgehobene Position unter den Weiterentwicklungen der Modernisierungstheorien kommt dem Multiple Modernities-Ansatz von Shmuel Eisenstadt (Eisenstadt 2000, 2006, 2007) zu9 : Auf der Basis einer historisch-vergleichenden Zivilisationsforschung entwickelt er seine Modernisierungstheorie in Richtung einer kulturtheoretischen Lesart und nimmt eine Trennung von ›Modernisierung‹ und ›Verwestlichung‹ vor (Knöbl 2006). Dabei hat Eisenstadt sukzessive »den Strukturfunktionalismus durch die Integration alternativer Theorieströmungen erweitert […] und so in einen offenen, multidimensionalen Begriffsrahmen überführt […], mit dessen Hilfe er schließlich zu einer kultur- und zivilisationstheoretischen Konzeption der Vielfalt der Moderne vorgedrungen ist« (König 2005: 44). Er geht von spezifischen Kombinationen ›moderner‹ Eigen9
Für einen Überblick vgl. König (2005) und Preyer (2011).
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schaften institutioneller Bereiche wie Wirtschaft, Politik etc. aus, die von den jeweiligen ›kulturellen Traditionen‹ in unterschiedlichen Weltregionen bestimmt sind und entsprechend variieren. Damit verwirft er unter anderem die Universalismus- und die Konvergenzthese der herkömmlichen Modernisierungstheorien. Durch die verschiedenen Fragehorizonte, disziplinären Bezüge, Kritiken und Weiterentwicklungen bilden die Modernisierungstheorien ein eher heterogenes Feld, dessen Integrationskraft nicht zuletzt mit nachlassender Anerkennung und Legitimität der strukturfunktionalistischen Grundlagen schwindet. Johannes Berger (1996: 46) schlägt daher eine allgemeinere Charakterisierung der geteilten Grundannahmen entlang vier genereller Behauptungen vor: »Modernisierung ist eine interne Leistung der in diesem Prozeß begriffenen Gesellschaften; die einzelnen Züge der Modernisierung unterstützen sich wechselseitig; die Vorläufer behindern nicht die Nachzügler; Modernisierungsprozesse konvergieren in einem gemeinsamen Ziel«. Wesentlich deutlicher als in Huntingtons funktionalistisch gehaltenem Merkmalskatalog scheint in diesen Prämissen Modernisierungstheorie als normatives Projekt auf. Nicht zuletzt aufgrund der Visibilisierung und umfassenden Kritik der normativen Ausrichtung scheitert der offensive Anspruch auf paradigmatische Vorherrschaft: »Die Modernisierungstheorie« – so resümiert Berger (2006: 219) – »gibt es nicht mehr, zumindest nicht als eine lebendige, von einer einheitlichen Überzeugung angetriebene Forschungsrichtung«.
Kritik an modernisierungstheoretischen Ansätzen Bereits in den 1960er Jahren stellten sich die Dependenztheorien (Faletto & Cardoso 1976; Senghaas 1972, 1977) gegen die ebenso fortschrittsoptimistische wie ethnozentristische Vorstellung einer nachholenden Modernisierung. Sie betonen – im Gegenteil – die negativen Auswirkungen der asymmetrischen Beziehungen zwischen westlichen Zentren und nicht-westlicher Peripherie. An die Dependenztheorie schließen verschiedene Modernisierungskritiken lose an, darüber hinaus entspannt sich jedoch ein weiter, ganz unterschiedliche Theorietraditionen umfassender kritischer Diskurs. So problematisieren die diversen Zweige der Postcolonial Studies (Dussel 1993; Bhabha 2000; Moraña et al. 2008b) moderne und modernisierungstheoretische Grundpositionen ebenso wie Vertreter*innen der Postmoderne (Lyotard 1994) oder die Weltsystemanalyse (Wallerstein 1979, 1983). Während sich etwa die postmoderne Kritik insbesondere gegen den Rationalitäts- und Fortschrittsglauben der Moderne richtet und diesen als Bestandteil ›großer Erzählungen‹ dekonstruiert (Lyotard 1994), verweist Homi K. Bhabha (2012: 36) im Anschluss an Hannah Arendt darauf, dass die modernen Konvergenzbestrebungen »[i]n einem integrierten Weltsystem von Nationalstaaten […] keinen ›Freiraum‹ – keinen eigenen Handlungs- und Meinungsspielraum – für die Staatenlosen, Flüchtlinge, Minderheiten, Vertriebenen« zurückließe und die Moderne auf diese Weise den rigidesten Ausschluss und die strikteste Teilhabeversagung produziere. Auch Immanuel Wallerstein kritisiert die Konvergenzthese der Modernisierungstheorien, er setzt jedoch an der Perspektive der Dependenztheorie, also den Überlegungen zum ›ungleichen Tausch‹ und erzwungenen hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis zwischen ›Industrienationen‹ und ›Entwicklungsländern‹ an. Allerdings geht er grundsätzlich davon aus, dass eine binäre Klassifikation der Welt in Zentrum und Peripherie zu kurz greife
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und der Komplexität der Austauschprozesse und Machtverhältnisse nicht gerecht werde. Ein gewichtiger Teil der Postkolonialismuskritiken zielt in vielfältiger Form auf die verheerenden Folgen der Unterscheidung zwischen ›modernen‹ und ›nicht-modernen‹ Gesellschaften sowie der Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung, die der europäische Imperialismus und Kolonialismus über weite Teile der Welt gebracht hat. So mahnt etwa Enrique Dussel den Eurozentrismus der Modernisierungstheorie an, der das ›Andere‹, ›Nicht-Moderne‹ nicht nur deklassiert und marginalisiert, sondern zudem – obschon es für das Selbstverständnis konstitutiv ist – aus der Modernedefinition und insbesondere deren Produktion ausschließt: »[M]odernity is, in fact, a European phenomenon, but one constituted in a dialectical relation with a non-European alterity that is its ultimate content. Modernity appears when Europe affirms itself as the ›center‹ of a World History that it inaugurates; the ›periphery‹ that surrounds this center is consequently part of its self-definition. The occlusion of this periphery […] leads the major contemporary thinkers of the ›center‹ into a Eurocentric fallacy in their understanding of modernity.« (Dussel 1993: 65) Dussel kritisiert also die imperiale Überheblichkeit und zugleich blinde Provinzialität, mit der sich die Moderne als schicksalserwählten finalen Sinn der Universalgeschichte begreift (Dussel & Fornazzari 2002). Mit diesem Aspekt verschränkt er multiple Kritiken an der europäischen Gewalt gegen nicht-europäische Weltregionen, die nicht nur die kriegerischen, physisch versehrenden Übergriffe, sondern auch die symbolische Degradierung, kulturelle Verkennung und intellektuelle Ausgrenzung betreffen (Dussel 2013; Moraña et al. 2008a). Auch Aníbal Quijano verweist – ähnlich wie Dussel in der Auseinandersetzung mit marxistischen und neomarxistischen Diskursen – auf umfangreiche und vielfältige kolonialen Machtstrukturen und stellt insbesondere auf deren klassifizierende Gewalt ab: »One of the fundamental axes of this model of power is the social classification of the world’s population around the idea of race, a mental construction that expresses the basic experience of colonial domination and pervades the more important dimensions of global power, including its specific rationality: Eurocentrism. The racial axis has a colonial origin and character, but it has proven to be more durable and stable than the colonialism in whose matrix it was established. Therefore, the model of power that is globally hegemonic today presupposes an element of coloniality.« (Quijano 2008: 181) Sowohl Dussel als auch Quijano verbinden ihre Kritik an jenem eurozentristischen Fehlschluss und unreflektierten Perspektivismus, der auch den Modernisierungstheorien zugrunde liegt, mit einer Kapitalismuskritik – hierin treffen sie sich mit Wallerstein (Mignolo 2008). Allerdings grenzt sich insbesondere Dussel explizit von Wallerstein ab (Dussel & Fornazzari 2002), dessen Modernekritik – wie auch den entsprechenden Positionierungen des Postmodernismus, der Frankfurter Schule oder Emmanuel Levinas’ – es nicht gelingt »die Moderne zu überschreiten« und den »kolonialen Charakter der okzidentalen Machtausübung« einzugestehen (Dussel 2013: 96f., vgl. auch Mignolo 2008). Damit sind auch jene modernisierungskritischen Positionen ›okzidentaler‹ Tradition adressiert, die sich im Rekurs auf den zweiten Weltkrieg formieren und weniger die
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paternalistische koloniale Anmaßung als vielmehr die überoptimistische Grundhaltung sowie die hierin zum Ausdruck kommende Geschichtsvergessenheit der Modernisierungstheorien kritisieren und mit einiger Verzögerung die ›dunkle‹ oder ›barbarische‹ Seiten der Moderne (Miller & Soeffner 1996; Nassehi 2003) explizieren: »Es brauchte eine ganze Weile, bis europäische Autoren bereit standen, die die traumatischen Erfahrungen und dunklen Seiten des 20. Jahrhunderts innerhalb der Modernisierungstheorie zur Geltung zu bringen vermochten. Als es soweit war – man denke an Foucault und die Relektüre Max Webers, an Zygmunt Bauman, aber auch an Elias, der für beide Lesarten der Modernisierung offen ist –, bedeutete das eine schwere Erschütterung der optimistischen Weltsicht klassischer Modernisierungstheorien.« (Kocka 2006: 65) Dussel problematisiert nun diese (immanent bleibende) Modernisierungskritik und verweist auf die hohe Relevanz eines Standortwechsels, der durch eine Geistes- und Sozialwissenschaft nicht-europäischen Ursprungs realisiert werden kann. Leiden und Unterdrückung des ›Anderen‹ aus der Moderne heraus zu denken, enthebt diese Alterität nicht ihres abstrakten Status. In diesem Sinne modifiziert er Levinas’ Konzept der ›Exteriorität‹ und bindet es an konkrete Akteursgruppen und geographische Lagen. In der Materialisierung des Anderen wird nun eine Standortverschiebung der Kritik möglich: »Den Ursprung der Moderne mit neuen Augen‹ zu sehen, erfordert es, einen Platz außerhalb des lateinisch-germanischen Europas einzunehmen und es als externer Beobachter zu betrachten – jedoch nicht als ›Nullpunkt‹ der Beobachtung, sondern ›engagiert‹.« (Dussel 2013: 23) Entsprechend schlägt Dussel eine Doppelbewegung vor, die einerseits die (multiperspektivische) Modernekritik kontinuiert und andererseits das Moderneprojekt durch ein Konzept der ›Transmoderne‹ ersetzt: »Without contradicting this perspective, although implying a completely different intellectual commitment, the concept of ›post‹-modernity […] indicates that there is a process that emerges ›from within‹ modernity and reveals a state of crisis within globalization. ›Trans‹-modernity, in contrast, demands a whole new interpretation of modernity in order to include moments that were never incorporated into the European version. Subsuming the best of globalized European and North American modernity, ›trans‹-modernity affirms ›from without‹ the essential components of modernity’s own excluded cultures in order to develop a new civilization for the twenty-first century.« (Dussel & Fornazzari 2002: 223f.) Den Modernekritiken ist gemein, dass sie ein wesentliches Umdenken und Neudenken der implizit und explizit modernisierungstheoretischen Grundvorstellungen von Geschichte, Gesellschaft und generell des Sozialen einfordern. Dies ist – wie die Kritik Dussels verdeutlicht – deshalb eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, weil verschiedene Grundprämissen der Moderne bzw. Modernisierungstheorien tief im Denken, Wahrnehmen und Handeln ›moderner‹ Akteure verwurzelt sind und hier eine zumeist unreflektierte Wirkung entfalten. Von diesem Problem ist die Soziologie nicht ausgenommen. Was dies für die Konzeptualisierung sozialen Wandels bedeutet, möchte ich im Folgenden näher ausführen.
4 Zwei Lesarten von Moderne und alternative Rekonstruktionen sozialen Wandels
Obwohl die Modernisierungstheorien im engeren Sinne nur eine relativ kurze Blütezeit hatten (Knöbl 2001), zeitigen sie weitreichende Folgen für das soziologische Denken: Sie bilden den impliziten Bezugspunkt eines der zentralsten soziologischen Beschreibungs- und Analyseschemata, welches Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz (2007) als ›modernisierungstheoretisches Narrativ‹ herausarbeiten. Dieses prägt eine verbreitete und oft als selbstverständlich zugrunde gelegte sozialwissenschaftlichen Perspektive, entfaltet also seine Wirkung potenziell in allen soziologischen Forschungsbereichen, Fragestellungen und Gegenstandsrekonstruktionen. In Abgrenzung konturieren Bonacker und Reckwitz ein zweites, gegenläufig angelegtes und hinsichtlich der Wirkmacht im soziologischen Feld konkurrierendes ›kulturtheoretisches‹ Narrativ, das allerdings in einen wesentlich uneinheitlicheren Diskurs vornehmlich neostrukturalistischer, interpretativer, praxistheoretischer und postmoderner Perspektiven (Reckwitz 2008b, 2008c) eingebettet ist. Zwar prägt das modernisierungstheoretische Narrativ tendenziell die dominante Grundhaltung soziologischer Forschung, allerdings tritt zu verschiedenen Zeiten der Soziologiegeschichte und in den diversen teildisziplinären Kontexten mal das eine, mal das andere Deutungsmuster offensiv in Erscheinung. Dennoch darf die Unterscheidung der beiden Narrative weder als ein historisches Wechselspiel, noch als strikte Theoriensegregation fehlverstanden werden: »Tatsächlich haben in der Geschichte der Sozial- und Kulturwissenschaften beständig beide Vokabulare nebeneinander existiert (ebenso wie dies häufig bei einzelnen Autoren der Fall ist, in denen sich beide Tendenzen kreuzen).« (Bonacker & Reckwitz 2007: 8) Auch wenn ›Moderne‹ und ›sozialer Wandel‹ aufs engste miteinander verbunden sind, ist letzterer nicht ausschließlich in Konzepten der Modernisierung gefasst. Allerdings wird nicht nur Modernisierung im speziellen, sondern auch ›sozialer Wandel‹ im allgemeineren Sinne zumeist (implizit) in modernisierungstheoretischen Beobachtungs- und Analyseschemata konzeptualisiert und erforscht, wie die Einführungs- und Überblicksliteratur des soziologischen Wandeldiskurses zeigt (Lehner 2011; Müller & Schmid 1995b; Scheuch 2003b, 2003a). Hierzu zählen auch die eher
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latent auf theoretische Grundlagen rekurrierenden Arbeiten zum Wandel der Sozialstruktur (Hradil 2001; Vester 2009). Welche Konsequenzen sich daraus für die gängige Rekonstruktion sozialen Wandels ergeben, möchte ich im Folgenden anhand der von Bonacker und Reckwitz aufgezeigten Prämissen des modernisierungstheoretischen Narrativs verdeutlichen. Die ›Kulturtheorien der Moderne‹, auf der anderen Seite, befassen sich weitaus seltener explizit mit der Konzeption sozialen Wandels. Dies heißt keineswegs, dass sie sich ausschließlich situativ oder statisch mit sozialen Phänomenen auseinandersetzen: Die Chicagoer Studien der 1920er und 1930er Jahre etwa zeichnen Wandel in sozialen Gefügen aus einer ethnographischen, an Alltagspraxis interessierten Perspektive nach und nehmen dabei beispielsweise die sich wandelnde Lebenswelt der amerikanischen Wanderarbeiter (Anderson 1998) oder die Veränderungen im Alltag Chicagoer Miettänzerinnen (Cressey 2008) in den Blick. Auch die archäologischen und genealogischen Arbeiten Michel Foucaults (1994; 2006a; 2006b) und Pierre Bourdieus (1997b; 2000) Studium der sozialen Umbrüche in Algerien und Frankreich können als kulturtheoretische Auseinandersetzungen mit sozialem Wandel gelesen werden. Daniela Ahrens’, Anette Gerhards und Karl Hörnings (1997) Untersuchung über die Veränderung von Zeitpraktiken, Luc Boltanskis und Ève Chiapellos (2006) Arbeit über den ›neuen Geistes des Kapitalismus‹ und Susanne Völkers (2004) Analyse der ›Erwerbsorientierungen und Lebensarrangements von Frauen im ostdeutschen Transformationsprozess‹ sind ebenfalls Beispiele für umfangreiche und gezielte kultur- bzw. praxistheoretische Rekonstruktionen sozialer Wandlungsprozesse – ebenso wie die jüngst erschienene Studie über die Singularisierung der Gesellschaft von Andreas Reckwitz (2017a). Diese Forschungsarbeiten zeigen auf, was im Horizont des ›kulturtheoretischen Narrativs‹ als sozialer Wandel in den Blick kommt: vielgestaltige, ambivalente Verschiebungen in Sinnmustern und sozialen Logiken, umkämpfte Veränderungen in symbolischen Ordnungen, die Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Wandel sozialer Praxis, die sozial ungleiche Wirkung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen etc. Die systematische kultur- bzw. praxistheoretische Konzeptualisierung sozialen Wandels bleibt jedoch ein Desiderat, wie Wieland Jäger und Ulrike Weinzierl (2011: 25) hinsichtlich Bourdieus Praxeologie konstatieren: »Insgesamt betrachtet ist Bourdieu offenbar eher an ›Ordnung‹ interessiert als an deren Wandel. Überhaupt bleibt die Konzeptualisierung von sozialem Wandel unbefriedigend, sie scheint eher ein Randprodukt seiner Theorie zu sein. Bourdieu nähert sich unseres Erachtens mit der letztlich nur empirisch-historisch aufzuschlüsselnden Veränderung von Gesellschaftsbereichen der Geschichtsschreibung an.« Obgleich kultur- und praxistheoretische Perspektiven – wenn überhaupt – nur am Rande des Diskurses um die theoretische Konzeption sozialen Wandels in Erscheinung treten (Weymann 1998), stehen ihre Analysekraft und Konstruktivität bei der Erforschung sozialer Veränderungsprozesse außer Frage. Diese beziehen sie aus Beschreibungs- und Analyseschemata, die sich von den ›modernisierungstheoretischen‹ Kategorien unterscheiden und auch explizit abgrenzen. Im Anschluss an die Ausführungen zu den Wirkungsweisen einer modernisierungstheoretischen Lesart sozialen Wandels werde ich
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diesen daher die Wirkung einer kulturtheoretischen Lesart gegenüberstellen und in einem Zwischenresümee die Konsequenzen dieser Perspektivverschiebungen aufzeigen.
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Sozialer Wandel im modernisierungstheoretischen Narrativ
Bonacker und Reckwitz (2007) unterscheiden vier Prämissen, die charakteristisch sind für den Blickwinkel, den das modernisierungstheoretische Narrativ auf moderne Gesellschaften eröffnet: die Annahme einer grundsätzlichen Differenz zwischen Struktur und Kultur, die kategorische Unterscheidung von moderner und traditionaler Gesellschaft, die Voraussetzung einer wirkmächtigen Diskontinuität am Übergang zur Moderne sowie der immanenten Einheit und linearen Entwicklung selbiger und schließlich die Unterstellung universeller Rationalität. Diese Grundannahmen bedingen eine bestimmte Rekonstruktion sozialen Wandels und eine spezifische forschungsleitende Fragerichtung, sodass sie sich eignen, die grundsätzliche Ausrichtung der gängigen (modernisierungstheoretisch informierten) Wandeltheorien nachzuvollziehen.
Die Struktur-Kultur-Differenz der Moderne und die Strukturbezogenheit sozialen Wandels Das modernisierungstheoretische Narrativ unterscheidet zwischen Kultur und einer vorgelagerten sozialen Struktur, welche die Kultur – also Sinnwelten und Bedeutungsmuster – in letzter Konsequenz bedingt1 (Bonacker & Reckwitz 2007). Moderne zeichnet sich im Sinne der Modernisierungstheorien entsprechend durch eine »distinkte Struktur« aus gesellschaftlichen Teilsystemen und Institutionen aus, ist also auf einen »institutionellen Nukleus« zurückzuführen (Berger 2006: 209), der zwar je nach Theorie variieren kann, grundsätzlich für eine Analyse der Modernität jedoch konstitutiv ist. Prominent sind etwa die von Parsons deklarierten ›Entwicklungsuniversalien‹, Lerners ›salient characteristics‹ oder Zapfs ›Basisinstitutionen‹, aber auch Anthony Giddens und jüngst Detlef Pollack identifizieren verschiedene Grundstrukturen der Moderne2 . Ansatzübergreifend wird dabei wirtschaftlichen und politischen Aspekten besonders hohe Relevanz zugeschrieben. Modernisierungstheoretisch informierte Wandeltheorien sind entsprechend auf Prozesse der Veränderung sozialer Strukturen ausgerichtet: »Einen Wandel zu iden1 2
Besonders prominent ist diese Vorstellung im marxistischen Begriffspaar von Basis und Überbau eingelagert. Die jeweils zentral gesetzten Strukturen weisen dabei deutliche Parallelen auf: Parsons (1971b) unterscheidet Bürokratie, Geld und Marktorganisation, generelle universalistische Normen, demokratische Assoziation; Lerner (1968) hebt autonomes Wirtschaftswachstum, demokratische Repräsentation, Ausdehnung säkular-rationale Normen, steigende Mobilität, empathische und individualistische Persönlichkeit hervor; Zapf (1991b) benennt Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsgesellschaft mit Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat; Giddens (1996) stellt auf Kapitalismus, Industrialisierung, Nationalstaat bzw. machtmonopolistischer Staat ab; und Pollack (2016) betont Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Wohlfahrtssystem. In den genannten Strukturen spiegelt sich (partiell) nicht nur die jeweiligen (teil-)disziplinären Interessensschwerpunkte der Autoren, sondern auch deren historische Situiertheit.
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tifizieren, heißt aufzuzeigen, wie weit es innerhalb einer bestimmten Zeitspanne Änderungen bei der einem Objekt oder einer Situation zugrunde liegenden Struktur gibt […, bzw.] bis zu welchem Grad es in einem bestimmten Zeitraum zu einer Änderung der Basisinstitutionen kommt.« (Giddens 1996: 31) Dabei trennen die klassischen Modernisierungstheorien systematisch zwischen der Statik und der Dynamik gesellschaftlicher Strukturen und ermöglichen so eine gezielte Zuordnung von strukturellen Innovationen und strukturierten Entwicklungsdynamiken (Berger 1996; Parsons 1971b; Zapf 2018). So korrespondiert etwa die strukturelle Neuerung ›Konkurrenzwirtschaft‹ regelhaft mit einer entsprechenden Form des Wandels, nämlich ›Wachstumsdynamik‹, während ›Leistungsorientierung‹ mit Individualisierungsprozessen verbunden ist und ›funktionale Differenzierung‹ eine Komplexitätssteigerung bedingt (Berger 1996: 53). Darüber hinaus wird das Charakteristikum der Moderne, ihre auf Dauer gestellte strukturelle Dynamik, in einer dynamisierten Strukturdiagnose begrifflich gekennzeichnet, wobei »[n]eben der Kapitalisierung [, …] Industrialisierung, Technisierung, Zivilisierung und Urbanisierung, aber auch – theoretisch avancierter – Muster sozialer Differenzierung, vor allem funktionaler Differenzierung als mögliche Kandidaten einer […] Strukturdiagnose der Moderne in Frage« kommen (Bonacker & Reckwitz 2007: 9). Zentral ist nun, dass die systemrelevanten Strukturen aufgrund ihrer universellen Basisfunktionen und Wirkungsweisen Entwicklungsprozesse kulturunabhängig vorantreiben. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Behauptung einer grundsätzlichen Interdependenz moderner Strukturen, welche der modernisierungstheoretischen Konzeptualisierung sozialen Wandels zugrunde liegt: »Ihren Skopus erhält die Modernisierungstheorie […] erst durch die Annahme, dass die einzelnen Dimensionen nicht unabhängig voneinander auftreten, sondern einen intrikaten Verflechtungszusammenhang bilden (Lipset 1959). Die Behauptung eines nicht-zufälligen Zusammenhangs von wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, kulturellen Veränderungen wie zum Beispiel Wohlstandsanhebung, Demokratisierung, Menschenrechtsgarantie und Individualisierung stellt den Kern der Modernisierung dar.« (Pollack 2016: 222) Das ›Interdependenztheorem‹ der Modernisierungstheorie definiert also eine parallele und wechselseitig (kausal) abhängige Entwicklung verschiedener Strukturen und Basisinstitutionen als Kernelement sozialer Wandlungsprozesse. Um das Entwicklungsniveau einer modernen Gesellschaft zu erreichen, führt kein Weg an einer strukturellen Modernisierung vorbei, die wiederum gekennzeichnet ist durch spezifische wechselseitige Beeinflussungen zwischen den Strukturen. Bis heute wird der »intrikate Verflechtungszusammenhang« bestimmter Strukturen als Kern der Erforschung und Erklärung von Modernisierungsprozessen und mithin sozialen Wandels verteidigt: Pollack hält die Interdependenz moderner Strukturen nicht nur für »empirisch gesehen […] äußerst naheliegend« (Pollack 2016: 229), sondern begründet diesen systemtheoretisch mit der Kohärenz zwischen Ressourcenmehrung, funktionaler Differenzierung und funktionaler Verkopplung: »Wenn die Wirtschaftsleistung steigt, stellt die Wirtschaft Ressourcen bereit, aufgrund derer sich politisch, kulturell, sozial neue Handlungsgelegenheiten ergeben.
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Mit den wirtschaftlich zur Verfügung gestellten Ressourcen können das Bildungssystem, die sozialen Sicherungssysteme, das Gesundheitswesen, die Kunstförderung ausgebaut werden. Erhöht sich das Bildungsniveau der Bevölkerung, steigt auch ihre Bereitschaft zum politischen Engagement. Mit der Ausweitung politischer Partizipation erhöht sich das Vertrauen in staatliche Institutionen. Gewinnen rechtsstaatliche Sicherungen, zum Beispiel Eigentumsrechte, an Verlässlichkeit, beflügelt dies die Risikobereitschaft wirtschaftlicher Unternehmen usw.« (Pollack 2016: 229) Dieser Vorstellung von einer universellen, in Institutionen wie Staat, Demokratie, Markt, Geld etc. ruhenden Basisstruktur der Moderne, deren Teilelemente sich in wechselseitiger Abhängigkeit entwickeln, wurde in vielfältiger Weise widersprochen. Vor allem Eisenstadt kritisiert die modernisierungstheoretische Prämisse universeller und interdependenter Strukturen der Moderne als ethnozentristische Verkennung einer Vielzahl unterschiedlicher kulturbedingter Strukturkombinationen, die imstande sind, multiple Modernen hervorzubringen (Eisenstadt 2000). Anknüpfend an Eisenstadts Überlegungen macht sich in der modernisierungstheoretisch inspirierten Diskussion um sozialen Wandel eine Öffnung hinsichtlich der möglichen kulturellen Prägung moderner Strukturen bemerkbar. So finden Konzepte unterschiedlicher Entwicklungspfade der Moderne ebenso Anklang wie die Vorstellung divergenter Entwicklungsziele (Mergel 1997: 225f. vgl. auch Schwinn 2006a; 2013). Damit wird insbesondere auch die Interdependenztheorie in Zweifel gezogen – Thomas Schwinn (2009: 459) stellt etwa heraus, dass sich unter all den »widersprüchlichen Interessen und Vorstellungen […] kein systemfunktionales Erfordernis entdecken [lässt], das konkrete Maßnahmen zum Ausbau der Universitäten begründen und anleiten könnte«. Auf der anderen Seite sehen jedoch klassische modernisierungstheoretische wie auch neomodernistische Positionen in der vorgebrachten Kritik die Zentralität sozialer Strukturen für die Erforschung moderner Gesellschaft und deren Wandlungsprozesse bestätigt. Denn der radikale Einwand, »das Konzept einer Struktur der Moderne [sei] eine Chimäre« (Berger 2006: 209), entzieht nicht nur einer einheitlichen Vorstellung von Moderne den Boden, sondern auch jener vielfaltsorientierten Konzeption, die Eisenstadt vertritt: Wenngleich Kultur im Multiple-Modernities-Ansatz einen wesentlich bedeutsameren Stellenwert erhält und die programmatische wie konzeptionelle Betonung von Struktur kritisiert wird, so scheint doch eine grundsätzliche Differenzierung zwischen Kultur und Struktur auf. Auch Eisenstadt ist daher letztlich gezwungen, seine Argumentation abschließend auf die (strukturelle!) ›Einheit der Moderne‹ zu orientieren (Schwinn 2006a).3 Die modernisierungstheoretische Prämisse einer Struktur-Kultur-Differenz legt also fest, auf was sich sozialer Wandel grundsätzlich bezieht: auf Institutionen und sozialstrukturelle Ordnungen im Horizont funktionaler Differenzierungsdynamiken. Mit dieser Einschränkung werden Veränderungen in symbolischen Ordnungen, kulturellen Mustern oder auch Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Handlungsmustern entweder ausgeblendet oder als Resultat der strukturellen Veränderungen gedeutet. 3
Diese Kritik trifft jedoch nur auf bestimmte Teile des theoretischen Werks Eisenstadts zu. Vor allem in seinen späten Texten findet er im ambivalenten ›kulturellen Programm der Moderne‹ deren integrativen Kern – und nicht etwa in allgemeinen modernen Strukturen (Eisenstadt 2007).
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Auch wenn Kulturen teilweise ein gestaltender Einfluss zugesprochen wird, bleibt die basale Differenz zu Struktur bestehen. Strukturen bewahren damit ihren konzeptionellen Stellenwert als soziale Tatbestände, deren Wandel es zu erklären gilt. Zudem gelten sie dem Gros der modernisierungstheoretischen Positionen als Motor des Wandels. Gerade das Proklamieren spezifischer Modernestrukturen sowie die Behauptung ihrer Interdependenz schabloniert sozialen Wandel und lässt Veränderungsprozesse, die hiermit nicht übereinstimmen, als Abweichungen, Regelausnahmen oder sogar durch Störung der strukturellen Wechselbeziehung hervorgerufene Misserfolge erscheinen. Entlang der analytisch scharfgestellten Sozialstrukturen forciert das modernisierungstheoretische Narrativ also einen binären Blick auf sozialen Wandel, der dann dementsprechend als funktional oder dysfunktional, normal oder abweichend, Fortschritt oder Rückschritt usw. wahrnehmbar wird.
Tradition-Moderne-Differenz und die Angewiesenheit sozialen Wandels auf strukturelle Brüche Ein zweites zentrales Moment des modernisierungstheoretischen Narrativs sehen Bonacker und Reckwitz (2007) in der grundlegenden Unterscheidung von Moderne und Nicht- bzw. Vor-Moderne. Diese Differenz ist keineswegs nur implizit gehalten, sondern findet – vor allem in den klassischen Modernisierungstheorien – eine überdeutliche Betonung. Dabei wird sie häufig als historische Diskontinuität charakterisiert, die von überragender Relevanz sowohl für die soziologische Theorienbildung als auch allgemein für die soziale (Welt-)Geschichte ist: »So verschieden die Begrifflichkeit und die Schwerpunktsetzung der klassischen Soziologie im Einzelnen auch sein mögen, die klassischen Systeme sind alle von dem Gedanken beherrscht, daß die moderne Gesellschaft in einer Zäsur welthistorischen Ausmaßes auf den Plan getreten ist, einer Zäsur, die allenfalls noch vergleichbar ist mit der neolithischen Revolution, dem Übergang von ›primitiven‹ zu ›hochkulturellen‹ Gesellschaften.« (Berger 1988: 225, H.i.O.) Die Generaldifferenz zwischen Nicht-Moderne und Moderne wird dabei nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich festgelegt. Dies setzt zunächst eine Vereinheitlichung von Zeit und Raum und letztendlich auch ›der Menschheit‹ voraus. Zeit und Raum bilden gewissermaßen die Achsen eines Systems von Bezugspunkten, die bestimmte Durchbrüche der Moderne in der Menschheitsgeschichte markieren – etwa die industrielle Revolution, die Einführung der Demokratie, die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien etc. (Dreitzel 1967; Wagner 2007). Durch die (implizite) Bezugnahme auf eine ›Welt-‹ oder ›Menschheitsgeschichte‹, in der alle Ereignisse in einem »einheitlichen und unumkehrbaren Ablauf« geordnet sind (Dreitzel 1967: 26), beteiligt sich der modernisierungstheoretische Diskurs an der Universalisierung und Naturalisierung eines okzidentalen Temporal- und Spatialschemas und statuiert es als unhintergehbare ›vorsoziale‹ Bedingung des (sozialen) Lebens. In der Vorstellung von der Einmaligkeit der Ereignisse und der Unwiederholbarkeit vergangener Zeit ist wiederum eine charakteristische Form der Gegenwartsbestimmung eingelassen: die »Reflexion auf das ›Heute‹ als Differenz in der Geschichte« (Foucault 1990: 41). Diese wirkt konstitutiv für das modernisierungstheoretische Moderneverständnis, denn »[o]hne diese Unterscheidung von einem ›Anderen‹, von dem, was sie nicht ist, würde die Moderne als abgrenz-
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bares Phänomen selber an Identität verlieren. […] Die Moderne ist per definitionem nicht traditional, die traditionale Gesellschaft nicht modern« (Bonacker & Reckwitz 2007: 10).4 Sozialer Wandel findet nach dieser Lesart zunächst vor allem zwischen VorModerne und Moderne statt: »The bridge across the Great Dichotomy between modern and traditional societies is the Grand Process of Modernization.« (Huntington 1971: 288) Dabei wird der Übergang vom einen in den anderen Gesellschaftszustand nicht als sachte, lückenlose und kontinuierliche Transformation entworfen, sondern stellt im Sinne des modernisierungstheoretischen Narrativs einen Bruch dar, dessen Opposition ja gerade das identitätsstiftende Moment der Moderne birgt (Habermas 1988): So ist beispielsweise die moderne Demokratie kein Absolutismus und auch nicht dessen Weiterentwicklung, die arbeitsteilige industrielle Produktion steht nicht in der Tradition der integrierten Hauswirtschaft vormoderner Agrargesellschaften und der moderne Säkularismus bildet einen harten Kontrast zu nichtmoderner Religiosität und Magie. Zwar besitzen die Strukturen der Moderne ihrerseits einen prozesshaften Charakter (Demokratisierung, Industrialisierung, Säkularisierung usw.), der vorgelagerte Wechsel von vor- bzw. nichtmodernen hin zu modernen Sozialformen bedeutet jedoch eine Zäsur und wird daher zumeist narrativ mit einem revolutionären Schlüsselereignis verknüpft (französische Revolution, industrielle Revolution etc.). Entlang dieser fundamentalen Differenz zielt die Erforschung sozialen Wandels weniger auf die Schlüsselereignisse (deren Erforschung ist den Historikern überlassen), sondern vor allem auf dessen Dimensionierung: Inwiefern unterscheiden sich Vor- bzw. Nicht-Moderne und Moderne? Welche Strukturen sind für moderne Gesellschaften charakteristisch? Wie verändern sich diese im Laufe des Modernisierungsprozesses? Die Charakteristika der Moderne, die erst im Kontrast zur Nicht-Moderne zur Geltung kommen, bilden die analytischen Fluchtpunkte der modernisierungstheoretischen Konzeption sozialen Wandels. Hinzu kommt, dass – insbesondere im Rahmen der klassischen Modernisierungstheorien – die globale Durchsetzung der modernen Gesellschaftsform, vermittelt über die identifizierten ›modernen‹ Institutionen, als unausweichlich erscheint. Denn die Steigerung von Wohlstand, medizinischer Versorgung, Möglichkeiten der individuellen Selbstverwirklichung etc. wird als derart überlegen angenommen, dass eine dauerhafte Koexistenz von Vormoderne und Moderne ausgeschlossen oder zumindest höchst unwahrscheinlich ist (Berger 1996). Die strukturellen Merkmale der Moderne bilden entsprechend eine Blaupause der Modernisierung, die genutzt werden kann um »[i]n verschiedenen Tableaus […] Eigenschaften von Individuen, Institutionen und kulturellen Werten dichotomisch als modernitätstauglich oder -hinderlich« zu sortieren (Schwinn 2006a: 11) und entlang dieser Parameter nichtmoderne Gesellschaften zu ›entwickeln‹5 .
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Diese Form ›negativer‹ Selbstbestimmung weist Foucault (1990) wiederum als Erfindung der Aufklärung aus. In der Differenzierung von Moderne und Nichtmoderne ist die Vorstellung von statischen bzw. zyklischen Kulturen der ›Naturvölker‹ eingelagert, die mit Eintritt in den Modernisierungsprozess von der Fortschrittsdynamik erfasst werden und sich ab diesem Moment in einer linearen (nachholenden) Entwicklung den Strukturen moderner Gesellschaften anpassen (Scheuch 2003a).
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Die stillschweigende Generalisierung jener Maßstäbe, die ›moderne Überlegenheit‹ anzeigen, verdeckt dabei die Normativität des Unterfangens: »Die Modernisierungstheorie nimmt an Webers Begriff der ›Moderne‹ eine folgenreiche Abstraktion vor. Sie löst die Moderne von ihren neuzeitlich-europäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen Rationalismus in der Weise, daß die Modernisierungsvorgänge nicht mehr als Rationalisierung, als eine geschichtliche Objektivation vernünftiger Strukturen begriffen werden können.« (Habermas 1988: 10f.) Die radikale Diskontinuität zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften wurzelt konzeptionell und argumentativ also nicht nur in der Vorstellung einer Unumkehrbarkeit der Menschheitsgeschichte, sondern insbesondere auch in der Universalisierung moderner Strukturen, zu deren Entwicklung es prinzipiell keine Alternative gibt. Moderne Gesellschaften erscheinen dann nicht als historisch gewachsene (und kontingente) soziale Formationen, sondern als jene Teile der sozialen Welt, die den gebotenen Wandel bereits vollzogen haben. Dies ist insofern problematisch als sozialer Wandel selbst – Huntingtons ›Brücke‹ also zwischen traditionaler und moderner Gesellschaft – theoretisch und empirisch unbestimmt bleibt: Was Wandel verursacht bzw. vorantreibt und welche (kausalen) Zusammenhänge zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen, wird nicht näher ausgeführt. Zwar sind im modernisierungstheoretischen Narrativ Erklärungsmuster eingelassen, die soziale Dynamik behandeln, v.a. evolutionstheoretische Argumentationen bzw. die Prämisse einer universalen Tendenz zur Rationalisierung. Insbesondere hinsichtlich der historischen Zäsur, die zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften behauptet wird, lösen sich diese Begründungslinien jedoch von den konkreten Modernisierungsprozessen ab. Die Folge ist eine Verwischung von Explanans und Explanandum des sozialen Wandels (Joas & Knöbl 2017; Vester 2009): Durch die vage theoretische Rückbindung und die radikale konzeptuelle Diskontinuität zwischen traditionellen und modernen Strukturen lassen sich letztere im Grunde nur aus sich heraus erklären. Die Implementierung einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die Verbreitung massenmedialer Kommunikation, Individualisierungstendenzen usw. sind nur durch andere moderne Phänomene begründbar und treten entsprechend sowohl als Ursache als auch als Folge sozialer Wandlungsprozesse in Erscheinung. Zwar machen solche kausalen Zirkelschlüsse die Zentralität der modernisierungstheoretischen Interdependenzthese nachvollziehbar, den Blick auf sozialen Wandel engen sie jedoch ein. Zusammenfassend und mit Blick auf die Schwerpunktsetzungen bei der Erforschung sozialen Wandels lässt sich feststellen: Die modernisierungstheoretische Prämisse einer »Globalunterscheidung« (Lichtblau 2002: 4) zwischen Tradition und Moderne betont das Interesse an dem, was die Moderne im Kern ausmacht. Entsprechend kommen nicht die Bedingungen, Ursachen und Eigenheiten sozialen Wandels in den Blick, vielmehr wird dessen Analyse auf die Art der Zustandsveränderung und vor allem die qualitative Differenz zwischen modernen und nicht-modernen Strukturen fokussiert. Zusätzlich prädeterminieren die Universalisierung eines spezifischen
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Institutionensets als Struktur der Moderne sowie die Annahme ihrer räumlichen Ausdehnung den Fokus der Wandelforschung. Dies gilt auch für die ihrerseits als Merkmal der Moderne identifizierte Wandelbarkeit bereits moderner Strukturen: Industrialisierung, Individualisierung, Demokratisierung etc. können zwar aus der Perspektive sozialen Wandels untersucht werden, jedoch sind sowohl die betreffenden Institutionen als auch die groben Entwicklungstendenzen bereits im Vorfeld bestimmt.
Einheit und Linearität der Moderne als Bedingungen universaler Prinzipien sozialen Wandels An das vereinheitlichte und universalisierte Raum-Zeit-Schema knüpft sich im modernisierungstheoretischen Diskurs ein doppeltes Beobachtungsmuster, das ebenfalls die Betrachtung sozialen Wandels strukturiert. Bonacker und Reckwitz (2007: 10) benennen diese Doppelstruktur als ›Annahme der Diskontinuität, der immanenten Einheit und der Linearität‹: Die Trennung von moderner und traditioneller Gesellschaft und die damit einhergehende »Markierung einer Diskontinuität enthält als Kehrseite die Annahme einer prinzipiellen ›Kontinuität nach innen‹, einer grundsätzlichen immanenten Einheit sowohl der traditionalen Gesellschaft als auch – wichtiger noch – der Moderne. Im modernisierungstheoretischen Narrativ kann es nur eine Moderne geben, der fix zurechenbare Merkmale zukommen – eine Entwicklung innerhalb der Moderne lässt sich dann (abgesehen von Episoden des ›Rückfalls‹) nur als eine Steigerung der als modern angenommenen Merkmale denken: eine noch radikalere Differenzierung, Individualisierung, Technisierung etc.« (Bonacker & Reckwitz 2007: 10f.). Linearität bezieht sich also auf die kontinuierliche Entwicklung spezifisch moderner Strukturen im Zuge des moderneimmanenten Wandels. Zugleich ermöglicht es das lineare Zeitkonzept, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer logisch aufeinander bezogenen Reihung zu verstehen und gegenwärtige Formen menschlichen Zusammenlebens mit der Vergangenheit in Beziehung zu setzen. Dies entspricht dem (proto-)soziologischen Entwurf einer in Entwicklungsstadien gestaffelten Menschheits- bzw. Gesellschaftsgeschichte, wie sie etwa Comte oder Marx formuliert haben und ist darüber hinaus auch mit der Stufung vormoderner, moderner und gegebenenfalls postmoderner Gesellschaften impliziert. Im modernisierungstheoretischen Narrativ wird sozialem Wandel also in doppelter Hinsicht Linearität unterstellt: Einerseits in Form einer Tiefenstruktur, welche die Diskontinuität zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften in eine sinnvolle Folge bringt und zweitens in Form einer Kontinuität der Wandeldynamik bereits moderner Gesellschaften, bei der die kontinuierliche Entwicklung moderner Merkmale auf Dauer gestellt ist. Sozialer Wandel erscheint in beiden Fällen »im Wesentlichen nicht als kontingenter, gesellschaftlich strittiger Prozess, sondern als ein linearer Entwicklungs- und Entfaltungsprozess« (Bonacker & Reckwitz 2007: 11), für den sich allgemeine Entwicklungsgesetze formulieren lassen: »Anders als der kulturelle Relativismus, der davon ausgeht, daß Kultur, Politik und Wirtschaft ›randomly related‹ sind, nimmt die Modernisierungstheorie an, daß der sozioökonomische Wandel nach einem kohärenten und vorhersagbarem
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Muster abläuft.« (Berger 1996: 49) Die Konsequenz ist eine nomothetisch ausgerichtete Wandelforschung. Unterstellt wird entsprechend eine übergeordnete, universelle Entwicklungslogik, der sozialer Wandel folgt. Dies ist bereits in den Anfängen soziologischen Denkens eine zentrale Prämisse und zugleich wichtiger Fluchtpunkt der Forschung. In aufklärerischer Tradition wird dabei die Frage nach der Wandellogik zunächst geschichtsphilosophisch gerahmt: Der Verlauf der Menschheitsgeschichte zeichnet einen zielgerichteten, gen Vernunft und Freiheit strebenden Prozess nach6 , der durch festgelegte historische Phasen führt, welche wiederum Ausdruck der fortschreitenden Naturbeherrschung und Vernunftentfaltung sind. Der Entwicklungszusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegt dabei in der konsequenten Transformation des menschlichen Geistes und des Zusammenlebens in eine jeweils komplexere Form, die als Fortschritt zu ›Höherem‹ oder ›Besserem‹ normativ aufgeladen ist7 . Da der Entwicklungsstand der (geistigen) Menschheitsgeschichte seine Entsprechung in einer korrespondierenden Gesellschaftsform findet, ist auch sozialer Wandel – analog zum geistesgeschichtlichen Wandel – als universeller, teleologischer Prozess gefasst. Die Idee einer Stufenabfolge gesellschaftlicher Entwicklung ist in der Soziologie inzwischen zwar deutlich abgeschwächt, aber dennoch wirkmächtig und präsent – etwa in Ulrich Becks Sequenzierung der ersten und zweiten Moderne, vor allem aber in der Basisunterscheidung zwischen Vormoderne und Moderne. Darüber hinaus schließt das modernisierungstheoretische Narrativ jedoch auch an die Tradition der sozialwissenschaftlichen Evolutionstheorien an. Dieser Rekurs auf Denktraditionen sowohl der gesellschaftlichen Stufung als auch der evolutorischen Entwicklungslinie drückt sich in der »durchaus paradoxen Kombination« von Diskontinuitätsannahme und kontinuierlicher linearer Steigerungslogik aus (Bonacker & Reckwitz 2007: 11). Zwar zeigen sich auch im ›goldenen Zeitalter evolutionären Denkens‹ (Sanderson 2001), welches zusammenfällt mit der Institutionalisierung der soziologischen Disziplin, zahlreiche Verbindungen zwischen evolutionstheoretischen Konzepten und Stufenmodellen, beispielsweise geschichtsphilosophischer Ausrichtung8 . Es finden jedoch auch Abgrenzungen gegen allzu unbefangene Unterstellungen einer sozialgeschichtlichen causa finalis statt, zum Beispiel in Form von selektionistisch ausgerichteten Konzepten (Mann
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Freiheit und Vernunft als Fluchtpunkte der Entwicklung werden dabei naturphilosophisch und anthropologisch begründet. Zwar mögen einige historische Phasen-Modelle gesellschaftlicher Entwicklung auf die christliche Eschatologie einer theologisch begründeten (Heils-)Geschichte zurückzuführen sein, im 19. Jahrhundert ist diese jedoch bereits weitestgehend ihrer theonomischen Grundlagen enthoben. Besonders deutlich wird der aufklärerische Entwicklungsoptimismus bei Auguste Comte (1967: 111): »Obgleich zunächst in jeder Hinsicht unentbehrlich, muß das erste Stadium hinfort stets als bloß provisorisch und vorbereitend aufgefaßt werden; dem zweiten, das tatsächlich nur eine auflösende Abart des ersten darstellt, kommt stets nur eine vorübergehende Bestimmung zu, um schrittweise zum dritten hinzuführen; in dem, als dem allein vollständig normalen (normgemäßen), in jeder Beziehung die endgültige Herrschaft der menschlichen Vernunft besteht.« So kann etwa die Theorie Auguste Comtes auch als eine frühe evolutionistische Konzeption aufgefasst werden, da es sozialen Wandel als Anpassung an die natürliche Umwelt erklärt (Roucek 1981).
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1982: 86). Diese sind nach wie vor teleologisch angelegt, verlagern die Argumentation jedoch in Richtung einer (sozial-)anthropologischen Zweckmäßigkeitslehre. Herbert Spencer (1967) beispielsweise versteht soziale Evolution als Anpassung an die Natur, die in sozialen Systemen durch einen Wandel von ›unzusammenhängender Gleichartigkeit‹ zu ›zusammenhängender Verschiedenartigkeit‹ geleistet wird. Sozialer Wandel bezeichnet also eine Entwicklung: die ›universale Transformation‹ eines inkohärenten, unbestimmten und homogenen Zustands in einen kohärenten, bestimmten, heterogenen Zustand. Die grundlegenden Prämissen einer sozialwissenschaftlichen Evolutionstheorie sind tief in das modernisierungstheoretische Narrativ eingelassen. Parsons verweist gar explizit auf die konstitutive Notwendigkeit einer evolutionstheoretischen Fundierung der Soziologie (Parsons 1975), wendet sich jedoch gegen Spencers utilitaristische Handlungstheorie und naturalistischen Evolutionismus und damit gegen die Grundlagen der protosoziologischen Evolutionstheorie. Anders als Spencer, der von evolutionärem Fortschritt durch natürliche Selektion und einem eher passiven ›survival of the fittest‹ ausgeht, nimmt Parsons an, dass sich die Weiterentwicklung von Gesellschaften maßgeblich über Lernprozesse vollzieht. Diese zeigen sich als endogene Entwicklungsvollzüge, die jedoch auch durch ›Prozesse der Kulturdiffusion‹ als »exogene ›Anleihen‹ bestimmter kultureller Errungenschaften […] zwischen Gesellschaften vermittelt« werden können (Parsons 1971a: 38). Von den frühen (Sozial-)Evolutionist*innen grenzt sich Parsons auch insofern ab, als er sich von biologistischen und kulturanthropologischen Argumentationen distanziert. Zwar kann der Wandel eines Gesellschaftssystems exogene Ursachen biologischer Art aufweisen, wenn etwa Veränderungen in den umgebenden ›Organismussystemen‹ (oder ›Persönlichkeitssystemen‹) eine Anpassung erzwingen. Parsons nimmt solche biologischen Veränderungen allerdings nur in den Blick, sofern sie soziale Auswirkungen zeitigen – etwa das soziale Rollenverhalten beeinflussen. Der gesellschaftliche Evolutionsprozess selbst ist hingegen sozialer Art. Mit seinem multidimensionalen Konzept sozialen Wandels grenzt sich Parsons zudem kritisch von den unilinearen, finalistischen und oft allzu naturgesetzlichen Formulierungen der älteren Evolutionstheorien ab: »[A]us der Konzeption des sozialen Systems als eines Systems interdependenter Variablen bzw. Einheiten oder Teile folgt notwendig, daß es keine Rangordnung der teleologischen Bedeutsamkeit einzelner Quellen des Wandels geben kann. […] Aus einer bestimmten Reihe von ›Faktoren‹ können jeder einzelne oder alle zusammen die Quelle des Wandels sein.« (Parsons 1971a: 39). Dennoch identifiziert er soziale ›Erfindungen‹, die eine herausgehobene und verallgemeinerbare Bedeutung für die Evolution von Gesellschaften haben – nicht nur, weil sie an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten unabhängig voneinander gemacht wurden, sondern weil sie für die Weiterentwicklung zentral sind (Parsons 1971c). So kristallisieren sich doch auch unter den Vorzeichen der Parsons’schen Evolutionstheorie linear angelegte gesellschaftliche Entwicklungsstufen9 heraus, wobei diese
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Bereits in der frühesten menschlichen Entwicklungsphase und in den einfachsten Handlungssystemen basiert – so Parsons (1971b) – die Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens auf Sprache, dem Inzesttabu, (einfachen) Technologien, sowie kultureller Orientierung, die synonym mit Religion behandelt werden. Das Hinauswachsen über diesen ›Primitivzustand‹ ist einerseits verbun-
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Stufung auf die funktionale Reorganisation von Gesellschaften und die daraus folgende Verbesserung der Leistungskapazität und Anpassungsfähigkeit zurückzuführen ist. Die Bestimmung von Basiserfindungen, aber auch die Statuierung evolutionärer Universalien steht in einem irritierenden Kontrast zum Anspruch einer ›offenen‹ Evolutionstheorie und erweckt den Anschein, als habe Parsons’ Konzeption sozialen Wandels trotz des reformatorischen Anspruchs gegenüber klassischen Entwicklungsmodellen einen teleologischen, sogar finalistischen Kern bewahrt. Dem kann zwar der Verweis auf die probabilistische Argumentation Parsons entgegengesetzt werden (Berger 1996: 50), denn als evolutionäre Universalie ist explizit »jede in sich geordnete Entwicklung oder ›Erfindung‹ [zu verstehen, J.E.], die für die weitere Evolution so wichtig ist, daß sie nicht nur an einer Stelle auftritt, sondern daß mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese ›Erfindung‹ machen« (Parsons 1971b: 55, H. J.E.). Allerdings ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines evolutionären Fortschritts entlang der identifizierten Universalien aufgrund der theoretischen Rahmung – etwa der Konzeption eines ›Weltsystems‹ innerhalb dessen Gesellschaftssysteme allmählich konvergieren – ausgesprochen hoch. Die von Parsons angeführten Alternativen sind darüber hinaus äußerst beschränkt: Zwar geht er von der Möglichkeit aus, dass einige soziale Systeme in ›Nischen‹ auf ›niedriger‹ Entwicklungsstufe stagnieren, andere wiederum eine ›symbiotische Beziehung‹ mit ›höherentwickelten‹ Systemen eingehen. Sobald die evolutionären Universalien »jedoch einmal institutionalisiert sind, werden sie wesentliche und richtungsweisende Elemente der sich weiterentwickelnden Gesellschaften und nur noch im Fall der Regression ausgeschieden« (Parsons 1971b: 56). Ungeachtet der probabilistischen Einlassungen zeigt sich eine deutliche Perspektivenbeschränkung in der Konzeption sozialen Wandels hinsichtlich dessen Richtung, Verlaufslogik und auslösenden Faktoren. Gleichzeitig lassen jene Basisannahmen, die eine weitestgehend lineare Entwicklung einer einheitlichen Moderne implizieren, eine schlüssige Begründung vermissen: Die Entwicklungsuniversalien, aber auch die vier funktionsbereichsspezifischen Wandelprozesse (adaptives Upgrading, Differenzierung, Integration, Wertegeneralisierung) sowie die Vorstellung einer unbedingten kulturellen Anpassung nicht-moderner an moderne Gesellschaften scheinen vielmehr erst unter der Prämisse einer einheitlichen, sich linear entwickelnden Moderne als universelle Wandelgesetze verallgemeinerbar (Müller & Schmid 1995a; Joas & Knöbl 2017). Die Festlegung auf allgemeingültige Prinzipien sozialen Wandels ist auch empirisch nicht nachzuvollziehen (Eisenstadt 1979): Sie marginalisiert nicht nur die in konkreten Wandlungsprozessen eingelagerte Konflikthaftigkeit, sondern auch die empirische Vielfalt, die sich hinsichtlich der Formen, Verläufe, Ursachen und Ergebnisse sozialen Wandels zeigt. Zur Erforschung dieser Aspekte ist ein Stufenmodell sozialer Entwicklung allerdings ungeeignet.
den mit der Entstehung einer sozialen Schichtung, sowie andererseits (und damit zusammenhängend) mit der kulturellen Legitimierung von Gruppendifferenzierungen. Mit der Entwicklung hin zu modernen Gesellschaften geht schließlich die Herausbildung von Bürokratie, Geld und Marktsystem, generellen, universalistischen Normen (etwa ein allgemeingültiges Rechtssystem), sowie einer demokratischen Assoziation mit gewählter Führerschaft einher.
4 Zwei Lesarten von Moderne und alternative Rekonstruktionen sozialen Wandels
Für die Modernisierungstheorien ist ein ›evolutionstheoretisches Minimalprogramm‹ jedoch in zweierlei Hinsicht nach wie vor konstitutive Grundlage: Unverzichtbar sind die Vorstellung einer distinkten Struktur der Moderne und die Prämisse eines gestuften Fortschrittsprozesses, wobei sowohl die Strukturelemente als auch die Beschreibung von Entwicklungsverläufen durchaus heterogen ausfallen könnten; »Aber nicht zur Disposition steht die Idee der Entwicklungsstufen selbst«, deren Evidenz sich bei ausreichender Abstraktion einstellt: »Hat man nur die großen Etappen im Auge, dann ist die Geschichte nicht in einem wirren auf und ab, kreuz und quer verlaufen, sondern [… weist] eine klar erkennbare Ausrichtung« auf (Berger 2006: 209). Die Abfolge von Gesellschaftsformationen wird also nicht als willkürlich angesehen, vielmehr entspricht diese einer inneren Logik, wobei zumindest neuere modernisierungstheoretische Konzepte unilineare Entwürfe als unterkomplex ablehnen (Berger 2006; Schwinn 2009). Aber auch wenn damit eine Art multilinearer (Neo-)Evolutionismus nahegelegt wird, bleibt doch die Prämisse einer inhärent logischen, linearen, latent teleologischen und gestuften Entwicklung bestehen, die sozialem Wandel eine universale Gesetzmäßigkeit unterstellt.
Die ›Rationalität‹ der Moderne und das rationalistische Grundprinzip sozialen Wandels Schließlich stellen Bonacker und Reckwitz heraus, dass alle von ihnen genannten Argumentationsmuster des modernisierungstheoretischen Narrativs – die Differenzierung von Struktur und Kultur, die Unterscheidung von modernen und traditionalen Gesellschaften, sowie die Annahme einer Diskontinuität, der immanenten Einheit und Linearität – an die Voraussetzung einer ›Rationalität der Moderne‹ geknüpft sind (Bonacker & Reckwitz 2007: 11). Auch für die Konzeption sozialen Wandels ist die modernisierungstheoretische Prämisse einer grundlegenden und sich kontinuierlich steigernden Rationalität zentral: Die »Vorstellung von Wandel als Rationalisierungsprozess prägte die Soziologie und Sozialanthropologie von Beginn an, findet sich mehr oder weniger explizit in (fast) allen sozialwissenschaftlichen Theorien und Ansätzen, die sich direkt oder indirekt mit sozialer Entwicklung und Wandel beschäftigen.« (Lehner 2011: 360) Bereits Max Weber, der den Begriff einführt, um die Eigenheiten der kapitalistischen Wirtschaftsform, des bürgerlichen Privatrechts und der bürokratischen Herrschaft zu charakterisieren, versteht Rationalität als herausragendes Merkmal moderner (westlicher) Gesellschaften. Dabei ist die moderne Rationalisierung – als Entfaltung jener gesellschaftlichen Bereiche, die an den Maßstäben von rationalen Entscheidungen und Zweck-Mittel-Beziehungen orientiert sind – an die Ausbreitung wissenschaftlicher Institutionen und technischen Fortschritts gebunden (Habermas 1986). Diese induzieren eine erweiterte Berechenbarkeit der Welt und in der Folge eine gesteigert vernunftbasierte – moderne – Lebensführung. Auch jene neomodernistischen Perspektiven, die sich mit einer handlungstheoretischen Fundierung sozialen Wandels befassen, knüpfen an die Rationalitätsprämisse an (Giesen & Junge 2016; Pollack 2016)10 . Im Sinne 10
Hier zeigt sich deutlich, dass das modernisierungstheoretische Narrativ nicht auf Modernisierungstheorien beschränkt ist, denn auch Raymond Boudons (1983a; 1983b; 1988) methodisch-in-
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einer ›materialen Rationalität‹ (Weber 1976)11 sind Akteure dann als rational Handelnde entworfen – auch wenn diese Rationalität analytisch entlang verschiedener Variablen (individuelle Präferenzen, mangelhafte Ausstattung mit Wissen und Kompetenzen, Unabwägbarkeiten der jeweiligen Situation etc.) relativiert werden muss (Schmid 2016). Für die konzeptionelle Trennung zwischen Kultur und Struktur, wie auch zwischen Tradition und Moderne, ist die Vorstellung einer wissenschafts- und technikbasierten Steigerung von Berechenbarkeit und Naturbeherrschung zentral: Tradition und Kultur sind gerade in den klassischen Modernisierungstheorien begrifflich so eng aufeinander verwiesen, dass traditionelle Gesellschaften geradezu über ›kulturelle‹ Eigenschaften definiert werden, während moderne Gesellschaften vornehmlich über das Vorhandensein einer spezifischen Sozialstruktur zu identifizieren sind. Diese zeichnet sich durch funktionale Differenzierung aus, wobei Rationalität einerseits als Differenzierungsprinzip, andererseits als konstitutives Moment für die sich herausbildenden Institutionen gilt. Die Rationalitätsprämisse bildet dabei ein zentrales argumentatives Element bei der Behauptung universell gültiger Basisinstitutionen: Werden gesellschaftsimmanente strukturelle Herausforderungen unterstellt, die alle Gesellschaften gleichermaßen betreffen, setzen sich jene Institutionen durch, welche die gesellschaftlichen Aufgaben besonders funktional und effizient bearbeiten; gleiches gilt für deren interdependente Weiterentwicklung, denn strukturelle Verbesserung der einen Institution schafft bisweilen neue Voraussetzungen für die anderen, die sich dann ihrer rationalen Funktionslogik entsprechend anpassen (Pollack 2016). Im Sinne des modernisierungstheoretischen Narrativs ist also sozialer Wandel selbst ein Phänomen, das rationalen Prinzipien folgt. Rationalität erweist sich somit als Grundsatz der modernisierungstheoretischen Konzeption sozialen Wandels: Das lineare Voranschreiten der Modernisierung leitet sich aus einer rationalen Zwangsläufigkeit der Höherentwicklung ab. Im Interesse an sozialem Wandel ist dann nach den unterschiedlichen Zweck-Mittel-Relationen zu fragen, die in Abhängigkeit von gesellschaftlichem Teilbereich bzw. der jeweiligen strukturellen Funktion, aber auch entsprechend den Entwicklungsständen der umgebenden Teilbereiche variieren können. Zudem ist Rationalität dynamisch gefasst: Ausgehend von der evolutionären Ausdehnung gesellschaftlicher Anpassungs- und Steuerungskapazitäten unterliegt gesellschaftliche (und individuelle) Rationalität einer kontinuierlichen Erweiterung, einem »Imperativ zur immanenten Leistungssteigerung« (Berger 1988: 227). Damit ist in modernen Gesellschaften nicht einfach nur Veränderung auf
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dividualistische ›No-Theory of Social Change‹ ist ein prominentes Beispiel für eine Rekonstruktion sozialen Wandels, die auf der Prämisse rationalen Handelns aufbaut. Boudon versteht soziale Strukturen als Aggregat individueller Handlungen und Interaktionen, welche immer auf rationalen Entscheidungen basieren, auch wenn die handlungsleitenden Prinzipien nicht universal bestimmbar, sondern aus den jeweiligen Umständen der Handlung abzuleiten sind. ›Materiale Rationalität‹ besagt nach Weber (1976: 45, H.i.O.), »daß eben die Betrachtung sich mit der rein formalen (relativ) eindeutig feststellbaren Tatsache: daß zweckrational, mit technisch tunlichst adäquaten Mitteln gerechnet wird, nicht begnügt, sondern ethische, politische, utilitarische, hedonische, ständische, egalitäre oder irgendwelche anderen Forderungen stellt und daran die Ergebnisse des – sei es auch formal noch so ›rationalen‹, d.h. rechenhaften – Wirtschaftens wertrational oder material zweckrational bemisst«.
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Dauer gestellt, sondern Fortschritt: »es fehlt an systemspezifischen Stoppregeln für innersystemisches Handeln. Das Erziehungssystem z.B. liefert keine Gründe dafür, Erziehung abzubrechen, das Wirtschaftssystem keine Gründe, um Wirtschaftsprozesse zu beendigen etc. Alle Systeme setzen auf Kontinuierung, Steigerung und verbesserte Funktionserfüllung.« (Berger 1988: 227) Die ›Rationalität der Moderne‹ verbindet sich im modernisierungstheoretischen Narrativ also mit einem impliziten Fortschrittsfatalismus. Vor allem die klassischen Modernisierungstheorien und Konzepte nachholender Entwicklung beinhalten einen optimistischen (und normativen) Fortschrittsglauben, etwa in Form der Konvergenzthese, der zufolge sich alle traditionalen Gesellschaften früher oder später aus ihrer Rückständigkeit befreien und sich – dem westlichen Vorbild folgend – modernisieren. Sozialer Wandel ist entsprechend charakterisiert (und eingeschränkt) durch ein Entwicklungsprinzip, das auf der Vorstellung einer mehr oder weniger explizit formulierten stringenten Steigerung hin zu einer ›komplexeren‹, ›leistungsfähigeren‹ oder auch ›vernünftigeren‹ Gesellschaft basiert. Auch wenn sich unter den Modernisierungstheorien nach wie vor Konzepte geschichtsphilosophischer Tradition finden lassen12 , ist die zweckgerichtete Steigerung von Moderne nicht zwangsläufig an den Entwurf eines konkreten gesellschaftlichen Endziels gebunden. Jedoch fundiert das Grundprinzip universaler Rationalität eine wenigstens implizite Teleologie, an die zumeist auch eine normative Fortschrittsidee geknüpft ist, die wiederum Rationalisierung als Verbesserung und daher als wünschenswert markiert. Insbesondere neuere Modernisierungs- und Evolutionstheorien beziehen sich eher kritisch auf »das Fortschrittspathos und den Überlegenheitsgestus modernisierungstheoretischer Entwürfe« und »verzichten dann auch auf ein positiv aufgeladenes Bild von der Moderne und stellen stärker ihre Ambivalenz, ihren janusköpfigen Charakter und ihre Paradoxien heraus« (Pollack 2016: 223). Allerdings kann diese reflexive Vorsicht den impliziten Fortschrittsgedanken, mit dem sozialer Wandel im modernisierungstheoretischen Narrativ konnotiert ist, nicht vollständig auflösen. Denn in einem rational vorangetriebenen Entwicklungsprozess moderner Gesellschaften kann sich langfristig nur das Nützlichere, Vernünftigere, Angemessenere und Erfolgreichere durchsetzen. Die Markierung ›anderer‹ Verläufe als ›negative Entwicklung‹, ›Rückschritte‹, als ›dunkle Seite‹ oder ›Gegenströmung‹, besondert diese als Abweichung und negativen Konterpart der ›guten‹ (und zugleich zwingenden) Progression. So ist die Rationalitätsprämisse der Modernisierungstheorien zwar imstande, die Normativität der Fortschrittsidee durch Naturalisierung zu verschleiern, ausräumen kann sie diese jedoch nicht, weil sie Grundlage der (neo-)evolutionistischen Steigerungsidee ist.
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Etwa Francis Fukuyamas in den 1990er Jahren formulierte These von der liberalen Demokratie als ›Ende der Geschichte‹, die er 2014 – mit gebremstem Optimismus – wiederholt hat (Fukuyama (1992, 2014).
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4.2
Kulturtheoretische Narrative und sozialer Wandel
Das ›kulturtheoretische Narrativ‹ ist in sich – nicht zuletzt aufgrund des wesentlich weiteren und uneinheitlicheren Begriffsinstrumentariums – heterogener als das modernisierungstheoretische Narrativ. Seine theoretischen Wurzeln liegen in hermeneutisch-interpretativen, kulturvergleichenden Ansätzen, praxistheoretischen und postkolonialen Perspektiven, insbesondere aber auch in poststrukturalistischen Positionen, die sich explizit gegen modernisierungstheoretische Grundvorstellungen von Moderne wenden (Bonacker & Reckwitz 2007; Reckwitz 2008c). Diese Opposition kann gar als Grundprinzip insbesondere der poststrukturalistischen Argumentation verstanden werden – sie bezieht ihre analytische Stärke nicht zuletzt aus dem hinterfragenden Blick auf die ›großen Erzählungen‹ der Moderne: »Ihr Ausgangspunkt lautet, dort, wo der klassische Diskurs die Geschlossenheit einer sich selbst reproduzierenden Moderne als Gefüge bestimmter Strukturen annahm, nun statt dessen die Moderne als ein Ensemble von Praktiken, Diskursen und Materialitäten wahrzunehmen, in denen Stabilisierung immer wieder durch basale Destabilisierungen unterlaufen werden.« (Reckwitz 2008c: 232; H.i.O.). Der Kontrast zum modernisierungstheoretischen Narrativ eignet sich daher, um eine alternative Sichtweise auf Moderne zu skizzieren und die erheblichen Konsequenzen für eine Konzeptionalisierung sozialen Wandels aufzuzeigen. Ich möchte daher im Folgenden diesen »uneinheitlichen Gegendiskurs, der im weitesten Sinne auf kulturtheoretischen Prämissen aufbaut« (Bonacker & Reckwitz 2007: 8), als sozialtheoretischen Gegenhorizont zum modernisierungstheoretischen Narrativ nutzen. Denn dieser bietet einen produktiven Ausgangspunkt für die Explikation der Fragerichtung und analytischen Grundorientierung einer Konzeption sozialen Wandels als Wandel sozialer Praxis.
Die kulturelle Konstitution des Sozialen und die praktische Produktion sozialen Wandels Soziologische Perspektiven, die dem ›kulturtheoretischen Narrativ‹ entsprechen, nehmen keine Differenzierung von Kultur und Struktur vor und argumentieren gegen die Vorstellung einer ›Fundierungsfunktion‹ basaler sozialer Strukturen, die der Kultur vorgängig sind. »Moderne muss aus dieser Perspektive primär als ein kulturelles Phänomen, als ein Konglomerat bestimmter Sinnsysteme begriffen werden, welches entsprechende soziale Praktiken hervorbringt.« (Bonacker & Reckwitz 2007: 12) Voraussetzung hierfür ist ein von der im modernisierungstheoretischen Zugang verwendeten Begrifflichkeit grundverschiedenes Kulturkonzept: Während jene von ›soziokulturellen Phänomenen‹ wie Wertehaltungen, Mentalitäten und Identitätsentwürfen ausgehen, die nur insofern von analytischem Interesse sind, als sie von ›objektiven‹ Strukturen unmittelbar abhängen oder sich selbst in objektiv strukturrelevanten Gebilden wie et-
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wa Lebensstilen oder Milieus manifestieren13 (Hradil 1996), wird Kultur im Sinne des kulturtheoretischen Narrativs zum Primat des Sozialen. Kultur ist dann als symbolische Ordnung zu verstehen und als solche konstitutive Grundlage jeglicher sozialer Praxis, denn diese beinhaltet immer Deutungen, Verortungen, Bewertungen, Systematisierungen etc., die ohne einen geteilten kulturellen Bezugshorizont nicht vorstellbar wären: »Normal, rational, notwendig oder natürlich sind die Praktiken nur im Verhältnis zu ihren spezifischen, kontingenten Sinnsystemen« (Reckwitz 2008a: 27). Kultur eröffnet also einen historisch und räumlich spezifischen Weltzugang, der in geteilten Sinnstrukturen stabilisiert wird, jedoch gekennzeichnet ist durch Polysemien, Bedeutungsunschärfe und Variabilität. Eine Differenzierung sozialer und kultureller Praxis ist aus dieser Perspektive – ebenso wie eine Unterscheidung sozialer und kultureller Struktur – nicht sinnvoll. Shmuel Eisenstadt entspricht dieser kulturtheoretischen Prämisse in seiner Theorie der ›Multiple Modernities‹ und geht von einer Vielzahl kulturell unterschiedlich konstituierter Modernen aus. Multiplizität bedeutet aber nicht, »dass die verschiedenen sich ›modernisierenden‹ Gesellschaften der Welt lediglich Fortsetzungen ihrer eigenen kulturell spezifischen Traditionen lieferten […]; vielmehr handelt es sich bei den institutionellen Formationen der meisten Gesellschaften auf globaler Ebene um charakteristisch ›moderne‹ Strukturen, auch wenn sie zugleich deutlich von partikularen kulturellen Traditionen beeinflusst sind« (Eisenstadt 2007: 22). Moderne selbst ist ein global verbreitetes kulturelles Muster, das die Alltagspraxis in unterschiedlichen Weltregionen bedingt. Das Konzept multipler Modernität verweist dabei aber vor allem auch auf Unterschiede in der kulturellen und praktischen Konstitution von Moderne und bindet diese auf divergierende historische Hintergründe und Traditionen zurück (Eisenstadt 1979). Auf diese Weise werden westeuropäische, amerikanische, japanische usw. Modernen unterscheidbar (Eisenstadt 2000). Institutionelle Differenzierung, so Eisenstadt – und hier stimmt er mit den Modernisierungstheoretiker*innen überein – kennzeichne die Struktur moderner Gesellschaften, allerdings bilde sie nicht deren integrativen Kern, denn dieser finde sich »im kulturellen Programm der Moderne mit seinen institutionellen Implikationen und seinen verschiedenen Lesarten« (Eisenstadt 2007: 26). Drei Aspekte des kulturellen Programms der Moderne sind besonders hervorzuheben: Die Welt wird von den Akteuren als reflexiv zugänglich, durch Handeln veränderlich und zugleich als ›natürlich‹ bzw. immanent rational vorausgesetzt, sodass Sozialordnungen zu analysierbaren, gestaltbaren und begründbaren Gebilden avancieren. Dieses spezifisch moderne Wissen über die eigene Realität löst ›Gewissheitsmarkierungen‹ auf und entfaltet Antinomien und Spannungen zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Naturbeherrschung und Entfremdung, zwischen Autonomie und Kontrolle sowie zwischen kulturellem Pluralismus und totalitärem Rationalismus. Sowohl das Beseitigen von sozialen Gewissheiten als auch die immanenten Antinomien vervielfältigen die Lesarten und 13
In diesem Fall sind sie zwar als integrierter, aber dennoch differenzierter Bestandteil eines soziokulturellen Systems entworfen (Allaire & Firsirotu 1984).
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Deutungsweisen ›moderner‹ Kultur. Im Zuge der vom Okzident ausgehenden Expansion moderner Sinnstrukturen findet »eine beständige Selektion und Neuinterpretation […] statt, sodass sich neuartige, auf ihre Art moderne kulturelle Programme und institutionelle Muster haben ausbilden können« (Eisenstadt 2007: 40). Auch Peter Wagner plädiert für einen bedeutungsbezogenen Zugang der Modernisierungstheorie und bestimmt Moderne als Interpretations- und Erfahrungsraum. Auf diese Weise werde einerseits der Blick für die Vielfalt möglicher Moderne-Formen geweitet, andererseits helfe »der ›Erfahrungsansatz‹ zu verstehen, warum eine bestimmte Interpretation in einer gegebenen Situation in Erscheinung tritt« (Wagner 2007: 57). Moderne ist dann – ganz ähnlich wie bei Foucault – eine sozio-historisch spezifische, deutende Beziehung zur Welt, deren Besonderheit in ihrer »Verpflichtung zur Selbstbestimmtheit« liegt (Wagner 2009: 15). Damit liegt das integrative Moment seiner Konzeption in enger Nachbarschaft zu Eisenstadts kulturellem Programm der Moderne. Allerdings geht Wagner der Entwurf der Multiple Modernities nicht weit genug: »Trotz aller Errungenschaften läuft diese Perspektive Gefahr, lediglich die Formen der Moderne zu vervielfältigen, indem sie diese in ›kulturelle Container‹ einschreibt, welche kohärent und gebunden sind und sich über die Zeit hinweg reproduzieren.« (Wagner 2009: 27) Wie sehr der spezifische Bedeutungskern des Modernebegriffs verallgemeinert, minimiert oder abstrahiert werden kann ist eine der zentralen Streitfragen der Diskussion um die Erneuerung der Moderne-Theorien (Schwinn 2009). Für die Rekonstruktion sozialen Wandels ist vor allem die Aufhebung der modernisierungstheoretisch implizierten Einschränkungen des Interessenfokus relevant: Im Sinne des modernisierungstheoretischen Narrativs bleibt sozialer Wandel immer auf die Veränderung moderner Sozialstrukturen oder zumindest auf die Entwicklung in Richtung solcher Strukturen bezogen. Zudem begrenzt die Rationalitätsannahme die institutionellen Bereiche, in denen sich struktureller Wandel vollziehen kann, auf die für das Fortbestehen einer Gesellschaft als relevant erachteten und unterstellt zudem eine (funktionale) Idealform, auf die sich diese Institutionen hin entwickeln. Das kulturtheoretische Narrativ hingegen hebt diese enge konzeptionelle Begrenzung auf und lenkt den Blick auf die kulturelle Konstitution sozialen Wandels. Dieser ist dann nicht auf Sozialstrukturen bezogen, sondern auf geteilte Bedeutungshorizonte und Orientierungsrahmen. Allerdings geht es aus einer kulturtheoretischen Perspektive nicht darum »hermeneutischphänomenologisch bestimmte ›Sinnfundamente‹ der modernen Gesellschaft freizulegen, die dann ihrerseits stabil wären, sondern darum, diese diskursive Konstitution der Moderne selber als einen Ort von ergebnisoffenen Kämpfen, Widersprüchen, Fissuren und Diskontinuitäten bezüglich gesellschaftlicher Wissensordnungen zu analysieren.« (Reckwitz 2008c: 233).
Neubestimmung des Verhältnisses von Traditionalität und Modernität und raumzeitliche Spezifik sozialen Wandels Durch die kultur- und praxiszentrierende Perspektivverschiebung stellt sich auch das Verhältnis von ›Traditionalität‹ und ›Modernität‹ anders dar: Der strikten Trennung zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften setzt das kulturtheoretische Nar-
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rativ eine explizite Relativierung dieser Grenze entgegen. Wird die Differenz nicht als Ergebnis der Konfrontation kulturell weitestgehend homogener Gesellschaftssysteme, sondern als Unterscheidung divergenter kultureller Muster begriffen, die beispielsweise in ›modernen‹ oder ›vormodernen‹ Ensembles von Praktiken enthalten sind (Latour 2008), wird deren zeitliche und räumliche Koinzidenz denkbar. »Die Annahme einer kulturellen, sinnhaften Regulierung sowohl sogenannter moderner als auch sogenannter traditionaler Sozialformen erleichtert es der kulturtheoretischen Perspektive, die mannigfachen Überschneidungen zwischen beiden in den Blick zu nehmen.« (Bonacker & Reckwitz 2007: 12) Eisenstadt bringt bereits in den 1970er Jahren zahlreiche empirische Beispiele gegen die Tradition-Moderne-Dichotomie vor (Eisenstadt 1979): Nicht nur halten originär moderne Gesellschaften wie Großbritannien an traditioneller Symbolik fest, reformulieren diese unter modernen Vorzeichen und nutzen sie zur politischen Steuerung und Statussicherung, auch entfalten traditionelle Ordnungsmuster und Symboliken in äußerst modernen Feldern wie etwa der Wissenschaft eine erstaunlich hohe Wirksamkeit. Vermeintlich ›nachholende‹ Gesellschaften wie Indien gelingt es, traditionelle soziale Ordnungen – vor allem das Kastenwesen – in den Modernisierungsprozess zu integrieren und viele postkoloniale Staaten, die nach modernen politischen Vorstellungen (re-)organisiert wurden, kehren mit Erlangung der Unabhängigkeit nach einiger Zeit wieder zu traditionellen politischen Modi zurück. Und mit genauer und langfristiger Analyse nicht-modernder Staaten wird zudem ersichtlich, dass diese sich zwar wandeln, sich jedoch keineswegs auf dem Weg zur modernen Gesellschaft nach westlichem Vorbild befinden, also keinem universalen Modernisierungsgesetz folgen, sondern vielmehr einer Logik die sich – zumindest teilweise – aus ihrer Tradition erklärt. Entsprechend wird aus Perspektive der multiplen Modernität Tradition nicht mehr als überkommenes, der Verdrängung preisgegebenes Brauchtum, sondern als Entwicklungsrichtung und -geschwindigkeit bestimmendes Element von Modernisierungsprozessen verstanden14 . Traditionen wird ein grundlegendes sozialkonstitutives Potenzial zugesprochen, denn sie besitzen ein charismatisches Moment und sind im Stande das menschliche Bedürfnis nach sinnhafter sozialer Ordnung zu befriedigen (Eisenstadt 1979). Aus dieser Perspektive »unterschieden sich [vormoderne Gesellschaften] von modernen Gesellschaften nicht durch Traditionalität, sondern vielmehr durch den konkreten Gehalt ihrer symbolischen Ordnungsvorstellungen« und so kann Moderne »selbst als eine ›Große Tradition‹ begriffen werden, die sich durch spezifische symbolische Prämissen auszeichne[t]« (König 2005: 52). Dies bedeutet allerdings nicht, dass dem Modernitätsbegriff kein differenzierter Bedeutungsgehalt mehr zuzurechnen wäre, denn auch Eisenstadt legt sich auf (kulturelle!) Merkmal von Modernität fest, die 14
Die klassischen Modernisierungstheorien reagieren auf die Kritik Eisenstadts verhalten: Eine potenzielle Nützlichkeit traditioneller Strukturen in modernen Gesellschaften findet zwar durchaus Anerkennung, der Kontrast zwischen ›modern‹ und ›nichtmodern‹ wird jedoch aufrechterhalten: »die Moderne selbst kann […], wenn der Begriff einen Sinn haben soll, nur als eine nicht-traditionale Ära verstanden werden« (Schwinn 2006a: 22). Und Jürgen Kocka (2006: 67) merkt kritisch an, dass bei einer Relativierung der Dichotomie von ›modern‹ und ›traditionell‹ nahezu alles als modern gelten kann und daher die analytische Brauchbarkeit eines solch offenen Modernebegriffs in Zweifel gezogen werden muss.
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›nicht-moderne‹ Gesellschaften tendenziell nicht oder nur in geringem Umfang aufweisen (insbesondere Wandelhaftigkeit, Reflexivität und Konfliktualität) (Eisenstadt 2000). Das Konzept der Modernität bleibt also als Kategorie kultureller Muster, nicht aber als soziohistorische Entität oder universelles Entwicklungsziel erhalten. Damit kann auch der universelle Geltungsanspruch einer »Modernität der modernen Vergesellschaftung«, die einem einheitlichen und allgemeinen Muster folgt, aufgegeben werden: »das, was einmal als typisch modern und als Endpunkt des Pfades der Modernisierungstheorien galt, [erscheint] im Zeichen von Analysen hochmoderner Sozialitäts- und Subjektformen zunehmend als historisch-kulturell spezifische Besonderheit.« (Reckwitz 2008a: 30) Modernität – im Sinne eines kulturellen Musters und einer ›großen Tradition‹ – kommt als spezifischer, historisch gewachsener Sinnhorizont in den Blick, als symbolische Ordnung, die in sozialer Praxis aktualisiert wird. Auch Traditionalität ist aus dieser Perspektive als ein in sozialer Praxis vergegenwärtigtes kulturelles Muster aufzufassen. Dabei kann soziale Praxis durchaus zugleich Modernität und Traditionalität hervorbringen. Besonders anschaulich lässt sich dies an Eisenstadts Analyse fundamentalistischer Bewegungen verdeutlichen, in deren Praxis sich moderne und anti-moderne, sowie traditionelle und anti-traditionelle Charakteristika verbinden und auf diese Weise eine spezifische Form von Traditionalität als höchst moderne (implizite) Strategie gegen Modernität einsetzen, die darüber hinaus konkurrierende traditionelle Kulturmuster symbolisch abwertet (Eisenstadt 2000, 2006). Die Erforschung sozialen Wandels sollte daher nicht auf die qualitative Veränderung festgelegter moderner Strukturen, die sich von einem Zustand in einen anderen bewegen, beschränkt sein und auch nicht eine Diskontinuität im Zwischenraum zwischen nichtmoderner und moderner Gesellschaft verorten. Das Potenzial einer kulturtheoretischen Perspektive liegt in der Möglichkeit, die Verschränkung, Überlagerung, Hybridisierung und Bedeutungsverhandlung kultureller Muster in den Blick nehmen zu können. Die Analyse sozialen Wandels basiert daher auch nicht auf einem (zeitlich strukturieren) Abgleich traditioneller und moderner kultureller Muster: »Das ›Neue‹ […] muß in medias res entdeckt werden: ein Neues, das nicht Bestandteil der ›progressistischen‹ Teilung zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder dem Archaischen und dem Modernen ist; es handelt sich auch nicht um ein ›Neues‹, das in der Mimesis von ›Original und Kopie‹ enthalten sein kann. In allen beiden Fällen ist das Bild des Neuen ikonisch statt artikulatorisch; in beiden Fällen ist die zeitliche Differenz als epistemologische oder mimetische Distanz von einer ursprünglichen Quelle repräsentiert.« (Bhabha 2000: 339, H.i.O.) Eine Soziologie sozialen Wandels sollte nicht an der Logik (und der Analyse) von Ursprungs- und Folgeformen sozialer Strukturen festhalten, sondern den Blick auf Bedeutungsspielräume, Übersetzungsdynamiken und Aushandlungsprozesse in symbolischen Ordnungen lenken. Eine zeitliche oder räumliche Zuordnung der hier gedeuteten und umgedeuteten, verhandelten und umkämpften kulturellen Muster entlang der Dichotomie nichtmodern – modern wäre dabei verfehlt. Der mit symbolischen Ordnungen immer einhergehende praktische Möglichkeitsraum vereinigt vielmehr die unterschiedlichsten zeitlichen und (sozial-)räumlichen Bezüge. Wird dieser zum Aus-
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gangspunkt der Analyse, kann die Vorstellung einer linearen Folgerichtigkeit sozialen Wandels nicht aufrechterhalten werden.
Diversität und Konflikthaftigkeit von Moderne und die Kontingenz sozialen Wandels Damit wird auch unmittelbar ersichtlich, dass aus einer kulturtheoretischen Perspektive nicht von einer – ab dem Bruch mit vormodernen Gesellschaftsstrukturen geltenden – immanenten Einheit und Linearität von Moderne gesprochen werden kann. »Die Relativierung der Grenzen zwischen traditionalen und modernen Kulturen lässt sowohl das Narrativ einer linearen Entwicklung von der traditionalen zur modernen Gesellschaft als auch die Vorstellung einer immanenten Selbststeigerung einer scheinbar mit sich selbst identischen, einheitlichen Moderne problematisch werden. Kulturtheoretische Ansätze weisen demgegenüber regelmäßig auf die konflikthafte und in diesem Sinne unebene und offene, nicht-lineare Transformation von Praktiken und Diskursen hin, die sich nur mit Mühe in das Schema einer ›gesellschaftlichen Entwicklung‹ pressen lassen.« (Bonacker & Reckwitz 2007: 13) Vielmehr muss der historischen Kontingenz bei der kulturspezifischen Herausbildung von Modernität Rechnung getragen werden (Arnason et al. 2005; Holzinger 2007; Knöbl 2007)15 . Diese kommt dann als »sozial-kulturelles Feld der Auseinandersetzung um die Definition und Institutionalisierung eines spezifisch Modernen« (Bonacker & Reckwitz 2007: 13) in den Blick. Hinsichtlich der Modernisierungsforschung bedeutet dies nicht nur eine ›Kritik der Modernisierungsideologie‹, sondern auch eine ›grundsätzliche Reformulierung der Modernisierungstheorie‹ – insbesondere postkoloniale Theorien tragen, beispielsweise mit dem Denken in ›other modernities‹ oder dem Entwurf von ›entangled modernities‹, wertvolle Anregungen und Weiterführungen zu einer kulturtheoretischen Perspektive auf Moderne bei, die deren Diversität und Konflikthaftigkeit Rechnung trägt (Reuter 2012: 299ff.). Für die Erforschung sozialen Wandels legt eine kulturtheoretische, praxiszentrierte Perspektive wiederum einerseits eine veränderte Auseinandersetzung mit Kontingenz und andererseits eine Neuordnung des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität nahe. Die Kontingenz des Sozialen und mithin des sozialen Wandels – also die NichtNotwendigkeit dessen, was ist, und der Möglichkeitsraum für Veränderungen zwischen dem Notwendigen und dem Unmöglichen – wird durch das modernisierungstheoretische Narrativ in unangemessener Weise theoretisch eliminiert oder zumindest eingeschränkt und verschleiert. Die konzeptionelle Kontingenzreduktion steht zunächst in einem irritierenden Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass eines der zentralen modernisierungstheoretisch herausgearbeiteten Merkmale des modernen Weltzugangs
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Sowohl Knöbl als auch Holzinger beziehen sich auf Eisenstadts Theorie, stellen jedoch – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – heraus, dass die Perspektive der Multiple Modernities unzulässigen Kontingenzbeschränkungen verhaftet bleibe, beispielsweise durch das Konzept der ›Zivilisation‹ und der damit einhergehenden »vorschnellen Festlegung auf ein einziges Makrokonzept« (Knöbl 2007: 109).
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das Kontingenzbewusstsein der modernen Subjekte ist. Säkularisierung, Zersetzung traditioneller Weltbilder, Rationalisierung und fortschreitende Differenzierung begleitet von einer raschen Folge technischer Innovationen und einem manifesten Umbruch gesellschaftlicher Institutionen haben – so die Grundannahme – zu einem fortschrittsoptimistischen, gestaltungsoffenen, teilweise besorgniserregend ungewissen, entzauberten und anomischen, in jedem Fall aber eben kontingenten Welt- und Selbstverhältnis des modernen Menschen geführt. »Nach der klassisch-modernen Problematisierung und der affirmativen Emphase wurde Kontingenz zur unzweifelhaften realitätskonstituierenden Struktur von Subjektivität und zum selbstverständlichen Bestand der Selbstdeutung der Moderne. Damit ist der Begriff der ›Kontingenz‹ und seine Bedeutung für das soziale Leben in den Theoretisierungen des Sozialen an spezifische historische Entwicklungen, Veränderungen und drastische kulturelle und soziale Umwälzungen und Umbrüche gebunden worden.« (Friese o.J.: 7) Kontingenz ist also in der (modernisierungs-)theoretischen Rekonstruktion an Modernisierung geknüpft und betrifft insbesondere das moderne Selbstverständnis. Hinsichtlich der Theoretisierung gesellschaftlicher Entwicklung hingegen schränken Konvergenzhypothese und evolutionstheoretisches (Minimal-)Programm das Kontingenzpotenzial sozialen Wandels auf konzeptioneller Ebene massiv ein: Ob nun gesellschaftliche Entwicklungsprozesse durch (sozial-)ontologisch begründete immanente Zwänge oder durch exogene Vorbild- und Anreizstrukturen determiniert sind, die universalgesetzlichen Festlegungen limitieren den (konzeptionellen) Möglichkeitsraum sozialen Wandels und setzen in der Folge relativ enge Grenzen für dessen Beobachtung. Abweichungen vom theoretisch herauspräparierten Modernisierungsprozess werden als Anomalien gekennzeichnet und als kulturelle Besonderheiten marginalisiert, die das makrotheoretische Gesamtbild nicht zu stören vermögen. Aus kulturtheoretischer Perspektive bedeutet dies jedoch eine Verkürzung, sowie eine theoretische Verschleierung jener vielfältigen, konflikthaften Wandlungsprozesse, die sich alltagspraktisch vollziehen, die raumzeitlich eingebunden sind und aus dieser Kontextgebundenheit eine je spezifische Kontingenz beziehen. Vorausgesetzt wird also eine Soziologie, die Kontingenz nicht nur auf der Ebene der Wirklichkeitserfahrung und Selbstbeschreibung verortet, sondern »die Ordnung der Gesellschaft selbst als kontingent« auffasst (Nassehi 2002: 451). Damit geht auch eine andere analytische Auffassung von Kontinuität und Diskontinuität einher als jene, die für das modernisierungstheoretische Narrativ herausgearbeitet wurde. Wird sozialer Wandel als kontextspezifischer kontingenter Prozess verstanden, kann die Vorstellung einer einzelnen Diskontinuität welthistorischen Ausmaßes, die Moderne und Nichtmoderne trennt, nicht aufrechterhalten werden. Vielmehr muss der Blick auf die Vielfalt der ›Schichten von Ereignissen‹ gelenkt werden, die auf jeweils eigene Brüche und Periodisierungen verweisen und eine ›Methodologie der Diskontinuität‹ nahelegen (Foucault 2009b: 24f.). Diese ermöglicht das detaillierte Erfassen von sozialem Wandel (Maset 2008), indem für ein bestimmtes, in verschiedenen raumzeitlichen Kontexten verortbares Praxisensemble (z.B. Ökonomie) Differenzen, Entspre-
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chungen, Verlagerungen und Koinzidenzen in den Dingen, Subjekten, Praktiken, Bedeutungen etc. herausgearbeitet werden. Zugleich sind Wandelforscher*innen angehalten, die mit der Feststellung von Diskontinuitäten einhergehenden Privilegierungen zu reflektieren16 (Bourdieu et al. 2004a). Denn mit der analytischen Bestimmung eines ›Bruchs‹ wird eine Auswahl getroffen, die in spezifischen raumzeitlichen Kontexten ›neuartige‹, ›unübliche‹ Muster sozialer Praxis betont, die reproduzierten, gewohnten Elemente hingegen tendenziell in den Hintergrund treten lässt. Ein radikaler und totaler Bruch, wie er mit Blick auf die Modernezäsur stilisiert wird, kann schon aufgrund der Konflikthaftigkeit, Vielfalt und Historizität sozialer Praxis nicht vorausgesetzt werden. Dennoch steht die Notwendigkeit der Analyse von Diskontinuitäten für eine Herausarbeitung sozialer Wandlungsprozesse außer Frage, denn umgekehrt glätten der Entwurf einer linearen Entwicklung, sowie die begriffliche Ahistorizität der modernisierungstheoretischen Argumentation, mit deren Hilfe die ›Einheit der Moderne‹ entworfen wird, systematisch alle Brüche und Ambivalenzen, indem sie diese als Spielarten oder temporäre Abweichungen von Modernität und Modernisierung verstehen. Eine solche Vorgehensweise wird der Analyse sozialen Wandels nicht gerecht. »[M]an kann nur mittels eines schweren Anachronismus von den ›Intellektuellen des Mittelalters‹ sprechen. Tatsächlich existieren gewaltige Diskontinuitäten und es gibt eine kontinuierliche Genese der Diskontinuität. […Auch riskiert man] gewaltige historische Irrtümer, wenn man […] darauf verzichtet, nach der Genese des politischen Feldes und der Begriffe selbst zu fragen, die von der politischen Philosophie verewigt werden und diese behandelt, als seien sie von geschichtsübergreifender Natur.« (Bourdieu & Chartier 2004: 83) Die an Kultur und Praxis ansetzende Analyse von Diskontinuitäten nimmt also zugleich Kontinuitäten in den Blick als unterschiedliche, historisch gewachsene, z.T. konfligierende kulturelle Muster, die im praktischen Aufeinandertreffen Brüche und Verschiebungen in sozialen Ordnungen erzeugen. Statt einer chronologischen Abfolge von Zäsur und linearer Weiterentwicklung, setzt eine kulturtheoretische und praxiszentrierende Wandelanalyse also die Gleichzeitigkeit von Diskontinuität und Kontinuität voraus. Sie bezieht sich nicht auf eine Evolutionslogik, sondern ist auf die je spezifischen kontextuellen Möglichkeiten und Zwänge sozialer Praxis gerichtet. Damit verschiebt sich aber das Erkenntnisinteresse einer Soziologie sozialen Wandels von der Generierung allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten hin zur Analyse der Kontinuitäten und 16
Reflektiert werden muss zudem – hierauf weist Elke Ohnacker (2004: 8f.) hin – die Voraussetzung von ›Kontinuität‹ und ›Diskontinuität‹ als Teile der gegenwärtigen okzidentalen, aber insbesondere auch der wissenschaftlichen Doxa: »Gerade die omnipräsente Banalität einer linearen Herleitung der Gegenwart und ihre Stilisierung als historische Vervollkommnung von ›Vor-‹ oder ›Unterformen‹, verführt dazu, dies unbewußt als taken for granted vorauszusetzen und auf Basis dieser doxa entsprechend problematische Forschungsfragen und -hypothesen zu konstruieren. (Sozial)geschichte ist nicht nur die Geschichte der Kontinuität, sondern auch die der Brüche und Zufälligkeiten, wobei die Interpretation historischer Ereignisse als ›Kontinuum‹, respektive als ›Bruch‹ selbst als Ausdruck der doxa modernen wissenschaftlichen Denkens, also als implizit wertend wahrgenommen werden muss.«
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Brüche kontingenter sozialer Praxis und hin zur Rekonstruktion von Bedingungen der Hervorbringung eines spezifischen sozialen Wandels.
Die kulturelle Produktion von Rationalität und divergente Logiken sozialen Wandels Wie bereits dargestellt, liegt dem modernisierungstheoretischen Narrativ die Annahme zugrunde, dass Rationalität universelles Prinzip und Triebkraft der Moderne ist. Die Prämisse changiert also zwischen zwei Foki: Zum einen richtet sich die Rationalitätsannahme auf die Qualität des spezifisch modernen Entwicklungszustandes von Gesellschaften (und Mentalitäten), wobei Rationalität sich kontinuierlich steigert und immer weiter expandiert. Zum anderen kennzeichnet Rationalität – in Form kausaler Zusammenhänge und Naturgesetzte – die grundsätzliche Beschaffenheit der Welt. Aus einer kulturtheoretischen Perspektive wird Rationalität nun jedoch vor allem als ›kulturelles Programm der Moderne‹ rekonstruiert: »Mensch und Natur erscheinen weder durch einen Gott gesteuert wie in den monotheistischen Religionen noch durch transzendente Prinzipien wie im Hinduismus oder Konfuzianismus noch durch einen universalen Logos wie in der antiken Tradition. Sie sind vielmehr durch immanente Gesetze beherrscht, die sich vernünftig nachvollziehen lassen. Die ›rationale‹ Analyse von Naturgesetzen stellt sich tatsächlich als einer der Hauptschwerpunkte des kulturellen Programms der Moderne dar und schien die Geheimnisse des Universums aufzudecken: Die moderne (Natur-)Wissenschaft wird damit zum Zentrum des modernen Rationalismus.« (Eisenstadt 2007: 28) Im historischen und räumlichen Vergleich zeigt sich jedoch die Kontingenz der Vorstellung einer rational geordneten Welt. Bereits Weber, der es als Hauptaufgabe der Soziologie betrachtete, »Rationalisierung zu erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden«, verwies darauf, dass das europäisch-amerikanische Gesellschafts- und Wirtschaftsleben »in einer spezifischen Art und in einem spezifischen Sinn ›rationalisiert‹« sei (Weber 1988b: 525). Und er zeigt auf, dass bestimmte historische Strukturen die europäische Rationalisierung überhaupt erst ermöglicht haben – vor allem die protestantische Ethik, gesellschaftliche Ordnungsmuster wie ein rationales Rechts- und Verwaltungswesen, die technische Beherrschbarkeit der wirtschaftlichen Produktion, rational konstituierte Naturwissenschaften etc. (Schimank 2010). Anhand seiner historischen und kulturellen Vergleiche arbeitet Weber heraus, dass Gesellschaften (das römische Reich, China etc.) mit anderen materialen und ideologischen Voraussetzungen als den westlichen, nicht unter den Vorzeichen der Rationalisierung geordnet sind. Dennoch schreibt er dem Entwicklungsprozess der Rationalisierung ein universelles Potenzial zu, dass er implizit anthropologisch begründet. Die Analyse von Rationalität als ein kulturelles Programm im Sinne des kulturtheoretischen Zugangs nimmt eine andere Perspektive ein: Auch hier wird die materiale und (zugleich) kulturell sinnhafte Rationalität der westlichen Moderne in den Blick genommen, deren Universalisierung wird jedoch nicht implizit ontologisch vorausgesetzt, sondern explizit als Bestandteil des kulturellen Programms von Modernität untersucht. »Charakteristisch für die Moderne erscheinen dann diverse Rationalisierungsstrategi-
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en, die zugleich immer Universalisierungsstrategien sind.« (Reckwitz 2008c: 234) Rationalität ist somit als praktisch hervorgebrachtes Kulturmuster zu verstehen, dessen Bedeutungsgehalte und Legitimität umkämpft sind, an das sich aber zugleich (implizite) Strategien knüpfen, die diese Kämpfe verdecken. Rationalisierungsprozesse werden also auch hinsichtlich sozialen Wandels nicht vorausgesetzt, sondern als Prozesse rekonstruiert, »in denen bestimmte – immer umstrittene – Rationalitätsregime, etwa bestimmte Praxis/Diskurs-Komplexe der ›Effizienz‹, der ›Freiheit‹, der ›Menschenrechte‹, definiert und instituiert werden.« (Bonacker & Reckwitz 2007: 14) Die Relevanz, die der Rationalität in Hinblick auf unsere Gegenwartsgesellschaft zukommt, wird also nicht negiert, sie wird vielmehr neu begründet. Sie wurzelt nicht in der universalen und zwingenden Logik einer in ihrem Kern immer schon rationalen Welt, sondern bezieht ihre Intensität aus einer machtvollen Durchwirkung der symbolischen Ordnungen und entfaltet sich in konkreter sozialer Praxis. Die Voraussetzungen einer Rationalisierung der Gesellschaft – wie sie etwa Weber benennt – verhelfen also nicht einer ohnehin in den Dingen und Menschen schlummernden Rationalität zum Durchbruch, sondern sie produzieren und formen diese. Das heißt jedoch nicht, dass Rationalität für eine kulturtheoretische Perspektive auf sozialen Wandel unerheblich wäre – schließlich ist sie ein grundlegendes Orientierungsmuster moderner Ordnungen und bedingt als solches den Möglichkeitsraum gegenwärtiger sozialer Praxis. Sie stellt jedoch weder ein homogenes noch unumstrittenes Muster dar und ist daher sowohl in ihrer Bedeutung als auch letztendlich in ihrer Relevanz für die Hervorbringung sozialer Praxis kontingent. Es gilt also »gesellschaftliche ›Rationalität‹ als ein fragiles, umstrittenes Produkt bestimmter kultureller Konstellationen zu dechiffrieren« (Bonacker & Reckwitz 2007: 14) und sie als Voraussetzung einer spezifischen Praxis zu verstehen, die den Möglichkeitsraum für Wandlungsprozesse aufspannt und die Mittel ihrer Veränderung beinhaltet. Dies bedeutet für die Erforschung sozialen Wandels, dass – generell und nicht nur hinsichtlich moderner Rationalitäten – einerseits die je spezifischen, kontingenten Bedingungen der Hervorbringung ›neuer‹ Praxis, andererseits die Kämpfe um deren Legitimität und symbolischer Verortung in den Blick genommen werden müssen.
4.3
Konsequenzen der kulturtheoretischen Kritik an der modernisierungstheoretischen Lesart sozialen Wandels
Die vier dargestellten Prämissen des modernisierungstheoretischen Narrativs (Struktur-Kultur-Differenz, Tradition-Moderne-Differenz, Einheit und Linearität sowie Rationalität) sind gerade im Diskurs um sozialen Wandel besonders wirkmächtig. Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass Wandel im Rahmen der modernisierungstheoretische Konzeption von Moderne ein Konstitutivum bildet: »In ihrer Grundstruktur […] läuft die modernisierungstheoretische Version des soziologischen Diskurses in allen vier Elementen […] darauf hinaus, der Moderne eine geschlossene, sich selbst reproduzierende Struktur zuzuschreiben« (Reckwitz 2008c: 229), die erstens in Folge eines diskontinuierlichen sozialen Wandels gesellschaftlich implementiert und zweitens
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in Form von kontinuierlichem sozialen Wandel fortgesetzt und dabei in Anpassung an die aktuellen Bedingungen weiterentwickelt wird. Jedenfalls wirkt das modernisierungstheoretische Narrativ weit über die Modernisierungstheorien hinaus und scheint auch in Konzeptionen sozialen Wandels auf, die sich – wie beispielsweise der methodologische Individualismus Boudons – explizit von den strukturfunktionalistischen Ansätzen distanzieren. So lehnt Boudon die Unterscheidung traditionaler und moderner Gesellschaften explizit ab, knüpft jedoch die Erklärung sozialen Wandels an die Prämisse rational handelnder Individuen (Boudon 1983b). Ralf Dahrendorf wiederum wendet sich gegen die Vorstellung einer kontinuierlichen, konvergenten Entwicklung von Gesellschaften, setzt aber mit seiner Wandelanalyse an »bestimmten sozialen Strukturarrangements« sozialer Konflikte an, um »die prinzipielle Zufälligkeit unerklärten historischen Geschehens durch dessen Reduktion auf soziale Strukturelemente zu überwinden« (Dahrendorf 1971: 109). Das Gros der Wandeltheorien kann sich den dargestellten Prämissen nicht gänzlich entziehen, auch wenn sie diese kritisieren. Die Kritik verbleibt zumeist ihrerseits in der Argumentationslogik des modernisierungstheoretischen Narrativs: So greift etwa Boudon (1983a: 8), um die »so-called theories of development« zu wiederlegen, auf kontrastive Gegenüberstellungen traditionaler und moderner Gesellschaften und die Bemessung des Wandels ersterer in den Maßstäben letzterer zurück, während Dahrendorf (1971: 120) bei aller konfliktbedingten Diskontinuität sozialen Wandels die Vorstellung nahelegt, dass Gesellschaften im Großen und Ganzen zu einer liberal-demokratischen Verfasstheit tendieren: »Wenn […] latenten Konfliktgruppen die Möglichkeit zur Organisation gegeben wird, zerbricht das gesamte Gebäude totalitärer Staaten. Überdies scheint die Wahrscheinlichkeit groß, daß diese Möglichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt in jedem totalitären Staat Gestalt annimmt«. Zudem ist die Erforschung sozialen Wandels in weiten Teilen durch eine empirische Ausrichtung gekennzeichnet, die zulasten einer theoretischen Fundierung geht (vgl. kritisch: Wiswede 1997; Hradil 2001), weshalb die Prämissen des modernisierungstheoretischen Narrativs hier eher implizit und weniger systematisch mitgeführt sowie kaum kritisch reflektiert werden. Intendiert ist dann eine soziologische Form der Trendforschung, die den ›Tiefgang‹ von Veränderungsprozessen auslotet, das Verhältnis endogener und exogener Wandelfaktoren zu bestimmen sucht, die Entwicklungsstadien von (Teil-)Gesellschaften identifiziert oder die Relation sozialer Statik und Dynamik im Hinblick auf spezifische, räumlich und zeitlich begrenzte Phänomene misst17 . Zumeist wird dabei loser Anschluss an »universelle Prozesse« wie ›Differenzierung‹, ›Säkularisierung‹, ›Rationalisierung‹ oder allgemein ›Modernisierung‹ gesucht (Wiswede 1997: 597), ohne jedoch dahinterliegende theoretische Konzepte systematisch zu rezipieren. Gerade dieser unreflektierte Rekurs auf modernisierungstheoretische Prämissen durch die theorieferne Wandelforschung trägt erheblich zu deren Naturalisierung bei, verwandelt sie also in jene selbstverständlichen und unhinterfragten Grundlagen der Soziologie sozialen Wandels, die in der Überblicksliteratur ausgewiesen sind.
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Zugleich ist mit den entsprechenden Forschungsansätzen – in expliziter Abgrenzung zu Parsons’ Universaltheorie – eher ein Anspruch ›mittlerer Reichweite‹ verbunden (Merton 1964).
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Trotz scharfer Kritik am modernisierungstheoretischen Narrativ (Nisbet 1969; Eisenstadt 1979; Boudon 1983b; Dussel 1993) prägt es die Frageperspektiven der Wandelforschung sowie die unreflektierten Übereinkünfte darüber, wovon die Rede ist, wenn von sozialem Wandel die Rede ist. Es bildet im soziologischen Diskurs um sozialen Wandel den zentralen Bezugspunkt – und sei es in der expliziten Abgrenzung. Ohnehin finden sich nur wenige Gegenentwürfe, die eine Konzeptualisierung sozialen Wandels anhand alternativer Denk- und Beschreibungskategorien vornehmen18 . Doch angesichts der empirischen Vielfalt hinsichtlich der Formen, Ursachen, Verläufe, Ambivalenzen und Konflikte sozialen Wandels scheint eine auf universell gültigen Gesetzmäßigkeiten basierende allgemeine Theorie, wie sie im Sinne des modernisierungstheoretischen Narrativs nahegelegt ist, verfehlt. Bisweilen wurde daher generell die Möglichkeit einer Theorie sozialen Wandels in Zweifel gezogen. Prominent wurde die ›Nisbet-LenskiKontroverse‹ (Nisbet 1969; Lenski 1976), um die Frage nach den Aussagemöglichkeiten einer Theorie sozialen Wandels, wobei Nisbet den Standpunkt vertritt, die Analyse sozialen Wandels sei aufgrund der Einzigartigkeit historischer Ereignisse nur retrospektiv zulässig, weshalb sich diesbezüglich forschende Soziolog*innen eher als Sozialhistoriker*innen verstehen sollten (für einen Überblick vgl. Boudon 1983a; Scheuch 2003b). Zudem wird Zweifel an der Möglichkeit einer Theorie sozialen Wandels auch von konstruktivistischer Seite geäußert oder aber mit der übermäßigen Komplexität des Gegenstandes begründet (zusammenfassend: Hallinan 2000). Diese Kritik und rigorose Verunmöglichung der Wandelforschung scheint überzogen, doch zeigt sie auch die verfahrene Situation an, in der sich eine modernisierungstheoretische Konzeption sozialen Wandels befindet. Insofern bietet die hier vorgestellte alternative Lesart der kulturtheoretischen Perspektiven eine Öffnung und Verschiebung des analytischen Blicks an. Eine Perspektive auf Moderne und sozialen Wandel, die den Prämissen des kulturtheoretischen Narrativs folgt, lenkt die Sicht auf die Veränderungen von symbolischen Ordnungen und sozialen Praktiken. Dies schließt eine Analyse sozialstruktureller Transformationen nicht aus – tatsächlich sind Verschiebungen etwa in der Verteilung von Bildung, Wohlstand und Prestige seit längerem Gegenstand praxeologischer Forschung (Bourdieu & Passeron 1971; Bourdieu 1987). Sie werden jedoch als kontingente Ergebnisse symbolisch fundierter praktischer Kämpfe aufgefasst und damit von einer generaltheoretisch basierten, allgemeingesetzlich orientierten und strukturzentrierenden Erforschung sozialen Wandels ebenso abgerückt wie von methodologisch-individualistischen Ableitungen sozialer Veränderungsprozesse19 . Wandel selbst weist dann eine geordnete, aber konflikthafte Vielfalt auf, die entlang modernisierungstheoretischer Beobachtungsmuster nicht ins Sichtfeld gelangt. Ein kulturtheoretischer (praxiszentrierender) Zugang zielt des Weiteren auf die Betrachtung historisch und (sozial-)räumlich spezifischer Möglichkeitsräume, in denen sich Praxis in vielfältiger Form wandelt und die sich ihrerseits im Praxisgeschehen
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Eine Ausnahme bildet beispielsweise Ansgar Weymann (1998), der in seine Überlegungen interpretative Theorie, wie den Symbolischen Interaktionismus, Lebenswelt- und Milieukonzepte, einbezieht. Dies gilt mindestens dem Anspruch nach (Bourdieu & Wacquant 2006). Für eine Kritik an universalisierenden Tendenzen der Praxistheorie Bourdieus vgl. Eder (1989); Reckwitz (2004).
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wandeln. Dies setzt auch eine Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von Reproduktion und Wandel voraus (Trinkaus & Völker 2009). Dieses Zugleichdenken mag auch ein Grund für das geringe Interesse an dezidierten Wandelkonzepten kulturtheoretischer Provenienz sein. Im modernisierungstheoretischen Verständnis ist jedenfalls die Trennung von ›Statik‹ und ›Dynamik‹ konstitutiv für die Beschreibung und Erklärung sozialen Wandels: Diese erfordert fixe Strukturkoordinaten, anhand derer sich Veränderungen nachvollziehen lassen, auf der einen und ein Movens, das sich in Dynamikgesetzen abbilden lässt, auf der anderen Seite. Eine kultur- und praxistheoretische Perspektive rechnet mit der Wandelbarkeit auch jener Strukturen, die sich als besonders stabil erweisen und geht darüber hinaus auch von der Veränderlichkeit jener Logiken aus, denen sozialer Wandel folgt. Dies bedeutet jedoch, dass eine Perspektive, die sozialen Wandel als Wandel sozialer Praxis rekonstruiert, auf ontologischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundvorstellungen basiert, die sich von jenen unterscheiden, die das modernisierungstheoretische Narrativ und mithin die gängigen Wandeltheorien implizieren.
5 Sozialer Wandel als Analysefluchtpunkt einer relationalen Soziologie
Das modernisierungstheoretische Narrativ der Soziologie wurde im vorhergehenden Kapitel als besonders wirkmächtiges Deutungsmuster bei der Erforschung sozialen Wandels rekonstruiert. Dieses entspringt einer ausnehmend persistenten ›Kultur der Soziologie‹, die das Wahrnehmen, Denken und Forschen in einer spezifischen Weise diszipliniert (Wallerstein 1999). Zwar ist diese kulturelle Basis der Soziologie nicht widerspruchsfrei und unangefochten (Giddens 1979; Wallerstein 1999), allerdings war die Kultur der Nachkriegssoziologie bis in die 1960er Jahre hinein gerade vor dem Hintergrund des »quasi imperialen Wissenschaftsanspruch[s]« der theoretischen Großunternehmung Talcott Parsons’ (Müller & Sigmund 2000: 11) mit ihrer Ausrichtung auf eine synthetisierende Sozialtheorie überaus wirksam (Reckwitz 2005). Sie schwingt bis heute in der Konstitution sozialen Wandels mit. Demgegenüber zielt der Vorschlag einer praxistheoretischen Soziologie sozialen Wandels auf wissenschaftskulturelle Veränderungen, denn Praxistheorien bedingen eine Wissenschaftspraxis, mit der auch spezifische ontologische, erkenntnis- und wissenschaftstheoretische sowie methodologische Prämissen einhergehen und die Forschungsstrategien hervorbringt, die sich von jenen der modernisierungstheoretischen Soziologie fundamental unterscheiden. Der Angelpunkt eines Perspektivwechsels in der Soziologie sozialen Wandels entspricht einer Differenzierung, die Mustafa Emirbayer (1997: 282) als zentrale Basisunterscheidung soziologischer Perspektiven charakterisiert: »The key question confronting sociologists in the present day is not ›material versus ideal,‹ ›structure versus agency,‹ ›individual versus society,‹ or any other dualisms so often noted; rather, it is the choice between substantialism and relationalism.«
5.1
Das Problem substanzialistischer Grundannahmen bei der Rekonstruktion sozialen Wandels
Auch wenn der Begriff der relationalen Soziologie im Zentrum eines derzeit ›besonders sichtbaren Projekts‹ der Innovations- und Restaurationsdiskurse soziologischer Theo-
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
rien steht (Schützeichel 2012), sind relationale Ansätze weder neu noch einheitlich. Sie lassen sich auf Theorietraditionen wie etwa die Formale Soziologie (Simmel, von Wiese), den Symbolischen Interaktionismus (Blumer, Thomas) oder die Figurationssoziologie (Elias) beziehen (Fuhse 2016). Auch praxiszentrierende Ansätze weisen eine relationale Grundhaltung auf (z.B. Bourdieu 1998b; Butler 2005; Latour 2007), deren enge konzeptionelle Verwandtschaft nicht zuletzt den (nachträglichen) programmatischen Zusammenschluss zu einer soziologischen Theorienströmung ermöglicht (Savigny et al. 2001). Dabei weist eine praxistheoretische relationale Soziologie Nähen zu aktuellen Diskussionen der Netzwerktheorie (Fuhse & Mützel 2010) sowie zur relationalen Ontologie des Pragmatismus (Dewey & Bentley 1949; Joas 1996), des französischen Poststrukturalismus (Deleuze 1992; Derrida 1999a), und der feministischen Theorien (Barad 2013; Haraway 1995a) auf. Perspektive und Vorgehensweise der einschlägigen Ansätze sozialen Wandels (funktionalistische, rationalistisch-handlungstheoretische, evolutionistische Ansätze etc.) – so disparat die Theoriebezüge und so grundlegend die Kritik untereinander im Einzelnen auch ausfallen mag – erklären sich hingegen aus einer gemeinsamen substanzialistischen Grundhaltung. Substanzialismus »takes as its point of departure the notion that it is substances of various kinds (things, beings, essences) that constitute the fundamental units of all inquiry.« (Emirbayer 1997: 282, H.i.O.) Er legt daher die Suche nach jenen Einheiten nahe, die ›hinter‹, ›unter‹ oder ›über‹ den sozialen Phänomenen liegen und diese (kausal) bedingen. Wandel verursachende Entitäten, aber auch die wahrnehmbaren Veränderungen werden dabei zumeist unterschiedlichen Realitätsebenen zugeordnet, so dass von geschichteten Entitätsbereichen gesprochen werden kann, die in einem kausalen oder supervenienten Verhältnis zueinander stehen (Schatzki 2016)1 . Sozialer Wandel wird dann mit Blick auf Kausalketten oder Wechselbeziehungen zwischen sozialen Einheiten unterschiedlicher Entitätsbereiche analysiert. Er kann dabei auf die Eigendynamik einzelner Entitäten zurückgeführt oder durch das Interagieren unterschiedlicher sozialer Einheiten erklärt werden. John Dewey und Arthur Bentley (1949), nennen diese beiden Varianten einer substanzialistischen Soziologie ›self-action‹ und ›inter-action‹. Werden substanzielle Entitäten in ihrer Eigendynamik betont, bildet das immanente transformative Potenzial von Gesellschaften, Systemen und Strukturen, aber auch von Individuen oder Mentalität den Ausgangspunkt sozialen Wandels. Im Rahmen der klassischen Modernisierungstheorie etwa, werden Gesellschaften, aber auch bestimmte Institutionen (Demokratie, Markt, Geld etc.) oder eben die Moderne als solch eigenständige Einheiten entworfen. Sie besitzen dann Eigenschaften, die nicht aus anderen sozialen Elementen ableitbar sind und bilden die zentrale (in theoretischer Zuspitzung: die ausschließliche) Quelle für sozialen Wandel, indem sie entsprechend der ihnen eigenen Logik prozessieren bzw. ›agieren‹ und so beispielsweise die generelle Dynamik von Gesellschaften, Gruppen, Organisationen oder Märkten entfalten. Auch Wandel selbst
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Eine Ausnahme bildet beispielsweise der methodologische Individualismus, der die Entitäten (Individuen) auf nur einer einzigen Ebene verortet, wo sie soziale Phänomene (Institutionen, Gesellschaften, Normen) konstituieren. Letztere weisen dabei keinerlei Substanz auf, sondern sind bloße Aggregate des Handelns.
5 Sozialer Wandel als Analysefluchtpunkt einer relationalen Soziologie
bildet in dieser Theorietradition bisweilen eine eigendynamische ontologische Basiskategorie, nämlich dann, wenn ihm substanzielle Eigenheiten zugesprochen werden, die Gesellschaften eine spezifische Entwicklungslinie aufzwingt, sodass beispielsweise deren Entwicklung aus diesen Eigenschaften heraus erklärt werden kann. Die Kritik an einer solchen Vorstellung wurde bereits angesprochen und auf die verbreitete Lösung einer handlungstheoretischen Fundierung der Soziologie sozialen Wandels verwiesen. Allerdings bedeutet dies mit Blick auf die erkenntnistheoretische Strategie nur eine graduelle Verschiebung: Denn statt ›Gesellschaft‹, ›Struktur‹ oder ›Wandel‹, werden dann Akteure bzw. Individuen als jene Einheiten verstanden, von denen sozialer Wandel ausgeht. Dies gilt beispielsweise für die Rational-Choice-Theorie mit der Vorstellung eines konstant interessengeleitetet und kalkuliert handelnden Agenten, dessen rationale Entscheidungen in der Summe sozialen Wandel bedingen. Dies gilt aber auch für jene Perspektiven, die das Konzept des ›homo sociologicus‹, als »Elementarkategorie für die eigenständige soziologische Analyse« betonen (Dahrendorf 1977: 5), also Individuen als Entitäten entwerfen, deren vornehmliche Eigenschaft es ist, internalisierte Normen und Rollenerwartungen zu befolgen. In beiden Fällen ändert sich lediglich die soziologische Basiseinheit, von der sozialer Wandel ausgeht. Anders die zweite Variante einer substanzialistischen Soziologie: Diese führt das dynamische Moment sozialer Phänomene nicht auf eine den Elementarkategorien innewohnende Eigendynamik, sondern auf die Interaktion zwischen diesen Einheiten zurück. Dewey und Bentley (1949: 108) charakterisieren diese Perspektive als: »where thing is balanced against thing in causal interconnection«. Dynamik entsteht dann zwischen sozialen Entitäten, die jedoch an sich unabhängig sind und im Wesenskern unverändert aus den Interaktionen hervorgehen. Diese Vorstellung ist nicht nur in interaktionistische Theorien eingelassen, sie entfaltet ihre Relevanz insbesondere über jene theoretisch schwach fundierten quantitativen Analysen, die in der Wandelforschung weit verbreitet sind (Hradil 2001). Andrew Abbott (1988) stellt in der quantitativen Sozialforschung ein verbreitetes Zusammenspiel substanzialistischen Denkens mit der Unterstellung einer ›general linear reality‹ fest, die der modernisierungstheoretischen Prämisse der Linearität der Moderne ähnelt. »To use such a model to actually represent social reality one must map the processes of social life onto the algebra of linear transformations. This connection makes assumptions about social life: not the statistical assumptions required to estimate the equations, but philosophical assumptions about how the social world works. […] Such representational use assumes that the social world consists of fixed entities (the units of analysis) that have attributes (the variables). These attributes interact, in causal or actual time, to create outcomes, themselves measurable as attributes of the fixed entities. The variable attributes have only one causal meaning (one pattern of effects) in a given study, although of course different studies make similar attributes mean different things. An attribute’s causal meaning cannot depend on the entity’s location in the attribute space (its context), since the linear transformation is the same throughout that space. For similar reasons, the past path of an entity through the attribute space (its history) can have no influence on its future path, nor can the causal importance of
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
an attribute change from one entity to the next. All must obey the same transformation.« (Abbott 1988: 170) Trotz maßgeblich empirischer Herangehensweise und schwach ausgeprägter sozialtheoretischer Fundierung wirkt also eine solchermaßen substanzialistisch geprägte Wandelforschung in hohem Maße prädeterminierend. Schließlich werden die Prämissen eigendynamischer und interagierender Entitäten bei der Analyse sozialen Wandels auch kombiniert, etwa wenn eigenständig agierende Akteure als soziale Basiseinheiten angenommen werden, deren Zusammenhandeln jedoch gemeinhin unerwartete Folgen zeitigt (Merton 1936) oder wenn, wie im Falle der Interdependenzhypothese, Strukturen unterstellt werden, die einerseits einen autonomen dynamischen Kern aufweisen, andererseits aber auch in ihrem Zusammenspiel Veränderungen erzeugen können. Den mithin durchaus heterogenen substanzialistischen Perspektiven ist jedoch gemein, dass sozialer Wandel auf universelle, konstante und daher ahistorische Einheiten bzw. Einheitskerne bezogen ist. Diese stellen Determinanten dar, die zur Erklärung der sich wandelnden Phänomene, der Variablen, herangezogen werden. In der Bezugnahme auf den zeitlosen Wesenskern der soziologischen Basiskategorien und deren kausale bzw. superveniente Beziehungen lassen sich dann allgemeingültige Gesetze des Wandels formulieren, zumindest lässt sich aber der Verlauf, den Wandel genommen hat, rückwirkend auf die elementaren sozialen Entitäten in ihrer situationsspezifischen Kombination zurückführen. Sozialen Dynamiken liegt dann ein allgemeines Prinzip zugrunde, dass es zu entdecken gilt, gleichgültig ob dies nun im situativen Aufeinandertreffen unveränderlicher Entitäten, in einer bestimmten Eigendynamik sozialer Strukturen bzw. Akteure, oder im Wesenskern sozialen Wandels selbst zu finden ist. Kritik an dieser Forschungsstrategie zielt zumeist auf den Umstand, dass die Soziologie zwar in die Lage versetzt wird, die »Dinge – im Prinzip – durch Berechnen [zu] beherrschen« (Weber 1995: 13), dies aber nur um den Preis eines starren Theoriengeflechts mit einer Vielzahl »analytischer Schubläden, in die soziale Wirklichkeit idealiter restlos wegsortiert – im doppelten Sinne des Wortes – werden kann« (Greshoff & Schimank 2005: 16). Die (kausale) Erklärung sozialen Wandels ist entsprechend eine vornehmlich theoretische Arbeit, bei der die determinativen Eigenschaften der Basiseinheiten, sowie die zwischen ihnen aktiven Mechanismen formuliert und ableitbare Auswirkungen modelliert werden. Empirisches Arbeiten dient dann vornehmlich der Überprüfung von Theorien, Modellen und Hypothesen, wodurch es einen absichernden und legitimierenden Charakter erhält. Hieran schließen auch methodologische Erwartungen, wie etwa Nutzung ›neutraler‹ bzw. nonreaktiver Methoden an, was – wie Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1999: 498) kritisch anmerken – zunächst deren Existenz voraussetzt, sodann einen »falschen Singular des methodisch richtigen Vorgehens« suggeriert und schließlich Strategien unterstützt, die auf eine Entscheidung im Streit um die ›richtige‹ Theorie ausgerichtet sind, indem sie objektive empirische Beweise vorlegen kann. Mit solchen und ähnlichen Strategien haben sich in der Wissenschaft »spezifische Denkstile ausgebildet, die kontextfreies, allgemeines, objektives Wissen hervorbringen. Objektivität ist das Zauberwort, das dem wissenschaftlichen Wissen zugrunde liegt, auch wenn es überhaupt nicht mehr thematisiert wird.« (Engler 2013: 45) Das Soziale, auch sozia-
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ler Wandel, hält dann – eine fehlerfreie und ausreichend präzise Theorie vorausgesetzt – nur wenige Überraschungen bereit2 , allerdings setzt eine solche Perspektive voraus, dass jedwede Praxis und alle Veränderung entweder den zugrundeliegenden Kausalbeziehungen folgt oder als Abweichung unbedeutend ist. »So zerstört diese Sichtweise einen Teil der Realität, die sie zu erfassen meint, im Vorgang der Erfassung selbst« (Bourdieu & Wacquant 2006: 26). Die bereits in der Darstellung der modernisierungstheoretischen Prämissen aufgezeigte Universalisierung der Erklärung sozialen Wandels, die damit einhergehende Beschränkung auf allgemein bestimmbare Varianten und konzeptionelle Schließung von Kontingenz, die Konzentration auf kausale Beziehungen oder auf systematische Korrespondenzen zwischen sich verändernden sozialen Elementen, die Enthistorisierung bzw. Dekontextualisierung von Wandlungsprozessen und schließlich die Ausblendung sozial ungleicher Effekte sozialen Wandels basieren also auf substanzialistischen Grundannahmen und auf einem bestimmten Theorie-Empirie-Verhältnis. Dieses gibt dem theoretischen Konstrukt den Vorrang vor der Empirie: Das Erklärungspotenzial liegt in der theoretischen Modellierung von Wandelursachen, -verläufen und -effekten, der Empirie fällt die Aufgabe der Überprüfung oder – im Falle schwach theoretisch fundierter, empiristischer Forschung – der Deskription zu. Dem setzt eine verstehende Soziologie zwar den Eigensinn der Subjekte entgegen, welche nicht etwa überindividuellen Strukturen folgen, sondern die Welt aus sich heraus erschaffen, indem Sie den Dingen Bedeutung geben und danach handeln3 . Dennoch bilden die Subjekte eine substanzielle Einheit, auf die das Verstehen rückgebunden wird: Wenn – im Sinne des methodologischen Individualismus – sozialer Wandel durch objektiv rationale Entscheidungen von Akteuren evoziert wird, ist er letztlich nur über die individuellen Präferenzstrukturen nachvollziehbar, die wiederum lebensweltlichen und situativen Variationen unterliegen, was auch die bisweilen großen Unterschiede in Wandelprozessen von Gemeinschaften mit ähnlichen Existenzbedingungen erklärt (Boudon 1983a). Während der methodologische Individualismus auf dieser Grundlage kausale Hypothesen und Modelle begrenzter Reichweite generiert, betonen phänomenologische Ansätze »die Wahrheit der primären Erfahrung mit der sozialen Welt, d.h. das Vertrautheitsverhältnis zur vertrauten Umgebung« (Bourdieu 1979: 147; H.i.O.) und folgern, dass soziologischer Erkenntnisgewinn allein durch Explikation und Systematisierung der vornehmlich impliziten Primärerfahrungen sozialer Subjekte zu erlangen ist. Diese Variante soziologischen Verstehens unterstellt »eine Kontinuität zwischen den alltäglich-praktischen und den wissenschaftlich-theoretischen Erkenntnissen […] und vermittelt so eine ›Illusion der Transparenz‹, die der sozialen Welt aber, erkenntniskritisch betrachtet, keineswegs zukommt« (Schwingel 2000: 43). Entsprechend ist das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie vom ›Naturalismus qualitativer Sozialforschung‹ und einem ›Ethos des Zeigens‹ geprägt (Hirschauer 2008: 167): Die in den 2
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Hirschauer spricht von einer ›Monopolisierung des Überraschungsmoments der Wissensentwicklung‹: »Alle Überraschung soll von der Theorie ausgehen, sie selbst kann nichts mehr verwundern, sie weiß immer schon alles auf überraschende Weise neu.« (Hirschauer 2008: 183) Sowohl phänomenologische Ansätze als auch der methodologische Individualismus schließen an die verstehende Soziologie Max Webers an, wobei letzterer explizite Konzepte sozialen Wandels hervorgebracht hat.
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Daten manifestierten subjektiven Erfahrungen lassen unvermittelt auf die Gründe für eine Transformation von Lebenswelten schließen – eine Theoretisierung sozialen Wandels ist daher nicht notwendig, eine Modellierung nicht möglich. Entsprechend wird bei der Erkenntnisgenerierung der Empirie Vorrang vor der Theorie gegeben. Der Naturalismus der Daten, in denen der subjektive Sinn eines Phänomens zu finden, zu verstehen und zu zeigen ist, engt jedoch seinerseits den Erkenntnisprozess ein und setzt die Forschung »einem Zwang aus, der der Beweislogik standardisierter Forschung nahekommt« (Hirschauer 2008: 175). Zwar unterscheiden sich die forschungsstrategischen Positionen von kausaler Erklärung und phänomenologischem Verstehen deutlich, beide nehmen jedoch eine Trennung von Theorie und Empirie vor, die wiederum in je eigener Form eine Trennung zwischen den substanziellen Basiskategorien der Soziologie und den durch sie bedingten Zuständen nachvollzieht: Hier bildet die Theorie, dort die Empirie den originären Zugang zur Wirklichkeit der sozialen Basiseinheiten, und eine strikte Trennung schützt auf der einen Seite die ›reine Begriffsbildung‹ vor einer ›Verschmutzung‹ durch die Empirie bzw. auf der anderen Seite die ›Natürlichkeit der Daten‹ vor theoretisierender ›Verfälschung‹ (Hirschauer 2008). Sowohl substanzialistische Grundannahmen als auch die durch sie nahegelegte rigide Differenzierung zwischen empirischer und theoretischer Forschung und die Vorstellung einer neutralen, entsprechend den abstrakten Basiseinheiten oder auch entlang bestimmter Fragetypen universal einsetzbaren Methodik schränken jedoch die Analyse sozialen Wandels ein. Sie setzen basale Konstanten sozialer Wirklichkeit voraus, an denen die kulturtheoretischen Ausführungen zur Konstitution moderner Gesellschaft zweifeln lassen. Eine praxistheoretische Perspektive eröffnet nun einen alternativen, einen relationalen Zugang: Durch sie rücken soziale Beziehungen und Unterscheidungen bei der Bestimmung analytischer Basiskategorien in den Fokus.
5.2
Relationale Soziologie und theoretische Empirie als Grundlagen einer praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels
Eine relationale Soziologie setzt – anders als interaktionistische Zugänge – nicht an Beziehungen zwischen substanziellen Basiseinheiten an, vielmehr kann ihre Perspektive mit Dewey und Bentley (1949: 108) charakterisiert werden als: »where systems of description and naming are employed to deal with aspects and phases of action, without final attribution to ›elements‹ or other presumptively detachable or independent ›entities,‹ ›essences,‹ or ›realities,‹ and without isolation of presumptively detachable ›relations‹ from such detachable ›elements‹.«4 ›Einheiten‹ oder ›Gegenstände‹ erhalten 4
Dewey und Bentley (1949: 139) knüpfen mit ihrem Entwurf ›Transactional Observation‹ (so ihre Bezeichnung einer relationalen Perspektive) an die Überlegungen Ernst Cassirers zu ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹ an, wonach ›die Dinge‹ »nicht als selbständige Existenzen vor jeder Beziehung als vorhanden gesetzt [werden]«, vielmehr erhalten sie »ihren gesamten Bestand […] erst in und mit den Beziehungen, die von ihnen ausgesagt werden. Sie sind Relationsterme, die niemals losgelöst, sondern nur in idealer Gemeinschaft miteinander ›gegeben‹ sein können« (Cassirer 1910: 47). Auch die weitreichenden Konsequenzen für die Beobachtung sozialen Wandels sind
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ihre Bedeutung bzw. Identität aus den sich beständig verändernden und durchaus ambivalenten Verhältnissen, in denen sie zueinander stehen, und diese Relationen bilden die Basis der soziologischen Analyse (Bohn 1991; Emirbayer 1997). Aus einer relationalen Perspektive konstituieren sich die Relata also erst aus ihrem jeweiligen Beziehungsverhältnis – »die Relation geht aus dieser Sicht gewissermaßen konstitutiv den ›Dingen‹ voraus« (Schäffter 2014: 5)5 . Für die Konstruktion eines entsprechenden Analyseinstrumentariums bildet soziale Praxis den zentralen Begriff: Analytische Kategorien (Kultur, Wissen, Subjekt, Geschlecht etc.) zielen auf das praktische In-Beziehung-setzen und Unterscheiden der sozialen Akteure, wobei eben diese Differenzierungen relational gedacht werden: »[D]as, was man gemeinhin einen Unterschied nennt, also ein bestimmtes, meist als angeboren betrachtetes Einstellungs- oder Verhaltensmerkmal (man spricht gerne von einem ›natürlichen Unterschied‹), [… ist] nur eine Differenz […], ein Abstand, ein Unterscheidungsmerkmal, kurz, ein relationales Merkmal, das nur in der oder durch die Relation zu anderen Merkmalen existiert.« (Bourdieu 1998b: 18) Entsprechend wird der Blick auf die praktische Herstellung der Differenz gelenkt und die Wirkung von Differenzen betont (Barad 2013; Haraway 1995b), praktische Differenzeffekte also, die raumzeitlich variieren und die wiederum auf die Hervorbringung sozialer Praxis einwirken6 . Schließlich ist auch der konzeptionelle Fluchtpunkt ›soziale Praxis‹ relational zu verstehen – als kontextspezifisches Zusammenspiel ›relativ bedeutsamer‹ Dinge, Handlungen, Institutionen, Körper etc. Auch ›Praxis‹ entzieht sich also einer substanzialistischen Betrachtungsweise, welche – wie Bourdieu (1998b: 15) problematisiert – »jede Praxis […] an
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bereits in Cassirers Studie angelegt: »Die Identität, der der Gedanke fortschreitend zustrebt, ist nicht die Identität letzter substantialer Dinge, sondern die Identität funktionaler Ordnungen und Zuordnungen. Diese aber schließen das Moment der Verschiedenheit und Veränderung nicht aus, sondern gelangen erst in und mit ihm zur Bestimmung.« (Cassirer 1910: 47) Unter den Praxistheoretiker*innen schließt insbesondere Pierre Bourdieu eng an Cassirer an (für einen Überblick vgl. Nairz-Wirth 2009). Verdeutlichen lässt sich dies beispielsweise anhand des Machtbegriffs Michel Foucaults, der Macht als Kräfteverhältnisse fasst, nicht also als Eigenheit, von der jemand, gemessen an ihrer Totalität, viel oder wenig ›besitzen‹ kann: »Die Macht gibt es nicht. Ich will damit folgendes sagen: Die Idee, dass es an einem gegebenen Ort oder ausstrahlend von einem gegebenen Punkt irgendetwas geben könnte, dass eine Macht ist, scheint mir auf einer trügerischen Analyse zu beruhen und ist jedenfalls außerstande, von einer beträchtlichen Anzahl von Phänomenen Rechenschaft zu geben. Bei der Macht handelt es sich in Wirklichkeit um Beziehungen, um ein mehr oder weniger organisiertes, […] mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Relationen. […] Wenn aber die Macht in Wirklichkeit ein offenes mehr oder weniger (und ohne Zweifel eher schlecht) koordiniertes Bündel von Beziehungen ist, dann stellt sich nur das Problem, ein Analyse-Raster zu schmieden, das eine Analytik der Machtbeziehungen ermöglicht.« (Foucault 1978: 126f., H.i.O.) Sowohl Donna Haraway als auch (an Haraway anschließend) Karen Barad gehen auf die Wirkung von Differenz im Zusammenhang mit dem von ihnen sozialwissenschaftlich ausgearbeiteten Begriff der Diffraktion ein, der die Analyse praktischer Interferenzen und der wechselseitigen ›Brechung‹ praktischer Wirkungen ermöglichen soll: »Entscheidend ist, dass Diffraktion das relationale Wesen von Differenz beachtet; sie gestaltet Differenz weder als eine Sache der Essenz noch als folgenlos: ›ein Diffraktionsmuster bildet nicht ab, wo Differenzen erscheinen, sondern wo die Effekte von Differenzen erscheinen‹ (Haraway).« (Barad 2013: 38)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
sich und für sich betrachtet, unabhängig von dem Universum der statt dessen gleichfalls möglichen Praktiken, und die Korrespondenz zwischen den sozialen Positionen [… und] den Praktiken als direkte, mechanische Relation auffaßt«. Aufgrund der umfassend relationalen Verfasstheit sowohl des sozialkonstitutiven Grundverständnisses und als auch der Basiskategorie einer praxistheoretischen Soziologie spricht Schatzki (2016: 29) von einer flachen Ontologie, bei der »sich die Sphäre des Sozialen ausschließlich auf einer einzigen Ebene (oder vielmehr: auf keiner Ebene) erstreckt«7 . Aus diesem Grunde zerfällt das Soziale auch nicht in eine Mikro- und eine Makroebene oder in Struktur und Handlung: »[A]llen Formen des methodologischen Monismus, der das ontologische Primat der Struktur oder des Akteurs behauptet, des Systems oder des handelnden Subjekts, des Kollektiven oder des Individuellen« wird von praxistheoretischer Seite »das Primat der Relationen« entgegengehalten (Bourdieu & Wacquant 2006: 34). Wissen, Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln, aber auch Institutionen, Normen, Werte, Mythen etc. konstituieren sich als Elemente und zugleich Produkte sozialer Praxis. Genaugenommen bezeichnen diese Kategorien also Praxis – sie weisen keine Essenz auf, die über ihr praktisches Dasein hinausgeht, und lassen sich nicht unterschiedlichen ontologischen Ebenen zuordnen. Das bedeutet aber zugleich, dass »die objektive raumzeitliche Ausdehnung« von Praxisarrangements wie Institutionen, Formen des Zusammenlebens, Arbeitsorganisationen etc. »die Grenzen der möglichen objektiven raumzeitlichen Ausdehnung und Gestalt sozialer Phänomene« bedingen (Schatzki 2016: 34), denn eine essenzielle bzw. anderweitig (sozial-)ontologisch oder metaphysisch begründete Potenzialität der Dinge ist durch die Annahme ihrer relationalen Konstitution ausgeschlossen. Dies wirkt nur auf den ersten Blick statisch, denn mit der praktischen Produktion sozialer Phänomene geht eine unbestimmbare Potenzialität einher, ein durch raumzeitlich spezifische Relationierungen begrenzter Möglichkeitsraum der indefiniten generativen Möglichkeiten, dessen Grenzen – dies ist für die Erforschung sozialen Wandels besonders relevant – sich mit der Zeit verschieben. Eine praxistheoretische Perspektive geht also von der Kontingenz und damit von der potenziellen Wandelbarkeit der gesamten sozialen Welt aus, da ihre konstitutiven Elemente nicht substanziell, sondern in Relation und Differenzierung untereinander praktisch hervorgebracht sind. Diese Prämisse birgt Konsequenzen für Möglichkeiten und Ziele soziologischer Theorienbildung sowie für das Verhältnis von Theorie und Empirie und sie ist insbesondere für die Erforschung sozialen Wandels folgenreich. Zunächst sind Theorien selbst als soziale Praxis zu verstehen, die (sozial-)räumliche und historische Spezifika aufweist. Sie sind also, mit Herbert Kalthoff (2008: 15)
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Dies unterscheidet die Praxistheorien von Ansätzen, die – wie der methodologische Individualismus – von nur einer substanziellen Einheit (Individuen) ausgehen, aus der sich soziale Gebilde zusammenfügen, die aber ihrerseits keinerlei Substanz aufweisen. Auch hier kann von einer flachen Ontologie gesprochen werden, da sich jene Entitäten, die soziale Phänomene bedingen auf einer ontologischen Ebene befinden. Vermutlich tendiert Schatzki aus diesem Grunde dazu, in einer praxistheoretischen Perspektive auf die Vorstellung ontologischer Ebenen zu verzichten, da hier keinerlei substanzialistische Einheiten die Hervorbringung des Sozialen bewirken (Schatzki 2016).
5 Sozialer Wandel als Analysefluchtpunkt einer relationalen Soziologie
gesprochen, keine objektiven, »wörtlichen Übersetzungen gesellschaftlicher Wirklichkeit«, sondern sie bringen ihren Gegenstand wissenschaftspraktisch hervor. Dies bedeutet, dass die Bedingungen der praktischen Produktion einer Theorie in diese eingelagert sind: Sie sind Erzeugnis der Unterscheidung von und Positionierung zu anderen Theorien, historisch spezifischer Arbeitsgewohnheiten, der Strategien und Kämpfe im Feld der Wissenschaft, aber auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, denn zeitgenössische Erfahrungen lagern sich in die Denkstile von Wissenschaftler*innen ein. Entsprechend muss eine starke, wenn auch weitestgehend verkannte ›Empiriegeladenheit‹ von Theorien berücksichtigt werden, die einerseits von der konkreten empirischen Einbettung von Theorien in einen historischen, raumzeitlichen Kontext und andererseits von einer (oft impliziten) Fallbezogenheit herrühren (Hirschauer 2008: 168f.). Soziologische Theorien sind daher ebenso dynamisch wie die Gesellschaften, die sie analysieren: Die »permanente Selbsttransformation des Gegenstandes […] verunmöglicht dauerhafte, quasi zeitlose Großtheorien – und gleichzeitig verschiebt der realkulturelle Wandel auch die soziologischen Vokabulare des Sozialen« (Reckwitz 2005: 66). Auch aus diesem Grunde plädiert Reckwitz (2005) dafür, die Soziologie als Wissenschaft der Moderne zu verstehen, als Wissenschaft eines ›historischen Individuums‹, die entsprechend nicht nomothetisch, sondern vielmehr ideographisch ausgerichtet ist. Nicht nur unterliegt die Soziologie selbst unweigerlich sozialem Wandel und verändert ihre Denkgewohnheiten, Theorien, Methoden, Plausibilitätsbegründungen – kurz: ihre Wissenschaftskultur, der Wandel ihrer Perspektiven und Analyseinstrumente ist auch ist auch angesichts der Dynamik ihres Gegenstandes unerlässlich. »Daraus, dass der Gegenstand, der sich aus der soziologischen Perspektive ergibt, kein allgemeingültiger, sondern ein besonderer ist und dadurch, dass dieser sich selbst möglicherweise transformiert, folgt jedoch, dass auch die Theorien der Moderne nicht überzeitlich konstant gehalten werden können. Eine überzeitliche Einheit der theoretischen Grundlagen der Soziologie wäre damit nicht nur nicht wünschenswert, sondern fortschrittshemmend.« (Reckwitz 2005: 75) Durch einen historisierenden Blick auf die soziologische Theorienproduktion rücken auch die allzu oft invisibilisierten oder als ›Klassiker im Goldrahmen‹ (Barlösius 2004) behandelten Soziolog*innen in einen spezifischen Fokus: Dem Topos neutraler, allgemeingültiger wissenschaftlicher Denk- und Wahrnehmungsschemata, mit dem das ›Privileg der Totalisierung‹ einhergeht (Bourdieu 1993c: 151)8 , wird eine verstärkte Reflexion wissenschaftlicher Produktionsbedingungen entgegengehalten. Die Gefahr, dass sich eine ihrer Kontingenz bewusste Soziologie in den Repräsentationskonventionen ihrer historischen Kontexte auflöst, ist gering (Amann & Hirschauer 1999). Zwar verlieren Projekte wie die Herstellung einer konstanten disziplinären Einheit ebenso an Bedeutung wie die Idee eines prinzipiellen disziplinumspannenden Erkenntnisfortschritts und das Streben nach einer synthetisierenden und theoriekonvergierenden Leittheorie. Zugleich verringert die Soziologie die Distanz zu ih8
Bourdieu weist mehrfach auf die Relevanz einer dezidierten Reflexion dieses »scholastic fallacy« hin (vgl. Bourdieu 1993b, 2001b, Bourdieu & Wacquant 2006) und betont die Notwendigkeit, mit der »Illusion des absoluten Wissens« (Bourdieu et al. 1991: 273) zu brechen.
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rem Gegenstand – nicht zuletzt, weil die epistemologische und forschungsstrategische Konsequenz, die eine praxistheoretische Perspektive aus der Selbsthistorisierung und -kontextualisierung zieht, in einer Relativierung der Grenzen zwischen Theorie und Empirie besteht: Theorie und Empirie müssen als vollständig wechselseitig durchdrungen verstanden und betrieben werden (Bourdieu & Wacquant 2006), weshalb fundierte Theorienarbeit auf empirisches Forschen angewiesen ist und umgekehrt (Kalthoff et al. 2008). Grundlegend ist dabei die Einsicht, dass Theorie nicht die Wirklichkeit abbildet wie sie ist, sondern diese in spezifischer Weise (re-)konstruiert: Der Analysegegenstand ist von seinen theoretischen Bezügen deshalb nicht zu trennen, weil diese ihn überhaupt erst herstellen, eingrenzen, analysierbar machen. Theorien erfahren dabei einerseits eine Konkretisierung anhand der Gegenstände, auf die sie gerichtet sind, und andererseits eine Vergröberung, in dem Sinne, dass sie als (flexibles) Instrumentarium verstanden werden, als »Werkzeugkasten« (Bourdieu & Wacquant 2006: 55; Foucault 2001-2005; Kalthoff et al. 2008) bzw. »begriffliche Sehgeräte« (Lindemann 2006: 84) der soziologischen Analyse. Dies schließt die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher theoretischer Perspektiven nicht aus, sondern nimmt sie als Ausdruck der Komplexität sozialer Wirklichkeit wahr (Schimank 1999: 420) und erkennt das »Neben- und Gegeneinander von Lesarten« als fruchtbar an (Greshoff & Schimank 2005: 36). Theorien – verstanden als Analysewerkzeuge, die nicht die Existenz allgemeingültiger Wahrnehmungs- und Denkkategorien voraussetzen (Engler 2013) – bestehen aus Begriffen, die definiert, jedoch nicht in einer übergeordneten Gesellschaftstheorie fixiert sind. Dies ermöglicht der Soziologie eine »fortlaufende Neueinstellung ihrer ›Linsen‹« (Amann & Hirschauer 1999: 501), einen Wandel der Theorie mit ihrem und durch ihren Gegenstand. Für eine veränderungssensible, auf der wechselseitigen Durchdringung von Theorie und Empirie aufbauende Soziologie ist es daher fruchtbar, »wenn ihre Begriffe polymorph, flexibel und in der Anwendung anpassungsfähig sind statt bestimmt, meßgenau und in der Anwendung rigide« (Bourdieu & Wacquant 2006: 45). Dieser Umstand ermöglicht nicht zuletzt den konstruktiven Austausch und die forschungspraktische Kombination unterschiedlicher (praxis-)theoretischer Begriffskonzepte. So bezeichnet Michel Foucault seine Bücher als ›Werkzeugkästen‹, die »die Leute […] öffnen und sich irgendeines Satzes, einer Idee oder einer Analyse wie eines Schraubenziehers oder einer Bolzenzange bedienen« können (Foucault 2001-2005: 887-888), wobei Clemens Kammler (2008: 11) anmerkt, dass »die alten Werkzeuge im jeweils neuen Werkzeugkasten nicht selten eine veränderte Funktion und Bedeutung« erhalten. Ein flexibles theoretisch-begriffliches Analyseinstrumentarium erweitert die Rekonstruktionsmöglichkeiten vielgestaltiger Veränderungsprozesse und macht Aspekte sichtbar, die in ein streng konzipiertes Sozialmodell gegebenenfalls nicht zu integrieren wären. Zugleich darf dies nicht bedeuten, dass das begriffliche Instrumentarium unreflektiert – oder gar wahllos – zusammengestellt wird. Insbesondere der (alltags-)sprachliche, assoziative Bedeutungshof wissenschaftlicher Begriffe ist genauestens zu hinterfragen, sollen diese den Forschungsprozess nicht fehlleiten: »Gleichgewicht, Druck, Kraft, Spannung, Reflex […]. Diese Interpretationsmuster, meist der Physik oder Biologie entnommen, bergen die Gefahr in sich, unter dem
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Deckmantel der Metapher und Homonymie eine inadäquate Philosophie des sozialen Lebens zu transportieren, vor allem aber die Suche nach einer spezifischen Erklärung zu hintertreiben, da sie auf billige Weise eine Erklärung bereits zu geben scheinen« (Bourdieu et al. 1991: 26). Es besteht entsprechend die Notwenigkeit zur Reflexion des eingesetzten begrifflichen Instrumentariums und auch der theoretischen Kontexte, denen es entstammt. Weder bedeutet also ein relationales, flexibles Begriffsinstrumentarium zwangsläufig theoretische Unschärfe in Kauf nehmen zu müssen, noch gibt die wechselseitige Durchdringung von Theorie und Empirie »wild wuchernden Beschreibungskategorien« statt (Greshoff & Schimank 2005: 16), bedeutet sie doch auch eine ›Theoriegeladenheit‹ der Empirie (Hirschauer 2008). Die Praxistheorie bildet auf diese Weise eine Art ›modest grand theory‹: sie bietet ›Frameworks von Begriffen und Annahmen‹ an, in deren Rahmen theoretisierende Aussagen über konkrete soziale Praxis und deren Veränderung möglich werden (Hirschauer 2008: 172). Theorien, die als Frameworks verstanden werden und daher die Gefahr, ihren Gegenstand theoretisch zu prädeterminieren, gering halten, sind im Bereich der Wandelforschung gerade deshalb geboten, weil »[e]in soziologisches Denken […], das die Gewissheit verlässt, dass der konstruierende Soziologe über Schemata verfügt und anwendet, die allgemeingültig sind, […] zu einer anderen Sicht der Welt [führt], einer, in der die Dynamik der sozialen Systeme oder der sozialen Felder in den Vordergrund rückt.« (Engler 2013: 55) Eine praxistheoretische Rekonstruktion sozialen Wandels nutzt nun solch ein relationales, dynamisch konstituiertes Analyseinstrumentarium und nimmt entsprechend Abstand von der Suche nach Universalgesetzen, die Wandel als Effekt kausaler oder supervenienter Beziehungen sozialer Basiseinheiten beschreiben. Damit ist auch die Kontingenz sozialer Wandlungsprozesse nicht durch substanzielle Eigenschaften wandelbedingender Faktoren eingeschränkt, vielmehr müssen Kontingenz öffnende und schließende Strukturen ihrerseits als historisch bedingt, praktisch produziert und daher wandelbar angenommen werden. Zugleich darf sich die Analyse von Veränderungen nicht im Postulat einer ubiquitären Dynamik sozialer Praxis verlieren. Im Folgenden wird also zu zeigen sein, dass praxistheoretische Perspektiven und Analyseinstrumente geeignet sind, sowohl den Blick auf die Veränderungen als auch auf die mitunter außerordentliche Stabilität des Sozialen zu lenken und beides als untrennbare, sich wechselseitig bedingende Aspekte sozialer Praxis zu erfassen.
5.3
Implikationen eines praxistheoretischen Zugangs der Erforschung sozialen Wandels
Die mit einem praxistheoretischen Zugang einhergehende relationale Forschungsperspektive birgt nun verschiedene Konsequenzen für die Rekonstruktion sozialen Wandels, die sie von einer modernisierungstheoretischen Herangehensweise unterscheiden: Sowohl die Bearbeitung der Frage danach, was sich eigentlich wandelt, wenn von sozialem Wandel die Rede ist, als auch der Fragen nach Formen und Ursachen des Wandels verschieben sich massiv vor einem praxistheoretischen Hintergrund. Wenngleich
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
diese drei Aspekte theoretisch wie analytisch stark ineinandergreifen, können sie doch genutzt werden, um die Spezifik einer praxistheoretischen Erforschung sozialen Wandel systematisch zu explizieren. Erstens ist die Frage nach dem Was zunächst mit dem Verweis auf die Basiskategorie soziale Praxis zu beantworten. Modernisierungstheoretische Ansätze sind aufgrund ihrer theoretischen Prämissen auf den Wandel moderner Institutionen im Rahmen funktionaler Differenzierungsdynamiken gerichtet, wobei Transformationen kultureller Aspekte sowie Veränderungen von Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Handlungsmustern als Konsequenz dieses Strukturwandels gedeutet werden. Wird nun soziale Praxis als Basiskategorie sozialen Wandels eingeführt, ist eine strikte sozialtheoretische Grenzziehung zwischen institutionellen Veränderungen und Veränderungen im Denken, Wahrnehmen und Handeln der Akteure unangemessen: Zwar basiert auch die Erforschung sozialer Praxis auf der Analyse von Strukturen, im Sinne einer Analyse der Regelmäßigkeiten und (impliziten) Regeln der Relationierung und Differenzierung9 . Die Strukturen, die sich in sozialer Praxis rekonstruieren lassen, führen jedoch durch Akteure, Institutionen, Artefakte und Situationen hindurch und zeigen die Bedeutungsbeziehungen an, in denen diese zueinander stehen10 . Sie markieren dabei weder eine prinzipielle Differenz zwischen konkreten Interaktionen und weitreichenden Konventionen noch zwischen routiniertem Handeln und spontanen Variationen. Daher sind klassische Differenzierungen der Soziologie wie etwa Mikro- und Makroperspektive, Subjekt und Objekt, Handlung und Struktur, Statik und Dynamik in der Praxistheorie auch nicht etwa durch einen Brückenschlag überwunden, vielmehr sind diese Basisunterschiede selbst bei der Analyse sozialer Praxis unangemessen. Eine praxistheoretische Perspektive lenkt den Blick auf Homologien in durchaus stark divergierenden Kontexten, in ›kleinen‹ wie ›großen‹ Phänomenen und ›geordneten‹ wie ›chaotischen‹ Situationen. Zwar verweist der Begriff der Struktur bereits auf die überindividuelle und über eine längere Zeitspanne andauernde Konstitution der durch sie bezeichneten praktischen Relationen (Reckwitz 1997). Allerdings werden Strukturen praxistheoretisch – bei aller (möglichen) Stabilität – als zeitlich und räumlich begrenzt aufgefasst, sie sind also »nicht nur ›berührt‹ von der Praxis des Ereignens – sie werden zur Praxis hin geöffnet« (Völker 2013b: 231) in dem Sinne, dass sie selbst als praktisch hervorgebracht und umkämpft gedacht werden. Für die Erforschung sozialen Wandels bedeutet dies, dass das, was sich verändert nicht als universelle Struktur von vornherein gegeben ist, sondern erst als zeitlich rela-
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Reckwitz (1997: 10f. H.i.O.) weist darauf hin, dass im Grunde jede Soziologie bei der Analyse von Strukturen ansetzt: »[D]ie Welt kann wissenschaftlich wie lebensweltlich in keiner anderen Form gedacht werden, denn als ›typisiert‹, als in irgendeiner Weise ›geordnet‹. Die Wissenschaft hat gewissermaßen ein unhintergehbares Strukturinteresse, das im lebensweltlichen Strukturinteresse fundiert ist.« Dies gilt auch für jene Theorien, die die Situativität, Konstruiertheit, Flexibilität oder Spontaneität des Sozialen betonen. Allerdings unterscheiden sich die Theorien teilweise grundlegend hinsichtlich der Definition von Struktur sowie in der Frage, in welcher Beziehung Strukturen zu sozialen Phänomenen stehen. In der Praxistheorie sind Strukturen nicht als substanzielle Größe, sondern als relationale Analysekategorie zu verstehen. Insofern nimmt eine praxistheoretische Perspektive die Dezentrierung des Akteurs vor, ohne dabei jedoch den Weg einer klassischen strukturalistischen Soziologie einzuschlagen.
5 Sozialer Wandel als Analysefluchtpunkt einer relationalen Soziologie
tiv stabile und (sozial-)räumlich relativ verbreitete praktische Homologie erkannt werden muss, die zum Zeitpunkt der Analyse oder in der Vergangenheit eine systematische Transformation durchläuft bzw. durchlaufen hat. Und wenn die sich wandelnden Strukturen als praktisch hervorgebrachte Homologien verstanden werden, bedeutet dies zudem, dass sich strukturproduzierende Praktiken – bei aller möglichen Homologie – prinzipiell voneinander unterscheiden können. Eine große Stärke der Praxistheorie ist es, solche Unterschiede nicht nur zu erkennen, sondern als systematische Differenzen analytisch zu adressieren. Sie ermöglicht also nicht nur die Analyse strukturellen Wandels im Sinne des Wandels praktischer Homologien, mit einer praxistheoretischen Perspektive gelangen darüber hinaus auch systematische Veränderungen in den divergenten Hervorbringungsmodi dieser strukturellen Homologien in den Blick. Umgekehrt wirken gewandelte Strukturen auch wiederum in veränderter Form auf die Hervorbringungsmodi ein und entfalten schließlich auch in unterschiedlichen sozialen Kontexten divergente Wirkungsweisen – etwa hinsichtlich Machtrelationen zwischen oder Teilhabenchancen von Akteuren. Wird die Frage nach dem ›Was‹ aus einer praxistheoretischen Perspektive bearbeitet, bilden also sowohl die praktisch hervorgebrachten strukturelle Homologien (opus operatum) als auch die Modi ihrer Produktion (modi operandi) sowie ihre Wirkungsweisen sinnvolle analytische Fluchtpunkte. Sozialer Wandel kommt dann als vielgestaltiger und sozial ungleicher Prozess in den Blick. Zweitens unterscheidet sich eine praxistheoretische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem ›Wie‹ – nach der Form des Wandels – von einem modernisierungstheoretischen Vorgehen: Mit der Axiomierung dynamischer, aber universell gültiger Basisstrukturen der Moderne wird in der modernisierungstheoretischen Herangehensweise ein stabiler Bezugspunkt der Wandelforschung festlegt, und auch die Annahme einer allgemeinen Logik moderner Sozialität, die kontinuierlicher Steigerung unterliegt, stellt einen Fixpunkt der Analyse dar. Dies ermöglicht es, die Frage nach der Form der Veränderung an konstante, theoretisch verallgemeinerte Koordinaten rückzubinden und auf diese Weise die Qualität jenes ›qualitativen Sprungs‹, der sozialen Wandel ausmacht, systematisch zu bestimmen. Die Vorstellung stetiger, allgemeingültiger moderner Basisstrukturen und -logiken, die im Kontrast zu vormodernen Strukturen stehen, begründet zudem eine strikte Opposition kontinuierlichen und diskontinuierlichen Wandels: auf der einen Seite steht die fortschreitende, beständige Entwicklung der Moderne, auf der anderen Seite stehen epochale Brüche an der Basis sozialer Ordnungen. Entsprechend gilt es bei der Bestimmung der Form des Wandels ebenfalls festzustellen, inwiefern ein epochaler Bruch bzw. eine Diskontinuität der Grundstrukturen vorliegt oder ob das, was neu erscheint, nach wie vor strukturell der Moderne entspricht. Die modernisierungstheoretischen Diskussionen um einen Wandel hin zur Post-, Spät- oder zweiten Moderne zeugen von dieser Logik. Aus einer praxistheoretischen Perspektive müssen sowohl die Praxisformen, die in einem ›Davor‹ verortet werden als auch jene veränderten Formen des ›Danach‹ als prinzipiell kontingent angesehen werden. Auch wird keine universelle Logik angenommen, an der sich Praxis konstant orientiert; die spezifische Logik der Praxis bildet vielmehr selbst einen Fluchtpunkt der Analyse. Wenn sowohl Logik und Form der Hervorbringung (modus operandi) als auch hervorgebrachte Bedeutungsgefüge (opus operatum) prinzipiell als variable Gegenstände angenommen werden, ist die Bestimmung spezifi-
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
scher Formen bzw. Qualitäten des Wandels nur möglich, wenn ein analytischer Fluchtpunkt herausgearbeitet wird. Nicht nur das ›Davor‹ und das ›Danach‹ muss also empirisch rekonstruiert werden, auch die Vergleichsachse ist empirisch zu verorten: Um zwei jeweils raumzeitlich spezifische Praxisformen in eine Wandelbeziehung zu setzen, bedarf es einer basalen Kontinuität, die beide Formen kategorial aneinander bindet. Mit anderen Worten: Struktur erhält die Analyse durch den Forschungsgegenstand, mit dem bestimmte Basisunterscheidungen für den betrachteten Zeitraum stabilisiert werden; so kann etwa danach gefragt werden, wie sich die Art und Weise, Geschlecht praktisch zu produzieren, im Verlauf des letzten Jahrhunderts verändert hat oder welche Transformationen die Form der praktischen Hervorbringung von Arbeit durchläuft. In diesen Fällen wird eine spezifische Unterscheidung (Geschlechterdifferenzierung, Arbeit als unterscheidbare Praxis) als über die Zeit stabil, als kontinuierte Unterscheidung angenommen. Möglich ist es aber auch, die Frage nach dem Wandel der zentralen Unterscheidungen und Relationen in einer Akteursgruppe oder Gesellschaft (die Frage also nach Veränderung in jenen symbolischen Ordnungen, die das Zusammenleben von Menschen grundsätzlich organisiert) zu stellen und so die Kontinuitäten – abgesehen von der Grundannahme, dass Basisunterscheidung und -strukturierungen für das soziale Zusammenleben von stabiler Bedeutung sind – weitestgehend unbestimmt zu lassen. Im Rahmen einer praxistheoretischen Wandelforschung sind also jene Aspekte sozialer Praxis, die stabil sind oder einer kontinuierlichen Veränderung unterliegen, und jene, die eine Diskontinuität aufweisen, nicht theoretisch ableitbar, sondern müssen (fallbezogen) empirisch bestimmt werden. Diese Herangehensweise ist an die konzeptionelle Grundannahme der Gleichzeitig von Stabilität und Instabilität sozialer Praxis rückgebunden (Schäfer 2013; Völker 2013a), welche wiederum ein zentraler Schlüssel zum Verständnis dessen ist, was als sozialer Wandel wahrnehmbar wird. Um die Form bzw. Qualität sozialen Wandels erfassen zu können, gilt es also, die gleichbleibenden, kontinuierlich transformierten und diskontinuierlich veränderten Elemente in modus operandi und opus operatum sozialer Praxis zu erfassen. Schließlich mussdrittens hinsichtlich der Frage nach dem ›Warum‹ aus einer praxistheoretischen Perspektive die prinzipielle Veränderlichkeit auch der Ursachen und Gründe sozialen Wandels angenommen werden. Das heißt, die Suche nach universellen Gesetzmäßigkeiten des Wandels wird abgelöst durch die Erforschung historisch und räumlich spezifischer Logiken sozialen Wandels. Auch diese sind in sozialer Praxis zu suchen und können daher weder letztbegründend auf sozialstrukturelle Ursachen noch auf akteursseitige Handlungsinnovationen zurückgeführt werden. Zudem können vermeintlich exmanente Auslöser sozialen Wandels – etwa technische Innovationen, humanitäre Katastrophen oder Umweltveränderungen wie der Klimawandel – nur in ihrer praktischen Bearbeitung analysiert werden: Diskursiv auf ein gesellschaftliches Außen verwiesene Wandelursachen werden entsprechend nicht als natürliche oder vorsoziale Konditionen betrachtet, sondern immer in ihrer praktischen Produktion und Wirksamkeit rekonstruiert. Dass beispielsweise Umweltkatastrophen in den Wandel sozialer Praxis involviert sein können, ist evident. Ob, wie, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Ausmaß bestimmte Ereignisse als Umweltkatastrophen praktisch produziert werden und Relevanz hinsichtlich sozialen Wandels entfalten, ist hingegen kontingent.
5 Sozialer Wandel als Analysefluchtpunkt einer relationalen Soziologie
Eine Herangehensweise, die ex ante Ursachenkategorien des Wandels festlegt – etwa eine Unterscheidung normativer und materieller Bedingungen (Jäger & Meyer 2003) oder exmanenter und immanenter Faktoren (Boudon & Bourricaud 1992) – entspricht also nicht der praxistheoretischen Perspektive. Insbesondere die Frage nach der Logik, der ein spezifisches Wandelgeschehen folgt, macht die Stärken, aber auch die empirischen Herausforderungen eines praxistheoretischen Zugangs deutlich: Als praktische Logik ist sie nicht entlang einer Regel organisiert, sondern zeigt sich vielmehr in Regelmäßigkeiten, die von geteilten, zumeist impliziten Wissensbeständen herrühren. Transformationsprozesse bedeuten oft eine Destabilisierung von Sinnstrukturen, Bedeutungsgefügen und sozialen Ordnungen. Zugleich bilden sich neue Relationen und Sinnstrukturen erst heraus und sind entsprechend noch nicht gefestigt bzw. noch stark umkämpft. Hinsichtlich der praktischen Logik, die einen Wandel sozialer Praxis formiert, bedeutet dies eine besondere Unschärfe und Polyvozität. Ihre Rekonstruktion muss daher im Spannungsfeld zwischen objektivierten bzw. im Prozess der Objektivierung begriffenen und besondere Wirkmacht entfaltenden symbolischen Ordnungen einerseits und der Vielfalt bzw. den Interferenzen und Kämpfen in der praktischen Hervorbringung dieser Ordnungsgefüge stattfinden. Die von der relationalen Soziologie vorgeschlagene forschungsstrategische Verschränkung von Theorie und Empirie ist auch in diesem Aspekt unverzichtbar. Die Fragen nach den Gegenständen, den Formen und den Logiken sozialen Wandels werden praxistheoretisch also in spezifischer Weise gerahmt und bedürfen einer bestimmten Grundhaltung und Forschungsstrategie. Sie sollen am Ende des folgenden Teils (II) wieder aufgegriffen werden. Zuvor möchte ich jedoch genauer auf die theoretischen, konzeptionellen und analysestrategischen Grundlagen eines praxistheoretischen Zugangs der Soziologie sozialen Wandels eingehen. In Kapitel 6 werde ich zunächst zentrale Prämissen der Praxistheorien explizieren und dabei herausarbeiten, inwiefern auf deren Basis sowohl von einer dynamischen Stabilität bzw. strukturierten Dynamik sozialer Praxis als auch von einer systematischen Differenz in der Hervorbringung homologer Praxisformen und mithin in der Hervorbringung sozialen Wandels ausgegangen werden muss. In Kapitel 7 sollen hingegen einige analytische Konzepte aufgezeigt (Habitus, Subjekt, Feld, Lebensform) und als Instrumente der Erforschung praktischen Wandels rekonstruiert werden, die es ermöglichen, der Qualität der Veränderung, ihrer modalen Vielfalt, dem spezifischen Zusammenspiel von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, aber auch der Veränderungslogik nachzugehen. In Kapitel 8 soll anhand dreier Forschungskontexte, die sich jeweils um ein Wandelgeschehen formieren, auf die praktische Logik sozialen Wandels eingegangen werden. In diesem Zusammenhang werde ich Beispiele für soziale Praxis anführen, die ihrerseits auf Veränderung abzielt, denn Transformationsprozesse dürfen nicht als bloße makrosoziologische Vollzüge verstanden werden, deren Effekte sich erst in der Gesamtschau des Geschehens zeigen. Vielmehr sind sie in konkrete Praxis eingelagert, die sich – teilweise für die beteiligten Akteure unmerklich – verändert, die aber auch in direkter, intendierter Weise auf den Wandel sozialer Praxis zielen kann. Die gleichzeitige Adressierung transversaler Wandellogiken und der Vielfalt praktischen Wandelgeschehens bedarf einer Analysestrategie, die abschließend in Kapitel 9 expliziert werden soll.
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Teil II: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
6 Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels
6.1
Pluralität der praxistheoretischen Perspektive
Die Explikation eines begrifflichen Instrumentariums im praxistheoretischen Sinne ist zunächst mit der Herausforderung konfrontiert, dass es die ›Praxistheorie‹ nicht gibt: Es existiert weder ein kohärentes Begriffssystem noch lässt sich ein gemeinsames, zumindest in seiner Zielsetzung klar umrissenes und in seinen Zugängen einheitliches Forschungsprogramm konstatieren (Elven & Schwarz 2018). Unter der Bezeichnung ›Praxistheorie‹ sind stattdessen ausgesprochen vielfältige und zuweilen sehr divergente sozialwissenschaftliche und philosophische Ansätze zusammengefasst1 . Zwar variieren diese in Forschungsinteresse, begrifflich-konzeptionellem Gefüge, theoretischer Tradition, Methodologie und Empirie teilweise erheblich, die vereinigende und zentrale Gemeinsamkeit besteht jedoch in einer geteilten Basiskategorie, denn sie alle entwerfen ›Praxis‹ als analytisches (Kern-)Konzept der Erforschung sozialer Wirklichkeit: Das integrative Moment liegt in der Überzeugung, dass weder »in der Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesellschaftlichen Totalität, sondern in den über Raum und Zeit geregelten gesellschaftlichen Praktiken« der Ansatzpunkt gegenstandsangemessener soziologischer Forschung zu suchen ist (Giddens 1997: 52). Im Rekurs auf ›Praxis‹ gründet zudem das einende Bestreben einer Überwindung der sozialtheoretischen Differenzierung mikro- und makrosoziologischer Zugänge bzw. individueller und struktureller Elemente des Sozialen. Als ein bedeutungsvoller Impuls für die Auseinandersetzung um eine ansatzübergreifende praxistheoretische Perspektive gilt die Konferenz ›Practices and Social Or-
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Der Rekurs betrifft eine Vielfalt von Ansätzen – etwa die Soziologien Bourdieus, Elias’, Giddens’ und Goffmans, die Sozialphilosophien Wittgensteins und Heideggers, die Ethnomethodologie Garfinkels und Sozialtheorie Boltanskis und Thévenots, Foucaults, Lyotards und Deleuzes poststrukturalistische Perspektiven, die angelsächsischen Cultural Studies, Butlers Theorie des Performativen oder Latours ANT. Diese werden – je nach Rezipient* in – in durchaus divergenter Form zu einem »Bündel von Theorien mit ›Familienähnlichkeit‹« zusammengefasst (Reckwitz 2003: 283; vgl. auch z.B. Schmidt 2012, 2015; Hillebrandt 2014; Schäfer 2016b)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
der‹ (19962 , Universität Bielefeld) bzw. die hieran anschließende Beitragssammlung ›The Practice Turn in Contemporary Theory‹ (Savigny et al. 2001). Die Autor*innen proklamieren eine wissenschaftshistorische Wende in der Theoretisierung des Sozialen, wobei sie verschiedene theoretische Zugänge nutzen, um ›Praxis‹ als Basiskategorie geistesund sozialwissenschaftlichen Denkens zu fundieren und auf diesem Weg einen ansatzübergreifenden Austausch initiieren: »Thinkers once spoke of ›structures,‹ ›systems,‹ ›meaning,‹ ›life world,‹ ›events,‹ and ›actions‹ when naming the primary generic social thing. Today, many theorists would accord practices a comparable honor« (Schatzki 2001: 1). In der deutschsprachigen Rezeption greifen zunächst insbesondere Andreas Reckwitz (2003), sowie Karl H. Hörning und Julia Reuter (2004) diese Diskussion auf. Beide Positionen führen den Dialog der Praxistheorien vor dem Hintergrund eines kulturtheoretischen Interesses, wobei insbesondere Hörning und Reuter das Dynamik erfassende analytische Potenzial der praxistheoretischen Perspektive betonen, die es ermöglicht »Kultur als Prozess, als Relation, als Verb« zu verstehen (Hörning & Reuter 2004: 1). Reckwitz nimmt eine systematisierende Zusammenschau unterschiedlicher praxistheoretischer Zugänge vor und (re-)konstruiert dabei verschiedene ›Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken‹, zu denen er das ›Spannungsfeld von Routinisiertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken‹ zählt. Jenseits jener Kritik, die einen ›practice turn‹ im Sinne einer soziologisch relevanten, sinnverwandten Forschungsperspektive praxiszentrierender Sozialkonzeptionen grundsätzlich in Frage stellt (Bongaerts 2007), sind Bedenken gegen eine allzu sorglose Amalgamierung anzumelden: Der Versuch einer Verschränkung praxistheoretischer Ansätze ist der Gefahr ausgesetzt, entweder einem haltlosen Eklektizismus Vorschub zu leisten oder aber eine unangemessene Theorienkonvergenz zu unterstellen bzw. zu forcieren. Die Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Ansätzen sind teilweise sehr fragil, weder herrscht Einigkeit über die zuzurechnenden Theorien, noch sind die teilweise erheblichen konzeptionellen Unterschiede und epistemologischen Differenzen ohne Weiteres übergehbar. Allerdings kann diese Heterogenität eine konstruktive Basis für wechselseitige Anregung, Ergänzung und ein verschränktes Weiterdenken bilden, was jedoch nur dann möglich ist, wenn die unterschiedlichen Ansätze nicht pauschal verschmolzen, sondern entlang konkreter begrifflicher Fluchtpunkte ins Verhältnis gesetzt werden (Elven & Schwarz 2018). Eine praxistheoretische Forschungsperspektive steht gerade aufgrund ihrer ohne Zweifel fruchtbaren, aber vielfältigen Theorienbezüge in der Notwendigkeit einer konzeptionellen Explikation.
6.2
Zentrale Prämissen einer praxistheoretischen Soziologie
Praxis – als zentrale Analysekategorie der Praxistheorien – kann zunächst allgemein definiert werden als: »embodied, materially mediated arrays of human activity centrally organized around shared practical understanding« (Schatzki 2001, S. 2), bzw. als
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Hilmar Schäfer (2013: 13f.) verweist darüber hinaus auf Sherry Ortner, die bereits in den 1980er Jahren ›practice theory‹ als theoretische Strömung zusammenfasste.
6 Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels
»temporally evolving, open-ended set of doings and sayings linked by practical understandings, rules, teleoaffective structure, and general understandings« (Schatzki 2002, S. 87). Mit dem Begriff der Praxis sind also Aktivitätsanordnungen erfasst, die körperlich bzw. materiell in einem Zeitverlauf hervorgebracht werden, die durch einen geteilten Sinn bzw. kollektive Wissensordnungen organisiert sind und einer Logik folgen, die jedoch nicht das Produkt der (bewussten) Überlegungen von Akteuren ist. Praxis ist demnach insbesondere gekennzeichnet durch ihre Materialität, ihre Zeitlichkeit, ihren Rekurs auf (machtvolle) Wissensordnungen und eine spezifisch praktische Logik.
Materialität und Körperlichkeit sozialer Praxis Im Rahmen der klassischen Modernisierungstheorien, aber auch in den hieran anknüpfenden Theorien sozialen Wandels wird ›das Soziale‹ ohne weitere Rücksichtnahme auf materielle Aspekte rekonstruiert3 – eine Auslassung, die mit Latour (2008) als Ausdruck der von den modernen Wissenschaften vorgenommenen grundsätzlichen Trennung zwischen Natur und Gesellschaft kritisiert werden kann. Diese Trennung wirkt vor allem in der Vorstellung, dass sich das Soziale, als Gegenstand sui generis, von der physischen Welt separieren lasse. So findet gerade in den verbreiteten modernisierungstheoretisch grundierten Betrachtungen sozialen Wandels eine Verdrängung der »Dinge an den Rand der Sozialtheorie« statt (Wieser 2004: 92), wo sie als Merkmalsträger moderner Strukturen marginalisiert bzw. als (natürliche) Gegebenheiten ausgeklammert werden. Eine Vorstellung von Materialität, die Artefakte als sichtbare Aspekte der ›eigentlichen‹ sozialen Strukturen und Prozesse begreift, aber auch die Annahme, die physische Welt liefere vornehmlich natürliche, invariante Rahmenbedingungen für soziale Phänomene, verweisen auf eine sozialtheoretische Spaltung zwischen den Dingen und dem Sozialen. In Gegensatz dazu rekurriert nun die Praxistheorie auf Materialität als zentrales Merkmal sozialer Praxis (Bourdieu 1979; Butler 1997a; Latour 1996; Reckwitz 2003; Schmidt 2012): Sie betont eine unhintergehbare Verbindung von physischer und sozialer Welt, wobei Materialität sowohl seitens der Akteure (Körper) als auch seitens ihrer Umwelt (Dinge) für die Hervorbringung von sozialer Praxis bedeutsam ist (Elven & Schwarz 2018). Zwar ist im Sinne der Praxistheorie die Welt symbolisch geordnet, doch ist diese symbolische Ordnung kein abgelöster und freischwebender mentaler Überbau, sondern in den Körpern und Dingen materiell produziert. Umgekehrt markiert die Bedeutsamkeit der Dinge jedoch auch die Abgrenzung zu naturalistischen oder biologistischen Erwägungen: »Materialität ist keine physikalische oder biologische Größe. Sie ist eine praktisch hergestellte Materialität, die mit anderen Materialitäten und Praktiken netzwerkartig verknüpft ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Materialität
3
Diese ›Sachvergessenheit‹ (Rammert & Schulz-Schaeffer 2002) kann den frühen Sozialtheoretiker*innen nicht vorgeworfen werden: Durkheim etwa erfasst Materialität, bzw. ›die Dinge‹ als ›versachlichte Sozialform‹, während Weber sie als Aspekt ›technischer Rationalität‹ begreift, und Marx begründet politische und gesellschaftliche Umwälzungen historisch-materialistisch mit der Veränderung der materiellen Basis des Sozialen (Wieser 2004).
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
von Territorien, Dingen oder Körpern handelt« (Hörning & Reuter 2004: 12). Die Relationen und Differenzen, die die Spezifik einer bestimmten Praktik ausmachen – etwa der Praktik des Wirtschaftens – sind manifeste Relationen: Doppelte Buchführung, Management und Geldkreislauf sind, ohne ihre Materialitäten (Bankgebäude, Konferenzräume, Computerprogramme, Haushaltsbücher, Kreditkarten etc.) nicht denkbar. Dinge sind dabei »viel sozialer, sehr viel fabrizierter, sehr viel kollektiver als die ›harten‹ Teile der Natur; aber deswegen sind sie noch lange kein arbiträrer Gegenstand für eine auf sich gestellte Gesellschaft. Andererseits sind sie sehr viel realer, nicht-menschlicher und objektiver als jene gestaltlosen Projektionsflächen, auf welche die Gesellschaft – aus welchen Gründen auch immer – projiziert werden müsste« (Latour 2008, S. 75). Die Materialität der Praxis ist ein Grund für deren (begrenzte) überzeitliche und überindividuelle Stabilität. Dadurch, dass die Dinge in ihrer praktischen Erzeugung mit bestimmten Bedeutungen, Beziehungen und Regeln verknüpft sind, bilden sie relativ »dauerhafte Depots sozialen Wissens, sozialer Fähigkeiten und Zweckmäßigkeiten« (Schmidt 2012: 63). Eine Münze ist mit dem Wissen über Geldwirtschaft und mit der Möglichkeit verbunden, auf eine bestimmte Weise Wert zuzuschreiben, Vermögen zu akkumulieren, aber auch Kredite zu gewähren. Dinge sind also Vergegenständlichungen sozialen Wissens und Könnens bzw. kollektiver Gebrauchsformen. Sie erschweren »unorthodoxe Gebrauchsweisen und stabilisieren im Zusammenspiel mit verkörperten Fähigkeiten der Beteiligten soziale Routinen und Gewohnheiten. Indem sie die Mitwirkenden in Praktiken immer wieder dazu bringen, etwas Bestimmtes zu tun beziehungsweise nicht zu tun, tragen sie zur sozialen Ordnungsbildung bei« (Schmidt 2012: 63). Zugleich bilden sie aber auch die Basis für Neuinterpretationen und Umwandlungsprozesse, zum Beispiel wenn eine Münze als Kunstgegenstand, Spielstein, Glücksbringer etc. in Praxis gebracht wird, wobei die historische Bedeutung (zumeist) in diese Praxis eingelagert ist und die aktuelle Bedeutung mitbestimmt. Zudem bilden auch Akteure eine materielle Basis des Sozialen. Sie sind körperlich an der Hervorbringung sozialer Praxis beteiligt. Körper werden dabei nicht als lediglich ausführendes Organ einer mental vorbereiteten Handlung, sondern als ›skilled bodies‹ (Schmidt 2012: 60) aufgefasst, als kompetente Körper, die Wissen und Können verinnerlichen und anwenden, d.h. in Praxis bringen können. In sinnhaftem Gebrauch »behandeln die Akteure die Gegenstände mit einem entsprechenden Verstehen und einem know how, das nicht selbst durch die Artefakte determiniert ist« (Reckwitz 2003: 291) und greifen dabei auf Wissen zurück, das Sie sich praktisch, im Umgang mit Dingen und anderen Akteuren angeeignet haben. Dabei handelt es sich um ein einverleibtes, körperliches Wissen (Bourdieu 1979): Das ›Wissen‹ um einen ›angemessenen‹ Umgang mit Dingen, Situationen und Mitmenschen liegt in den Händen, die eine Armbanduhr reparieren oder eine Tastatur bedienen können, bzw. in der Mimik, die einen ernsten oder überraschten Ausdruck formen kann und ist somit keine Frage der bewussten Abwägung, Entscheidung und Körperaktivierung: »Wenn ein Mensch eine Praktik erwirbt, dann lernt er, […] auf eine bestimmte Art und Weise Körper zu ›sein‹« (Reckwitz 2003: 290). Dabei spielen die in der Vergangenheit gemachten, bzw. über die Zeit ›gesammelten‹ Erfahrungen eine entscheidende Rolle, denn sie ermöglichen die Einverleibung und damit Subjektivierung übersubjektiver sozialer Ordnungs- und Bedeutungsmus-
6 Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels
ter. Durch ununterbrochenes ›in der Welt sein‹ internalisieren Akteure die sie umgebenden sozialen Strukturen, was sich in homologen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen (Habitus) niederschlägt, die im Grenzfall mit den umgebenden Strukturen – Institutionen, Artefakte, Stile, habituelle Dispositionen von Nachbar*innen, Kolleg*innen etc. – völlig übereinstimmen4 . In habitualisierten und inkorporierten Denk- und Wahrnehmungsweisen, (Körper-)Haltungen, Bewegungen etc. aktualisiert sich damit immer auch soziale Geschichte, und zwar »die kollektive Geschichte, die unsere Denkkategorien erzeugt, und die individuelle, die sie uns eingeprägt hat« (Bourdieu 2001b: 18). Die damit einhergehende Vertrautheit mit der sozialen Welt schlägt sich zudem in einem praktischen Sinn für Situationen und für situationsangemessene Praxis nieder: Die Körperlichkeit des Praxisvollzugs bedeutet auch, dass die Praxisbeteiligung eines Akteures als ›skillful performance‹ aufgefasst werden kann, denn »die Praktik als soziale Praktik ist nicht nur eine kollektiv vorkommende Aktivität, sondern auch eine potenziell intersubjektiv als legitimes Exemplar der Praktik X verstehbare Praktik.« (Reckwitz 2003: 290) Die habituelle Disponiertheit macht nun also die Hervorbringung von Praktiken, die den einverleibten Strukturen (d.h. den Entstehungsbedingungen eben jener Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen) in einem hohen Maße entsprechen, wahrscheinlicher als die Hervorbringung abweichender Praktiken – andere sind wiederum gänzlich ausgeschlossen, und dieser Ausschluss ist ebenfalls körperlich zu verstehen. Andererseits ist der Habitus nicht als Handlungsmatrix gedacht, die in einem mechanischen Sinne schematisch passende Praktiken evoziert. Er ist vielmehr ein Handlungen generierendes Grundprinzip – Bourdieu (1974: 143) spricht in Anlehnung an Noam Chomsky von einer ›generativen Grammatik‹ –, das die kreative Beteiligung an der Hervorbringung von Praktiken ermöglicht und auf diese Weise Akteure in die Lage versetzt, unwillkürlich und doch nicht ›berechnend‹ in Situationen zu handeln. Denn bei aller historischen und materiellen Strukturiertheit der sozialen Welt müssen Praktiken doch immer wieder aufs Neue generiert, muss die Bedeutung der Dinge praktisch aktualisiert werden. Dies kann niemals im Sinne einer exakten Kopie des Vergangenen geschehen: Zwar umgrenzen Artefakte und Körper den Spielraum für Veränderung, auf der anderen Seite sind Praktiken aufgrund ihrer Situativität nie vollkommen identisch. Körper sind (meistens) in der Lage, sich den jeweiligen Umständen anzupassen, auch in völlig unbekannten Situationen zu handeln und gegebenenfalls Artefakte (in dem von ihnen gebotenen Rahmen) neu zu interpretieren und umzufunktionieren. Hirschauer (2004: 89) spricht daher von der ›biegsamen Materialität körperlicher Routinen‹.
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Daher kann auch davon gesprochen werden, dass die Strukturen durch die Akteure, Dinge, Institutionen ›hindurch verlaufen‹. Bourdieu, der das Habituskonzept in seiner Praxistheorie herausarbeitet, verdeutlicht die Prämisse folgendermaßen: »Ich bin in der Welt enthalten, aber sie ist auch in mir enthalten, weil ich in ihr enthalten bin; weil sie mich produziert hat und weil sie die Kategorien produziert hat, die ich auf sie anwende, scheint sie mir selbstverständlich, evident.« (Bourdieu & Wacquant 2006: 161, H.i.O.)
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Historizität und Zeitlichkeit sozialer Praxis Die Materialität sozialer Praxis verweist also zum einen auf deren Historizität, im Sinne einer spezifischen sozialen Geschichte von Körpern und Dingen, die sich in Praxis aktualisiert. Zum anderen verweist sie auf die Situativität sozialer Praxis, auf das konkrete, physische Hier und Jetzt ihrer Hervorbringung. Beide Aspekte beziehen sich auf eine weitere zentrale praxistheoretische Prämisse: Die Zeitlichkeit sozialer Praxis. »Die Praxis rollt in Zeit ab und […] ist schon wegen ihrer ganzen Eingebundenheit in die Dauer mit der Zeit verknüpft, nicht bloß, weil sie sich in Zeit abspielt, sondern auch, weil sie strategisch mit der Zeit und vor allem mit dem Tempo spielt« (Bourdieu 1993c: 149). Ähnlich wie Materialität ist also auch Zeitlichkeit eine untrennbare, unhintergehbare Einheit von physikalischer Gegebenheit und sozialer Konstruktion. Einerseits untererliegt Praxis der wahrnehmbaren irreversiblen Abfolge von Ereignissen: Vergangene Praxis ist geschehen und entzieht sich einem nachträglichen ›Anders-‹ oder ›Rückgängigmachen‹, zukünftige Praxis existiert hingegen nur als Projektion oder Potenzial. Allerdings wird im Moment der gegenwärtigen Aktivität »immer auf vergangene Akte rückverwiesen, sie werden gewissermaßen in der Praxis ›erinnert‹ (was keineswegs Erinnerungsrepräsentation im Bewusstsein der Akteure voraussetzt), zugleich wird immer auf Künftiges verwiesen, auf die zwangsläufige Fortsetzung der Praxis im nächsten Moment oder in eine weitere Zukunft« (Reckwitz 2016e: 123f.). Doch obgleich in Praxis unterschiedliche Zeitbezüge präsent sind und sie über einen gegebenen Zeitpunkt teilweise weit hinausreichende und damit relativ stabile Muster bildet, bleibt sie an ihre situative Hervorbringung und an ihr unumkehrbares Voranschreiten als kontinuierliches Praxisgeschehen gebunden. Andererseits muss Praxis aufgefasst werden »als Produktion von Zeit, als ›Verzeitlichung‹«, die »nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit macht« (Bourdieu 2001b: 265; H.i.O.), denn Praxis ist nicht nur auf ihr Ereignen verwiesen, Ereignisse geschehen umgekehrt notwendigerweise praktisch. Jede Praxis – die Praxis des Vortragens, des Tapezierens, der Börsenanalyse etc. – produziert ein spezifisches Temporalschema, eine eigene Rhythmik und bestimmte Vergangenheits- und Zukunftsbezüge. Ein Vortrag etwa ist in einem bestimmten zeitlichen Rahmen angelegt, stellt aber darüber hinaus durchaus konkrete – wenn auch implizite – Vergangenheitsbezüge her, etwa zu einer Zeitspanne der Vorbereitung oder zu bereits gehaltenen Vorträgen. Er bezieht zugleich auch die Zukunft ein, etwa in Form antizipierter Nachfragen und Diskussionen. Er ist rhythmisiert durch Aufteilungen in Rede- und Diskussionszeit, durch eine mehr oder weniger konventionelle Strukturierung der Inhalte und gegebenenfalls den Einbezug sequenzialisierter Visualisierungen. Auch wirkt der Sprechakt selbst in spezifischer Form verzeitlichend, wobei er zum Beispiel hinsichtlich Tempo und Sprechpausen weniger am physikalisch Möglichen als vielmehr an Kontext und Anlass orientiert ist: an der Menge vorzutragender Aspekte, an der antizipierten Nachvollziehbarkeit, an geltenden Vortragskonventionen etc. Das Temporalschema des Vortragens entsteht also im Netzwerk unterschiedlicher Erfahrungen, Routinen und Erwartungen, die nicht allein an den vortragenden Akteur geknüpft sind, diesen sogar dezentriert. Auch spielt, da es sich um inkorporierte und dingliche Erfahrungen, Routinen und Erwartungen handelt, die Materialität wiederum eine entscheidende Rolle: Die Dinge
6 Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels
und Körper einer Praktik bedingen deren modus operandi und mithin die Form der Zeitlichkeit bzw. der Zeitproduktion. So ist das Tapezieren an eine Vielzahl materialisierter Zeitpunkte und -spannen geknüpft: den Moment, ab dem sich die angefeuchtete alte Tapete ablösen lässt, der Zeitpunkt, zu dem der Kleister die richtige Konsistenz aufweist, die Zeitspanne, in der die frisch tapezierte Wand trocknet. Im Gegensatz dazu ermöglicht der Computer bei der Börsenanalyse eine höhere Geschwindigkeit und Synchronität komplexer Geschehnisse und fordert so von den ›skilled bodies‹ eine andere Zeitlichkeit ein, in Form anderer Reaktionsgeschwindigkeiten, Gleichzeitigkeiten, anders gelagerten (strategischen) Abwartens etc. Nicht ›der Markt‹ als abstrakte, eigensinnige Struktur bestimmt also das Tempo des Wertpapierhandels, sondern die Körper und Dinge. Aus Sicht der Akteure erhält soziale Praxis durch die wahrgenommene zeitliche Irreversibilität und ununterbrochene Kontinuität einen ›Dringlichkeitscharakter‹ (Schwingel 1993: 48), der durch die konkrete Praktik spezifiziert wird: Die Akteure sind trotz relativer Ungewissheit hinsichtlich der weiteren Entwicklung eines Praxisvollzugs gezwungen zu handeln – eine Entzeitlichung der Praxis ist nicht möglich, denn auch Innehalten, Zögern, Abwarten oder Nichtstun bedingen den weiteren Verlauf und den Modus der Praxisproduktion: es ist unmöglich, einen momentlang keine Praxis hervorzubringen5 . Die subjektive Wirkung der Dringlichkeit unterscheidet sich nun von Praxisvollzug zu Praxisvollzug – allerdings nicht in einem objektiven Sinne: Zwar kann der Eindruck entstehen, eine Tapeziererin stünde allgemein unter einem wesentlich geringeren zeitlichen Handlungsdruck als eine Börsenmaklerin, jedoch hängt die Wirkung maßgeblich von der Routine der betreffenden Akteure ab und von der Relevanz, die einer konkreten Situation in deren Wahrnehmung zukommt: Unvertrautheit mit der Situation, wie auch das Gefühl, dass ›es um etwas geht‹, bedingen den subjektiven Zeitdruck und Handlungszwang. Die Möglichkeit, trotz Dringlichkeit und Ungewissheit angemessen zu handeln, ohne darüber nachdenken zu müssen, ist also auf ›skilled bodies‹ zurückzuführen (Schatzki 2001: 3), die Routine auf der Grundlage eines erfahrungsbasierten, aber vorbewussten ›praktischen Sinns‹ (Bourdieu 1993c) herstellen. Dieses soziale Gespür für Situationen, deren künftigen Verlauf und für die jeweilige Angemessenheit von Praktiken orientiert das Handeln der Akteure vorbewusst. Handeln darf daher nicht als willkürlich verstanden werden, andererseits aber auch nicht als »Ausfluß eines bewußten rationalen Kalküls« gelten (Bourdieu 1992d: 83), vielmehr unterliegt es einer impliziten (habituellen) Strategie. Habituelle Strategien, die sich im Handeln der Akteure niederschlagen, sind nicht aus einer universellen Rationalität ableitbar: die Akteure handeln nicht (mehr oder weniger gekonnt) als homines oeconomici, Kohärenz verleiht ihrem Verhalten vielmehr die spezifische Internalisierung von (implizitem) Wissen und körperlichem Vermögen, was 5
Das moderne Zeitverständnis verschärft den Dringlichkeitscharakter der Praxis durch die Anerkennung von Zukunft und deren Einbezug in das Handeln, denn der Akteur »läßt sich auf das Künftige ein, ist im Künftigen präsent und identifiziert sich unter Verzicht auf die Möglichkeit, den Spieleifer, der ihn in den Bereich der Wahrscheinlichkeit mitreißt, jederzeit abschalten zu können, mit dem Künftigen der Welt und postuliert dabei, daß die Zeit kontinuierlich ist. Damit verneint er die höchst reale und zugleich ganz und gar theoretische Möglichkeit einer plötzlichen Beschränkung auf die Gegenwart« (Bourdieu 1993c: 150).
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mit einem räumlich und zeitlich bestimmten In-der-Welt-sein einhergeht. Dennoch können habituelle Strategien in Abhängigkeit von der Wahrnehmung anderer Akteure und im Kontext objektivierter Ordnungsgefüge mehr oder weniger situationsangemessen und mehr oder weniger erfolgreich sein. Dabei spielen Zeitaspekte eine wesentliche Rolle: »[D]er Zeitpunkt, an dem eine bestimmte Handlung ausgeführt wird, ist mithin für die Bedeutung und Wirksamkeit von Praktiken konstitutiv« (Schwingel 1993: 47). So markiert nicht zuletzt das Timing die Tapeziererin bzw. die Börsenmaklerin als Virtuosin oder Amateurin und Tempo und Rhythmus machen aus einem Sprechakt eine seriöse, unsichere oder ironische Äußerung. Zeit ist entsprechend nicht nur Bedingung und zugleich Produkt sozialer Praxis, sie ist auch ein Distinktionsmittel, mit dessen Hilfe eine Handlung und der handelnde Akteur charakterisiert bzw. symbolisch verortet werden kann. Dies bedeutet aber auch, dass nicht nur trotz Divergenzen in der Hervorbringung einer bestimmten Praxis diese als Typ einer bestimmten Praxisform erkannt werden kann, sondern auch, dass Regelmäßigkeiten in eben diesen Hervorbringungsdivergenzen erfassbar sein müssen, um eine symbolische Verortung zu ermöglichen.
Praktische Logik Soziale Praxis folgt einer spezifischen praktischen Logik, die sich von der ›Logik der Logik‹ unterscheidet. Während letztere eine Distanz zum Geschehen aufweist, Einzelaspekte des Sozialen synthetisiert und abstrahiert und auf dieser Basis Schlussfolgerungen, Gesetzmäßigkeiten und Regeln generiert, ist die Logik der Praxis dem Moment unterworfen: »Die Idee der praktischen Logik als einer Logik an sich, ohne bewußte Überlegung oder logische Nachprüfung, ist ein Widerspruch in sich, der der logischen Logik trotzt. Genau nach dieser paradoxen Logik richtet sich jede Praxis, jeder praktische Sinn: gefangen von dem, um was es geht, völlig gegenwärtig in der Gegenwart und in den praktischen Funktionen, die sie in dieser Gestalt objektiver Möglichkeiten entdeckt, schließt die Praxis den Rekurs auf sich selbst (d.h. auf die Vergangenheit) aus, da sie nichts von den sie beherrschenden Prinzipien und den Möglichkeiten weiß, die sie in sich trägt und nur entdecken kann, indem sie sie ausagiert, d.h. in der Zeit entfaltet.« (Bourdieu 1993c: 167; H.i.O.) Zwar ist die praktische Logik nicht von ihrem gegenwärtigen, konkreten Praxisvollzug zu trennen, dennoch ermöglicht sie Regelmäßigkeiten, indem sie eine jeweilige Praktik sinnhaft mit anderen Praktiken verknüpft und relationiert. Die praktische Logik reguliert Praxis also in einer spezifischen Weise, wobei Regeln – ähnlich wie in der Sprachphilosophie Wittgensteins – weder als eigenständige Entitäten verstanden werden, denen Akteure in automatischer Befolgung unterworfen sind, noch als generelle Leitlinien, über deren Auslegung und Befolgung die Akteure aktiv entscheiden müssten. »Der Mittelweg besteht darin, die Regel konstitutiv in der sozialen Praxis zu verankern, in der sie erworben, angewendet und geprüft wird. Das Verstehen von Regeln erfordert nach diesem Modell eine gemeinsame Hintergrundpraxis, die sich in der Zeit erstreckt und von einer Vielzahl von Menschen geteilt wird.« (Volbers 2009: 62) Das bedeutet,
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Akteure handeln entsprechend habitualisierter und geteilter praktischer Schemata und Taxonomien, die, eben weil sie geteilt sind, die Kohärenz von Praxis ermöglichen. Das, was als Muster einer Praxis analysierbar wird, entsteht durch strukturelle Homologien. Diese Homologien bestehen zum einen in objektivierten sozialen Strukturen, wie etwa Institutionen, enzyklopädischem Wissen, juristischen Gesetzen, expliziten und impliziten Gebrauchsanweisungen, Konventionen etc. Sie bilden sich zum anderen aber auch in internalisierten, subjektivierten Ordnungsschemata, die das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln organisieren. Beide Strukturprinzipien wirken gemeinsam in Praxis. Sie konstituieren und durchdringen sich dabei wechselseitig: Die Reproduktion einer Regel durch Befolgung oder die Herstellung eines Gegenstandes zum allgemeinen Gebrauch (wie auch schließlich dessen Verwendung) setzt Kennerschaft voraus bzw. Akteure, die entsprechend disponiert sind. Diese Dispositionen bilden sich wiederum im alltäglichen Leben mit den umgebenden Dingen, Regeln, Institutionen etc. Relativ ähnliche oder gar nahezu gleiche habituelle Dispositionen entstehen durch Kontextsimilarität: Indem Akteure unter historisch und sozialräumlich relativ gleichen objektiven Bedingungen leben, also ähnliche objektivierte Strukturen internalisieren, bilden sie analoge Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen aus (Bourdieu 1985a). Umgekehrt lassen sich jedoch auch praktische Unterschiede zwischen Gruppen identifizieren, deren (sozial-)räumliche und historische Herkünfte divergieren. Die körperliche Routiniertheit und Stabilität der über die Zeit herausgebildeten habituellen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen macht diese zu einer Grundlage regelmäßiger Verhaltensmodi und mithin zur Basis der Regelmäßigkeit sozialer Praxis (Bourdieu 1992a) – wohlgemerkt nicht zur Grundlage regelhaften oder regelgeleiteten Verhaltens. Denn eine praxistheoretische Rekonstruktion versteht habitualisierte Handlungsschemata als generative Prinzipien, die eine unendliche Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten erzeugen. Von daher unterscheidet sich eine praxistheoretische Perspektive von Theorien, welche die Regelmäßigkeit des Handelns auf internalisierte Normen zurückführt, zu deren Befolgung ein intrinsischer Zwang besteht (homo sociologicus) ebenso wie von Konzepten, die Handeln universalen Rationalitäten unterwerfen (homo oeconomicus). Zwar kann das Handeln auch Normkonformität und kalkulierende Intentionalität umfassen, diese Aspekte werden jedoch relativiert und in einen neuen Analysezusammenhang gestellt, wenn die handlungsgenerierende Grundlage als relativ stabiles implizites Know-how und praktisches Verstehen gefasst wird (Reckwitz 2003). »Aus diesem Grund weisen die vom Habitus erzeugten Verhaltensweisen auch nicht die bestechende Regelmäßigkeit des von einem normativen Prinzip geleiteten Verhaltens aus: Der Habitus ist aufs engste mit dem Unscharfen und Verschwommenen verbunden. Als eine schöpferische Spontaneität, die sich in der unvorhergesehenen Konfrontation mit unaufhörlich neuen Situationen geltend macht, gehorcht er einer Logik des Unscharfen, Ungefähren, die das normale Verhältnis zur Welt bestimmt.« (Bourdieu 1992a: 101; H.i.O.) Handlungen müssen situativ spontan generiert werden und werden daher trotz habitueller Strukturiertheit auch in ähnlichen Situationen nie in exakt gleicher Form hervor-
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gebracht. Zugleich ermöglichen die habitualisierten Handlungsschemata jedoch Übertragungen in unübliche Situationen und generieren homologe oder äquivalente Handlungsweisen in sehr verschiedenen Kontexten. Diese Polythetie ist auf die Ordnungsleistungen des Habitus zurückzuführen: Dem routinierten Handeln der Akteure wohnt ein ordnendes Prinzip inne, das Differenzierung, Klassifikation und Hierarchisierung ermöglicht, welches zwar reflexiv nur sehr unzulänglich erfassbar ist, jedoch den Zugang zur sozialen Welt strukturiert und das Denken, Wahrnehmen und Handeln organisiert6 . Das Wissen der Akteure ist in diesem Sinne diakritisch und in raumzeitlich spezifischer Form verknüpft: Es »trennt Form und Inhalt, Wichtiges und Unwichtiges, Zentrales und Peripheres, Aktuelles und Nichtaktuelles. Diese Urteils-, Analyse-, Wahrnehmungs- und Verstehensprinzipien bleiben fast immer implizit, zugleich aber sind die von ihnen getroffenen Klassifikationen bis zu einem gewissen Punkt in sich durchaus stimmig.« (Bourdieu 1992a: 102) Die ungefähre Stimmigkeit kennzeichnet nun nicht nur das Prinzip, nach dem Handlungen habituell hervorgebracht werden, sondern die praktische Logik generell, die darin besteht, »nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre« (Bourdieu 1992a: 103). Dies zeigt sich in einer relativen Kohärenz der Praxis, die nicht nur analytisch rekonstruiert werden kann, sondern auch von den Involvierten implizit wahrgenommen wird: Sie ermöglicht das unmittelbare Verständnis einer Praxis, die dann oft als selbstverständlich, normal oder gar natürlich begriffen wird. Diese Kohärenz ist jedoch nur unzureichend durch die strukturellen Gemeinsamkeiten erklärt, die sowohl zwischen den habitualisierten und objektivierten Strukturen einer Praxis bestehen als auch zwischen den Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen der beteiligten Akteure. Denn diese sind nie exakt gleich: Habituelle Ordnungsschemata etwa sind schon aufgrund der je spezifischen Aneignungsgeschichte nie absolut identisch, sondern nur relativ homolog ausgeprägt. Eingedenk der Situativität von Praxis und der bloß ungefähren Gleichheit der sie erzeugenden Strukturen, ist ihre Kohärenz also nie eine exakte, sondern immer eine ungenaue. Die Logik der Praxis ist daher eine unscharfe Logik, die sich auf die Vagheit ihrer Klassifikationsschemata und auf die Polysemie der Strukturen stützt: »[D]ie Affinität zwischen allen Objekten einer Welt, in welcher überall Sinn waltet, und zwar Sinn in Hülle und Fülle, hat die Unbestimmtheit und die Überdeterminiertheit jedes einzelnen der Elemente und der sie verknüpfenden Beziehungen zur Grundlage oder zum Gegenstück« (Bourdieu 1993c: 159). Dass trotz Divergenzen in der Hervorbringung einer bestimmten Praxis diese als Typ einer bestimmten Praxisform erkannt werden kann, verweist also auf die Polysemie der praktischen Logik, während die praktisch wahrgenommenen wie analytisch feststellbaren Regelmäßigkeiten in den Hervorbringungsdivergenzen auf die Polythetie der Logik der Praxis zurückzuführen sind.
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Michael Meier (2004: 61) betont diesen Aspekt als den Kern des praxistheoretischen Verständnisses von Routine: Dabei geht es nicht in erster Linie »um die routinisierte Ausführung einer bestimmten Praktik als repetitive Körperaktivitäten und Verhaltensmuster als solche. Es geht […] vielmehr um die routinierte Auswahl (im nicht-intentionalen Sinne) einer Praktik, jene Entscheidung für eine (Handlungs-)Strategie.«
6 Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels
Wissen und symbolische Ordnung Soziale Praxis basiert auf Wissen. Damit sind nicht nur im engeren Sinne Informationen, Fakten, Theorien und Regelsystemen angesprochen. Wesentlich sind alle Formen praktischer Differenzierung, Relationierung und Sinnverknüpfung, praktische Wissensordnungen also, welche die Zuschreibung und Relevanzierung von Bedeutung organisieren und so die subjektive wie intersubjektive Strukturierung der Welt ermöglichen. Konstitutiv für die Hervorbringung sozialer Praxis ist sowohl objektiviertes Wissen, etwa in Form von Institutionen, Kodizes und Normen, als auch subjektiviertes Wissen, d.h. körperlich-praktische Könnerschaft, aber auch implizite Vorstellungen von der Welt und davon ›wie die Dinge sind‹ bzw. ›sein müssen‹. Letzteres ist ein vornehmlich praktisches Wissen, das nicht – oder nur sehr vage – expliziert werden kann. Zwar ist es möglich, eine alltagspraktische Theoretisierung der persönlichen Vorstellungen von der Welt und des eigenen Tuns vorzunehmen, diese ist jedoch weder mit dem impliziten Wissen selbst noch mit der wissenschaftspraktischen Rekonstruktion dieses Wissens gleichzusetzen (Bourdieu 1993). Bei der Hervorbringung sozialer Praxis wirken nun unterschiedliche Wissensformen zusammen und bilden praktische, wissensformenübergreifende Wissensordnungen: »Aus praxeologischer Sicht verarbeiten alle diese Wissensformen einer Praktik oder eines Komplexes von Praktiken jene ›kulturellen Codes‹, jene ›symbolischen Ordnungen‹, wie sie die gesamte kulturalistische Theorietradition als Bedingung jedes Handelns herausgestellt hat – aber die ›kulturellen Codes‹ sind aus praxeologischer Sicht nicht wie ein theoretisch-intellektuelles Sinnsystem ›im Kopf‹ oder ›im Diskurs‹ zu begreifen, sondern als ein – nur hochabstrahiert zu einem ›Code‹ zu verdichtendes – nicht unbedingt systematisch aufgebautes Netz von sinnhaften Unterscheidungen, das allein im Aggregatzustand des praktischen Wissens, als ›tool kit‹ wirksam ist.« (Reckwitz 2003: 292f.) Wissen ist also weder als ein Reservoir zu verstehen, dass sich zwischen einzelnen Akteuren aufteilt, welche die Praxis dann – ihrem Wissensvermögen entsprechend – mit Sinn aufladen können, noch ist es als intersubjektiver Wissenskomplex aufgefasst, der eine der Praxis vorgelagerte soziale Einheit bildet. Wissen ist in der Praxis selbst enthalten. Wird etwa die Strategiekonferenz eines Bauunternehmens praktisch hervorgebracht, wird dabei sehr unterschiedliches objektiviertes und subjektiviertes Wissen wirksam: in Bürogebäude, Einrichtungsstil, Anordnung der Möbel, Akten, Modellen etc. ist geteiltes Wissen um Organisation und Branche in raumzeitlich konkreter Form materialisiert, Bauingenieur*innen, Buchhalter*innen, Manager*innen, Architekt*innen etc. bringen Fachwissen um Produkte, Produktionsweisen, Finanzen, Management etc., aber auch praktisches Wissen über ihre Arbeitsbereiche und über das Verhalten in Konferenzen, Argumentation, Wissensvermittlung etc. zum Einsatz. Sie setzen ihr implizites und explizites Wissen um allgemeine Höflichkeitsformen und den firmenspezifischen Diskussionsstil praktisch ins Verhältnis, wobei sie – je nachdem wie sehr ihnen ein der Situation angemessenes Verhalten ›in Fleisch und Blut‹ übergegangen ist
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– sich mehr oder weniger explizit an objektivierten Verhaltenskodizes orientieren7 . Das in der konkreten Besprechungspraxis aktivierte Wissen ist nun größtenteils implizit, unkonkret und an das praktische Zusammenspiel der Situation gebunden. Strukturiert wird die Situation (Konferenz) nicht nur durch Akteure, sondern ebenso durch Artefakte, Räume, zeitliche Rhythmen etc. Die Mitarbeiter*innen können – etwa im Rahmen einer Fortbildung – eine solche Besprechung nachstellen, dabei handelt es sich dann jedoch um eine Simulationspraxis, die zwar scheinbar Ähnlichkeiten mit der Konferenz aufweist, im Grunde jedoch andere Wissensordnungen aktualisiert und verschränkt; ein Umstand, den es auch im Rahmen empirischer Sozialforschung zu berücksichtigen gilt. Zudem ist das in der Praxis – in diesem Beispiel in der Besprechungspraxis – wirksame Wissen nicht gleichmäßig verteilt: Im praktischen Aufeinandertreffen divergierender, durchaus konfligierender Wissensordnungen entfaltet sich ein praktisches Vermögen und ein Sinnverknüpfungspotenzial, das »ein einziger Gewährsmann weder beherrscht noch jemals beherrschen kann, vor allem nie in einem einzigen Augenblick, und [… das] nur unter Bezug auf verschiedene Situationen, d.h. nur in verschiedenen Diskurswelten mit verschiedener Funktion hergestellt werden« kann (Bourdieu 1993c: 151). In einer praxistheoretischen Analyse kommt nun beides gleichermaßen in den Blick: Sie zielt auf die Homologie im Denken, Wahrnehmen und Handeln von Akteuren, wie auch der kontextrelevanten objektiven Wissensstrukturen, die eine gemeinsame Praxis ermöglichen. Sie fokussiert zugleich aber auch die Unterschiede in den Wissensordnungen und Hervorbringungsmodi, die ihrerseits ebenfalls konstitutiv für komplexe Praxisvollzüge sind. Bourdieu verdeutlicht das Zusammenspiel geteilter und divergenter Wissensordnungen am Beispiel des kabylischen Agrarkalenders (Bourdieu 1979): Der Agrarzyklus ist in einer praktischen Wissensordnung organisiert, d.h. in einem Set teils habitualisierter, teils objektivierter, unterschiedlich stark kodifizierter und explizierter Handlungsregeln, zeitlicher Bezugspunkte, gemeinsamer Ziele, überlieferter Erfahrungen und geteilter Erwartungen, die wiederum in Relationen zueinander stehen. Das für die im Jahresrhythmus wiederholte, gemeinsame Agrarpraxis benötigte praktische Wissen ist nun einerseits ein spezifisches und dennoch zumeist implizites Wissen, das etwa von den Frauen, den Gelehrten, den Alten, den Schmieden etc. einer Gemeinschaft inkorporiert ist, andererseits ein ebenfalls zumeist implizites, dennoch teilweise in Schriften, Riten, Sprichworten etc. objektiviertes Wissen, welches
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Bourdieu (1979: 230ff.) betont, dass Handlungsformen nicht ausschließlich auf ›praktische Schemata des Habitus‹ zurückzuführen sind, sondern ebenso durch objektivierte Schemata, etwa durch Kodizes, ausdrückliche Aufforderungen und explizite Empfehlungen bedingt werden, die ihrerseits niemals ausschließlich das Handeln organisieren. Durch Kodifizierung lässt sich das Handeln formalisieren, was in bestimmten Situationen als angemessene Strategie erscheinen kann: »Je gewaltträchtiger eine Situation ist, um so notwendiger ist es, durch Formgebung zu entschärfen; um so ratsamer ist es, das den Improvisationen des Habitus überlassene Verhalten durch ein Verhalten zu ersetzen, das durch ein systematisch gestiftetes, wenn nicht sogar kodifiziertes Ritual geregelt wird. Man braucht nur an die Sprache der Diplomatie oder die protokollarischen Regeln zu denken, die Vorrangigkeit und Schicklichkeit bei offiziellen Anlässen festlegen.« (Bourdieu 1992a: 101)
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das unmittelbare Verstehen der gemeinsamen Praxis und das gemeinsame Handeln ermöglicht. Praxis rekurriert also trotz der Integration divergenter, teilweise disparater Wissensbestände auf einen common sense: »it includes those things commonly known or even tacitly accepted within a collectivity; it includes as well the consensus of the community as articulated in a variety of public discourses; and finally, it includes the sense of community that this commonly-shared sense of the world provides.« (Holton 1997: 39) Die unscharfe Logik der Praxis ermöglicht nun trotz habitueller Differenzen sowohl unmittelbares Verständnis als auch Regelmäßigkeit im gemeinsamen Praxisvollzug. Eine Trennung zwischen common sense und inkorporiertem Spezialwissen bzw. gruppenspezifischer Bezugnahme auf geteiltes Wissen ist dabei nur analytisch möglich – in Praxis wirken sie untrennbar zusammen. Analytisch gewährt die praxistheoretische Perspektive jedoch einen simultanen Blick auf die Homologien geteilter, praktisch hervorgebrachter Wissensordnungen einerseits und auf die mit diesen Homologien untrennbar verknüpften praktischen Differenzen und Interferenzen andererseits. Die Wissensdivergenzen sind wiederum nicht einer vorgelagerten Individualität zuzuordnen, sondern sind ihrerseits regelmäßig und auf die jeweiligen (sozial-)räumlich und zeitlich spezifischen Entstehungs- und Aneignungskontexte von Wissen zurückzuführen. So kann praktisches wie objektiviertes Wissen etwa generational, geschlechtsspezifisch, milieu- oder berufsbezogen, aber auch epochal und räumlich variieren. Da sich die entstehungs- und reproduktionskontextspezifische Variation sowohl auf objektiviertes als auch implizites, inkorporiertes Wissen bezieht, drückt sich diese sowohl in systematisch unterschiedlichen Kodizes, Institutionen oder explizierten Wissensbeständen als auch in regelmäßig divergierenden Handlungsstilen, Präferenzen oder Selbst- bzw. Weltverständnissen aus: Bourdieu hat diesbezüglich in seiner Studie der französischen Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre (›Die feinen Unterschiede‹, Bourdieu 1987) herausgearbeitet, wie die unterschiedlichen sozialräumlichen Bedingungen von herrschenden, mittleren und beherrschten Klassen eine systematische Verteilung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Denken, Wahrnehmen und Handeln, in Geschmacksdispositionen und in habituellen Strategien erzeugen. Zentral ist dabei, dass es sich nicht um gänzlich disparate Wissensbestände handelt, sondern zwischen den unterschiedlichen Klassen durchaus Gemeinsamkeiten in den Wissensordnungen und Sinnstrukturen bestehen. So ist etwa die Praxis des Kochens trotz divergenter Hervorbringungsmodi, Geschmäcker und auch Bedeutungen (als Kunst, lästige Pflicht, gesundheitsfördernde Maßnahme etc.) klassenübergreifend als solche zu erkennen, das heißt, sie ist zumindest partiell mit geteiltem Sinn verknüpft. In dieser gemeinsamen Wissensordnung, die das variationsübergreifende Verständnis einer Praxisform bedingt, sind die unterschiedlichen Modi der Hervorbringung implizit zueinander ins Verhältnis gesetzt. Für die Rekonstruktion sozialen Wandels ist dies in verschiedener Hinsicht hoch relevant: Zum einen bedeutet es, dass sich die Hervorbringung einer Praxisform in unterschiedlichen Akteursgruppen auch in unterschiedlicher Weise wandeln kann (Milieus, Geschlechter, Arbeitssegmente etc. – zudem in intersektionaler Verschränkung). Sie kann sich auch in der einen Gruppe wandeln und in der anderen (zunächst) weitestgehend unverändert bleiben. Allerdings ist zu beachten, dass sich zumindest der
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Blick der einen Gruppe auf den modus operandi der anderen verändern und dieser nun gegebenenfalls als veraltet, reaktionär oder nostalgisch wahrgenommen werden kann (was – je nach gesellschaftlicher Relevanz beider Positionen – auch für die am ›alten‹ Modus festhaltende Gruppe Konsequenzen zeitigen kann). Setzt sich eine neue Relationierung der unterschiedlichen Hervorbringungspraxis und eine Sinnverschiebung in der gruppenübergreifenden Wissensordnung durch, kann von einem Wandel der gesamten Praxisform gesprochen werden. Während etwa das Kochen mit ökologisch gewissenhaft produzierten Nahrungsmitteln in den 1980er Jahren subkulturelle Züge aufwies, dessen Bedeutung höchstens als Sonderweg in das geteilte ernährungspraktische Wissen einbezogen war, bildet es heute eine so wirkmächtige Position in den gruppenübergreifenden Wissensordnungen, dass es nicht mehr nur in engbegrenzten Kontexten ›gedankenlosen‹ Lebensmittelkonsum als unvernünftig zu markieren vermag. Zum anderen ist zu bedenken, dass in komplexen Praxisvollzügen zumeist unterschiedliche Akteursgruppen mit divergentem (inkorporiertem und objektiviertem) Spezialwissen involviert sind. Veränderung einzelner Praxisaspekte können daher zu weitreichenden Transformationen im Nexus sozialer Praktiken führen.
Macht und soziale Ungleichheiten Macht und (praktisches) Wissen können nicht unabhängig voneinander gedacht werden (Foucault 1994, 2005a). Der praxisordnende Charakter von Wissen verweist auf dessen machtvolle Aspekte, verweist auf die Durchsetzung der Möglichkeit, dass sich Akteure auf eine spezifische Weise verhalten, sowie auf den Ausschluss von Handlungsalternativen. Wissen ist deshalb machtvoll, weil es handlungsleitend wirkt und Welt-, aber auch Selbstverständnisse konstituiert. Macht beinhaltet daher, wie insbesondere Foucault (1994) betont, ein produktives Moment: Sie bezieht sich auf die praktische Bestimmung und sinnhafte Verortung von Dingen, Akteuren und Sachverhalten und auf die Möglichkeit der Kollektivierung und Objektivierung von Unterscheidungen, aber auch auf die Möglichkeit der Tabuisierungen und Stigmatisierung – kurz: »[S]ie produziert die Dinge in ihrer Materialität als wirkliche und gesellschaftlich wirksame Sozialfaktoren« (Bublitz 2008a: 274). Macht ist dabei relational zu denken und kann also nicht auf ein substanzielles Machtpotenzial der Dinge zurückgeführt werden. Geld, ein bestimmtes Spezialwissen, eine Person oder die britische Krone sind nicht an sich mächtig, vielmehr wird ihre Macht mit ihrer relationalen Bedeutung und Bedeutsamkeit praktisch (re-)produziert – oder auch verändert. Macht besteht also in einem praktischen Verhältnis und ist entsprechend auch nicht in erster Linie an ihre Ausübung gebunden, sondern vor allem an Anerkennung. Letztere ist wiederum nicht im Sinne einer mehr oder weniger bewussten Unterwerfung zu verstehen, sondern ist sehr viel subtiler in das praxisbedingende Wissen eingelagert: Anerkennung bedeutet insbesondere ein spontanes Für-WahrNehmen und zeigt sich in dem Umstand, dass im Praxisvollzug die Ordnungen und Bedeutungen der Dinge nur selten in ihrer Kontingenz wahrgenommen werden und daher oft als ›natürliche‹ Gegebenheiten unhinterfragt bleiben. Ein Charakteristikum von Machtverhältnissen ist daher, dass »sich die Macht in ihnen nur in dem Maße voll entfalten kann, wie sie als Machtverhältnisse verschleiert sind« (Bourdieu 1993a: 214).
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Denn dort, wo die Umstände hinterfragt werden, wo Macht als Bedingung der Verhältnisse und Weltzugänge für die Akteure sichtbar wird, kann Widerstand entstehen (Foucault 1977). Wird Macht von sozialer Praxis her gedacht, verschiebt sich die analytische Perspektive hin zu den Modi ihrer kontingenten Produktion – ohne dass dabei aus dem Blick gerät, dass machtvolle praktische Relationen Herrschaftsverhältnisse zwischen Akteuren anzeigen: »Es geht offenkundig nicht darum, die ›Macht‹ auf ihre Herkunft, ihre Grundsätze oder ihre legitimen Grenzen hin zu befragen, sondern die Verfahren und die Techniken zu untersuchen, die in unterschiedlichen institutionellen Kontexten verwandt werden, um auf das Verhalten der Individuen einzeln oder als Gruppe einzuwirken; um den Modus ihrer Verhaltensführung zu formen, zu lenken und zu verändern, um ihrem Nichthandeln Ziele aufzuerlegen oder es in Gesamtstrategien einzuschreiben, die infolgedessen in Form und Ausübungsort vielfältig und gleichfalls in den eingesetzten Verfahren und Techniken verschiedenartig sind: Diese Machtbeziehungen charakterisieren die Art und Weise, wie Menschen, die einen von den anderen, ›regiert‹ werden; und ihre Analyse zeigt, wie durch bestimmte Formen des ›Regierens‹ von Irren, Kranken, Kriminellen usw. das wahnsinnige, kranke, delinquente Subjekt objektiviert wird.« (Florence 2009: 11; alias Foucault) Mit dieser Objektivierung einer spezifischen Subjektivierung etwa als Delinquent*in oder Wahnsinnige*r, geht nicht nur ein spezifisches Wissen um die Eigenschaften der entsprechenden Person einher, sondern auch eine Relativierung von Legitimität und Gewichtigkeit ihrer Aussagen, Handlungen und Wünsche. Dabei besteht nicht nur abseits der betreffenden Akteure ein common sense darüber, was Geisteskrankheit oder andere Formen stigmatisierter Devianz auszeichnet und in welchem Verhältnis sie zu mehr oder weniger normkonformen Akteuren stehen. Auch die Stigmatisierten tragen (in spezifischer Form) als Teile der Gesellschaft und Mitproduzent*innen der geteilten Wissensordnungen durch eine (erzwungenermaßen) ›hingenommene Komplizenschaft‹ zu ihrer Stigmatisierung bei (Bourdieu 1992b: 82): Vermittelt über die »verborgene Beziehung quasi-körperlichen Verwachsenseins« mit der gesellschaftlichen Ordnung entfalten Machtrelationen ihr volles Potenzial dort, wo auch für Deviant*innen kein Zweifel über ihre eigene Devianz besteht. Ob dieser Status nun diesseits oder jenseits kritischer Hinterfragung steht und ob er einen Wandel durchlaufen kann, hängt von der Stabilität bzw. Instabilität der internalisierten wie objektivierten Wissensordnungen ebenso ab, wie von stabilisierenden wie destabilisierenden Situationen ihrer praktischen Hervorbringung. Da beides – Stabilität der Ordnung, wie Stabilität der Praxis – nicht unabhängig voneinander gedacht werden kann, ist die Möglichkeit, eine Stigmatisierung infrage stellen zu können, umso geringer, je stabiler sie in die Wissensordnungen einer Gesellschaft, eines Milieus oder auch eines sozialen Feldes eingelassen ist. Die Bedeutungsmacht der Wissensordnungen wirkt andererseits auch positiv sanktionierend, indem sie die Unterscheidung spezifischer Handlungen, Habitus, aber auch Institutionen als anerkennenswert und legitim perpetuiert. Honoratior*innen wird daher nicht nur ein hohes Maß gesellschaftlicher Anerkennung zuteil, sie haben auch
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deutlich mehr Möglichkeiten, ihre Vorhaben und Vorstellungen von der Welt praktisch durchzusetzen. Dieses Vermögen hat eine tendenziell herrschaftsstabilisierende, sogar -verstärkende Wirkung: »Bekannt und anerkannt sein heißt auch die Macht innehaben, anzuerkennen, zu würdigen, zu dekretieren, was gekannt und anerkannt zu werden verdient, und allgemeiner: zu sagen, was ist oder, besser, was es mit dem, was ist, auf sich hat, was man davon zu halten hat, und dies durch performative Aussagen (oder Voraussagen), die bewirken, dass das Gesagte ist wie besagt […].« (Bourdieu 2001b: 311) Die machtvollen Handlungen jener Akteure, die mit einem hohen Maß gesellschaftlicher Anerkennung ausgestattet sind, basieren dabei auf Machtverhältnissen, die weit über die konkrete Handlung hinausweisen. Zu verzeichnen ist daher weniger eine bewusste und gezielte Machtausübung als vielmehr das Wirken der in geteilte symbolische Ordnungen eingelagerten praktischen Machtrelationen, welche zugunsten privilegierter Akteure ausfallen. Die Wirkungsweise der Machtrelationen liegt wiederum in der Logik der Praxis begründet: Das unvermittelte Ineinandergreifen homologer objektivierter und subjektivierter Strukturen ermöglicht einerseits das spontane Handeln, aber auch Denken und Wahrnehmen in anerkannter Form, andererseits die ebenso spontane Anerkennung der Legitimität dieser Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen, aufgrund geteilter und subjektivierter Wissensordnungen, die in das praktische Wissen der Akteure eingelagert sind. Eine dermaßen inkorporierte Anerkennung wird oft selbst dann gewährt, wenn die entsprechende Praxis die Benachteiligung eines Großteils der Anerkennenden produziert, insbesondere dann, wenn das praktische Wissen dieser Akteure keine Alternative eröffnet. Die Macht, die Akteuren zugesprochen wird, basiert also auf jenen kollektiv internalisierten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen, die disponiert sind, spezifische Handlungen, aber auch Institutionen wie Bildungstitel oder Amtswürden (unhinterfragt) »als Zeichen von Wichtigkeit« wahrzunehmen (Bourdieu 2001b: 311). Während Foucault in seinen Arbeiten insbesondere Wissensformen, Institutionen und (Selbst-)Techniken herausarbeitet, die dazu angetan sind, die Subjekte im Sinne einer spezifischen Regierungslogik zu formen bzw. zu transformieren (Foucault 1994, 2006a), aber auch bestimmte Subjekte zu stigmatisieren (Foucault 1988), verweist Bourdieu im Rahmen seiner Herrschaftsanalysen vor allem auf das gesellschaftsstrukturierende und mithin soziale Ungleichheiten (re-)produzierende Potenzial sozialer Praxis (Bourdieu 1987; Bourdieu & Passeron 1971): Deren machtvolle Implikationen bedingen eine mitunter über Generationen stabile ungleiche Verteilung wertvoller Güter und Teilhabenchancen unter Akteursgruppen, die sich hinsichtlich bestimmter Merkmale, aber auch in ihrer Praxis systematisch voneinander unterscheiden. Ungleichheit entsteht etwa entlang der symbolischen Wirkmacht von Geschlechtern, Altersgruppen, Klassen, Bildungsgraden oder ethnischen Herkünften, die sich in einer ungleichen Anerkennung im alltäglichen Leben sowohl ausdrückt als auch reproduziert. Die systematische Verkennung bestimmter Akteure findet dabei nur zum Teil als (bewusste) Diskriminierung statt, wesentlich tiefgreifender ist die Abwertung klassen-, geschlechts-, religions- bzw. ethnospezifischer modi operandi: Die Überhöhung der einen und Geringschätzung der anderen Art, die Dinge zu tun, ist nicht nur im praktischen Wissen der Akteure eingelagert und somit reflexiv schwer zugänglich, sie ist zudem auch weitestgehend in
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die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata der Verkannten eingelassen, die bis zu einem gewissen Grad ihre Unterlegenheit – etwa in Fragen des Geschmacks, des Stils, der Allgemein- und Spezialbildung, der Weltgewandtheit – praktisch anerkennen. Habituelle Unterschiede zwischen Akteursgruppen einer Gesellschaft dürfen also nicht als rein stilistische Differenzen in der Art, die Dinge zu tun, verstanden werden, sondern sind als machtvolle Distinktionen zu rekonstruieren. Denn soziale Praxis ist »immer schon mit Bewertungen, mit Interpretationen, Selbst- und Fremddeutungen verknüpft, auch wenn diese eher unbemerkt und unreflektiert ›mitlaufen‹. Insofern macht eine Unterscheidung von sozialer und kultureller Praxis ebenso wie die dualistische Gegenüberstellung von sozialer Ungleichheit und kulturellen Unterschieden wenig Sinn.« (Hörning & Reuter 2004: 11). Die Polysemien und Unschärfen sozialer Praxis als Spielraum habitueller und kultureller Differenzen in den Blick nehmen zu können, die nicht nur Vielfalt in der Hervorbringung einer spezifischen Praxisform ermöglicht, sondern diese Vielfalt zugleich als machtvolle Unterschiede erkennt, ist nicht zuletzt für die Analyse sozialen Wandels ein wesentlicher Aspekt. Denn hierin zeigen sich nicht nur die unterschiedlichen Wirkungen, die soziale Wandlungsprozesse auf unterschiedliche Akteursgruppen entfalten, etwa Chancen und Risiken, Aufwertungen und Verluste, die sich für diese mit Veränderungen verbinden; die Spielräume ungleicher Hervorbringung von Praxis verweisen darüber hinaus auch auf Anlass und Möglichkeit einer Umdeutung oder eines ›Anderstuns‹.
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Praxistheoretische Prämissen und sozialer Wandel
Eine praxistheoretisch begründete Erforschung sozialen Wandels setzt an der regelmäßigen und dauerhaften Veränderung von relativ verbreiteten und zeitlich relativ stabilen Praxismustern an. Relativ verbreitet und stabil können diese Muster sein, weil sie immer auf geteiltes Wissen rekurrieren, welches in expliziter und impliziter, sowie objektivierter und subjektivierter Form in den Körpern und Dingen ist, die in einen Praxisvollzug involviert sind. Geteiltes Wissen besteht aus relationalen Geflechten von Sinnunterscheidungen und Bedeutungsverknüpfungen, die trotz Unschärfe, Interferenzen und beständiger Deutungskämpfe die Welt symbolisch ordnen. Diese Wissensordnungen können so weitreichend und umfassend wirken, dass sie ganz verschiedene Praktiken, aber auch Dinge, Institutionen und Subjekte sinnhaft miteinander verknüpfen: Freizeitgestaltung, die Organisation des Gesundheitssystems, die Subjektform Schüler*in etc. können beispielsweise gemeinsam, aber in jeweils sehr spezifischer Form einer Logik der Effizienzsteigerung folgen. Sie weisen dann trotz inhaltlich stark divergierender Ausrichtungen bestimmte Homologien in den praktischen Bedeutungsverknüpfungen auf. Transversale Sinnstrukturen und konkrete Praxisformen können dabei nur analytisch unterschieden werden – praktisch werden sie zugleich und in ungeschiedener Form hervorgebracht, können aber im Hervorbringungsmodus – je nach (sozial-)räumlicher und zeitlicher Verortung – systematisch differieren. Auf dieser Basis ermöglicht eine praxistheoretische Perspektive die Analyse latenter Homologien in den unterschiedlichsten Praktiken, deren Wandel oft genauso latent bleibt. Zugleich wird der Blick gerade auch auf die Polysemien und Unschärfen der Wis-
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sensordnungen gelenkt: auf Deutungskämpfe und praktische Interferenzen, die situativ durch die Überlagerung unterschiedlichen (geschlechts-, milieu-, generationsspezifischen etc.) praktischen Wissens entstehen und die Wandel immer zu einem multimodalen und dennoch strukturierten Prozess und nicht selten zu einem umkämpften Geschehen machen. Wissensordnungen sind nicht zuletzt immer auch machtvolle symbolische Ordnungen, die Anerkennung und Verkennung, Legitimierung und Delegitimierung, mithin also die symbolischen Wirkungen von Praktiken organisieren. Auch diese Qualität praktischer Relationen gilt es beim Wandel sozialer Praxis zu berücksichtigen, denn sie wirkt sich nicht nur auf Formen und Möglichkeiten der Durchsetzung neuer Praktiken bzw. veränderter Wissensordnungen aus, sie verweist darüber hinaus auch auf die unterschiedliche Wirkung, die sozialer Wandel in je verschiedenen Kontexten haben kann: Ob etwa die Flexibilisierung von Arbeit als Chance oder als Zumutung, befreiend oder belastend wirkt bzw. ob und in welcher Form diese Entwicklung ambivalent aufgefasst wird, hängt vom jeweiligen Ort des Geschehens ab. Des Weiteren machen es Zeitlichkeit und Materialität sozialer Praxis, wie auch ihre unscharfe, Polysemie erzeugende und Polythetie ermöglichende Logik notwendig, Routine und Veränderung, soziale Reproduktion und Wandel als gleichzeitig produzierte und im Praxisgeschehen zunächst undifferenzierte Aspekte zu denken. »Wiederholung und Innovation, das Beständig-Gewohnte und das Suchend-Offene, sind zwei Seiten der sozialen Praxis« (Hörning 2004: 33). Sie bewegt sich also »zwischen einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs« (Reckwitz 2003: 294). Soziale Praxis wird damit in einer Weise als konstant bzw. veränderlich entworfen, die äußerst ertragreich für die Erforschung sozialen Wandels zu sein verspricht. Wandel muss dabei als elementarer Bestandteil von Praxistheorie gelten, denn »[e]rst eine praxeologische Perspektive, die Reproduktion und sozialen Wandel nicht als Gegensatzpaar fasst, kann zeigen, inwiefern die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Stabilität der modernen Gesellschaft, von ihrer ständigen – und ständig sich wandelnden – Wiederhervorbringung abhängig ist« (Trinkaus & Völker 2009: 210). Dies widerspricht soziologischen Perspektiven, die unterschiedliche Zugänge zur Erforschung von Struktur und Prozess vorschlagen oder eine theoretische Grundsatzentscheidung in der Orientierung auf Statik oder Dynamik sehen (Abels 2009a; Aron 1971; Zapf 2018). Praxistheoretisch lässt sich das eine nicht ohne das andere erforschen. Eine Soziologie, die sozialen Wandel als Wandel sozialer Praxis begreift, betont entsprechend nicht lediglich die dynamischen Aspekte des Sozialen, vielmehr ist sie analytisch um den Doppelcharakter einer dynamischen Stabilität und strukturierten Dynamik zentriert. Dieser Doppelcharakter ermöglicht eine differenzierte Analyse der Formen und Logiken sozialen Wandels. Anhand der Ausführungen wird jedoch auch deutlich, wie zentral die empirische Analyse konkreten Wandelgeschehens ist, um Aussagen über soziale Veränderungsprozesse treffen zu können. Schon die Herausarbeitung jener relativ weitreichenden und stabilen Praxismuster, die als Bezugspunkt der Wandelanalyse dienen, muss am empirischen Gegenstand erfolgen. Die Fragen, wie diese Muster kontinuiert werden, wie sie sich wandeln, in welcher Hinsicht Diskontinuitäten auftreten, welche Modi und Wirkungen dabei zu unterscheiden sind und welchen praktischen Logiken Reproduktion
6 Praxistheoretische Grundlagen für die Erforschung sozialen Wandels
und Wandel dabei folgen, sind ebenfalls ausschließlich empirisch zu beantworten. Im Rahmen verschiedener praxistheoretischer Ansätze sind dabei begrifflich-analytische Grundkonzepte entwickelt worden, auf die empirische Analysen zurückgreifen können. Im Folgenden möchte ich auf einige dieser Konzepte näher eingehen und ihr Potenzial für die Erforschung sozialen Wandels herausarbeiten.
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7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
Für die analytische Bearbeitung der Frage, welche Sinnstrukturen, Logiken und Hervorbringungsmodi sich verändern und welche nicht, stehen verschiedene praxistheoretische Analysekonzepte zur Verfügung, die sich auf spezifische Strukturen und Strukturrelationen der Praxis beziehen. Einige Konzepte möchte ich im Folgenden hinsichtlich ihres Potenzials für die Analyse sozialen Wandels explizieren. Sie sind nicht nur besonders geeignet, um jene Sinngehalte und Wissensordnungen herauszuarbeiten, die für die Hervorbringung einer raumzeitlich spezifischen Praxis relevant sind, auf ihrer Basis lässt sich auch die Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Wandel analytisch adressieren; denn den praxistheoretischen Konzepten ist gemein, dass sie strukturierte und zugleich strukturierende Strukturen sozialer Praxis auf den Begriff bringen (Bourdieu 1987). Strukturiert-werden (bzw. Strukturiert-sein) und Strukturieren fallen im Moment des Praxisvollzugs zusammen, wobei sich praktische Strukturen – analytisch erfassbar als Habitus, Felder, Lebensformen usw. – wandeln, aber auch reproduzieren. Das Zugleichwirken von Reproduktion und Wandel ist daher im Grunde für jede praxistheoretische Analysekategorie vital (Trinkaus & Völker 2009). Oder anders gesagt: Im Rahmen eines praxistheoretischen Zugangs müssen »nicht nur die Praxisformen, sondern auch die Bedingungen für die Entstehung von Praxisformen […] in hohem Maße dynamisch modelliert werden, was den Eigenschaften der Sozialität am ehesten gerecht zu werden vermag« (Hillebrandt 2009a: 376).
7.1
Konzepte inkorporierter und objektivierter Praxis als Fluchtpunkte der Wandelanalyse
Habitus Besondere Aufmerksamkeit kommt zunächst der Strukturierung des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Handelns von Menschen zu. Menschen geraten dabei als soziale Akteure (agents) in den Blick, die zwar nicht den zentralen Analysefluchtpunkt
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
der Praxistheorien bilden, ohne deren Handeln und das damit einhergehende Unterscheiden, Relationieren und Sinnverknüpfen Praxis jedoch nicht denkbar ist. Akteure können – und müssen – angesichts der zwingenden Zeitlichkeit sozialer Praxis routiniert handeln, das heißt, ihr Handeln ist erfahrungsbasiert und körperlich eingeübt und kann gewohnheitsmäßig und unreflektiert ausgeführt werden. Dies gelingt auf der Basis inkorporierter Prinzipien, die zugleich handlungsgenerativ und klassifikatorisch wirken, also auf Basis eines Systems von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen, welches Bourdieu als ›Habitus‹ konzeptualisiert. Habituelle Strukturen bilden und verändern sich mit den praktischen Erfahrungen der Akteure. Damit liegt zunächst keine Betonung, sondern eine (Teil-)Begründung der Stabilität sozialer Praxis vor, in der zugleich auch ihr dynamisches Moment mitgedacht ist, denn der Habitus bezeichnet die »unbegrenzte Fähigkeit […], in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen« (Bourdieu 1993c: 103). Damit konterkariert das praxistheoretische Akteurskonzept sowohl die Vorstellung des durch soziale Mechanismen gesteuerten als auch die Idee des nach freiem Willen agierenden Menschen. Akteure sind »in all ihren Merkmalen Produkte historisch- und kulturell spezifischer Praktiken« (Reckwitz 2003: 296), was sie sind, was sie ausmacht existiert nur in der Praxis und kann nicht auf eine vorpraktische Instanz zurückgeführt werden. Genauer gesagt sind Akteure »nichts anderes als Bündel [… jener] praktischen Wissensformen, die sich in sozialen Praktiken aktualisieren« (Reckwitz 2004: 44). Ob Handlungen eines Akteurs nun über lange Zeit gleichförmig sind, ob sie als ungewöhnlich oder unberechenbar wahrgenommen werden können, ob sie vom Handelnden reflektiert oder hinterfragt werden, ist nun eine Frage der empirischen Konstitution des Bündels praktischer Wissensformen. Dabei ist die Aneignung bzw. Internalisierung dieser Wissensformen von besonderem Interesse: Einerseits kann sich das inkorporierte Wissen hinsichtlich seiner Variationsbreite, andererseits hinsichtlich seiner Kongruenz bzw. Ambivalenz unterscheiden. Dies soll keineswegs auf ein in Umfang und Strukturierung von Akteur zu Akteur divergierendes Wissensreservoire verweisen, sondern vielmehr auf divergente Erfahrungen und auf unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, die sich hieraus ergeben. Einerseits können die Praxisformen, an deren Hervorbringung ein Akteur im Laufe der Zeit beteiligt ist, mehr oder weniger stark variieren, je nachdem, ob beispielsweise ein oder mehrere Schulformen besucht, eine oder unterschiedliche Regionen bewohnt werden, je nachdem ob der Beruf der Eltern ergriffen und beibehalten oder eine wechselvolle Berufsbiografie durchlaufen, in konstanten oder in variierenden familiären Konstellationen gelebt wird. Eine große Variationsbreite der erlebten Praxis ist jedoch nicht zwangsläufig an eine große Heterogenität der Wissensordnungen bzw. der Welt- und Selbstverhältnisse gebunden. Denn relativ unabhängig von der Variationsbreite kann sich erlebte Praxis andererseits auch hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Homologie unterscheiden – je nachdem etwa, ob ein Akteur aus einer Familie mit traditionellen Rollenbildern weitestgehend in ebenso traditionellen Kontexten verbleibt oder aber in Bildungs- und Berufsalltag feministische Weltzugänge kennenlernt und internalisiert. Das heißt, Variationsbreite sowie Kongru-
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
enz bzw. Ambivalenz eröffnen je unterschiedlich strukturierte Möglichkeitsräume für die habituelle Hervorbringung einer Handlung. Allerdings ist zweierlei zu bedenken: Erstens müssen die im Praxisvollzug gemachten Erfahrungen als praktisches Wissen angeeignet werden. Dies kann immer nur auf Basis des bereits internalisierten Wissens geschehen, welches das (vorbewusste) Wahrnehmen, Einordnen und Einüben strukturiert (Bourdieu 1993c). Je nach Disponiertheit ist dabei eine konvergente Integration neuer Erfahrungen zu einem relativ homologen Wissensbündel denkbar, oder die Verinnerlichung einer heterogenen, auch ambivalenten Multiplizität, ein Bewusstsein dafür, dass die Dinge auch anders sein können, und ein körperliches Vermögen, die Dinge auch anders zu tun. Die Konstitution eines Bündels praktischer Wissensformen (oder mit Bourdieu: der Habitus eines Akteurs), ist also nicht nur auf die gemachten Erfahrungen, sondern auch auf die spezifische Strukturierung dieser Erfahrungen zurückzuführen. Zweitens ist die Strategie zu berücksichtigen, nach der sich entscheidet, in welcher Form Wissen in Praxis gebracht wird. Ein Akteur kann in einer spezifischen Situation etwa überlegt, impulsiv oder en passant Handeln – die Entscheidung hängt nicht in direkter Linie von den Erfahrungen mit ähnlichen Situationen ab, sondern ist auf ein in diesen und anderen Situationen erworbenes soziales Gespür und auf gleichermaßen ausgebildete Strategien im Umgang mit der Welt zurückzuführen (Bourdieu 1992d). Auch diese (vorreflexiven) Strategien der Handlungsentscheidung sind als inkorporiertes, praktisches Wissen zu verstehen, welches das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Akteure disponiert. Bezogen auf die Reproduktion und den Wandel von Praxisformen lässt sich also Folgendes festhalten: Der Akteur – als analytische Kategorie der Bedingungen sozialer Praxis – kann auf Basis habitualisierter Dispositionen Handlungen hervorbringen, die im einen Extrem in einer Weise ›eingeprägt‹ sind, dass sie bei minimaler Veränderung der Umgebung ins Leere greifen, die aber im anderen Extrem in einer nie dagewesenen und nie zuvor gedachten Form ausgeführt werden können. Soziale Praxis ist akteursseitig also in einer Weise bedingt, welche die strikteste Reproduktion ermöglicht ohne den Akteur strukturdeterminiert zu denken, und zugleich unkalkulierbaren Wandel einschließt, ohne ihn als autonomen Schöpfer des Sozialen zu konzipieren. Die Pfadabhängigkeiten aufweisende Geschichte der habituellen Disponierung (und Umdisponierung) eines Akteurs, sowie die Variationsbreite und (In-)Kongruenz der Erfahrungen strukturieren den Möglichkeitsraum der Handlungshervorbringung. Nur im Grenzfall können Akteure dabei als vollständig homologe Bündel praktischen Wissens behauptet werden, die konstant handeln und auf diese Weise (unter der Voraussetzung konstanter Kontexte) an der Hervorbringung sich umfänglich reproduzierender Praxisformen beteiligt sind. Zwar ist dem Habitus aufgrund der notwendigerweise körperlichen Einübung und selektiven Internalisierung von Erfahrungen eine Trägheit zuzusprechen (›Hysteresis‹), die dazu führen kann, dass Akteure »über dauerhafte Dispositionen verfügen, die die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Produktion […] überleben«, und in der Folge »unzeitgemäß und unsinnig handeln« (Bourdieu & Wacquant 2006: 164). Auf der anderen Seite birgt insbesondere eine dauerhafte und gleichmäßige Änderung der Umstände habitustransformatives Potenzial. Die Veränderung sozialer Praxis aufgrund der Diskrepanz zwischen Kontext und Habitus ist jedoch nur eine unter mehreren Möglichkeiten (Suderland 2009). Eine in Bourdieus
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Arbeiten mindestens ebenso große Rolle spielt die ›antizipierende Anpassung des Habitus‹, etwa im Falle von Bildungsaufstiegsstrategien oder distinktiven Geschmacksverlagerungen (Bourdieu 1987), die eine Veränderung der Praxis bedingen (ohne dass dies zugleich auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Machtrelationen bedeuten muss). Neben dem Aufeinandertreffen von Akteur und einem ihm ungewohnten Kontext oder der Antizipation kontextueller Veränderungen sind noch weitere wandelbedingende Aspekte denkbar: Auch internalisierte strukturelle Ambivalenzen, ein ›flexibler Habitus‹ (Rosenberg 2011) oder die Herausbildung habitueller Strategien, die zu unkonventionellem Handeln disponieren, können eine Transformation von Praxisformen hervorrufen. Eine solche Anlage zu selbsttransformierendem Handeln verweist auf Aspekte einer spezifischen Organisation habitueller Dispositionen, diese findet allerdings in den Studien Bourdieus kaum Berücksichtigung. Zwar wird sie teilweise analytisch mitadressiert – etwa im Falle des ›gespaltenen Habitus‹ (Bourdieu 2002; Bourdieu & Wacquant 2006) oder hinsichtlich der Herausbildung einer flexiblen Haltung im Umgang mit Veränderung (Brake & Kunze 2004). Eine eingehendere Analyse etwa der Selbstreferentialität oder -reflexivität habitueller Dispositionen ist jedoch eher selten. Dies hat nachvollziehbare konzeptionelle Gründe: Denn der Habitus ist als Analysekonzept »operational und braucht nicht weiter bestimmt zu werden« (Rehbein 2006: 91)1 . Für eine soziologische Perspektive, die soziale Praxis als Basiskategorie annimmt, ist das nur konsequent, es bilden sich allerdings dort blinde Flecke, wo es um die Bedingungen, Formen und Effekte einer flexiblen Haltung, die Auswirkungen habitualisierter Selbstbezüglichkeit oder eines internalisierten ›kreativen Imperativs‹ geht (Bröckling 2004b). Denn schließlich können sich auch Praxisformen strukturell »dahingehend unterscheiden, ob sie eine resolute Reproduktion ihrer selbst oder aber beispielsweise eine Selbsttransformation verlangen […, und dies] hängt nicht zuletzt davon ab, welche kulturellen Codes in das jeweilige know how-Wissen, das alltägliche Verstehen« und die habituellen Strategien der Akteure eingelassen sind (Reckwitz 2004: 49). Zwar kann auch das kreativste und abwegigste Handeln als Effekt spezifischer habitueller und damit sozialer Strukturen erfasst werden, die praktische Veränderungen bedingen, deren Reichweiten nicht unbedingt abzusehen sind. Um diesen Aspekt genauer betrachten zu können, muss jedoch das analytische Interesse, welches mit dem Akteursbegriff insbesondere auf die Hervorbringung von Praxis auf der Basis habitualisierter Handlungsstrukturen fokussiert ist, auf die Aneignungen, Ordnungen und Ambivalenzen der Bündel praktischen Wissens ausgeweitet werden. Dieses weitere Akteursverständnis ist mit dem Habitusbegriff zwar angelegt und in Teilen bearbeitet worden (vgl. z.B. Bourdieu 1987; Brake 2006a). Meines Erachtens ist jedoch ein anderes Begriffskonzept aus dem praxistheoretischen Spektrum insbesondere geeignet auf die Relationierung des praktischen Wissens, das ›im Akteur‹ zusammenläuft, scharf zu stellen: Der Begriff des Subjekts, bzw. der Subjektivierung.
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Für Boike Rehbein (2006: 90) zeigt sich dieses Verständnis des Habituskonzepts insbesondere in den »geradezu allergische[n]« Reaktionen »[o]rthodoxer Anhänger Bourdieus […] auf Versuche, seine Theorie um eine Sozialisationstheorie zu ergänzen«.
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
Subjekt Während ›Akteur‹, als gängige Übersetzung des von Bourdieu (franz.) und Giddens (engl.) genutzten Begriffs ›agent‹, ein fester, wenn auch eher schwach definierter Bestandteil insbesondere des von soziologischer Seite ausgearbeiteten praxistheoretischen Begriffsinventars darstellt (Bongaerts 2011), wird der im philosophischen Diskurs traditionsreiche Begriff des Subjekts zunächst vor allem von Foucault und Butler in praxistheoretisch anschlussfähiger Weise ausgearbeitet. Andreas Reckwitz (2008d, 2016b) und Thomas Alkemeyer (2013) steuern jeweils Vorschläge bei, die den poststrukturalistisch-philosophisch konstituierten Subjektbegriff systematisch als praxistheoretisch-soziologische Analysekategorie erschließen2 . Im Grunde setzen beide Begriffskonzepte – Akteur und Subjekt – an der Frage an, wie in kulturellen Kontexten Körper als soziale Einheiten praktisch hervorgebracht werden, die wiederum in einer spezifischen Form Praxis produzierenden. Auch ›Subjekt‹ ist dezentriert gedacht und lässt sich als historisch und kulturell spezifisches Bündel praktischen Wissens fassen, unterscheidet sich in dieser Hinsicht also nicht vom Begriff des Akteurs (Reckwitz 2003, 2016b). Und ›Subjekt‹ markiert ebenfalls eine »aktive Schaltstelle […], keineswegs aber einen souveränen Protagonisten« des sozialen Geschehens (Bublitz 2008b: 294). Während der Akteursbegriff sich aber vor allem auf das sozial konstruierte Handlungsvermögen Handelnder bzw. die praxiskonstitutive Qualität des Denkens, Wahrnehmens und Handelns bezieht, zielt der Subjektbegriff auf die Frage, wie und auf welch unterschiedliche Weise in einer Gesellschaft Körper als Subjekte praktisch produziert werden, welche Selbstverhältnisse dabei hervorgebracht werden und wie sich diese wiederum auf die Praxis auswirken. Akteurs- und Subjektbegriff konterkarieren sich entsprechend nicht wechselseitig, sondern stehen vielmehr in einem komplementären Verhältnis: Ausgehend von einer Schnittmenge gemeinsamer sozialtheoretischer Grundannahmen setzen sie unterschiedliche analytische Schwerpunkte, wobei die Fragen des einen auch mithilfe des anderen Konzepts durchaus bearbeitbar wären. Die begriffliche und konzeptuelle Differenzierung ist meines Erachtens jedoch fruchtbar, um die beiden unterschiedlichen Fluchtpunkte zu kennzeichnen, die mit einer praxistheoretischen Perspektive hinsichtlich der Einbindung des Menschen in das sozia2
Die unterschiedlichen konzeptionellen Ausrichtungen des Akteur-/Habitus- und des Subjektbegriffs sind einerseits auf das jeweilige disziplinäre Interesse der Theoretiker*innen zurückzuführen. Wird darüber hinaus nach einer Erklärung für die unterschiedliche Gewichtung der Reproduktion bzw. des Wandlungspotenzials gesucht, ist ein Verweis auf die bereits erwähnte ›Empiriegeladenheit‹ und den impliziten Fallbezug von Theorien angebracht (Hirschauer 2008). Reckwitz (2004) hat diesen Aspekt in einem Vergleich der Theorien Bourdieus und Butlers herausgearbeitet und kommt zu dem Schluss, dass die beiden Autor*innen »zu konträren Grundannahmen bezüglich der Routinisiertheit oder Unberechenbarkeit von Praktiken kommen, indem sie insgeheim sehr unterschiedliche, sehr spezifische kulturelle Praxiskomplexe kurzerhand zu allgemeingültigen Normalfällen erklären« (Reckwitz 2004: 41). Damit sind die jeweiligen Analysekonzepte jedoch nicht obsolet, vielmehr zeigt sich hier die Stärke eines praxistheoretischen Instrumentariums, durch dessen Reduktion auf sehr basale konzeptuelle Prämissen es möglich ist, die Tendenz zur Reproduktion nicht als »allgemeines Merkmal einer ›Logik der Praxis‹« zu verstehen, sondern als empirisch auftretenden Effekt »sehr spezifische[r] kulturelle[r] Codes« zu begreifen (Reckwitz 2004: 49).
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le Geschehen analytisch gesetzt und auch verschränkt werden können. Und vor allem hängen mit dem Subjektbegriff weitere konzeptionelle Überlegungen zusammen, die insbesondere für eine praxeologische Erforschung sozialen Wandels bedeutsam sind. Mit Foucault gesprochen hat ›Subjekt‹ »zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft.« (Foucault 2005b: 245) Durch den Subjektbegriff wird der Foucaultsche Machtbegriff also in eine spezifische Ausrichtung und analytische Nutzung versetzt: Das weltproduzierende Potenzial praktisch hervorgebrachter Machtrelationen, die machtvolle Differenzierung der Dinge bzw. Objektivierung dieser Unterscheidungen, stellt Subjekte in einem Machtverhältnis zueinander her, welches in der Bestimmung dessen, was sie sind/nicht sind besteht. Beide Aspekte, das Unterworfen sein und die Bindung an eine Identität, können daher nicht ohne den jeweils anderen gedacht werden. Subjektivierung (bzw. bei Butler: Subjektivation) bezeichnet dann entsprechend »den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung.« (Butler 2001: 8) Sie vollzieht sich in sozialer Praxis und entlang historisch und räumlich spezifischer Subjektivierungsformen, die sowohl den Prozess als auch das Produkt bestimmen. Mit einem Analysefokus, der die Subjektivierung ins Zentrum stellt, lassen sich dann »[a]lle sozialen Praktiken, welche die gesellschaftliche und kulturelle Realität ausmachen, […] unter dem Aspekt betrachten, welche Formen des Subjekts sich in ihnen bilden. […] Praktiken unter dem Subjektaspekt zu betrachten, bedeutet zu fragen, in welcher Richtung sie ›subjektivieren‹, das heißt, welche Dispositionen eines zugehörigen Subjekts sie nahe legen und über welche Wege ihnen diese Modellierung eines entsprechenden Körpers, eines Wissens, einer Psyche gelingt« (Reckwitz 2016b: 72). Hier wird die große Nähe zwischen den Analysekategorien ›Subjekt‹ und ›Habitus‹ und zugleich die markante Akzentuierung eines Analyseinteresses, das auf Subjektivierungen bzw. Subjektformen fokussiert ist, deutlich: Der Subjektbegriff ist auf das kulturspezifische, praktisch konstituierte (implizite) Wissen der Menschen über sich selbst gerichtet, welches in jedweder sozialen Praxis (re-)produziert wird. Praxis wird dann hinsichtlich der »spezielle[n] Techniken, welche die Menschen gebrauchen, um sich selbst zu verstehen« untersucht (Foucault 1993: 26)3 . Diese produzieren bestimmte Subjektformen etwa eine spezifische Form von Männlichkeit oder Unternehmertum, die wiederum in ganze Subjektkulturen eingelagert sind, d.h. in »Ensembles von Praktiken und Diskursen, […] die eine bestimmte Subjektform oder ein ganzes Tableau miteinander verbundener Subjektformen voraussetzen und produzieren« (Reckwitz 2016b: 73).
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Foucault (1993: 27) unterscheidet vier Technologien, vier technische Dimensionen der Praxis, die »soweit es ihr Funktionieren betrifft, nur selten voneinander zu trennen sind«, die jedoch mit einer je spezifischen praktischen Vernunft und bestimmten Formen der Herrschaft verbunden sind: (1) ›Technologien der Produktion‹, (2) ›Technologien von Zeichensystemen‹, (3) ›Technologien der Macht‹ und (4) ›Technologien des Selbst‹.
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
Im Ensemble spezifischer Verhandlungs-, Finanzierungs-, Führungs- und Organisationspraxen, werden also nicht nur Verträge, Kapitalverschiebungen, Mitarbeitergespräche, wird nicht nur eine Unternehmung produziert, sondern auch – entsprechend der spezifischen Praxismodi – eine risikofreudige, idealistische, verschlagene oder klassische Unternehmerin. Soziale Praxis bildet also immer auch historisch-kulturell spezifische Subjekte. Eine zentrale Rolle spielt dabei die räumlich-materielle Kontextualisierung der Subjektivierung: Die Subjektwerdung setzt an den Körpern an und bildet an/in ihnen das praktische Wissen über die Welt und über das Selbst etwa durch Kleidung und Gegenstände, die bestimmte Haltungen und Bewegungen forcieren, Trainings- und Bildungspraktiken, die ein bestimmtes Know-how einschreiben, Rhythmisierungen, die ein Zeitgefühl und einen Sinn für Abfolgen entstehen lassen, symbolisch-reelle ›Parzellierungen‹ des Raums, die Welt und Subjekte sinnhaft-machtvoll ordnen (Foucault 1994, 2015). Auf diese Weise bilden sich nicht nur Habitusformen, die die Akteure befähigen, sich in einer bestimmten Weise an der Hervorbringung sozialer Praxis zu beteiligen, sondern auch Subjektformen als ein implizites und explizites Wissen darüber, was und wie Menschen sind. Subjektformen können sich nun dahingehend unterscheiden, in welchem Ausmaß sie eine innere Instanz des Selbst, ein ›Ich‹ entwerfen (Riedel 1979) und in welchem Ausmaß dieses ›Ich‹ bei der Gestaltung der Welt eine Rolle spielt – inwieweit es autonom gedacht wird. Moderne Diskurse entwerfen Subjekte – mehr oder weniger ausgeprägt und in unterschiedlicher Form – als autonome Gestalter*innen ihrer Selbst und ihrer Welt (Foucault 1990). Bei der Analyse moderner Subjektformen kann daher ›Technologien des Selbst‹ eine besondere Aufmerksamkeit beigemessen werden (Foucault 1993). Dabei handelt es sich um Technologien, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit« etc. erlangt (Foucault 1993: 26). Technologien des Selbst dürfen nicht als Selbstfindungstechniken missverstanden werden, sondern sind als Praktiken der Produktion spezifischer Formen von Subjekten zu verstehen, die eine deutliche Selbstreferentialität aufweisen. Identität als ›identifizierende Selbstinterpretation‹ ist entsprechend ein Teilaspekt des praktisch generierten Subjekts, wobei mit unterschiedlichen Formen der Subjektivierung auch unterschiedliche Formen des Selbstverhältnisses sowie der Selbstthematisierung einhergehen (Reckwitz 2016b). Hinsichtlich der Analyse sozialer Praxis und ihrer Wandlungsprozesse ist dieser Subjektfokus weit mehr als ein ›special interest‹ der Praxeologie. Die Fokussierung jener Wissensbündel, die ein Subjekt konstituieren, ermöglicht erstens eine differenziertere Betrachtung der Effekte, die sich aus dem Aufeinandertreffen und Verkreuzen unterschiedlicher Wissensordnungen in einer Subjektform ergeben. Denn letztere können durch Interferenzen unterschiedlicher kultureller Codes gekennzeichnet sein, sodass sich ›immanente Widerspruchsstrukturen‹ ergeben (Reckwitz 2016b), die sich wiederum auf die Stabilität von Praxisformen auswirken4 . Die von Homi Bhabha (2000) her4
Im Kosmos des Habituskonzepts sind solche internalisierten Ambivalenzen mit dem Verweis auf einen ›gespaltenen‹ oder ›zerrissenen‹ Habitus markiert (Bourdieu 2002). Davon abgesehen, dass
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ausgearbeitete ›Hybridität‹ von Subjekten ist ein Beispiel für solchermaßen interferierende kulturelle Codes. Zweitens können Emotionen, Gemütsregungen und mithin Temperamente gezielter analytisch einbezogen werden, die keineswegs als innerlich produzierte Charaktereigenschaften, sondern als soziale Praxis bzw. affektiver Aspekt einer Praxis zu verstehen sind. Als Praxis begriffen, sind Affekte zugleich äußerlich und innerlich: »›außen‹ im Sinne sozial intelligibler Emotionszeichen, ›innen‹ im Sinne eines subjektiven Erregungszustandes des Körpers« (Reckwitz 2016d: 106). Affekte wie Wut oder Melancholie können nun als Effekt von Subjektivierungen auftreten, etwa wenn reflexiv eine Diskrepanz zwischen einem diskursiven Ideal und ›eigenen‹ Dispositionen produziert wird (Butler 1997b). Die ›Psyche‹ wird entsprechend über das Subjektkonzept als soziale, historisch-kulturell spezifische Kategorie praxisanalytisch integrierbar. »Some psychoanalytic theorists of the social have argued that social interpellation always produces a psychic excess it cannot control. Yet the production of the psychic as a distinct domain cannot obliterate the social occasion of this production. The ›institution‹ of the ego cannot fully overcome its social residue, given that its ›voice‹ is from the start borrowed from elsewhere, a recasting of a social ›plaint‹ as psychic self-judgment.« (Butler 1997b: 198) Dies ist insofern fruchtbar, als somit auch emotionale Aspekte, die sowohl Bedingung als auch Effekt eines sozialen Wandels sein können, praxeologisch in den Blick kommen. So arbeitet etwa Alain Ehrenberg (2004) heraus, inwiefern die Ausbreitung der Depression mit der verstärkten Subjektivierung von Selbstsorge, -optimierung sowie -steuerung zusammenhängt und entsprechend als psychische ›Krankheit der Verantwortlichkeit‹ in Erscheinung tritt: »Depression geht Hand in Hand mit der Demokratisierung des Außergewöhnlichen; sie ist eine Begleiterscheinung der Forderung, nur man selbst zu sein, die unseren gegenwärtigen Begriff von Individualität wesentlich bestimmt.« (Ehrenberg 2012: 54) Drittens ist für die Analyse sozialen Wandels von Interesse, dass bestimmte Subjektformen in spezifischer Weise die Möglichkeit der Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen integrieren. Dabei können unterschiedliche Aspekte in den Blick genommen werden: Reckwitz (2016b: 78) verweist etwa mit Derrida, Laclau und Butler darauf, »dass Subjektkulturen regelmäßig die Verwerfungen eines kulturellen Anderen enthalten, dass mit der Repräsentation dieses Außens jedoch kulturelle Alternativen präsent gehalten werden, die in ihrer Mehrdeutigkeit zum Gegenstand einer destabilisierenden Faszination werden können«. In diese Richtung zielt auch eine Analyse des Kontingenzbewusstseins, spezifischer Wirklichkeitsverständnisse dieser Begriff deutlich negativ konnotiert ist, zeigt sich hier besonders deutlich, dass mit dem Subjektkonzept (und korrespondierenden Konzepten wie Selbsttechnologien, Subjektivierung etc.) eine sehr viel elaboriertere Rekonstruktion der Verkreuzung internalisierter Strukturen erfolgen kann als mit dem verstärkt auf die Rekonstruktion der Beziehung von Strukturiertheit und Strukturierung internalisierter und objektivierter Strukturen abzielende Habituskonzept. Zudem deutet einiges darauf hin, dass das Konzept des ›gespaltenen Habitus‹ von Bourdieu eingeführt wird, um spezielle internalisierte Strukturambivalenzen begrifflich zu fassen, die sich im Zusammenspiel von Trajektorie bzw. antizipierter Trajektorie und (z.T. aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ›verschobener‹) relationaler Positionierung ergeben.
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
und Selbstproblematisierungen also, die Handlungsspielräume, Selbstwirksamkeitsvorstellungen, die Relevanz des Zufalls etc. umreißen (Holzinger 2007; Makropoulos 1997; Vogt 2011). Zudem können Subjektformen auch Imperative der Selbst- und/oder Welttransformation enthalten – wie etwa die Selbstoptimierungs- oder Kreativitätspostulate neoliberaler Subjektkulturen (Bröckling 2004b; Rose 2000a). Grundsätzlich scheinen viele moderne Subjektivierungsformen von der »Konstruktion des Selbst als reflexives Projekt« geprägt zu sein, die darin besteht, unter gebotenen Strategien und Alternativen eine eigene Identität ausfindig zu machen, sowie von einem »Interesse an Selbstverwirklichung«, d.h. einer positiven Aneignung sozialer Kontexte, zeugt (Giddens 1996: 155). Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass sich die relationale Konstitution der praxeologischen Analysekategorie ›Subjekt‹ in einer Weise verändert, die letzteres nun als autonome, frei gestaltende Entität des Sozialen einbezieht. Selbstverwirklichung und Identitätssuche bilden vielmehr ihrerseits soziale Möglichkeitsräume der Subjektkonstitution, das heißt, sie bilden umgekehrt soziale Zwänge, die ein ›Anderssein‹ erschweren und verunmöglichen. Und das heißt schließlich auch, dass Formen der Individualität, Nonkonformität und Autonomie bei weitem nicht so individuell, unkonventionell und autonom sind, wie sie alltagspraktisch erscheinen bzw. wie es das subjektbildende Wissen impliziert. Dennoch: Für die praxeologische Erforschung sozialen Wandels ist der Blick auf die subjektivierten Veränderungsspielräume aufschlussreich, da diese erstens Praxisformen potenziell destabilisieren, zweitens tatsächlich Wandelimpulse setzen bzw. in Bezug auf bestimmte Wandlungsprozesse katalytisch wirken können und somit drittens eine Möglichkeit bieten, die Modi praktischen Wandels analytisch genauer zu erfassen, denn dieser ist nicht grundsätzlich auf bestimmte Subjektkulturen angewiesen, ist aber der Form nach durch sie bedingt. Der Subjektbegriff ermöglicht es also, einerseits Bedingungen sozialen Wandels genauer zu untersuchen, andererseits bildet er einen Fluchtpunkt der Beobachtung sozialen Wandels, denn dieser schlägt sich nicht nur in veränderten Praxisformen nieder, sondern auch in entsprechend veränderten Bedingungen der Praxis, die zugleich deren opus operatum sind. An diesem Punkt lohnt es, auf einen Aspekt des Akteurs- und Habituskonzepts Bourdieus zurückzukommen, der im Rahmen des Subjektkonzepts von Bulter, Foucault und der hieran anschließenden Governmentality Studies vernachlässigt wird: Bourdieus Perspektive ist auf die Frage ausgerichtet, wie sich Regelmäßigkeiten des Habitus (oder in der Erweiterung des konzeptionellen Portfolios: des Subjekts) in bestimmten sozialen Gruppen herausbilden und inwiefern sich diese Regelmäßigkeiten auf die Reproduktion (oder auch den Wandel) sozialer Herrschaftsverhältnisse auswirken (Bourdieu 1987, 1997a). Jene Ansätze, die das Subjektkonzept nutzen, fragen danach, welches Wissen eine Subjektform konstituiert, welches Postulat über das Selbst hierin eingelagert ist bzw. »auf welche Weise es seine Wirkung entfaltet« (Bröckling 2007a: 10). Ausgelassen hingegen werden Fragen nach der empirischen Wirkmacht eines spezifischen Subjektwissens, nach dessen gesellschaftlicher Verbreitung, nach regelmäßigen Unterschieden in Form, Verinnerlichung, Veränderung oder hinsichtlich der emotionalen Effekte. Das heißt, bei der Erforschung von Subjektformen geht es gemeinhin »nicht um die Rekonstruktion subjektiver Sinnwelten und Handlungsorientierungen oder Verschiebungen in der Sozialstruktur« (Bröckling 2007, S. 10).
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Einer praxeologischen Wandelforschung kann es aber nicht nur um die Frage nach der Veränderung von Praxisformen, Subjektkulturen und korrespondierenden Regierungstechniken gehen. Sie muss über die hierin eingelagerten machtvollen Potenziale hinaus auf die empirischen Konsequenzen für die Realitäten der Akteure gerichtet sein und diese sind nicht gleichförmig, aber in ihrer Differenziertheit auch nicht zufällig. Die Bedingungen dieser regelmäßigen Unterschiede und ihre Effekte analytisch zu erfassen, ist eine große Stärke der Perspektive Bourdieus: »In keinem der anderen Ansätze [gemeint sind hier die praxistheoretischen Perspektiven von Foucault, Butler und Latour, J.E.] existiert eine analytische Kategorie, die derart geeignet wäre, soziale Gruppen zu differenzieren. Dass die Akteursgruppen bei Bourdieu selbst, seiner spezifischen analytischen Absicht folgend, auf homogene Klassen reduziert werden, ist dabei eine nicht notwendige konzeptionelle Ausgestaltung des Habitusbegriffs. Dieser kann vielmehr ein wertvolles Instrument für die Analyse von Praxisgemeinschaften bilden, die sich anstelle von homogen konstituierten Klassen auch als kleinere, nach anderen Gesichtspunkten zugeschnittene Einheiten vorstellen lassen.« (Schäfer 2013: 346) Die praxeologische Erforschung sozialen Wandels richtet sich mit ihrem vielfältigen, nur auf den ersten Blick redundant wirkenden Instrumentarium, auf mehr als den bloßen Wandel von Praxisformen, denn der Wandel von Praxisformen bedeutet wesentlich mehr als ein schlichtes ›Anderstun‹ der Dinge.
Feld Das Feld als ein Gefüge ›der Sache nach zusammenhängender Praxiskomplexe‹ (Reckwitz 2006: 62), (re-)produziert ein Netzwerk von Unterscheidungen und Bedeutungen in Form von Institutionen, Dingen, Diskursen, aber auch von implizitem Wissen und habituellen Dispositionen. Der Feldbegriff kann insofern als elaboriertes Analyseinstrumentarium für praktische Kontexte verstanden werden. Nur im Grenzfall ist Praxis ein reibungsloses Zusammenspiel von einem über die Zeit gleichbleibendem Kontext und einem ausschließlich aus diesem Kontext hervorgegangenen Akteur, das »fast wundersam[e] Zusammentreffen von Habitus und Feld, von einverleibter und objektivierter Geschichte, das die fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen ermöglicht. Als Ergebnis der Spielerfahrung, also der objektiven Strukturen des Spielraums, sorgt der Sinn für das Spiel dafür, daß dieses für die Spieler subjektiven Sinn, d.h. Bedeutung und Daseinsgrund, aber auch Richtung, Orientierung, Zukunft bekommt.« (Bourdieu 1993c: 122; H.i.O.) Kontext ist also für das Handeln der Akteure und mithin für soziale Praxis konstitutiv – und zwar nicht nur im (theoretischen) Grenzfall einer deckungsgleichen Übereinstimmung von internalisierten und objektivierten Strukturen, denn aus vergangenen Praxiszusammenhängen bildet sich das explizite und implizite Wissen der Akteure und die situativen Zusammenhänge bilden den Möglichkeitsraum für den Modus der Beteiligung an einem Praxisvollzug.
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Nur im Grenzfall kann von einem Aufeinandertreffen deckungsgleicher Habitus und Kontexte ausgegangen werden. Erstens bilden sich habituelle Dispositionen gemeinhin nicht in ausschließlich einem Kontext (z.B. in einem einzigen Feld) aus. Akteure sind zumeist in mehrere Felder eingebunden und zudem stellt sich die Frage, ob Felder tatsächlich die einzige Form komplexer kontextueller Praxiszusammenhänge darstellen – ich komme hierauf später zurück. Das bedeutet, die Akteure sind habituell bei weitem nicht so feldspezifisch homogen produziert, wie es für den angeführten Grenzfall notwendig ist. Zweitens sind die Sinnzusammenhänge eines Feldes aufgrund der flexiblen, unscharfen Konstitution sozialer Praxis über die Zeit keineswegs stabil. In Feldern finden immer Sinnverschiebungen statt: Etwa werden neue Gegenstände oder Stile erfunden, die zwar ihren Ursprung ohne Zweifel in vergangener Praxis haben, aber dennoch zu Diskordanzen zwischen Kontext und Habitus führen können. Schließlich ist drittens der Struktur und der Logik sozialer Felder ein hoch dynamisches Moment immanent. Dies hängt mit den Machtrelationen, die in sozialer Praxis gebildet werden, zusammen und soll im Folgenden näher betrachtet werden. Bourdieu bezieht den Feldbegriff auf moderne Gesellschaften, um dem empirischen Umstand analytisch Rechnung zu tragen, dass diese – neben umfassend verbreiteten Praxisformen und einem geteilten common sense – auch soziale Sphären integriert, die relativ autonom existieren. Anders als funktionalistische Differenzierungstheoretiker*innen, die den gesamtgesellschaftlichen Zweck der spezifischen strukturellen Produktion eines Teilbereichs bzw. Systems zu analysieren suchen, steht für Bourdieu die jeweilige praktische Eigenlogik eines Feldes im Zentrum. Dies macht nachvollziehbar, warum Bourdieu die Feldtheorie an Bereichen der kulturellen Produktion (Literatur, Religion, Wissenschaft) entwickeln und gemeinhin zentrale Bereiche gesellschaftlicher Differenzierung wie die Ökonomie eher vernachlässigen konnte (Hillebrandt 2009b; Krais & Gebauer 2002). Vor allem aber zeigt es, dass das Feldkonzept auf etwas anderes zielt als auf den Entwurf einer Theorie sozial differenzierter Gesellschaften. Soziale Felder ermöglichen die Analyse von Praxiskomplexen, die durch ein spezielles objektiviertes, zum Teil implizites Wissen miteinander verbunden sind. Dieses Wissen – Unterscheidungen, Relevanzierungen, Sinnverknüpfungen, aber auch know how – ermöglicht nicht nur die Hervorbringung feldspezifischer Praxis, sondern auch die machtvolle Positionierung der in die betreffenden Praxiskomplexe eingebundenen Akteure zueinander. Auf diese Weise können sehr unterschiedliche Gefüge als Felder analysiert werden, beispielsweise das Feld der universitären Volkswirtschaftslehre (Sander 2013) als Ausschnitt des akademischen Feldes, Institutionen wie Professionen (Schwarz 2016) oder Ministerien (Krähnke 2012), aber auch Orte der kulturellen und/oder ökonomischen Produktion, wie das Feld der Bio-Produkte (Suckert 2015) oder des Weins (Schenk & Rössel 2012) und schließlich raumzeitlich hochspezifische Gebilde wie das Feld der Malerei in Berlin 1871-1899 (Götz 2012). Ein soziales Feld zeichnet sich dadurch aus, dass es nach relativ eigenständigen Regeln organisiert ist und in einer relativ eigensinnigen Form Interessen und auch Interessensgegenstände produziert. Weder der Regel-, noch der Interessensbegriff sind dabei utilitaristisch zu verstehen, sondern der Spielmetapher zugeordnet, die Bourdieu nutzt, um das Feldkonzept zu skizzieren (Bourdieu & Wacquant 2006: 127ff.): »Interesse [in einem ersten Sinne; P.B. ebd.] heißt ›dabeisein‹, teilnehmen, also annehmen, daß
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das Spiel das Spielen lohnt und daß die Einsätze, die aus dem Mitspielen und durch das Mitspielen entstehen, erstrebenswert sind: es heißt, das Spiel anzuerkennen und die Einsätze anzuerkennen.« (Bourdieu 1998b: 141) Um diesen Glauben an die Sinnhaftigkeit eines spezifischen Spiels zu bezeichnen, setzt Bourdieu den Begriff ›Illusio‹ ein. Damit Akteure sich am sozialen Spiel eines Feldes beteiligen können, müssen sie nun nicht nur an dessen Wert und Wertigkeiten glauben, sondern auch Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsstrukturen aufweisen, die zur Beteiligung an der Hervorbringung feldspezifischer Praxis befähigen. Je nach Feld muss bereits zum Zeitpunkt des Eintritts eine relativ hohe habituelle Passung bestehen, gemeinhin sammeln Feldakteure jedoch über die Zeit Erfahrung, eignen sich Wissen, know how und auch Artefakte an, die für die Praxis im Feld relevant sind. Da Felder praktisch produziert sind, weisen sie keine bestimmten bzw. bestimmbaren Grenzen auf. Sie sind vielmehr als ›Kraftfelder‹ zu verstehen (Bourdieu 1985a; Bourdieu & Wacquant 2006: 132), die sich über ihre praktischen Relationen definieren. »Ganz allgemein gesprochen endet ein Feld […] dort, wo die Feldeffekte aufhören, wo also die Einsätze, die ›Regeln‹ und die Illusio des speziellen Feldes nicht mehr gelten.« (Rehbein & Saalmann 2009: 101) Die Vorstellung eines Feldes, als Bündel ordnender und relationierender Kräfteverhältnisse, aber auch die Spielmetapher weisen auf den zweiten wichtigen Analysefluchtpunkt der Feldtheorie hin: Felder sind praktisch hergestellte Machtrelationen, die dem Feld seine Struktur verleihen. Das heißt, ein Feld muss auch als Raum von Positionen verstanden werden, »deren Eigenschaften wiederum von ihrer Position in diesem Raum abhängen und unabhängig von den (partiell durch sie bedingten) Merkmalen ihrer Inhaber untersucht werden können« (Bourdieu 1993d: 107). Die Positionen und mithin die Struktur eines Feldes sind somit von einer flexiblen, Veränderungen unterworfenen Stabilität und ebenso unscharf bestimmt wie die Logik der Praxis, die sie produziert. Dass die Positionen ihre Eigenschaften aus der Position bzw. genauer ihrer relationalen Positionierung beziehen, meint, dass sie sich in den feldspezifischen praktischen Unterscheidungen und Bedeutungszuschreibungen, also im speziellen (praktischen) Wissen eines Feldes, konstituieren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt herrscht in einem Feld eine spezifische (implizite und umkämpfte) Übereinkunft, was innerhalb seines Wirkungsbereichs wichtig/unwichtig, legitim/illegitim, selbstverständlich/besonders, wertvoll/wertlos etc. ist, welche Dinge getan werden müssen, welche Institutionen, Funktionsstellen und Akteure (in einem formalen Sinne) hierzu vonnöten sind und wie relevant sie für die Produktionen des Feldes sind. Ein analytischer Standpunkt, der nicht nur die Form der feldspezifischen Praxis, sondern auch deren machtvolle Aspekte integriert, macht nun die feldbedingten habituellen Dispositionen, relevante Artefakte und personalisierbare Institutionen wie Bildungstitel, Ehrenwürden, formale Mitgliedschaften etc., aber auch praktische Zugehörigkeiten und soziale Vernetzungen der Akteure als Kapital rekonstruierbar. Dieses Kapital können Akteure einsetzen, um sich im Feld zu positionieren. Die Positionen eröffnen unterschiedliche Zugänge zu wertvollen Ressourcen, Anerkennung, Teilhabe und verschiedenen Formen feldspezifischen und -unspezifischen Kapitals, sie sind daher aus Sicht der Akteure unterschiedlich attraktiv – wobei auch Attraktivität durch die Akteure mitproduziert wird und somit keine (vollständige) objektive Gleichmäßigkeit aufweist. Die Möglichkeiten einer Positionierung entsprechen wiederum dem Potenzial
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der symbolischen Wirksamkeit der Kapitalien, diese muss jedoch praktisch hergestellt werden. Felder können daher auch als ›Kampffelder‹ (Bourdieu & Wacquant 2006: 132) analysiert werden, in denen sowohl die Ressourcen bzw. Kapitalien als auch die Regeln, nach denen sie verteilt sind, sowie ihre symbolische Wertigkeit praktisch verhandelt und umkämpft werden. Diese Kämpfe, die je nach Feld und Zeitpunkt der Betrachtung unterschiedlich heftig ausfallen, bilden einen analytischen Ansatzpunkt, um die Dynamik von Feldern und mithin der Kontexte sozialer Praxis, in den Blick zu nehmen. Sie begründen eine flexible Stabilität der Feldstruktur: »Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder bzw., wenn man so will, den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf der späteren Kämpfe bestimmt. Diese Struktur, die der Ursprung der auf ihre Veränderungen abzielenden Strategien ist, steht selbst ständig auf dem Spiel: Das Objekt der Kämpfe, die im Feld stattfinden, ist das Monopol auf die für das Feld charakteristische legitime Gewalt (oder spezifische Autorität), das heißt letzten Endes der Erhalt bzw. die Umwälzung der Verteilungsstruktur [und der Wertigkeit, J.E.] des spezifischen Kapitals.« (Bourdieu 1993d: 108; H.i.O.) In soziale Felder sind also praxisstabilisierende Strategien jener Akteure, die an der Aufrechterhaltung der Feldstruktur interessiert sind, wie auch die destabilisierenden Strategien jener Akteure, die eine Umstrukturierung erreichen wollen, eingelassen: Ein Feld ist also zugleich »ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung dieser Kräfteverhältnisse. In diesen Kämpfen setzt jeder die Stärke ein, über die er in den Kräfteverhältnissen verfügt. Dieses Modell erklärt, warum die Dinge so sind wie sie sind, also ihre Statik, gleichzeitig aber auch, wie sie sich verändern, d.h. ihre Dynamik.« (Bourdieu 2001c: 35) Dies macht Felder für die Erforschung des Wandels sozialer Praxis aufschlussreich.
Lebensform Das soziale Feld ist nicht der einzige praxeologische Begriff, im dem komplexe Bündel von (›Spiel‹-)Regeln und relationale Akteurspositionierungen konzeptualisiert sind. Deutlich wird dies anhand der Spielmetapher, die Bourdieu analog zur Sprachspielmetapher Wittgensteins nutzt, »um das Situative, Flüssige des Habitus auszudrücken, dessen Erwerb im gebotenen Moment dazu führt, dass das Individuum ›richtig‹, d.h. den Regeln des Spiels gemäß reagiert« (Volbers 2009: 62). Wittgensteins Sprachspiele sind an praktische Kontexte gebunden und sind nur im Rekurs auf diesen zu verstehen. Das Sprachspiel umfasst nicht nur die Sprache, sondern auch die »Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist« (Wittgenstein 2003, §7) und ist immer in gemeinschaftliche Praxismodi und Handlungsweisen eingebettet; das heißt, Sprechen und Sprache sind Teil einer Lebensform (Wittgenstein 2003, §23) und die Möglichkeit der Befolgung von Regeln, das implizite Regelverständnis sowie die spontane Übereinstimmung darin, ob etwas richtig oder falsch ist, ist nicht auf eine »Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform« zurückzuführen (Wittgenstein 2003, §241). Der Lebensform-Begriff
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bezieht sich auf die Gesamtheit der Praktiken einer Gruppe, die sowohl Handlungsmuster, wie auch Schemata des Lebensvollzugs implizieren, d.h. Orientierungswissen für die Lebensführung bereithalten (Brinkmeier 1999). Auf diese Weise lassen sich Regelmäßigkeiten im Sprechen, wie auch im Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln etc., durch die Einübung in einer gemeinsamen Praxisform und durch die damit verbundene Internalisierung einer Lebensform erklären. Lebensformen bilden bei Wittgenstein also den allgemeinen Kontext des Sprechens, der den konkreten Kontext des Sprachspiels bedingt. Auch Bourdieu kennt die Lebensform als Kontext sozialer Praxis, er konzeptualisiert sie jedoch mit einem konkreteren Bezug zu historisch-räumlich spezifischen sozialen Gruppen und konzentriert sich auf relativ ausgedehnte, historisch relativ stabile geteilte Muster der Lebensführung und deren praktisch-materiellen Bedingungen: »Indem Bourdieu die Regelmäßigkeit in Wittgensteins Konzeption zu einer Disposition verfestigt und den Dispositionen einen einheitlichen Stil unterlegt, vermag er sowohl dem Subjekt wie auch der Gesellschaft eine höhere Konsistenz zu verleihen als Wittgenstein. […] Für Wittgenstein ist die Vielheit der Muster oder Lebensformen nicht weiter zu reduzieren. Bourdieu hingegen führt die Muster auf soziale Bedingungen zurück, die letztlich den Klassenfraktionen entsprechen. Jedes Muster stimmt mit den anderen Mustern überein, weil alle in derselben sozialen Umgebung erworben werden.« (Rehbein 2013: 127) Bourdieus Analysekategorie der ›Klasse‹ verweist Lage und Lebensführung aufeinander. Anders als in der marxistischen Tradition ist der Klassenbegriff daher nicht in einem engeren Sinne auf die Idee der Klassen ›an und für sich‹ bezogen, auf Akteursgruppen also, die sich nicht nur durch eine gemeinsame Klassenlage, sondern auch durch ein Klassenbewusstsein auszeichnen – wenngleich sich die soziale Realität einer Klasse eignet, um politisch zu mobilisieren und eine Bewegung zu formieren (Bourdieu 1998b). Aber Bourdieu argumentiert mit Marx, wenn er die materiellen Bedingungen zur Grundlage der spezifischen Lebensführung einer Klasse erklärt. Dabei changiert die Argumentation in der Frage, inwieweit eine ›praktische Materialität‹ gemeint ist, d.h. die Dinge und Körper, die einen Akteur umgeben und ihn relativ beständig in spezifisch sinnhafter Form in die Praxisvollzüge einbinden, oder in gewisser Weise invariante Ressourcen des menschlichen Lebens gemeint sind, worauf die Identifikation eines ›Geschmacks der Notwendigkeit‹ verweist, den jene Klassen ausbilden, die wenig besitzen (Bourdieu 1987). Diese beiden Aspekte scheinen in Bourdieus Klassenentwurf miteinander zu verschmelzen. Damit wird jedoch materiellen Ressourcen (sozusagen durch die Hintertür) ein problematisches Primat vor der Praxis zugesprochen (Reckwitz 2006). Empirisch spricht jedenfalls einiges gegen diesen Entwurf, beispielsweise der expressive, statusbezogene Konsum prekär lebender Jugendlicher, der sich an amerikanischer street culture orientiert, oder die ›armen aber sexy‹ Berliner Milieus. Reckwitz, der den Lebensformbegriff aufgreift und ebenfalls zu einer praxeologischen Analysekategorie der praktischen Lebensführung formiert, betont die umgekehrte Wirkungslogik, dass nämlich mit einer Lebensform verknüpfte Praxis und die prak-
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tisch hervorgebrachten Sinnzusammenhänge eine symbolische, die Ressourcenverteilung bestimmende Ordnung bedingt5 : »Die simultane Existenz von unterschiedlichen Lebensformen in der Kultur der Moderne ist weder als eine ›Pluralität‹ gleichberechtigter Milieus zu vereinfachen noch auf eine vertikale Differenz von Ressourcen und Klassenlagen zu reduzieren. Lebensformen sind ›ungleich‹ strukturiert, aber diese Ungleichheit ist nur sekundär eine sozialstatistische, primär vielmehr eine kulturelle Differenz, eine Differenz des kulturellen Einflusses ihrer Subjektkultur: Die Lebensformen unterscheiden sich bezüglich ihres kulturellen Stellenwerts für die gesamte Gesellschaft, das heißt die Konstellationen aller Lebensformen unter dem Aspekt, inwiefern ihr Subjektmodell über den engeren Kreis des eigenen Milieus hinaus Einfluss auszuüben vermag« (Reckwitz 2006: 69; H.i.O.). In Kombination mit einem explizit differenzierungstheoretisch eingefassten Feldbegriff entwirft Reckwitz auf Basis des Begriffs der Lebensform damit eine Theorie der praktischen Strukturierung von Gesellschaften, die Milieu- und Differenzierungstheorie aufeinander verweist – eine Verknüpfung, die er bei Bourdieu »mangelhaft« umgesetzt sieht (Reckwitz 2006: 64). Allerdings muss kritisch hinterfragt werden, inwieweit dieses Unterfangen die von Bourdieu intendierte analytische Flexibilität des Feldkonzepts einschränkt. Wie aber kann nun ›Lebensform‹ praxeologisch konzeptualisiert werden und inwiefern ist das Konzept relevant für die Analyse der Kontextbedingungen praktischen Wandels? Reckwitz definiert Lebensform als »einen koordinierten Sinnzusammenhang von Dispositionen und Codes, die von den gleichen Subjekten getragen, inkorporiert und interiorisiert werden, die die Sequenz ihrer Alltags- und Lebenszeit, d.h. die Gesamtheit ihrer Akte ausfüllen, und in denen sich Praxissegmente aus unterschiedlichen Feldern miteinander kombinieren und aufeinander beziehen« (Reckwitz 2006: 62). Anders als der Habitus- und der Subjektbegriff, ähnlich wie der Feldbegriff zielt also das Konzept der Lebensform auf die Analyse von zusammenhängenden Praxiskomplexen, die spezifische Modi des Zusammenlebens, des gemeinsamen Hervorbringens ineinander verschränkter Praxisformen organisieren und objektivieren. Dies zeichnet Lebensformen als einen allgemeinen Kontext sozialer Praxis aus, als einen die gesamte Lebensführung umfassenden praktischen Sinnzusammenhang. Wie soziale Felder sind Lebensformen sinnhafte Ordnungen, Strukturierungsformen sozialer Praxis, die dadurch, dass unterschiedliche Praktiken – des Wohnens, des Arbeitens, des Familienlebens, der Bildung – modal aufeinander verwiesen sind, einen Sinnzusammenhang schaffen und die Art und Weise bedingen, wie Akteure praktisch ihr Leben leben und wie ihre Selbst- und Weltverhältnisse sowie ihre spezifischen Realitäten beschaffen sind. In einem konkreten Praxisvollzug sind sowohl Felder als auch Lebensformen als Kontext wirksam, mehr noch: beide Kontextformen sind in ihren symbolischen Ordnungen miteinander verschränkt: »Lebensformen bilden ein Netzwerk von Praktiken 5
Das ist freilich auch ein wichtiger Aspekt der Praxistheorie Bourdieus, die er insbesondere mit der horizontalen Differenzierung des ›sozialen Raums‹ und den unterschiedlichen Kapitalformen einzuholen sucht (Bourdieu 1985b).
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(und wiederum von Diskursen und Artefakten), die zugleich als Segmente an unterschiedlichen spezialisierten Feldern partizipieren, so wie umgekehrt soziale Felder ein Netzwerk von Praktiken bilden, die zugleich als Segmente an unterschiedlichen Lebensformen partizipieren.« (Reckwitz 2006: 63) Unterschiedliche Lebensformen wie etwa die neue akademische Mittelklasse (Reckwitz 2017a), die national verwurzelte, global agierende Elite (Hartmann 2016), das in der Peripherie zusammengezogene Subproletariat (Bourdieu 1997b) etc.6 , binden unterschiedliche Praxisformen des Arbeitslebens, der Vergnügung, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Haushaltsführung usw. Nicht jede Praxisform ist in allen Lebensformen anzutreffen – nicht alle Menschen reisen, gamen, gründen Familien, arbeiten etc. und die Verteilung dieser Praxisformen ist nicht zufällig, sondern entspricht im Kern dem Modus der Lebensführung einer bestimmten Lebensform. Zudem unterscheiden sich die Modi, in denen eine Praxisform hervorgebracht wird, von Lebensform zu Lebensform (Kegelvereinsausflug, Cluburlaub, Safari, Work-and-Travel, Bildungsreise, Individualtourismus). Diese Regelmäßigkeiten setzen nicht nur spezifische Objektivationen einer Lebensform voraus, sondern auch geteilte Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einem ›Klassenhabitus‹: »Die objektive Übereinstimmung der Habitusformen der Gruppen oder Klassen bietet die Gewähr dafür, daß trotz Fehlens jeden unmittelbaren Wechselspiels und, mehr noch, jeder expliziten Abstimmung die Praxisformen und Praktiken objektiv in Einklang stehen.« (Bourdieu 1979: 177, H.i.O.) Während Felder auf einen bestimmten Gegenstand bezogen sind und sich entlang der praktischen Hervorbringung desselben konstituieren, sind Lebensformen auf die Lebensführung, d.h. auf die Ordnung der alltäglichen Praxis von Akteursgruppen, orientiert. Daher ist an Lebensformen auch die Produktion spezifischer Zeitbezüge gekoppelt: einerseits hinsichtlich der temporalen Koordination unterschiedlicher Praxiskomplexe wie Arbeit, Familie, Freundschaft, politisches, soziales, kreatives Engagement etc. (Reckwitz 2016e), andererseits, in einem diachronen Sinne, hinsichtlich des Lebensverlaufs. Zu dessen näherer Erforschung führt Bourdieu die Analysekategorie ›Trajektorie‹ ein und systematisiert auf diesem Weg die sequenzielle Betrachtung von Lebensformen. Einerseits dient der Trajektoriebegriff der vergleichenden Analyse von Lebensverläufen, andererseits zielt er aber auch auf das implizite und explizite Wissen, das eine Lebensform praktisch ermöglicht. Trajektorie bezeichnet dann in einer objektivierenden, auf Komparation ausgerichteten Perspektive die Sequenz pfadabhängiger relationaler Positionen, die Akteure, aber auch Akteursgruppen im Zeitverlauf zueinander einnehmen (Bourdieu 1990; Schwarz et al. 2019). Da diese Positionierungen praktisch hergestellt werden, ist ihnen wiederum die flexible Stabilität bzw. Dynamik praktischer Logik inhärent. Auch unterliegen sie Positionierungskämpfen, und zwar nicht nur Feldkämpfen, die zweifellos auf eine Trajektorie einwirken, etwa wenn durch eine bessere Stellung im beruflichen Feld mehr Prestige
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Ähnlich wie Bourdieu den Feldbegriff als ein Instrument zur Analyse spezifischer Relationen nicht auf einer Ebene sozialer Aggregation fixiert, sehe ich den Lebensformbegriff als Konzept, das Praxiskomplexe unterschiedlicher Reichweite zu bündeln vermag.
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und größere finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Vielmehr können sich Positionierungskämpfe auch auf die Lebensformen selbst beziehen – auf die symbolischen Wertigkeiten und die Deutungsmacht innerhalb einer Lebensform, aber auch in Bezug auf andere Lebensformen. Sowohl lebensformintern als auch lebensformenübergreifend werden die Deutungskämpfe um anerkannte Formen der praktischen Lebensführung, vor allem aber auch um den richtigen Zeitpunkt von Realisierungen geführt: Umkämpft sind dann beispielsweise Fragen der schulischen Laufbahngestaltung, der Berufswahl oder der Legitimität von Vergnügungen und Freundschaften; auch ob, wann und wie Karriere gemacht, eine Familie gegründet, Wohneigentum angeschafft wird oder welches Verhältnis zum Körper, zu Gesundheit, Autognosie, Sexualität, Körperästhetik etc. bestehen sollte, sind Gegenstände beständiger praktischer Aushandlungen. Die Positionierungskämpfe werden zusätzlich dadurch dynamisiert, dass es dabei nicht nur um die symbolische Wirksamkeit der Lebensführung geht (etwa ob das Wohnen auf dem Land, in einer Hochhaussiedlung, bei den Eltern der Lebensform angemessen ist), sondern auch umfassende soziale Unterscheidungsmerkmale wie Geschlecht, Generation, Ethnizität etc. in die Kämpfe einfließen. Diese sind innerhalb einer Lebensform mit spezifischer Bedeutung versehen, die ebenfalls praktischen Aushandlungen und Umdeutungen unterliegt. Lebensformen sind daher, bei aller Homologie und interner Anschlussfähigkeit ihrer Praxis, in sich durchaus heterogen. Und sie sind mit Subjektkulturen verknüpft, sodass sich Subjektformen und Lebensformen wechselseitig stabilisieren und destabilisieren können. Ein Wandel sozialer Praxis kann also auch mit der Veränderung umkämpfter Lebensformen zusammenhängen, mit einer praktisch vollzogenen Änderung ihrer symbolischen Ordnung – was allerdings sowohl einen institutionellen Wandel als auch eine hiermit korrespondierende Veränderung des impliziten Wissens der beteiligten Akteure voraussetzt. Insofern spielt auch die subjektive Vorstellung von der objektiv eingenommenen Position der Akteure eine zentrale Rolle (Bourdieu 1987): In diese sind nicht nur kulturelle Hegemonien hinsichtlich der Lebensführung eingelassen (Reckwitz 2006), d.h. die Durchsetzung einer bestimmten Lebenspraxis als ›gut‹, ›respektabel‹, ›erstrebenswert‹ – auch über die Grenzen der eigenen Lebensform hinaus. In ihr aktualisiert sich auch die Vergangenheit einer Lebensform: »Vermittelt über Zeiteinstellungen, determiniert der spezifische ›Neigungswinkel‹ der individuellen und vor allem kollektiven Laufbahn die Wahrnehmung von der sozialen Welt wie auch das spezifische Verhältnis zu ihr […]: tatsächlich richtet sich das Maß an Zukunftsperspektive der Individuen und Gruppen, ihre Orientierung auf das Neue, auf Bewegung, Innovation und Fortschritt – Einstellungen, die sich nicht zuletzt im liberalen Verhalten gegenüber den ›Jüngeren‹ bekunden, […] nicht weniger aber auch ihre Vergangenheitsorientierung, ihr Befangensein in sozialem Ressentiment und Konservativismus, wesentlich nach ihrer – vergangenen wie künftigen – kollektiven Laufbahn […].« (Bourdieu 1987: 710f.; H.i.O.) Wie soziale Felder sind also auch Lebensformen nicht nur analytische Kulminationspunkte, an denen sich die Veränderung sozialer Praxis beobachten lässt, sie weisen darüber hinaus Praxis stabilisierende und dynamisierende Aspekte auf.
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Der Wandel transversaler Praxismuster
Werden die im vorangegangenen Kapitel dargestellten (besonders einschlägigen) praxistheoretischen Analysekonzepte im Lichte der wandelforschungsspezifischen Interessensschwerpunkte beleuchtet, zeigt sich ein Problem: Zwar ist jedes einzelne Instrument geeignet, spezifische Aspekte der praktischen Hervorbringung sozialen Wandels detailliert zu konzeptualisieren und somit eine analytische Tiefe in die Wandelforschung einzubringen, die insbesondere unter den Prämissen des modernisierungstheoretischen Narrativs nicht erreicht werden kann. Allerdings könnte die Frage aufgeworfen werden, ob sich mit diesen Analysekategorien überhaupt erfassen lässt, was soziologisch als sozialer Wandel begriffen ist. Gezeigt werden kann der Wandel eines Feldes, einer Subjektform oder habitueller Disponierungen, aber sind Veränderungen im wissenschaftlichen Feld oder die Herausbildung einer neuen urbanen Lebensform in Berlin immer als (weitreichender) Wandel in Sozialität bzw. Gesellschaftlichkeit zu verstehen? Zwar können auch solch eng begrenzte Forschungsfoki als Wandelforschung geltend gemacht werden, das Kerninteresse der Soziologie sozialen Wandels liegt jedoch in der Erforschung jener Prozesse, deren Wirkung – praxistheoretisch gesprochen – über einzelne Habitus, Subjektformationen, Felder oder Lebensformen hinausweist. Selbst wenn nicht makrosoziologisch argumentiert wird, sozialer Wandel also begrifflich nicht auf »den Wandel von sozialen Systemen als Systeme« bezogen ist (Francis 1981: 129) oder voraussetzt, dass »sich die Strukturen der Gesellschaft, ihre Institutionen oder zentralen Werte verändern« (Abels 2009b: 10), so ist mit dem Begriff doch eine gewisse Reichweite impliziert: »Die untersuchten Sachverhalte müssen eine strukturelle Bedeutung haben – und sei es lediglich auf der Mikroebene von Gesellschaften. Was immer untersucht und erklärt wird: Gesellschaftliche Konsequenzen sollte das schon haben.« (Scheuch 2003a: 381) Praxistheoretisch kann nun die Frage danach, welche Reichweite und Konstanz eines praktischen Wandelgeschehens die Rede von sozialem Wandel rechtfertigt, mit dem Hinweis auf transversale Praxismuster bearbeitet werden: Es geht um Praxismuster, die eben nicht auf ein bestimmtes Milieu, eine konkrete Arbeitstechnik, die Handlungsroutinen in einem einzelnen Dorf etc. und auch nicht auf Subjektivierungsformen, habituelle Strukturen, Lebensformen oder Felder begrenzt sind. Transversale Muster verlaufen also in zweierlei Hinsicht ›quer‹ durch die Praxisformen: Einerseits sind sie in unterschiedlichen Feldern, Lebensformen und Habitus etc. wirksam. So ist etwa Prekarisierung insofern ein transversaler Prozess, als sie »nicht nur eine Region des gesellschaftlichen Raums [betrifft], sondern […] die soziale Reproduktionslogik insgesamt« durchdringt (Völker 2015: 133). Andererseits – und dieser Aspekt ist mit dem ersten verschränkt – verbinden transversale Muster jene Praxisbündel, die als Habitus, Feld etc. konzeptualisiert sind, analytisch in spezifischer Weise, sie verlaufen also auch quer durch die angesprochenen Analysekonzepte. Prekarisierung ist insofern auch deshalb ein transversaler Prozess, weil er homologe Veränderungen in unterschiedlichen Feldern, im (Arbeits-)Subjekt, in den Normalbiografien verschiedener Milieus, wie auch in habituellen Strategien der Alltagsorganisation auf den Begriff bringt. Wie aber lassen sich transversale Praxismuster für die empirische Analyse sozialen Wandels konzeptualisieren? Wie lässt sich beispielsweise die ›innere Form‹ bestim-
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men, die »es ermöglicht, sowohl die Gedanken des Theologen wie die Bauformen des Architekten hervorzubringen, und somit der Zivilisation des 13. Jahrhunderts ihre Einheit verleiht« (Bourdieu 1974: 143f.)? In seiner Auseinandersetzung mit Erwin Panofskys (1957) Untersuchung der Zusammenhänge zwischen gotischer Architektur und Scholastik thematisiert Bourdieu dieses Unterfangen in Abgrenzung zur ›strukturalistischen Methode‹, die sich »im allgemeinen (und das ist nicht wenig) damit begnügt, Homologien aufzustellen zwischen den verschiedenen Strukturen verschiedener symbolischer Systeme einer Gesellschaft oder Epoche und den Konversionsregeln, die den Übergang von der einen zur anderen bestimmen, wobei jede von ihnen an-und-für-sich in ihrer relativen Autonomie betrachtet wird« (Bourdieu 1974: 138). Bourdieu geht es hingegen – wie auch Panofsky – »um die Entdeckung der ›konkreten Verknüpfung‹, die die Logik und Existenz dieser Homologien erschöpfend und greifbar zu erklären vermag« (Bourdieu 1974: 138f.). Diese Verknüpfung adressiert er mit dem Habituskonzept, welches jene Regelmäßigkeiten im Denken, Wahrnehmen und Handeln definiert, die als homologe modi operandi zu erkennen sind, obschon sie zwar sinnverwandte, in der praktischen Ausformung jedoch grundverschiedene materielle und immaterielle opera operata hervorbringen können. Der Nexus sinnhafter Verknüpfungen, die ›Symbolik einer Epoche oder Gesellschaft‹, wird im Rahmen spezifischer Institutionen – in der Hochgotik insbesondere durch die Schule – in ein »sowohl individuell als auch kollektiv Unbewußtes verwandelt«, d.h. als zumeist vorreflexives Dispositionssystem inkorporiert (Bourdieu 1974: 139). Damit liefert Bourdieu eine Erklärung für die Auffindbarkeit homologer transversaler Praxismuster, die – anders als der Strukturalismus – die Basis für die Gemeinsamkeit im spezifischen, habituell bedingten Modus der Hervorbringung verortet. Das Erzeugungsprinzip zum Fluchtpunkt der »Suche nach dem geometrischen Ort aller symbolischen Ausdrucksformen, die eine Gesellschaft oder eine Epoche hervorbringt,« (Bourdieu 1974: 125) zu machen, beugt der Gefahr analytischer Willkür vor, die gerade bei der Erforschung weitreichender, transversaler Praxismuster besteht, da sie vom konkreten Praxisvollzug zwangsläufig stark abstrahieren muss. Die Frage nach der Beschaffenheit der Homologien einer Epoche, nach der Art der Entsprechung und nach Ambivalenzen, nach der Variationsbreite und Formenvielfalt, die gleichwohl einen praktischen Nexus in Körpern und Artefakten, in implizitem und objektiviertem Wissen bilden, tritt hingegen – möglicherweise gerade in der Abgrenzung zu strukturalistischen Ansätzen – in den Hintergrund. Mit Bourdieus Konzentration auf die Produktionsweise erscheinen Homologien im Schlaglicht der habituellen Erzeugungsprinzipien und dabei rückt nicht nur deren Beschaffenheit zugunsten der Hervorbringungsweise in den Hintergrund, auch herrscht trotz unbestreitbarer Dezentrierung des Akteurs eine latente Überbetonung der Analyse von Denk, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, die modus operandi und opus operatum durchwirken: Obwohl die Frage nach (der Produktion der) strukturellen Homologien zwischen gotischer Architektur und scholastischer Denkweise den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet, spielen architektonische Räume, Artefakte und Techniken der
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Scholar oder der gotischen Baumeister analytisch als Produkte des hochmittelalterlichen Habitus eine untergeordnete Rolle7 . Eine Zugangsweise, die insbesondere Form und Logik der transversalen strukturellen Gemeinsamkeiten betont, findet sich im Analyseinstrumentarium Foucaults in Form des Dispositiv-Konzepts. Im Vordergrund stehen hier Homologien, die die Grenzen zwischen anderen Konzepten, wie Subjekt, Diskurs oder Institution analytisch durchbrechen. Zur Verdeutlichung wählt Foucault ein ähnliches Beispiel wie Bourdieu: »Vergleicht man etwa das architektonische Programm der Ecole Militaire von Gabriel mit der Konstruktion der Ecole Militaire selbst: Was ist da diskursiv, was institutionell? Mich interessiert dabei nur, ob nicht das Gebäude dem Programm entspricht. Aber ich glaube nicht, daß es dafür von großer Bedeutung wäre, diese Abgrenzung vorzunehmen […].«8 (Foucault 1978: 125) Während es Bourdieu um die Frage geht, wie die (strukturierte) Produktion von Homologien in so unterschiedlichen sozialen Gebilden wie Architektur und Denksystem gelingen kann, ohne dass dahinter eine bewusste Strategie zu identifizieren wäre, rückt sich Foucault die Entsprechungen selbst in den Fokus, geht also vor allem der Logik der Homologien nach. Drei Aspekte hebt Foucault zur Explikation des Dispositiv-Begriffs hervor: »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische und philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch als sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität verschaffen. Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiven oder nicht, ein Spiel
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Meine Kritik gilt hier wohlgemerkt der Analyseperspektive, die Bourdieu mit Blick auf transversale Praxismuster entwirft, nicht seinen praxistheoretischen Grundlegungen, die sowohl Praxis – und nicht etwa den Habitus – zentrieren als auch auf die materielle, sowohl strukturierte, wie auch strukturierende praktische Konstitution sozialer Phänomene verweisen. Seine Überlegungen zu Panofskys Studie konterkarieren diese Prämissen nicht (wie etwa die Diskussion der Schule als Bedeutung und Ordnung reproduzierendes Prinzip deutlich wird), sie kommen aber in der dargelegten Zugangsweise (noch) nicht vollständig zum Tragen. Damit verliert auch der etwaige »Dualismus zwischen Diskurs und Wirklichkeit« (Jäger 2001: 76), der praxistheoretisch nicht aufrechtzuerhalten wäre, an konzeptioneller Relevanz: Basis des Dispositivs ist soziale Praxis und zwar diskursive wie nicht-diskursive, wobei deren analytische Unterscheidung im Rahmen des Dispositiv-Konzepts nicht zwingend von zentraler Relevanz ist, da es um die homologen Strukturen in der Assemblierung heterogener Elemente und um die gemeinsame strategische Ausrichtung dieser Strukturen geht. Für eine Übersicht über verschiedene Umbrüche in bzw. Lesarten und theoretische Einbettungen von Foucaults Arbeiten vgl. z.B. Burchell et al. (1991); Deleuze (1992); Kneer (1996); Reckwitz (2008b).
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
von Positionswechsel und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können. Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt vor allem darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.« (Foucault 1978: 119f.; H.i.O.) Das Dispositiv ist also nicht nur geeignet, das Gemeinsame, transversal Wirksame in verschiedenen praktischen Strukturen zu erfassen (der Dinge und Räume, der Diskurse und Institutionen – konzeptuell integrierbar sind auch habituelle Strukturen oder Felder etc.). Es wird auch in seiner relationalen Beschaffenheit analysierbar, was sowohl Licht auf die Bedeutungsvarianz der verknüpften Elemente wirft als auch auf die Dynamik und Variabilität der Verbindung (bzw. der Relationen zwischen den Elementen) abstellt. Wie alle praxistheoretischen Analysekonzepte ist das Dispositiv dabei als – um mit Bourdieu zu sprechen – zugleich strukturierende und strukturierte Struktur gedacht. Es bezeichnet »Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden« (Foucault 1978: 123). Vor allem aber wird mit dem Dispositiv-Begriff eine verbindende Logik, eine gemeinsame strategische Ausrichtung adressiert. Hierin liegt das Wesentliche der Dispositivanalyse: Es geht nicht lediglich um die Herausarbeitung eines verbindenden transversalen Praxismusters. Vielmehr stehen die Homologie erzeugende Logik, die der Verbindung ihren Charakter verleiht, sowie die Strategien zur Durchsetzung und Verbreitung dieser Logik im Zentrum des Interesses. Wie Bourdieu versteht auch Foucault diese Strategien als praktische, zwischen den Räumen, Dingen und Akteuren entstehende, die daher raumzeitlich spezifischen Anforderung entsprechen, jedoch nicht durch ein initiales Ereignis formiert werden und ohne Strateg*in auskommen: »Die Sache finalisiert sich in Bezug auf ein Ziel […,] [d]as schon als sich aufzwingendes vorgefunden wurde. […] Das Ziel existiert also, und die Strategie hat sich mit immer größerer Kohärenz entfaltet, ohne daß man ihr jedoch ein Subjekt unterstellen müßte, das die Gesetzgebung innehätte und das Gesetz in der Form eines ›Du mußt, Du darfst nicht‹ aussprechen würde« (Foucault 1978: 134f.). Zwar knüpft sich also das Dispositiv an eine historisch bestimmte Dringlichkeit (urgence), in der es definierend und ordnend wirkt und so die Problemlage praktisch erschließt, allerdings entspricht dieser Prozess nicht der Vorstellung eines exogenen Wandelimpulses, auf den ein Gesellschaftssystem reagiert, denn die dringliche Konstellation wird erst im Dispositiv selbst praktisch umrissen. Die Dringlichkeit, auf die es antwortet, gewinnt erst in der praktischen Disponierung an Kontur. Problemlagen stellen also nur insofern auch ein praktisches Problem dar, als sie eine Ordnungskrise bzw. eine Irritation der praktischen Routinen bedeuten. Dispositiv, wie auch das Problem bzw. Ziel, auf das es strategisch ausgerichtet ist, sind also gleichermaßen kontingent, d.h. zugleich: nicht vollkommen zufällig, da sie aus bestehender Praxis hervorgehen. Diese Denkbewegung ist von hoher Relevanz für einen praxistheoretischen Entwurf sozialen Wandels: Die Entstehung von etwas Neuem (eines neuen Dispositivs, einer Regierungsform etc.) ist ein unübersichtlicher, dezentrierter praktischer Prozess der Bedeutungsverknüpfung und -verschiebung, des Ordnens und Umordnens, des Erfin-
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dens und Aushandelns. Er basiert auf dem Gegebenen, da soziale Praxis jedoch in der Lage ist, aus dem Gegebenen Unvorhergesehenes zu generieren und dabei auch ihre logische Integrität zu verändern, können sich weitreichende Veränderungen in den Organisationsprinzipien praktischen Wissens und der Ordnung des Sozialen vollziehen. Bei aller Diskontinuität bildet (vergangene) Praxis die unverzichtbare Basis praktischer Veränderungen. Diese Gebundenheit ermöglicht eine (unzulässige) retrospektive Systematisierung, sodass der Wandlungsprozess rückwirkend so erscheint, als sei er zwingend aus einer spezifischen Konstellation hervorgegangen. Die Logik der Praxis verschleiert also die Unordnung ihres Entstehungsprozesses wie auch die Ambivalenzen, Deutungsüberschüsse und Kämpfe, die sie nach wie vor birgt. Bourdieu rekonstruiert diesen Aspekt mit Blick auf das generative Potenzial des Habitus folgendermaßen: »Die endgültige Wahrheit eines Stils liegt letztlich nicht keimhaft in einer eigentümlichen Wahrheit beschlossen, sondern definiert sich und ändert sich fortwährend von neuem als ›Bedeutung im Werden‹, die, wenn sie sich realisiert zugleich mit sich selbst übereinstimmt oder aber auf sich selbst reagiert. Nur im fortwährenden Wechsel von Fragen, wie sie sich nur aus einem Geiste und für einen Geist stellen können, der über einen bestimmten Typus mehr oder weniger einfallsreicher Grundmuster verfügt, die sich ihrerseits der Anwendung der Schemata verdanken, jedoch fähig sind, das Ausgangsschema zu verändern, ergibt sich jene Einheit von Stil und Bedeutung, die nachträglich oft den Eindruck erweckt, als sei sie den Werken vorausgegangen, die das abschließende Gelingen ankündigten. […] [W]enn daher Werke, die durch eine Kette signifikanter Beziehungen miteinander verbunden sind, sich aus sich selbst heraus zum System konstituieren, vollzieht sich ihre Verkettung in einer Kopplung von Sinn und Zufall. Diese Verbindung stellt sich her, löst sich auf, um schließlich nach Regeln wieder zu erstehen, die um so beständiger sind, je mehr sie sich dem Bewußtsein entziehen. (Bourdieu 1974: 152f.) Wird das Dispositiv also als ein Nexus aufgefasst, dessen Ordnung, sinnhafte Form und logische Ausrichtung nicht aus einem ›äußeren‹ Umstand ableitbar ist und dessen Herausbildung und Veränderung in einer Weise strukturiert und zielgerichtet erfolgt, die (rückwirkend) nur den Anschein einer finalistischen Entwicklung erweckt, greifen chronologische Methoden einer linearen Rekonstruktion der Entstehungszusammenhänge zu kurz: »Gegen alle historischen Linearisierungen ist es allein aus einem ergebnisoffenen gesellschaftlichen Kontext zu begreifen, und um es zu analysieren bedarf es eines langfristig orientierten genealogischen Blicks« (Reckwitz 2012: 50). Dieser genealogische Blick zeichnet sich entsprechend weder durch die Suche nach einem exakt bestimmbaren Ursprung des Dispositivs noch durch das Herauspräparieren linearer Entwicklungsverläufe aus, sondern durch die Analyse jener historischen Konstellationen und Machtverhältnisse, in denen sich das Dispositiv herausbildet. Die Genealogie rekonstruiert, auf welche Weise sich Strategie und Logik mit der Zeit konzentrieren und sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Praktiken langsam verdichten. Wenngleich diese Entwicklung immer im Möglichkeitsraum historisch spezifischer Praxis einsetzt, so stellt ein neues Dispositiv dennoch eine Diskontinuität im Bereich der logischen Ordnung sozialer Praxis dar:
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
»Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, daß die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt, nachdem sie allen Zeitläufen eine von Anfang an feststehende Form aufgedrückt hat. […] Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt vielmehr das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert und was für uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen.« (Foucault 1974: 89f.) Gilles Deleuze (1991: 158f.) verweist darauf, dass eine der zentralen Konsequenzen, die aus der Arbeit mit dem Dispositivbegriff folgen, in der Änderung der analytischen Orientierung besteht – in einer Abkehr vom Ewigen und einer Hinwendung auf das Neue bzw. auf die Frage nach der Möglichkeit der Produktion von Neuem. Das Dispositiv gewinnt analytisch gerade durch seinen Gehalt an Neuartigkeit an Kontur. Die genealogische Rekonstruktion eines Dispositivs bietet sich also an, um eine praxistheoretische Analyse sozialen Wandels voranzutreiben. Allerdings geht eine praxistheoretische Wandelforschung nicht in der genealogischen Dispositivanalyse auf. Denn einerseits hält die Praxistheorie durchaus weitere Konzepte zur Analyse transversaler Muster bereit (Regime, Doxa, Diskurs etc.), die zwar konzeptionell weniger deutlich auf einer Verschränkung mit Analysekategorien wie Subjekt, Lebensform etc. aufbauen, jedoch je spezifische Analysefoki in der Rekonstruktion weitreichender Praxisstrukturen eröffnen. Andererseits darf die umgekehrte Blickrichtung ausgehend von konkreten empirischen Situationen, von spezifischen Konstellationen in Feldern, Lebensformen oder entlang bestimmter Konfliktlinien der habituellen Disponierung nicht vernachlässigt werden. Denn hier zeigt sich weitaus konkreter die praktische Qualität sozialen Wandels in ihrer Vielfalt, Ungleichzeitigkeit und ungleichen Wirkung; und hier zeigt sich auch, dass sich das Wandelgeschehen im Kontext unterschiedlicher Dispositive entfalten kann. Transversale Praxismuster – ob umfassend mit dem Dispositiv-Konzept erforscht oder anhand der Rekonstruktion einzelner Homologien zwischen habituellen Dispositionen, Feldern, Subjektformen etc. – sind geeignet, um der Wirkmacht und der Wirkungsweise sozialer Wandelprozesse nachzugehen, denn sie ermöglichen deren Betrachtung über die Grenzen einer spezifischen Subjektform oder eines Milieus hinaus. Mit der Dispositivanalyse können dabei die anderen Analysekonzepte derart relationiert werden, dass deren Zusammenwirken bei der Produktion (veränderter) transversaler Strukturen sowie die verbindende und zugrundeliegende Logik systematisch in den Blick kommen. Damit soll nicht behauptet werden, dass nur dann von sozialem Wandel gesprochen werden kann, wenn in überzeugender Weise ein neues Dispositiv aufgezeigt wurde. Umgekehrt kann die Rekonstruktion bzw. genealogische Herausarbeitung der Entfaltung eines neuen Dispositivs jedoch sicherlich als Variante der praxistheoretischen Erforschung sozialen Wandels verstanden werden.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
7.3
Situation und Kontext
Bei aller Zentralität von Wissensordnungen, impliziten Strategien und (transversalen) praktischen Logiken bleibt das praktische Geschehen mit seiner Historizität, spezifischen Zeitlichkeit und Materialität Primat der praxistheoretischen Forschung. Ihre Situativität ist ein wesentlicher Grund für die Unberechenbarkeit sozialer Praxis (Reckwitz 2003) und sie markiert die Besonderheit eines praxistheoretischen Zugangs zu sozialem Wandel. Situativität ist dabei nicht interaktionistisch gedacht: Aus Perspektive des Symbolischen Interaktionismus, der »die ›Situation‹ zum Ausgangspunkt der soziologischen Analyse« macht (Falk & Steinert 1973: 35, H. J.E.), zerfällt diese analytisch in »die Situation, wie sie objektiv nachprüfbar besteht [… und] die Situation, wie sie die betreffende Person sieht« (Thomas & Thomas 1973: 334). Diese Trennung ist aus praxistheoretischer Perspektive nicht angemessen: Hier wird die Situation als ein – praktisch hervorgebrachtes – Gefüge rekonstruiert, das seine Spezifik gerade auch aus dem Zusammenspiel (unterschiedlicher) objektivierter und subjektivierter Strukturen gewinnt. Die Situation ist ein Bündel praktischer Relationen: Hier treffen (verschiedene) habitualisierte, institutionalisierte, feldspezifische etc. Strukturen praktisch aufeinander. Die hierbei stattfindende raumzeitlich konkrete Relationierung in actu liegt dabei nicht nur quer zu einer Unterscheidung vom objektiv beobachtbaren situativen Geschehen und subjektiv wahrgenommenem Geschehen, sondern auch quer zu einer Trennung von Akteur und Umwelt. Die sich in der Hervorbringung eines konkreten Praxisvollzugs verschränkenden Strukturen (Institutionen, Handlungsmuster, Gegenstände, Subjektformationen etc.) können relativ reibungslos aneinander anschließen oder aber interferieren und Ambivalenzen erzeugen – unabhängig davon ob sie inkorporiert oder objektiviert sind. Die relationale Grundhaltung der Praxistheorie erlaubt es, zugleich die Praxis situativ und die Situation praktisch zu konzeptualisieren, denn »die Relation selbst erzeugt die Elemente der Relation« (Bohn 1991: 108): Situationen können nur praktisch hergestellt werden, bilden aber zugleich auch ein konstitutives Merkmal von Praxis, die sich situativ ereignen muss. Damit bringt ›Situation‹ auch zwei eng miteinander verknüpfte zentrale Aspekte sozialer Praxis auf den Begriff – ihre Situativität und ihre Situiertheit: Praxis ist an ihre Materialität und Zeitlichkeit, an einen konkreten Vollzug und die dabei gegenwärtigen Dinge, Menschen, Räume etc. gebunden und in diesem Sinne situativ. Sie ist in ihrer Spezifik aber auch an die Sinnstrukturen, Logiken, Wissensordnungen etc. gebunden, die in diesen Dingen, Menschen und Räumen gegenwärtig sind und insofern durch bestimmte Umstände ihrer Hervorbringung situiert. In Anlehnung an Donna Haraway (1995a) kann dann festgehalten werden, dass eine Stärke der praxistheoretischen Forschung in der grundsätzlich kontextuellen Betrachtungsweise liegt, die ihre Basiskategorie evoziert. Da praktische Relationierungen kontingent sind, müssen Situationen nicht zwangsläufig in einer bestimmten Form hervorgebracht werden – hierin liegt das flexible Moment der Situativität sozialer Praxis. Sie sind aber auch nicht beliebig. »Die strukturellen Bedingungen der Möglichkeit anderer Möglichkeiten sind dann im Relationenbegriff vorausgesetzt als Kontext.« (Bohn 1991: 108) Während Situation ein konkretes Praxisgeschehen und damit das empirische Aufeinandertreffen verschiede-
7 Praxistheoretische Analysekonzepte als Instrumente der Erforschung sozialen Wandels
ner inkorporierter und institutionalisierter Strukturen mit all seinen Ambivalenzen und Interferenzen benennt, bezieht sich Kontext auf die praktischen Zusammenhänge, die der Situation (unabhängig davon wie basal oder stringent) Sinn und Ordnung verleihen. Dies können die Regeln eines Feldes sein, in dem die Praxis situiert ist, oder klassenspezifische Habitus beteiligter Akteure, aber auch Geschlechterordnungen etc. Auch transversale Logiken können gewissermaßen als Aspekte des Kontexts verstanden werden, insofern sie sich beispielsweise in Feldregeln zeigen. Allerdings ist ihre Analyseperspektive gerade darauf ausgerichtet transversale, d.h. kontextübergreifende Muster herauszuarbeiten. Sie folgt daher einem anderen analytischen Fluchtpunkt als die Herausarbeitung der Situiertheit spezifischer Praxisvollzüge. Kontexte sind Verweisstrukturen, die einer spezifischen Praxis in einer bestimmten Situation Sinn verleihen. Sie sind daher einerseits sehr eng an die jeweilige Situation des Praxisvollzugs gebunden und ermöglichen es, auch unerwartete Ereignisse oder einen unbekannten Gegenstand sinnhaft einzubinden. Sie verweisen andererseits aber auch immer auf zeitlich und räumlich umfassendere Zusammenhänge: Die geteilten Sinnstrukturen einer Familie, Institutionen, aber auch der logische Nexus einer Epoche können Kontexte sein, können also die sinnhafte Ordnung eines Praxisvollzugs spezifizieren und diese damit situieren. Sie sind materiell, das heißt, sie liegen in den Dingen und Körpern einer Praxis vor. Durch diese Materialität sind Kontexte mit der Vergangenheit verbunden: mit den Zusammenhängen, in denen Gegenstände produziert und genutzt, d.h. sinnhaft wurden und mit den Erfahrungen, die Akteure gemacht und inkorporiert haben. Akteure brauchen Kontexte, um handeln zu können, denn an den Kontext schließt ihr praktischer Sinn an. Zugleich stellen sie durch ihre Praxisbeteiligung Kontexte praktisch her. Die praxistheoretische Konzeptualisierung von Situation und Kontext enthebt beide Begriffe ihrer (tentativen, aber nicht angemessenen) Verortung auf einer Mikro- und Makroebene. Situationen können in einem sehr engen Sinne auf einzelne, kurzfristige Praxisvollzüge verweisen (etwa ein bestimmtes Tennismatch) oder sich auf weiter gefasste, längerfristig konstellierte Praxisbündel beziehen (die Situation des deutschen Tennissports in den 1980er Jahren). Umgekehrt kann der Kontextbegriff sowohl auf sehr konkrete Strukturen verweisen, die eine bestimmte Situation bedingen (spezifische Orientierungen, die zum Fantum disponieren, eine konkrete Lebensform, der Tennis in den 1980er Jahren als Mittel der Stilexpression dient), er kann aber auch umfangreich wirksame Strukturen adressieren (die verstärkte Ausdifferenzierung und die expressive wie auch distinktive Lebensstilisierung in den 1980er Jahren). Im Verhältnis von Situation und Kontext soll nicht eine Interaktion in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet werden, vielmehr wird in ihm das Verhältnis von Praxisvollzug und jenen Gefügen deutlich, die das praktische Geschehen strukturieren. Lebensformen, habituelle Dispositionen oder Feldstrukturen ermöglichen dann die Analyse praktisch wirksamer allgemeiner Bezugshorizonte. Sie bilden in ihrem spezifischen Aufeinandertreffen in Situationen deren konkreten Kontext und machen den Praxisvollzug auf diese Weise bestimmbar. Unter Rückgriff auf praxistheoretische Analysekonzepte lassen sich auf diese Weise empirische Situationen erforschen, in denen bestimmte Wandelgeschehnisse wirksam werden: Beispielsweise können die Transformationen von Erwerbsorientierungen und Lebensarrangements ostdeutscher Frauen nach der Wiedervereini-
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
gung auf Basis habitueller Dispositionen (Völker 2004) oder aber Veränderungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft feldtheoretisch analysiert werden (Manske 2016). Eine empirische Fokussierung bestimmter praktischer Situationen unter Nutzung der beschriebenen Analyseinstrumentarien kann der Prämisse entsprechen, dass sich sozialer Wandel in Praxis bildet und nicht aus universellen Tatbeständen ableitbar ist. Zugleich setzt zwar die Analyse des Wandels sozialer Praxis empirisch (mindestens implizit) an Veränderungen in konkreten Praxiszusammenhängen an, sie lässt sich jedoch nicht auf einzelne Felder, Lebensformen oder habituelle Dispositionen als Kontext des Wandels beschränken. Felder oder Subjektivierungsformen stellen nicht etwa vollständig diskrete Praxisbündel dar, die einen abgeschlossenen Ausschnitt der Gesellschaft rekonstruieren. Sie sind nicht voneinander isoliert, vielmehr weisen sie sinnhafte und materielle Verbindungen auf und sie bringen transversale Praxismuster hervor, die nicht nur an einem bestimmten Ort im sozialen Raum oder nur in einer spezifischen Lebensform Wirkung entfalten, sondern Praxis in den unterschiedlichsten Bereichen ordnen (wenn auch nicht in identischer Form oder mit gleicher Wirkung). Dies macht die Komplexität der Erforschung sozialen Wandels aus: Eine bestimmte Erwerbsorientierung ließe sich aus der kontextspezifischen Assemblierung von Klassenlagen, geschlechtsspezifischen Handlungsdispositionen oder generationalen Orientierungsrahmen rekonstruieren. Die Transformation von Erwerbsorientierungen und Lebensarrangements ostdeutscher Frauen muss analytisch im Kontext weitreichender Umbrüche in Arbeits- und Geschlechterregimen verortet werden (Völker 2004). Ihre Erforschung muss kontextuelle Spezifika adressieren, die Situiertheit der Praxis rekonstruieren und zugleich nach den (transversalen) Logiken fragen, nach denen sich die Situierung verändert. Die Fokussierung von Situation und Kontext und mithin konkreter Praxisvollzüge situiert den Wandel sozialer Praxis und macht die Spezifik seiner Hervorbringung (Vielfalt, Ambivalenz, ungleiche Wirkung, Ungleichzeitigkeit etc.) analysierbar. Die Fokussierung kontextübergreifender Homologien im Wandelgeschehen verweist hingegen auf die transversalen Logiken, die den Wandel spezifizieren, und stellt auf Reichweite und Rationalitäten der Veränderungen scharf.
8 Praxis der Reproduktion und des Wandels
Der Blick auf den sozialen Ort des Geschehens eröffnet also die Möglichkeit, transversale Homologien mit der Heterogenität ihrer praktischen Hervorbringung detailliert ins Verhältnis zu setzen. Dies kann verschiedene Aspekte beleuchten: Erstens können Unterschiede in der praktischen Hervorbringung transversaler Logiken systematisch erfasst sowie deren ungleiche praktische Wirkung aufgezeigt werden. Zweitens kann herausgearbeitet werden, dass eine konstante Veränderung in einer bestimmten Praxisform noch nicht die Veränderung transversaler Logiken oder sozialer Ordnungen bedeuten muss. Mancher praktische Wandel hat – wie ich im nächsten Abschnitt explizieren möchte – im Gegenteil eine Ordnung stabilisierende Wirkung. Umgekehrt lässt sich auch Praxis analytisch fokussieren, die (historisch spezifisch) in besonderer Weise sozialen Wandel bedingt oder bedingen soll. Drittens wird es möglich, Ambivalenzen, Interferenzen oder auch Hybridisierungen in sozialer Praxis herauszuarbeiten, die im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Logiken oder Ordnungen entstehen. Und schließlich können viertens ›Unbestimmtheitszonen‹ aufgezeigt werden (Trinkaus & Völker 2007), in denen sich im Kontext sozialer Umbrüche praktische Strategien und Logiken herausbilden und miteinander konkurrieren, bei denen letztendlich noch nicht ausgemacht ist, inwiefern sie mit alten und neuen Ordnungen korrespondieren. Diese Zonen verweisen nicht zuletzt auch auf mögliche Leerstellen bei der Analyse transversaler Muster. Im Folgenden sollen diese Analyseaspekte anhand dreier unterschiedlicher Gegenstandsfoki in der empirischen Forschung konkretisiert werden.
8.1
Soziale Reproduktion durch herrschaftsstabilisierenden Wandel
Die deutschsprachige Rezeption der Praxeologie Pierre Bourdieus begann Anfang der 1980er Jahre zunächst mit den Fokus auf Forschungsarbeiten über die (verborgene) praktische Reproduktion sozialer Ordnungen (Fröhlich & Rehbein 2009b): In ›Die feinen Unterschiede‹ ist der Blick auf habitualisierte und institutionalisierte Sinnstrukturen scharf gestellt, die geeignet sind, gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen zu reproduzieren und symbolische Ordnungen zu verstetigen bzw. zugunsten bereits privilegierter Akteure zu transformieren (Bourdieu 1987). Dabei geriet das Bildungssystem
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
als zentrale Institution der sozialen Reproduktion in den Fokus der Aufmerksamkeit: In umfangreichen empirisch-theoretischen Auseinandersetzungen mit dem französischen Bildungssystem arbeiteten Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Jean-Claude Passeron, Monique de Saint Martin et al. die Wissens- und Sozialordnungen reproduzierende Wirkmacht von Schule und Universität, aber auch von Allgemeinbildung, kanonischem Wissen, objektivierter Kultiviertheit etc. heraus (z.B. Bourdieu et al. 1981b; Bourdieu & Passeron 1971). Das Bildungssystem – so das Resümee – verstetigt soziale Ungleichheit systematisch, indem es an unterschiedlichen gesellschaftlichen Orten angeeignete kulturelle Praktiken (an-)erkennt und in Noten, Laufbahnempfehlungen und Abschlüsse übersetzt, welche dann für eine günstige Positionierung im sozialen Raum privilegieren bzw. disqualifizieren. In der Affinität zwischen bildungsbürgerlichen Schüler*innen und Schule, im unmittelbaren wechselseitigen Verständnis von Mittelschichtskindern und Lehrer*innen, in der unwillkürlichen universitären Anerkennung des Denk- und Artikulationsstils von Student*innen aus Elitenmilieus, aber auch in der Verkennung von in ›bildungsfernem‹ Modus hervorgebrachter Leistung oder in der Durchsetzung einer Wertigkeit, die kleinbürgerliches Wissen degradiert, zeigt und verbirgt sich die Perpetuierung sozialer Ordnung und stabilisiert sich zugleich formale Bildung als ordnendes System. »Folglich wäre die Erwartung naiv, aus der Funktionsweise eines Systems, das durch implizite und deshalb wohl umso wirksamere Anforderungen seine Rekrutierung selbst bestimmt, könnten die Widersprüche entstehen, die zu einer tiefgreifenden Veränderung der Logik, nach der dieses System funktioniert, zu führen und die mit der Wahrung und Vermittlung der legitimen Kultur betraute Institution an der Ausübung ihrer Funktion der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zu hindern vermöchten. Indem die Schule den Individuen nur deren Position in der sozialen Hierarchie genau entsprechende Erwartungen an die Schule zugesteht und unter ihnen eine Auswahl trifft, die unter dem Anschein der formalen Gleichheit die existierenden Unterschiede sanktioniert und konsekriert, trägt sie ineins zur Perpetuierung wie zur Legitimierung der Ungleichheit bei. Indem sie gesellschaftlich bedingten, von ihr aber auf Begabungsunterschiede zurückgeführten Fähigkeiten eine sich ›unparteiisch‹ gebende und als solche weithin anerkannte Sanktion erteilt, verwandelt sie faktische Gleichheiten in rechtmäßige Ungleichheiten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede in eine qualitative Differenz und legitimiert die Übertragung des kulturellen Erbes.« (Bourdieu 2001a: 45f.) Gerade vor dem Hintergrund der massiv stabilisierenden Wirkung dieser institutionalisierten Bildungspraxis arbeitet Bourdieu durchaus spezifische Formen des Wandels sozialer Praxis heraus. Tatsächlich zielt ein wesentlicher Teil seiner bildungssoziologischen Arbeit darauf ab, aufzuzeigen, wie – insbesondere im Rahmen der demokratisierenden Bildungsreformen – »die unterschiedliche Verteilungsstruktur der schulischen Profite und der entsprechenden gesellschaftlichen Profite unter dem völlig veränderten Zustand des Schulsystems, wie er sich bei der Ankunft der neuen Klientel eingestellt hat, erhalten geblieben ist« (Bourdieu 1997b: 529). Eine feine Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der Bildungsorganisationen, der Schul- und Hochschulfächer, der Schulklassen entlang wählbarer Fremdsprachen etc. ermöglicht eine Transforma-
8 Praxis der Reproduktion und des Wandels
tion der Schließungspraxis bei relativ stabilem Ordnungseffekt. Einen ähnlichen verstetigenden Wandel zeigt Bourdieu auch im Bereich der Lebensführung auf: Um ihre privilegierte Position verteidigen zu können, müssen französische Eliten unter der Bedingung veränderter industrieller Besitzverhältnisse und politischer Verteilungslogiken »als Ausdruck ihrer Stellung in der Hierarchie und deren neuartiger Legitimation eine neue Symbolik der Spitzenklasse entwickeln« (Bourdieu et al. 1981a: 41); und dies umso mehr, als die Mittelschicht beständig nach der Aneignung des symbolisch wirkmächtigen Lebensstils der herrschenden Klasse strebt. Bourdieu rekonstruiert somit auch Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung, in Fragen der Geschmacks- und Stilpräferenz oder der Freizeitgestaltung als Effekte von aufstiegsstrategischer Beflissenheit oder Distinktionsbemühungen, wobei sich die soziale Ordnung im ungleichen Kampf um Positionsverbesserung und Abgrenzung weitestgehend erhält (Bourdieu 1987). Sowohl Bildungssystem als auch klassenspezifische Lebensführung wurden also – nicht zuletzt in ihrem praktischen Zusammenspiel – von und im Anschluss an Bourdieu ausführlich hinsichtlich ihres reproduktiven Potenzials analysiert. Dabei wird die praktische Gleichzeitigkeit von Reproduktions- und Veränderungsprozessen deutlich, allerdings wird Wandel mit einem bestimmten Fokus, nämlich als notwendige Bedingung, sogar als ›Erfüllungsgehilfe‹ der Reproduktion sozialer Ordnung, adressiert. Entsprechend skeptisch fällt die frühe deutschsprachige Rezeption hinsichtlich des wandelbezogenen Analysepotenzials der Bourdieu’schen Praxistheorie aus1 : Gerade von philosophischer und erziehungswissenschaftlicher Seite wird das Fehlen eines grundsätzlich freien Handlungssubjekts und damit der Mangel eines sozialtheoretisch vitalen dynamischen Moments kritisiert (Honneth 1984; Liebau 1987). Zudem überbetone Bourdieu die Stabilität kultureller Muster bereits auf grundbegrifflicher Ebene und sei daher auf die Erklärung sozialer Reproduktion beschränkt (Ebrecht 2004; Miller 1989). Die unterschiedlichen Kritiken – etwa auch an einer übertriebenen Fokussierung von Konkurrenzkämpfen und einer unzulässigen Ausweitung ökonomischer Lesarten auf den gesamten Bereich des sozialen Lebens, an einer Strukturunterwerfung des Handelns oder einer Verneinung menschlicher Kreativität – lassen sich unter dem Vorwurf des ›strukturalistischen Determinismus‹ subsummieren, den Bourdieu mit seiner Praxistheorie betreibe (Rieger-Ladich 2005). Rückblickend, in der Gesamtschau des theoretisch-empirischen Œuvres, muss diese Kritik zurückgewiesen und als unangemessene Gewichtung gewertet werden, die »den Sonderfall der Homologie von Habitus und Feld zu Unrecht als Regelfall« interpretiert (Rieger-Ladich 2005: 292). Zwar merkt Reckwitz (2004) an, dass der Werkduktus selbst eine solche Verallgemeinerung nahe lege, betont jedoch zugleich, dass das praxistheoretische Analyseinstrumentarium dieser Schließung nicht unterworfen ist und verweist auf die Notwendigkeit einer ›ent-universalisierten‹ Auffassung praxeologischer Theorieperspektiven. Stephan Trinkaus und Susanne Völker (2009) stellen wiederum heraus, dass die relativ stabile kulturelle Reproduktion sozialer Ordnungen, welche Bourdieu in ›Die feinen Unterschiede‹ und seinen bildungssoziologischen Studien herausarbeitet, nur einen Teil seiner Forschungstätigkeit zum Verhältnis von Reproduktion und Wandel 1
Eine kritische, den Determinismusvorwurf fokussierende Zusammenfassung der frühen deutschsprachigen Bourdieu-Rezeption findet sich bei Markus Rieger-Ladich (2005).
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
ausmacht. Sie verweisen auf einen weiteren Schwerpunkt, der auf eine ›prekäre Reproduktion‹ sozialer Praxis gerichtet ist. Mit Blick auf Prekarität stelle Bourdieu nun »angesichts der starken Diskontinuitäten und Ungewissheiten im Prozess gesellschaftlicher Reproduktion die Frage nach Möglichkeiten eines Wandels, der die Herrschaftsverhältnisse nicht reproduziert, sondern verändert« (Trinkaus & Völker 2009: 213). Die Ausführungen von Trinkaus und Völker zeigen auf, dass die praxistheoretisch angeleitete Suche nach Ursachen sozialen Wandels mit der Analyse räumlich-historisch spezifischer Logiken der praktischen Hervorbringung von Reproduktion und Wandel einhergeht. Theoretisch-empirisch können somit, je nach raumzeitlichem Kontext, unterschiedliche Praktiken der Reproduktion bzw. des Wandels festgestellt werden. So findet sich eine ganze Reihe praxistheoretisch anschlussfähiger Konzepte, die eine spezifische Logik oder auch ein bestimmtes Potenzial praktischen Wandels rekonstruieren. Judith Butlers Begriff der Subversion, der Transformationen von Machtverhältnissen durch Umdeuten und zersetzendes, Hegemonien unterlaufendes Zitieren in den Fokus rücken lässt (Butler 1991, 1993), ist hierfür ebenso ein Beispiel, wie die verschiedenen Varianten des Hybriditätsbegriffs (Bhabha 2012; Kron 2015), der auf die Entstehung des Neuen in Räumen kultureller Überschneidungen abzielt und Anschluss für die Analyse jener Praxis bietet, in der unterschiedliche symbolische Ordnungen verschmelzen (Hillebrandt 2015; Reckwitz 2006; Völker 2004). Im Folgenden möchte ich auf zwei Analysen, die auf die Logik eines raumzeitlich spezifischen praktischen Wandels fokussieren und im Kontext weitreichender Transformationsprozesse eingeordnet sind, näher eingehen: Im Fokus stehen dabei einerseits der bereits von Bourdieu bearbeitete und von Susanne Völker praxistheoretisch erweiterte Begriff der Prekarität und andererseits der stärker im Spannungsfeld aktueller Ökonomisierungs-, aber auch Ästhetisierungsprozesse verortete Begriff der Kreativität.
8.2
Unbestimmtheitszonen und Praxis des Wandels
Susanne Völkers Fluchtpunkt der Analyse sozialer Wandlungsprozesse bildet der Begriff der Prekarisierung. Damit schließt sie an einen soziologischen Diskurs an, der sich in Deutschland in den 1990er und 2000er Jahren – nicht zuletzt im Zuge der damaligen sozial- und arbeitspolitischen Umbrüche – vernehmlich macht2 . Dieser lässt sich grob um drei Kernrekonstruktionen aktueller gesellschaftlicher Dynamiken gruppieren (Völker 2015): Erstens wird ein umfassender Wandel der Organisation von Arbeit diagnostiziert, wobei darüber hinaus die mit diesem Wandel verbundenen Umwälzungen in vormals relativ stabilen sozialen Ordnungsstrukturen (vor allem Milieu und Geschlecht) beforscht werden. Zweitens wird, vor allem im Gefolge der Gegenwartsdiagnose Robert Castels (2008), die ›Metamorphose der sozialen Frage‹ zum Ausgangspunkt der Diskussion, die dann vor allem neue Dynamiken der gesellschaftlichen Integration und Ausgrenzung fokussiert. Und drittens werden – zumeist im Rekurs auf den zuerst 1998 publizierten Vortrag Pierre Bourdieus (2004e) ›Prekarität ist überall‹ – 2
Damit setzt der Diskurs in Deutschland etwas später ein als etwa in Frankreich, Italien, Großbritannien und Südamerika (Dörre 2017).
8 Praxis der Reproduktion und des Wandels
veränderte Herrschaftslogiken und neue Formen der Subjektivierung zum Fluchtpunkt der Analyse gemacht. Zudem kristallisiert sich eine begriffliche Trias von Prekarität – Prekarisierung – Prekariat/Prekarier*innen heraus, die sich – mal lose gekoppelt, mal systematisch aufeinander verwiesen – als Instrument der Gegenstandskonkretisierung etabliert hat. Während ›Prekarisierung‹ als Prozessdimension die Erosion vormals ›sicherer‹ sozialer Verhältnisse unterstreicht, zielt der Neologismus ›Prekariat‹ insbesondere auf die ›Soziallage prekärer Grenzgänger‹ (Vogel 2009) bzw. auf die Gruppe jener Gesellschaftsmitglieder, die von sozialer Exklusion bedroht sind und die unter dem Label der ›Überflüssigen‹ Ende der 1990er Jahre in den Fokus der wiedererstarkenden Debatte um soziale Ungleichheiten rückte (Baecker et al. 1998; Bude 1998; Bude & Willisch 2008; kritisch: Hark 2005; Hark & Völker 2010). Der Begriff der ›Prekarität‹ wiederum bildet momentan den konzeptionellen Kern der drei Begriffe und benennt einen sozialen Zustand, der zwar anhand objektiver sozialer Strukturen der Entsicherung (befristete Beschäftigungsverhältnisse, Entwertung von Bildungsabschlüssen etc.) zu erschließen, im Kern jedoch relational gedacht ist: So bezeichnet Prekarität »unsichere Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse« (Dörre 2017), deren Unsicherheit jedoch nur relativ zu den herrschenden Normalvorstellungen von Sicherheit, relativ zu weitestgehend integrierten bzw. vollständig desintegrierten sozialen Positionen und nicht zuletzt relativ in Bezug auf biografische Aspekte und gegenwärtige Lebensumstände bestimmbar wird. Entsprechend zielt der Diskurs auch weniger auf die Entwicklung eines objektiven Maßstabs unsicherer sozialer Verhältnisse, vielmehr werden verschiedene Formen der Prekarität und die teilweise großen Unterschiede »im Hinblick auf das Verhältnis zur Arbeit ebenso wie auf die Lebensführung, die Existenzweisen und die Möglichkeiten, die Zukunft zu meistern« (Castel 2009: 34) analytisch in den Blick genommen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich mittlerweile ein recht weites Begriffsverständnis durchgesetzt hat: Prekarität kann demnach gefasst werden als »eine eingeschränkte wirtschaftliche, politische, soziale und/oder kulturelle Teilhabe an Gesellschaft, die ein Leben unterhalb […] der Schwelle der Respektabilität mit sich bringt« (Aulenbacher et al. 2015a: 08:34-08:50). Dennoch beklagt insbesondere die Frauen- und Geschlechterforschung einen mehr oder weniger latenten androzentrischen Bias des Diskurses, der die Erosion des fordistischen Arbeitnehmerverhältnisses ins Zentrum der Prekaritätsdebatte rückt (Aulenbacher 2009; Völker 2009a). Sowohl aus geschlechtertheoretischer als auch aus praxistheoretischer Perspektive kritisiert Völker die empirische und konzeptionelle Zentralisierung der Erwerbsarbeit in weiten Teilen des Diskurses: Mit der Konzentration auf die Erosion herkömmlicher Arbeitsverhältnisse würden Umbrüche in den Geschlechterordnungen und die Krise der Sorgearbeit als nachgelagerte Probleme in die Peripherie der Diskussion verwiesen und damit deren fundamentale Relevanz für die spezifische Institutionalisierung kapitalistischer Handlungslogiken im vergangenen Jahrhundert ignoriert (Völker 2009a). Damit wird im ungünstigsten Fall eine Naturalisierung von (weiblicher) ›reproduktiver‹ Arbeit perpetuiert, die feministische Theorien bereits in Bezug auf kapitalismustheoretische Basisannahmen problematisiert haben (Aulenbacher 2015). Und auch aus praxistheoretischer Perspektive muss die implizite analytische Hierarchisierung der Prekarisierungsphänomene zurückgewiesen werden, wobei
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dies weniger auf eine Negierung der Bedeutsamkeit prekarisierter Arbeit abzielt als vielmehr auf eine Relativierung ihrer alles überstrahlenden Bedeutung in der Rekonstruktion prekärer Praxislogiken. Völker (2007, 2009a) plädiert – ähnlich wie Castel (2008) und insbesondere auch Oliver Marchart (2013b, 2013a) – für eine grundlegende und segmentübergreifende gegenwartsdiagnostische Auseinandersetzung und damit für ein Ernstnehmen der im Diskurs vielzitierten Feststellung Bourdieus, dass Prekarität überall sei. Von dieser Warte aus wird ersichtlich, »dass es nicht nur um prekäre Beschäftigungsverhältnisse, sondern vielmehr um einen gesellschaftlichen Transformationsprozess geht, der im Modus der Prekarisierung, also der Entsicherung und Deregulierung, gesellschaftliche Institutionen insgesamt – also auch den (Sozial)Staat und die Institution Familie – neu aufstellt« (Völker 2009a: 274). Die von Völker im Anschluss an Bourdieu vorgeschlagene praxistheoretische Perspektive rekonstruiert Prekarität als neue Herrschaftsform, die einen grundlegenden Wandel der Hervorbringung sozialer Praxis bedingt, da sie eine Veränderung der praktischen Einbindungen in und der Produktion von Zeit bedeutet (Trinkaus & Völker 2009). Prekarisierung muss dann als ein gegenwärtig vorfindbarer zentraler Modus sozialen Wandels verstanden werden, als »spezifische Logik der Entsicherung[, die] die Gesellschaft als Ganzes, also alle sozialen Stratifikationen durchzieht« (Völker 2015: 133). Der transversale Wandel gesellschaftsumspannender Herrschaftslogiken bedeutet das Aufbrechen und die ›Erschöpfung‹ von über Dekaden relativ stabil reproduzierten sozialen Ordnungen, wie etwa der Geschlechterverhältnisse (Völker 2011). Dabei entstehen ›Ungewissheitszonen‹ (Bourdieu 2001b: 202) bzw. ›Unbestimmtheitszonen‹ (Trinkaus & Völker 2007) in denen soziale Praxis ambivalente, widerstreitende, prekäre Ordnungsgefüge hervorbringt. In konzeptioneller und analytischer Hinsicht wird dabei »der Blick über bzw. durch die gesellschaftlichen (Ungleichheits-)Strukturen/Struktureinbrüche auf die Strukturierungsaktivitäten der AkteurInnen gelenkt« (Völker 2009c: 152). Die Analyse von Prekarisierungsdynamiken darf entsprechend nicht einseitig am strukturellen Wandel der sozialen (Arbeits-)Welt ansetzen, sondern muss das praktische Zusammenspiel der im Umbruch befindlichen institutionalisierten Strukturen mit ebenfalls sich transformierenden habituellen Dispositionen fokussieren und hierin einen spezifischen Möglichkeitsraum sozialen Wandels entdecken. Dies bedeutet jedoch auch, dass »Prekarisierung nicht ›objektiv‹ zu messen [ist], sondern […] sich in praktischen, von den einzelnen gelebten Konstellationen« zeigt (Völker 2015: 133; H.i.O.). Damit wendet Völker die relationale Konzeption von Prekarität/Prekarisierung praxistheoretisch: Wie bereits Bourdieu und seine Mitarbeiter*innen (1997b) in der Gesellschaftsstudie ›Das Elend der Welt‹ aufzeigen, ist dabei nicht nur auf die Variationsbreite praktischer Prekarisierung je nach Ort ihrer Hervorbringung bzw. spezifischem Aufeinandertreffen von Kontexten und Dispositionen verwiesen, sondern auch auf die divergierenden subjektiven Wirkungen, d.h. auf die unterschiedlichen Zumutungen und ›Formen des Leidens‹, die mit der praktischen Prekarisierung einhergehen (Bourdieu 1997b: 826). Aus der Verunmöglichung von Zukunftsentwürfen, der Entsicherung und zugleich Entgrenzung von Arbeit, sowie aus der Entfesselung einer vormals in relativ stabilen sozialen Ordnungen gebundenen Kontingenz lässt sich eine Vielzahl belastender Konsequenzen der Prekarisierung ableiten, die von kritischen politischen und soziologischen Diskursen in aller Deutlichkeit herausgestellt werden: Problematisiert wird etwa
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die Zunahme ›sozialer Verwundbarkeit‹, die Verbreitung sozialer Lagen also, in denen schon kleinere Veränderungen der Lebenssituation Arbeit und Auskommen gefährden, was sich langfristig negativ auf die Qualität der Lebensführung auswirkt (Castel 2008, 2009); die Verschiebung der Erwerbsarbeit hin zu einem knappen, wertvollen und damit umkämpften Gut und die damit einhergehende ›Unterwerfung der Arbeitnehmer‹ (Bourdieu 2004e); aber auch die verstärkte soziale Desintegration, die für eine wachsende Zahl der Gesellschaftsmitglieder zu einem temporären oder gar langfristigen Verlust von Teilhabemöglichkeiten führt und sie aus sozialen Austausch- und Anerkennungszusammenhängen verdrängt (Castel 2008; Dörre 2006). Auch Völker verweist kritisch auf die Folgen der Prekarisierungsprozesse (Völker 2008, 2009b), andererseits sieht sie jedoch in den zentralen kritischen Positionen, die vornehmlich vor dem Hintergrund erodierender ›Normalarbeitsnehmerverhältnisse‹ argumentieren, das ›analytische Potenzial des Prekarisierungsbegriffs‹ nicht ausgeschöpft (Völker 2013b): Soziale Verwundbarkeit (und Resilienz), aber auch soziale Ein- und Entbindung werden alltagspraktisch in verschiedenster Form hergestellt und sind damit weit mehr als bloße Konsequenzen eines arbeitsmarktgetriebenen Strukturwandels. Und soziale Zwänge, die auf die hingenommene Ausbeutung von Arbeitskraft abzielen, müssen nicht zwangsläufig Unterwerfung, sondern können auch Formen des Widerstandes produzieren (Völker 2013c). Mit Michael Vester (2005, zitiert nach Völker 2009c: 141) betont Völker, dass »auch die Unterlegenen nicht aller Ressourcen und Möglichkeiten entkleidet sind« und plädiert in der Konsequenz für die Analyseperspektive eines ›doing precarity‹, welche das welterzeugende Potenzial prekärer Praxis in den Blick nimmt (Hark & Völker 2010). Damit verweist Völker (2015) nicht nur auf den Wandel sozialer Praxis ›im Modus der Prekarisierung‹, sondern sie analysiert darüber hinaus ›Praxen der Prekarität‹ als spezifische Praxisformen (Hark & Völker 2010), die systematisch ein besonderes Wandelpotenzial entfalten. Das empirisch-analytische Vorgehen bei der Rekonstruktion praktischer Transformationen richtet sich dabei auf »die Beschreibung des partiellen, ›kleinen‹, konkreten Ereignens«, in dem die unterschiedlichen Formen und Effekte von Bedeutungsverschiebungen erfassbar werden (Völker 2015: 210). Dies gewährleistet nicht zuletzt auch eine analytische Ergebnisoffenheit, die prekäre Praxis nicht von vornherein als Symptom der Verunsicherung, struktureller Entbindung oder Verwundbarkeit festschreibt und auch die Frage nach Aspekten der Konformität, der Widerständigkeit oder der Ermächtigung in praktischer Prekarität nicht theoretisch prädeterminiert: »[E]s ist empirisch und ›mitten im Geschehen‹ sehr schwer zu entscheiden, ob es sich bei dem Handeln der AkteurInnen um ›systemimmanente Anpassungen‹, um Unterwerfungen oder um Überschreitungen, um fundamentale Infragestellung, also um Transformationen handelt. Diese ›Entscheidung‹ kann aus meiner Sicht nicht vorweg genommen und durch gesellschaftstheoretische Schlussfolgerungen herbei gedacht werden, denn sie ist eine Frage sozialer Kontingenz.« (Völker 2010a: 311) Konzeptionell rahmt Völker die Analyse der Transformationspotenziale prekärer Praxisformen unter Rekurs auf die von Bourdieu (2001b: 199ff.) skizzierten ›Ungewissheitszonen des sozialen Raums‹ (Völker 2009c): Bezeichnet sind damit soziale Kontexte, die eine nur schwache Institutionalisierung aufweisen, in denen nur in geringem Maße
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handlungsorientierendes Wissen vergemeinschaftet ist und die entsprechend wenig Sicherheit bieten, umgekehrt aber für die Akteure das Potenzial eröffnen, eine Praxis als angemessen durchzusetzen, die in hohem Maße ihren habituellen Dispositionen entspricht. Prekäre Kontexte, seien es soziale Felder wie etwa von Leih- und Zeitarbeit dominierte Berufsfelder, seien es Lebensformen, die in doppelter Hinsicht ›keine Zukunft‹ haben, können nun als solche Ungewissheitszonen rekonstruiert werden. Empirisch verankert in einer Analyse der ›Aneignungspraktiken gesellschaftlicher Umbrüche am Beispiel von Beschäftigten im (ostdeutschen) Einzelhandel‹ stellt Völker nun anhand dieser Ungewissheitszonen der Prekarität und mit Blick auf sozialen Wandel insbesondere zweierlei heraus (Völker 2010c, 2011, 2013a): Mit Blick auf den Wandel alltagsstrukturierender symbolischer Ordnungen zeigt sie einerseits das untrennbare Gefüge einer fordistischen, arbeitsmarktbasierten Sozialordnung und eines spezifischen Geschlechterregimes auf, welches nun im Zuge der Prekarisierung ›von allen Seiten her‹ gleichermaßen erodiert und sich damit als sinnstiftendes und handlungsorientierendes Wissen erschöpft. Damit versagt nach und nach eine Ordnungsstruktur, die nicht nur eine wichtige Basis sozialer Integration, sondern auch eine zentrale Subjektivierungsinstanz bildet, wohlgemerkt gerade in der wechselseitigen Durchdringung von Geschlechterregime und arbeitsmarktbasierter Ordnungslogik. Völker analysiert nun die betroffenen Akteure nicht als (lediglich) desintegriert oder orientierungslos, sondern rekonstruiert »das praktische Ringen in Situationen der Prekarität – also in Zuständen der sozialen Entbindung – als soziale Kämpfe um andere Formen der Kohäsion und Anerkennung« (Völker 2009a: 279; H.i.O.). Einerseits sind die Ungewissheitszonen der Prekarität also ein geeigneter Ort der Analyse umfassender Sinn- und Ordnungsverschiebungen, sie ermöglichen andererseits aber auch die Rekonstruktion verschiedener prekärer Praxisformen als Modi des Umgangs mit und zugleich der Hervorbringung von Transformationen. Völker unterscheidet drei Praxismuster (›Praktiken der Instabilität‹), die »Hinweise auf markante Varianten sozialen Handelns in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen« geben (Völker 2011: 425). Diese Praktiken der Instabilität werden als ›Motor sozialen Wandels‹ rekonstruiert; prekäre Alltagspraxis wird also – nicht zuletzt aufgrund der schwach strukturierten Ungewissheitszonen, die ihren Kontext bilden – als ›strukturschaffende Kraft‹ verstanden und zwar nicht nur im allgemeinen Sinne der (Wieder)Hervorbringung von Struktur, die ja immer auch Veränderung birgt, sondern durchaus im Sinne eines qualitativen Sprungs, in dem neue Ordnungen, neue Strukturen entstehen können. Dies sieht Völker in den drei Praxismodi in unterschiedlichem Maße und vor allem in unterschiedlicher Form realisiert: Die erste Praxisform (1) ›Orthodoxe Klassifizierung‹ zeichnet sich durch einen massiven Bezug auf eine binäre Geschlechterdifferenz aus, welche sowohl die Vorstellungen unterschiedlicher Erwerbspositionen als auch den Entwurf einer geschlechtlichen Arbeitsteilung sinnhaft ermöglicht. Dies kann als Anschluss an fordistische Erwerbsarbeits- und Geschlechtervorstellungen verstanden werden, jedoch ist alltäglich »präsent, dass diese Vorstellungen bedroht und fragil sind« (Völker 2011: 426). Insbesondere für die Männer unter den Studienteilnehmer*innen, deren Praxis jener ersten Form zuzuordnen ist, stellt diese Präsenz einen maßgeblichen Unterschied dar, denn was in anderen Zeiten als selbstverständliche, quasi-natürliche Geschlechterdifferenz und Arbeitsteilung keiner
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weiteren Begründung bedurfte, wird nun ostentativ und distinktiv praktiziert und verschiebt auf diese Weise das Bedeutungsgefüge der Ordnungen, auf die Bezug genommen wird. Die zweite Praxisform (2) kreist vor allem um die ›Erschöpfungen vormals selbstverständlicher institutioneller Arrangements‹, welche mit der Erfahrung zusammenhängt, dass herkömmliche Leitvorstellungen von geschlechtsbezogener Arbeitsteilung alltagspraktisch nicht mehr ausreichend anschlussfähig sind, um gesichert ein als respektabel erachtetes Leben führen zu können. Hieraus resultiert eine »Strategie des Einkalkulierens von Instabilität und Verwerfungen, die das Festhalten an Vorstellungen von geschlechtsdifferenzierenden Arbeitsteilungen untragbar und zu einer unakzeptablen Gefährdung des Lebenszusammenhang macht« (Völker 2011: 426). Der dritten Praxisform (3) ›Gelegenheitsorientierung und temporäre Arrangements‹ widmet Völker besondere Aufmerksamkeit, denn hier zeigt sich eine Praxis, in der Prekarität durchaus als Chance aufgegriffen wird, nicht zuletzt, da biografische Ressourcen und habituelle Dispositionen wirksam werden, die Deutungs- und Strukturierungsmöglichkeiten in prekären Situationen eröffnen. Diese Praxisform ähnelt also nahe der von Bourdieu (2001b) charakterisierten Praxis in Ungewissheitszonen, die Potenziale für jene Akteure bieten, die disponiert sind, schwach bestimmte Räume entsprechend ihrer eigenen habituellen Dispositionen zu strukturieren. »Während die zwei anderen rekonstruierten Praxisvarianten die Eindämmung der Unsicherheit zum Ziel haben, […] geht es mit der dritten Variante, die insbesondere Angehörige jüngerer Generationen praktizieren, darum, aus Unsicherheit zu schöpfen.« (Völker 2013a: 155; H.i.O.) Die Bedingungen dieser Form der Aneignung und Strukturierung prekärer Kontexte verortet Völker in spezifischen habituellen Dispositionen, die sie unter dem Begriff ›Habitus der Unbestimmtheit‹ zusammenfasst (Völker 2013a). Habitualisiert sind dabei biografische, aber auch familial transmittierte ›milieuspezifische Diskontinuitätserfahrungen‹, die sich in einer situationsbezogenen Flexibilität und einer ausgeprägten Gelegenheitsorientierung niederschlagen. Fordistische Erwerbsarbeitsorientierungen und Geschlechterordnungen sind nur sehr schwache Referenzrahmen des Handelns und treten situativ gegenüber anderen, attraktiveren Deutungsangeboten in den Hintergrund. Dies erlaubt den Akteuren nicht nur eine Reihe alternativer, wechselnder Strategien sozialer Einbindung und die Gestaltung unkonventioneller, diskontinuierlicher (Berufs-)Laufbahnen jenseits institutionalisierter Bildungserfolge, sondern ermächtigt sie auch (in begrenztem Maße), Zumutungen der prekären Arbeitswelt zurück zu weisen. »Insofern kann der Habitus der Unbestimmtheit ein kulturelles Vermögen und eine gelingende Umstellungsstrategie (Bourdieu) darstellen, die unterprivilegierte Milieus nicht länger auf die Praxis des nachahmenden Mithaltens, des Anlehnens an die Mittelschichtmilieus und des defensiven Vermeidens von Ausgrenzung festlegt.« (Völker 2013a: 164; H.i.O.) Im Rahmen ihrer Analysen verweist Völker zudem auf eine besondere Herausforderung praxistheoretischer Wandelforschung: Diese bewegt sich zwangsläufig im Spannungsfeld einer einerseits theoretisch fundierten Analyse und einer andererseits weitestgehenden empirischen Offenheit. Soziologisches Wissen muss als struktureller Bezugsraum der Forschung anerkannt, reflektiert und genutzt werden, zugleich besteht gerade im Rahmen der Wandelforschung die Gefahr, dass bislang gültige Deutungsmuster im Zuge der Veränderung des Gegenstandes nicht mehr greifen und unange-
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messene Rekonstruktionen produzieren. Konkret sieht Völker diese Gefahr bei einer eindimensionalen Rekonstruktion von Akteuren in prekären Kontexten gegeben, die als ›Abgehängte‹, ›Überflüssige‹ oder ›Ausgegrenzte‹ zwar zum Teil in kritisch-soziologischen Schutz genommen werden, deren analytische Charakterisierung sich jedoch gefährlich nahe an den normativen Zuschreibungen der dominanten symbolischen Ordnungen bewegt. Dabei können die Grenzen zwischen Rekonstruktionen der im common sense verankerten machtvollen praktischen Distinktionen und der analytischen Kategorisierung allzu leicht verwischen und sich somit ungewollt Lesarten etablieren, die analytisch einschränkend wirken, da sie einen notwendigen Wandel des soziologischen Begriffsinstrumentariums nicht mitvollziehen. Umso wichtiger ist es, analytisch bei konkreter Praxis anzusetzen und deren eigensinniger Logik nachzugehen: »[E]Inge Arbeitslose ist nicht nur ›arbeitslos‹, sie praktiziert ihr Leben, bringt Einbindungen und Strukturen hervor – auch und gerade unter Bedingungen sozialer Desintegration. Dies scheint in der Fokussierung auf die neue soziale Frage und die Kohäsionskraft der gesellschaftlichen Institutionen aber schwer denk- und wahrnehmbar, hier wird sie zur ›Nutzlosen‹, zur sozialen Nicht-Kraft, zur Abweichung. Praxisformen und Produktionen von sozialer Eingebundenheit, die nicht in den Logiken und vorgegebenen Bahnen der (instabilen!) Institutionen erfassbar sind, werden sozial irrelevant. Und die kritische Perspektive auf die zu engen Integrationslogiken der Gegenwartsgesellschaft, die Bevölkerungsgruppen zu ›Überflüssigen‹ machen, droht immer wieder hin zu der Übernahme dieser negativen Klassifikationen durch die Forscher selber zu kippen, für die das ›nicht anerkannte Handeln‹ der ›Überflüssigen‹ (Bude/Willisch) ebenfalls unerkannt bleibt« (Völker 2009a: 278)
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Kreative Praxis als Praxis des Wandels?
Kreatives Handeln ist per Definition auf einen schöpferischen Akt, auf die Hervorbringung von Neuem ausgerichtet. Ob kreatives Handeln bzw. kreative Praxis als Instanz eines spezifischen sozialen Wandelgeschehens rekonstruiert werden kann, hängt jedoch von der entsprechenden konzeptionellen Verfasstheit ab. Hans Joas etwa, der bereits in den 1990er Jahren die Abwesenheit einer sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den kreativen Aspekten des Handelns beklagt, konzipiert Kreativität neben der (zweck-)rationalen und der normativen Ausrichtung als dritte grundlegende Dimension des Handelns. Mehr noch: er spricht dem kreativen Handlungsmodell einen »die beiden anderen überwölbenden Charakter« zu, behauptet also eine kreative Dimension allen menschlichen Handelns, welche die analytischen Residuen der rationalen und normativen Handlungskonzepte adressiert (Joas 1996: 15). Während Joas Kreativität als sozialtheoretische Basiskategorie herausarbeitet, wird sie im praxistheoretischen Diskurs eher als heuristischer Begriff genutzt, um die Analyse von bestimmten, für die Gegenwartsgesellschaft markanten Praxiskomplexen zu strukturieren, welche
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auch verstärkt in ökonomischen Kontexten vorzufinden sind3 . In dieser Hinsicht ähnelt die Blickrichtung jener der Governmentality Studies, welche im Anschluss an Foucault Kreativität als einen Fluchtpunkt gegenwärtiger Anrufungen in Arbeitsalltag und Lebensführung herausarbeiten, an den sich spezifische Normierungen, Technologien und Subjektivierungsaspekte knüpfen (Althans et al. 2008; Bröckling 2004b, 2007a; Heubel 2002; Osten 2002, 2003; Weber 2014). Allerdings rekonstruieren letztere Kreativität als ein »gouvernementales Programm« bzw. als einen »Modus der Fremd- und Selbstführung«, interpretieren gegenwärtige kreative Praxis also als Ausdruck einer expandierenden ökonomischen Steuerungslogik, die unter anderem über ein Kreativitätsimperativ Selbstoptimierung und Selbstvermarktung in allen Aspekten der Lebensführung durchsetzt (Bröckling 2007a: 153). Luc Boltanski und Ève Chiapello (2006) arbeiteten bereits Ende der 1990er Jahre Veränderungen in der Logik der Ökonomie heraus und verweisen dabei auf die Integration künstlerisch-kreativer Sinnstrukturen. Im Gegensatz zu den Governmentality Studies argumentieren sie ideologietheoretisch, analysieren den ›Geist des Kapitalismus‹ also als eine »Ideologie […], die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt« (Boltanski & Chiapello 2006: 43). Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass sich der Kapitalismus deshalb als besonders persistent erweist, weil er in der Lage ist, Kritik zu internalisieren und sich auf dieser Basis ideologisch zu transformieren, wobei er in jüngerer Vergangenheit insbesondere Künstlerkritiken aufgreift, die sich gegen die Entfremdung der Menschen unter ökonomischen Zwängen richtet (Chiapello 2012). Sowohl Boltanski und Chiapello als auch die Governmentality Studies zeichnen also aus je unterschiedlichen Perspektiven den Wandel der Gegenwartsgesellschaft als einen Ökonomisierungsprozess nach, der eine vormals nicht ökonomische Praxis, nämlich Kreativität, langsam in eine marktrationale Logik überführt. Diese Diagnose wurde im Rahmen arbeitssoziologischer Studien – insbesondere von Cornelia Koppetsch (2006a) und Alexandra Manske (2016) – aufgegriffen und von Seiten der praktischen Logik kreativer Berufe beleuchtet. So zeigt Koppetsch (2006a, 2006b), dass sich im Bereich der Kreativindustrie unter Kultur- und Medienschaffenden ein spezifisches Kreativethos herausbildet, welches zum Leitbild der Arbeitswelt unter den Vorzeichen eines flexibilisierten Kapitalismus avanciert. Dieses ermögliche nicht nur die Deregulierung des Arbeitsmarktes, sondern erzeuge auch eine kulturelle Anschlussfähigkeit des Kapitalismus und wirke zugleich (explizit) sinn- und identitätsstiftend. Es trägt somit zu Lebensentwürfen bei, die um Werte wie Selbstbestimmtheit, Persönlichkeitsentfaltung und Originalität gruppiert sind, ohne es an ökonomischer Leistungsentschlossenheit bzw. -fähigkeit mangeln zu lassen. Alexandra Manske (2016) arbeitet die große Bereitschaft Kreativer heraus, prekäre Arbeitsverhältnisse hinzunehmen, wenn zugleich die Anerkennung bzw. das Selbstverständnis als Kreative*r ermöglicht ist. Sowohl Koppetsch als auch Manske kommen zu dem Schluss, dass die spezifische Logik kreativer Praxis nicht vorschnell unter neoliberale Handlungslogiken subsummiert werden darf. Allerdings sehen sie die Eigenlogik der Kreativarbeit nicht in gene3
Auf der anderen Seite finden sich Ansätze, die Joas Überlegungen für eine praxistheoretische Perspektive fruchtbar machen und auf eine systematische konzeptionelle Einordnung zielen (Göttlich 2004; Schäfer 2012).
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reller Opposition zu einer neoliberalen Logik: Koppetsch konstatiert, dass es »zu kurz gegriffen [wäre], das Kreativitätsethos allein als Herrschaftsideologie zu begreifen, da es auch eine sachliche, eine professionelle, Grundlage besitzt« (Koppetsch 2006b: 690). Dabei verweist sie auf kultursoziologische Überlegungen, welche die vornehmliche Ursache für das flexible, projektierte kreative Arbeiten nicht so sehr in einer verstärkten Marktorientierung, sondern eher in der Ausdehnung eines ›postmaterialistischen Konsumethos‹ verorten, d.h. in der Notwendigkeit »der Verbreitung und Ausdifferenzierung zeichenhafter Konsumformen durch eine stärkere Ästhetisierung ihrer Produkte Rechnung [zu]tragen« (Koppetsch 2006b: 690). Noch deutlicher problematisiert Alexandra Manske das Deutungsangebot einer marktrationalen Vereinnahmung kreativer Praxis: »[I]m Rekurs auf Boltanski/Chiapello lässt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Künstlern und Kreativen im arbeitsgesellschaftlichen Strukturwandel verblüffend einfach beantworten: nämlich als lebendige Verkörperung der Ideologie eines Zwangs zur Selbstverwirklichung. Das allerdings ist mit spezifischen Engführungen für die empirische Analyse verbunden und stellt sich letztlich wie ein theoretisches Hase-Igel-Spiel dar: Die Deutung, dass Kreative den neuen Geist des Kapitalismus legitimieren ist immer schon da.« (Manske 2016: 122) Welche alternativen Deutungsangebote für den veränderten Stellenwert der Kreativität bzw. für das gewandelte Verhältnis künstlerischer und ökonomischer Produktion lassen sich konstatieren? Einen anderen Weg wählt Andreas Reckwitz: Er rekonstruiert Kreativität als ein eigenständiges, gegenwärtig machtvolles Dispositiv, welches einem spezifischen ›Regime des Neuen‹ im Rahmen der ›ästhetischen Moderne‹ zuzuordnen ist und grenzt es damit von in erster Linie ökonomischen Innovationslogiken der Steigerung und Überbietung ab (Reckwitz 2012, 2016c). In dieser Lesart zielt kreative Praxis auf die Hervorbringung von Ästhetischem und damit auf eine affektive Wirkung4 . Das Kreativitätsdispositiv konkurriert nicht unbedingt mit einer Logik der Ökonomisierung sozialer Praxis, sondern kann sich aufgrund struktureller Gemeinsamkeiten mit dieser verbinden und dabei sogar an Wirkmacht gewinnen. Umgekehrt ›kolonialisiert‹ das Kreative das Ökonomische und lädt es ästhetisch auf (Reckwitz 2012: 48). Das Kreativitätsdispositiv wirkt transversal und vereinigt Praktiken und Alltagstechniken, Diskurse und Wissensordnungen, Artefaktkonstellationen und Subjektivierungsformen, die auf die kontinuierliche Hervorbringung des Neuen in Form neuer ›ästhetischer Ereignisse‹ ausgerichtet sind (Reckwitz 2016c). Damit produziert kreative Praxis die etwas paradox anmutende Erwartbarkeit einer Abweichung von ästhetischen Normen und wertet diese Abweichung zugleich symbolisch auf (Reckwitz 2012). Insofern ist sie bereits markiert als eine Praxis, die auf Wandel gerichtet ist, der in diesem Zusammenhang freilich nicht zwingend mit strukturell weitreichenden Diskontinuitäten einhergehen
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Dadurch unterscheidet sie sich in der Zielsetzung von rationaler, zweckgerichteter Praxis, denn ästhetische Praxis formiert sich um die Eigendynamik sensueller Rezeption und weist eine spezifische ›Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit‹ auf, die als ›Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit willen‹ beschrieben werden kann (Reckwitz 2012: 23).
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muss. Reckwitz ordnet Kreativität jedoch darüber hinaus einem gesellschaftsübergreifenden ›Regime des Neuen‹ zu: Regime des Neuen sind für moderne Gesellschaften charakteristisch, können jedoch ganz unterschiedlichen Logiken folgen. »Das Kreativitätsdispositiv richtet nun das Ästhetische am Neuen und das Regime des Neuen am Ästhetischen aus.« (Reckwitz 2016c: 257) Kreative Praxis wird damit ins Zentrum eines gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses gestellt, der nicht (nur) als Ausdehnung des (transformierten) Ökonomischen, sondern vielmehr als Transformation und Ausdehnung des Ästhetischen beschrieben werden kann. Dies bedeutet, dass in Feldern der ökonomischen Produktion neben die Logik der auf Dauer gestellten Innovation und Steigerung eine Logik der kreativen Veränderung und der ästhetischen Neuerung tritt, sie zum Teil verdrängt, sich aber auch mit ihr verbindet: Kreativität gilt längst als »neue Schlüsselressourcen im Aufbau wettbewerbsfähiger und wissensbasierter Dienstleistungsökonomien« (Manske & Merkel 2009: 295) und das ›Modell des Kreativen‹ als neues Ideal des (Arbeits-)Subjekts wird ausgesprochen distinktiv gegen die »sozial diskreditierte Existenzform des Angestellten« in Stellung gebracht, die dann »als konformistisch, unselbständig und nicht authentisch erscheint« (Koppetsch 2006b: 679). Die neue Qualität der Selbst- und Weltverhältnisse wird jedoch auch weit abseits kreativer Berufsfelder praktisch hervorgebracht: In der Urlaubsplanung und der Nahrungsaufnahme, in Schulen und Seniorenheimen erstarkt die Ausrichtung des Denkens, Wahrnehmens und Handelns an Möglichkeiten der Selbstentfaltung und am ästhetischen Erlebnis und zeigt sich etwa in Praktiken der Individualreise, in der beständigen Erprobung neuer Lebensmittel und Zubereitungstechniken, in Lob und Förderung der Kreativität von Schüler*innen, in der Ästhetisierung des Alters, beispielsweise durch die Werbung. Soll nun aber Kreativität aus einer wandelbezogenen Perspektive nicht nur als neues Ethos bzw. Regime betrachtet werden, welches mit einer veränderten sozialen Praxis einhergeht, sondern zudem als spezifische Praxis, die auf die Hervorbringung von Neuem ausgerichtet ist, muss der analytische Fokus hin zur Situation des ›doing creativity‹ verschoben werden. Gefragt wird dann danach, wie Neues gemacht wird, welche Artefakte und Kontexte, welches explizite und implizite Wissen eine Rolle spielt, welche Techniken und Routinen sich herausbilden5 . Mit diesem Fokus hat Hannes Krämer (2014) die ›Praxis der Kreativität‹ in Werbeagenturen ethnographisch erforscht. Er zeigt, wie Kreativarbeiter*innen Kreativprodukte praktisch herstellen und wie Werbeagenturen diese Produktion routinisieren, d.h. Kreativität als beständige, systematisch abrufbare und damit planbare bzw. ökonomisch berechenbare Leistung verfügbar machen (Krämer 2015). Krämer greift dabei den zunächst von den Governmentality Studies inspirierten Diskurs um die Normalisierung der Kreativität als Anforderung und Leistung unternehmerischer Subjekte auf 5
Benjamin Jörissen (2008) analysiert beispielsweise MySpace-Profilgestaltungen als veralltäglichte kreative Praxis in ›Neuen Medien‹, an die sich wiederum veränderte Formen der Kommunikation, Selbstdarstellung und Gemeinschaftsbildung anschließen. Dabei arbeitet er neben den strukturellen Voraussetzungen und Begrenzungen der Profilerstellung verschiedene kreative Praktiken heraus (copy/paste, style-hack, ironisches Ausreizen des vorgegebenen Rahmens etc.) die teils durch geschickte Nutzung des anbieterseitig festgelegten Gestaltungsrahmens, teils durch dessen Unterwanderung neue Ausdruckswege schaffen.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
und rekonstruiert seinerseits Kreativität als erstrebens- und anerkennenswertes Subjektmerkmal, aber auch als relevantes Beschreibungsattribut erwerbsmäßigen Arbeitens. Der Fokus seiner Analysen liegt jedoch auf der konkreten Hervorbringung kreativer Praxis und in dieser Perspektive erscheint Kreativität nicht als zufällige, durch die Einfälle Einzelner erbrachte, unmöglich erzwingbare Leistung (Bröckling 2004b), sondern stellt sich als kollektive Leistung heraus, als »konkrete Verdichtung unterschiedlicher Praktiken innerhalb eines sozial-räumlichen Settings« (Krämer 2012: 112). Auch wenn die kreative Eingebung praxistheoretisch nicht als singuläres, gänzlich unkontrollierbares oder gar natürliches Ereignis erscheint, so wird doch deutlich, dass seine planvolle und regelmäßige Hervorbringung – anders als die Herstellung eines bereits standardisierten Produktes – eine organisationale Herausforderung darstellt: Für die gezielte, korporative Produktion von Kreativität ist eine »permanente Evokation und Strukturierung vermeintlich einzigartiger Einfälle und deren räumliche, zeitliche und interaktionspraktische Stabilisierung« notwendig (Krämer 2016: 304). Die dabei anfallenden organisationalen Bearbeitungsanforderungen fasst Krämer unter drei zentralen ›Bezugsproblemen kreativer Produktion‹ zusammen, die bei der Kreativarbeit in Werbeagenturen zu bewältigen sind (Krämer 2015); diese zeichnet sich erstens in einer zeitlichen Dimension durch hohe Produktionsfrequenzen und Kurzfristigkeit, zweitens in einer sozialen Dimension durch starke Informalisierung, Explorativität und Situativität und drittens in einer sachbezogenen Dimension durch spezifische evaluative Anforderungen einer prozessualen, kollektiven Qualitätssicherung aus. Im Kontext dieses komplexen und multipel verschränkten Bedingungsgefüges weist kreative Praxis eine spezifische Prozessualität, Materialität und Technifizierung auf und markiert bestimmte Dispositionen der Akteure sowie der organisationalen Strukturen. Krämer arbeitet nun auf dieser Basis verschiedene Formen kreativer Praxis heraus, die den Arbeitsalltag in den Kreativabteilungen von Werbeagenturen bestimmen: Das Brainstorming beispielsweise, als eine Technik der Ideenfindung, folgt einer praktischen Logik, die nur sehr abstrakt mit der institutionalisierten Arbeitsmethode aus der entsprechenden Managementliteratur vergleichbar ist. Es stellt sich als fein austariertes praktisches Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure und Artefakte dar, wobei die körperliche Könnerschaft der Akteure eine rasche Abfolge und Gleichzeitigkeit des Aufbringens, Aufgreifens, Bewertens, Abwandelns, Konkretisierens, Skizzierens und Verwerfens von Ideen ermöglicht, sodass der Prozess schließlich – einer impliziten Dramaturgie folgend – im (vorläufigen) Entwurf eines neuen Produktes mündet. Die praktischen Regeln des Brainstormings variieren und missachten die expliziten Faustregeln in mancherlei Hinsicht, reichen aber andererseits weit über diese hinaus und umfassen beispielsweise auch Formen der unausgesprochenen Ablehnung von Vorschlägen oder strategische Verweise auf Kundenwünsche (Krämer 2012). Auf diese Weise rekonstruiert Krämer die große Bandbreite von Praxisformen (Briefing, grafisches Gestalten, ›Schulterblick‹ etc.), die für die Herstellung kreativer Produkte zum Einsatz kommen und die eine Fülle unterschiedlicher Techniken, Artefakte, Räume, Zeitstrukturen und habitueller Dispositionen integrieren. Neben den verschiedenen Formen kreativer Praxis, die jeweils bestimmten Phasen in der Produktion zuzuordnen sind, verfolgt Krämer jedoch noch einen weiteren, komplementären Analysestrang: Er nimmt auch die Übergänge zwischen den verschie-
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denen Phasen und die damit einhergehenden Transformationen in den Blick (Übersetzung von Kundenwünschen, Aneignung von Vorarbeiten etc.). Bei der Verschränkung der synchronen Perspektive auf einzelne Praxisphasen mit der diachronen Perspektive auf Umformungsprozesse zwischen den Phasen erweist sich dann schließlich »das kreative Produkt nicht als Resultat eines singulären Einfalls, […] sondern als Ergebnis zahlreicher intervenierender und verflochtener Praktiken, die ein solches Produkt schrittweise figurieren. […] Anhand der Analyse dieser einzelnen Momente setzt eine Praxeologie kreativ-künstlerischer Arbeit dem verrätselten Prozess kreativer Eingebung die Identifikation konkreter Praktiken und deren funktional-strategischer Einbindung in den Arbeitsprozess entgegen. Damit verweist sie auf die Alltäglichkeit und Routinehaftigkeit von Kreativität und bietet zugleich die Möglichkeit, einer mystischen Überhöhung des Begriffs eine mundane, aber nicht minder erkenntnisreiche Lesart gegenüber zu stellen.« (Krämer 2016: 315). Bezogen auf gesamtgesellschaftlich wirksame Arbeitsregime stellt Krämer – in Anlehnung an Reckwitz’ genealogische Analysen des Kreativdispositivs – eine Verschränkung ökonomischer und ästhetischer Logiken fest, die er auf Basis der von ihm untersuchten Alltagspraxis, aber auch anhand der organisationalen Strukturierung der Werbeagenturen sowie der Selbstverständnisse der Kreativen konkretisieren kann (Krämer 2017): So findet seitens der Mitglieder der Kreativabteilungen eine explizite Orientierung am Ideal des sich selbst verwirklichenden, von innerem Schaffensdrang angetriebenen Künstlers statt, die jedoch zugleich mit einer Orientierung an ökonomischen Prämissen verbunden ist – etwa indem künstlerische Leistungen im Lichte der Marktanforderungen durchaus modifiziert werden dürfen und nicht durch das Fernhalten materialistischer Erwägungen geadelt werden, sondern im Gegenteil ›ihr Geld wert sind‹. Krämer stellt also ein ›doppeltes Selbstbeschreibungsprofil‹, bzw. die verbreitete Selbstdeutung als eine Art ›marktaufgeklärter Quasi-Künstler‹ fest. Organisational drückt sich die doppelte Orientierung sowohl in Form der spezifischen Anerkennung des Künstlerischen als ökonomische, jedoch eigenlogische Ressource aus als auch in einer diese Eigenlogik aufgreifenden Strukturierung und Steuerung: innerhalb der Organisation wird dabei mit der Kreativabteilung eine ›ästhetische Arena‹ geschaffen, die »als ein eigengesetzlicher Raum existiert, dessen organisationelle Leistung im temporären Ausklammern bzw. in den Hintergrund-Verschieben des Ökonomischen sowie des Bürokratischen und Rational-Technischen liegt«, um Produktivität zu gewährleisten (Krämer 2017: 226). Hinsichtlich der konkreten Praxis in Werbeagenturen arbeitet Krämer schließlich nicht nur das Aufgreifen künstlerischer Techniken in der ökonomisch-kreativen Produktion heraus, sondern zeigt auch auf, wie die routinierte Hervorbringung ästhetischer, d.h. auf sinnliches Erleben zielender Objekte eine ›ästhetischaffektive Tätigkeitsdimension‹ umfassen, die in den Werbeagenturen ökonomisch-strategisch nicht nur hingenommen, sondern ausdrücklich evoziert und beworben wird. Die Diffusionen ästhetischer Praxis, die Reckwitz als ›Genealogie des Kreativitätsdispositivs‹ anhand verschiedener Komplexe von Praktiken und Diskursen nachverfolgt (Reckwitz 2012: 18), arbeitet Krämer auf Basis konkreter kreativwirtschaftlicher Praxisfelder heraus und stellt dabei eine Ent- und Neuverkopplung ästhetischer und ökonomischer Logiken fest, wobei »das Künstlerische als ein selbstreferenziell freiheitlich
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Anderes, explizit Nicht-Ökonomisches, […] einen festen Bestandteil der ökonomischen Praxis« bildet (Krämer 2017: 215). Das Künstlerische werde nicht etwa von ökonomischen Logiken okkupiert, vielmehr stelle es im Bereich der Kreativwirtschaft ein originäres Identitätsangebot, einen eigenständigen organisationalen Möglichkeitsraum und eine spezifische Tätigkeitsform dar. Ähnlich wie Reckwitz verwandelt Krämer also die einseitige Lesart einer Ökonomisierung des Künstlerischen in eine Analyse der wechselseitigen Permeabilität beider Bereiche. Um die konkrete praktische Verwobenheit detailliert aufzeigen zu können, aber auch um der oft etwas pauschalen Deutung der Kreativen als entweder ›Opfer‹ oder ›Komplizen‹ neoliberaler Entwicklungen die alltäglichen praktischen Verhältnisse entgegensetzen zu können, betont Krämer die Relevanz einer empirischen Analyse der ›Mikropraxis der Akteure‹: »Denn zum einen sind die Protagonisten der Kultur- und Kreativwirtschaft selbstreflexionsgeschulte Analysten ihrer eigenen Tätigkeitsbedingungen, die ihre Arbeitswirklichkeit durchaus als Ideologie identifizieren und markieren. Zum anderen nutzen die Kreativen Aspekte der Autonomieerzählung ebenso strategisch, um sich auf unsicheren Märkten zu behaupten und als professionelle Akteure sichtbar zu werden. Die Referenz zum Künstlerischen lässt sich demnach weder affirmativ als vornehmlich positive Eröffnung von freiheitlichen Möglichkeitsräumen deuten, noch negativ ausschließlich als perfide Ausbeutungsstrategie zeitgenössischer Produktionsregime. Vielmehr lässt sie sich als Beziehungsgeflecht zweier Welten beobachten und empirisch untersuchen.« (Krämer 2017: 234) Wie Völker fokussiert also auch Krämer bei der empirischen Erforschung sozialer Praxis, die im gesellschaftlichen Wandelgeschehen zu verorten und auf Veränderung ausgerichtet ist, konkret situierte Praxisvollzüge. Beide Autor*innen schließen dabei analytisch an bereits herausgearbeitete Deutungsangebote an, ohne diese von vornherein als alleingültige Interpretationsfolie zu adressieren. Während Völker auf Basis konkreter prekärer Praxis herausarbeiten kann, dass der Wandel von Geschlechterregimen nicht kausal aus der Veränderung von Arbeitsregimen erfolgt, sondern hier eine Wechselseitigkeit besteht, welche auch die verstärkt wahrgenommene Kontingenz der Entwicklung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen erklärt, zeigt Krämer, dass Kreativarbeit, die als Hort selbstökonomisierender Subjekte gilt, keineswegs einer reinen, radikalisierten Marktlogik unterworfen ist – mehr noch: dass ökonomistische Regime nicht einmal in einem generellen Widerspruch zu der hiervon zu unterscheidenden ästhetischen Orientierung stehen. Das heißt, Krämer und Völker nutzen eine praxistheoretische Perspektive, um »Gewissheit gewordene theoretische Konzepte zu hinterfragen und zu präzisieren, zu revidieren oder zu bestätigen, also eine Art soziologische Selbstbefremdung anhand empirischer Phänomene zu betreiben« (Krämer 2016: 315). Hieraus resultiert eine weitere zentrale Gemeinsamkeit: Auch die Frage nach den Effekten sozialer Wandeldynamiken wird auf die Ebene der konkreten Praxisvollzüge verlagert und wird als empirisch zu beantwortende Frage ernst genommen. Zwar werden teils theoretisch abgeleitete, teils durch den empirischen Stand der Forschung herausgearbeitete Konsequenzen gesellschaftlicher Transformationen nicht grundsätzlich negiert: Dass Prekarisierungsprozesse viele Akteure belasten oder Selbstvermarktlichungszwänge auch durch die Praxis in Kreativbranchen eine Ausweitung erfahren,
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kann nicht zuletzt anhand der von Völker und Krämer durchgeführten Untersuchungen empirischen nachvollzogen werden. Dennoch kritisieren beide Autor*innen ein tendenziell pauschalisierendes Vorgehen bei der Effektbestimmung: Prekarisierte Akteure dürfen nicht ex ante als ›Überflüssige‹, Kreativarbeiter*innen nicht per se als Adjutant*innen des Neoliberalismus in den Blick genommen werden, da dies die soziologische Analyse verengt und insbesondere die Sicht auf Neues verstellt. Findet diese Vorgehensweise Anwendung bei der Erforschung sozialer Wandlungsprozesse, wirkt sie der theoretischen Schließung und der Gefahr einer reinen Überprüfung bzw. Ausdifferenzierung gewandelter Praxisformen entgegen, indem sie neben der analytischen Konkretisierung gewandelter Praxisformen im Panorama bereits identifizierter Regime-, Ordnungs- oder Sinntransformationen auch die Entdeckung von Friktionen, Interferenzen, Hybriden und bislang unberücksichtigter Logiken erlaubt.
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9.1
Der dynamische Kern des Praxiskonzepts und die instabile Stabilität der Praxisformen
Von besonderer Relevanz für eine praxistheoretische Reformulierung sozialen Wandels ist die spezifische Konstitution der praktischen Logik, die sozialer Praxis den Doppelcharakter einer zugleich fluiden Stabilität und strukturierten Dynamik verleiht. Sie bedingt die Gleichzeitigkeit von Veränderung und Reproduktion im Praxisgeschehen: »[D]er Gegensatz von Statik und Dynamik, Struktur und Geschichte, Reproduktion und Transformation usw. [ist] insofern vollkommen fiktiv.« (Bourdieu 1989: 409) Hilmar Schäfer (2013; Schäfer 2016a) greift zur Verdeutlichung dieses Aspekts auf das Begriffspaar ›Stabilität – Instabilität‹ und den poststrukturalistisch gewendeten Begriff der ›Wiederholung‹ zurück: »Das Auftreten eines Ereignis steht mit seiner vergangenen und möglichen zukünftigen Existenz in Verbindung. Die Betonung der Zeitlichkeit der Wiederholung verweist dabei besonders auf den Spalt zwischen den beiden Instanzen des Auftauchens eines Elements und begreift die ›Zeit als eine[n] Vorgang der Verschiebung, der Verzögerung, des Aufschubs, durch den der Wiederholungsprozeß sich weiter verschärft (Waldenfels).‹« (Schäfer 2016a: 140) Mit Rekurs auf Gilles Deleuze und Jaques Derrida wird Wiederholung dabei als Prozess der Differenzierung bzw. als Bedeutung konstituierender Vorgang begriffen. Die poststrukturalistische Relektüre praxistheoretischer Kernaspekte bringt somit die Prämisse einer relationalen, praktischen Konstitution von Sinn- und Bedeutungsordnungen auf den Punkt – nicht zuletzt, da Praxistheorie und Poststrukturalismus gleichermaßen das Soziale im Spannungsfeld von sozialer Determination und zugleich faktisch nicht determinierbaren praktischen ›Möglichkeitsräumen‹ bzw. ›Unbestimmtheitszonen‹ verorten (Teschke 2003). Schäfer schlägt das Konzept der ›Wiederholung‹ vor, um die in der praxistheoretischen Forschung herrschende Betonung der Stabilität zu überwinden und »die Betrachtung von Stabilität und Instabilität in einem theoretischen Konzept [zu] bündeln« (Schäfer 2016a: 138). Das Konzept der ›Wiederholung‹ soll also eine weitreichende und
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
vor allem eigenständige analytische Qualität entfalten. Insbesondere der zweite Aspekt stellt eine große Herausforderung dar, denn nicht erst der Begriff der Wiederholung ermöglicht es, Stabilität und Instabilität gleichermaßen praxisanalytisch zu erfassen, dieses Potenzial birgt bereits der Praxisbegriff selbst, mehr noch: die fluide Stabilität und strukturierte Dynamik sozialer Praxis bilden den Kern praxistheoretischen Denkens. Entsprechend gelangt Schäfer zu einer Dimensionierung der Wiederholung sozialer Praxis, welche drei Basisaspekte sozialer Praxis – ›Zeitlichkeit‹, ›Materialität‹ und ›praktische Logik‹ – in spezifischer Weise aufgreift (Fröhlich & Rehbein 2009a; Reckwitz 2003; Schmidt 2012): Praktiken werden erstens als ›sich wiederholende Formationen‹ verstanden, d.h. als »Strom eines Praxisgeschehens, der sich durch die Zeit bewegt«; sie werden zweitens als ›wiederholte Formationen‹, als »körperlich aus- und aufgeführte Handlungen« aufgefasst; und sie stellen drittens ›wiederholbare Formationen‹ dar, die »prinzipiell von ihrem Kontext gelöst und mit neuen Kontexten verbunden werden können« (Schäfer 2013: 323ff.; vgl. auch Schäfer 2016a). Für die Rekonstruktion sozialen Wandels sehe ich nun einige Vorteile darin, die theorienspezifischen Basisannahmen im weiteren Sinne auf die Konstitution der Praxis zu beziehen und nicht im engeren Sinne auf die Konstitution der Wiederholung von Praxis, denn mit dieser Fokussierung werden jeweils einzelne Aspekte praxistheoretischer Zeitlichkeit, Materialität und Logik besonders betont, während andere in den Hintergrund treten, wobei letztere für die Betrachtung sozialen Wandels nicht weniger aufschlussreich sind. So wird mit der Konkretisierung sozialer Praxis als sich wiederholende Formation eine »zirkulierende Dimension von Praktiken« hervorgehoben, sowie die in der Zeit ablaufende, wiederholende Bezugnahme auf ein »kulturell verfügbares Repertoire«, an das die Akteure zitierend anschließen können (Schäfer 2016, S. 323). Das zeiterzeugende Potenzial sozialer Praxis, sowie der im Praxisgeschehen unweigerlich entstehende Handlungsdruck werden hingegen nicht genutzt (und auch nicht benötigt), um die Wiederholbarkeit sozialer Praxis theoretisch zu entwerfen. Die Zeiterzeugung verweist jedoch auf die umfassende Produktivität sozialer Praxis, während der Zeitdruck ein wesentliches Moment der Destabilisierung bzw. der Vagheit des Praxisgeschehens bildet. Für eine praxistheoretische Rekonstruktion sozialen Wandels sind beide Punkte von hoher Relevanz: Der Verweis auf die praktische Konstitution und damit soziale Qualität von Zeit schließt an das besondere, sogar die strikt naturalisierten Realitätsbereiche umfassende Weltgestaltungsvermögen sozialer Praxis an und macht so die Reflexion sowohl der historisch spezifischen sozialen Konstruktion von Zeit notwendig, die bestimmte Formen praktischer Veränderung ermöglichen bzw. verhindern als auch die Reflexion der wissenschafts- und sozialtheoretischen Entwürfe von Zeit, die eine (oft unhinterfragte) Prämisse der Wandelforschung darstellen. Der durch die Zeitlichkeit sozialer Praxis erzeugte Handlungsdruck begründet hingegen die Notwendigkeit einer praktischen Logik, die nicht auf Exaktheit und Stringenz ausgerichtet ist, und die daher Spielräume eröffnet, gerade unter Zeitdruck ›ungefähr‹ zu handeln und dabei gegebenenfalls auch die Dinge anders zu tun. In materieller Hinsicht wird mit dem Begriff der Wiederholung insbesondere die Unverzichtbarkeit körperlicher Ausführungen betont. Zwar dezentriert die Praxistheorie das (wiederholende) Subjekt, es wird jedoch »als ein Durchgangspunkt begriffen, ohne den die Wiederholung von Praktiken nicht denkbar wäre. Daher fragt diese Per-
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spektive auf Wiederholung nach den inkorporierten Dispositionen zur kompetenten Ausführung einer Praxis.« (Schäfer 2013: 324) Ohne Zweifel verdient die Körperlichkeit der praktischen Ausführung bei der konzeptionellen Begründung der Gleichzeitigkeit von Stabilität und Instabilität bzw. Reproduktion und Veränderung besondere Betonung. Eine Gefahr besteht jedoch darin, dass die Materialität der Dinge, die ein überbordendes Bedeutungspotenzial mit der Beschränkung von Sinn und Nutzbarkeit verbindet, dabei in den Hintergrund tritt, denn diese ist in mindestens zweierlei Hinsicht für die praxistheoretische Rekonstruktion sozialen Wandels zentral: Einerseits vergegenwärtigen Dinge in ihrer Materialität das Vergangene und verweisen so auf ihre praktische Geschichte. Andererseits bildet ihre Materialität eine physische Beschränkung der zugleich unbestimmten Sinnverschiebungsmöglichkeiten und wirkt somit in je spezifischer Weise sowohl kontingenzeröffnend als auch -schließend. In dinglicher Materialität korrespondieren also die soziale Vergangenheit des Gegenstandes und sein aktuelles praktisches Einbindungspotenzial. Gemeinsam spannen sie einen Möglichkeitsraum der Verwendbarkeit und Bedeutungsverknüpfung auf, der nicht zuletzt auch den Wandel sozialer Praxis bedingt und einschränkt. Schließlich hebt die Dimension der ›Wiederholbarkeit‹ die Iterabilität von Praktiken hervor, also die unbedingte Verknüpfung von Wiederholung und Andersheit im Praxisgeschehen. Schäfer betont dabei vor allem die Möglichkeit der Wiederholung in variierenden Kontexten. Hier bestehen Parallelen mit dem für das Konzept praktischer Logik konstitutiven Begriff der Polythetie (Bourdieu 1993c). Dieser markiert ein stabilisierendes Moment sozialer Praxis, deren relative Konsistenz gerade aus der Möglichkeit erwächst, eine im Kern beständige Logik oder die Struktur einer Praxisform in unterschiedlichen Situationen zu reproduzieren und die Art der Hervorbringung dabei zwangsläufig zu modifizieren. Damit ist also zugleich eine kontextuelle Anpassungsfähigkeit adressiert, mit der die Möglichkeit einhergeht, dass sich in der Wiederholung auch »die Bedeutung einer Praxis verändern kann« (Schäfer 2016a: 142). Zurecht hebt Schäfer diesen Doppelcharakter hervor, denn dieser ermöglicht die für Praxistheorien charakteristische konzeptionelle Verschränkung von Struktur und Strukturierung bzw. Stabilität und Dynamik. Allerdings geht mit der Reformulierung sozialer Praxis als wiederholbare Formation wie bereits mit deren Charakterisierung als wiederholende und wiederholte Formationen eine latente Betonung der akteursseitigen Prozessierung einher1 : Da mit der Wiederholbarkeit sozialer Praxis insbesondere deren Iterabilität in den Vordergrund rückt, liegt die konzeptionelle Betonung zumindest auf der konkreten Hervorbringung und Iteration einer Praxis, sogar mehr noch: auf der damit verbundenen iterativen Zitationsleistung der Akteure. Zwar birgt das zitierte Zeichen selbst die Möglichkeit, mit seiner kontextuellen Einbindung zu brechen, die hiermit implizierte Analyseperspektive setzt jedoch eine Handlung voraus, oder umgekehrt formuliert: Iterabilität ist ein Konzept, dass vor allem auf die Begründung der Möglichkeit von Stabilität und Variabilität menschlicher Äußerungen abzielt, die nicht möglich wären, »wenn ihre Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Äußerung wiederholte, 1
Die Zeitlichkeit der Wiederholung ist auf das zitierende Moment im Denken, Wahrnehmen und Handeln fokussiert, während hinsichtlich ihrer Materialität die Verinnerlichung und Habitualisierung sozialer Praxis zentriert wird.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifizierbar wäre«. (Derrida 1999b: 346; H.i.O.) Die konzeptionelle Anlage der praktischen Logik hingegen ermöglicht eine stärkere Abstraktion von der akteursseitigen Beteiligung an einzelnen Praxisvollzügen, da sie sich nicht nur auf die Polythetie praktischer Ausführungen, sondern zugleich auf die Polysemie sozialer Praxis bezieht. Während die Polythetie die Möglichkeit der Anwendung gleicher Schemata in unterschiedlichen Kontexten benennt, bezeichnet Polysemie die Möglichkeit der Anwendung unterschiedlicher Schemata auf gleiche Gegenstände und in gleichen Kontexten. Beide Potenziale bestimmen gemeinsam die Funktionsweise der praktischen Logik und bedingen in ihrer Verschränkung die Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Wandel. Damit ist eine Analyseperspektive impliziert, die wechseln kann zwischen der Fokussierung konkreter Sinnverschiebungen in der Wiederholung einer Handlung und der Fokussierung unterschiedlicher interferierender oder konfligierender Sinnstrukturen innerhalb eines Praxisvollzugs. Dabei wird nicht zuletzt auch die Wechselwirkung zwischen beiden Aspekten analytisch erfassbar. Für die Erforschung des Wandels sozialer Praxis ist solch eine weiter gefasste Analyseperspektive besonders aufschlussreich: Zwar spielt das Handeln der Akteure in Bezug auf Wandeldynamiken eine wesentliche Rolle, sie lassen sich jedoch letztendlich nicht durch das Handeln begründen und setzen daher Analysekategorien voraus, welche die theoretische Dezentrierung der Handelnden mitvollziehen. Dies ist umso relevanter, als die Rekonstruktion sozialen Wandels nicht ohne den Rekurs auf transversale Praxismuster auskommt. Die praxistheoretische Verknüpfung von Strukturiertheit und Vagheit, von Reproduktion und Veränderung, sowie von historischer Bedingtheit und Unbestimmtheit der Zukunft lässt die »Offenheit für kulturellen Wandel zum Normalfall werden« (Reckwitz 2003: 294). Die fluide Stabilität und zugleich strukturierte Dynamik sozialer Praxis ermöglicht deren Regelmäßigkeit und schließt zugleich eine identische Reproduktion aus. Auf diese Weise können überhaupt erst Praxisformen entstehen, die ja nur in ihrer relativ stabilen Reproduktion als Formen bestimmbar und wirksam werden. Umgekehrt sind Praxisformen ebenso durch ein konstantes Transformationspotenzial gekennzeichnet, durch eine instabile Stabilität also, die selbst hochgradig persistente Strukturen einer grundsätzlichen Wandelbarkeit unterwirft. Entsprechend verweist Schäfer darauf, dass die »Charakterisierung einer Praxis als stabil oder instabil«, mithin die Frage, ob sich eine Praxisform reproduziert oder wandelt, »radikal empirisch« zu klären ist (Schäfer 2013: 43), dass also keine theoretische Ableitung oder Modellierung das Wandelpotenzial einer sozialen Praxis a priori feststellen kann. Ob Praxis der Form nach stabil bleibt, ob sie sich radikal oder nur in Teilen verändert, ist kontingent: »das Verhältnis von Reproduktion und Transformation ereignet sich in der Gegenwart als unentschiedener, ›ungeschiedener‹, uneindeutiger Prozess praktisch.« (Völker 2010a: 311; H.i.O.)
9 Wandel als praxistheoretische Analysekategorie
9.2
Grundzüge einer praxistheoretischen Wandelkonzeption
Die am Ende von Teil I aufgeworfenen Fragen, welche soziologische Basiseinheit den Blick auf sozialen Wandel bestimmt (Was wandelt sich?), auf welche Weise die Qualität des Wandels beschrieben werden kann (Wie bzw. in welcher Form wandelt sich das, was sich wandelt?) und welche Ursachen bzw. Grundprinzipien des Wandels feststellbar sind (Warum findet sozialer Wandel statt?), werden aus einer modernisierungstheoretischen und einer praxistheoretischen Perspektive jeweils auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet. Im Rahmen des modernisierungstheoretischen Narrativs wird die Frage nach dem ›Was‹ aus einer strukturalistischen Perspektive aufgegriffen – was sich wandelt sind soziale Strukturen, die als eigenständige soziale Tatbestände gelten und die das Handeln der Menschen mehr oder weniger direkt bestimmen. Kulturelle Differenzen werden zwar erfasst, ihnen kommt jedoch als volkstümliche Variation der Grundstrukturen eine untergeordnete Bedeutung zu. Die Beantwortung des ›Wie‹ lässt sich aus einem evolutionären Grundverständnis folgern, welches sowohl (ältere) Entwürfe von Stadien und Endwicklungsstufen als auch (jüngere) Prämissen einer sozialkonstitutiven Steigerungs- und Verbesserungslogik durchzieht, wobei die beiden Varianten sowohl separiert als auch kombiniert verargumentiert werden. Das evolutionäre Grundverständnis bedingt nicht nur eine basale qualitative Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften, sondern homogenisiert auch den Maßstab für Veränderungen innerhalb der Moderne, sodass die Qualität der Veränderung nicht nur in allgemeine Gesetzmäßigkeiten überführt werden kann, sondern darüber hinaus konkrete Wandelprozesse als Fort- oder Rückschritte bestimmbar werden. Auch die Beantwortung des ›Warum‹ ist durch den spezifischen evolutionistischen Charakter modernisierungstheoretischer Ansätze bedingt: Sozialer Wandel folgt den Gesetzen allgemeiner Rationalität, entwickelt sich also – je nach Perspektive – in Richtung einer idealen Gesellschaft, die der menschlichen Natur entspricht oder in Richtung einer immer effizienteren Regulierung des sozialen Zusammenlebens. Beiden Varianten liegt nicht nur die Vorstellung einer universellen Vernunft zugrunde, sie implizieren auch jeweils eine teleologische (bzw. quasi-teleologische) Entwicklungslogik. Eine praxistheoretische Rekonstruktion setzt soziale Praxis als Gegenstand sozialen Wandels voraus. Sie nimmt die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität an und sie kritisiert die Vorstellung einer allgemeingültigen Rationalität, sieht sozialen Wandel vielmehr durch eine Vielzahl von Rationalitäten und nicht zuletzt durch die Konkurrenz dieser Rationalitäten bestimmt. Dies führt zu einer Rekonstruktion, die Wandel nicht als (quasi-)teleologisches, sondern als grundsätzlich kontingentes Phänomen in den Blick nimmt.
Das Primat sozialer Praxis: Sozialer Wandel in praktisch strukturierten und praxisstrukturierenden Strukturen Auf die Frage, was sich wandelt, wenn von sozialem Wandel die Rede ist, antwortet eine praxistheoretische Soziologie mit dem Verweis auf soziale Praxis. Sozialer Wandel bezeichnet also eine regelmäßige Veränderung im ›doing sociality‹. Dieses systematische
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›Anderstun‹ muss hinsichtlich verschiedener Aspekte konkretisiert werden: Zunächst ist damit ebenfalls auf den Wandel von Mustern bzw. Strukturen verwiesen, denn sowohl die betreffende Praxis als auch deren Veränderung sind als Ausführung einer bestimmten Praxisform, bzw. als regelmäßige Transformation dieser Form erkennbar, sie sind also überindividuell und bis zu einem gewissen Grad von Raum und Zeit ablösbar. Die Strukturiertheit der Praxis wird jedoch nicht mit dem Vorhandensein substanzieller Strukturen erklärt, sondern ergibt sich aus der Konstitution sozialer Praxis als materielles, zeitgebundenes und einer spezifischen Logik folgendes soziales Phänomen. Strukturen existieren nicht losgelöst von sozialer Praxis, sie sind praktisch strukturiert, strukturieren umgekehrt jedoch auch das Praxisgeschehen. Sie lassen sich mithilfe verschiedener Analysekonzepte erfassen, die jeweils einen spezifischen Fokus setzen: Das Habitus-Konzept etwa ermöglicht den Blick auf die Strukturiertheit von und die Strukturierung durch das Denken, Wahrnehmen und Handeln, das LebensformKonzept deckt die spezifische Strukturiertheit von und Strukturierung durch Praktiken der Lebensführung auf, während das Konzept des Subjekts die Strukturiertheit von und Strukturierung durch Selbst- und Weltverhältnisse erfasst etc. Diese Konzepte bilden analytische Fluchtpunkte, die sowohl für die Erforschung der Qualität als auch der Veränderung praktischer Strukturen genutzt werden können. Dabei lässt sich ein Praxisgeschehen zumeist sowohl hinsichtlich seiner habitusspezifischen als auch zugleich hinsichtlich seiner subjektivierenden oder lebensführungs-, aber auch feldformierenden Aspekte etc. betrachten. Jene Strukturen, die sich im Praxisvollzug kreuzen, sind dabei nicht auf einzelne Praxisformen begrenzt, sondern bilden ein Netzwerk teils weitreichender Sinnverknüpfungen. Diese Vernetzung sozialer Praktiken entlang praktischer Strukturen und Bedeutungsbeziehungen ermöglichen es nicht zuletzt, mit Hilfe ›sozialer Praxis‹ als analytischer Basiskategorie eine Soziologie sozialen Wandels zu betreiben, d.h. Wandelprozesse zu erfassen, die in ihrer Bedeutung und Wirkung über das singuläre Ereignis hinausgehen. Aus dem Primat sozialer Praxis lassen sich zudem Antworten auf die Fragen nach dem Wie und dem Warum sozialen Wandels ableiten: Eine große Stärke der praxistheoretischen Perspektive ist die Möglichkeit, die Heterogenität sozialer Wandlungsprozesse systematisch rekonstruieren zu können. Dabei kommen nicht nur die vielfältigen Varianten der Veränderung einer Praxisform, sondern auch ungleiche Wirkungen von Transformationsprozessen und schließlich divergente Logiken, nach denen sich Wandel vollzieht, in den Blick. Dies unterscheidet eine praxistheoretische Perspektive nicht zuletzt auch von einigen kulturtheoretischen Ansätzen, wie zum Beispiel der Ethnologie Clifford Geertz’, die zwar umfassend verdeutlicht, welche Probleme mit der modernisierungstheoretischen Trennung von Kultur und Struktur, bzw. mit der Marginalisierung kultureller Effekte einhergehen und einen schlüssigen Gegenentwurf präsentiert, jedoch dazu tendiert, praktische Vielfalt im Sinne einer überspannenden Kultur zu vereinheitlichen2 . Das Potenzial einer praxistheoretischen Wandelforschung liegt
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Hörning und Reuter (2008: 110f.) erläutern dies am Beispiel der Analyse des Balinesischen Hahnenkampfes: Geertz (2003) setzt mit seiner Analyse nicht bei den unterschiedlichen Praktiken des Züchtens und Abrichtens, nicht bei der divergenten Gestaltung und Geheimhaltung von Kampfplätzen oder bei variierendem Geschick in der Diskussion mit Preisrichtern an, er präpariert viel-
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also weniger in der Verlagerung der Analyse von Sozialstruktur auf ›Bedeutungsgewebe‹, vielmehr ermöglicht sie es, praktische Differenzen aufzuzeigen, das heißt auch: sie ermöglicht es, den Wandel nicht als einheitliche Verschiebung von Sozialstrukturen und kulturellen Mustern zu erfassen, sondern sowohl Sozialstruktur als auch kulturelle Muster als praktische Produktionen in ihrer systematischen Differenziertheit zu analysieren.
Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität: Sozialer Wandel als nicht-lineares Geschehen Die Dynamik sozialer Praxis ist evident. Gleichzeitig geschieht soziale Praxis in relativ beständigen Mustern, sie bildet weitreichende, zum Teil nahezu global anzutreffende und zeitlich relativ stabile Strukturen. Praxis mag zwar niemals statisch und ihre Bedeutungsproduktion niemals exakt festzulegen sein, »[m]anche Dinge verändern sich jedoch auch über kurze oder längere Zeit nicht. Das Leben ist nicht in ständigem Fluss, auch wenn es sich beständig ungleichmäßig wandelt. Wenn wir also [der praxistheoretischen Ontologie folgend, J.E.] von einer flachen Gesellschaft ausgehen, sollten wir weder Stabilität überbetonen […] noch die Metamorphose […]. Stattdessen sollten wir das soziale Leben als ein komplexes, sich entwickelndes Mosaik von Kontinuität und Wandel begreifen« (Schatzki 2016: 42). Ein solches Zugleichdenken von Reproduktion und Veränderung, aber auch von Kontinuität und Diskontinuität im Wandel selbst, birgt verschiedene Implikationen, die jeweils folgenreich für dessen Rekonstruktion sind: Erstens wird ein Wandelprozess nicht als linearer Verlauf, sondern als ein komplexes Zusammenspiel von Deutungsverschiebungen, Umdeutungen, Konflikten, Konkurrenzen und Interferenzen rekonstruiert. Der Anschein von Linearität kann dann einem Wandelprozess nur rückwirkend übergestülpt werden – alle alternativen Praktiken und verdrängten Sinnmuster, die zur Produktion des status quo beigetragen haben, ignorierend. Zweitens kann sich eine Praxisform aufgrund der systematisch divergierenden Modi ihrer Hervorbringung wandeln und zugleich nicht wandeln, je nachdem an welchem Ort sie hervorgebracht wird. Aus praxistheoretischer Perspektive gerät also auch die ›Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‹ in den Blick (Pinder 1961) und mit ihr unterschiedliche Geschwindigkeiten, unterschiedliche Modi und unterschiedliche Bedeutungen bzw. Wirkungen des Wandels. Die Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Wandel zu beachten, bedeutet drittens, zu analysieren, welche Strukturen sich im Praxisgeschehen ändern und welche nicht: Während etwa Lebensstile gerade unter den Vorzeichen eines modernen Regimes des ästhetisch Neuen zu beständiger Veränderung tendieren, weisen gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen oft ein hohes selbststabilisierendes Potenzial auf. Jedoch verbleibt
mehr den Hahnenkampf als (umfassendes und vor allem homogenes) Symbol dessen heraus, was die balinesische Kultur und mithin das Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln von Balines*innen im Kern bestimmt. Dies fixiere die Kulturanalyse und schließe soziale Praxis a priori in einen kulturspezifischen Kanon von Symbolen und Bedeutungen ein.
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eine praxistheoretische Wandelforschung nicht bei der Feststellung, dass sich manche Strukturen eben schneller wandeln als andere – zumal ein entsprechender Befund zwar einen verallgemeinernden, jedoch keinen universellen Anspruch erheben kann. Auch ist nicht allein die praktische Gleichzeitigkeit der Reproduktion der einen und Veränderung der anderen Struktur bemerkenswert. Vielmehr ermöglicht eine praxistheoretische Perspektive auch, die Reproduktion von Strukturen durch Wandel in den Blick zu nehmen: Die Konstitution sozialer Praxis bedingt, dass die Stabilität einer Struktur sich in ihrer Veränderung erweisen muss; so ist etwa »die Reproduktion von Herrschaft und Ungleichheit auf ihr Wandlungspotenzial und auf ihr praktisches Ereignen angewiesen […]. Aus Sicht der praxeologischen Soziologie durchdringen Reproduktion und sozialer Wandel einander wechselseitig. So können Ungleichheitsverhältnisse stabilisiert, aber auch überschritten werden. Und beides liegt mitunter eng beieinander, denn die Angewiesenheit der modernen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse auf Wandel und auf das praktische, lebendige Ereignen ist immer auch eine Quelle ihrer Destabilisierung.« (Völker 2010a: 311; H.i.O.) Hieran schließt sich schließlich viertens die Feststellung an, dass die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität stets auch eine Frage der Perspektive ist. Diesen Umstand muss eine praxistheoretische Rekonstruktion sozialen Wandels reflektieren: »Es gibt Menschen, die, wie das in Frankreich während der Besatzung der Fall war, kollaborieren, kämpfen oder nichts tun. Wenn man nun von Kontinuität oder Bruch spricht, privilegiert man willkürlich ein Lager. Man privilegiert, in einer komplexen Situation, eine Kategorie der sich im Kampf befindlichen Menschen (die Kollaborateure oder die Mitglieder der Resistance oder die Apathischen). Damit schafft man sich die Rechtfertigung, aktuelle Debatten auf die Vergangenheit zu projizieren. Die den Brüchen zugestandene Bedeutung ist auch ›eine politische Frage‹.« (Bourdieu et al. 2004a: 87f.) Es gilt also nicht nur herauszuarbeiten, wo Kontinuitäten und Diskontinuitäten sozialer Praxis feststellbar sind, wo sie einander durchdringen und interferieren, sondern es gilt auch zu markieren, in welchem (oder wessen) Sinne es sich um eine Kontinuität bzw. Diskontinuität handelt. Eine historisierende Perspektive ist dabei unerlässlich, zielt jedoch nicht auf »die Entdeckung eines Anfangs oder die Ausgrabung der Knochen der Vergangenheit«, sondern auf die »historischen Bedingungen, die zu erklären vermögen, was gesagt oder was verworfen«, aber auch was getan und was nicht getan wird, was zu denken möglich und was undenkbar ist (Foucault 2009a: 350). Eine solche historische Analyse ist einerseits vergleichend angelegt, um dort Diskontinuitäten aufzuzeigen, wo aus modernisierungstheoretischer Perspektive (und auch im Alltagsverständnis) ein kontinuierliches Fortschreiten der Geschichte angenommen wird, sie wird andererseits genealogisch betrieben, um dort Kontinuität aufzuzeigen, wo umfassende Neuerungen auftreten, die scheinbar jeden sinnhaften Bezug zu Vergangenem unterbrechen3 . Auf diesem Wege soll nicht etwa die Strukturiertheit sozialen Wandels 3
Dieses Vorgehen, das insbesondere Foucaults Arbeiten kennzeichnet, kann bei aller Konzentration auf das Vergangene als eine andauernde Erforschung der Entstehung und Konstitution der
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negiert oder dessen Analyse in einem unendlichen Raum von Möglichkeiten aufgelöst werden, vielmehr geht es um die Herausarbeitung jener historischen Bedingungen, die den Möglichkeitsraum strukturieren, in dem sich ein bestimmter Wandelprozess praktisch vollzieht: »Spätestens seit dem ›Homo Academicus‹ ist meine gesamte Arbeit auf die Konstitution von Modellen gleichermaßen des Funktionierens wie der Veränderung ausgerichtet. Ein Feld enthält gleichzeitig das Prinzip dessen, was darin geschieht und dessen, was sich ereignen wird. […] Die Struktur zu kennen heißt, das wahrscheinliche Werden der Struktur sowie die Verteilung der Eigenschaften zu kennen, die diese Struktur definieren. Das scheint noch deterministischer, weil es den Wandel selbst umfaßt. Aber das ist noch nicht alles: in einem Feld gibt es das, was ich in Übereinstimmung mit Foucault als ›Raum des Möglichen‹ bezeichne. […] Heute Historiker zu sein heißt, entsprechend der Sartreschen Metapher, wohl determinierte Möglichkeiten wie die Rebhühner aufzuscheuchen, die nicht dieselben sind wie diejenigen, die ein junger Historiker in der [sic!] 50er Jahren vor sich hätte erscheinen sehen.« (Bourdieu et al. 2004b: 150f.)
Multiple Rationalitäten: Vielfalt der Formen und Logiken sozialen Wandels Die Praxistheorien argumentieren gegen die Vorstellung einer universellen Vernunft, aus der sich moderne Rationalität ableiten ließe. Während klassische Modernisierungstheorien sozialen Wandel als das gesellschaftliche Streben nach dieser allgemeinen Vernunft verstehen und neo-modernistische Theorien die Rationalität zumindest als zentralen Antrieb einer stetigen wandelbedingenden Steigerung gesellschaftlicher Funktionalität konzipieren, schließen Theorien sozialer Praxis die Erklärung sozialen Wandels auf Basis eines anthropologisch begründeten Vernunftstrebens oder einer sozialontologisch implizierten Rationalität aus. Auch jene Begründungslinie, die Wandel entlang gesellschaftsimmanenter stabilisierender Tendenzen erklären (z.B. das Parsons’sche Fließgleichgewicht), werden praxistheoretisch nicht geteilt – wenngleich dies die gegen Bourdieu gerichtete Kritik an einer Überbetonung struktureller Reproduktion möglicherweise nahelegt: Ob und wie sich eine Praxis-, Subjekt-, Wissens-, Lebensform etc. reproduziert, kann nicht mit dem Verweis auf eine außerempirische Tendenz zur Stabilität beantwortet werden (vgl. Reckwitz 2004), vielmehr ist in sozialer Praxis immer gleichsam ein stabilisierendes und dynamisierendes Potenzial enthalten; ob sich eine Praxisform reproduziert oder wandelt, ist daher grundsätzlich kontingent. Entsprechend verunmöglichen allgemeine Wandelgesetze eine adäquate Rekonstruktion des Wandels sozialer Praxis, denn sowohl seine Form als auch seine Logik ist abhängig von den raumzeitlich spezifischen praktischen Strukturen, in denen er geschieht und deren Veränderung er bezeichnet. Die Begründung sozialen Wandels muss daher empirisch erarbeitet werden und bezieht sich dabei auf beide Aspekte: die Form und die Logik sozialen Wandels – nicht Gegenwartsgesellschaft verstanden bzw. »Foucaults Lebenswerk […] als die sukzessive Ausarbeitung geeigneter Analysemittel einer solchen Gegenwartsdiagnose« gelesen werden (Kögler 1994: 9).
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zuletzt da sich diese wechselseitig bedingen. Die Frage nach der Form sozialen Wandels folgt dabei nicht der Intention, eine Typik unterschiedlicher Wandelverläufe zu generalisieren, wie dies Raymond Boudon und Francois Bourricaud (1992) – bei aller Kritik an der Universalisierung soziologischer Wandeltheorien – zur Systematisierung historisch spezifischer Wandelprozesse vorschlagen. Fragen, die die Form sozialen Wandels betreffen, zielen nicht auf Deskription und Einordnung, sondern auf die Analyse des Wandel-Settings: Welche Konfliktlinien und praktischen Kämpfe bestimmen den Wandelprozess? Wo zeigen sich in sozialer Praxis Kontinuitäten, wo Diskontinuitäten? Das heißt, bei der Frage nach dem Warum rücken zunächst wiederum die Frage nach dem Wie und dem Was in den Vordergrund: Welche Institutionen verlieren oder verändern ihre Bedeutung? Welche Lebensformen transformieren sich in welchen Hinsichten? Welche (Selbst-)Techniken neuer Subjektivierungsformen emergieren? Hier wird bereits ersichtlich, dass die Frage nach der Form, nach den strukturellen Verschiebungen und den wahrnehmbaren Veränderungen in der Hervorbringung sozialer Praxis einen analytischen Zugang zur Logik des betreffenden Wandels eröffnen, denn diese bildet eine Achse, entlang derer die verschiedenen beobachteten Veränderungen miteinander in Beziehung stehen. Die Logik eines Wandlungsprozesses bildet also eine transversale Struktur, die sich in den Homologien der Veränderungen in unterschiedlichen Praxisstrukturen zeigt. Ihre Analyse zielt entsprechend auf die sinnhaften Relationen in und zwischen verschiedenen Praxiskomplexen und stellt auf Regelmäßigkeiten in deren Dynamik ab: Welche Muster lassen sich in Umdeutungen und Sinnverschiebungen feststellen? In welchen Rationalitäten lässt sich ein systematisches Andersdenken, -wahrnehmen und -handeln verstehen? Wie steht dies im Zusammenhang mit Veränderungen spezifischer Feldregeln? Zentral ist dabei, dass sich nicht nur die Form des Wandels ohne eine verbindende Logik nicht erfassen und eingrenzen lässt, sondern dass umgekehrt die Logik des Wandels nicht ohne die Form ihrer praktischen Hervorbringung zu verstehen ist. Dies gilt nicht nur in forschungsstrategischer Hinsicht (die Homologien im Wandel von Praxismustern lassen sich nur empirisch erfassen), sondern betrifft die praktische Konstitution der Logik sozialen Wandels selbst: Sie ist nicht etwa der praktischen Hervorbringung veränderter Strukturen bzw. der Veränderung von Hervorbringungsmodi vorgängig, sondern entsteht, verändert und verdichtet sich erst in eben diesen Praxisvollzügen. Die Logik eines sozialen Wandels ist eine vage, dynamische und umkämpfte Logik, die auch in der Verknüpfung unterschiedlicher praktischer Logiken bestehen kann, wie das Beispiel kreativökonomischer Praxis verdeutlicht, die einer hybridisierten ästhetischen wie ökonomischen Logik folgt (Krämer 2017; Reckwitz 2012). Eine praxistheoretische Wandelforschung unterstellt also weder eine universelle Rationalität sozialen Wandels, noch zielt sie auf das Herauspräparieren einer epochal gültigen Logik, die im Stande wäre, sämtliche Praxis zu einem gegebenen Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort zu erklären, sondern sie schließt die Möglichkeit unterschiedlicher Logiken ein, die interferieren, konkurrieren oder sich verbinden.
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Die Kontingenz sozialen Wandels In Kapitel 4 wurde dargelegt, inwiefern eine modernisierungstheoretische Soziologie bereits auf Basis ihrer ontologischen Prämissen die Erfassung sozialen Wandels als kontingentes Geschehen verhindert. Eine kulturtheoretische Perspektive hingegen kritisiert dies nicht nur als unzulässige Schließung, sondern lenkt den Blick auch auf die Gründe der Negation von Kontingenz: »Die Frage der kulturtheoretischen Ansätze lautet dann, welche kulturellen Horizonte ›die Moderne‹ produziert und wie sie ihre historische Kontingenz unsichtbar machen, mit welchen sozialen Praktiken und Diskursen, auch mit welcher Materialität – der Körper und der Artefakte – diese Codes der Sinnregulierung verknüpft sind.« (Bonacker & Reckwitz 2007: 12) Allerdings laufen auch einige kulturtheoretische Ansätze Gefahr, die Kontingenz sozialer Praxis analytisch einzuschränken, indem sie allzu homologe kulturelle Bezugsrahmen antizipieren. Die bereits erwähnte Kritik von Hörning und Reuter stellt auf dieses Problem ab: »Ansätze, die Kultur als Text oder Zeichensystem betrachten, können schlecht mit Kontingenz umgehen und verschieben sie allzu leicht in Residuale. Doch Kontingenz entsteht laufend innerhalb der Kontexte des kulturellen und sozialen Lebens. […] Semiotische Kulturanalysen laufen in die ›kulturalistische Falle‹, wenn sie die Sinn- und Symbolkomponenten von Kultur zu Lasten kultureller und sozialer Handlungsformen überbetonen, die keinesfalls in Einklang mit den symbolischen Strukturen stehen müssen« (Hörning & Reuter 2008: 111). Wandeltheorien können sich also nicht bloß dahingehend unterscheiden, ob sie soziale Phänomene als grundsätzlich kontingent auffassen oder nicht, es zeigen sich auch gravierende Differenzen in den theoretischen und forschungsstrategischen Schlussfolgerungen innerhalb der Kontingenz voraussetzenden Zugänge. Aus praxistheoretischer Sicht muss meines Erachtens unterschieden werden zwischen der grundsätzlichen, ontologisch begründbaren Kontingenz sozialer Praxis und der empirischen Kontingenz eines konkreten Wandelgeschehens, denn Praxis strukturierende Strukturen können in verschiedener Hinsicht kontingenzschließend oder -öffnend wirken: Das soziale Geschehen mag zwar theoretisch immer gleichermaßen kontingent sein, praktisch macht es jedoch einen Unterschied, ob die Welt von den in ihr lebenden Akteuren als weitestgehend natürlich oder metaphysisch determiniert oder als gestaltbar und zukunftsoffen hervorgebracht wird, ob die Orientierung an Traditionen oder das beständige Streben nach kreativer Verwandlung besondere Anerkennung finden, bzw. ob die Vergangenheit oder die Zukunft als praktisches Leitprinzip Verwendung finden. Auch in dieser Hinsicht ist eine Gesellschaft oder Kultur jedoch keineswegs homogen, sondern umfasst konservative, progressive und kreative Milieus, aufklärerische, religiöse und individualliberalistische Positionen, sowie indifferente, optimistische und pessimistische Haltungen gegenüber Veränderung. Das Kontingenz eröffnende bzw. einschränkende Potenzial sozialer Praxis ist dabei nicht auf die Vorstellungen oder das implizite und explizite Wissen der Akteure begrenzt: Nicht nur das Denkbare und Nicht-Denkbare, sondern auch materielle Möglichkeiten bzw. Zwänge, die Offenheit bzw. Rigidität sozialer Institutionen oder die Heterodoxie bzw. Orthodoxie feldspezifischer Regeln umgrenzen den seinerseits be-
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ständig in Bewegung befindlichen Raum praktischer Potenzialitäten. Dieser impliziert keine direkte Aussage darüber, ob sich soziale Praxis wandelt oder nicht: Wandelpotenziale sind auch in homogenen, relativ vereindeutigten und weitestgehend naturalisierten symbolischen Ordnungen vorstellbar, ebenso wie umgekehrt die Konkurrenz unterschiedlicher Bedeutungsgefüge oder eine ausgeprägte Vagheit praktischer Logiken nicht zwangsläufig zu sozialem Wandel führen müssen. Wohl aber korrespondieren die praktischen Öffnungen und Begrenzungen jener Settings, in denen Wandel situiert ist, mit Form und Logik des Wandelgeschehens, etwa als drastischer Bruch mit einer bis dahin doxisch wirksamen Rationalität oder als unübersichtlicher, vielseitig konfliktiver Prozess in einem heterodoxen Ordnungsgefüge. Insofern sind Fragen nach den praktischen Potenzialen sozialer Strukturen, nach den Rändern des Denkbaren und nach den Bedingungen der Verdeckung bzw. Bewusstwerdung von Kontingenz wandelanalytisch von hoher Relevanz. Die praxistheoretische Erforschung sozialen Wandels adressiert somit den spezifischen Möglichkeitsraum, in dem sich das Wandelgeschehen vollzieht, und in dessen Grenzen die Varianz potenziell produzierbarer Praxis unbestimmbar bleibt. Praktische Kontingenz, so ließe sich also mit Michel Crozier und Erhard Friedberg (1993: 313; H.i.O.) formulieren, »das heißt, zugleich abhängig von einem Kontext, von den darin vorhandenen Gelegenheiten und den von ihm auferlegten (materiellen und menschlichen) Zwängen, und unbestimmt, folglich frei« zu sein.
9.3
Praxistheoretische Wandelforschung
Die praxistheoretische Erforschung sozialen Wandels ist – dieses Resümee wurde nun bereits zu verschiedenen Gelegenheiten an die theoretische Explikation angeschlossen – nur empirisch möglich. Aber wie genau gestaltet sich ihre forschungspraktische Umsetzung? Sowohl die hier aufgezeigten analytischen Fluchtpunkte als auch die beispielhaft angeführten Forschungsansätze zeichnen sich durch eine große Bandbreite aus und differieren zum Teil erheblich. Dieser Umstand ist der ›Entuniversalisierung‹ sozialen Wandels geschuldet, dessen Formen und Logiken nicht allgemein bestimmbar sind, sondern jeweils für ein konkretes empirisches Wandelgeschehen rekonstruiert werden müssen. Insofern zielt eine praxistheoretische Wandelforschung erstens auf die Konkretisierung jener Praxiskomplexe, in denen eine regelmäßige Transformation vermutet oder beobachtet wird. Diese müssen kontextualisiert werden, das heißt, es findet eine Einordung in relevante Kontextstrukturen (Institutionen, bereits identifizierte Subjektivierungsformen oder Feldstrukturen, aber auch klassen- oder geschlechtsspezifische Ordnungen etc.) statt, die die historische Spezifik bzw. die Situiertheit des Praxisvollzugs adressiert. Zweitens zielt sie auf Logiken, die den adressierten Veränderungen Sinn verleihen. Diese zeigen sich einerseits im Vergleich der veränderten Praxisformen, bzw. in den Homologien, die im Vergleich der Veränderungen herausgearbeitet werden können. Andererseits ist jedoch auch hier der Bezug auf die Kontexte und etwaige Veränderungen der praxisstrukturierenden Strukturen notwendig: Dieser macht das praktische Zusammenfallen weitreichender Sinnverknüpfung und situativer Spezifik deutlich und ermöglicht die analytische Verbindung von transversalen Wandellogiken und spezifischem Praxiswandel. Die Rekonstruktion der Logik(en) sozialen
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Wandels erlaubt es also, zu spezifizieren, inwiefern es sich bei praktischen Veränderungen um (transversal wirksamen) sozialen Wandel handelt, ohne dabei das praktische Wandelgeschehen aus den Augen zu verlieren. Entsprechend zielt eine praxistheoretische Wandelforschung drittens auf die Rekonstruktion der praktischen Vielfalt sozialen Wandels: Von Interesse ist in diesem Zusammenhang einerseits das praktische Verhältnis von Wandel und Reproduktion, da Praxis niemals ›reinen Wandel‹ oder ›reine Reproduktion‹ hervorbringt. Andererseits sind systematische Differenzen in der Hervorbringung veränderter Praxis von Relevanz. Diese dürfen nicht als empirische Unregelmäßigkeiten missverstanden werden, aus deren Gewimmel es die eigentliche Wandelstruktur analytisch zu abstrahieren gilt, vielmehr sind sie konstitutiver Bestandteil der Form sozialen Wandels. Zudem gilt es, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den Blick zu nehmen, d.h. die unterschiedlichen Tempi, in denen sich Wandel vollzieht und die ebenfalls zu dessen praktischer Vielfalt beitragen. Viertens schließlich ist eine praxistheoretische Wandelforschung auf die Analyse der ungleichen Wirkungen eines sozialen Wandelprozesses gerichtet, sie berücksichtigt also den Umstand, dass Veränderungsprozesse für unterschiedliche Akteure auch Unterschiedliches bedeuten können, dass sie nicht an alle Sinnstrukturen in gleicher Weise anschließen und dass mit sozialem Wandel Chancen, aber auch Risiken hinsichtlich gesellschaftlicher Teilhabe einhergehen können. Die Betrachtung von Forschungsarbeiten, die sich empirisch mit dem Wandel sozialer Praxis auseinandersetzen, eröffnet ein weites Panorama unterschiedlicher analytischer Schwerpunktsetzungen und diverser methodisch-konzeptioneller Zugänge: Ausgangspunkt der Analyse bilden etwa Institutionen (Bourdieu et al.), habituelle Dispositionen (Bourdieu), Lebensformen (Völker), soziale Felder (Krämer) oder auch Dispositive (Reckwitz), die jeweils in unterschiedlicher Weise – der Logik des Forschungsgegenstandes folgend – mit anderen Analysekategorien kombiniert werden. In einigen Fällen werden Veränderungen auf der Ebene ganz konkreter Praktiken empirisch nachverfolgt (Völker; Krämer), in anderen liegt der Analysefokus auf Transformationen transversaler Strukturen (Bourdieu; Reckwitz). Mal steht die allmähliche Herausbildung einer spezifischen Logik, sowie deren Abgrenzung gegen bzw. Verschränkung mit anderen Logiken im Zentrum (Reckwitz), mal geht es gerade um das Aufzeigen von Unbestimmtheitszonen, in denen verschiedene Logiken und Ordnungen konkurrieren und neue Sinnstrukturen entstehen können (Völker), wobei die allgemeinere Erarbeitung einer transversal wirksamen Logik immer auch die Differenziertheit unterschiedlicher praktischer Hervorbringung adressiert und umgekehrt die Rekonstruktion eines konkreten praktischen Wandelsettings immer auch Aussagen zu der Veränderung transversaler Ordnungen und Logiken generiert. Die Erforschung des Wandels sozialer Praxis kann also unterschiedliche Wege nehmen, die nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern zu komplementären, einander wechselseitig anregenden Erkenntnissen führen. Die große Bandbreite empirischer Zugänge ist keine Eigenheit praxistheoretischer Wandelforschung im Speziellen, sondern kennzeichnet die praxeologische Forschung allgemein. Sie spiegelt sich auch in einer beachtlichen Methodenvielfalt wider (für einen Überblick vgl.: Brake et al. 2013; Schäfer et al. 2015): Die exemplarisch angeführten Forschungsarbeiten greifen etwa auf quantitative Analysemethoden (Bourdieu), qualitative
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Interviews (Bourdieu; Völker; Krämer), Ethnographien (Krämer), sowie genealogische Analysemethoden (Reckwitz) zurück. In Analogie zu ihren Analysekonzepten müssen auch praxistheoretische Methoden eine hohe Flexibilität aufweisen, um der Kontingenz sozialer Praxis gerecht werden zu können: »Jeder methodische Rigorismus, der nur bestimmte methodische Zugänge und bestimmte Datenquellen als legitim betrachtet, ist also zurückzuweisen.« (Brake 2015: 76) Dass sowohl Forschungsmethoden als auch theoretische Konzepte als Werkzeugkästen verstanden werden, verweist auf die hohe Variabilität praxistheoretischer Forschung, die angesichts ihrer wissenschaftstheoretischen und sozialontologischen Prämissen nur konsequent ist. Um soziale Praxis zu rekonstruieren, die Logik, der sie folgt, die Strukturen, die sie ausbildet, die Machtrelationen, die in ihr eingelagert sind etc., müssen theoretisch-konzeptionelles und empirisches Arbeiten miteinander verschränkt werden: »Theorie wird nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern vorwiegend als Werkzeug der empirischen Forschung verstanden.« (Schmidt 2012: 13) Umgekehrt ist die Empirie nicht auf das Generieren oder Überprüfen von Hypothesen beschränkt, ihre sinnrekonstruktive Ausrichtung macht sie zu einem wesentlich grundlegenderen Werkzeug der Erkenntnisproduktion. Daher wird die Theoriearbeit »der empirischen Analyse weder vorgeschaltet noch nachgeordnet, sondern typischerweise in das empirische Forschen selbst integriert« (Schmidt 2012: 13). Eine praxistheoretische Soziologie folgt keinem allgemeinen Forschungsmodell, sondern setzt ihre Werkzeuge dem Erkenntnisinteresse entsprechend ein, passt sie dabei an und entwickelt sie gegebenenfalls weiter. Für eine praxistheoretische Wandelforschung bedeutet dies, dass das empirisch wie theoretisch-konzeptionell beständig an den Untersuchungsgegenstand angepasste Vorgehen reflektiert, expliziert und begründet werden muss. Dabei stehen drei Aspekte im Vordergrund: Erstens muss der Gegenstandsbereich eingegrenzt und im begrifflich-konzeptionellen Bezugsraum der Praxistheorien reformuliert werden: Welcher soziale Ort, welche Situation bildet den Ausgangspunkt der Analyse? Dabei werden zugleich jene Dynamiken verdeutlicht, die das wandelbezogene Interesse begründen, sowie jene Arbeiten adressiert, deren Erkenntnisse zur Rekonstruktion des Wandelgeschehens beitragen können. Zweitens muss der gewählte Fokus spezifiziert werden: Welches spezielle Interesse ist mit der Analyse verbunden und welche Konzepte und Methoden sind für dessen Rekonstruktion geeignet? Es wird also expliziert, welcher Aspekt des Wandels im Zentrum steht und mit welchen Mitteln dieser herausgearbeitet werden soll. Drittens muss das methodische Vorgehen erläutert werden, da Forschungsmethoden nicht schematisch eingesetzt werden, sondern sich bereits mit deren Auswahl, Einsatz und etwaiger Anpassung konzeptionelle Überlegungen der Gegenstandsrekonstruktion verbinden. Eine solche Spezifikation des Forschungszugangs dient dabei sowohl der Systematisierung des jeweiligen Vorgehens als auch der Relationierung im Gefüge der Soziologien sozialen Wandels. Praxistheoretische Wandelforschung muss als ein soziologisches Gemeinschaftsprojekt verstanden werden. Auf den ersten Blick mag diese Feststellung wie ein Gemeinplatz wirken – schließlich ist jede Wissenschaft insofern Gemeinschaftsprojekt, als sie kollektiv zum Erkenntnisfortschritt im jeweiligen Spezialgebiet beiträgt. Die gemeinschaftliche Wissensproduktion erhält im Rahmen der praxistheoretischen For-
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schung jedoch eine bestimmte Konnotation: Es geht nicht um die kollektive Suche nach dem ›richtigen‹ Modell sozialen Wandels, das – einmal gefunden – diesen umfassend zu erklären vermag. Es geht auch nicht um die auf Dauer gestellte arbeitsteilige Anwendung eines solchen allgemeinen Konzepts. Vielmehr geht es darum, die grundsätzliche Kontingenz und praktische Vielfalt sozialen Wandels ernst zu nehmen und entsprechend einerseits gemeinschaftlich das Analyseinstrumentarium beständig dem Gegenstand anzupassen und andererseits die unterschiedlichen Perspektiven auf den Gegenstand in ihrem wechselseitigen Anregungspotenzial wahrzunehmen. Der Erforschung des Wandels sozialer Praxis ist nicht etwa der Zugang einer grand theory, sondern die multiperspektivische, vernetzte und ihrerseits in Bewegung bleibende Forschung angemessen.
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Teil III: Gegenwartsdiagnosen als Zugang einer praxeologischen Wandelforschung
10 Gegenwartsdiagnosen und sozialer Wandel
Im vorhergehenden Teil meiner Ausführungen habe ich herausgearbeitet, dass Wandelforschung unterschiedliche analytische Perspektiven bei der Erforschung des Wandels sozialer Praxis einnehmen kann: Sie kann sowohl an transversalen Praxismustern ansetzen und sozusagen ein Weitwinkelobjektiv auf praktische Veränderungen richten oder mit einem Teleobjektiv den Wandel spezifischer Praxisvollzüge untersuchen1 . Beide Perspektiven bedingen und ergänzen sich wechselseitig, und in einigen Forschungskontexten sind die Grenzen zwischen beiden Rekonstruktionszugängen fließender als es die Metapher suggeriert. Der Blick auf konkrete Praxisvollzüge macht Veränderungen in praktischen Logiken überhaupt erst in ihrer praktischen Wirkungsweise sichtbar und ermöglicht es, Homologien in der Transformation ganz unterschiedlicher Praxiskomplexe auf Basis des realisierten Denkens, Wahrnehmens und Handelns zu erfassen. Er erlaubt es aber auch, alltagspraktische Konkurrenzen und Interferenzen zwischen unterschiedlichen Logiken aufzuschlüsseln, sowie Strukturen, denen eine transversale Wirksamkeit zugesprochen wird, in der Diversität ihrer Hervorbringung abzubilden und nicht zuletzt mit der Analyse des Verbindenden im Vielfältigen, die Rekonstruktion eines übergreifenden Musters zu schärfen. Die transversale Analyse ermöglicht hingegen vor allem die Identifikation übergreifender (neuer) Logiken, die ansonsten möglicherweise als Feld-, Lebensform- oder Situationsspezifik herausgearbeitet würden. Damit produziert sie auch Heuristiken, die wiederum für die Analyse konkreter Praxisvollzüge von entscheidender Bedeutung sind, indem sie eine Kontextualisierung des Wandels sozialer Praxis ermöglichen, die über das beobachtete Feld hinausweist. Für eine Rekonstruktion sozialen Wandels ist die Analyse transversaler Muster daher ebenso unverzichtbar, denn sie kann sich nicht 1
Diese Metapher läuft schnell Gefahr, eine herausgehobene, fixe Position der soziologischen Betrachtung zu suggerieren, gegen die sich Bourdieu ausführlich positionierte (Bourdieu & Wacquant 2006), oder die Möglichkeit eines ›Zooms‹ durch (damit zugleich unterstellte) soziale Makro- Meso- und Mikroebenen zu suggerieren – eine Vorstellung, die Latour (2007: 316ff.) kritisiert. Sie soll aber zum Ausdruck bringen, dass unterschiedliche Beobachtungsperspektiven und Analyseinstrumente unterschiedlich geeignet sind, Homologien zwischen ganz verschiedenen Praxiskomplexen oder diverse Varianten ein und derselben Praxisform oder Ambivalenzen, Konflikte und Interferenzen innerhalb eines Praxisvollzugs zu rekonstruieren.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
auf die Interpretation kurzfristiger und räumlich stark begrenzter Veränderungen beschränken. Gewissermaßen spezialisiert auf die Beschreibung und Deutung von Wandelprozessen in weitreichenden sozialen Strukturen sind (soziologische) Gegenwarts- bzw. Zeitdiagnosen2 . Latour (2007) bezeichnet Gegenwartsdiagnosen als Panoramen, deren Stärke darin liegt, Totalität geschickt in Szene zu setzen: »Auch wenn diese Panoramen nicht allzu ernst genommen werden sollten, da solche kohärenten und vollständigen Berichte zu den blindesten, lokalsten und parteiischsten Gesichtspunkten werden können, müssen sie gleichwohl sehr sorgfältig studiert werden, denn sie bieten die einzige Gelegenheit, die ›ganze Geschichte‹ als ein Ganzes zu sehen. Ihre totalisierenden Ansichten sollte man nicht als Akt professionellen Größenwahns verachten, sondern, wie alles andere auch, der Vielfalt der Stätten hinzufügen, die wir in unseren Untersuchungen entfalten wollen.« (Latour 2007: 325f., H.i.O.) In diesem Teil des Buches möchte ich daher das Potenzial praxistheoretischer Gegenwartsdiagnosen für die Analyse sozialen Wandels herausarbeiten. Dafür gehe ich zunächst auf die Unterscheidung zwischen einem modernetheoretischen und einem gesellschaftsanalytischen gegenwartsdiagnostischen Zugang ein, die – anders als bei modernisierungstheoretischen Zeitdiagnosen – in der praxistheoretischen Perspektive relevant wird. Dann stelle ich einige einschlägige Gegenwartsanalysen praxistheoretischer Provenienz vor, um sie schließlich als spezifischen Zugang der Erforschung praktischen Wandels zu rekonstruieren.
10.1
Abgrenzung von modernisierungstheoretischen Gegenwartsdiagnosen
Zwar sind Gegenwartsdiagnosen auf den Entwurf gesellschaftlicher ›Panoramen‹ spezialisiert und gruppieren sich somit um einen zentralen Gegenstand soziologischer Forschung, sie genießen allerdings innerhalb der Soziologie keinen besonders guten Ruf: Vielen Arbeiten wird theoretische Ungenauigkeit, empirische Haltlosigkeit und eine Überreizung des von ihnen zentral gestellten Grundmusters (Pluralität, Individualisierung, Risiko etc.) vorgeworfen (vgl. Kapitel 13). Im Fachdiskurs wird daher häufig die Seriosität zeitdiagnostischer Großdeutungsprojekte angezweifelt (Osrecki 2011). Dies hat auch (fach-)historische Gründe: Nachdem die Soziologie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – durchaus in protosoziologischer Tradition – selbstbewusst als »synthetische Kron- und Generalwissenschaft« geriert (Geiger 2013: 87), verliert sie ab Mitte der 1970er Jahre zusehends an öffentlicher Bedeutung (Neun 2018). Das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, die im Lichte relativ überraschender gesellschaftlicher und politischer Umbrüche in Zweifel gezogene Diagnosefähigkeit und die darauf folgende drohende Irrelevanz werden entsprechend auf immer breiterer Ebene sowohl fachintern, also auch öffentlich diskutiert3 : Die Soziologie – so die Befürchtung im 2 3
Zur Abgrenzung bzw. Parallelität beider Begrifflichkeiten vgl. Kapitel 13. Für einen Überblick vgl. Fritz-Vannahme (1996); Sigmund (1998); Feagin (1999); Hartmann (2004).
10 Gegenwartsdiagnosen und sozialer Wandel
ausgehenden 20.Jahrhundert – sei »in ihrer Existenz bedroht« (Hartmann 2004). Ein Jahrzehnt später konstatieren Thomas Scheffer und Robert Schmidt, dass in den wesentlichen Bereichen der soziologischen Kernaufgaben längst Deutungsangebote anderer Disziplinen Einzug gehalten, wenn nicht gar das Ruder übernommen hätten: Das ›Geschäft des Erklärens‹ menschlichen Zusammenlebens sei von den Lebenswissenschaften dominiert und dabei ›in die Körper‹ verlagert worden, das ›Geschäft des Verstehens‹ würde vor allem durch die Geisteswissenschaften betrieben und das ›Geschäft der Gesellschafts- und Kulturkritik‹ würde angesichts einer gesteigerten Wahrnehmung der anthropogenen Gefährdung natürlicher Existenzbedingungen durch die Naturwissenschaften geleistet (Scheffer & Schmidt 2009). Die Wucht dieser Krisenerfahrung, die radikale Begrifflichkeit, mit der sie beschrieben wird, sowie die Grundsätzlichkeit der Infragestellung der soziologischen Position im wissenschaftlichen Feld lässt sich nur mit Blick auf die Fallhöhe verstehen: In den 1960er Jahren wurde Soziologie als ›Schlüsselwissenschaft‹ aufgefasst, die nicht nur in der Lage sei, alle relevanten gesellschaftlichen Belange in einer ausgereiften Großtheorie erfassen, analysieren und erklären zu können, sondern hierauf aufbauend auch konkrete politische Handlungsempfehlungen, etwa für die Entwicklung ganzer Staaten, zu formulieren (Neun 2018). In den folgenden Jahrzehnten führte jedoch eine Reihe wirtschaftlicher, politischer und sozialer Krisen bzw. Veränderungen, denen die Soziologie weder diagnostisch noch sozialtechnologisch im suggerierten Umfang gewachsen war, zu kritischer Reflexion. Dabei stellten sich zwei Argumentationslinien als naheliegend heraus: Entweder war die strukturfunktionalistische Theorie noch nicht so ausgereift wie angenommen und bedurfte einer dringenden Überarbeitung; dieser Idee folgt die neomodernistische Soziologie, deren Vertreter*innen – wie in Kapitel 3.3 dargestellt – sich der soziologischen Weiterentwicklung im Rahmen des strukturfunktionalistischen Paradigmas widmen. Oder die Soziologie war deshalb in die Krise geraten, weil sich ihr Gegenstand, die moderne Gesellschaft, aufgelöst hatte (Beck et al. 1996) bzw. sich deren illusionärer Charakter offenbarte (Lyotard 1994). Der universalistische Erklärungsanspruch und die Geschlossenheit des Modernekonzepts, setzen also nicht nur – wie in den Kapiteln 3 und 4 diskutiert – die Prämissen der modernisierungszentrierten Theorieansätze verstärkter Kritik aus, sie stellen auch eine Bürde für modernisierungstheoretisch ausgerichtete Gegenwartsdiagnosen dar. Dass sich der hohe Selbstanspruch modernisierungstheoretischer Gesellschaftsund Zeitdiagnostik nicht halten lässt, zeigt sich nicht nur in der geringen Fähigkeit, Großereignisse vorherzusagen (Schwinn 1999), sondern auch in der – für die universalistische Theorieströmung fast paradox anmutenden – Heftigkeit der Deutungskämpfe angesichts umfangreicher gesellschaftlicher Umbrüche. »Wenn es denn eine breite, wiewohl nicht ganz einhellige, Übereinstimmung über die Existenz einer größeren gesellschaftlichen Umwälzung gibt, so weisen die Analysen in unterschiedliche, sogar divergente Richtungen. Die Pointen der Beschreibungen reichen von ›Ende des Subjekts‹ zum ›neuen Individualismus‹, von der ›Auflösung der Gesellschaft‹ zur ›Widerauferstehung der Zivilgesellschaft‹, vom ›Ende der Moderne‹ zu einer ›anderen Moderne‹ und zur ›Neomodernisierung‹. Konfusion scheint die soziologische Zeitdiagnose zu beherrschen.« (Wagner 1995b: 10)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Wird angenommen, die Moderne bilde zwangsläufig eine homogene, in sich geschlossene Gesellschaftsstruktur heraus, bleiben der Zeitdiagnose angesichts der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie konstatiert eine Krise bzw. erzwungene Neuordnung moderner Gesellschaftlichkeit; dann richtet sich die Analyse auf die neuen Muster gesellschaftlicher Differenzierung und Rationalisierung, sowie auf die Leitprinzipien, die diese Prozesse und mithin den modernen Fortschritt anführen (Wissen, Medien, Ökonomie etc.). Oder sie unterstellt einen Bruch und eine neue nicht- oder postmoderne Logik des Sozialen – etwa die grundlegende Reflexivität aller Sozialität – bzw. nimmt die Dekonstruktion sämtlicher moderner Strukturen an. Beide Varianten bergen Probleme: Erstere hält an einer inneren Kohärenz und Stringenz einer geschlossenen Moderne fest, letztere ist hingegen – folgt sie dem Postulat eines epochalen Bruchs – in ihrer Verneinung der Kontinuität moderner Strukturen total. Mit Blick auf die Empirie wirken beide Varianten wenig überzeugend – es scheint als sei die eine nicht radikal genug, die andere hingegen zu radikal in ihrer Behauptung sozialen Wandels. Die (zumeist implizite) modernisierungstheoretische Grundierung vieler Zeitdiagnosen führt damit zu ganz unterschiedlichen Problemen. In modernisierungstheoretischer Tradition werden tiefgreifende Diskontinuitäten gekennzeichnet, ohne die Hysterese ›überkommener‹ Strukturen zu reflektieren, und spezifische neue Sinnmuster universalisiert, ohne sie in der Wechselwirkung mit anderen (alten und neuen) sozialen Logiken zu betrachten. Entsprechend konstituiert sich eine Vielzahl an BindestrichGesellschaften, die »mit dem Anspruch des ›pars pro toto‹ auftreten«, jedoch nur insofern existenz- und wahrheitsfähig sind, »wie sie ihr ›pro toto‹ nicht wirklich ernst oder wörtlich nehmen und wie sie nicht behaupten, ›die Gesellschaft‹ sei als solche, ausnahmslos und in allen Belangen, Risiko-, Informations-, Arbeits- oder Erlebnisgesellschaft« (Tyrell 2005: 36; H.i.O.). Mit Schelsky (1965a) ließe sich nun argumentieren, dass diese Vielfalt mindestens insofern deskriptiven Wert habe, als sie die Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit adäquat wiedergebe. Zweifellos ist es in höchstem Maße wünschenswert, dass Gegenwartsdiagnosen der Vielfalt und Komplexität sozialer Verhältnisse Rechnung tragen, allerdings sollten sie dies bereits auf konzeptioneller Ebene durchsetzen und nicht erst unter Missachtung ihrer theoretischen Prämissen ermöglichen. Und doch setzt sich der ungewöhnlich unscharfe Umgang mit modernisierungstheoretischen Grundannahmen auch in anderen Dimensionen fort: So schlägt ReeseSchäfer (1999: 438f.) vor, »[m]an sollte Modernisierung und Postmodernisierung nicht strikt als einander ausschließende Gegensätze gegenüberstellen. […] Postmodernisierung ruht auf Elementen der Modernisierung auf. Das zeigt sich besonders immer dann, wenn die Zeiten der wirtschaftlichen Rezession gerade auch in den entwickelten Ländern zeitweise die sogenannten postmateriellen Werte wieder ein Stück zurückgehen zugunsten der materialistischen […].« Dann jedoch stellt sich unweigerlich die Frage nach dem konzeptionellen Verhältnis von Epochen: Wenn die Postmoderne nur eine wohlstandsbedingte Kür zu den ansonsten ungebrochen modernen Grundhaltungen ist, kann kaum von einem Orientierungswandel gesprochen werden, der einen neuen Gesellschafts- oder gar Epochenbegriff rechtfertigt.
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Schließlich lässt sich eine solche theoretisch-konzeptionelle Ambivalenz auch hinsichtlich der Konvergenzthese feststellen. Die ursprünglich modernekonstitutive Vorstellung eines universellen, sowohl intra- als auch intergesellschaftlichen Entwicklungsziels – eines Fluchtpunkts also, in dem alle teil- und gesamtgesellschaftlichen Progressionen zusammenlaufen – wird trotz des proklamierten epochalen Bruchs nicht verworfen: »Überraschenderweise hat diese These die Transformation der westlichen Gesellschaften überlebt. Nur wird nunmehr nicht länger eine Konvergenz zu den hochorganisierten Ordnungen des sogenannten keynesianischen Wohlfahrtsstaats erwartet, sondern zu den neoliberalen Konfigurationen flexibler Individuen. Diese merkwürdige Hartnäckigkeit des Konvergenztheorems bei gleichzeitigem Substanzwandel verweist auf ein problematisches Verständnis von Moderne in der Soziologie – ein Verständnis, das es insbesondere schwierig macht, gesellschaftliche Vielfalt wahrzunehmen und zu verstehen.« (Wagner 1999: 453) Zurückführen lassen sich die skizzierten Probleme modernisierungstheoretisch grundierter Gegenwartsdiagnosen nicht nur auf das Fortschreiten des sozialtheoretischen Diskurses, sondern vor allem auf den gesellschaftlichen Wandel selbst: Dieser ist gekennzeichnet durch das Anwachsen sozialer Ambivalenzen, Differenzen und Interferenzen und gibt den Blick auf jene Vielfalt und Kontingenz frei, die in den Diagnosen der Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung etc. auf den Begriff gebracht werden sollen. Die Modernisierungstheorien, entstanden und verfeinert in einer historisch hochspezifischen gesellschaftlichen Situation weitreichender Konventionalisierungen und generalisierter Ordnungssysteme, entsprachen den sie hervorbringenden Strukturen konzeptionell in einem hohen Maße und vermochten sie daher – zumindest zeitweilig – relativ überzeugend zu theoretisieren (Wagner 1995b). Im Rahmen der zurückliegenden Wandlungsprozesse haben sich nun – so ließe sich überspitzt formulieren – Gesellschaft und Gesellschaftstheorie so weit auseinanderentwickelt, dass die diagnostischen Möglichkeiten erloschen sind und ihre durch die modernisierungstheoretischen Prämissen erzeugten konzeptionellen Probleme umso deutlicher hervortreten.4
10.2
Praxisfokussierende Gegenwartsdiagnosen zwischen Modernetheorie und Gesellschaftsanalyse
Dass die Diskussion um sozialen Wandel unter den modernisierungstheoretischen Zeitdiagnosen Verwerfungen erzeugt, die bis an die Wurzeln ihrer theoretischen Prämissen reichen, hängt maßgeblich mit dem In-eins-Setzen von Gegenwart bzw. 4
Umgekehrt bietet diese Erkenntnis auch Anlass, die historischen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von Praxistheorien in Bezug zu setzen mit deren Potenzial, jene (sie hervorbringenden) gesellschaftlichen Strukturen zu rekonstruieren und zu deuten. Praxistheorien – so lautete die Pointe – sind Analyseinstrumente, die in ihrer relationalen, non-essentialistischen Verfasstheit der pluralen, kontingenten und unscharfen Sozialität entsprechen, die sie produziert haben, und sind daher besonders geeignet, diese analytisch zu erfassen.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Wandel der Moderne und Gegenwart bzw. Wandel (moderner) Gesellschaften zusammen: Da die beobachteten gesellschaftlichen Umbrüche derart große Disparitäten zu den modernisierungstheoretischen Grundstrukturen aufweisen, liegt das Dilemma darin, entweder die theoretischen Grundannahmen relativieren oder eine neue Gesellschaftsform ausrufen zu müssen – was wegen der Prämisse einer kontinuierlichen teleologischen Steigerung moderner Gesellschaften im Grunde auf dasselbe hinausläuft. Praxeologische Soziologien zweifeln nicht nur die Deckungsgleichheit von Moderne und moderner Gesellschaft an, sondern positionieren sich grundsätzlich gegen die Universalisierung sowohl moderner als auch gesellschaftlicher Strukturen. Gesellschaften können dann verstanden werden als kontingente, räumlich und zeitlich spezifische, nicht klar zu umgrenzende, in sich heterogene und konfliktive, sowie beständig (re)produzierte Praxiskomplexe. ›Moderne‹ bezeichnet hingegen ein bestimmtes, wirkmächtiges und verbreitetes kulturelles Muster, das in sich ambivalent ist und in ganz unterschiedlicher Form praktisch hervorgebracht wird. Moderne und Gesellschaftlichkeit greifen oft praktisch ineinander und bringen sich somit in nicht unerheblichem Maße wechselseitig mithervor, sie stellen konzeptionell wie analytisch jedoch zwei unterschiedliche Fluchtpunkte dar: Modernetheorien suchen nach der (in zum Teil hoch divergenter Form materialisierten) Grundlogik, welche die kulturellen Muster von Modernität aneinander bindet, während Gesellschaftstheorien auf die Ordnungsprinzipien ausgerichtet sind, die ein ›doing society‹ ermöglichen. Beide Analysekategorien – ›Moderne‹ und ›Gesellschaft‹ – sind als besonders weitreichende und im Kern überaus persistente Praxiskonstellationen geeignet, um sozialen Wandel herauszuarbeiten bzw. Zeitdiagnosen vorzunehmen. Modernetheorie fragt dann nach den historischen Unterschieden in der Hervorbringung von Modernität sowie nach ihren Bedingungen und Wirkungen, Gesellschaftstheorie hingegen nimmt die regelmäßigen Veränderungen in den Ordnungsprinzipien sowie hieraus erwachsende Verschiebungen in Konstitution und Relationierung gesellschaftlicher Akteure, Felder, Institutionen etc. in den Blick. Beide Perspektiven korrespondieren insbesondere in der okzidentalen Soziologie miteinander, da die betrachteten Gesellschaften moderne Kulturmuster aufweisen, deren Analyse bei der Rekonstruktion gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien notwendig ist, und weil umgekehrt die unterschiedlichen Formen der praktischen Hervorbringung von Modernität nur in ihrer jeweiligen Gesellschaftlichkeit herausgearbeitet werden können. In beiden Blickrichtungen trägt das jeweils andere Analysekonzept zur Herausarbeitung von Homologien und Kongruenzen, aber auch zur Entfaltung der Vielgestalt, Ambivalenz und Konfliktivität sozialer Wandlungsprozesse und gegenwärtiger moderner bzw. gesellschaftlicher Verfasstheiten bei. Aus Perspektive der praxisfokussierenden, relationalen Modernetheorien erklärt sich die modernisierungstheoretische »Konfusion aus der Unfähigkeit der Soziologen, das zu begreifen, was man die Mehrdeutigkeit der Moderne nennen könnte. Einige Aspekte sozialen Wandels werden zulasten anderer, gegenläufiger überbetont.« (Wagner 1995b: 10) Diesem Problem suchen praxeologische Moderne- und Gesellschaftsanalysen zu entgehen, indem sie der Vielfalt und Ambivalenz ihrer Gegenstände bereits auf theoretischer und konzeptioneller Ebene Rechnung tragen. Im Folgenden möchte ich zunächst kurz auf die veränderte gegenwartsanalytische Vorgehensweise jener Moder-
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netheorien eingehen, die eine praxisfokussierende Rekonstruktion ihres Gegenstandes vorschlagen und aufzeigen, zu welchen zeitdiagnostischen Schlussfolgerungen sie gelangen. Daran anschließend sollen verschiedene praxistheoretische, gesellschaftsanalytisch ausgerichtete Zeitdiagnosen vorgestellt werden, anhand derer ich einerseits den Diskurs zum gegenwärtigen Wandel sozialer Praxis zusammenfasse und andererseits die potenzialreiche Spezifik dieser Arbeiten hinsichtlich der Rekonstruktion sozialer Wandlungsprozesse aufzeige. Die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen können schließlich auch als Heuristiken für eine Analyse des Wandels in konkreten Praxisvollzügen im vierten und letzten Teil der vorliegenden Arbeit genutzt werden.
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11 Modernetheorie und Gegenwartsdiagnose
In den 1990er Jahren erschienen drei soziologische Arbeiten, welche die hegemonialen Deutungsansätze der sich vollziehenden gesellschaftlichen Umbrüche kritisierten und ein verändertes Verständnis von Modernität vorschlugen: 1991 werden Zygmunt Baumans ›Modernity and Ambivalence‹ und Bruno Latours ›Nous n’avons jamais été modernes‹ veröffentlicht, 1993 erscheint Peter Wagners ›A Sociology of Modernity‹ (Bauman 1992; Latour 2008; Wagner 1995b). Latour, der sich dem Begriff der Moderne aus einer ontologischen und wissenschaftstheoretischen bzw. -historischen Perspektive nähert1 , bleibt dabei in analytischer und argumentativer Distanz zu den gesellschaftsstrukturellen und subjektbezogenen Wirkungen gewandelter Modernität, während Bauman und Wagner ihre Überlegungen dezidiert auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse beziehen. In der folgenden Darstellung konzentriere ich mich daher auf die Ansätze der beiden letztgenannten Autoren2 .
11.1
Die organisierte Moderne
Peter Wagner schlägt eine »neue Lektüre der modernistischen Soziologie« vor (Wagner 1995b: 11): Moderne sollte demnach als ein mehrdeutiges, von unterschiedlichen Logiken durchzogenes und durch verschiedene, wechselnde Institutionen, Konventionen
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Latour versteht unter »›modern‹ zwei verschiedene Ensembles von Praktiken […], die, um wirksam zu sein, deutlich geschieden bleiben müssen, es jedoch seit kurzem nicht mehr sind«: Das eine Praxisensemble (›Übersetzung‹) zielt auf Produktion von »Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur«, während das andere Ensemble (›Reinigung‹) zwei getrennte ontologische Bereiche, nämlich jenen der menschlichen und jenen der nicht-menschlichen Wesen, schafft. (Latour 2008, S. 19) In der Rezeption beider Ansätze zeigen sich unterschiedliche Schwerpunkte: Während Peter Wagners Rekonstruktion der ›organisierten Moderne‹ – also jener modernen Sozialität, die sich bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts als hegemonial erweist – große Aufmerksamkeit erfährt (vgl. z.B. Dölling 2003; Völker 2004; Reckwitz 2006), gilt Zygmunt Bauman nicht zuletzt aufgrund seines vielbeachteten Konzepts der flüchtigen Moderne als »ein Klassiker der Soziologie der Postmoderne« (Junge 2005, S. 64).
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
und Repräsentationen stabilisiertes praktisches Gefüge verstanden werden, das sozialem Wandel unterliegt und sich dabei zum Teil sehr umfassend verändern kann. Die Besonderheit moderner Sozialität liegt in ihrer ›Verpflichtung zur Selbstbestimmung‹, in einem praktischen Verhältnis zur Welt also, dass grundlegend in das Selbstverständnis moderner Subjekte eingelassen ist, welches aber wiederum auf sehr unterschiedliche und oft ambivalente Weise hervorgebracht wird, weshalb es auf die Frage nach den markanten Eigenheiten dieser speziellen ›Anschauungsweise‹ »nicht die eine, wirklich moderne Antwort« gibt (Wagner 2009: 15). Modernität kann in ganz unterschiedlichen Sozialitäten hervorgebracht werden, die jeweils in unterschiedlicher Form mit dem Spannungsverhältnis zwischen modernekonstitutiver Autonomie und gesellschaftsbedingter Heteronomie verfahren. Diese unterschiedlichen Umgangsweisen überlagern sich, bringen aber zugleich auch hegemoniale Formen hervor, die sich als Phasen rekonstruieren lassen. Die historisch spezifische moderne Konstellation, auf die sich die Modernisierungstheorien beziehen und die sie absolut setzen, ist durch eine großflächige und zugleich feingliedrige Konventionalisierung des Zusammenlebens, sowie durch die Schließung sozialer Kontingenz gekennzeichnet. Sie wird von Wagner als ›organisierte Moderne‹ bezeichnet und zeitlich zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts verortet (Wagner 1995b). Unter den historischen Bedingungen der 1940er bis 1970er Jahre ist die Entwicklung einer Sozialtheorie, die jeden Aspekt des sozialen Lebens systematisch integriert und dabei universelle Gültigkeit beansprucht, nicht verwunderlich, zeigen sich doch strukturelle Homologien zwischen dem – in Reckwitz’ Begrifflichkeit (2017a) – ›doing generality‹ der Modernisierungstheorien und der ›Logik des Allgemeinen‹ der organisierten Moderne. Zudem konstatiert Wagner eine nicht unerhebliche (wenn auch weitestgehend unbewusste) strukturelle Beteiligung der Modernisierungstheorien an jenen gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie beschreiben. Als historische Voraussetzung für die umfangreiche Konventionalisierung sozialer Praxis im Rahmen der organisierten Moderne sieht Wagner jedoch vor allem zwei Ordnungsaspekte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnen: Einerseits wurde der Nationalstaat als gemeinsamer institutioneller Fluchtpunkt von Allokationsprozessen, (autoritativen) Machtstrukturen und formalen wie informellen Bedeutungszuweisungen immer zentraler und bot das Potenzial, die damit verbundenen, sehr heterogenen Praktiken auf einer gemeinsamen ›Ebene‹ sinnhaft zu ordnen und ihnen damit zumindest teilweise Kohärenz zu verleihen. Auf der anderen Seite wurden die – unter den Vorzeichen industrieller Produktion und bürokratischer Ordnung des öffentlichen Lebens – sich in spezifischer Form differenzierenden Lebensumstände zum Anlass genommen, von der Idee einer liberalen, allgemein bürgerlichen Gesellschaft abzurücken. Vom Bürgertum ausgehend setzte sich stattdessen die Vorstellung einer strukturell nach verschiedenen Klassen zu unterscheidenden Gesellschaft durch, deren zentrale politische Herausforderung in der Integration und sozialen Organisation bestand. »Die Bestimmung des Nationalstaats als der relevanten Einheit, auf die sich soziales Handeln beziehen sollte, und die Konzeption einer solchen nationalen Gesellschaft als
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einer nach sozialen Klassen strukturierten, waren die Grundlagen für die Organisierung der Moderne. Zu dem Zeitpunkt, als die restringierte liberale Vorstellung der Moderne nicht länger aufrechterhalten werden konnte, standen diese beiden Konzepte den Akteuren zur Verfügung, die die Moderne umbauten.« (Wagner 1995b: 122; H.i.O.) Dabei, so betont Wagner, entfaltete die organisierte Moderne vor allem auch deshalb eine vergleichsweise große Wirkmacht, weil beide Konzepte nicht nur für eine kleine Elite, sondern für weite Teile der Bevölkerung – zumindest basal – bereits praktisch anschlussfähig waren. Als integrative und vereinheitlichende Instanzen können sowohl neue, flächendeckend zum Einsatz kommende und Massenproduktion bzw. -distribution ermöglichende Technologien gelten als auch die weitreichenden Strukturen eines ›organisierten Kapitalismus‹, der eine staatlich gestützte Nationalökonomie mit einer vornehmlich auf Großunternehmen aufbauenden Marktwirtschaft verbindet. Wagner untersucht jedoch vor allem jene neuralgischen Punkte, an denen »›die Wirtschaft‹ in das soziale Leben hineinreicht« (Wagner 1995b: 133): Von maßgeblicher Bedeutung für die ›Schließung‹ der organisierten Moderne sind praktische Konventionalisierungen der Arbeit und des Konsums, die als Prinzipien sozialpolitischer Allokation und Distribution, als soziale Sinn- und Ordnungsmuster sowie als Standardisierungs- und Normalisierungsinstanzen der Lebensführung ihre Wirkung entfalten. Ebenfalls als stabilisierend und kontingenzschließend rekonstruiert Wagner die spezifische Form der politischen Repräsentation: Nicht nur werden die sozialen Klassen mit Volksparteien synchronisiert, die sich »weniger als Ausdruck, denn vielmehr als Organisierer des Wählerwillens« verstehen (Wagner 1995b: 151), auch wird mit der Errichtung des Wohlfahrtstaats eine politische Kollektivierung durchgesetzt, die jedem Akteur je nach Alter, Beruf, Familienstand und gesundheitlicher Situation einen klar definierten Ort im Gesellschaftsgefüge zuweist. Diese politische und soziale Struktur »war von Erwartungen über Verhaltensmöglichkeiten und tatsächliches Verhalten begleitet und eine wachsende Zahl von Sozialstaatsbürokraten und Sozialarbeitern war zur Intervention bereit, sollte die Realität von den Erwartungen abweichen«, was die »Standardisierung von Sozialverhalten und biographischer Lage« gewährleistete (Wagner 1995b: 153). Als Resultat sieht Wagner eine Vereindeutigung und Normierung sozialer Praxis wie auch sozialer Positionen von historischem Ausmaß. Diskursiv verstärkt wurde diese soziale Stabilisierung durch einen sozialwissenschaftlichen und politischen Gesellschaftsentwurf, der nicht nur die geschlossene, gleichgewichtsorientierte Gesellschaft als jenes Sozialgebilde universalisierte, welches den menschlichen Bedürfnissen idealiter entspricht, sondern darüber hinaus mit dem ›homo sociologicus‹ auch eine quasinatürliche Tendenz der Akteure zu Rollenübernahme und normiertem Verhalten unterstellt. Die theoretischen Entwürfe, so Wagner, wirkten dabei einerseits als Repräsentationen, die spezifische Formen der Selbstwahrnehmung, Handlungsweisen und Kollektivbezüge verstärkten. Andererseits war die Soziologie des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts durchaus offensiv interventionistisch angelegt. Mit dem Beschreiben, Erklären und statistischen Vermessen der Gesellschaft geht also auch der sozialtechnokratische Anspruch einher, ›organisiert-modernes‹ Zusammenleben fördern und optimieren zu können.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Entlang dieser Schlaglichter – Konventionalisierung von Arbeit und Konsum mittels technisch-organisatorischer Systeme, sozialpolitisch vermittelte Standardisierung der Lebensformen, klassifizierende politische Repräsentation und wissenschaftliche Normierung sowie Universalisierung der sozialen Verhältnisse – zeichnet Wagner das Bild von der ›Einheit der Moderne‹ als eine historisch spezifische und praktisch produzierte soziale Konfiguration nach: »Mit Blick auf das Ausmaß und die Form der Organisation menschlicher Praktiken – und nur in diesem Sinne – kann man von einer relativen Schließung der Moderne sprechen. Soziale Praktiken waren in der Weise organisiert, daß sie auf der Ebene der nationalen Gesellschaften kohärent wurden und untereinander verbundene Sätze von institutionellen Regeln bildeten. Gleichzeitig entwickelte sich ein diskursives Bild dieser verbundenen Praktiken, das deren Kohärenz betonte und deren langfristige Stabilität prognostizierte, indem sie mit einer soliden Entwicklungsperspektive in Verbindung gebracht wurde.« (Wagner 1995b: 180) Auch wenn Wagner für sein analytisches Vorgehen eine »wissenssoziologische Perspektive« wählt (Wagner 1995b: 186), ist seine Studie in hohem Maße anschlussfähig an die praxistheoretische Erforschung sozialen Wandels, denn soziale Praktiken bilden einen wesentlichen Kumulationspunkt seiner Beobachtungen. Zwar bleiben die Bedingungen, deren Produktion und Reproduktion oft recht abstrakt und Wagner gibt nur wenige Hinweise auf praktische Divergenzen, Überlagerungen unterschiedlicher Logiken und verbleibende Möglichkeitsräume alternativer Praxis im Rahmen der ›organisierten Moderne‹. Gleichwohl ist sowohl das grundlegende Ansinnen, die »Mehrdeutigkeit der Moderne« aufzudecken (Wagner 1995b: 10), als auch die historische Kontextualisierung modernisierungstheoretischer Prämissen für die praxistheoretische Analyse sozialen Wandels fruchtbar3 . So stabil, wie es ihr Diskurs vermittelte, erwies sich die organisierte Moderne nicht. Retrospektiv macht Wagner bereits Ende der 1960er Jahre Anzeichen für deren baldige Krise aus. Die rapiden Wandelprozesse, welche die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnen, sind soziologisch wiederum in höchst unterschiedlicher Weise gedeutet worden (Nassehi 2001). Bereits in den 1970er Jahren lässt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Gesellschaftsdiagnosen vorfinden (Bogner 2015), die sich teilweise explizit von modernisierungstheoretischen Basisannahmen distanzieren. Während einschlägige Arbeiten wie etwa Ulrich Becks ›Risikogesellschaft‹ noch »unausgesprochen stark differenzierungstheoretisch angelegt« sind (Schimank 2007b: 16), erlangen spätestens in den 1990er Jahren Gesellschaftsanalysen kultur- und praxistheoretischer sowie postmodernistischer Provenienz verbreitete Aufmerksamkeit. 1991 bilanziert Stefan Müller-Doohm, die Soziologie sei »zu neuen Ufern aufgebrochen« und
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In Wagners Lesart erscheint nicht zuletzt auch die verbreitete Kritik an Bourdieus ›Die feinen Unterschiede‹ in einem anderen Licht: Nicht die Bourdieu’sche Praxistheorie weist einen übermäßigen Hang zur Stabilisierung und Reproduktion sozialer Zustände auf, vielmehr gilt dies für die rekonstruierte Gesellschaftskonstellation im Frankreich der 1960er Jahre. So gelesen erscheint Bourdieus Studie als »vielleicht […] letzte große Kulturanalyse unter Bedingungen der organisierten Moderne« (Wagner 1995b: 242).
11 Modernetheorie und Gegenwartsdiagnose
wäre – nun »nicht länger Alleinvertretungsrecht« und paradigmatische Schließungen geltend machend – zur Produktion von Theorien der Gegenwartsgesellschaft zurückgekehrt (Müller-Doohm 1991: 11).
11.2
Das Ende der Eindeutigkeit
Andreas Reckwitz (2006) – der in dieser Hinsicht an Wagner anschließt – betont, dass es sich bei dieser modernetheoretischen Perspektive nicht im herkömmlichen Sinne um das Projekt einer Epochenbildung handelt4 : »Die Kultur der Moderne ist durch Agonalitäten strukturiert, sie besteht aus einer Sequenz von Kulturkonflikten« (Reckwitz 2006: 14, H.i.O.), in deren Zentren die Legitimität von Praktiken, die soziale und symbolische Ordnung der Welt, aber auch die Konstitution von Subjekt, Gesellschaft, Institutionen etc. stehen. Von dieser Warte aus betrachtet ist auch die organisierte Moderne von unterschiedlichen praktischen Logiken durchzogen, bildet dabei jedoch soziale Strukturen aus, die Konflikte, Ambivalenzen und Deutungsvielfalt in historischem Ausmaß einzugrenzen, zu unterdrücken und/oder zu marginalisieren vermögen. Hierin sieht auch Zygmunt Bauman das markanteste Merkmal dieser – in seiner Begrifflichkeit – ›festen‹ Form moderner Sozialität (Bauman 2003): Nach seinen Überlegungen gilt die modernekonstitutive kulturelle Orientierung »der Ordnung als Aufgabe«5 (Bauman 1992: 92, H.i.O.), welche im Modus ›fester‹ Modernität auf die öffentlich organisierte, institutionalisierte Beseitigung von Ambivalenzen ausgerichtet ist. Aus diesem Grund wird die Aufmerksamkeit hinsichtlich moderner Konfliktivität weniger im Widerstreit konkurrierender Ordnungen gebunden, sondern in der grundlegenden Gegensätzlichkeit von Ordnung und Unordnung bzw. Chaos. Die Vielfalt moderner Praxis wird dann nicht nur von der einenden Ordnungsobsession überdeckt, sondern auch mit ›gärtnerischer Ambition‹ eingehegt, denn das Undefinierte, Inkohärente, Unlogische, Mehrdeutige etc. tritt als Negativ der Ordnung in Erscheinung und muss beherrscht bzw. einer Struktur unterworfen werden. Diese festgefügten, institutionell gestützten Ordnungsstrukturen – so die gegenwartsanalytische Beobachtung Baumans – verflüssigen sich jedoch zusehends. Die Gegenwart ist durch die kontinuierliche Erosion der einst soliden öffentlichen Ordnungsprinzipien, sowie durch die Individualisierung von Ordnungsleistungen gekennzeichnet (Bauman 1992). Resultat ist eine Explosion der Ambivalenzen, der konkurrierenden Potenziale und Handlungsalternativen, die jeweils auf ihre Weise sinnvoll erscheinen: »Mit der Abdankung der zentralen Organisationskomitees, die sich um Ordnung und Regelmäßigkeit, um die
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Dieses Postulat sehen nicht alle Soziolog*innen eingelöst. So konstatiert Knöbl (2017: o.S.): »An Wagner knüpft Reckwitz, um es vorsichtig zu formulieren, völlig ungebrochen an, ja – vielleicht treffender gesagt – in der offenkundigen Absicht einer noch stärkeren Epochenbestimmung und -eingrenzung.« Ordnung versteht Bauman als explizite und implizite, rationale und emotionale Ordnungspraxis: »Der Begriff der Ordnung trat gleichzeitig mit dem Problem der Ordnung ins Bewußtsein, der Ordnung als einer Sache von Entwurf und Handlung, Ordnung als einer Obsession.« (Bauman 1992, S. 18)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Differenz zwischen richtig und falsch kümmerten, erscheint die Welt heute als grenzenlose Ansammlung von Möglichkeiten.« (Bauman 2003: 76) Die in der Multiplikation der Möglichkeiten zum Ausdruck kommende Vervielfältigung sozialer Sinn-, Ordnungs- und Handlungsstrukturen spiegelt sich nun auch – so lässt sich ergänzen – konsequent in der Fülle an Gesellschafts- und Zeitdiagnosen, die zwar darin übereinstimmen, »daß eine Art Nachmoderne begonnen habe« (ReeseSchäfer 1999: 435), im Vergleich zur Hochphase der Modernisierungstheorien jedoch Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion einer eindeutigen Stoßrichtung und bei der gemeinschaftlichen Definition gegenwärtiger sozialer Wandlungsprozesse zeigen6 . Insofern ließe sich behaupten, Gegenwartsanalytiker*innen und Gesellschaftsdiagnostiker*innen brächten im »Bewusstsein der Legitimität pluraler Weltsichten und Positionen […] die Überzeugung [zum Ausdruck], dass wir in einer Epoche leben, die das Nebeneinander verschiedener kleinerer Erzählungen zulässt und sich daher durch die vielzitierte Unübersichtlichkeit auszeichnet.« (Bogner 2015: 15) Ein Großteil der Gegenwartsanalysen und Gesellschaftsdiagnosen (nicht nur der 1990er Jahre) beinhaltet jedoch, wenn überhaupt, dann nur sehr implizit solche Formen der Selbst- und Metareflexion. Viele Ansätze postulieren hingegen die Wirkung einer spezifischen Wandelstruktur (in Medien, Konsum, Industrie, Wissensnutzung etc.), die das Zeug dazu hat, den entscheidenden epochalen Bruch zwischen Moderne und Postmoderne zu markieren – ungeachtet der Tatsache, dass sich in diesem Falle, wie Klaus Lichtblau (1991) etwas überspitzt formuliert, in nahezu jährlichem Turnus ein Epochenwandel ereignen würde. Anders gehen jene Theoretiker*innen vor, die – wie Peter Wagner, Bruno Latour und Zygmunt Bauman – an der Formulierung einer Modernetheorie mit historisierendem Anspruch interessiert sind (Bonacker & Römer 2008). Ihre Ansätze können zwar durchaus den Gegenwartsdiagnosen zugerechnet werden (Schimank & Volkmann 2007), zeichnen sich jedoch durch eine grundlegendere Frageperspektive aus: Sie forschen nach den Strukturen und Ambivalenzen der Moderne selbst, nach dem Homologien moderner Kulturen. Die Analyse gegenwärtiger Ausdrucksformen der Modernität in gesellschaftsspezifischer sozialer Praxis ist dann Produkt einer historisch vergleichenden Analyse der Eigenheiten moderner Kulturmuster: Moderne wird entlang 6
Die sozialtheoretischen Unübersichtlichkeit wird auf verschiedene Weise begründet: Neben Vermutungen, sie rühre von einer ›diffus-emotionalen‹ Ablehnung des vorgeschlagenen Epochenbegriffs ›Postmoderne‹ oder von der Trägheit des (soziologischen) Denkens her (Reese-Schäfer 1999, S. 435) wird sie auch als Relikt modernistischer Theorienmodellierung gedeutet, die ob ihres universalistischen Anspruchs dazu tendiere, Wandelphänomene in gesellschaftlichen Teilbereichen zu Gesellschaftstheorien hochzuskalieren. Dabei geraten unterschiedliche Ansätze (etwa der Markt-, der Erlebnis- oder der Risikogesellschaft) zwangsläufig in eine Konkurrenz um den allgemeinsoziologischen diagnostischen Anspruch (Bogner 2015). Schließlich lässt sich die Multiplizierung soziologischer Gegenwartsanalysen aber auch als Symptom der gesellschaftlichen Zustände selbst lesen: Wie Reese-Schäfer herausarbeitet, treffen sich viele Theorien zumindest in der Beobachtung, dass sich erstens bislang wirksame, eindeutige Strukturen und Ordnungen auflösen, dass zweitens kollektivistische zugunsten individualistischer Orientierungen in den Hintergrund treten, und dass drittens vormalige (bürokratische) Autoritäten an Einfluss verlieren (Reese-Schäfer 1999, S. 436-440). Die hieraus folgende Konsequenz – die von Bauman aufgezeigte Multioptionalität – wirkt sich auch auf die soziologische Theorienbildung aus.
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spezifischer (von den Theoretikern durchaus ähnlich rekonstruierter) Grundlogiken bestimmbar, die so grundlegend sind, dass sie zwar jegliche moderne Praxis charakterisieren, dabei aber auch das Potenzial haben, sich in jeweils ganz verschiedenen sozialen Ordnungen, Praxiskomplexen, Logiken zu reproduzieren und zum Teil radikal zu wandeln; darüber hinaus birgt Moderne in diesen Perspektiven besondere Antinomien, die auf soziale Ordnungen grundsätzlich destabilisierend wirken und daher die Hervorbringung unterschiedlicher praktischer Formen von Modernität sogar befördern. Bauman sieht diese dynamisierende Antinomie dem zentralen Prinzip der Moderne – dem Streben nach ›Ordnung‹ – immanent7 , denn die Herstellung unbedingter Ordnung sei im Grunde eine »unmögliche Aufgabe« und generiere beständig neue und vielfältigere Ambivalenzen (Bauman 1992): Mit der Produktion kategorialer und relationaler Eindeutigkeit gehe unweigerlich die Hervorbringung von Uneindeutigkeiten einher, sowohl in Form nicht bestimmbarer, ausgeschlossener Elemente als auch in Form von Polysemien. Diese beständig im Ordnungsbestreben erzeugten und sich dabei vervielfältigenden Ambivalenzen waren geeignet, die festen, unflexiblen Strukturen öffentlich organisierter und umfassend institutionalisierter Ordnungsprinzipien zu sprengen: Sie wirkten zusehends dysfunktional und zu starr, um sich den von ihnen erzeugten neuen Realitäten anzupassen – mehr noch: sie hinderten auch die Individuen daran sich neuen Gegebenheiten autonom anzupassen und beschränkten deren Freiheiten in ungerechtfertigtem Maße. Die gesellschaftliche Umgestaltung zeichnet Bauman in ganz ähnlicher Weise nach wie Wagner – Dekonventionalisierung und Flexibilisierung von Arbeit und Konsum, Deregulierung und Selbststeuerung im Bereich (vormals) staatlicher Aufgaben, Selbstbestimmung und Autonomie im Bereich der Lebensführung (Bauman 2003, 2009; Wagner 1995b). Wie Wagner kommt dabei auch Bauman zu dem Schluss, dass der spätestens in den 1980er Jahren einsetzende soziale Wandel zwar eine massive Verschiebung moderner Grundmuster, nicht aber deren Auflösung bedeutet. Die moderne Orientierung auf Ordnungsleistungen bleibt bestehen, allerdings wandelt sich die Ordnungspraxis. Bauman fasst die in veränderter Form auf Ordnung orientierten Praxiskomplexe im Begriff der ›flüchtigen‹, ›liquiden‹ Modernität zusammen: »Flüssigkeiten können, einfach ausgedrückt, im Gegensatz zu Festkörpern kaum ihre Form wahren. Sie fixieren sozusagen weder den Raum, den sie einnehmen, noch fesseln sie die Zeit. Während Festkörper eine klare räumliche Ausdehnung haben und die Auswirkungen der Zeit neutralisieren und damit deren Bedeutung verringern (tatsächlich widerstehen sie dem Zeitfluß oder lassen ihn irrelevant erscheinen), behalten Flüssigkeiten auf Dauer keine feste Form; sie sind jederzeit bereit und geneigt, sie zu
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Bei Wagner liegt dieses destabilisierende Moment hingegen in der Spannung zwischen aufklärerischer Autonomieorientierung und der moralphilosophisch grundierten Orientierung am Gemeinwohl als einer kollektivistischen Kategorie, die nicht auf den Willen des einzelnen Menschen zu reduzieren ist (Wagner 1995, S. 31). Beide Grundmuster können in höchst unterschiedlicher Form gedeutet, relationiert und betont werden; solange sie jedoch praktisch wirksam sind (solange Praxis also ›modern‹ ist), evozieren sie Ambivalenzen – nicht nur, weil sie potenziell in so verschiedener Weise ausgelegt werden können, sondern auch weil sie untereinander konfligieren.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
verändern. […] Aus diesem Grund bieten sich ›Flüchtigkeit‹ und ›Flüssigkeit‹ als passende Metaphern an, wenn man das Spezifische unserer Gegenwart, jener in vieler Hinsicht neuartigen Phase in der Geschichte der Moderne, erfassen will.« (Bauman 2003: 7f., H.i.O.) Die Verflüssigung institutionalisierter Ordnungsstrukturen und die Flexibilisierung von Ordnungsprinzipien betrachtet Bauman jedoch kritisch. Die Auflösung der im Rahmen ›fester‹ Modernität tradierten kollektiven Handlungshorizonte, Normen, Abhängigkeits- und Interaktionsverhältnisse bei gleichzeitiger Persistenz der Ordnungsorientierung zieht unweigerlich einen Wandel der praktischen Hervorbringungsweisen von Ordnung nach sich. Die Erzwingung von Ordnung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als öffentliches Projekt organisiert war, wird nun zunehmend privatisiert und individualisiert, bleibt aber als Imperativ mit restriktiver Wirkung bestehen: »Ambivalenz ist aus der öffentlichen Sphäre in die private Sphäre übergegangen, seit keine weltliche Macht mehr die Neigung zeigt, sie auszulöschen. Sie ist jetzt im Großen und Ganzen eine persönliche Angelegenheit. Wie so viele andere global-gesellschaftliche Probleme muß dieses jetzt individuell angepackt werden und, wenn überhaupt, mit individuellen Mitteln gelöst werden. Die Erlangung von Klarheit der Absicht und Bedeutung ist zu einer individuellen Aufgabe und persönlichen Verantwortung geworden. Die Anstrengung ist etwas Persönliches. Und ebenso das Scheitern der Anstrengung.« (Bauman 1992: 239) Die Diagnosen eines Wandel von der ›festen‹ in eine ›flüchtige Moderne‹ (Bauman 2003) bzw. von der ›organisierten‹ in eine ›erweitere liberale Moderne‹ (Wagner 1995b) weisen durchaus inhaltliche Parallelen auf: Institutionen, Rollenbilder, tradierte Verhaltensmuster weichen auf, Nationalstaaten verlieren langsam ihre Bedeutung als ordnende und regulierende Instanzen, die Lebensführung, aber auch Probleme der praktischen Koordination werden individualisiert. Die Gegenwartsgesellschaft – zu diesem Schluss kommen beide Autoren – ist durch eine zunehmende Beanspruchung der persönlichen Entscheidungsfähigkeit und durch eine Zunahme an Uneindeutigkeiten gekennzeichnet, die individuell zu organisieren sind.
11.3
Wandel von Modernität und Gesellschaftlichkeit: Integration durch Arbeit, Kontingenzsteigerung und Individualisierung
Sowohl Wagner als auch Bauman formulieren ihre Theorien also angesichts umfangreicher sozialer Wandlungsprozesse, erkennen jedoch in den veränderten Formen von Sozialität die basalen Grundorientierung einer modernen Logik wieder. Die ›neue Modernität‹ folgt nach wie vor den modernen Grundlogiken und Basisambivalenzen – allerdings in radikal veränderter praktischer Form. »Bezüglich der historischen Behauptung scheinen mir die Theoretiker der Postmoderne zurecht eine größere gesellschaftliche Umstrukturierung zu identifizieren, aber ihre Rede vom ›Ende einer Ära‹ neigt
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dazu, die Dimensionen dieses Wandels zu überschätzen.« (Wagner 1995b: 221)8 Damit zweifeln Wagner und Bauman wohlgemerkt nicht die Tragweite der gesellschaftlichen Umbrüche an. Wagner etwa spricht angesichts »der Erschütterung handlungsorientierender Konventionalisierungen, wenn nicht sogar des Zusammenbruchs von Ordnungen von Konventionen« von einer »Krise der zeitgenössischen Gesellschaftsformation«, da sie sich »in allen bedeutenden Praxisfeldern vollziehen« (Wagner 1995b: 186f.). Und auch Bauman stellt – in eindringlicher Metaphorik – einen umfangreichen Wandel fest, der im Grunde alle gesellschaftlich zentralen Handlungs- und Beziehungskonventionen berührt: »Wir beobachten heute eine Neuausrichtung der Moderne; ihre Hochöfen, die alles einschmelzen, werden mit neuen Materialien versorgt. Zuerst kamen die vorhandenen Institutionen an die Reihe, jene Rahmenbedingungen, die den allgemeinen Handlungshorizont bildeten […]. Konfigurationen, Konstellationen, Abhängigkeitsund Interaktionsverhältnisse verschwanden in den Tiegeln, wurden umgeschmolzen und nahmen neue Gestalt an. Das war in der Geschichte der ohnehin jede Grenzbefestigung einreißenden Moderne die Phase, in der die Gußform zerbrach.« (Bauman 2003: 13) Die konzeptionelle Trennung von Modernität und (moderner) Gesellschaftlichkeit erlaubt dabei, die massiven gesellschaftlichen Umbrüche auf das in die Gesellschaftsstrukturen eingelassene kulturelle Grundmuster (ambivalenter) Modernität zu beziehen und so einen analytischen Fluchtpunkt der Rekonstruktionen sozialen Wandels zu setzen. Von dieser Warte aus beobachten die Autoren gegenwärtige gesellschaftliche Umwälzungen als vielfältige, unterschiedlich wirkende und doch praktisch in hohem Maße miteinander verknüpfte Prozesse. So generieren sie im Rahmen ihrer modernetheoretischen Gegenwartsanalysen Aussagen in Bezug auf gesellschaftliche Wandelprozesse.
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Auch wenn also im eigentlichen Sinne nicht von einem epochalen Wandel gesprochen werden kann, setzen sich sowohl Wagner als auch Bauman (wie auch Latour) dezidiert mit dem Postmoderne-Begriff auseinander. Sie verorten Postmodernität (wie Modernität) auf einer anderen konzeptuellen Ebene als jener der gesellschaftlichen Strukturen und sprechen in ihrem Zusammenhang von ›Identität‹ (Wagner) bzw. der ›Mentalität und Praxis‹ (Bauman), die jedoch – anders als Modernität – nicht das hegemoniale Potenzial hat, eine Ära zu bezeichnen. Eine postmoderne Haltung breitet sich zwar im Rahmen der veränderten Modernität aus, schiebt sich aber zwischen alte und neue Praxisstrukturen und konkurriert, verbindet sich aber auch mit diesen. Nach Bauman zeichnet sich die postmoderne Haltung durch ein Bewusstsein für soziale Kontingenz und die Unauflösbarkeit internalisierter Ambivalenzen aus. Sie scheint sich zwar in der Uneindeutigkeit der flüchtigen Moderne leichter herauszubilden, löst die moderne Grundorientierung jedoch nicht ab: »Der Anschein einer Abfolge ist gewiß eine Wirkung der modernen Vorliebe für saubere Trennungen, klare Brüche und reine Substanz. Die postmoderne Verherrlichung der Differenz und Kontingenz hat nicht die moderne Lust an Uniformität und Gewißheit ersetzt. […] Es gibt keinen sauberen Bruch oder eine unzweideutige Abfolge.« (Bauman 1992, S. 311)
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Wandel gesellschaftlicher Allokation und Integration In der organisierten Moderne – so Wagners Rekonstruktion – wird die praktische gesellschaftliche Integration durch eine marktwirtschaftlich gestützte Strukturierung von Funktionen, Akteurspositionen, Güterverteilung und Machtrelationen im nationalen Rahmen organisiert und politisch gewährleistet9 . Auf diese Weise etablierte sich eine weithin geteilte Praxis gesellschaftlicher (Selbst-)Verortung, die an die Basisunterscheidung ›Arbeiter*innen – Kapitalist*innen‹ anschließt und von dort ausgehend ein weit verzweigtes Netz von Wissensordnungen und Konventionen spannt, welches das alltagspraktische Einfinden, Hervorbringen und somit zugleich Perpetuieren dieser machtvollen Positionierungs-, Sinn- und Verteilungsstruktur entlang spezifischer sozialer Merkmale (Geschlecht, Bildungsstand, Alter etc.) ermöglicht. So entsteht eine weitestgehend objektivierte, an nationalen Grenzen ausgerichtete und durch den (Arbeits-)Markt koordinierte Integrations- und Allokationsstruktur mit dem teilweise latenten, politisch aber expliziten Anspruch, alle (qua Nationalität) assoziierten Mitglieder in die Gesellschaft einzubinden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts büßt diese Struktur – zunächst langsam und unbemerkt, dann beschleunigt und spürbar – an Wirkmacht ein. Wagner fasst diesen Prozess entlang von vier Fluchtlinien zusammen: »Die ›Vereinbarung‹, die industriellen Beziehungen in nationalem Rahmen zu regeln, wurde gebrochen; der keynesianische Konsens, eine nationale verbrauchsgestützte Wirtschaft zu entwickeln, erodierte; die organisatorischen Regeln, die Position und Aufgabe jeden Akteurs bestimmt hatten, wurden umgestaltet; und technische Innovationen, deren Anwendung bestehende Konventionen zu zerbrechen drohten, wurden nicht länger aufgehalten.« (Wagner 1995b: 188) Die von Wagner herausgearbeiteten Verwerfungen überlagern sich in einer zentralen Institution der organisierten Moderne, nämlich der Arbeit. Arbeit avanciert in der organisierten Moderne zu jenem wesentlichen Bezugspunkt des Denkens, Wahrnehmens und Handelns, der es den Mitgliedern einer Gesellschaft erlaubt, sich in Relation zueinander zu verorten und sich als produktiven Teil eines gemeinschaftlich Wohlstand erzeugenden Kollektivs zu verstehen. Diese Wirkungsweise wird nicht zuletzt alltagspraktisch erzeugt: Bereits in der Wende zum 20. Jahrhundert weisen die politischen Ambitionen in Richtung vollerwerblicher Einbindung aller arbeitsfähigen (männlichen) Mitglieder einer Gesellschaft. Der Lebensunterhalt ist in modernen Gesellschaften für den überwiegenden Bevölkerungsanteil unweigerlich an die (direkte oder indirekte) Eingliederung in den Arbeitsmarkt gekoppelt und Arbeit füllt einen Großteil der Lebenszeit aus. Sie etabliert sich daher nicht nur als vorrangiges Allokations- und Inte-
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Wagner, Bauman und auch Latour nehmen keine Sozialstrukturanalyse einer bestimmten Nation vor; wie Wagner und Bauman jedoch ausführen, spielen nationale Grenzziehungen im Rahmen der organisierten bzw. festen Moderne eine wesentliche Rolle. Wagner bezieht sich in seinen Ausführungen insbesondere auf gesellschaftliche Konstitution mit nationaler Rückbindung auf Deutschland, während Bauman und Latour bei ihren jeweiligen Analysen vor allem die Entwicklungen in Großbritannien bzw. Frankreich vor Augen haben.
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grationsprinzip, sondern wirkt darüber hinaus auch sinn- und identitätsstiftend (Castel 2008). Bauman, der mit seiner Analyse sozialer Umbrüche die britische Gesellschaft fokussiert, betont eine Verkopplung zwischen der Erosion von Arbeit als dem kollektiven Prinzip der Wohlstandsgenerierung und der Auflösung festgefügter Identitäten bzw. gesellschaftlicher (Selbst-)Verortungen: »Das englische Wort ›Labour‹ macht so die ›Dreifaltigkeit der Arbeit‹ sichtbar – die enge Verbindung (die semantische Konvergenz, die mit der Identität des kollektiven Schicksals verbunden ist) zwischen der Bedeutung, die man der Arbeit (im Sinne ›körperlicher und geistiger Arbeit‹) zusprach, der Selbstkonstitution der Arbeiterklasse und der Politik, die aus dieser Selbstkonstitution erwächst – mit anderen Worten, die Verbindung zwischen körperlicher Plackerei und Mühsal als wesentlicher Quelle gesellschaftlichen Reichtums und Wohlergehens und den Ansprüchen der Arbeiterbewegung auf Anerkennung. Gemeinsam sind sie entstanden und gemeinsam sind sie verschwunden.« (Bauman 2003: 165) Dies stellt auch die Soziologie vor neue Herausforderungen, denn Arbeit – so das verbreitete disziplinäre Narrativ – steht im Zentrum der Konstitution moderner Gesellschaften und bildet deren maßgebliches Integrationsprinzip: Insbesondere die modernisierungstheoretische Perspektive hat zur Überhöhung der Institution ›Arbeit‹ als universelles Grundprinzip gesellschaftlicher Bindung und Strukturierung geführt. Arbeit stellt daher nicht nur ein Schlüsselkonzept der Sozialstrukturanalyse dar, sondern spielt auch bei der Rekonstruktion epochaler gesellschaftlicher Umbrüche – oder genauer: bei der Rekonstruktion gesellschaftlicher Umbrüche als epochal – eine wesentliche Rolle10 . Im ungünstigsten Fall bleibt die Vorstellung von der gesellschaftlichen Integration durch Arbeit eine unreflektierte Prämisse. Irene Dölling (2010) stellt fest, dass im überwiegenden Teil der gegenwartsanalytischen Ansätze die Erosion der Erwerbsarbeit zwar zumindest implizit als ›Krise‹, nicht aber als potenzielles ›Ende der Arbeitsgesellschaft‹ in den Blick kommt. Gerade wenn auf nicht systematisch erhobene empirische Evidenzen verwiesen wird, welche die vorrangige Relevanz des Integrationsprinzips Arbeit plausibel erscheinen lassen, besteht die Gefahr, dass diese Plausibilität auf Basis soziologischer Denkkonzepte erzeugt wird, die andere soziale Integrationsmomente ausblenden: »In der Elastizität und Dynamik kapitalistischer Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen werden […] von SoziologInnen gewichtige Gründe dafür gesehen, dass auch in Zukunft Erwerbsarbeit grundlegend für den sozialen Zusammenhalt bleibt. Sie verbleiben dabei allerdings konzeptionell und begrifflich im Wesentlichen in dem Denkrahmen, den die Soziologie seit dem Wirken ihrer ›Gründungsväter‹ erarbeitet hat und in dem Arbeit menschliche Lebensäußerung schlechthin und quasi der zentrale Begriff ist. [… Es stellt sich allerdings, J.E.] die Frage, ob nicht von einem ›Ende der Arbeitsgesellschaft‹ in dem Sinne zu sprechen ist, dass Lohnarbeit langfristig als Integrationsmo10
Die Geschlechterforschung übt bereits seit geraumer Zeit Kritik an der Eindimensionalität des gesellschaftsanalytischen Zugangs über das Konzept Arbeit (vgl. Aulenbacher 2009; Nickel 2009; Völker 2009a; Dölling 2010).
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dus veraltet, Soziologie deshalb auch über ihren bisherigen Denkrahmen hinausgehen muss, in dem andere Formen sozialer Tätigkeit gegenüber der Arbeit als nachrangig, traditionell usw. gedacht werden.« (Dölling 2010: 33) Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen sollten hier eine größere analytische Offenheit aufweisen, da sie den Wandel transversaler praktischer Logiken und mithin auch der Logiken, denen gesellschaftliche Integration folgt, zu ihrem Analysefluchtpunkt machen. Dennoch stellt sich auch für sie die Frage, wie sehr sie ›klassischen‹ soziologischen Narrativen (im ungünstigsten Fall unreflektiert) folgen und inwieweit sie gegebenenfalls auch praktische Veränderungen bzw. Verstetigungen des integrativen Potenzials von Arbeit analytisch aufgreifen. Hierauf wird bei der Betrachtung praxistheoretischer Gegenwartsanalysen zu achten sein (vgl. Kapitel 14.3).
Kontingenzsteigerung Bauman, dies wurde bereits erwähnt, verweist im Zusammenhang mit der Erosion weitreichend objektivierter, zentral regulierter Gesellschaftsstrukturen auf eine Verlagerung der Ordnungsleistungen in die Subjekte. Die möglichen Strategien zur Erreichung einer sozialen Position, wie auch die Positionierungsoptionen selbst, vervielfältigen sich und dem Individuum obliegt die Aufgabe, Weg und Ort zu wählen, zu erarbeiten bzw. zu erkämpfen und sich auf diese Weise aktiv gesellschaftlich zu integrieren. Aus Sicht der Akteure stellt sich diese Verschiebung der Steuerungsprinzipien durchaus als Belastung dar, denn »[e]s gibt – schmerzhaft – viele Alternativen, deren Menge den Rahmen eines individuellen Lebens sprengt. Den Raum, den das zentrale Organisationskomitee hinterlassen hat, füllt heute die Unendlichkeit ungenutzter Möglichkeiten aus.« (Bauman 2003: 76) Was den Menschen unter den Bedingungen flüchtiger Modernität als verunsicherndes und bedrängendes Moment entgegentritt, ist die gesteigerte Kontingenz ihrer Lebensentwürfe bzw. – allgemein – ihrer Praxis. Allerdings weist Wagner darauf hin, dass diese Kontingenzsteigerung nicht ausschließlich negativ konnotiert ist und im Rahmen der organisierten Moderne unter Rekurs auf den positiv bewerteten Effekt einer allgemeinen Liberalisierung (etwa durch die Aktivist*innen der 68er-Bewegung) explizit eingefordert wurde: »Diese kulturelle Revolution war eine Revolution im Namen von Individualität, von liberaler Moderne, gegen die Auferlegung jeder Art einer vorgegebenen Ordnung. In der radikalen Version wurde die Forderung nach Autonomie in dem starken Sinne erhoben, daß jedes Individuum einer neuen Generation nicht nur askriptive und natürliche Ordnungen, sondern auch die sozialen Konventionen der vorhergehenden Generation als heteronome Auferlegung und Beschränkung der eigenen Möglichkeiten, einen Lebensweg zu wählen, ansehen konnte.« (Wagner 1995b: 213) Die einsetzende Steigerung sozialer Kontingenz lässt sich keineswegs auf eine kollektive Wahrnehmungsveränderung reduzieren11 : Die Schließung von Kontingenz im Rah11
Damit ist aus einer praxistheoretischen Perspektive jene Konzeptualisierung zu kritisieren, die »Kontingenz in sozialen Zusammenhängen […] stehts bezogen auf ein Kontingenzbewusstsein« rekonstruiert, Kontingenz also als »etwas Subjektives« versteht, das davon abhängt, »wer wahr-
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men der organisierten Moderne wird durch weit verzweigte, eng vernetzte Praxisarrangements hervorgebracht und durch wirkmächtige Institutionen und Konventionen objektiviert. In ihr trifft sich die moderne Orientierung auf Trennung und (Zu-)Ordnung mit dem Wunsch nach rationalitätsbegründeter Vorhersehbarkeit und Verallgemeinerbarkeit – sowohl in wissenschaftlicher als auch in alltagspraktischer Hinsicht: »However, the desire for certain knowledge is nothing but the desire to lay the foundations for practices such that there is a legitimate call to everybody to pursue their intellectual (and political) reasonings from the same, limited and well-defined, premises, so that certainty over the actions of others will be achieved.« (Wagner 1995a: 190) Ihren Erfolg verdankt die praktische Kontingenzschließung im Rahmen der organisierten Moderne dabei vor allem der Generalisierung und Naturalisierung dieser geteilten Grundannahmen über die Welt, die nicht nur in institutionalisierter Form als selbstverständliche Bedingungen des alltäglichen Lebens erscheinen, sondern auch in habitualisierter Form das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Akteure strukturiert. Die strikte Konventionalisierung der Lebensführung durch Technologien sozialer Kontrolle, die Respektabilität und Devianz über Mechanismen der Anerkennung und Verkennung eng an die realen Positionierungschancen knüpft, treten den Akteuren – obschon praktisch hervorgebracht und prinzipiell kontingent – als konkrete Begrenzungen ihrer Praxis entgegen und stellen somit weit mehr als eine rein mentale Schließung dar. Die Erosion jener Institutionen und Konventionen, die Position und Aufgabe jedes Akteurs eindeutig bestimmt hatten bzw. konsensual bestimmbar machten, eröffnete einen sich beständig ausweitenden Raum der Bedeutungs- und Positionierungskämpfe, in dem unterschiedliche Lebensentwürfe und Positionierungsmöglichkeiten, aber auch divergierende Logiken zu deren Legitimierung sowie Strategien zu deren Durchsetzung miteinander konkurrieren. Nicht nur die Vervielfältigung der Optionen, sondern auch die Veruneindeutigung der symbolischen Ordnungen bzw. der Legitimität und Wirkmacht sozialer Praxis vergrößern die praktische Kontingenz in der flüchtigen Moderne. Welche Logiken genau konkurrieren und welche Folgen dies für unterschiedliche Akteursgruppen innerhalb der Gesellschaften zeitigt, muss aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive beleuchtet werden. Allerding kann bereits festgehalten werden, dass eine praxistheoretische Perspektive, deren epistemologische und sozialontologische Grundlagen eine kontingente Konstitution von Gesellschaftlichkeit voraussetzen, geeignet ist, diese Entwicklungen zu erfassen.
Individualisierung Schließlich verweisen sowohl Bauman als auch Wagner auf Individualisierungsprozesse als wesentliche Bestandteile der von ihnen dargestellten sozialen Umbrüche. ›Individualisierung‹ verwenden sie jedoch in anderer Form als Ulrich Beck (1986: 206), der mit seiner klassisch gewordenen Definition der ›dreifachen Individualisierung‹ den üb-
nimmt und welches Wirklichkeitsverständnis an die Welt herangetragen wird«, bzw. als »Begriff sozialer Selbstproblematisierung« beschreibt (Holzinger 2007: 27, H.i.O.).
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lichen Begriffsgebrauch geprägt hat12 : Zwar verweisen sie ebenfalls – freilich aus einer anderen theoretischen Perspektive – auf die Diversifizierung von Existenzbedingungen, Lebensformen und Subjektivierungsweisen. Beide Autoren nutzen den Begriff jedoch insbesondere, um die Verlagerung der praktischen Produktionsleistung und -verantwortung der persönlichen Lebensform und Identität, aber eben auch von sozialer Einbindung und Teilhabe zu markieren, die sich von einer öffentlichen, allgemeinen und standardisierten Ordnungsleistung hin zu einer individuellen Leistungsanforderung verschoben hat, der die Akteure nun ausgesetzt sind. Wagner bindet diesen Prozess wiederum an die Auflösung der allokativen und integrativen Grundausrichtung auf ›Nation‹ und ›Klasse‹ zurück – der ›Bausteine‹ also, welche die »substantiellen Grundlage kollektiver Identitäten« im Rahmen der organisierten Moderne bildeten (Wagner 1995b: 186): »Während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts waren die ›äußeren‹ nationalen und die ›inneren‹ sozialen Grenzen eindeutig gezogen worden. Ein Deutscher und ein Angestellter oder ein Engländer und ein Arbeiter war man oder war man nicht, aber man konnte es nicht wählen. Ambivalenzen waren durch umfassende klassifikatorische Ordnungen und durch die Durchsetzung dieser Ordnungen in den Praktiken eliminiert worden. In den meisten Fällen wussten die Individuen, wohin sie gehörten, aber sie hatten nicht den Eindruck, daß sie einen wesentlichen Anteil daran hatten, diesen Ort zu bestimmen.« (Wagner 1995b: 234) Mit der Auflösung dieser Strukturen vervielfachen sich die Möglichkeiten der persönlichen Selbstverortung, nicht nur hinsichtlich einer Flexibilisierung der Bedeutung von Nationalität, sondern auch mit Blick auf geschlechtsspezifische, ›subkulturelle‹, arbeits-, lebensform- oder altersbezogene Subjektivierungsformen. Im Rahmen dieser Wandlungsprozesse dehnte sich jedoch nicht nur der Möglichkeitsraum subjektbezogener (Selbst-)Bestimmungen aus, es werden zugleich neue Regierungstechniken etabliert (Foucault 2006a), die eine ebenso zwingende Wirkung entfalten wie die klassifikatorischen Ordnungen der organisierten Moderne. Die Akteure – so Baumans Kritik – sehen sich daher »mit ›neuen und verbesserten‹ Mustern und Konfigurationen konfrontiert, die so steif und unkomfortabel wie die alten [sind].« (Bauman 2003: 13) Wagner und Bauman verorten Individualisierung also nicht ausschließlich auf einer expressiven Ebene oder im Terrain der gelockerten Konventionen, wo die Akteure nun zweifellos größere Spielräume bei der Gestaltung ihrer Lebensentwürfe erhalten. Sie blicken vor allem auf die Logiken und Prinzipien der Hervorbringung sozialer Ordnungen und machen hier den wirkmächtigen Kern der Individualisierungsprozesse aus: 12
Beck spannt seine Begriffsdefinition als ›Sechs-Felder-Tafel‹ auf, bei der er drei Ausprägungen eines ›ahistorischen Modells der Individualisierung‹ – Freisetzung, Stabilitätsverlust und Art der Kontrolle – nach den (objektiven) Lebenslagen und dem (subjektiven) Bewusstsein bzw. der Identität differenziert. Die drei ahistorischen Dimensionen selbst bezeichnen: »Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (›Freisetzungsdimension‹), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (›Entzauberungsdimension‹) und – womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (›Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension‹).« (Beck 1986: 206, H.i.O.)
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»Wir sind die Erben einer individualisierten, privatisierten Version der Moderne. Wir müssen das soziale Gewebe in Heimarbeit und in eigener Verantwortung selbst herstellen, jeder für sich« (Bauman 2003: 14).
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Indem sie mit Modernität ein bestimmtes, historisch persistentes und dennoch Wandel unterworfenes kulturelles Muster fokussieren, ermöglichen die angesprochenen modernetheoretischen Ansätze von Wagner und Bauman eine Kontextualisierung, die sowohl den konkreten Gegenstand einer Wandelanalyse einzubetten als auch die dabei genutzten Analysekonzepte zu situieren vermag. Vor dem Hintergrund, dass aus dieser spezifischen modernetheoretischen Perspektive jedoch Moderne und Gesellschaft nicht in eins fallen, muss beachtet werden, dass es sich gleichsam um einen speziellen, eben Modernität zentrierenden Zugang zur Erforschung sozialen Wandels handelt. Gesellschaft fokussierende Zeit- oder Gegenwartsdiagnosen greifen zumeist historisch nicht so weit zurück. Sie unterscheiden sich von den Modernetheorien insofern, als sie nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) nach einem Grundmuster von Modernität suchen, sondern sich vornehmlich auf die Analyse gegenwärtiger Gesellschaftlichkeit beziehen und zumeist die (allgemeine) Wahrnehmung einer relativ weitreichenden sozialen Veränderung zum Ausgangspunkt nehmen. Insofern darf die Auseinandersetzung mit einer Soziologie sozialen Wandels dieses ›Genre‹ nicht ignorieren. Alexander Bogner (2015: 7) weist darauf hin, dass die Begriffe Zeit- und Gesellschaftsdiagnose durchaus synonym verwendet werden; sowohl interdisziplinär als auch in den sozialwissenschaftlichen Analysen der Vorkriegszeit wurde eher der Begriff der Zeitdiagnose verwendet, der Begriff der Gesellschaftsdiagnose markiere also selbst »einen semantischen Wandel, der letztlich auf ein neues Verständnis der Zeit und des menschlichen Miteinanders verweist – sowie auf die gesteigerte Bedeutung der Soziologie. Die Soziologie spricht daher heute lieber von Gesellschaftsdiagnose als von Zeitdiagnose«. Uwe Schimank und Ute Volkmann (Schimank 2007b; 2002) hingegen verwenden den Begriff der Gegenwartsdiagnose, definieren diesen jedoch im Rückgriff auf Walter Reese-Schäfers (1996) ›zeitdiagnostische‹ Metareflexion. Dieser synonymen Verwendung der Begriffe Zeit- und Gegenwartsdiagnose schließe ich mich an. Wie jedoch bereits in den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, unterscheide ich zwischen jenen Diagnosen, die aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive und jenen, die aus modernetheoretischer Perspektive vorgenommen werden, weshalb der Begriff der Gesellschaftsdiagnose einen spezifischen Zugang im Rahmen der Gegenwartsdiagnosen markiert.
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Die soziologische Bezugnahme auf Gegenwartsdiagnosen ist ambivalent: Einerseits wird der soziologischen Zeitdiagnose im Rahmen der außerfachlichen Konkurrenz um gegenwartsanalytische Deutungskompetenz mit einigem Selbstbewusstsein ein eigenständiger und wesentlicher Stellenwert zugesprochen: Die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft, Gegenwart bzw. Moderne könne und dürfe hier der Geschichtswissenschaft, der Kulturkritik und Philosophie nicht einfach das Feld überlassen, sondern müsse idealer Weise in einen interdisziplinären Dialog eintreten und der Öffentlichkeit auf diese Weise Deutungswissen und Reflexionsangebote zur Verfügung stellen (Müller-Doohm 1991). Auf der anderen Seite verbindet sich mit dem Label ›Zeitdiagnose‹ mehr oder weniger explizit der Vorwurf oder zumindest die Befürchtung der Unwissenschaftlichkeit: »Die Zeitdiagnostik gilt als interessant, aber doch auch als ein wenig unsolide.« (Reese-Schäfer 1996) Diese Anmutung wird auf ganz unterschiedliche Gründe zurückgeführt, die in unterschiedlichem Maße auf soziologische Arbeiten mit zeitdiagnostischer Ausrichtung zutreffen: Sie sind nicht selten über die Grenzen der (sozial-)wissenschaftlichen Rezeptionsgemeinschaft hinaus bekannt und gelegentlich wird unterstellt, dass diese öffentliche Popularität mit einem unterkomplexen Begriffsinventar und einer allzu sehr auf Pointen zielenden und damit verkürzenden Argumentationsweise erkauft sei, die Zeitdiagnosen also »in Bauart und Sprache den Bedürfnissen medialer Kommunikation entgegenkommen« (Bogner 2015: 17). Ebenfalls schwer wiegen die Vorwürfe der Theorieabstinenz und der unsystematischen empirischen Bezugnahme (Schimank 2007b): So vermutet Walter Reese-Schäfer (1996: 379) den Kern der zeitdiagnostischen Soziologie in der »Mitte zwischen theoriearmer Narrativität und sich selbst beflügelnder Theoriekonstruktion« und während sie in methodologischer Hinsicht zwar durchaus die Trends ihrer Zeit aufzugreifen vermag, beschreitet sie doch eher selten den Weg einer systematischen, empiriegeleiteten Generierung oder Überprüfung von Aussagen. Es ließe sich also ein »Vorrang der Problemstellung vor den zur Verfügung stehenden Methoden […] konstatieren« (Reese-Schäfer 1996: 383; H.i.O.). Uwe Schimank (2007b: 16) mildert die Befürchtung einer theoretisch und empirisch dürftigen Basis eher als Tendenz ab, wobei er explizit zeitdiagnostische »Ausnahmen« anführt, die einer theoretischen Tradition und/oder einem systematischen empirischen Vorgehen verpflichtet sind. »Das Gros der soziologischen Gegenwartsdiagnosen«, so jedoch auch sein Resümee, »weist allerdings einen unverkennbaren spekulativen Überhang auf« (Schimank 2007b: 16f.). Aufgrund ihrer Absicht, die ›Signatur‹ bzw. ›Situation der Zeit‹ – also der Gegenwart der Autor*innen – zu bestimmen (Lichtblau 1991), müssen Zeit- bzw. Gegenwartsdiagnosen als Zugang zur Erforschung sozialen Wandels ernst genommen werden. Ihr genauer Gegenstandsbezug ist jedoch schwer zu erfassen: Schimank (2007b: 16) hält sie für »analytisch abstrakter als Untersuchungen einzelner Gesellschaften, aber konkreter als generelle Gesellschaftstheorien«, zugleich sind sie (auch dem eigenen Anspruch nach) besonders schwer von letzteren abzugrenzen (Osrecki 2011). Dies gilt nicht zuletzt auch für praxistheoretische Arbeiten des Genres, die – wie etwa Bourdieus Studie ›Das Elend der Welt‹ – mal als Gegenwartsdiagnose (Schimank & Volkmann 2007), mal als Gesellschaftstheorie (Osrecki 2011) rezipiert werden. Dennoch kennzeichnet der Fachdiskurs sie – unter dem wiederkehrenden Hinweis, dass sich eine Bestimmung und Abgren-
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zung kompliziert gestaltet – als spezifischen Bereich der Soziologie, sei es aus Interesse an den kühnen und mitunter sehr treffenden Situationsanalysen (Reese-Schäfer 1996; Schimank & Volkmann 2007), sei es aus dem Wunsch heraus, eine eher öffentlichkeitsorientierte von einer vornehmlich wissenschaftlichen Wissensproduktion zu trennen (Osrecki 2011). Die vorliegende Arbeit ist nicht der Ort für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Genre der Zeitdiagnosen. Diese interessieren in erster Linie als Analysen transversaler Wandelstrukturen und als potenzielle Heuristiken konkreter praktischer Wandelvollzüge. Um eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit an meine theoretische Perspektive zu gewährleisten werde ich mich daher auch auf Gegenwartsdiagnosen beschränken, die praxistheoretisch fundiert oder zumindest erkennbar inspiriert sind. Eine Begründung, weshalb diese sich als Bezugspunkte für die Analyse praktischen Wandels eignen, kann entlang einer Basisheuristik für Zeitdiagnosen formuliert werden, die Fran Osrecki für die Fallauswahl seiner wissenssoziologischen Genreanalyse nutzt: Neben den Basiskriterien, dass die Diagnosen einerseits als soziologische Ansätze rezipiert sein müssen und andererseits nicht vor 1945 entstanden sein dürfen, da laut Osrecki erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Differenzierung von Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose einsetzt, führt er drei Merkmale an (Osrecki 2011: 80f.): • •
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Es müssen »Aussagen über ein weites Feld gesellschaftlicher Entwicklung« getroffen bzw. Themen behandelt werden, die als ›public affairs‹ zu verstehen sind. Die Analyse zielt dabei auf ein zentrales Thema, für die diese weitreichende Wirksamkeit angenommen wird. »Die thematische Inklusivität kann über die Bezeichnung besonders wichtiger Teile der Gesellschaft hergestellt werden oder durch die Angabe eines, alle Teile der Gesellschaft umfassenden, Transformationsprinzips.« Der fokussierte Wandel wird dabei nicht nur als weitreichend, sondern auch als tiefgreifend rekonstruiert. Entsprechend legt die Zeitdiagnose »eine epochale gesellschaftliche Transformation« nahe, wobei die Beschreibung in der Zusammenschau mit vormals gültigen Prinzipien und mit Blick auf die praktischen Auswirkungen der Veränderungen den Charakter einer »Krisendiagnose« annimmt.
Zeitdiagnosen identifizieren also zentrale Logiken sozialen (hier: praktischen) Wandels, die ihrem Sinn nach und in ihrer Wirkungsweise ausgelotet werden. Dabei fokussieren sie Transformationsprozesse, die nicht auf ein spezifisches Feld, bestimmte Praktiken und habituelle Dispositionen beschränkt sind, sondern sich transversal in sehr unterschiedlicher Praxis und in ganz verschiedenen Kontexten entfaltet. Die veränderten transversalen Logiken werden dabei in Abgrenzung zu anderen, vormals wirkmächtigen und nun implizit oder explizit in Frage gestellten Sinnstrukturen herausgearbeitet. Insofern wird hinsichtlich der Hegemonie praktischer Ordnungen durchaus eine Diskontinuität unterstellt. Ihren krisenhaften Charakter erhalten insbesondere praxistheoretische Zeitdiagnosen jedoch meines Erachtens durch die Analyse praktischer Konflikte zwischen neuen und vormals hegemonialen Logiken, die eben nicht von heute auf morgen verschwinden: So arbeitet Pierre Bourdieu (1997b) in ›Das Elend der Welt‹ die Qualität des gesellschaftlichen Wandels im Frankreich der 1990er Jahre gerade auch mit Blick auf jene Wir-
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kungen heraus, die aus dem Aufeinandertreffen einer veränderten (nun: neoliberalen) praktischen Logik und hysteretischen Habitusstrukturen resultieren. Insofern ist ›epochaler Wandel‹ hier in einem bestimmten, nicht modernisierungstheoretischen Sinne zu verstehen: Im Zentrum stehen veränderte Hervorbringungsmodi sozialer Praxis, denen eine weitreichende Wirkmacht bezüglich der Veränderung objektivierter bzw. institutionalisierter Strukturen unterstellt wird. Vormals wirkmächtige Logiken werden nicht einfach aufgelöst, sondern konfligieren und interferieren mit den neuen Ordnungen und tragen so erst zu deren spezifischen Sinnstrukturen bei. Die Diskontinuität wird also nur im Sinne einer spezifischen analytischen Blickrichtung auf ein als hochgradig wirksam angenommenes praktisches Generierungsprinzip unterstellt, welches neben andere Prinzipien tritt, diese zum Teil verdrängt, sich aber in vielen Fällen mit ihnen verbindet. Als Analysen des praktischen Wandels transversaler Strukturen – die als hegemonial, aber nicht alleingültig sowie als homolog, aber nicht homogen, verstanden werden – sind praxistheoretisch informierte Zeitdiagnosen geeignet, um Heuristiken für die Analyse konkreter praktischer Wandelprozesse bereitzustellen. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit trifft auf sie nicht zu. Zwar erreichen einige durchaus eine breitere Öffentlichkeit, wie etwa Bourdieus ›Das Elend der Welt‹, Boltanskis und Chiapellos ›Der neue Geist des Kapitalismus‹, aber auch Ulrich Bröcklings ›Das unternehmerische Selbst‹ oder jüngst Andreas Reckwitz’ ›Die Gesellschaft der Singularitäten‹, sie fußen jedoch jeweils auf einer stringenten theoretischen Basis, sowie auf einer systematischen Empirie und knüpfen oft an ausgedehnte theoretisch-empirische Vorarbeiten an. Das heißt, sie sind weder verdächtig »Makrotransformationen ohne Makrotheorie zu formulieren« (Osrecki 2011: 189) (wobei im Rahmen eines praxistheoretischen Forschungsprogramms wohl eher von einer Basistheorie zu sprechen ist), noch »katapultiert sich der zeitdiagnostische Beobachter aus der Gesellschaft hinaus« (Osrecki 2011: 284)1 . Diese Vorwürfe gehen an der Realität praxistheoretischer Sozialforschung vorbei, welche die Relevanz einer Reflexion der historisch-(sozial-)räumlichen Standortgebundenheit der Forscher*innen betont und ein theoretisches Begriffs- und Analyseinstrumentarium nutzt, das im empirischen Arbeiten konkretisiert, ausgeweitet und gegebenenfalls angepasst wird. Gerade an diesem Punkt wird deutlich, dass aus praxistheoretischer Sicht eine rigide Trennung zwischen Zeitdiagnose und Gesellschaftstheorie wenig sinnvoll ist. Schließlich basieren die Ansätze auf einer theoretischen Haltung, die alternative Lesarten bzw. konkurrierende Logiken nicht kategorisch ausschließt. Auch dies steht im Kontrast zu Osreckis Basiskritik: So konstatiert er, dass die Analyse der »Gegenwart als Ort der Strukturänderung« voraussetze, »dass man es hier mit Neuheiten zu tun hat, die bereits zur Verfügung stehende Informationen über sozialen Wandel nur
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Alexander Bogner vermutet, dass für Osrecki die »Technizität des strukturfunktionalistischen Begriffsuniversums […] zur Messlatte für alle (ernstzunehmende) Theorie [wird]. Auf der Rückseite dieses Verwissenschaftlichungsprozesses etabliert sich die soziologische Zeitdiagnostik als ein eigenständiges Genre. Das heißt aber auch: Gesellschaftsanalysen, die stilistisch und theoretisch weniger abstrakt ansetzen, werden als Zeitdiagnostik und damit als nicht-fachlicher Beitrag qualifiziert.« (Bogner 2015: 18).
12 Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnose
noch als Nicht-Informationen benützen können«, weshalb notgedrungen die »Beschreibungen anderer Theorien als überholt« und die »Bezeichnung des früheren Zustandes als vergangen oder gerade eben vergehend« erfolge (Osrecki 2011: 266f.). Hier liegt aber – im Gegenteil – gerade eine Stärke der praxistheoretischen Zeitdiagnosen, die zwar den Fokus auf einen spezifischen Aspekt praktischen Wandels legen und diesen in seiner Wirkmacht betonen2 , ihn jedoch zugleich kontextualisieren oder mit anderen Zeitdiagnosen in Bezug setzen, sei es, um die Konsequenzen für Akteure im Falle eines Aufeinandertreffens unterschiedlicher Logiken zu thematisieren (Bourdieu 1997b; Bourdieu 2000; Bröckling 2007a) oder um die Folgen interferierender Logiken bei der Entstehung neuer symbolischer Ordnungen aufzuzeigen (Boltanski & Chiapello 2006; Reckwitz 2012, 2017a). Dennoch bleiben Zeitdiagnosen in gewisser Weise an die Notwendigkeit gebunden, einen spezifischen Kernaspekt sozialen Wandels zu fokussieren und gegen die praktische Pluralität ihrer Hervorbringungsmodi zu verallgemeinern, »weil sie sonst einen Differenzierungsprozess in Gang setzen würde[n], der in ihre eigene Unmöglichkeit mündete« (Wittpoth 2001: 176). Die Relationierung unterschiedlicher zeitdiagnostischer Erkenntnisse im Rahmen konkreter Situationen ihrer Hervorbringung bleibt anderen Zugängen praxistheoretischer Wandelforschung vorbehalten, die Zeitdiagnosen wiederum zum einen »als Quellen der Inspiration und zum anderen als Deutungs-Angebote« aufgreifen können (Wittpoth 2001: 176; H.i.O.).
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Diese Fokussierung wird von Kritiker*innen oft als Überbetonung angemahnt (vgl. z.B. im Fall von Reckwitz’ ›Die Subjektivierung der Gesellschaft‹: Knöbl 2017; Koppetsch 2017; Vogel 2017)
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13 Praxeologische Gegenwartsdiagnosen als Interpretationen gegenwärtiger Wandlungsprozesse
Sicherlich ist Osreckis Kritik an scharfen historischen Abgrenzungen wie auch an der argumentativen Konzentration auf ein Hauptmerkmal der Gegenwart und am (zumindest rhetorisch oft zu verzeichnenden) allgemeinen Geltungsanspruch berechtigt. Auch praxisanalytische Zeitdiagnosen steuern durchaus verschiedene Lesarten gegenwärtiger Sozialität bei und fokussieren die Argumentation dabei auf spezifische Logiken und strukturelle Konstellationen, denen sie eine weitreichende Wirkung zusprechen. Sie tun dies jedoch vor dem Hintergrund praxistheoretischer Prämissen, die eine diagnostische Schließung nicht zulassen. Entsprechend präsentieren sie – in unterschiedlichem Maße und mit divergierenden Schwerpunkten – analytische Zugänge, die 1) Hervorbringungs- und Wirkungsvielfalt veränderter praktischer Logiken in den Blick nehmen oder zumindest in Rechnung stellen, die 2) wechselseitige Abhängigkeiten in den Transformationen sozialer Ordnungsgefüge aufzeigen (z.B. Geschlechterordnungen und Klassenordnung), ohne dabei die einen den anderen unterzuordnen und die 3) Interferenzen, aber auch Hybridisierungen zwischen unterschiedlichen, konkurrierenden praktischen Logiken rekonstruieren. Dies macht sie als Heuristiken für die Analyse des Wandels spezifischer praktischer Konstellationen hochgradig anschlussfähig.
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Ökonomisierung
Die ›Ökonomisierung‹, ›Vermarktlichung‹ oder ›Neoliberalisierung‹ moderner Gesellschaftlichkeit ist eine der zentralsten Beschreibungskategorien gegenwärtiger Wandlungsprozesse. Allgemein bezeichnet sie die »Aufwertung ökonomischer Handlungsprinzipien« insbesondere in nicht-ökonomischen gesellschaftlichen Bereichen bzw. »einen Vorgang, durch den Strukturen, Prozesse, Orientierungen und Effekte, die man gemeinhin mit einer modernen kapitalistischen Wirtschaft verbindet, gesellschaftlich wirkmächtiger werden« (Schimank & Volkmann 2008: 382). In den letzten Jahren ist entsprechend eine beachtliche Anzahl an Analysen entstanden, welche die Ökonomisierung unterschiedlichster gesellschaftlicher Teilbereiche in den Blick nehmen, zum Bei-
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spiel der Sozialen Arbeit (Elsen et al. 2000), der Medien (Siegert 2001), des Gesundheitswesens (Bauer 2006), der Wissenschaft (Münch 2011) oder der Bildung (Höhne 2012). Dabei ist das Feld der Wirtschaft ebenfalls von dieser Transformation betroffen, so dass auch von einer ›Ökonomisierung der Ökonomie‹ gesprochen werden kann (Schimank & Volkmann 2008). Ökonomisierung bedeutet also nicht einfach die Ausweitung einer als konstant unterstellten Logik des Wirtschaftsfeldes auf andere Gesellschaftsbereiche, vielmehr wird eine spezifische Form ökonomischen Denkens, Wahrnehmens und Handelns angenommen, welches sich auch im Bereich der Wirtschaft immer radikaler durchsetzt. Dies führt zu einer »Verdinglichung von Ökonomisierung in allen Lebensbereichen und bei nahezu allen dort anstehenden Entscheidungen«, die auch das wirtschaftliche Handeln erfasst und sich hier in Form einer »immer weiter getriebene[n] Steigerung von Gewinnerwartungen« ausdrückt (Schimank 2008: 221). Der soziologische Ökonomisierungsdiskurs formiert sich also um eine Doppeldiagnose der Intensivierung und der Expansion, d.h. um die Ausweitung und Radikalisierung einer auf Marktlichkeit, Produktivitätssteigerung und Gewinnmaximierung orientierten ökonomischen Logik, die sich im Zentrum moderner Gesellschaftlichkeit generiert und weit in die Alltagspraxis der Menschen ausstrahlt. Und sie kreist um die Vermarktlichung von Ordnungslogiken in Feldern, die vormals nicht oder nicht primär nach ökonomischen Logiken strukturiert waren.
›Das Elend der Welt‹ und ›Neoliberalismus als hegemoniales Projekt‹ Diese Doppeldiagnose findet sich auch in Bourdieus interventionistischen Texten in Form des Szenarios einer ›neoliberalen Invasion‹1 , der er als politischer Akteur entgegentritt (Bourdieu 2004d). Sie bilden die eine Seite seiner als Zeitdiagnosen rezipierten Arbeiten ab, während auf der anderen Seite die Sozialstudie ›Das Elend der Welt‹ (Bourdieu 1997b) als im engeren Sinne sozialwissenschaftliche Gegenwartsanalyse benannt wird (Mackert 2006; Schimank 2007a; Stoll 2009). Beiden Zugängen ist gemein, dass sie die sozialen Wandelprozesse ihrer Gegenwart als Ökonomisierungsdynamik kritisch in den Blick nehmen und als Ausdehnung neoliberaler Logiken und Ordnungsprinzipien rekonstruieren, unter der große Teile der betroffenen Gesellschaften massiv leiden. Weder ›Das Elend der Welt‹ noch die politisch intervenierenden Schriften enthalten eine systematische Analyse der ›neoliberalen Logik‹ oder der Formen ihrer praktischen Durchsetzung bzw. der Bedingungen, die ihr jene weitreichende Wirkmacht ermöglichen, die Bourdieu problematisiert. Auch bleibt unklar, »ob die ›neoliberale Invasion‹ […] nun eine bloße Semantik bezeichnet, die jederzeit wieder umkehrbar ist, auf ›realen‹ Entwicklungen im Produktionsbereich basiert oder aber nach nunmehr zwei Jahrzehnten Konsequenzen zeitigt, die sehr wohl zu strukturellen Veränderungen für die sozialen Akteure geführt haben« (Bittlingmayer 2002), das heißt, es wird nicht ganz
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Wie Olaf Groh (2002: 197) zusammenfasst, ist ›Neoliberalismus‹ ein umkämpfter Begriff, der ursprünglich als »Selbstbezeichnung einer kleinen Gruppe ›häretischer‹ Intellektueller, die sich in der ›Blütezeit‹ staatsinterventionistischer Gesellschaftsmodelle zur Verteidigung des Liberalismus zusammengefunden hatten,« diente, heute jedoch vor allem von Kritiker*innen wirtschaftsliberaler Positionen genutzt wird (vgl. Butterwegge et al. 2008).
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deutlich, in welchen Verhältnissen Semantiken, Materialitäten und objektivierte Strukturen bei der praktischen Produktion neoliberaler Wirklichkeit zusammenwirken. Offenbar wird – gemäß einer praxistheoretischen Perspektive nur konsequent – »mit neoliberal sowohl eine marktorientierte Denkweise bezeichnet, die das Handeln der Akteure unmittelbar beeinflusst, als auch Veränderungen ökonomischer Feldstrukturen« (Stoll 2009: 324), bzw. Veränderungen der Strukturen anderer (nichtökonomischer) Felder, die ebenfalls immer stärker nach marktliberalen Logiken reguliert sind. Auch wenn die politischen Wortmeldungen Bourdieus nur vage an sein praxistheoretisches Begriffsinstrumentarium anschließen2 und andererseits seine zahlreichen Sozialstudien (abgesehen von ›Das Elend der Welt‹) keine Analyse sozialer Wandlungsprozesse in Sinne einer Neoliberalisierung enthalten, lassen sich durch die Zusammenschau verschiedener Werkskomponenten soziologische Einsichten zur Ausdehnung des Neoliberalismus gewinnen; sowohl Stephan Egger und Andreas Pfeuffer (2002) als auch Olaf Groh (2002) explizieren und erweitern auf diese Weise Bourdieus Diagnose3 . Egger und Pfeuffer beziehen sich insbesondere auf Bourdieus Studien zum politischen und wissenschaftlichen Feld und rekonstruieren auf diese Weise die Produktion einer ›Ideologie der ökonomischen Realität‹: Aus der historischen Genese des politischen Feldes, welches sich im Laufe der Zeit immer stärker verberuflicht und die Bürger*innen in die Position (aus-)wählender ›Konsument*innen‹ versetzt hat, sowie aus der historisch-dynamischen Relationierung von Politik, (Sozial-)Wissenschaft und Ökonomie leiten die Autoren die Bedingungen der Durchsetzung einer neoliberalen Wirklichkeitsdeutung als ›legitimer Sicht der sozialen Welt‹ ab. Dabei wird deutlich, »dass wir es mit Verwerfungen zu tun haben, die alles andere als ›genuin‹ ökonomisch sind: die neuen ›Realitäten‹ der Ökonomie, […] tragen selbst schon die Male jener veränderten Machtverhältnisse zwischen Ökonomie und Politik, unter denen sie, im Rahmen des ›neuen‹ politischen Feldes und seiner immer dichteren Beziehung zum Feld der Ideologieproduktion, ihre Wirksamkeit zu entfalten beginnen – schon vor zwei Jahrzehnten beginnt eine mit der ökonomischen Munition zwar bewaffnete, aber doch politisch vorangetriebene Selbstenteignung des Sozialstaats. Die ›Realitäten‹ der Ökonomie, jene von einem ›wissenschaftlich‹ sich gebärdenden Diskurs als ›objektiven‹ dargestellten ökonomischen ›Zwänge‹, die keine sind, folgen nun den Realitäten einer
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Für den deutschsprachigen Raum sind die politisch-interventionistischen Einlassungen Bourdieus in der Schriftensammlung ›Gegenfeuer – Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion‹ zusammengefasst (Bourdieu 2004d). Ein Problem ist, dass die explizit normativ-politische Position, von der aus Bourdieu nun argumentiert, mit einem Vokabular einhergeht, das zum Teil an eine eher modernisierungstheoretische Analyseposition erinnert (Regression; differenzierungstheoretische Anklänge bei der Verortung der Felder zueinander: ›embeddedness‹ der Ökonomie, ›Intrusion‹ etc.). Dies verkompliziert eine praxistheoretische Lesart, macht sie aber nicht unmöglich (vgl. Groh 2002; Egger & Pfeuffer 2002). Dort, wo Bourdieu in direkter Nähe zu den kapitalismuskritischen Analysen Karl Marx’ argumentiert, finden sich auch Überschneidungen mit der feministischen Kapitalismuskritik. Diese greift ebenfalls einige Thesen Bourdieus auf und erweitert sie (vgl.: Aulenbacher et al. 2015b; Meißen 2015).
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Ideologie, die sich immer nachhaltiger Realität verschafft.« (Egger & Pfeuffer 2002: 192; H.i.O.) Groh (2002) knüpft ebenfalls an den politischen Studien Bourdieus an (insbesondere an ›Der Staatsadel‹; Bourdieu 2004c), greift aber auch auf die großangelegte Gesellschaftsanalyse ›Die feinen Unterschiede‹ (Bourdieu 1987) zurück. Sein Hauptinteresse liegt in einer Ausarbeitung der Bedingungen der neoliberalen Technokratie und neoliberalen Soziodizee. Beide Aspekte werden in den politischen Schriften von Bourdieu skizziert, die Möglichkeiten ihrer Herausbildung bleiben jedoch unbeleuchtet. Als Mittlerin zwischen neoliberaler Technokratie und Soziodizee benennt Bourdieu die Ideologie der Kompetenz: »Tatsächlich stützt sich die Macht der neoliberalen Ideologie auf eine Art neuen Sozialdarwinismus: es sind die ›Besten und Außergewöhnlichsten‹ […] die das Rennen machen [… Dahinter steht, J.E.] eine Philosophie der Kompetenz, nach der die Fähigsten den Staat lenken, die Fähigsten eine Arbeit haben, was bedeutet, daß Menschen ohne Arbeit unfähig sind. Es gibt winners und losers, […] auf der einen Seite Bürger im vollen Wortsinn, die gefragte Kenntnisse besitzen […] und auf der anderen Seite jene Masse von Menschen, die dauernd von Entlassung bedroht sind oder der Arbeitslosigkeit überantwortet werden. Max Weber hat gesagt, daß es die Herrschenden immer nach einer ›Theodizee ihrer Privilegien‹ verlange, oder besser, nach einer Soziodizee, nach einer gedanklichen Rechtfertigung ihrer Sonderrechte. Kompetenz bildet heute das Herzstück dieser Soziodizee, die nicht nur, und ganz naheliegend von den Herrschenden anerkannt wird, sondern auch von allen anderen.« (Bourdieu 2004a: 62f.; H.i.O.). Groh folgt nun der Annahme, dass »[v]on der zentralen Diagnose einer Umstellung des Reproduktionsmodus der herrschenden Klasse in Bourdieus soziologischen Arbeiten […] eine Erklärungslinie über die Ausbildung neuer Legitimationsvorstellungen und den neuen Staatsadel zur neoliberalen Technokratie [verläuft]«, die allerdings noch eine Reihe Fragen offen lässt (Groh 2002: 209). Um zur Aufarbeitung dieser Desiderata beizutragen, rekonstruiert Groh nun Neoliberalismus als hegemoniales Projekt, das sich in Deutungskämpfen im Gefolge der Krise des fordistischen Modells herausbilden und durchsetzen konnte, »sich auf unterschiedliche ideologische Einstellungen und Lebensstilelemente bei unterschiedlichen sozialen Milieus stützt und sich insofern als Effekt von Kräfteverhältnissen reproduziert« (Groh 2002: 211). Eine wesentliche Bedingung ist dabei der Habitus der neuen Bourgeoisie (Bourdieu 1987), deren Angehörige sich einerseits gegen die Intellektualität des Bildungsbürgertums durch Betonung der Funktionalität von Wissen abgrenzen und andererseits gegen den expressiven und statusbezogenen Materialismus der Geldelite opponieren, indem sie die Bedeutung eines spezifischen kulturellen Kapitals aufwerten, welches sie durch ihren Lebensstil generieren (Reisen, internationale Kontakte, Sportlichkeit, Verbindung von arbeitsbezogenen und privaten Interessen etc.). Eine weitere Bedingung ist die Verbindung neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien mit neokonservativen Ressentiments gegen die moralzersetzende und aufwändige Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaats. In der historisch günstigen Krisensituation des fordistischen Gesell-
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schaftsmodells, so Groh, stellen nun diese beiden Aspekte zentrale Voraussetzungen für den Erfolg einer neoliberalen Technokratie dar, da sie im Stande sind, neue Legitimationsmuster zu naturalisieren und mit neuen Lebensstilen und Distinktionsstrategien zu verbinden. Während sowohl Egger und Pfeuffer als auch Groh feld- bzw. raumtheoretische Arbeiten nutzen, um die von Bourdieu umrissene Neoliberalisierung der Gesellschaft weiter auszuführen, wird mit der Studie ›Das Elend der Welt‹ (Bourdieu 1997b) eine andere Perspektive auf die Veränderungen entworfen, nämlich aus der Sicht jener Akteure, die unter den sozialen Verhältnissen in vielfältiger und recht unterschiedlicher Weise leiden. Die Studie kann entsprechend als eine »Bilanz der neoliberalen Demontage des Wohlfahrtsstaats« gelesen werden (Schimank 2007a: 184). Allerdings wird der große Entwurf einer Sozialstrukturanalyse des gesellschaftlichen Umbaus unter neoliberalen Vorzeichen zugunsten eines praxistheoretischen Perspektivismus4 unterlassen. Dabei lenkt Bourdieu, der in seiner Sozialtheorie gesellschaftliche Position und Positionierung, Klassifikation und Klassifizierung, Struktur und Strukturierung immer als verschränkte Aspekte sozialer Produktion begreift, den Blick auf die praktischen Effekte des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Klassifizierungs- bzw. Strukturierungsschemata, aber auch auf die perspektivenspezifischen Auseinandersetzungen mit den sich wandelnden objektivierten Strukturen. Fluchtpunkt der Analyse ist also »eine ›Pluralität der Perspektiven‹, die sich zwar aufeinander beziehen, die aber nicht in ›distributive Verhältnisse‹ übertragbar und damit auf eine überschaubare Anzahl von Konstruktionsprinzipien reduzierbar sind. Der Grund dafür ist, daß jede Perspektive jeweils eine Sicht des sozialen Raums repräsentiert – also eine Vorstellung der Anordnung des sozialen Raums vermittelt und gleichzeitig bewertet. In der Sichtweise wird aber keineswegs das soziale Geschehen direkt gespiegelt, sondern durch eingeschliffene Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster […] reflektiert.« (Barlösius 1999: 6f.) ›Das Elend der Welt‹ stellt also ebenfalls keine systematische Analyse der neoliberalen Logik, ihrer Entstehung und Ausweitung oder ihrer Durchsetzungsprinzipien dar, die Studie zeigt vielmehr unterschiedliche praktische Effekte neoliberal organisierter Sozialität auf5 . Obwohl die ›kaleidoskophafte‹ Darstellung dabei konsequent den metho4
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»Dieser Perspektivismus hat nichts von einem subjektivistischen Relativismus an sich […]. Denn er gründet in der Realität der sozialen Welt selbst« (Bourdieu 1997b: 18), das heißt, die Perspektive eines Akteurs entsteht nicht zufällig, sondern ist bedingt durch die sozialen Verhältnisse seiner (relativen) Position im sozialen Raum. Allerdings lässt sich von dieser Position schon allein deshalb nicht exakt auf die Perspektive schließen, da sowohl die objektiven bzw. objektivierten Bedingungen als auch die Positionierung des Akteurs Wandel unterliegen und sich diese Veränderungen als Erfahrungen in der Perspektive einlagern. Die veränderten Lebensverhältnisse werden kursorisch adressiert, insofern sie von Bedeutung für die jeweils vorgestellte Perspektive sind. Franz Schultheis (1997: 829) fasst sie im Nachwort zusammen: Nur »[i]n der Zusammenschau ergeben die auf diesem Wege gewonnenen Lebens- und Gesellschaftsbilder ›von unten‹ eine schonungslose Radiographie der französischen […] Gegenwartsgesellschaft, geprägt von zunehmendem Konkurrenzdruck in allen Lebensbereichen, struktureller Massenarbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung bzw. Ausgrenzung immer breiterer Bevölkerungsgruppen, Verschärfung des Konfliktpotenzials insbesondere im Verhältnis
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dologischen und sozialtheoretischen Prämissen der Studie folgt (Schultheis 1997), d.h. die Rekonstruktion des Perspektivenpluralismus nicht durch vom Beobachtungsstandpunkt aus vorgenommene Abstraktion unzulässig verkürzt werden soll, zeigen sich in der Breite des Materials meines Erachtens vor allem drei Formen struktureller Konflikte, die z.T. miteinander interferieren, vor allem aber dadurch verbunden sind, dass sie alle durch den Wandel sozialer, politischer und symbolischer Ordnungen hervorgerufen oder zumindest verschärft wurden: Zunächst sind jene 1) ›Perspektivenkonflikte‹ zu nennen, »die aus dem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Interessen, Dispositionen und Lebensstile erwachsen« (Bourdieu 1997b: 18). Sie entstehen an heterogenen Orten, d.h. in (manchen) Schulen, Behörden, Arbeitsumgebungen und Nachbarschaften etc. und äußern sich in Ressentiments, wechselseitiger Verachtung, Streitigkeiten und Übergriffen, aber auch in Verärgerung, Rückzug und Bedrückung, kurz: im Leiden an den Zuständen. Sie sind nicht zuletzt »Formen der Auseinandersetzung über die ›legitime Sicht‹ der sozialen Welt« (Barlösius 1999: 17). Perspektivenkonflikte werden gesteigert durch den ›Rückzug des Sozialstaats‹, durch eine Verschärfung der (auch gefühlten) Selbstverantwortlichkeit und Konkurrenz, sowie durch eine verstärkte Ausgrenzung jener, die den gesellschaftlichen Anschluss verloren haben bzw. durch Abstiegsängste jener, die in prekären Verhältnissen leben. Die Perspektivenkonflikte sind insofern auch als Aspekte der praktischen Produktion sozialen Wandels (hin zu einer neoliberal organisierten Gesellschaft) zu deuten, denn »[d]er unmittelbar verspürte Effekt der sozialen Interaktionen innerhalb jener sozialen Mikrokosmen wie Büro, Werkstatt, Kleinunternehmen, Nachbarschaft und Großfamilie determiniert oder verändert zumindest die Erfahrung der im sozialen Makrokosmos eingenommenen Positionen.« (Bourdieu 1997b: 18) Des Weiteren zeigt die Studie verschiedene Varianten von 2) ›Laufbahnkonflikten‹ auf, d.h. von internalisierten Konflikten, die durch das Ausbleiben oder Wegbrechen der (von den Eltern oder den Akteuren selbst) antizipierten Laufbahn bzw. Lebenssituation herrühren. Dies betrifft einerseits soziale Gruppen wie beispielsweise Facharbeiter*innen, die, gestützt vom common sense über ihre berufliche Position und den damit einhergehenden Lebensumständen, eine Vorstellung ihrer legitimen Lebensform internalisiert haben, die nun unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen (Entlassungen, Leiharbeit, versschärfte Konkurrenz der Arbeiter*innen untereinander, welche zusehends die Idee eines Klassenkollektivs erodiert) in Frage gestellt wird (Bourdieu 1997b). Laufbahnkonflikte treten andererseits aber vor allem auch in intergenerationalen Zusammenhängen auf, welche dazu neigen, die gesellschaftliche Position einer Familie generationsübergreifend zu perpetuieren – sowohl die tatsächliche Position im sozialen Gefüge als auch etwaige Aufstiegsaspirationen (also in gewisser Weise ›dynamisierte‹ Positionen). Dies geschieht vor allem auf Basis der im familialen Alltag ange-
zwischen ›Einheimischen‹ und ›Zugewanderten‹ wie auch zwischen verschiedenen Klientelen des Wohlfahrtsstaates, von Kindern und Jugendlichen, die in der Trost- und Aussichtslosigkeit unwirtlicher Vorstädte aufwachsen; weiterhin gekennzeichnet durch eine wachsende Gefährdung des Lebensstandards der sogenannten ›Mittelschichten‹ und ganz allgemein durch den sich in vielfältiger Form präsentierenden schleichenden Rückzug des Staats aus seiner Verantwortung für das Gemeinwohl […].«
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eigneten habituellen Dispositionen einschließlich der internalisierten Perspektive auf und der zugehörigen Erwartungen an die soziale Welt. Die Möglichkeit der familialen Vererbung gesellschaftlicher Positionen ist jedoch durch den Wandel der objektiven Gesellschaftsstrukturen verkompliziert: Um die relationale Position zu halten sind andere Voraussetzungen zu erfüllen als dies noch in der elterlichen Generation der Fall war. Insbesondere die Schule stellt eine besondere Herausforderung dar, da sie im Sinne des meritokratischen Prinzips die Auswahl und Zuweisung von sozialen Positionen als fair – weil begabungsbezogen – objektiviert und dabei die sozial ungleich verteilten Erfolgschancen verschleiert. Zudem bilden sich zunehmend subtile Differenzierungs- und Selektionsprinzipien aus, die dazu beitragen, Schulabschlüsse, die vormals als solide Basis für ein erfolgreiches Berufsleben galten, zu entwerten. »Dies erklärt ohne Zweifel, warum die Schule so häufig am Ursprung des Leids der befragten Personen steht. Sie sind hinsichtlich ihrer eigenen Pläne oder derer, die sie für ihre Nachkommen gemacht haben, enttäuscht. Und sie sind davon enttäuscht, daß der Arbeitsmarkt die Versprechungen und Garantien des Staates Lügen straft.« (Bourdieu 1997b: 651)6 . Die derart erzeugten Wiedersprüche und Paradoxien der Laufbahnen bringen nicht selten einen ›gespaltenen Habitus‹ hervor, »der sich in ständiger Negation seiner selbst und seiner eigenen Ambivalenzen befindet und somit einer Art Verdopplung, einer zweifachen Selbstwahrnehmung und wechselnden Wahrheit sowie einer Vielfalt von Identitäten ausgeliefert ist« (Bourdieu 1997b: 656). Schließlich verweist die Studie auf die Entstehung und Verschärfung von 3) ›Doublebind-Konflikten‹ unter gegenwärtigen sozialen Bedingungen: Deutungshintergrund bilden dabei veränderte sozialpolitische Strategien, bzw. die »kollektive Konversion zur neo-liberalen Sichtweise« (Bourdieu 1997b: 208), die von Bourdieu und seinen Mitarbeiter*innen als ›Abdankung des Staates‹ hinsichtlich seiner wohlfahrtspolitischen Verantwortung rekonstruiert wird. »Im Gegensatz zum üblichen soziologischen Weg, die ›Abwesenheit des Staates‹ […] zu untersuchen, nämlich Kürzungsmaßnahmen, die Verringerung staatlich garantierter Standards, den Abbau öffentlicher Maßnahmen« zu fokussieren, zentriert Bourdieu die Perspektiven jener Akteure, »die im staatlichen Auftrag arbeiten, die also mit den Folgen des staatlichen Rückzugs in ihrer Tätigkeit zurechtkommen müssen. So wird die Verkopplung von ›beruflichen Enttäuschungen‹ und der ›sozialen Malaise‹ deutlich.« (Barlösius 1999: 23) An Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, Lehrer*innen, Sozialrichter*innen etc. wird damit eine Verantwortung weitergereicht, der sie aufgrund unzureichender Ressourcen und Befugnisse nicht entsprechen können: Sie sind beauftragt, die »Auswirkungen und Unzulänglichkeiten der Marktlogik zu kompensieren, ohne allerdings über die nötigen Mittel zu verfügen« (Bourdieu 1997b: 210). 6
Neben solchen Laufbahnkonflikten, die im Transmissionsgeschehen insbesondere bei der nachkommenden Generation entstehen, gibt die Studie auch Beispiele für Wirkungen in ›umgekehrter Richtung‹, insbesondere dargelegt am Fall einer Bauernfamilie, in der der Sohn sich gegen den Beruf des Landwirts entscheidet »und so rückblickend die gesamte väterliche Unternehmung, welche das zurückgewiesene Erbe verkörpert, für nichtig erklärt« (Bourdieu 1997b: 654). Auch dieser Fall wird nicht als rein individuelles Schicksal rekonstruiert, sondern in den Kontext einer zunehmenden Industrialisierung der Landwirtschaft und der damit einhergehenden Unmöglichkeit, Kleinhöfe auskömmlich zu bewirtschaften, gestellt.
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Resultat ist ein problematischer ›double bind‹, d.h. eine von zwei widersprüchlichen Logiken durchwirkte Arbeitspraxis: Auf der einen Seite steht das marktliberale Framing der öffentlichen Aufgabe, die nun entlang produktivitätsbezogener Prämissen geordnet und mit wettbewerbsorientierten Semantiken durchzogen ist; Auf der anderen Seite steht das professionelle Ethos, mit dem eine gewisse ökonomische »Interessenlosigkeit« und »Opferbereitschaft für dieses […] als gesellschaftlich nützlich erachtete Amt« einhergeht (Bourdieu 1997b: 210). Zusätzlich verschärft wird der Double-bind-Konflikt, wenn den Akteuren bewusst ist, dass ihr staatlich beauftragtes Handeln die Probleme und Leiden, gegen die sie eigentlich angehen möchten, zusätzlich verstärkt, beispielsweise durch das Aushändigen ›wertloser Zeugnisse‹ oder das Erzwingen wirkungsloser Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. »Diese staatlichen Akteure sind von den Widersprüchlichkeiten des Staates […] durchdrungen: Widersprüche zwischen den ihnen anvertrauten, häufig maßlosen Aufgaben […] und den fast lächerlichen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen; ohne Zweifel äußerst dramatische Widersprüche, die zum Teil gerade durch ihr Handeln produziert werden, wie etwa die, die aus den von der Institution Schule ausgelösten Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten resultieren.« (Bourdieu 1997b: 211)7 Auch wenn Bourdieus Diagnosen der Ökonomisierung sozialer Verhältnisse im Sinne einer ›kollektiven Konversion zur neo-liberalen Sichtweise‹ keine systematischen Darlegungen der neoliberalen Logiken beinhalten, so zeigen doch die Ausführungen von Groh (2002) sowie von Egger und Pfeuffer (2002), wie sich die politisch-interventionistischen Überlegungen auf Basis des praxistheoretischen Œuvres erweitern und vertiefen lassen. Sowohl die von Groh in eine neue Lesart versetzten Distinktionsstrategien der ›neuen Bourgeoisie‹, die als Bedingung der Durchsetzung neoliberaler Logiken rekonstruiert werden können, als auch die Überlegungen zur ›neoliberalen Technokratie‹, die sich auf eine ›Ideologie der Kompetenz‹ stützt und eine ökonomisch verkürzte Rekonstruktion der Welt naturalisiert, schaffen potenzielle Deutungsangebote für gegenwärtiges Wandelgeschehen. Insbesondere aber die verschiedenen Konfliktlinien, die in ›Das Elend der Welt‹ als Effekte der Ökonomisierung herausgearbeitet wurden, bereichern den Deutungshorizont, denn diese beziehen sich bereits auf die pluralen Perspektiven unterschiedlicher Akteurspositionen, d.h. auf die Diversität der Hervorbringung und Wirkung praktischen Wandels.
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Im seinen politisch-interventionistischen Schriften verweist Bourdieu (2004b: 123) auf eine andere Form von Handlungsparadoxien, die sich zunehmend in der Privatwirtschaft durchsetzt: Dabei handelt es sich um »Strategien der ›Delegation von Verantwortung‹, die die Selbstausbeutung der Angestellten gewährleisten sollen, Beschäftigte, die zwar wie einfache Lohnempfänger in einem streng hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gleichzeitig aber für ihre Verkaufszahlen, ihre Außenstelle, ihr Geschäft verantwortlich gemacht werden wie ›Selbständige‹.« Solche und ähnliche Konstellationen sind von Günter Voß und Hans Pongratz (1998) unter den Begriff des ›Arbeitskraftunternehmers‹ systematisch untersucht worden. Auch wenn hier nicht zwangsläufig divergierende praktische Logiken aufeinanderprallen, so entstehen doch praktische Antinomien zwischen den auferlegten Pflichten und den zur Verfügung stehenden Mitteln bzw. Befugnissen.
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Neoliberale Gouvernementalität und unternehmerische Subjekte »Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität, die im 18. Jahrhundert entdeckt wurde« (Foucault 2006b: 164) – so lautet die Kurzform der Foucault’schen Analyse unserer Gegenwart. Ähnlich wie später Wagner und Bauman ist Foucault also an der Rekonstruktion von Grundprinzipien moderner Sozialität interessiert und nutzt (bzw. entwickelt) hierzu ein Analyseinstrumentarium, in dessen Zentrum der Begriff der Gouvernementalität steht: ein Neologismus, der unter anderem die konzeptionelle Verschränkung von ›Regierung‹ (gouvernement) und ›Denkweise‹ (mentalité) anzuzeigen vermag (Lemke et al. 2000)8 . Die modernen Grundprinzipien – im Kern das Problem der Regierung – haben bis heute nicht an Wirkmacht verloren, sie haben jedoch mit der Zeit unterschiedliche praktische Formen angenommen, die sich wechselseitig nicht suspendieren, sich jedoch zu verschiedenen Zeiten als jeweils hegemonial generieren. Foucault schlägt ›Gouvernementalität‹ also als einen »Konzeptbegriff zur Typisierung von Regierungsformen vor« (Gehring 2008). Die Herausbildung der Regierungspraxis im Allgemeinen und ihrer spezifischen Formen im Besonderen führt Foucault auf eine komplexe Verschränkung verschiedener ›Bewegungen‹ zurück, die zwar – nicht zuletzt, weil sie immer auch ihre Oppositionen mit hervorbringen – alles andere als linear und stringent sind, jedoch als ein logisches Ensemble rekonstruiert werden können: »Was ich auf jeden Fall zeigen wollte, war eine tiefe geschichtliche Verbindung zwischen der Bewegung, welche die Konstanten der Souveränität hinter dem nun vorrangigen Problem der Regierungsoptionen ins Wanken bringt, dann der Bewegung, welche die Bevölkerung als eine Gegebenheit, als ein Interventionsfeld und als das Ziel der Regierungstechniken hervorbringt, und drittens der Bewegung, welche die Ökonomie als spezifischen Realitätsbereich und die politische Ökonomie zugleich als Wissenschaft und als Interventionstechnik der Regierung in dieses Realitätsfeld isoliert. Was diese drei Bewegungen betrifft, ich meine Regierung, Bevölkerung und politische Ökonomie, wird man sich gut merken müssen, dass sie seit dem 18. Jahrhundert eine feste Reihe bilden, die auch heute noch nicht zerfallen ist« (Foucault 2000: 64). Hier zeigt sich bereits, dass aus dieser Perspektive das Problem der Ökonomisierung bzw., im engeren Sinne, der Neoliberalisierung nicht als Intrusion einer ökonomischen Logik in eine hiervon getrennt existierende politische Logik verstanden werden kann, denn das moderne Politische ist von vornherein ökonomisch und das moderne Ökonomische politisch: »[D]ie Kunst des Regierens ist gerade die Kunst, die Macht in Form und nach dem Vorbild der Ökonomie auszuüben«, insofern ist die Rede von einer »ökonomischen Regierung […] im Grunde eine Tautologie« (Foucault 2000: 49). Mit Rousseau weist Foucault darauf hin, dass Ökonomie »ursprünglich die ›weise Regierung des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der ganzen Familie‹« bezeichnet und im Kontext der Moderne als Problem des Staates reformuliert wird: »Um einen Staat zu regieren, wird man die Ökonomie einsetzen müssen, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzes, d.h. man wird die Einwohner, die Reichtümer und die Lebensführung aller 8
Thomas Lemke (2008) weist darauf hin, dass Foucault die Wortschöpfung von Roland Barthe übernimmt, jedoch aus der semiologischen Kontextualisierung herauslöst.
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und jedes Einzelnen unter eine Form von Überwachung und Kontrolle stellen, die nicht weniger aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre Güter« (Foucault 2000: 49). Vor diesem Hintergrund scheint Foucaults Vermutung, »daß sich hinter der gegenwärtigen ökonomischen Krise […] eine Krise der Regierung abzeichnet« (Foucault 1996: 118) nur konsequent. Mit dem Begriff der Gouvernementalität ist jedoch weit mehr als eine vom Staat angewandte Steuerungstechnik bezeichnet, nämlich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, Analysen, Berechnungen und Taktiken, mit denen Menschen als Bevölkerung verstanden, in einem (weit gefassten) ökonomischen Sinne relationiert und in einem sicherheits- und gleichzeitig autonomiebezogenen Sinne disponiert werden (Foucault 2006a, 2006b). Er zielt auf Wissenskomplexe, Praktiken und Machtstrukturen, die eine moderne Organisation des Zusammenlebens ermöglichen, und zwar ›Regierung‹. Im Zentrum der Rekonstruktion stehen also spezifische Rationalitäten, die Regierungspraxis bedingen, d.h. bestimmte Formen des Wissens und der Problematisierung, welche sich in der Moderne um ›Bevölkerung‹ und ›Subjekt‹, sowie um ›Sicherheit‹ und ›Autonomie‹ arrangieren und in einer ökonomischen Logik geordnet sind, also um die Frage der »richtigen Lenkung der Individuen, Güter und Reichtümer« kreisen (Foucault 2000: 48). Der Regierungsbegriff rekurriert dabei sowohl auf Herrschaftspraktiken und Machttechnologien als auch auf Wissensordnungen und Subjektivierungsformen, adressiert also einerseits Technologien und Praxisformen der Führung und andererseits »ein diskursives Feld der Rationalisierung dieser Führungspraktiken, eine Form der gedanklichen und kommunikativen Strukturierung von Realität, die es erst erlaubt, bestimmte Machttechnologien zur Anwendung zu bringen« (Lessenich 2003). Um Regierungspraxis rekonstruieren zu können, muss also die Verschränkung von objektivierten (diskursivierten) und subjektivierten Strukturen in den Blick genommen werden und um genau diesen Kreuzungspunkt zu verdeutlichen, nutzt Foucault das Konzept der Gouvernementalität: »Die Verbindung zwischen den Techniken der Beherrschung anderer und den Techniken des Selbst nenne ich Gouvernementalität« (Foucault 2001, zitiert nach Große Kracht 2006: 276)9 . Zwar hat Foucault in seiner Vorlesungsreihe zur ›Geschichte der Gouvernementalität‹ verschiedene, jeweils eigene Machttechniken produzierende Regierungsformen herausgearbeitet (Foucault 2006a, 2006b), hinsichtlich der Frage nach der »gegenwartsdiagnostischen Reichweite des Konzepts der Gouvernementalität« sind jedoch insbesondere die Ausführungen zur liberalen bzw. neoliberalen Regierungsform von Interesse (Lemke et al. 2000: 9). Entsprechend seiner theoretischen Ausrichtung wendet er die Kategorie ›Liberalismus‹ bzw. ›Neoliberalismus‹ dabei praxistheoretisch: »In Anlehnung an einige bereits getroffene methodische Entscheidungen habe ich versucht, den ›Liberalismus‹ nicht als Theorie noch als eine Ideologie, und erst recht nicht als eine Weise zu begreifen, in der die ›Gesellschaft‹ ›sich repräsentiert…‹: sondern als
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Große Kracht verfertigt hier eine eigene Übersetzung einer Passage aus Dits et écrits (»J’appelle ›gouvernementalité‹ la rencontre entre les techniques de domination exercées sur les autres et les techniques de soi«), da in der deutschen Ausgabe der Begriff ›gouvernementalité‹ mit ›Kontrollmentalität‹ übersetzt wurde (vgl. Große Kracht 2006: 276).
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eine Praxis, das heißt als eine auf Ziele hin orientierte und sich durch kontinuierliche Reflexion regulierende ›Weise des Tuns‹. Der Liberalismus ist also als Prinzip und Methode der Rationalisierung der Regierungsausübung zu analysieren – eine Rationalisierung, die, und hierin liegt ihre Besonderheit, der internen Regel maximaler Ökonomie gehorcht.« (Foucault 2006a, S. 435-436) Anders als die wesentliche Regierungsform des 18. Jahrhunderts, welche sich um die Institution und zugleich Technik der ›Polizei‹ formiert und die Herausbildung umfangreicher Sichtbarkeits- und Kontrolltechniken zur staatlichen Verwaltung der Bevölkerung bedingt (Foucault 2006b), zentriert der Liberalismus das politische Programm einer sich selbst zurück nehmenden staatlichen Regierung, etabliert also eine Regierungsform, die selbstkritisch gewendet, d.h. beständig mit der Frage befasst ist, wie viel Regierung nötig ist, um der Freiheit als höchster Gewährleisterin allgemeinen Wohls zur größtmöglichen Entfaltung zu verhelfen. Zwar spielen der Markt als Realität und die politische Ökonomie als Theorie im Rahmen liberaler Regierung eine wesentliche Rolle, sie können jedoch weder als deren Konsequenz noch als deren Vehikel verstanden werden. Vielmehr stellt der Markt in der liberalen Logik eine Art Test dar, einen privilegierten Ort der Erfahrung, an dem die Adäquanz der Regierungspraxis überprüft und die Auswirkungen umfangreicher Intervention gemessen werden können (Foucault 2006a). Foucault intendiert mit seiner ›Geschichte der Gouvernementalität‹ keine erschöpfende ›Interpretation‹ des Liberalismus, vielmehr geht es ihm »um den möglichen Plan einer Analyse – der der ›gouvernementalen Vernunft‹, d.h. der Rationalitätstypen, die in den Verfahren ins Werk gesetzt sind, durch die man über staatliche Verwaltung das Verhalten der Menschen dirigiert« (Foucault 2006a: 441). Dies arbeitet er exemplarisch an zwei Formen heraus: dem ›deutschen Liberalismus der Jahre 1948-1962‹ (Ordoliberalismus) und dem ›amerikanischen Liberalismus der Chicago-Schule‹ (Neoliberalismus). Während im Ordoliberalismus die Grundidee einer natürlichen Regulierung durch Marktmechanismen mitschwingt und das Regierungsproblem sich folglich auf die Schaffung eines politisch-rechtlichen Rahmens bezieht, der die freie Entfaltung des Marktes gewehrleistet, zugleich jedoch auch soziale Verzerrungen durch Marktliberalismus zu unterbinden sucht und so den Staat als Sicherheit produzierende und organisierende Instanz etabliert, variiert der Neoliberalismus die liberale Auffassung marktlicher Freiheit: Hier wird das Marktprinzip selbst als Sicherheitsgarant hervorgebracht und auf ›nicht-ökonomische‹ Bereiche wie Familie, Kriminalität und Strafrecht ausgedehnt (Foucault 2006a). Auf der einen Seite (Ordoliberalismus) werden die natürlichen Steuerungskräfte des freien Marktes als fragil aufgefasst und sind daher politisch zu ordnen, auf der anderen Seite (Neoliberalismus) muss der liberale Markt politisch erzeugt und erweitert werden. Dabei zielt die ›neoliberale Strategie‹ »auf die Konstruktion verantwortlicher Subjekte, deren moralische Qualität sich darüber bestimmt, dass sie die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational kalkulieren« (Lemke 2000: 38). Auf diese Weise eröffnet Foucault eine Perspektive auf die Verschränkung von politischer, ökonomischer, aber auch lebensweltbezogener Praxis, die sich von jenen Gegenwartsanalysen und Neoliberalismuskritiken unterscheidet, die eine Intrusion der
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ökonomischen Sphäre in die private Lebensführung diagnostizieren und einen ›Rückzug des Staates‹ beklagen: »Da die politische Führung nur eine Form der Regierung unter anderen darstellt, wird damit erstens die liberale Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten und die Unterscheidung zwischen der Domäne des Staates und dem Bereich der Gesellschaft prekär. Diese Differenzierungen werden innerhalb der Regierungsproblematik nicht mehr als Grundlage und Grenze, sondern als Instrument und Effekt von Regierungspraktiken behandelt. Zweitens verliert auch die liberale Polarität zwischen Subjektivität und Macht an Plausibilität. Regierung bezeichnet innerhalb des Gouvernementalitätsansatzes ein Kontinuum von Selbst- und Fremdführungen, das von der politischen Regierung hin zu Formen von Selbstregierung, den ›Selbsttechnologien‹ (Foucault 1988) reicht.« (Lemke 2000: 37) Trotz der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Herausbildung moderner Gouvernementalität kann Foucaults Forschungsarbeit auf diesem Gebiet als fragmentarisch bezeichnet werden (Lemke et al. 2000; Lemke 2000). Allerdings hat sie verschiedene Forschungsdiskurse angestoßen, die sich näher mit Technologien der Produktion liberaler bzw. neoliberaler Praxis auseinandersetzten. Dies gilt sowohl für jene Forschungsansätze, die sich vornehmlich mit der Herausbildung des Sicherheitsdispositivs beschäftigen (Ewald 1991, 1993) oder es zeitdiagnostisch analysieren (Castel 1991; Purtschert et al. 2008), als auch für jene, die die Ökonomisierung des Selbst zum Fluchtpunkt der Analyse machen (Bröckling 2002; Miller & Rose 1990). Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Etablierung der zunächst vor allem im englischsprachigen Raum angesiedelten ›governmentality studies‹ (Burchell et al. 1991), welche die gouvernementalitätsanalytische Perspektive auf eine große Bandbreite spezifischer sozialer Felder und Problemkonstellationen anwenden (Arbeitswelt, Schwangerschaft, Kriminalität, Armut etc.). Zumeist sind die Studien dabei »weniger genealogisch-historisch orientiert, sondern greifen Foucaults Analyse-Instrumente zur Untersuchung der aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozesse und der Formierung einer ›neoliberalen Gouvernementalität‹ auf«, indem sie forschungsstrategisch sein »theoretischmethodologisches Programm mit detaillierten empirischen Analysen […] verbinden.« (Lemke et al. 2000: 18) Die Studien zeigen also verschiedene Wege auf, die Logik neoliberaler Gouvernementalität in ihrer praktischen Produktion und anhand verschiedenster Technologien nachzuvollziehen: So arbeitet Sven Opitz (2008: 204) heraus, wie im Kampf gegen Terror und Kriminalität zusehends »Unterscheidungen wie zivil/militärisch, legal/illegal, innerstaatlich/international, privat/öffentlich und vor allem diejenigen von innerer/äußerer Sicherheit« durchkreuzt werden und verweist auf Techniken und Artefakte, die diese logische Umformierung praktisch ermöglichen – von der ›Aufstachlung der Angst‹ bis hin zu Waffen (Taser, Hitzewellenkanone), die »die Lücke zwischen Warnruf und Schuss« schließen. Lorna Weir (1996; 2006) zeichnet im Rahmen des Sicherheitsdispositivs eine ›Pathologisierung der Schwangerschaft‹ nach, wobei sich in einem Praxiskomplex aus Diagnosetechniken der Humangenetik, bildgebenden Verfahren in der Geburtshilfe, gesundheitspolitischen Neuorientierungen in Bezug auf Schwangere und Föten, (verpflichtender) Selbstsorge in der Schwangerschaft etc. allmählich eine Ratio-
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nalität herausbildet, die Schwangerschaft als ein Risiko verortet. Und Ulrich Bröckling (Bröckling 2002, 2007a) zeichnet wiederum Subjektivierungsform des unternehmerischen Selbst nach, ein durch zahlreiche Techniken wie Evaluation, Projektierung, Empowerment etc. produziertes ›Regierungsprogramm‹, welches auf die Hervorbringung von Individuen zielt, die zur Selbststeuerung, -überwachung und -optimierung fähig sind. Die Reihe jener Forschungsarbeiten, die sich der neoliberalen Gouvernementalität auf je unterschiedliche Weise nähern und so zu einer weiten und durchaus heterogenen Analyse der Gegenwart auf Basis eines gemeinsamen Analyseinstrumentariums beitragen, ließe sich lange fortführen. Der Schwerpunkt der Governmentality Studies liegt auf der Herausarbeitung neoliberaler Logiken in verschiedenen Bereichen gegenwärtiger Sozialität, sowie in der Identifikation unterschiedlicher Technologien, Programme, Subjektivierungsformen und techniken, in deren praktischem Zusammenspiel sich die Logik neoliberalen Regierens zusehends ausweitet. Kritisch ist anzumerken, dass die Rekonstruktion neoliberaler Rationalität selten und wenn, dann oft unzureichend auf sozialstrukturelle Ordnung und gesellschaftliche Herrschaftsbeziehungen rückgebunden wird (Eser 2005). Dies liegt oft nicht in der Intention der Forschungsarbeiten: »Die Frage lautet nicht, wie wirkmächtig das Postulat, unternehmerisch zu handeln, ist, sondern auf welche Weise es seine Wirkung entfaltet. […] Untersucht wird die Strömung, welche die Menschen in eine Richtung zieht, und nicht, wie weit sie sich davon treiben lassen, sie nutzen, um schneller voranzukommen, oder aber versuchen, ihr auszuweichen oder gegen sie anzuschwimmen« (Bröckling 2007a: 11). Bei einigen Forschungsarbeiten wird die neoliberale Rationalität in sehr stilisierter Form und »ohne jede Schattierung« herausgearbeitet, sodass diese Vorgehensweise Gefahr läuft, deren praktische Konstitution zu verkennen, die alles andere als ›rein‹, widerspruchsfrei und widerstandslos ist (Lemke 2000: 41)10 . Dabei entsteht das problematische Bild gegenwärtiger Transformationsprozesse als einer relativ kampflos verlaufenden Verschiebung von Regierungsformen – weg von staatlichen, äußerlichen Interventionen hin zu einer verinnerlichten Selbstregierung –, die getragen wird von einer sich beständig intensivierenden und zugleich ausweitenden ökonomisch-rationalistischen Logik. »Die ›Rationalisierungs- und Effizienzthese‹ ist aber nicht nur falsch, weil damit die Momente an brutalen und zwangsförmigen Techniken aus dem Blick geraten; vielmehr zeichnet sich die politische und historische Realität gerade durch ein ›Mischungsverhältnis‹ von Zwang und Freiheit, autonomer Selbstführung und disziplinärer Unter10
Bröckling sucht diesem Problem mit dem Hinweis zu entgehen, dass es ein ›unternehmerisches Selbst‹ so wenig gebe, wie einen ›reinen Markt‹: »Beide zehren von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen; beiden eignet ein unabweisbarer Expansionsdrang, der ihr Bestehen untergräbt. Das unternehmerische Selbst existiert nur als Realfiktion im Modus des Als-ob – als kontrafaktische Unterstellung mit normativem Anspruch, als Adressierung, als Fluchtpunkt von Selbsttechnologien, als Kraftfeld, als Sog. So kohärent das Rationalitätsmodell, so ausgefeilt die Strategie der Zurichtung und Selbstzurichtung auch sein mögen, sie übersetzen sich niemals bruchlos in Selbstdeutungen und individuelles Verhalten. Gemessen an ihrem Anspruch ist die Projektion unternehmerischer Individuen […] zum Scheitern verurteilt. Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt alles Bemühen ungenügend; weil sie unvollständig und widersprüchlich sind, zeitigen sie nichtintendierte Effekte.« (Bröckling 2007a: 283)
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werfung aus. Dies ist jedoch nicht deshalb der Fall, weil die Ausnahme empirisch die Regel wäre, sondern weil ›rationale‹ und ›irrationale‹ Momente einander systematisch voraussetzen und zwischen ihnen keine äußerliche, sondern eine innere Beziehung besteht.« (Lemke 2000: 41) Die um jede Ambivalenz bereinigte Rekonstruktion einer neoliberalen Rationalität tendiere, so Lemke (2000), daher ihrerseits zu einer ökonomistisch verkürzten, funktionalistischen Lesart von Gouvernementalität, in der politische Programme einheitlich und geschlossen formiert seien, sodass einerseits Kämpfe und Widerstände konzeptionell nur inter-, nicht aber intraprogrammatisch platziert und andererseits Technologien nur als Mittel zu deren Realisierung begriffen werden könnten. Dies verkenne die (praxistheoretischen) Prämissen des Gouvernementalitätskonzepts, nach denen Technologien nicht lediglich eine bestimmte Rationalität ausdrücken, sondern eine ihnen eigene Materialität aufweisen, die sie für verschiedene Programmatiken anschlussfähig halten, sodass sie in unterschiedlicher Weise und mit durchaus divergierenden Bedeutungen praktisch hervorgebracht werden können. Die Kritik kann jedoch nicht über die sozialforscherische und gegenwartsdiagnostische Bedeutung der Governmentality Studies hinwegtäuschen, die im Herausarbeiten der mannigfaltigen »Verbindungen zwischen abstrakten politischen Rationalitäten und den Mikrotechnologien des Alltags« liegt (Lemke 2000: 40). Paradoxerweise verbleiben bei aller aufgezeigten Vielfalt neoliberaler Praktiken und Sinnstrukturen deren praktische Interferenzen und Divergenzen als blinder Fleck. Daher wäre es sowohl aus analytischen als auch aus politischen Gründen »notwendig, weniger die Kohärenz und Konsistenz als vielmehr die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Rationalitäten und Technologien herauszuarbeiten.« (Lemke 2000: 42)
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Prekarisierung
Auf den Prekarisierungsdiskurs wurde bereits in Kapitel 8.2 eingegangen. Auch er kann als eine wesentliche Strömung der aktuellen soziologischen Gegenwartsdiagnose aufgefasst werden und teilt einige zentrale Aspekte mit den Diskussionen um Ökonomisierung, insbesondere die Frage nach einer veränderten Bezugnahme auf und nach veränderten sozialen Verhältnissen durch Arbeit sowie die hohe Relevanzierung der Risikobzw. Sicherheitsthematik. Mit dem Zentrieren von Prekarisierung als forschungsleitendes Problem werden jedoch andere analytische Schwerpunkte gesetzt: In den Fokus rückt die ›soziale Frage‹ (Castel 2008; Castel & Dörre 2009b) und mit ihr die Diagnose einer ›Wiederkehr der sozialen Ungleichheit‹ (Castel 2009). Anders als für Gegenwartsdiagnosen üblich (Osrecki 2011), bewegt sich der soziologische Prekarisierungsdiskurs daher nicht nur auf der Grenze zwischen Gegenwartsdiagnose und Gesellschaftstheorie, sondern findet zudem in den Bereichen Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung statt. Dass sich diese perspektivische Gemengelage durchaus in unterschiedlichen Rekonstruktionen des Gegenstandes niederschlägt, zeigt sich an der Diskussion darüber, inwiefern Prekarität vor allem eine spezifische soziale Lage begrifflich fasst (Bude & Willisch 2006; Vogel 2009) oder vielmehr als Beschreibungskategorie für ei-
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ne wirkmächtige transversale Logik fruchtbar gemacht werden sollte (Bourdieu 2004e; Hark & Völker 2010). Im Vergleich zu jenen im Ökonomisierungsdiskurs verorteten Ansätzen, die sich einerseits um Bourdieus Diagnose der ›neoliberalen Invasion‹ und andererseits um Foucaults Konzept der ›(neoliberalen) Gouvernementalität‹ gruppieren, greifen die auf Prekarisierung abzielenden Gegenwartsanalysen auf eine sehr viel heterogenere Theorienbasis zurück. Besonders deutlich wird dies etwa an Oliver Marcharts (2013b) explizit zeitdiagnostischer Herausarbeitung der ›Prekarisierungsgesellschaft‹, welche eine Vielzahl theoretischer Strömungen verbindet: Wesentliche Bausteine bezieht er aus der ökonomischen Regulationstheorie, die an Althussers strukturalen Marxismus anschließt, aus den Governmentality Studies und der pragmatistischen Soziologie Boltanskis und Chiapellos, sowie aus dem italienischen Postoperaismus und der diskursanalytischen Hegemonietheorie der Essex School (Marchart 2013a). Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Betrachtung sozialwissenschaftlicher Schriftensammlungen zur Prekarisierungsdebatte (Castel & Dörre 2009b; Klautke & Oehrlein 2007; Marchart 2013c; Völker & Amacker 2015a): Die Diskussion wird bereichert durch kapitalismustheoretische Arbeiten, feministische Theorien, neomarxistische Perspektiven etc., aber auch praxistheoretische Ansätze wie jene von Bourdieu (vgl. Pelizzari 2007; Schultheis 2013; Völker 2007), Butler (vgl. Lorey 2012; Völker 2013c) oder Foucault (vgl. Bröckling 2013; Spilker 2010) werden als theoretische Basis der Perkarisierungsanalysen genutzt. Als zentrale gegenwartsdiagnostische Arbeit mit dem Fluchtpunkt ›Prekarisierung‹ ist Robert Castels (2008) »Die Metamorphose der sozialen Frage« zu nennen, die (zugleich) einen wesentlichen Bezugspunkt sowohl des französischsprachigen als auch des deutschsprachigen Diskurses bildet. Dabei handelt es sich um eine historisch-komparative Arbeit11 (Castel & Dörre 2009a), in deren Rahmen Castel den Begriff der Metamorphose allerdings nicht im Sinne der Bestimmung einer sozialen Substanz nutzt, die im Laufe der Zeit ihre Merkmale verändert: »Im Gegenteil: Eine Metamorphose erschüttert die Gewissheiten und setzt die gesamte Gesellschaftslandschaft neu zusammen. Dennoch stellen selbst fundamentale Umwälzungen keine absoluten Neuerungen dar, wenn sie sich im Rahmen ein und derselben Problematisierung einfügen. Unter Problematisierung verstehe ich das Vorliegen eines Bündels von Fragen (deren gemeinsame Charakteristika zu definieren sind), die zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgekommen sind (der zu datieren ist), die mehrere Male in Krisenzeiten unter Einbeziehung neuer Gegebenheiten reformuliert worden sind (diese Transformationen sind zeitlich einzuordnen) und die schließlich bis heute fortexistieren.« (Castel 2008: 16; H.i.O.)
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Castel (2008: 12) charakterisiert seine Vorgehensweise – ähnlich wie Foucault, aber ohne im engeren Sinne dessen Analyseinstrumentarium zu gebrauchen – als ›Geschichte der Gegenwart‹: Es geht darum, »das Werden der unmittelbaren Gegenwart über die Rekonstruktion des Systems der Transformationen zu begreifen, dessen Hinterlassenschaft die aktuelle Situation ist.« Hierzu nutzt er – auf epistemologische Überlegungen Jean-Claude Passerons zurückgreifend – »ganz und gar den Historikern zu verdankende […] Daten«, mit deren Hilfe er eine andere, nämlich soziologische Erzählung der Geschichte der Gegenwart anfertigt (Castel 2008: 17).
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Die Problematisierung, deren Geschichte Castel nachzeichnet, um Aufschluss über die gegenwärtige Verfassung der Gesellschaft zu erlangen, benennt er als ›soziale Frage‹, die er als ›fundamentale Aporie‹ charakterisiert, an der sowohl die Kohäsion als auch Fragilität von Gesellschaft erfahrbar wird, die also die – im Kern weder in politischer noch ökonomischer Logik aufgehende – soziale Einbindung betrifft. Den zentralen Fluchtpunkt bei der Analyse sozialer Einbindung bildet für Castel ›Arbeit‹: Arbeit wird als identitätsstiftende Institution aufgefasst, die in Industriegesellschaften »die Rolle des ›großen Integrators‹« spielt (Castel 2008: 360). Zwar lassen sich weitere Orte sozialer Integration identifizieren (Familie, Schule, Nachbarschaft, politische Parteien, Vereine etc.), Arbeit wird jedoch als überspannendes Integrationsprinzip verstanden. Um nun Varianten sozialer Einbindung unterscheiden zu können, schlägt Castel eine Analysematrix vor, die durch eine Achse der ›Integration durch Arbeit‹ (stabiles Beschäftigungsverhältnis, prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit) und eine Achse der ›Dichte der Integration in Beziehungsnetzwerken‹ (solide Verankerung, brüchige Beziehungen, soziale Isolation) gebildet wird. Zwischen beiden Dimensionen bestehen keine »mechanischen Korrelationen, da eine starke Wertigkeit auf der einen Achse eine Schwäche auf der anderen kompensieren kann« (Castel 2008: 361). Dennoch bilden sie ein Koordinatensystem, in dem verschiedene ›Zonen sozialer Kohäsion‹ verortet werden können: eine ›Zone der Integration‹, die von stabilen Arbeits- und Einbindungsverhältnissen gekennzeichnet ist, eine ›Zone der Entkopplung‹, in der sowohl ein Mangel an Arbeitsintegration als auch an sozialen Beziehungen vorherrscht, und dazwischen eine weite ›Zone der Verwundbarkeit‹, in der verschiedene Kombinationen mehr oder weniger prekärer Arbeitsverhältnisse und Sozialbeziehungen vorfindbar sind. Castel geht es nun weniger um eine statische Beschreibung der unterschiedlichen Zonen – aus diesem Grund spricht er auch von Einbindung und Entkopplung und nicht von In- bzw. Exklusion. Es geht ihm darum, Verläufe der Entwertung und Desintegration nachzuzeichnen und zugleich die Relationalität prekärer Situationen zu unterstreichen. Prekarität zeichnet sich also weder durch eine ganz spezifische sozialstrukturelle Position, noch ausschließlich durch eine subjektive Lage aus, in der »[d]ie Zukunft […] unter dem Vorzeichen des Zufalls steht« (Castel 2008: 11), sondern durch das Verhältnis, in dem die eingebundenen und die entkoppelten Gesellschaftsmitglieder zueinander stehen, durch den Modus, in dem die soziale Frage gestellt und durch die politischen Strategien, mit denen sie bearbeitet wird. Zudem ist es für diese Analyseperspektive konstitutiv, die gegenwärtigen Verhältnisse auch in Relation zu jenen der Vergangenheit zu betrachten: Mit Blick auf die starken sozialstaatlichen Interventionen und ökonomischen Aufwertungen der Lohnarbeit, sowie die sozialen Aufstiegschancen, die für breite Teile der Bevölkerung eine Zeit lang realistisch waren, »muss [man] folglich von einer sozialen Unsicherheit nach der Absicherung sprechen, oder vielmehr von einer Unsicherheit, die weiterhin von Strukturen der Absicherung umgeben und durchzogen ist« (Castel 2009: 27; H.i.O.). Auf diese Weise diagnostiziert Castel eine weite und tendenziell in Ausdehnung befindliche Zone der Verwundbarkeit, die sich bis tief in die Mittelschicht hinein erstreckt, wobei er darauf hinweist, dass sich die Formen prekärer Existenzweisen stark voneinander unterscheiden – sowohl hinsichtlich der Haltung zu Arbeit als
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auch hinsichtlich der Lebensführung und nicht zuletzt hinsichtlich der Möglichkeiten, ›die Zukunft zu meistern‹. Der praxistheoretische Prekarisierungsdiskurs greift diese Ergebnisse Castels auf, ändert mit der theoretischen Basis jedoch auch Analyseperspektive und Fragerichtung: »Was stellt sich neu oder anders dar, wenn gesellschaftliche Normen, Institutionen und Praktiken vor dem Hintergrund des Prekären als ontosozialer Dimension und von Prekarisierung als aktueller sozialer Dynamik und als Regierungsmodus gelesen werden?« (Völker & Amacker 2015b: 7). Solchermaßen orientierte Arbeiten schließen zumeist (allerdings in unterschiedlichem Maße und nicht ausschließlich) an die bereits vorgesellten Ansätze Bourdieus12 und der Governmentality Studies an. Insofern lässt sich mal eine stärkere Betonung der veränderten Beziehungen zwischen Akteursgruppen und mal eine Konzentration auf die Rekonstruktion ›prekärer‹ Ordnungslogiken und der Techniken ihrer Durchsetzung erkennen. Es herrscht jedoch ein reger Austausch zwischen den Vorgehensweisen, der in zahlreichen fruchtbaren Verbindungen mündet. Vor allem drei Aspekte stehen im Fokus der praxistheoretischen Prekarisierungsforschung: Erstens wird neben den strukturellen Bedingungen prekärer Verhältnisse deren praktische Hervorbringung betont, wobei divergierenden Produktionsmodi und Wirkungsweisen von Prekarität (als Modus) bzw. Prekarisierung (als Modalisierungsform) herausgestellt werden (Cyurs & Weiß 2005; Völker 2009a, 2010a)13 ; zweitens wird Prekarität als Regierungsform oder zumindest Regierungstechnik rekonstruiert, die mit bestimmten Wissenskomplexen und Aspekten gegenwärtiger Subjektivierung verknüpft ist und offenbar an Wirkmacht gewinnt (Prekarisierung) (Bröckling 2013; Marchart 2013b; Spilker 2010); und drittens wird Prekarisierung als Neuordnung der Klassenbeziehungen untersucht (Pelizzari 2007), wobei die bloße Ergänzung des sozialen Raums um eine weitere Klasse des ›Prekariats‹ zu kurz greifen würde, da weite Teile des gesellschaftlichen Gefüges einer Transformation unter den Vorzeichen der Prekarität unterliegen (Schultheis & Schulz 2005). Die Bearbeitung dieser drei Fluchtpunkte führt zu zahlreichen Überschneidungen, sodass sie nicht als divergente Ansätze charakterisiert werden können14 ; allerding lässt sich der Diskurs auf ihrer Basis ordnen:
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Wie fließend die Grenzen zwischen den unterschiedlichen gegenwartsdiagnostischen Perspektiven sind, zeigt sich im Beitrag von Alessandro Pelizzari, der Bourdieus Arbeiten zur ›neoliberalen Invasion‹ bzw. zum ›Elend der Welt‹ dezidiert und sehr plausibel als ›Prekarisierungsforschung‹ qualifiziert, an die eine große Zahl empirischer Analysen anschließt (von ihm benannt als ›Bourdieu’sche Prekarisierungsforschung‹) – im deutschsprachigen Raum insbesondere die von Schultheis und Schulz durchgeführte Studie ›Gesellschaft mit begrenzter Haftung‹, die eng auf ›Das Elend der Welt‹ verwiesen ist (vgl. Pelizzari 2007). Auch Klaus Dörre greift in seinen einschlägigen Beiträgen zum Prekarisierungsdiskurs »die subjektiven Verarbeitungsformen unsicherer Arbeitsverhältnisse« analytisch auf, argumentiert aber vor allem kapitalismustheoretisch, weshalb sein Ansatz in dieser Darstellung, die ja insbesondere auf praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen fokussiert, trotz hoher Relevanz für den Diskurs nicht ausführlich diskutiert wird (Castel & Dörre 2009a: 16). So arbeitet beispielsweise Susanne Völker (2009c; 2010b) neben verschiedenen Modi des praktischen Umgangs mit Prekarität deren Potenzial für die Veränderung sozialer Ordnungen heraus und Franz Schultheis (2013) rekurriert einerseits auf eine spezifische prekäre Subjektivierungsform (in seinen Worten: auf den ›ökonomischen Habitus‹ des ›employable man‹) rekonstruiert aber auf der anderen Seite auch Formen der praktischen Herstellung prekärer Situationen.
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(1) Zunächst bezieht sich die Forschung also einerseits auf die konkrete Produktion prekärer Verhältnisse. Dies geschieht beispielsweise am Arbeitsplatz, indem faktische Unsicherheiten geschaffen werden (›Freistellung‹ von Mitarbeiter*innen ohne ökonomische Notwendigkeit) oder aber durch subtile Verunsicherungen wie etwa durch die Anwesenheit von Leiharbeiter*innen, die zu schlechteren Konditionen Seite an Seite mit tariflich bezahlten Festangestellten im identischen Unternehmen die identischen Aufgaben verrichten und jedem Akteur vor Augen führen, »daß er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg« (Bourdieu 2004d: 108; vgl. auch Schultheis 2010, 2013; Schultheis & Schulz 2005). Andererseits werden verschiedene Lebensformen in ihrer spezifischen Produktion von und im Umgang mit Prekarität rekonstruiert, denn Prekarisierung kann als ›transversale Kondition sozialen Wandels‹ benannt werden (Marchart 2013a), die sowohl arbeitende als auch nicht-arbeitende Teile der Bevölkerung betrifft, jedoch an unterschiedlichen sozialen Orten divergente Formen und Effekte aufweist15 . Vor diesem Hintergrund ist auch Castels Feststellung der (historisch) relationalen Wirkungsweise sozialer Entsicherung und Entbindung praxistheoretisch zu reformulieren: Insbesondere aus den Reihen der Frauen- und Geschlechterforschung wird beständig darauf verwiesen, dass die Geschichte der Sicherung und Entsicherung von Lohnarbeit in den Erfahrungen von Frauen und Männern erheblich divergiert (vgl. z.B. Nickel 2009). So entstehen in der Verkreuzung herkunfts- und geschlechtsspezifischer Existenzbedingungen unterschiedliche Formen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns von bzw. in Prekarität, mit denen nicht zuletzt auch verschiedene praktische Ermöglichungen und Begrenzungen einhergehen (Völker 2010c, 2011, 2013a; vgl. auch Kapitel 8.2). (2) Des Weiteren fokussiert die praxistheoretische Prekarisierungsforschung jene transversale Logik, die prekäre Praxisformen miteinander verbindet, »[d]enn Prekarisierung mag auf den Einzelnen zwar unterschiedliche Auswirkungen haben je nach dessen Position im sozialen Gefüge, sie hat aber keineswegs so divergente Ursachen, wird sie doch angetrieben durch ein neoliberales Flexibilisierungs-, Deregulierungsund Entsicherungsregime im Übergang zum Postfordismus.« (Marchart 2013a: 16) Ein erheblicher Teil der entsprechend ausgerichteten Arbeiten argumentiert also parallel zu den Rekonstruktionen einer neoliberalen Gouvernementalität (Bröckling 2013; Marchart 2013b; vgl. z.B. Spilker 2010). Zwar lässt sich zum Teil eine leichte Akzentversschiebung verzeichnen: Im Zentrum der Analyse steht oft nicht das Sicherheitsdispositiv selbst oder die Subjektivierung von Risiko- und Selbstmanagement, vielmehr geht es um die Herausarbeitung verschiedener Formen einer ›Regierung durch Unsicherheit‹, wobei eine enge praktische Verbindung mit neoliberalen Regierungs- und Subjektivierungstechniken konstatiert wird, sodass die Grenzen zwischen den Governmentality Studies und der praxistheoretischen Prekarisierungsforschung in diesem Bereich nicht
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Pelizzari verweist beispielsweise auf drei Akteursgruppen, die er jeweils der ›notwendigen‹, der ›transitorischen‹ bzw. der ›avantgardistischen Prekarität‹ zuordnet, und für die er je unterschiedliche Praktiken der Prekarität, aber auch Wirkungsweisen prekärer Umstände rekonstruiert (Pelizzari 2007).
13 Praxeologische Gegenwartsdiagnosen als Interpretationen gegenwärtiger Wandlungsprozesse
nur überaus fließend sind, sondern sich beide Forschungsperspektiven wechselseitig ergänzen. (3) Schließlich wird Prekarisierung auch als »eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den sozialen Klassen« beschrieben (Pelizzari 2007: 63) bzw. allgemeiner als Erschöpfung vormals wirksamer sozialer Klassifikationen und Ordnungslogiken untersucht (Völker 2009a, 2010a)16 . Wenn sich Akteure im sozialen Raum unter impliziter praktischer Bezugnahme auf weitestgehend objektivierte symbolische Ordnungsstrukturen relational zueinander verorten, so lautet die Kerndiagnose nun, dass eben diese Ordnungsstrukturen prekär geworden sind. Bezogen auf die Arbeit als sozial ordnendes Element benennt Prekarisierung also einen Prozess, »in welchem sich die subjektive Wahrnehmung der eigenen Arbeitsmarktposition sowohl im Verhältnis zum Neigungswinkel der eigenen erwerbsbiographischen Laufbahn wie auch relativ zu anderen Lagen innerhalb der Arbeitswelt spiegelt« (Pelizzari 2007: 66). Eine Verunsicherung der relationalen Positionierung hängt also einerseits von dem Verhältnis zwischen der, um mit Bourdieu zu sprechen, antizipierten (beruflichen) Trajektorie eines Akteurs und deren tatsächlich realisiertem Verlauf ab, wobei der Entwurf einer Laufbahn nicht unmittelbar aus den fordistisch geprägten ›Normalarbeitsverhältnissen‹ abzuleiten ist, sondern milieu-, geschlechts-, altersspezifisch etc. variiert, d.h. sich aus den als ›normal‹ objektivierten Lebensformmerkmalen einer sozialen Gruppe speist. Die relativ abrupte und rapide Umgestaltung von Bildungs- und Arbeitsstrukturen lässt dieses Verhältnis an unterschiedlichen sozialen Orten prekär werden und zwar strukturiert variierend hinsichtlich Intensität und Wirkungsweise: In einem ›klassischen‹ Arbeiter*innenmilieu bedeutet der Abbau von festen, tariflich entlohnten Arbeitsplätzen für Absolvent*innen der Haupt- und Realschulen eine umfängliche Krise der (männlichen) Normalbiografie, während er sich in vielen akademischen Berufsgruppen eher in einer verschärften Konkurrenz um Bildungsabschlüsse und (ebenfalls rarer werdende) Beschäftigungen bemerkbar macht, den objektivierten und internalisierten Laufbahnentwurf jedoch nicht unbedingt grundlegend in Frage stellt. Das heißt aber zugleich andererseits, dass sich auch die Verhältnisse unterschiedlicher sozialer Gruppen zueinander verändern: Hierbei spielen sowohl Auf- und Abstiegsdynamiken, die mit den veränderten Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturen zusammenhängen, eine Rolle als auch die Verunsicherung tradierter Muster der symbolischen Verortung. Gerade weil die strukturellen Veränderungen zu je spezifischen Destabilisierungen von Lebensformen in ganz unterschiedlichen Milieus beitragen, werden auch die Möglichkeiten einer relationalen Positionierung zwischen sozialen Orten
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Dabei spielt die Erosion des fordistischen Normalarbeitnehmerverhältnisses eine wichtige, jedoch nicht die einzig entscheidende Rolle. Auch Geschlechterordnungen, Strukturen der Lebensführung, Altershierarchien etc. werden zunehmend als kontingent und hinterfragbar wahrgenommen und lassen sich in der Alltagspraxis oft nicht mehr in gewohnter Form aufrechterhalten, das heißt: nicht mehr ungebrochen reproduzieren. Die Erschöpfung ganz unterschiedlicher symbolischer Ordnungen steht in einem komplexen Wirkungszusammenhang, der nicht einseitig auf die Erschütterung der gesellschaftlichen Strukturierung durch bestimmte Arbeitsverhältnisse zurück zu führen ist. Dies hat Susanne Völker für das Zusammenwirken von Geschlechterordnungen und Arbeitsverhältnissen herausgearbeitet – vgl. hierzu Kapitel 8.2.
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brüchig. Und schließlich führt die Zersplitterung der Prekarisierung in viele divergierende praktische Problemlagen dazu, dass sie, von unterschiedlichen Positionen aus betrachtet, nicht als gemeinsame Herausforderung wahrgenommen werden kann (zumal sie auch mit positionsspezifischen Wirkungsweisen einhergeht). »Auf diese Weise sorgt die Konfrontation mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen nicht nur, wie Robert Castel (2000) treffend formuliert, für eine ›Destabilisierung des Stabilen‹. Indem sie die einen diszipliniert und den anderen elementare Voraussetzungen für Widerständigkeit und Gegenwehr nimmt, fördert sie zugleich eine eigentümliche ›Stabilisierung der Instabilität‹. Insofern ist Prekarisierung kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft. Denn sie bewirkt, wie es Bourdieu hellsichtig formuliert hatte, tatsächlich eine allgemeine subjektive Unsicherheit, die bis tief hinein in die Lebenslagen der formal Integrierten reicht.« (Brinkmann et al. 2006: 62)
13.3
Ästhetisierung
Neben verschiedenen Lesarten einer Ökonomisierung und Prekarisierung sozialer Praxis finden spätestens seit den 1990er Jahren gegenwartsanalytische Ansätze Beachtung, die eine transversale ›Ästhetisierung‹ solcher Praktiken diagnostizieren, die nicht im künstlerischen Feld situiert sind. »›Ästhetisierung‹ bezeichnet jene sinnliche Intensivierung oder Versinnlichung von Gegenständen, Personen, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Praktiken […], die sowohl als Antwort auf gesellschaftliche Probleme als auch als kreativer Motor gesellschaftlicher Prozesse zu begreifen sind.« (Hieber & Moebius 2011: 8) Damit benennt sie einen sozialen Prozess, in dessen Vollzug insbesondere auf sinnliche Wahrnehmung abzielende Praxis an Bedeutung gewinnt, wobei einerseits Form und Verbreitung entsprechender Praxisformen, andererseits jene Logiken in den Blick genommen werden, die deren Ausdehnung und Bedeutungszuwachs bedingen sowie auch das Zusammenwirken beider Aspekte. Als relativ weitreichende Veränderung sozialer Praxis kann Ästhetisierung auf unterschiedlichen analytischen Ebenen festgestellt werden: Das Ästhetische durchdringt zunehmend den Lebensalltag gegenwärtiger moderner Gesellschaftlichkeit aufgrund der (gezielt) gesteigerten affektuellen Wirkung der Dinge und Institutionen, der Arbeits- und Freizeitgestaltung und nicht zuletzt der Akteure. Dabei ist die Verstärkung einer ästhetischen Wirkung sozialer Praxis nicht auf ein bestimmtes Feld begrenzt, sondern etabliert sich beispielsweise im politischen, religiösen, familiären und insbesondere auch wirtschaftlichen Bereich. Auf der anderen Seite findet entsprechend auch eine Ästhetisierung der ›Wahrnehmungsweisen‹ bzw. des ›Realitätsempfindens‹, ebenso wie des Denkens und der Ordnungs- bzw. Verortungspraxis statt (Scherke 2011). Wie wird nun dieser tiefgreifende Wandel sozialer Praxis gegenwartsanalytisch aufgegriffen?
13 Praxeologische Gegenwartsdiagnosen als Interpretationen gegenwärtiger Wandlungsprozesse
Der neue Geist des Kapitalismus Als besonders einschlägige Ästhetisierungsdiagnose kann die 1999 in Frankreich veröffentlichte Studie »Der neue Geist des Kapitalismus« von Luc Boltanski und Ève Chiapello (2006) gelten (vgl. Hieber & Moebius 2011). Zwar stehen Veränderung, Wiedererstarken und Ausdehnung des Kapitalismus sowie Flexibilisierung und Projektierung der Arbeitsformen und damit einhergehende Destabilisierungen und Verunsicherungen im Fokus der Forschungsarbeit – insofern zeichnet sie ebenfalls Prozesse der Ökonomisierung und Prekarisierung nach. Die Bedingung dieser Transformationen werden jedoch in der spezifischen Logik der Künstlerkritik und in deren Vereinnahmung durch den Kapitalismus verortet. Das Vorgehen orientiert sich an einer ›Soziologie der Kritik‹, die darauf ausgerichtet ist, »die Ansätze der kritischen Soziologie mit denen der pragmatischen Soziologie zu vereinen« (Boltanski & Chiapello 2001: 461)17 . Bereits in früheren Arbeiten hat sich Boltanski mit der Frage nach der Herstellung von (grundsätzlich unwahrscheinlichen) sozialen Ordnungen auseinandergesetzt und dabei die Rechtfertigung als eine wesentliche Ermöglichungspraxis identifiziert (Boltanski & Thévenot 2007): Die relationale Verortung von Akteuren (aber auch von Gegenständen, Handlungen, Institutionen, Praxiskomplexen etc.) geschieht – als eine wesentliche Möglichkeit unter mehreren – über die Rechtfertigung von Aussagen und Standpunkten anhand konventionalisierter Prozesse. Diese fasst Boltanski im Modell der ›Cité‹18 , welches sich auf die Logik bezieht, nach der im Rahmen einer spezifischen Gerechtigkeitsvorstellung Richtigkeit und Legitimität begründbar bzw. beurteilbar werden. In ›Über die Rechtfertigung‹ identifizieren 17
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Als ›kritische Soziologie‹ wird hier insbesondere die Praxistheorie Bourdieus adressiert (Potthast 2001). Der pragmatistische Ansatz des Bourdieu-Schülers Boltanski »speist sich in den 1980er Jahren aus der Kritik an der etablierten Soziologie – und damit insbesondere an Bourdieu – als Ausdruck einer Abwehr gegen eine ›Theoriemaschine‹, welche die Akteure zu stark auf ihre sozialstrukturellen Bedingungen fokalisiert und ihre Gestaltungsspielräume weitgehend ausblendet. […] Er basiert auf der Kritik an instrumentellen Deutungskategorien und -methoden und erklärte die konkrete Praxis und ihre empirische Beobachtung zum Ausgangspunkt der Analyse. Die Beobachtung pluraler Handlungsräume erfuhr damit gegenüber ihrer strukturellen Konzeptualisierung an Deutungsgewinn. Von ihr ausgehend kann kein vereinheitlichtes Weltbild mehr vorausgesetzt werden […].« (Bogusz 2010: 38f.). Allerdings, so Tanja Bogusz, wird die Radikalität der Abgrenzung aus erkenntnistheoretischer Sicht durch die enge Verwandtschaft der epistemologischen und sozialtheoretischen Grundannahmen Deweys und Bourdieus gebrochen: »Gemeinsam ist ihnen die Hervorhebung der Praktiken und des Handelns als zentrales Datum wissenschaftlicher wie alltäglicher Wissensproduktion, die Verknüpfung anthropologischer Grundannahmen mit der empirischen Studie spezifischer Handlungsformen, die phänomenologisch-konstruktivistische Auseinandersetzung mit kontingenten Praxisformen sowie die Kritik am erkenntnistheoretischen Determinismus.« (Bogusz 2010: 39) Diese Prämissen liegen auch Boltanskis Soziologie zugrunde. In der deutschsprachigen Ausgabe von ›Der neue Geist des Kapitalismus‹ wird ›cité‹ mit dem Begriff ›Polis‹ übersetzt (Boltanski & Chiapello 2006). Zwei Jahre vor der deutschsprachigen Erstausgabe veröffentlichten Boltanski und Chiapello im Berliner Journal für Soziologie eine Zusammenfassung der Studie, bei der ›Cité‹ als Bezeichnung für das Konzept der Rechtfertigungslogiken aus dem französischen übernommen wurde (Boltanski & Chiapello 2001). Ich schließe mich dieser Variante an.
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Boltanski und Thévenot sechs verschiedene, allgemein verbreitete Cités19 , die – so unterschiedlich ihre inhaltlichen Referenzpunkte auch sind – gemeinsame Prinzipien der Ordnung von ›Größe‹ (Grad der Relevanz, Richtigkeit, Legitimität etc.) aufweisen: Sie »entfalten sich nach einer Grammatik, die a) das Äquivalenzprinzip spezifiziert, nach dem die Handlungen, Dinge und Personen einer gegebenen ›Cité‹ beurteilt werden; b) den Zustand von ›Größe‹ und den Zustand fehlender ›Größe‹ (also den Zustand des Kleinen) spezifiziert – nach dem ›Größe‹ das ist, was besonders stark die Werte der Cité verkörpert, das ›Kleine‹ das, was das Defizit der Qualität von ›Größe‹ beschreibt; c) die Formel der Investition spezifiziert, die eine der grundlegenden Bedingungen für ein Gleichgewicht in der Cité ist, weil sie dadurch, dass sie Größe an ein Opfer bindet, dafür sorgt, dass der Gewinn durch die Kosten ausgeglichen wird; d) das Bewährungsmodell spezifiziert, das in jedem […] Rechtfertigungsregime die Bewährungsprobe benennt, die geeignet ist, ›Größe‹ sichtbar zu machen.« (Boltanski & Chiapello 2001: 465f.) Kapitalismus wird nun von Boltanski und Chiapello als ›amoralischer Prozess‹ der unbeschränkten Kapitalanhäufung mit friedlichen Mitteln definiert, an den eine große Zahl verschiedener und prinzipiell wandelbarer Praxiskomplexe gekoppelt ist, über die nahezu alle Akteure moderner Sozialität in die kapitalistischen Akkumulationsprozesse einbezogen und ihnen zugleich unterworfen sind: »Der kapitalistische Ablauf ist in dieser minimalen Formulierung unter vielen Gesichtspunkten ein absurdes System. Die Arbeitnehmer haben in ihm den Besitz an den Früchten ihrer Arbeit und die Möglichkeit, ein aktives Leben außerhalb der Unterordnung zu führen, verloren. Die Kapitalisten hingegen sind an einen unendlichen und unstillbaren Prozess gekettet.« (Boltanski & Chiapello 2001: 462) Die Mobilisierung und Einbindung der Akteure ist nur auf Basis einer Ideologie möglich, die der kapitalistischen Praxis Sinn verleiht. Dieser ›Geist des Kapitalismus‹ ist grundsätzlich anpassungsfähig und kann eine Rechtfertigung im Sinne unterschiedlicher Cités gewährleisten. Seine zentralen Argumente treten insbesondere im Rahmen ökonomischer Theorien hervor und beziehen sich auf den (technologischen, sozialen und wirtschaftlichen) Fortschritt kapitalistischer Gesellschaften, auf die Effizienz konkurrenzgesteuerter Produktion sowie auf die weitreichende Ermöglichung individueller wie politischer Freiheiten in kapitalistischen Gesellschaften. Alltagspraktische Anschlussfähigkeit muss die kapitalistische Ideologie jedoch insbesondere in dreierlei Hinsicht gewährleisten, nämlich 1) in Bezug auf eine Art affektive Einbindung bzw. auf einen ›Enthusiasmus‹, den es bei den Akteuren zu wecken gilt, 2) hinsichtlich der Möglichkeiten der Existenzsicherung und 3) bezogen auf die Gerechtigkeit der Verteilungslogiken und die Wahrung des Gemeinschaftswohls. Zur ideologischen Rechtfertigung des Kapitalismus können nun Argumente aus unterschiedlichen Rechtfertigungsregimen bzw. Cités angeführt werden, wobei die Regimekonstellationen, die Relevanz der unterschiedlichen Regime, wie auch die Cités
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Die sechs Cités leiten sich ab aus Kritikbereichen, die von der Welt der Inspiration, der häuslichen Welt, der Welt der Meinung, der staatsbürgerlichen Welt, der Welt des Marktes und von der industriellen Welt ausgehen (›Cité‹ der Inspiration, des Hauses, des Ruhms, der Staatsbürgerlichkeit, des Handels und der Industrie) (Boltanski & Thévenot 2007).
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selbst sozialem Wandel unterworfen sind. Dieser Wandel wird insbesondere aufgrund der am Kapitalismus geäußerten Kritik überlebensnotwenig, wobei Boltanski und Chiapello zwei große Traditionen der Kapitalismuskritik identifizieren: Die Sozialkritik und die Künstlerkritik. Im Rahmen ihrer Gegenwartsdiagnose identifizieren die Autor*innen einen umfangreichen Wandel der in die kapitalistische Ideologie eingelassenen Rechtfertigungslogiken und mithin also einen ›neuen Geist des Kapitalismus‹: Ausgehend von der 1968 erstmals durch eine breite Öffentlichkeit jenseits des künstlerischen Milieus getragenen Kritik an den entfremdenden, autonomiebegrenzenden und bevormundenden kapitalistischen Arbeitsverhältnissen ändert sich die Rechtfertigung nicht nur im Sinne einer neuen Relevanzierung der adressierten Cités, es zeigt sich darüber hinaus auch eine zentrale Argumentationslogik, die Boltanski und Thévenot in ›Über die Rechtfertigung‹ noch nicht aufgefallen war – die ›Cité par projets‹ bzw. die ›Netzwerklogik‹. Zwar ist diese Rechtfertigungsform bereits in der Managementliteratur der 1960er Jahre auffindbar, ihre Wirkmacht steigert sich bis in die 1990er Jahre jedoch um ein Vielfaches und sie verdrängt die zuvor weitaus bedeutsameren häuslichen, handelsbezogenen und staatsbürgerlichen Logiken. »[E]s sieht so aus, als ob man das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hätte abwarten müssen, damit sich die Kunst, verschiedenste und entfernteste Verbindungen zu knüpfen und diese zu nutzen, verselbstständigen konnte und diese Eigenschaft erst jetzt – abgekoppelt von anderen Handlungsformen, die sie bis dahin verdeckten – als eigene Kategorie identifiziert und bewertet wird. Es ist dieser Vorgang, den wir als konstitutive Neuerung ansehen, und der uns deswegen besonders interessiert.« (Boltanski & Chiapello 2001: 467) Entlang der ›Grammatik‹, nach denen eine Cité ihre Wirkungsweise entfaltet, lässt sich nun die ›Cité par projets‹ folgendermaßen charakterisieren (Boltanski & Chiapello 2006: 154ff.): a) Ihr Äquivalenzprinzip ist auf Aktivität ausgerichtet, das heißt, das maßgebliche Beurteilungskriterium stellt der ›Grad der Aktivität‹ dar, wobei dieser sich vornehmlich auf die Generierung von und Teilnahme an Projekten bezieht. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, stabilen und instabilen Arbeitsverhältnissen, Verpflichtung und Freiwilligkeit, zwischen in Begriffen der Produktivität erfassbaren Tätigkeiten und jenen, die sich einer standardisierten, numerischen Bewertung entziehen. Aktivität bedeutet das (unentwegte) Entwickeln und Bearbeiten von Projekten. »Das Leben wird dabei als eine Abfolge von Projekten aufgefasst, die umso wertvoller sind, je deutlicher sie sich voneinander unterscheiden.« (Boltanski & Chiapello 2006: 156; H.i.O.). b) Der Zustand von Größe zeigt sich entsprechend in der Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Polyvalenz und – insofern eine Person bewertet wird – in Engagement, Begeisterungsfähigkeit und nicht-autoritären Führungsqualitäten. Projektakteure, die besonders flexibel und vielseitig einsetzbar sind und sich in neue Projekte schnell einpassen, sich also fremde Ideen in kurzer Zeit zu Eigen machen können, haben einen hohen Beschäftigungswert. Sie agieren autonom und aus eigenem Antrieb und übernehmen die Risiken, die mit der beständigen Anforderung der Erschließung und (wirksamen) Bearbeitung neuer Projekte einhergehen. Der Zustand von ›Nicht-Größe‹ ist hingegen durch die Abwesenheit dieser Merkmale markiert:
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Er »kennzeichnet den, der sich nicht einsetzen kann, weil er kein Vertrauen hat, oder den, der nicht kommunizieren kann, weil er verschlossen ist, weil er borniert ist oder autoritär, intolerant und streng. Alles, was Mobilität verringert, ist Ausdruck von Rigidität, wie das Festhalten an einem Beruf oder die lokale Verwurzelung. Er erforscht nicht die Netzwerke. So ist er ständig von Ausgrenzung, vom sozialen Tod bedroht.« (Boltanski & Chiapello 2001: 466) c) Auch die Formel der Investition ist in der Cité par projets auf die netzwerk- und projektbezogene Aktivität ausgerichtet: Zugunsten der hierzu erforderlichen Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Polyvalenz müssen stabilisierende, bindende, absichernde Aspekte der Lebensführung aufgegeben werden. Räumlich, zeitlich, aber auch sozial langfristig verwurzelnde und verpflichtende Beziehungen, Besitztümer, Vorlieben etc. belasten die Möglichkeit, ›Größe zu zeigen‹. Ein entsprechender Verzicht bedeutet eine Investition in das persönliche Aktivitätspotenzial. d) Das Bewährungsmodell schließlich, bezieht sich auf den tatsächlich bewerkstelligten Wechsel von einem Projekt ins nächste. Hieran zeigt sich nicht nur der Beschäftigungswert (mit allen hierfür vorauszusetzenden Merkmalen von Größe), sondern auch die Bereitschaft, soziale Bindungen, zeitliche Verbindlichkeiten und lokale Verbundenheit abzubrechen bzw. abzuwandeln und neue aufzubauen. Weshalb aber wandelte sich die kapitalistische Ideologie und produzierte die Cité par projets als wirkmächtigen neuen Geist des Kapitalismus? Für eine Begründung setzen Boltanski und Chiapello die Wechselwirkung zwischen der kapitalistischen Grundlogik fortgesetzter Akkumulation und der untrennbar hiermit verwobenen Rechtfertigungslogik zentral. Beide Aspekte fallen praktisch zusammen, das heißt, die historische Form kapitalistischer Praxis entsteht immer in der Verbindung beider Logiken. Während die grundlegende Orientierung an der Kapitalanhäufung jedoch konstant bleibt (und konstitutives Merkmal für kapitalistische Praxis ist), muss der ›Geist des Kapitalismus‹ sozusagen ›mit der Zeit gehen‹: Die Rechtfertigungslogik zielt auf die Aufrechterhaltung der alltagspraktischen Einbindung und des Commitments der Akteure. Defizite in diesen Bereichen äußern sich in Form von Kapitalismuskritik, die zumeist auch die konkreten Gründe für mangelndes Engagement bzw. fehlende Bereitschaft zur Teilnahme artikuliert. Da, Boltanski und Chiapello zufolge, affektive Anschlussmöglichkeiten, Sicherheitsaspekte sowie Gerechtigkeitsempfinden die zentralen Dimensionen der alltagspraktischen Einbindung darstellen, bilden sie zugleich auch zentrale Fluchtpunkte der Kritik, die ja gerade das Fehlen dieser Einbindungsmöglichkeiten anmahnt. Traditionell nimmt kollektiver Unmut gegen den Kapitalismus (nicht immer gleichzeitig, sondern je nach feststellbarem bzw. artikulierbarem Mangel) einerseits die Form der Sozialkritik und andererseits die Form der Künstlerkritik an, wobei die Sozialkritik sich maßgeblich gegen Elend, Ungleichheit und Unsicherheit, sowie gegen Egoismus und die Zerstörung von Solidarität richtet, während die Künstlerkritik insbesondere die Entzauberung der Welt, Anomie, mangelnde Authentizität sowie die Einschränkung von Freiheit, Autonomie und Kreativität moniert (Chiapello 2012). In der historischen Rekonstruktion der Herausbildung der neuen kapitalistischen Ideologie beziehen sich die Autoren auf die Phase zwischen 1965 und 1995:
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»Diese Epoche ist besonders günstig für ein solches Projekt. Sie wurde zunächst (19651975) von einer starken kritischen Bewegung geprägt, die mit einer Krise des Kapitalismus einherging. Die zweite Zeitspanne (1975-1990) zeichnet sich durch eine Züchtigung der Kritik aus. Sie fiel mit einer Veränderung und einer Wiederbelebung des Kapitalismus zusammen. Die Wiederbelebung des Kapitalismus mündete schließlich in den 90er Jahren in der Herstellung eines neuen normativen Bezugspunktes […].« (Boltanski & Chiapello 2001: 461) Die in den Protesten von 1968 gipfelnde Kapitalismuskritik der ersten Zeitspanne ist als Sozial- und Künstlerkritik sehr breit formuliert, wobei letztere erstmals von Bevölkerungsgruppen jenseits des künstlerischen Feldes – insbesondere durch Student*innen – aufgegriffen und erstere nicht nur verbal, sondern durch handfeste Störungen der Produktion geäußert wurde (durch gewerkschaftlich organisierte Streiks, aber auch durch Sabotage, Vandalismus etc.). Zunächst wird die Kritik von Seiten der Arbeitgeber und der Regierung vornehmlich als Sozialkritik gedeutet und mit einer Verbesserung und Vereinheitlichung der Löhne sowie durch die Erhöhung der Arbeitsplatzsicherheit beantwortet. Diese Strategie zeitigte jedoch nicht die erwünschten Folgen: »Sie hat sich als kostspielig erwiesen und hat in keiner Weise zu einem Ende der Proteste geführt. Weder dem Management noch den Gewerkschaften ist es gelungen, die Leistungsbereitschaft wieder in den Griff zu bekommen: Die Desorganisation der Produktion ist nicht erkennbar rückläufig.« (Boltanski & Chiapello 2006: 227) So beginnen die innovativen Teile der Arbeitgeberschaft den geäußerten Unmut allmählich im Sinne der Künstlerkritik aufzufassen und gestehen den Arbeitnehmer*innen mehr Freiheiten, kreative Selbstentfaltung, Autonomie und Selbstverantwortlichkeit zu: »Dadurch, dass der neue Geist diese Forderungen für eine Beschreibung einer neuartigen, emanzipierten, ja sogar libertären Art der Profitmaximierung nutzbar macht, durch die man angeblich auch sich selbst verwirklichen und seine persönlichsten Wünsche erfüllen könne, konnte er in der Frühphase seines Entstehens als eine Überwindung des Kapitalismus, damit aber auch als eine Überwindung des Antikapitalismus verstanden werden. Er beinhaltet das Thema der Emanzipation und des freien Zusammenschlusses von Kreativen, die eine gemeinsame Passion verbindet und die sich gleichberechtigt zusammenfinden, um ein gemeinsames Projekt zu verfolgen.« (Boltanski & Chiapello 2006: 257) Auch wenn Boltanski und Chiapello einige positive Effekte dieses Wandels vor allem im Bereich der Angestelltenadressierung feststellen, fällt ihre Bilanzierung der Kapitalismustransformation vor allem kritisch aus. Denn der Prozess der ideologischen Umorientierung verläuft parallel und in Wechselwirkung mit einem sukzessiven Umbau der modernen Arbeitswelt – sowohl im Bereich der Arbeitsorganisation als auch im Bereich der Produktionssysteme: Die fordistische Großproduktion wird abgelöst von einem Geflecht aus kleineren, flexibel agierenden Subunternehmen, eigenständigen Zuliefererbetrieben und Freelancern. Beschäftigungsverhältnisse werden zunehmend prekär, Arbeitnehmerschutz und Sozialstandards werden abgebaut, die Arbeitsbelastung wächst bei gleichbleibendem Lohn, die Lohnkosten werden immer weiter in Staatsverantwortung umgelagert und so vergemeinschaftet und im Zuge gesteigerter Konkurrenz, Se-
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lektion und Exklusion kommt es zu einer verstärkten Fragmentierung der Arbeitnehmerschaft. Die enorme Umverteilung der Kosten, Risiken und Belastungen zu Lasten der Arbeitnehmer*innen findet dabei weitestgehend lautlos statt: »Während die Künstlerkritik, je nach Standpunkt, erfolgreich ist oder an ihrem Erfolg erstickt, ist die Sozialkritik […] in eine unbequeme Lage geraten. [… Für sie] ist die Welt des projektförmigen Kapitalismus nicht mehr interpretierbar. Sie ist weniger mobil als der Kapitalismus, sie kann den Ausweichmanövern (déplacements) des Kapitalismus nicht folgen, weil sie in dessen unzähligen lokalen Innovationen keine Systematik erkennt. In einer Situation, in der Autonomie gegen Sicherheit ausgespielt wird, besteht ihre Orientierungslosigkeit laut Boltanski und Chiapello darin, dass sie das normative Repertoire der ›vernetzten Welt‹ (monde connexionniste) nicht beherrscht, das zum Aufbau geeigneter Dispositive der Prüfung notwendig wäre.« (Potthast 2001: 558) Ästhetisierung ist aus dieser Perspektive als eine maßgeblich über kapitalistische Praxis produzierte Veränderung sozialer Logiken zu verstehen, die sich einerseits im Modus der Alltagspraktiken niederschlägt (diese werden ›authentischer‹ und ›kreativer‹, haben eine affizierende Wirkung, dienen der Selbstdarstellung und Selbstentfaltung), andererseits aber auch Formen der sozialen Verortung, der Legitimierung und Rechtfertigung modifiziert. Sie entspringt vor allem der ›Künstlerkritik‹ an einer entzauberten, Freiheit und Autonomie einschränkenden Welt (Chiapello 2012). Ihre Verbreitung ist aber maßgeblich durch den Kapitalismus ermöglicht und zwar erstens durch die Demokratisierung, Bündelung und spezifische Zuspitzung der ästhetischen Weltund Selbstverhältnisse in Form einer Kritik gegen den Kapitalismus und zweitens in Form der Internalisierung einer ästhetischen Logik seitens kapitalistischer Praxis, insbesondere auch in Form expliziter Rechtfertigungsstrategien. Dieser Prozess fördert nicht nur eine Entgrenzung von Arbeit und privater Lebensführung, er hat auch eine weitreichende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zur Folge. Insofern befindet sich die Gegenwartsdiagnose von Boltanski und Chiapello im Schnittfeld von Ästhetisierungs-, Ökonomisierungs- und Prekarisierungsdiskurs.
Die Erfindung der Kreativität Andreas Reckwitz’ Studie ›Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung‹ wurde bereits in Kapitel 8.3 angesprochen. Die Gegenwartsdiagnose ist – ähnlich wie Foucaults Analyse der Gouvernementalität – in Form einer genealogisch erarbeiteten Geschichte der Gegenwart angelegt. Den Fluchtpunkt der Forschung bildet dabei die Ästhetisierung der Moderne und eine spezifische Variante dieser Ästhetisierung, vermittelt über ein transversal wirksames ›Kreativitätsdispositiv‹. Der Begriff des Ästhetischen, auf den Reckwitz in einem engeren Sinne zurückgreift20 , bezieht sich
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Im ursprünglichen Sinne bezieht sich der Begriff der Aisthesis auf die Gesamtheit sinnlicher Wahrnehmung. In dieser weit gefassten Bedeutung eignet er sich jedoch nicht, um spezifische Praktiken, Logiken, kulturelle Strukturen etc. als ›ästhetisch‹ (im Gegensatz zu anderen, nichtästhetischen) zu identifizieren, denn von dieser Warte aus betrachtet kommt – wie auch Hans Joas feststellt – im Grunde keine Praxis ohne ästhetische Komponente aus.
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»nicht auf alle, sondern auf besondere sinnliche Prozesse: auf eigendynamische Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, die sich aus ihrer Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben« (Reckwitz 2012: 23). Mit der ›Eigendynamik sinnlicher Wahrnehmung‹ betont Reckwitz deren »Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit, ihre Orientierung am eigenen Vollzug in diesem Moment. Ihr Spezifikum ist ihre Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit willen, ihre Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen.« (Reckwitz 2012: 23). Zentral für die Identifizierung ästhetischer Praxis sind nicht die Unterscheidungen zwischen schön und hässlich, introvertiert oder expressiv, abstoßend oder wohltuend etc., sondern dass sie der Logik nach selbstbezogen und eigendynamisch ist. Ästhetisierung (und Entästhetisierung) wird von Reckwitz als moderner Prozess rekonstruiert, der maßgeblich an die sich ausbreitende Rationalisierung geknüpft ist: Mit Latour und Bauman argumentiert er, dass Moderne durch eine Praxis des Trennens gekennzeichnet ist. Wie Latour herausarbeitet, hat die Trennung (von Dingen und Menschen, von Natur und Gesellschaft etc.) einerseits zur Folge, dass sich auf beiden Seiten der Trennlinie die solchermaßen hergestellten Entitäten vervielfachen und dass sich andererseits die Anzahl jener Hybride und Mischpraktiken, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, vermehren. Mit modernen Rationalisierungsprozessen ist nun, so argumentiert Reckwitz, eine solche Trennung verbunden: Das Ästhetische, d.h. das selbstbezüglich auf sinnliche Wahrnehmung Orientierte und somit von jenseitigen Zielen und Zwecken Befreite, wird vom Nicht-Ästhetischen, Rationalen, Zweckgerichteten unterschieden. So lässt sich für die Moderne ein widersprüchlicher Prozess konstatieren: »Auf der einen Seite findet eine grundlegende Rationalisierung sozialer Praxis statt, die tatsächlich eine weitgehende Entästhetisierung nach sich zieht. Zugleich wirken gegenläufige Ansätze einer Ästhetisierung des Sozialen; und es finden sich […] Mischformen von Ästhetisierung und Rationalisierung.« (Reckwitz 2012: 31) Anders als es Webers Analyse an der ›Entzauberung der Welt‹ im Zuge moderner Intellektualisierung und Rationalisierung nahelegt, fasst Reckwitz die Moderne also nicht nur als ›Entästhetisierungsmaschine‹, sondern zugleich auch als ›Ästhetisierungsmaschine‹. Das Kreativitätsdispositiv formiert sich nicht nur auf Basis ästhetischer Praktiken, die durch die Trennung von Rationalem und Ästhetischem an Kontur gewonnen haben, es ›antwortet‹ auch auf ein Problem, dass sich mit der Rationalisierung der Moderne herausbildet: Mit modernem Rationalismus geht (nicht zuletzt aufgrund der konstitutiven Abspaltung des Ästhetischen) ein Affektmangel und in der Folge ein spezifischer Motivationsmangel einher, der die sinnlich-emotionalen Aspekte des Denkens, Wahrnehmens und Handelns betrifft. Moderne Sozialität geht und ging dabei nie gänzlich im Modus der Rationalität auf, sondern hat immer Bereiche einer affektiven Bezugnahme ausgebildet oder perpetuiert. Als wesentliche Orte des Affektiven (›Affektballungsräume‹) identifiziert Reckwitz dabei das Religiöse, das Politische und das Ästhetische. Sowohl das Religiöse, das Affekte an transzendente Instanzen knüpft, als auch das Politische, das sie in Richtung einer ›Vervollkommnung des Kollektivs‹ kanalisiert, verlieren dabei tendenziell an Bedeutung, während die Relevanz des Ästhetischen, das Affekte an sinnliche Wahrnehmung um ihrer selbst willen koppelt, steigt: »Innerhalb dieses Ensembles von Affektballungsräumen gewinnen die Ästhetisierungsprozesse bis zur Spätmoderne an Intensität und drücken der Affektkultur des Westens über den Weg des Kreativitätsdispositivs schließlich ihren Stempel auf.« (Reckwitz 2012: 318f.)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Die Ästhetisierung moderner Praxis knüpft einerseits an vormoderne ästhetische Praktiken an, die beispielsweise aus höfischen, religiösen oder volkskulturellen Kontexten herausgelöst werden. Andererseits identifiziert Reckwitz eine Reihe genuin moderner ästhetischer Praxiskonstellationen, die er als ›Ästhetisierungsagenten‹ bezeichnet (Reckwitz 2012: 34): Zunächst (1) ist der sich im Kunstfeld des 18. Jahrhunderts formierende ›Expansionismus der Kunst‹ zu nennen, der zwar einerseits das Ästhetische strikt auf den Bereich der Kunst zu beschränken sucht und damit die Rationalisierung bzw. Entästhetisierung anderer Kontexte vorantreibt, andererseits jedoch birgt der künstlerisch-ästhetische Diskurs Entgrenzungspotenzial – angefangen bei der Möglichkeit der emotional-sinnlichen Befriedigung in einer rationaler werdenden Welt bis hin zur ›Leben als Kunst‹-Idee der bürgerlichen Avantgarde. Des Weiteren spielt (2) die ›Medienrevolution‹ eine wesentliche Rolle, denn durch die Erfindung einer ganzen Reihe audiovisueller Aufzeichnungs-, Transfer- und Reproduktionsapparate (Schallplatte, Radio, Telefon, Kino, Fernsehen etc.) verändern sich die Rahmenbedingungen für die ästhetische Wahrnehmung grundlegend: »Wenn gestaltete Bilder und Töne generell außergewöhnliche Impulse für die Bildung von Affekten geben […], dann erfährt diese Affektförderung in den audiovisuellen Medientechnologien einen qualitativen und quantitativen Sprung, indem sie die Hervorbringung und Aneignung von Bildern und Tönen von der Face-to-face-Interaktion löst und entsprechend allgegenwärtig wird.« (Reckwitz 2012: 36; H.i.O.) Als einen weiteren Ästhetisierungsagenten nennt Reckwitz (3) die ›Kapitalisierung‹; zwar verdrängt die industrielle Produktion zunächst vormoderne ästhetische Praktiken, die an die Produktion und Nutzung von Gegenständen gekoppelt ist, sie führt aber zugleich die Warenwelt als ›eigene Version der Ästhetisierung‹ ein, die einerseits über eine ›Fetischisierung‹ (Marx) der Waren, andererseits über die gezielte Nachfragesteigerung durch Ästhetisierung der Konsumgüter vorangetrieben wird. Auch die (4) ›Objektexpansion‹ muss als Vermittlerin moderner Ästhetisierung gelten: Die ›Explosion der Dingwelt‹ bedeutet eine massenhafte Verbreitung und Vervielfältigung ›hybrider Quasiobjekte‹ (Latour), die zugleich materiell und kulturell sind und ästhetische Relationen zwischen Subjekten und Objekten befördern. Schließlich verweist Reckwitz (5) auf die moderne ›Subjektzentrierung‹, die – gestützt durch humanwissenschaftliche und psychologische Diskurse und vermittelt über neuartige Selbsttechnologien – die Fokussierung des ›Selbst‹ als eigenständiger Entität befördern. Die modernen Ästhetisierungsagenten zeigen nicht nur die Vielfalt moderner ästhetischer Praxis an, sie verweisen auch auf die Verschränkung von Rationalität und Ästhetik. Ästhetisierung bezieht sich also nicht auf eine einheitliche Praxisform, die sich zunehmend durchsetzt und moderne Rationalität zurückdrängt, vielmehr ist »[d]ie dominante Rationalisierung und Entästhetisierung der Moderne […] von heterogenen Ästhetisierungsformaten begleitet und wird von diesen konterkariert« (Reckwitz 2012: 38). Von einer verstärkten Ästhetisierung, die geeignet ist, den dominanten Stellenwert der Rationalität zu durchbrechen, kann hingegen erst im 20. Jahrhundert gesprochen werden. Hier formiert sich ein besonderer Komplex ästhetischer Praxis, der die Ästhetisierung der Moderne in einen spezifischen Modus überführt und vorantreibt, nämlich das Kreativitätsdispositiv. Die älteren Ästhetisierungsagenten bilden zugleich Voraussetzungen und Konstituenten der neuen Praxisformation: »Bisher verstreute und mar-
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ginale ästhetische Versatzstücke werden darin in eine Form gebracht, die ihnen breite Geltung und Wirkung verschafft« – wobei nicht jede Form ästhetischer Praxis im Dispositiv der Kreativität aufgeht, dieses also eher als ›dominant culture der ästhetisierten Gegenwartsgesellschaft‹ zu verstehen ist (Reckwitz 2012: 39). Die Verwendung des Dispositiv-Konzepts zur Erfassung der Verbreitung und spezifischen Wirkung bzw. Wirkmacht gegenwärtiger Ästhetisierung verweist auf die Vernetztheit und Transversalität des Interessensgegenstandes: Als Dispositiv vereint Kreativität Praktiken, Diskurse, Artefakte und Subjektivierungsformen in einer spezifischen, wenn auch diffusen Logik. Diese ist nicht auf einen bestimmten Gesellschaftsbereich beschränkt, vielmehr verbindet sie Praxiskomplexe in ganz verschiedenen Sphären (Erziehung, Freizeit, Konsum, Berufsleben etc.) in einem kreativen Sinne. Was aber zeichnet diese Logik aus bzw. worin besteht das Besondere der Kreativität? Reckwitz benennt hier zwei zentrale Aspekte: »Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. Kreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen. Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des ›Schöpferischen‹, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet. Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovation, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue. Das ästhetische Neue wird mit Lebendigkeit und Experimentierfreude in Verbindung gebracht, und sein Hervorbringer erscheint als ein schöpferisches Selbst, das dem Künstler analog ist.« (Reckwitz 2012: 10) Einerseits ist die Logik der Kreativität also auf die Wahrnehmung, Wertschätzung und systematische Hervorbringung des ästhetisch Neuen orientiert21 , andererseits betont es die Originalität des Individuums (bzw. dessen potenzielle Fähigkeit zur Originalität) und setzt die Bestimmbarkeit einzelner Subjekte oder Kollektive (als Kreateure) sowie deren Besonderung und relationale Verortung entlang der Dimension ›kreativ – nichtkreativ‹ voraus. Die Hervorbringung kreativer Subjekte wirkt in einer Doppelstruktur von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung, d.h. als Kombination aus ›Kreativitätswunsch‹ und ›Kreativitätsimperativ‹. Als transversal wirksamer Praxiskomplex umfasst das Kreativitätsdispositiv »die gesamte Struktur des Sozialen und des Selbst der Gegenwartsgesellschaft« (Reckwitz 2012: 15). Getragen wird es durch das Zusammenspiel von vier spezifischen Praxiselementen: die ›Kreateure‹, das ›ästhetische Publikum‹, ›ästhetische Objekte‹ und eine ›institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeiten‹. 21
Insofern ist das Kreativitätsdispositiv überaus geeignet ein spezifisches modernes ›Regime des Neuen‹ hervorzubringen, welches das Neue nicht mehr – wie etwa im Rahmen der organisierten Moderne – am (technischen) Fortschritt, sondern an der affektuellen Andersheit misst. Die beiden Regime – das ›Regime des Innovationsneuen‹ der organisierten Moderne und das ›Regime des kulturell-ästhetisch Neuen‹ der Spätmoderne – sind jedoch historisch nicht strikt voneinander zu trennen, vielmehr sind beide in beiden Formen moderner Sozialität wirksam, wenn auch mit unterschiedlicher Relevanz (Reckwitz 2016c).
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»Es muss einerseits Praktiken geben, die auf die Produktion von ästhetisch Neuem ausgerichtet sind und die von entsprechenden individuellen oder kollektiven ›Kreateuren‹ getragen werden. Es muss auf der anderen Seite ein Publikum geben, das primär an der ästhetischen Aneignung von Objekten und Ereignissen interessiert ist. Beide sind über eine dritte Instanz miteinander verknüpft, über ästhetische Objekte, das heißt über mehr oder minder materiale Artefakte, die mit ästhetischer Absicht hergestellt und/oder in ästhetischer Absicht genutzt oder rezipiert werden. Diese Trias wird schließlich von institutionellen Mechanismen – marktförmigen, medialen oder politisch-staatlichen – gerahmt, denen es um das Management von Aufmerksamkeit geht.« (Reckwitz 2012: 323) Die vier Instanzen sind nur analytisch zu trennen; situativ kann ein*e Kommentator*in mit einem Eintrag zugleich ästhetisch rezipieren und ein ästhetisches Objekt kreieren, genauso wie ein*e Mode-Blogger*in oder ein*e Bodybuilder*in zugleich als Kreateur und ästhetisches Objekt in Praxis eingebunden sein kann. Auch entspricht nicht jede ästhetische Praxis der Logik des Kreativdispositivs: Die sinnliche Wahrnehmung um ihrer selbst willen ist nicht zwangsläufig an die Konstellation Kreateur-PublikumObjekt-Aufmerksamkeitsmanagement gekoppelt, sondern kann auch jenseits der entsprechenden Institutionalisierungen, ohne Bezug auf ein (anwesendes oder abwesendes) Publikum und ohne Produktion in ästhetischer Absicht erfolgen – auch wenn durch die Ausdehnung des Dispositivs die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass etwa zufällige Objektarrangements oder Wetterereignisse nicht nur affektiv wirksam sind, sondern auch im Sinne ihrer Publikumswirksamkeit oder ihrer weiterführenden Inszenierbarkeit aufgefasst werden. Nicht nur finden sich neben der kreativ disponierten auch andere Formen ästhetischer Praxis, auch identifiziert Reckwitz neben der Kreativität noch weitere hochgradig wirksame Logiken sozialer Praxis, die an verschiedenen Punkten miteinander vernetzt sind. Dies verdeutlicht etwa der Blick auf die Ökonomie, deren postfordistische Variante sich durch einen ›ästhetischen Kapitalismus‹ auszeichnet: Bezog sich die Ästhetisierung des Fordismus vor allem auf den Konsum, zeichnet sich der Postfordismus durch eine Ästhetisierung der Arbeitsformen und Organisationsstrukturen, aber auch des Arbeitsethos aus (Reckwitz 2016a). Dabei verkoppeln sich einerseits ökonomische Logiken (der Effizienzsteigerung, der Selbstvermarktung, der Expansion etc.) und Logiken der Kreativität (der Wahrnehmungszentrierung, des sensuell Neuen, des Authentischen etc.) im Netz gegenwärtiger Praxisformen und steigern damit wechselseitig ihre Wirkmacht, andererseits verdrängen sie Praxisformen, die anderen Logiken entsprechen (fordistische Arbeitspraxis, bürgerliche Ästhetik), nicht vollständig. Daher ist der von Reckwitz diagnostizierte Ästhetisierungsprozess auch nicht mit der Ausdehnung des Kreativitätsdispositivs gleichzusetzen: »Das Kreativitätsdispositiv ist mit Prozessen einer gesellschaftlichen Ästhetisierung eng verbunden, aber nicht mit ihnen identisch. Formate des Ästhetischen und Prozesse der Ästhetisierung finden sich in der Moderne wie auch zuvor und andernorts in sehr unterschiedlichen Versionen und Richtungen. Das Kreativitätsdispositiv heftet sich an eine besondere Ästhetisierungsweise, koppelt sie an bestimmte nichtästhetische Formate (Ökonomisierungen, Rationalisierungen, Medialisierungen) und bringt
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sie damit in eine sehr spezifische, einseitig gesteigerte Struktur. Das Ästhetische lässt sich so wie ein Medium begreifen, in dessen Rahmen das Kreativitätsdispositiv eine Form markiert. Oder anders formuliert: Der gesellschaftliche Komplex der Kreativität territorialisiert die flottierenden Prozesse des Ästhetischen auf eine ganz bestimmte Weise.« (Reckwitz 2012: 20) Die nicht originär ästhetischen sozialen Prozesse der Ökonomisierung, Rationalisierung und Medialisierung bilden strukturelle Voraussetzungen für die massive und spezifische Ausdehnung des Kreativitätsdispositivs. Während Reckwitz – wie angesprochen – zwischen Ästhetisierung und Rationalisierung ein komplementäres Verhältnis herausarbeitet, rekonstruiert er hinsichtlich ästhetisierter und ökonomisierter bzw. medialisierter Sozialität deutliche Homologien22 . Das Kreativdispositiv verdrängt trotz seiner umfassenden Wirksamkeit andere gegenwärtig zentrale Modi des Sozialen also nicht. Auch findet keine einseitige Vereinnahmung der jeweiligen Logiken statt, das heißt, Ökonomisierung, Rationalisierung, Medialisierung und Ästhetisierung sind nicht zwangsläufig miteinander verknüpft, sondern bilden einen je eigenen sinnhaften Kern. Sowohl die Komplementaritäten als auch die Homologien befördern jedoch eine wechselseitige Steigerung und Verbreitung bestimmter Aspekte der jeweiligen Logiken: Ästhetisierung, Ökonomisierung, Medialisierung und Rationalisierung bilden füreinander zwar strukturelle Rahmenbedingungen, die eine Verbreitung wechselseitig ermöglichen. Voraussetzung ist allerdings eine strukturelle Passung zwischen den entsprechenden Praxismodi – sei diese nun homologer oder komplementärer Art. Das Kreativitätsdispositiv ist auch deshalb so wirkmächtig, weil es eine Form ästhetischer Praxis hervorbringt, die eine ganze Reihe möglicher Verknüpfungen mit anderen transversal wirksamen praktischen Logiken aufweist. »Homologie und Komplementarität bedeutet gerade nicht, dass eine Kolonialisierung oder ›Verunreinigung‹ des Ästhetischen durch das Nichtästhetische des Kapitalismus,
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Homologien zwischen ökonomisierter und kreativer Praxis sieht Reckwitz insbesondere in der Marktlichkeit der Publikumsorganisation bzw. dem Management von Aufmerksamkeit gegeben, aber auch in einer Verschränkung von Steigerungslogik und ästhetischer Neuheit. Entsprechende Praktiken sind dann gleichsam am ästhetischen wie am ökonomischen orientiert – etwa Produktionssteigerung durch neue Designs oder (wie bereits durch Chiapello und Boltanski herausgearbeitet) Arbeitsmotivation durch Selbstentfaltungsspielräume. Zugleich heftet sich an den Kreativitätsimperativ ein Steigerungszwang, der die Akteure – im Sinne ökonomisierter Sozialität – dem auf Dauer gestellten Streben nach einem besseren und vollständigeren kreativen Selbst unterwirft. Strukturhomologien zwischen Ästhetisierung und Medialisierung beziehen sich insbesondere auf die Form der Verbreitung ästhetischer Objekte: Vor allem mit den Neuen Medien wird eine massive Beschleunigung und Simultanisierung ästhetischer Praxis ermöglicht und eine spezifische Zeitlichkeit befördert, die durch Schnelllebigkeit und eine besonders radikale Zukunftsgerichtetheit gekennzeichnet ist. Umgekehrt werden Informationen der rein kognitiven Vermittlung enthoben und verstärkt an ästhetische Darstellungen gekoppelt. Die Komplementarität von Ästhetisierung und Rationalisierung zeigt sich hingegen in der Formalisierung der Kreativität: Technokratische Strukturen ermöglichen eine spezifische, formale Institutionalisierung kreativer Praxis und nicht zuletzt auch deren systematisches Evozieren, d.h. ein gezieltes und planvolles Hervorbringen der ansonsten schwer zu kontrollierenden Kreativität (vgl. auch Krämer 2015).
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der Medientechnologien oder der formalen Rationalisierung stattfinden würde, sondern dass sich mit deren Hilfe Strukturmuster verbreiten können, die die ästhetische Sozialität bereits selbst enthält. Mehr noch, es wird auch das konträre Bedingungsverhältnis deutlich: Die Prozesse der Ästhetisierung stellen sich ihrerseits als eine notwendige Rahmenbedingung für die Stabilität der drei anderen Formen des Sozialen unter spätmodernen Bedingungen heraus.« (Reckwitz 2012: 342) Die Reichweite und gesellschaftliche Relevanz des Ästhetischen wird von Reckwitz als überaus hoch eingeschätzt. Insbesondere mit deren Ausformung als Kreativitätsdispositiv gehen allerdings verschiedene soziale Dissonanzen einher, von denen Reckwitz vor allem vier herausarbeitet: Erstens einen ›Leistungs- und Steigerungszwang der Kreativität‹, mit der eine spezifische hierarchische Relationierung von Akteuren und also auch die Gefahr sozialer Entwertung und Marginalisierung einhergeht. Diese wirkt umso perfider, als Kreativität in hohem Maße sinnhaft auf Charakter- und Persönlichkeitsstrukturen bezogen ist. Wie Ehrenberg vermutet daher auch Reckwitz eine Verbindung zwischen gegenwärtigen Formen sozialer Praxis und einer Zunahme von Diagnosen im Bereich der ›Unzulänglichkeitserkrankungen‹ (Ehrenberg 2004; vgl. Reckwitz 2012: 348). Zudem lässt sich zweitens eine ›Diskrepanz zwischen kreativer Leistung und Kreativerfolg‹ verzeichnen, die besonders geeignet ist, den Glauben an eine meritokratische Organisation der Gesellschaft auszuhöhlen, da Leistung und Erfolg im Kreativdispositiv nur lose miteinander verkoppelt sind, kreative Leistung also Anerkennung finden kann aber nicht zwingend muss. Dies hängt mit der knappen Verfügbarkeit von Aufmerksamkeit und deren Verteilungsökonomie zusammen, wobei damit eine strukturelle Ungleichheit im Sinne Mertons Matthäus-Effekt einhergeht: »Nichts sichert mehr Kreativerfolg als bisheriger Kreativerfolg« – das Kreativdispositiv erzeugt also »seine eigene Version von Erfahrungen sozialer Ungerechtigkeit« (Reckwitz 2012: 350f.). Drittens problematisiert Reckwitz eine vermehrte ›Aufmerksamkeitszerstreuung‹, d.h. eine soziale Überbetonung der breiten Verteilung von Aufmerksamkeit (Zerstreuung) zuungunsten der gezielten, gebündelten Aufmerksamkeit (Konzentration), die möglicherweise auch mit sich häufenden Diagnosen im Bereich der ›Aufmerksamkeitsstörungen‹ korrespondiert. Und schließlich lässt sich viertens eine ›Ästhetisierungsüberdehnung‹ in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft verzeichnen, die eine Art Umkehrung der Entfremdungs- und Entzauberungsprozesse im Zuge moderner Rationalisierung darstellt: So lässt sich sowohl in den Feldern der Politik und der Medien, aber auch im Rahmen privater Beziehungen eine deutliche Akzentuierung etwa der Bewertungspraxis entlang nunmehr ästhetischer Maßstäbe erkennen. Ähnlich wie Boltanski und Chiapello setzt Reckwitz den negativen Aspekten des gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozesses die Hoffnung auf eine erstarkende Sozialkritik entgegen, sowie eine Ausdehnung gleichfalls existenter Alternativen ästhetischer Praxis.
13.4
Singularisierung
Nach seiner Studie zur ›Erfindung der Kreativität‹ legt Reckwitz 2017 mit »Die Gesellschaft der Singularitäten« eine weitere Gegenwartsanalyse vor, die auf seinen Erkennt-
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nissen über die gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozesse aufbaut (Reckwitz 2017a). Seine forschungsleitende These lautet hier, dass gegenwärtig ein »gesellschaftlicher Strukturwandel statt[findet], der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen«, wobei er dieses Besondere im Begriff der Singularität fasst (Reckwitz 2017a: 11; H.i.O.). Als wesentliche historische Phase, in der sich die Logik der Singularität formiert, macht Reckwitz die 1970er und 1980er Jahre aus: Hier transformieren sich viele Praxisstrukturen der organisierten Moderne langsam in eine neue, ›spätmoderne‹ Form und die Orientierung am Einzigartigen entwickelt sich zum hegemonialen Organisationsprinzip moderner Sozialität. Damit setzt auch er die sozialen Umbrüche in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts zentral und charakterisiert sie als Wandel von der organisierten Moderne hin zur Spätmoderne. Dabei verweist Reckwitz einerseits auf strukturelle Veränderungen, die auch von anderen Forscher*innen analytisch bearbeitet werden (etwa auf die Umgestaltung der Arbeitswelt, auf Veränderungen im Bereich der Lebensführungen oder auf Transformationen der Wissensdistribution und medialen Kommunikation). Vor allem aber sucht er nach transversalen Logiken, welche die Homologien zwischen den sehr verschiedenen Strukturumbrüchen zu erklären vermögen, wobei die »Verschiebung des analytischen Fokus vom Leitprinzip der Kreativität zu dem der Singularität beziehungsweise Singularisierung sowie von der Ästhetisierung zur Kulturalisierung sowohl eine Erweiterung als auch eine Schärfung des Blicks« ermöglichen soll (Reckwitz 2017a: 25). Während Reckwitz die Ästhetisierung der Gesellschaft in Form des sich ausweitenden Kreativitätsdispositivs noch als einen Prozess neben anderen (Ökonomisierung, Medialisierung, Rationalisierung) identifiziert, den er analytisch fokussiert und in seiner Wechselwirkungen mit den anderen Logiken praktischen Wandels beschreibt, wird Singularisierung als der zentrale Modus eines sich gegenwärtig vollziehenden gesellschaftlichen Umbruchs synthetisiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist »Die Gesellschaft der Singularitäten« eine Gegenwartsdiagnose mit explizit gesellschaftstheoretischem Anspruch (Reckwitz 2017b): Sie bezieht sich – anders als die historisch angelegte Analyse der Herausbildung des Kreativdispositivs – auf den Ist-Zustand der Gesellschaft, beleuchtet sozialen Wandel in den üblicherweise von Gesellschaftstheorien adressierten Bereichen wie Arbeit, Technik und Politik und beinhaltet schließlich auch den sozialstrukturanalytischen Entwurf eines Klassengefüges, welches Reckwitz als ›Drei-DrittelGesellschaft‹ bezeichnet. Zugleich stellt die Gesellschaftsstudie eine Erweiterung von Reckwitz Modernetheorie dar: In Anlehnung an Wagner gliedert Reckwitz die Moderne in (vorläufig) drei Phasen, die sich zwar überlagern, jedoch jeweils erkennbar unterschiedliche Praxisformen und -logiken, zentrale Orientierungen und Subjektivierungsformen, Institutionen etc. – kurz – unterschiedliche Formen der Sozialität hervorbringen. Über diese unterschiedlichen Phasen hinweg zeichnet die Moderne jedoch aus, dass sie als grundsätzliche Strukturierungsprinzipien sozialer Praxis eine Logik des Allgemeinen und eine Logik des Besonderen ausgebildet hat. Beide Aspekte – die Orientierung am Allgemeinen, mit der Prozesse der Standardisierung, Rationalisierung und Versachlichung einhergehen und die Orientierung am Besonderen, mit der Prozesse der Singularisierung, Kulturalisierung und Affektintensivierung einhergehen – sind ›von Anfang an‹ gleicher-
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maßen konstitutiv und kennzeichnend für die Moderne in toto: »Die Moderne ist darin modern, dass sie die Rationalisierung ins Extreme treibt und damit radikalisiert. Aber eben auch darin, dass sie die Singularitäten in extremer Weise entwickelt.« (Reckwitz 2017a: 19) In der Spätmoderne, deren Gesellschaftskonstellation Reckwitz rekonstruiert, haben sich nun die Relationen zwischen der Logik des Allgemeinen und der des Besonderen massiv verändert: Die Logik des Besonderen wird (erstmals in der Geschichte der Moderne) zum Primat sozialer Strukturierung, während die Praxis des Allgemeinen, d.h. Strategien der Rationalisierung, Techniken der Standardisierung, die Logik der Universalisierung etc., »die Form von allgemeinen Infrastrukturen für die systematische Verfertigung von Besonderheiten annehmen« (Reckwitz 2017a: 19; H.i.O.)23 . Für die Spätmoderne diagnostiziert Reckwitz also eine ›Explosion des Besonderen‹: Dem Besonderen bzw. Einzigartigen wird gegenwärtig in nahezu allen Lebensbereichen ein besonders hoher Wert zugesprochen, während das Allgemeine, Normale, Konforme eine umfassende Abwertung erfährt. Bildung wird von Seiten der Bildungssubjekte als möglichst originelle Lernbiografie entworfen und von Seiten der Bildungsorganisationen als möglichst einzigartiges Angebot markiert; politische Parteien sind aufs Äußerste um die Herausarbeitung von Alleinstellungsmerkmalen bemüht, während sie auf der anderen Seite besonders scharf wegen ihrer Angleichungstendenzen kritisiert werden; es reicht nicht länger aus, Konsumgüter ob ihrer Funktionalität anzupreisen und das Familienleben wird auf einmalige Erlebnisse in der hierfür reservierten ›Quality Time‹ orientiert. Besonders eindrücklich zeigt sich die Singularisierung im Bereich der Lebensstile (und der hieran anknüpfenden Industrien) in Form von Individualtourismus, in der Expansion von Kulturereignissen wie Festivals oder Kunstevents, in der Mode und Wohnraumgestaltung, aber auch im Ernährungsbereich, wo es um die Suche nach originellen Restaurants, unbekannten Lebensmitteln und besonderen Tomaten-, Kaffee-, Mineralwasser- oder Tofusorten geht. Viele dieser Praktiken sind weit vor den 1970er Jahren entstanden. Neu ist jedoch ihre Verbreitung – denn lange waren sie nur bestimmten, relativ kleinen Milieus vorbehalten – sowie ihre gesamtgesellschaftlich extrem gesteigerte Wertigkeit und damit Dringlichkeit, denn »das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, [… ist] nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden« (Reckwitz 2017a: 9; H.i.O.). In diesem Sinne sind ›Singularität‹ und ›Singularisierung‹ »Querschnittsbegriffe«, die sich auf gesamtgesellschaftliche »Querschnittsphänomene« beziehen (Reckwitz 2017a: 12). Was aber genau versteht Reckwitz unter Singularität? Welche Eigenschaften charakterisieren jemanden oder etwas als besonders bzw. einzigartig? »Einzigartige Entitäten zeichnen sich nun für das Auge des Betrachters durch ihre Binnenkomplexität aus: das einzigartige Individuum etwa durch jenes Insgesamt von Knotenpunkten und Relationen (die Eigenschaften von Komplexität), die sei-
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In ähnlicher Weise hat Reckwitz bereits die ›komplementäre‹ Beziehung zwischen Rationalisierung und Ästhetisierung charakterisiert: Die Ausweitung des Kreativitätsdispositivs führt er auf rationalistische Technologien zurück, die es ermöglichen, auf spezifische Weise systematisch Kreativität und mithin Kreativobjekte und -subjekte zu evozieren (Reckwitz 2012; vgl. auch Kapitel 12.3).
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nen Charakter oder seine Persönlichkeit ausmachen – im Unterschied zu einem Standardsubjekt, das als bloßer Rollenträger erscheint.« (Reckwitz 2017b; o.S.) Diese Definition ist jedoch nicht in einem essentialistischen Sinne zu verstehen: Sowohl das Allgemeine (und die Orientierung am Allgemeinen) als auch das Singuläre (und die Orientierung am Singulären) sind praktisch produziert. Das heißt auch, dass Singularität keine festgelegte Eigenschaft eines Gegenstandes, Subjektes, Ereignisses etc. ist, sondern nur in Praxis existiert. Ein Stein, der Kultgegenstand ist, kann diesen singulären Status ebenso verlieren, wie eine berühmte Person. Mit anderen Worten: Singularitäten sind »nie ein für alle Mal fixiert, sondern werden fortwährend fabriziert« (Reckwitz 2017a: 64). Reckwitz geht es daher um das ›doing singularities‹, um Praxisformen also, die in einer ›sozialen Logik der Singularitäten‹ hervorgebracht werden und deren Sinnstrukturen sich quer durch Subjektformationen, habituelle Dispositionen, Dinge, Techniken, Institutionen etc. ziehen24 . Insofern bedeutet Subjektivierung in der Logik der Singularitäten Singularisierung: »das Subjekt erlangt jenseits aller Typisierungen – die natürlich immer auch möglich sind und bleiben – eine anerkannte Eigenkomplexität. Das singularisierte Subjekt sperrt sich damit gegen eine Reduktion auf Funktionsrollen oder Herkunftsgruppen.« (Reckwitz 2017a: 59) Als soziales Produkt sind Singularitäten nicht ›an sich‹ einzigartig: In ihrer Hervorbringung werden geteilte Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien adressiert und (habitualisierte und institutionalisierte) Praxisschemata reproduziert: »Es ist kein logischer Widerspruch, sondern eine reale Paradoxie, dass sich allgemeine Praktiken und Strukturen untersuchen lassen, die sich um die Verfertigung von Besonderheiten drehen«. Entsprechend ist Reckwitz darum bemüht, »die Muster, Typen und Konstellationen herauszuarbeiten, die sich in der sozialen Fabrikation von Einzigartigkeiten ergeben« (Reckwitz 2017a: 13). Dabei betont er, dass die soziale Konstitution von Einzigartigkeit sowie die Tatsache, dass sich in der soziologischen Analyse die Verbreitung und Standardisierung singulärer Dinge, Ereignisse, Lebensentwürfe etc. rekonstruieren lassen, keineswegs bedeutet, dass Singularitäten ein rein virtuelles oder mentales Phänomen seien. Vielmehr formen Produktion und Orientierung am Einzigartigen in entscheidender Weise die soziale Wirklichkeit und entfalten unter anderem ganz reale Wirkungen auf Machtverhältnisse, Selbstverständnisse und soziale Klassifikationsschemata. Reckwitz nimmt an, »dass sich die soziale Logik der Singularitäten (wie auch jene des Allgemeinen) aus vier Praktiken zusammensetzt, die gewissermaßen ein Quadrat bilden: Praktiken der Hervorbringung, der Beobachtung, Bewertung (Valorisierung) und Aneignung. Wenn etwas als singulär erscheint, spielen in empirisch offener Weise alle vier Praktikenkomplexe eine Rolle« (Reckwitz 2018: o.S.). In gewisser Weise 24
Dies ist auch einer der Gründe weshalb Reckwitz sich gegen den Begriff der Individualität bzw. Individualisierung entscheidet, denn dieser ist ihm hier zu eng gefasst: Während Individualität (begriffsgeschichtlich) insbesondere Subjekten vorbehalten bleibt, bezieht sich Singularität darüber hinaus auch auf Dinge, Räume, Ereignisse, Zeitstrukturen, Weltanschauungen etc. Auf der anderen Seite sei der Begriff der Individualität zu mehrdeutig, da er neben der Konzeption von Einzigartigkeit auch auf Diskurse um Menschenwürde, Selbstverantwortung oder gar Egoismus verweise (vgl. Reckwitz 2018).
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erinnert dieses ›Quadrat‹ – mit einigen Verschiebungen – an die früher von Reckwitz entworfene Tetrade aus Produzent, Publikum, ästhetischen Objekten und institutionellen Mechanismen, welche die Hervorbringung von ästhetisch Neuem ermöglicht. Nun wird die Praxis der Singularitätsproduktion jedoch nicht entlang beteiligter Instanzen aufgetrennt, sondern entlang spezifischer Praxisaspekte, also entlang analytisch segregierter Praktiken, die gewissermaßen ›quer liegen‹ zu den beteiligten Akteuren, Dingen, Kollektiven, Räumen und Institutionen. Und noch eine Einbindung früherer Erkenntnisse ist zu erkennen: Insbesondere die Praktiken der Aneignung bzw. Rezeption werden als affektive ›Praktiken des Erlebens‹ aufgefasst (Reckwitz 2018)25 . Das ästhetische, affizierende Moment spielt bei der sozialen Produktion von Singularitäten eine entscheidende Rolle: Nicht Einmaligkeit ist die Bedingung, unter der etwas als Singularität wirksam wird, denn schließlich können auch Gegenstände aus serieller Produktion wie Smartphones, Kleidungsstücke oder Möbel eine entsprechende Zuschreibung erhalten. Entscheidend ist vielmehr eine wahrnehmungsbezogene, emotionale Komponente: »[S]ingularisierte Dinge und Objekte [sind] mehr als funktionale Instrumente; sie werden darüber hinaus oder ausschließlich zu kulturellen, affizierend wirkenden Entitäten.« (Reckwitz 2017a: 59) Der Singularität kennzeichnende kulturelle, affizierende Aspekt spielt jedoch nicht nur bei der Aneignung bzw. Rezeption eine wesentliche Rolle, er bildet auch den Bezugshorizont für die Beobachtung und Bewertung von Einzigartigkeit. Beobachtung setzt die Möglichkeit des sozialen Erkennens und Verstehens von Singularität voraus, geht also mit einer ›Singularitätskompetenz‹ einher, deren Verbreitung und Generalisierung konstitutiv ist für eine singularisierte Gesellschaft. Auch wenn beide Praktiken nicht zwingend aneinander gekoppelt sind, geht Beobachten oft mit Bewertung einher, das heißt, das Beobachtete ist nicht nur einem bestimmten Sinnzusammenhang zuordenbar, sondern zudem durch diesen valorisiert. »In der Logik der Singularitäten bedeutet Bewerten […] das Zuschreiben von Wert im starken Sinne. Es bezeichnet eine Praxis der Valorisierung, in deren Kontext die singuläre Entität einen Status als wertvoll erhält (oder nicht) – Bewerten heißt hier Zertifizieren. […] Während der Rationalismus […] auf der Unterscheidung richtig/normal (Allgemeines) versus anormal (Besonderes) basiert, ist die Leitunterscheidung des Singularismus sakral (Besonderes) versus profan (Allgemeines), wobei sakral hier nicht zu stark mit religiöser Heiligkeit assoziiert werden darf, sondern als eine Bewertung von etwas
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Die singularisierte Gesellschaft ist insofern in erheblichem Maße auf Affizierung, d.h. auf die Wirkung und Bewertung als authentisch und attraktiv orientiert, weshalb Reckwitz sie auch als ›Affektgesellschaft‹ bezeichnet. Darüber hinaus hat die Betonung des Affektiven Auswirkung auf seinen modernetheoretischen Entwurf: »Die Gleichsetzung der Moderne mit einem Prozess der formalen Rationalisierung und damit das eindimensionale Bild einer Moderne der sozialen Logik des Allgemeinen setzt den Verlust der Unterscheidung zwischen […] der Zirkulationssphäre des Werts (und Affekts) und des Systems von Nutzen und Funktion voraus. Erst wenn man dazu in der Lage ist, diese beiden Dimensionen zu unterscheiden, kann auch die Doppelstruktur der Moderne aus Rationalisierung und Kulturalisierung [und damit Affizierung; J.E.] sichtbar werden« (Reckwitz 2017a: 79). Entsprechend kann mit Knöbl (2017) eine ›emotionstheoretische Vervollständigung‹ der Reckwitz’schen Modernetheorie festgestellt werden.
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als intrinsisch wertvoll, als ausgestattet mit einem Eigenwert meint.« (Reckwitz 2017a: 66f.; H.i.O) Den Bezugsrahmen, in dem eine Entität als Singularität beobachtet und bewertet werden kann, bezeichnet Reckwitz als ›Kultur‹ in einem engeren bzw. starken Sinne. Damit hält er an jenem in den Praxistheorien verwendeten weit gefassten Kulturbegriff fest, der das praktisch-sinnhafte Gefüge einer sozialen Einheit (Organisation, Milieu, Gesellschaft etc.) benennt, fügt ihm jedoch einen zweiten, stärker am Normativen der entsprechenden Einheit ausgerichteten Kulturbegriff hinzu. In diesem engeren, gruppenspezifischen Sinne bildet Kultur die Bedeutungsordnung (mit Reckwitz: Kultursphäre), in der die besondere Qualität eines Gegenstandes, Subjekts, Raums, Ereignisses oder Kollektivs in Relation zu anderen Entitäten innerhalb dieser Ordnung zugeschrieben werden kann. Umgekehrt produziert bzw. reproduziert die Zuschreibung von Wertigkeit im kulturellen Sinne, d.h. die Singularisierung einer Entität, erst diese Kultursphäre: »Die singulären Einheiten des Sozialen werden zu Kultureinheiten, und der Prozess ihrer Singularisierung ist eben ein Prozess ihrer Kulturalisierung.« (Reckwitz 2017a: 77; H.i.O.) Entsprechend kann der gegenwärtige gesellschaftliche Wandlungsprozess mit Reckwitz nicht nur als Singularisierung, sondern auch als Kulturalisierung beschrieben werden: »Kultur setzt sich in ihrem Zentrum aus Singularitäten zusammen. Jene Einheiten des Sozialen, die als einzigartig anerkannt werden […], bilden gemeinsam mit den zugehörigen Praktiken des Beobachtens und Bewertens, des Hervorbringens und Aneignens die Kultursphäre einer Gesellschaft. Die Logik des Besonderen gehört zur Kultur wie die Logik des Allgemeinen zur formalen Rationalität. Wenn die soziale Logik des Allgemeinen ihren Ausdruck in einem gesellschaftlichen Prozess der Rationalisierung findet, dann die Logik der Singularitäten in einem gesellschaftlichen Prozess der Kulturalisierung. Rationalisierung und Kulturalisierung sind die beiden konträren Formen von Vergesellschaftung.« (Reckwitz 2017a: 75) Mit der These der Singularisierung bzw. Kulturalisierung der spätmodernen Gesellschaft wird nicht etwa die Vernichtung formaler Rationalität angenommen, sondern deren Ablösung als zentrale Praxis- und Ordnungslogik in weiten Teilen der Gesellschaft. Die Kultursphäre avanciert dann zur wesentlichen Instanz hinsichtlich der wechselseitigen Relationierung von Akteuren, in deren Rahmen Wert nicht nur zugeschrieben, sondern auch aberkannt wird, die also nicht nur Bezugssystem für Praktiken der Valorisierung, sondern auch der Entvalorisierung ist (Reckwitz nennt hier als Beispiele die Zuschreibung als ›Flyover Country‹ oder ›White Trash‹). In diesem Zusammenhang ist es nur naheliegend, auch die Sozialstruktur bzw. Klassenordnung spätmoderner Gesellschaften einer Analyse zu unterziehen. Reckwitz kommt dabei zu dem Schluss, dass sich die Sozialstruktur als Drei-Drittel-Gesellschaft beschreiben lässt, die sich aus einer ›neuen Unterklasse‹, einer ›alten Mittelklasse‹ und einer ›neuen Mittelklasse‹, zuzüglich einer sehr kleinen ›neuen Oberklasse‹ zusammensetzt. Das Konzept ist lose an Bourdieus Sozialraumstudie ›Die feinen Unterschiede‹ angelehnt und lässt sich mit dessen Kapitalbegriffen teilweise aufschlüsseln: Reckwitz bestreitet die hohe Relevanz ökonomischen Kapitals nicht, er spricht unter spätmoder-
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nen Verhältnissen dem kulturellen Kapital jedoch eine deutlich gesteigerte Bedeutung zu. Nachvollziehen lässt sich der Entwurf der Drei-Drittel-Gesellschaft ausgehend von der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ (Schelsky 1965b), die Reckwitz in etwa zwischen 1950 und 1980, insbesondere in den USA, Skandinavien und Deutschland realisiert sieht und die durch eine Logik des Allgemeinen, eine relative Gleichverteilung der materiellen Ressourcen und eine Normalisierung der Lebensformen gekennzeichnet ist. Das Auseinanderdriften des nivellierten Mittelstands und die damit einhergehende soziale Polarisierung und Klassen(um)bildung führt Reckwitz auf einen Prozess zurück, den er als ›Paternostereffekt‹ charakterisiert: Während die Lebensentwürfe eines Teils der Mittelschicht (orientiert am Authentischen, Kreativen, Kosmopolitischen, Urbanen) gegenüber den normalisierten Lebensformen aufgewertet wird, werden die Lebensentwürfe einer in etwa gleichgroßen Gruppe geradezu spiegelbildlich abgewertet (mangels Authentizität, Kreativität, Weltgewandtheit, Urbanität). »Der Paternostereffekt der spätmodernen Sozialstruktur ergibt sich aus der Entwicklung des Aufstiegs eines Ressourcenstarken und valorisierten Lebensstils der gestiegenen Ansprüche an das befriedigende und zugleich erfolgreiche ›gute Leben‹ in der neuen Mittelklasse und dem dazu gegenläufigen Abstieg eines ressourcenschwachen, entwerteten Lebensstils in der neuen Unterklasse, der selbst reduzierten Ansprüchen kaum mehr genügt. Während die nivellierte Mittelstandsgesellschaft ihre Verheißung eines kommoden Lebensstils mittlerer Ansprüche für die meisten wahr machen konnte, verspricht der singularistische Lebensstil der Spätmoderne zwar für die gesamte Gesellschaft Vorbildlichkeit und Attraktivität, aber dieses Versprechen kann nicht für alle eingelöst werden.« (Reckwitz 2017a: 285) Triebkraft dieser sozialtektonischen Verschiebungen ist neben der Kulturalisierung und der damit einhergehenden veränderten Bewertungs-, Anerkennungs- und Verortungspraxis eine (hiermit verschränkte) veränderte Verteilung materieller Ressourcen. Für beide Aspekte ist ein veränderter Stellenwert formaler und informeller Bildung verantwortlich: Sowohl institutionalisiertes Kulturkapital (in Form von Bildungsabschlüssen) als auch objektiviertes und inkorporiertes Kulturkapital (in Form der Aneignung singularisierter Dinge, Räume, Ereignisse etc. und in Form habitualisierter Hervorbringungsmöglichkeiten bzw. als ›Singularisierungskompetenz‹) sind entscheidend im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und (Selbst-)Verortung. Entsprechend ist die neue Mittelklasse hochgradig akademisiert, während Angehörige der neuen Unterklasse als ›geringqualifiziert‹ markiert sind. Die neue Mittelklasse ist weder in ökonomischer noch in kultureller Hinsicht homogen. Sowohl die Einkommen als auch die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse können durchaus stark variieren – ähnlich wie auch die Struktur des kulturellen Kapitals. Insofern kann von einer Differenzierung in Submilieus gesprochen werden. »Bei aller Differenz im Detail wird jedoch erkennbar, dass die Submilieus auf abstrakterer Ebene das gleiche kulturelle Muster teilen: es beruht auf den Lebensidealen der Selbstentfaltung, Authentizität, Weltoffenheit, Individualität, Mobilität und ›Lebenskunst‹.« (Reckwitz 2017b: o.S.) Das ›gute Leben‹, auf das ein singularisierter Lebensstil ausgerichtet ist, setzt sich nicht nur aus einzigartigen Reiseerlebnissen und Wohnraumgestaltungen, aus originellem Essen, individuell zugeschnittener Bildung und der
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Arbeit an einem gesunden, attraktiven Körper zusammen, es ist auch von spezifischen Wertehaltungen durchzogen. Diese bedingen nicht zuletzt auch Strategien im Umgang mit sozialen Existenzvoraussetzungen, denn »[j]eder moderne Lebensstil muss auf bestimmte Grundbedingungen sowohl seiner eigenen Reproduktion als auch seiner Relation zur Sozialwelt antworten.« (Reckwitz 2017a: 335). Als zentrale Achsen betrachtet Reckwitz (1) den Stellenwert von Arbeit, Familie und Freizeit, wobei sich diese drei Sphären in der neuen Mittelklasse strukturell angleichen und dabei jeweils Entgrenzung bzw. inhaltliche Deckungsgleichheit erfordern, sodass WorkLife-Balance zum ›paradigmatischen Problem‹ avanciert; (2) das Verhältnis zum sozialen Raum, welches sich als Urbanität mit der hierin eingelagerten Orientierung an singulären Ereignissen, Konsumangeboten, Bildungsmöglichkeiten etc. beschreiben lässt; (3) das Verständnis von Jugend und Altern, welches als Juvenilisierung charakterisiert werden kann, d.h. (moderate) Jugendlichkeit – ein betont körperlicher, aktivistischer Lebensstil, die Orientierung auf Selbstverwirklichung und Weltoffenheit – wird zum anerkannten kulturellen Muster in allen Altersgruppen; (4) den Umgang mit den Geschlechtern, den er für die neue Mittelklasse als Degendering beschreibt, wobei auf einer ersten Ebene Geschlechterneutralität (etwa in beruflicher, erzieherischer, freizeitbezogener Hinsicht) proklamiert wird, auf einer zweiten Ebene dabei jedoch nicht die Auflösung von Geschlechterdifferenzen, sondern vielmehr die Multiplizierung von Geschlechterpraktiken zu beobachten ist; (5) die Haltung zum Politischen, ein neuer Liberalismus, der sich um Meritokratismus, Lebensqualität und Kosmopolitismus zentriert, aber sehr unterschiedliche Ausprägungen – von wirtschafts- bis linksliberal – annehmen kann. (vgl. Reckwitz 2017a: 335ff.) Wie erklärt Reckwitz nun die Singularisierung der Gesellschaft? Als einen wesentlichen Motor des sozialen Wandels macht er die soeben charakterisierte neue, hochqualifizierte Mittelklasse aus – sie bildet das ›Leitmilieu‹ der spätmodernen Gesellschaft. Ihre Orientierung an der Logik der Singularitäten führt Reckwitz nun in historischer Betrachtung auf eine praktische Symbiose zentraler Muster der Romantik und der Bürgerlichkeit zurück: Die in der Romantik gründende spezifische Orientierung am ›guten‹, ästhetisch erfüllenden, authentischen Leben ist von Anfang an Teil der Moderne, war jedoch bis in die organisierte Moderne hinein lediglich in klar umgrenzten, relativ kleinen Milieus anzutreffen. »Die Überführung dieses Authentizitätsprojekts des Lebens in einen dauerhaften Lebensstil bedurfte […] anspruchsvoller Kompetenzen eines angemessenen und geschickten Umgangs mit der postindustriellen Sozialwelt. Diese Fähigkeiten bezieht das spätmoderne Subjekt der neuen Mittelklasse nun größtenteils aus dem bürgerlichen Habitus und dessen Knowhow im Umgang mit den Märkten, der Arbeit, der Bildung und den Kulturgütern. Bürgerliche Statusorientierung und romantische Selbstverwirklichung werden damit zusammengeführt. Die Formel, die das Subjekt der Akademikerklasse zwischen Romantik und Bürgerlichkeit zusammenhält, ist paradox: die erfolgreiche Selbstverwirklichung.« (Reckwitz 2017a: 289) Neben der romantisch-bürgerlichen Praxisorientierung der neuen Mittelklasse identifiziert Reckwitz zwei weitere strukturell bedingende und antreibende Instanzen der Singularisierung: zum einen die Ökonomie in Form einer spezifischen kulturellen Va-
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
riante der Ökonomisierung, zum anderen die Technologie in Form der Digitalisierung. Diese – mit Reckwitz’ Worten – ›machtvollsten gesellschaftlichen Motoren‹, welche bereits die massenhafte Standardisierung und marktliche Strukturierung der organisierten Moderne ermöglichten26 , transformieren sich nun in Infrastrukturen der Singularisierung. Entsprechend lässt sich in beiden Bereichen ein ›struktureller Bruch‹ konstatieren: im ökonomischen Bereich der Umschwung vom Industrie- zum Kulturkapitalismus, im technischen Bereich die digitale Revolution. Die digitale Revolution erlaubt nicht nur die massenhafte Produktion singulärer Güter und entkoppelt somit Technisierung und Standardisierung, mit ihr »wird zugleich erstmals eine Technologie leitend, die den Charakter einer ›Kulturmaschine‹ hat, in der primär kulturelle Elemente – Bilder, Narrationen, Spiele – verfertigt und rezipiert werden« (Reckwitz 2017a: 16). Die Umstellung im ökonomischen Bereich drückt sich zunächst durchaus als Ausdehnung und Radikalisierung des Marktprinzips, auch in vormals wenig ökonomisch strukturierten Feldern der Gesellschaft aus. Allerdings greift Reckwitz die bekannte Ökonomisierungsdiagnose in spezifischer Weise auf und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Singularisierungsthese um (vgl. Reckwitz 2017a: 147ff.; Reckwitz 2018): Ökonomisierung findet in dieser Lesart als ›Kulturökonomisierung‹ statt, als Ausdehnung und Verbreitung von ›Singularitätsmärkten‹ auf denen ›Singularitätsgüter‹ gehandelt werden. Wo Boltanski und Chiapello in der Ästhetisierung und Kulturalisierung des Kapitalismus eine Strategie der Mitarbeiter*innenbindung und Arbeitsorganisation entdecken, sieht Reckwitz zudem ein wirkungsvolles Prinzip zu ungebrochenem Wirtschaftswachstum: In Zeiten gesättigter Märkte, in denen das Versprechen der organisierten Moderne, die Massen mit Produkten zu versorgen, die einem respektablen Lebensstandard entsprechen, weitestgehend eingelöst ist (die berühmte Grundversorgung mit Waschmaschinen, Autos, Kühlschränken, Fernsehern etc.), bietet die Umstellung auf singularisierte Güter einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Stagnation. Die Expansionsmöglichkeiten singularisierter Märkte sind im Gegensatz zu jenen der klassischen Märkte tatsächlich unendlich (eine gesellschaftlich dominante Orientierung am Besonderen vorausgesetzt). Die Besonderheit dieser Rekonstruktion ist, dass die Ökonomisierung im Modus der kapitalistischen Kulturalisierung nun explizit von mehreren Seiten gedacht wird: nicht mehr die wirtschaftliche Logik ist es, die expandiert und dabei in andere soziale Felder intrudiert, vielmehr wird die Ökonomie ihrerseits nach der Logik der Singularitäten umstrukturiert. Reckwitz’ Zeitdiagnose ist (dem expliziten Anspruch nach – vgl. Reckwitz 2017b) eine Gesellschaftstheorie, die ein Deutungsangebot für gegenwärtige praktische Wandelprozesse beinhaltet. Dabei spart er auch nicht die Analyse der zum Teil besorgniserregenden sozialen bzw. praktischen Effekte von Singularisierung, Neuformierung der Klassen und Kulturökonomisierung aus: Die entsprechenden Problematisierungen reichen vom Besonderungs- und Authentizitätsimperativ, der auch als ›systematischer Enttäuschungsgenerator‹ verstanden werden kann, über die sich vergrößernde soziale Ungleichheit bis hin zu politischen Polarisierungen im Gefolge der Kulturalisierung und Singularisierung von Kollektiven, die als Nährboden gegenwärtiger Nationalismen, Fundamentalismen und Populismen verstanden werden können. ›Die Gesellschaft der 26
Hier argumentiert Reckwitz parallel zu Peter Wagner (1995b; vgl. Kapitel 10.1).
13 Praxeologische Gegenwartsdiagnosen als Interpretationen gegenwärtiger Wandlungsprozesse
Singularitäten‹ wird von Reckwitz entsprechend in der Tradition der ›kritischen Analytik‹ verortet (Reckwitz 2017a, 2018), der auch die übrigen praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen zuzurechnen sind.
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14 Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen als analytisches Netzwerk der Rekonstruktion sozialen Wandels
Abschließend sollen in diesem Teil der Arbeit die Besonderheiten praxistheoretischer Gegenwartsanalysen herausgearbeitet und als Ausdruck einer praxistheoretischen Grundhaltung dargestellt werden, die sich für die Erforschung sozialen Wandels als fruchtbar erweist. Die Eigenheit praxistheoretischer Forschung liegt in ihren relationalen erkenntnistheoretischen und sozialontologischen Prämissen, die es ermöglichen, unterschiedliche Forschungsbeiträge zu sozialen Wandlungsprozessen auf der Grundlage eines geteilten basistheoretischen Analyseinstrumentariums (lose) aneinander zu koppeln ohne eine Konvergenz der Perspektiven zu erzwingen. Dies möchte ich im Folgenden näher erläutern und daran anschließend auf die theoretischen Bedingungen eingehen, die eine lose Verkopplung praxeologischer Gegenwartsanalysen ermöglichen. Schließlich soll der Effekt der explizierten Konstitution praxistheoretischer Wandelforschung anhand der drei von Wagner und Bauman hervorgehobenen Wandelaspekte ›Wandel gesellschaftlicher Allokations- und Integrationsprinzipien‹, ›Kontingenzsteigerung‹ und ›Individualisierung‹ verdeutlicht werden.
14.1
Von der modernisierungstheoretischen Konvergenz zur praxistheoretischen Vernetztheit analytischer Perspektiven
Zur genaueren Klärung der unübersichtlichen Lage auf dem Feld der Gegenwartsdiagnosen nimmt Walter Reese-Schäfer (1999) eine Zusammenschau höchst heterogener Zeitdiagnosen1 vor und stellt dabei eine ›seltsame Konvergenz‹ der Analysen fest: Der Richtungswechsel des sozialen Wandels lässt sich demzufolge Ansatz übergreifend charakterisieren als Wandel hin zu einer Dienstleistungs- und Industriegesellschaft, mit
1
Die von Reese-Schäfer (1999) einbezogenen Zeitdiagnosen stammen von Lyotard, Etzioni, Inglehart, Beck, Beck/Giddens, Schulze, Gross, Albrow, Häußermann/Siebel, Wagner, Elias, Eisenstadt, Fukuyama, den Vertretern des Postfordismus, Bell, Touraine und Jencks.
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
dem ein Rückgang des Glaubens an Wissenschaft, Technologie und Rationalität verbunden ist; die Strukturen der neuen Gesellschaftsform stellen sich als netzwerkartige Kooperationen dar, Organisationen werden verschlankt, die Industrie- und Arbeitswelt orientiert sich auf flexible just-in-time-Produktion, flache Hierarchien und interessante und sinnvolle Arbeit; statt der Familie steht vermehrt die Partnerschaft im Fokus der Lebensführung, gesellschaftlich verbreitete Werte sind auf Wohlbefinden, individuelle Autonomie, Diversität und Selbstexpression ausgerichtet (Reese-Schäfer 1999: 437f.). Die zeitdiagnostische Konvergenz ist zunächst nicht überraschend, da sich ReeseSchäfer auf einem vorwiegend deskriptiven Niveau bewegt und auf dieser Ebene vor allem aufzeigt, dass die Analytiker*innen die gegenwärtigen Zustände in ähnlicher Weise wahrnehmen. Gleichzeitig nimmt er bei seiner Zusammenschau eine (Um-)Deutung in Form einer (impliziten) modernisierungstheoretischen Relektüre vor: Relativ ungebrochen wird eine allgemein rationale (im Sinne einer funktionalistischen) Grundlogik des sozialen Wandels angenommen und damit zugleich der Wertewandel von der konstitutiven Basisstruktur sozialen Zusammenlebens entkoppelt. Die besonders deutlich wahrnehmbare Transformation von Werten und Lebensstilen vermag die grundsätzliche Funktionslogik moderner Gesellschaften nicht aus den Angeln zu heben. Zur Begründung des Epochenwechsels führt Reese-Schäfer entsprechend aus, dass »[d]ie traditionellen Organisationsformen der Industriegesellschaft […] die Grenzen ihrer Effektivität erreicht« hätten (Reese-Schäfer 1999: 439). Die Kosten der Bürokratie und rigider sozialer Normen (Einschränkung von Individualität und Autonomie) seien zu hoch gewesen, als dass sie in Zeiten des Wohlstandes weiter hätten aufrechterhalten werden können. Dieses Modell kann sich jedoch nur in (Teil-)Gesellschaften realisieren, die sich bereits auf einer entsprechenden Entwicklungsstufe befinden: »[D]er Verfall […] enger Normen und der diese tragenden hierarchisch-bürokratischen Institutionen ist charakteristisch für alle postmodernen Gesellschaften. Diese scheinen nur dann einigermaßen funktionieren zu können, wenn eine starke sozietale Selbstorganisationsbasis und Selbststeuerungskapazität vorhanden ist. Dort wo entsprechende Elemente der Zivilität, der Zivilgesellschaft fehlen, wie z.B. in vielen Bereichen des heutigen Rußlands oder in amerikanischen Ghettos, führen diese Entwicklungen nicht in die Postmodernität, sondern in die Anomie.« (Reese-Schäfer 1999: 439) Wenn eine Gesellschaft gereift ist und prosperiert – so könnte die Diagnose zusammengefasst werden –, kann sie ihre Mitglieder die funktionalen Bedingungen ihrer Existenz (bürokratische Steuerung, rationale Ökonomie, Effizienzorientierung) vergessen lassen und kann ihnen ein gewisses Maß an postmoderner Selbstentfaltung gönnen. In schlechten Zeiten wird diese Basis allerdings wieder sichtbar: Dann werden postmaterialistische zugunsten materialistischer Orientierungen zurückgedrängt, beispielsweise wird »der Wert der Arbeitsplätze wieder höher eingestuft […] als der des Umweltschutzes« (Reese-Schäfer 1999: 439); die Postmodernisierung schreitet voran – »jedenfalls, solange es Wirtschaftswachstum gibt« (Reese-Schäfer 1999: 439). Die verblüffende Konkordanz der zum Teil hochgradig divergenten Gegenwartsanalysen, wird durch die Unterstellung einer strukturfunktionalen Logik erzeugt, welche die disparaten Diagnosen zu Lieferantinnen empirischer Beschreibungen
14 Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen als analytisches Netzwerk der Rekonstruktion
aus unterschiedlichen Perspektiven und mit divergenten Schwerpunkten umwidmet. Die Voraussetzung vitaler struktureller Funktionen entspricht der Rationalität einer modernisierungstheoretischen Perspektive – allerdings nicht so sehr den sozialtheoretischen Positionen Lyotards oder Wagners, deren Gegenwartsanalysen vom Autor relativ umstandslos integriert werden. Reese-Schäfers synthetisierende Wandelanalyse ist nur durch eine Relektüre vor dem Hintergrund einer einheitlichen theoretischen Basis möglich, welche die wissenschaftstheoretischen und konzeptionellen Prämissen einiger der einbezogenen Arbeiten ignoriert. Auf diese Weise fügen sich die Gegenwartsbeschreibungen zu einem Gesamtbild, welches durch eine allgemeine Funktionslogik moderner Gesellschaften und sozialen Wandels erklärt werden kann. Die ›seltsame Konvergenz der Zeitdiagnosen‹ entsteht also nicht zuletzt im Auge des modernisierungstheoretisch orientierten Betrachters. Wie aber verhält es sich mit der Zusammenschau praxistheoretischer Gegenwartsanalysen? Sie teilen von vornherein gemeinsame sozialtheoretische Grundannahmen, müssen also nicht erst in einen vereinheitlichenden theoretischen Rahmen gezwungen werden, basieren aber eben nicht auf der Idee einer universalen Logik, die Gesellschaften organisiert und sozialen Wandel steuert. Vielmehr unterstellen sie, dass der umfangreiche Wandel von Sozialität gerade in der Transformation transversal wirksamer praktischer Logiken besteht. Während modernisierungstheoretisch fundierte Gegenwartsdiagnosen also aufgrund ihrer objektivistischen Ausrichtung auf verschiedenen Ebenen theoretische und analytische Homogenisierungen, Schließungen und Totalisierungen generieren, sind Gegenwartsdiagnosen praxistheoretischer Provenienz aufgrund ihrer sozialkonstruktivistischen Anlage an theoretischer und analytischer Öffnung interessiert. Der Unterschied lässt sich an einem Vergleich der ›Risikodiagnosen‹ von Ulrich Beck und François Ewald verdeutlichen, den Lemke (2000) herausgearbeitet hat. Die objektivistische Herangehensweise Becks ebnet in verschiedener Hinsicht soziale Differenzen ein: Er geht von (in allgemeinem Verständnis) rational handelnden Akteuren aus, die sich einem objektiven Anstieg anthropogener Risikofaktoren gegenübersehen. Waren Risiken zu Zeiten der Industriegesellschaft noch mehr oder weniger kalkulierbar, sind sie nun – in der Risikogesellschaft – weitestgehend unberechenbar geworden. Zudem folgen sie nicht mehr klassischen Ungleichheitsstrukturen, sondern betreffen alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen, haben also einen nivellierenden Effekt. Becks Zeitdiagnose basiert nun »auf der Vorstellung eines universalen und homogenen Risikobegriffs«, dem zudem »ein prinzipieller Realismus an[haftet]« (Lemke 2000: 35) – es ist aus dieser Perspektive eine objektive empirische Tatsache, dass Risikofaktoren sprunghaft angestiegen sind und für alle Gesellschaftsmitglieder die gleiche universelle Gefahrenlage bedeuten. Die Diagnose von Ewald ist demgegenüber gänzlich anders gelagert: Er rekonstruiert Risiko als ein sich ausweitendes Dispositiv, das über Techniken der Statistik und Stochastik, bestimmte Denk- und Wahrnehmungsstrukturen privilegiert, die eben keine ›egalisierende Wirkung‹ entfalten: »Ewald zufolge liegen die Risiken weniger in der allgemeinen Natur technologischer Bedrohungspotentiale, vielmehr repräsentieren sie eine spezifische Art des gesell-
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
schaftlichen Denkens über Ereignisse bzw. sie definieren ein differenzielles Kalkül der Gefahren, das die Unterscheidung von ›gefährdeten‹ bzw. ›gefährlichen‹ Individuen und Klassen erlaubt. Während für Beck das Risiko direkt aus der industriell-gesellschaftlichen Realität folgt, ist es für Ewald eine Rationalität, eine Art des Denkens über die Realität und der Versuch, sie vorhersehbar und beherrschbar zu machen. Deshalb ergibt für Ewald anders als für Beck die Unterscheidung zwischen kalkulierbaren und unkalkulierbaren Risiken keinen Sinn. Für Ewald ist die Versicherungsrationalität ein Konzept zur ›sozialen Steuerung von Kontingenz‹ (Makropoulos) und eine Form der Regierung der Ereignisse: eine politische Rationalität. Aus diesem Grund kann prinzipiell alles als ein Risiko behandelt werden; mehr noch: das strategische Ziel des Versicherungskalküls besteht gerade darin, Risiken zu ›produzieren‹, Wege zu finden, um das zu versichern, was zuvor als unversicherbar – und damit als unregierbar – galt.« (Lemke 2000: 35) Risiko existiert also aus dieser Perspektive nicht als natürliches bzw. substanzielles Phänomen, sondern wird in spezifischer Weise praktisch hegestellt. Selbstverständlich sind an der Risikoproduktion auch Materialitäten, Ereignisse, Zustände der Versehrtheit usw. beteiligt, sie stellen jedoch keine ›natürlichen‹ Risiken (oder Risikofolgen) dar, sondern müssen als solche erst sozial konstruiert werden. Dabei wird Risiko in sehr unterschiedlicher Weise in den verschiedensten Kontexten und mit durchaus divergierenden Effekten für betreffende Akteursgruppen fabriziert. Als Dispositiv verstanden, ist es eine transversal wirksame Denk- und Wahrnehmungskategorie, die beteiligt ist an der machtvollen Ordnung der Gesellschaft und mithin an der Gestaltung gegenwärtiger Sozialität. Zwischen Beck und Ewald verschiebt sich der Analysefokus also »von der Frage der Gefahrenverteilung zu dem Problem der Risikoproduktion. Mit anderen Worten: Im Unterschied zu Beck geht es für Ewald weniger um die Macht der Technologien als um die Technologien der Macht.« (Lemke 2000: 36) Beck knüpft den gesamten von ihm beschriebenen ›Gestaltwandel‹ der Gesellschaft an die nun vordringliche Wahrnehmung, Problematisierung und Bearbeitung moderner ›Selbstbedrohungspotenziale‹: Einerseits bergen »Modernisierungsrisiken und -folgen […] eine Globalisierungstendenz, die Produktion und Reproduktion ebenso übergreift wie nationalstaatliche Grenzen unterläuft und in diesem Sinne übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungen mit neuartiger sozialer und politischer Dynamik entstehen läßt« (Beck 1986: 17f., H.i.O.); andererseits gerät »[d]as Koordinationssystem, indem das Leben und Denken in der industriellen Moderne befestigt ist – die Achsen von Familie und Beruf, der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt –, ins Wanken, und es entsteht ein neues Zwielicht von Chancen und Risiken – eben die Konturen der Risikogesellschaft.« (Beck 1986: 20) In der ›entwickelten Moderne‹, welche die Probleme der Mangelgesellschaft hinter sich lassen konnte, verschiebt sich also die gesamtgesellschaftliche Ordnungs-, Verteilungs- und auch Alltagslogik von einer ›Logik der Reichtumsverteilung‹ hin zu einer ›Logik der Risikoverteilung‹. Sämtliche Wandelprozesse von gesamtgesellschaftlicher Relevanz lassen sich mit Beck also auf die Grundproblematik der (Neu-)Verteilung substanzieller Risiken zurückführen – sie konvergieren kausallogisch in der Risikoproblematik.
14 Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen als analytisches Netzwerk der Rekonstruktion
Ewalds Perspektive hingegen geht von sozial produzierten und nicht von natürlich induzierten Logiken aus. ›Risiko‹ bzw. ›Versicherung‹ implizieren eine spezifische Wissensordnung, die wirkmächtig genug ist, weitreichende Komplexe sozialer Praxis zu strukturieren: »It is the practice of a certain type of rationality […]. [I]t constitutes a certain type of objectivity, giving certain familiar events a kind of reality which alters their nature.« (Ewald 1991: 199f.) Als praktische Logik ist ›Versicherung‹ geeignet, sämtliche Situationen, Kontexte und Handlungen im Lichte dieser spezifischen Rationalität zu verstehen: »Insurance through the category of risk, objectifies every event as an accident. Insurance’s general model is the game of chance: a risk, an accident comes up like a roulette number, a card pulled out of the pack. With insurance, gaming becomes a symbol of the world.« (Ewald 1991: 199) Dennoch handelt es sich weder um eine objektiv aus den natürlichen Bedingungen der Gesellschaft abzuleitende noch um eine alleinherrschende Logik sozialer Praxis. Sie konkurriert, interferiert und verbindet sich mit anderen, zugleich wirksamen, praktischen Logiken. Allerdings schätzt Ewald die Wirkmacht der Versicherungslogik hoch ein und spricht ihr daher mit Blick auf die praktische Konstitution von Gesellschaften ein ausgeprägtes Wandelpotenzial zu: »Insurance is the practice of a type of rationality potentially capable of transforming the life of individuals and that of a population.« (Ewald 1991: 200, H.J.E.) Praxistheoretisch informierte Gegenwartsdiagnosen schöpfen ihr analytisches Potenzial nicht nur aus der Rekonstruktion spezifischer Logiken sozialen Wandels, sie können auf Basis ihrer sozialtheoretischen Grundannahmen auch Verbindungslinien zu anderen praktischen Logiken ziehen und Wandel auch als Resultat der Verschränkungen und Kämpfe zwischen unterschiedlichen Logiken begreifen. Wandel ist damit nicht durch die Konvergenz unterschiedlicher, lediglich disparat wirkender sozialer Novitäten in einem wandelbestimmenden Grundprinzip gekennzeichnet, vielmehr wird er als Verflechtung verschiedener praktischer Transformationen sichtbar, bei der ganz unterschiedliche Veränderungen entweder einer gemeinsamen Logik entsprechen, verschiedenen Logiken folgen oder aus der Interferenz dieser Logiken erwachsen können. Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen bilden dann ein Analysenetz, in dem unterschiedliche Logiken rekonstruktiv verfolgt werden, die sich in sozialer Praxis treffen und in den jeweiligen analytischen Räumen überlagern.
14.2
Die spezifische Konstitution praxistheoretischer Gegenwartsdiagnosen
Die Vorgehensweise praxistheoretischer Forschungsansätze führt zu einer spezifischen Form der Gegenwartsanalyse, die nicht nur die Wandelforschung der Komplexität und historischen Gebundenheit ihres Gegenstandes anpasst, sondern durch ihre theoriekonstitutive Konzentration auf Praxis – und das heißt: auch auf praktische Ambivalenzen, Konflikte und Interferenzen – facettenreiche Heuristiken für die Analyse des Wandels konkreter Praxiskomplexe bereitstellt. Dies liegt 1) an der kulturtheoretischen Basis der betreffenden Gegenwartsdiagnosen, sowie der damit einhergehenden besonderen Differenzlogik, mit der Praxis in den Blick genommen wird, 2) am aus beiden Aspekten resultierenden qualitativ-empirisch orientierten Forschungszugang und 3) dem
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Forschungsprogramm einer ›kritischen Analytik‹ sowie schließlich 4) an einem sozialkonstruktivistischen Wissenschaftsverständnis, welches die gesamte Forschungspraxis umspannt.
Kulturtheoretische Basis und Differenzlogik Die kulturtheoretische Basis der praxistheoretischen Gegenwartsanalysen steht einer universalen Logik, die Gesellschaftsstrukturen und mithin auch Wandelprozesse determiniert, entgegen: Jene Strukturen, die das Soziale sinnhaft ordnen, gelten stattdessen als kontingent, also als in historisch und räumlich spezifischer Form sozial produziert. In praxistheoretischen Gegenwartsanalysen rückt daher der Wandel eben jener praxisordnenden Logiken ins Zentrum der Analyse, die von den Modernisierungstheorien als statischer Bezugshorizont der Wandelforschung vorausgesetzt werden. Diesen Logiken wird mithilfe unterschiedlicher Analysekonzepte nachgespürt. Aber auch wenn in der einen Analyse ›Rechtfertigungsregime‹, in der anderen ›Dispositive‹ und in der nächsten ›Lebensformen‹ die Rekonstruktion anleiten, geht es im Kern doch immer um die praktische Produktion bestimmter logischer Ordnungen und die praxisstrukturierende Wirkung dieser Ordnungen. Da praktische Logiken ob ihrer kulturellen Beschaffenheit als grundsätzlich kontingent gelten müssen, stellt sich insbesondere aus wandelanalytischer Perspektive die Frage nach ihrem Zustandekommen. Zwei analytische Dimensionen praxistheoretischer Zeitdiagnosen eignen sich zur Bearbeitung dieses Problems: Einerseits beinhalten sie oft eine historisch-analytische Komponente, andererseits eine machtanalytische Perspektive. Letztere verweist nicht nur auf die Rekonstruktion machtvoller Relationen im Rahmen der fokussierten Logik (z.B. die ungleiche Wirkung von Prekarisierung oder Ästhetisierung), sondern auch auf das Herausarbeiten jener Techniken, Institutionen und Sinnstrukturen, die diese Relationen praktisch produzieren. Hierzu zählen die Technologien des (Selbst-)Regierens, die von den Governmentality Studies erforscht werden, aber auch die von Boltanski und Chiapello analysierten ›cités‹, die von Bourdieu rekonstruierte neoliberale Soziodizee oder die Werteordnung der Kultursphäre, die Reckwitz untersucht. Damit wird auch die Bandbreite der machtanalytischen Vorgehensweisen und ihre reichhaltigen Anknüpfungsmöglichkeiten für die Rekonstruktion sozialen Wandels deutlich: Die unterschiedlichen Konzepte lenken den Blick sowohl auf machtrelationale Verschiebungen als auch auf Technologien die diese Verschiebungen ermöglichen und schließlich auch auf Sinnstrukturen, die diese legitimieren und rechtfertigen. Die historisierende Analyseperspektive wiederum ist weit mehr als eine bloße Vergleichsfolie für gegenwärtige Zustände. Vielmehr werden die Entstehungsbedingungen, d.h. die historischen Konstellationen, die einer Logik zu transversaler Wirkmacht verhelfen, in den Blick genommen. Nicht zuletzt diese Rekonstruktionsleistung verschafft der praxistheoretischen Gegenwartsdiagnose analytische Tiefe und Differenziertheit: So ist Ökonomisierung aus Foucault’scher Perspektive eben nicht einfach als eine in den letzten Jahrzehnten voranschreitende Ausweitung wirtschaftsrationaler Praktiken auf nicht-wirtschaftliche Gesellschaftsbereiche zu begreifen, sondern vielmehr als eine sich über Jahrhunderte herausgebildete spezifische Re-
14 Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen als analytisches Netzwerk der Rekonstruktion
gierungsform, die nicht zuletzt auch die Ökonomie selbst grundlegend wandelt und die sich nur unter der Voraussetzung ganz spezifischer, vornehmlich politischer Wissensformen und Technologien herstellen konnte. Eine solchermaßen angelegte historische Perspektive bedingt eine bestimmte Vorstellung von Kontinuität und Diskontinuität: Überkommene Sinn- und Ordnungsstrukturen lösen sich – etwa im Zuge der Krise der organisierten Moderne – nicht einfach in Luft auf. Die ›Diskontinuität‹, die als wahrnehmbare gesellschaftliche Veränderung in Erscheinung tritt und oft den Ausgangspunkt einer Gegenwartsanalyse bildet, bezeichnet also weniger das Ersetzen praktischer Logiken, sondern bezieht sich eher auf deren Wirkmacht bzw. Hegemonien. Besonders deutlich wird dies von Reckwitz thematisiert: Er spricht von relationalen Verschiebungen zwischen zentralen Modernestrukturen, die sich in der Privilegierung der Logik des Besonderen gegenüber der Logik des Allgemeinen ausdrücken. Dies heißt nicht, dass die Logik des Allgemeinen vollständig verdrängt wird oder wirkungslos wird. Es heißt aber auch nicht (dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt der praxistheoretischen Gegenwartsanalyse), dass die vormals hegemoniale Logik nach den gleichen Mustern, nur eben nicht mehr als hegemoniale Struktur, weiter produziert wird. Relationale Verschiebung bedeutet zugleich die Veränderungen der praktischen Konstitution der jeweiligen Relata. Dessen unbenommen gehen praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen jedoch davon aus, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt verschiedene, historisch zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Logiken wirksam sein können. Dies führt zu einem weiteren zentralen Aspekt: Die kulturtheoretische Perspektive ist eine auf Vielfalt basierende Perspektive. Vorausgesetzt wird ganz grundsätzlich das Zugleichwirken unterschiedlicher Logiken in einem gemeinsamen Praxisvollzug (die Unterscheidung ist daher eine analytische). Oft widmen sich die Forscher*innen gerade der Verkopplung verschiedener Logiken: Boltanski und Chiapello verweisen etwa auf das praktische Zusammenwirken einer kapitalistischen Logik der Akkumulation mit der Netzwerklogik moderner Sozialität und Reckwitz arbeitet die verschränkte Produktion von Kreativitätsdispositiv, Ökonomisierung, Medialisierung und Rationalisierung heraus. Dies läuft nicht etwa auf Konvergenz, sondern auf die Rekonstruktion von Hybridisierungen und Transformationen hinaus, die ihrerseits wiederum auf sehr unterschiedliche praktische Hervorbringungsmodi verweisen. Das heißt, Vielfalt ist hier auch im Sinne einer Diversität der Produktion praktischer Logiken zu verstehen – die Governmentality Studies stellen dies mit Verweis auf mannigfaltige Mikrotechniken, Hervorbringungskontexte und Anrufungsformen heraus. Schließlich wird Vielfalt auch hinsichtlich der praktischen Wirkungsweisen transversaler Logiken in den Blick genommen: Besonders deutlich zeigt sich dies in Bourdieus multiperspektivischen Analyse der neoliberalen Logik, wie auch in den Arbeiten der Prekarisierungsforschung, die Prekarisierung als milieu- aber auch geschlechterstrukturell höchst unterschiedlich wirkenden und verlaufenden Prozess rekonstruiert. Die Ansätze setzen zwar unterschiedliche analytische Schwerpunkte: Mal steht die Vielfalt der Logiken, mal die Vielfalt der Hervorbringungsformen, mal die Vielfalt der Wirkungsweisen im Zentrum. Die drei Aspekte stehen jedoch in einer Wechselbeziehung und finden daher auch in den meisten Analysen auf die ein oder andere Weise Beachtung: So arbeitet Bourdieu in ›Das Elend der Welt‹ vor allem die verschiedenen Wirkungs-
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
weisen der neoliberalen Logik heraus, verweist aber dabei auch auf deren diverse Produktionsmodi und rekonstruiert Konflikte, die gerade in der Interferenz divergierender Logiken entstehen. Grundsätzlich geht mit der kulturtheoretischen Ausrichtung auf Vielfalt eine Differenzlogik einher: Im Gegensatz zur Konvergenzthese wird von praxistheoretischen Gegenwartsanalysen gerade eine logische, modale und wirkungsbezogene Diversität sozialer Praxis konstitutiv vorausgesetzt und damit auch Ambivalenzen, Polysemien, Antinomien und Konkurrenzen. So werden nicht zuletzt auch die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit gegenwärtiger Sozialität erkannt, anerkannt und konzeptionell aufgegriffen, ohne jedoch analytische Beliebigkeit zu erlauben. Allerdings wird analytische Stringenz nicht entlang einer Zentralstruktur hergestellt, die in allen Gesellschaftsbereichen Regie führt, sondern über das Rekonstruieren von Homologien erarbeitet. Transversale Logiken (re-)produzieren sich dezentral im Praxisgeschehen, und somit liegt in den Gemeinsamkeiten und Differenzen sozialer Praxis der Schlüssel zu ihrer Rekonstruktion.
Rekonstruktive Forschungslogik Im Gegensatz zum gängigen Vorwurf, Zeitdiagnosen fehle es oft an einer systematischen Empirie, was ihren spekulativen Charakter verstärke, nimmt der empirische Zugang im Rahmen praxistheoretischer Arbeiten einen zentralen Stellenwert ein. Bourdieu, die Prekarisierungsforschung, Boltanski und Chiapello strengten jeweils großangelegte empirische Untersuchungen an, im Bereich der Governmentality Studies und für ›Die Erfindung der Kreativität‹ werden diskursanalytische und genealogische Zugänge genutzt und selbst ›Die Gesellschaft der Singularitäten‹, die keine originäre Empirie aufweist, wird von Reckwitz als ›empirische Gesellschaftstheorie‹ verstanden: »An einem theoretischen ›Flug über den Wolken‹, der die Realität der sozialen Praxis nurmehr aus größter Höhe und mit wenig Auflösungsvermögen wahrnimmt, habe ich kein Interesse. Daher ziehen die Kapitel des Buches die reichhaltige empirische Forschungsliteratur für die einzelnen Felder heran, auf denen aufbauend die Untersuchung erst möglich ist.« (Reckwitz 2017b: o.S.) Die Gründe für die starke empirische Orientierung liegen auf der Hand, denn für praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen (und Gesellschaftstheorien) ist der intellektualistische ›Flug über den Wolken‹ nicht nur uninteressant, sondern auch unmöglich: Das zurückweisen gesellschaftlicher Universalstrukturen und die Prämisse sozialer Kontingenz machen eine empirische Generierung von Aussagen über die Gegenwartsgesellschaft unverzichtbar. Aufgrund des Interesses an Differenzen bzw. an Homologien in Differenzen, sowie an Deutungsmustern, die historisch spezifische logische Zusammenhänge aufweisen, folgen praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen einer in erster Linie nicht-standardisierten, qualitativen Forschungslogik. Dies hängt auch mit der theoretischen Konzeption der zu analysierenden transversalen Logiken zusammen: Da diese der sozialen Praxis nicht vorgelagert sind, sondern erst durch sie hervorgebracht werden (in ambivalenter, unscharfer Form), sind sie nicht als Fixpunkte zu verstehen, von denen aus die Situation der Gesellschaft deduktiv erschlossen werden könnte. Das empirische Interesse der praxistheoretischen Gegenwartsanalysen gilt der konkreten praktischen Hervorbringung, die freilich transversale Muster aufweist und Institutionen genauso zur
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Bedingung hat wie habituelle Dispositionen, Feldregeln oder kulturelle Gefüge. Auch die flache Ontologie, mit der eine Hierarchisierung der praxisbedingenden Strukturen im Sinne eines Ebenen-Modells zurückgewiesen wird, findet ihre Entsprechung im empirischen Vorgehen. Deutlich wird dies vor allem in den genutzten Analysekonzepten: Dispositiv, Cité, Regime, Technologie, Feld, aber auch Habitus und selbstverständlich praktische Logik lassen sich keiner sozialen Mikro-, Meso- oder Makroebene zuordnen, sondern setzen sich analytisch aus Strukturen zusammen, die quer durch Dinge, Akteure, Institutionen, Handlungen, Denkweisen und Gesellschaften verlaufen. Auch der häufig vorzufindende Methodenmix (besonders deutlich bei Bourdieu, Boltanski und Chiapello, sowie im Rahmen der Prekarisierungsforschung) steuert keineswegs unterschiedliche soziale ›Ebenen‹ an, sondern eröffnet vielmehr unterschiedliche Zugänge zu Praxiskomplexen, anhand derer strukturelle Homologien deutlicher hervortreten – etwa die Herausarbeitung der diskursiven Bearbeitung eines Themas durch Dokumentenanalysen oder die Rekonstruktion indirekt artikulierter Sinnhorizonte durch narrative Interviews. Auch ist eine qualitative Forschungslogik besonders geeignet, den Ambivalenzen, Differenzen und Interferenzen in der Hervorbringung praktischer Logiken nachzuspüren. Allerdings stellt dies zugleich eine der zentralen Herausforderungen der praxistheoretischen Gegenwartsdiagnose dar, die analytisch wie argumentativ zwischen der unscharfen und oft konfliktiven Hervorbringung transversaler Logiken und deren stringenter analytischer Synthetisierung vermitteln müssen. Dieser Punkt entpuppt sich als schwer auflösbare Antinomie und entsprechend scheinen die Ansätze entweder dem einen oder dem anderen Aspekt näher zu stehen: Bourdieu und die Prekarisierungsforschung etwa zeigen facettenreich die divergenten Hervorbrigungs- und Wirkungsweisen des Neoliberalismus bzw. der Prekarität auf, die Konstitution entsprechender transversaler Logiken bleibt jedoch teilweise vage. Dem gegenüber tendieren die Governmentality Studies – wie bereits Lemke kritisiert – oft zu einer glatten, konfliktfreien Rekonstruktion der Durchsetzung neoliberaler Regierungslogiken und Knöbl konstatiert sogar etwas überspitzt, dass »die Sondierungen, die Reckwitz auf den unterschiedlichen Feldern der Singularisierungspraktiken unternimmt alles andere als konflikttheoretisch inspiriert [sind], vielmehr entsteht ein Bild, das bei all den Evidenzen, die Reckwitz‘ Beschreibungen durchaus anbieten, so ähnlich auch von einem klassischen Modernisierungstheoretiker hätte gezeichnet werden können« (Knöbl 2017: o.S.). Allerdings darf bei aller Kritik die Herausarbeitung homologer Praxisstrukturen und die Kondensierung hierin eingelagerter transversaler Logiken nicht mit der Unterstellung einer universalen Gesellschaftsstruktur verwechselt werden. Die analytisch abstrahierte Logik bleibt ein Modus sozialer Praxis, bleibt also eine »auf Ziele hin orientierte und sich durch kontinuierliche Reflexion regulierende ›Weise des Tuns‹« (Foucault 2006a: 436). Als solche ist sie zweierlei: eine unscharfe, in Praxis entstehende, zugleich Praxis organisierende und dabei ganz unterschiedliche Formen annehmende, Konflikte produzierende, mit anderen Strukturen interferierende Struktur und eine Homologie, die eine logische Verbindung zwischen ganz unterschiedlichen Praxiskomplexen herstellt und der Struktur erst ihren strukturellen Charakter verleiht.
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Kritische Analytik Für die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen ist zudem eine kritisch-reflexive Grundhaltung kennzeichnend, die den Ort der wissenschaftlichen Beobachtung sozial kontextualisiert. Damit ist nicht gemeint, dass durch kritische Reflexion ›Verzerrungen‹ ausgeräumt würden, die durch den sozialen Standpunkt der Forscher*innen – im sozialen Raum und im wissenschaftlichen Feld – sowie durch die verwendeten Analysemethoden entstehen: »Denn der positivistische Traum von der perfekten epistemologischen Unschuld verschleiert die Tatsache, daß der wesentliche Unterschied nicht zwischen einer Wissenschaft, die eine Konstruktion vollzieht und einer, die das nicht tut, besteht, sondern zwischen einer, die es tut ohne es zu wissen, und einer, die darum weiß und sich deshalb bemüht, ihre unvermeidbaren Konstruktionsakte und die Effekte, die diese ebenso unvermeidbar hervorbringen, möglichst umfassend zu kennen und zu kontrollieren.« (Bourdieu 1997b: 781) Strategien einer solchermaßen kontrollierten Forschung liegen gerade im Aufzeigen von Differenzen, Interferenzen und unterschiedlichen Standpunkten, in der historischen Kontextualisierung, aber auch im bewussten Einsatz von Analysekategorien, die die wissenschaftliche Konstruktion sichtbar machen, die also ›Risiko‹ nicht naturalisieren, sondern als ›Risikodispositiv‹ rekonstruieren und damit zugleich auf die Rekonstruktionsleistung verweisen. Auf der anderen Seite bedeutet eine kritische-reflexive Analysehaltung im praxistheoretischen Sinne aber auch das Abstandnehmen von einer ›Tonband-Soziologie‹, die das Individuelle, Unmittelbare als das Wahrhaftige präsentiert; denn sie übersieht dabei die soziale Strukturiertheit und mithin die systematische Produktion von Denkstrukturen und Handlungsorientierungen, aber auch von Leiden und Ungleichheiten. »Entgegen der Illusion, man könne durch das Ausschalten des Beobachters Neutralität erzeugen, gilt es also paradoxerweise einzugestehen, daß alles ›Spontane‹ konstruiert ist, aber in einer realistischen Konstruktion.« (Bourdieu 1997b: 793, H.i.O.) Die kritische Analyse zielt also auf verborgene Strukturen, die den Akteuren kaum oder gar nicht bewusst sind, die sich in der soziologischen Analyse jedoch als Regelmäßigkeiten zeigen. Sie richtet sich auch auf das, was in Diskursen unsagbar ist, auf Strategien, soziale Kontingenz unsichtbar zu machen und auf Ungleichheit erzeugende Praxismuster. Sie ist also eine machtkritische Analyse und betreibt soziologische Entmystifizierung (Reckwitz 2018). Dabei grenzt sich die kritische Analytik der praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen nicht nur von einem positivistischen Wissenschaftsverständnis ab, sie unterscheidet sich auch von einer ›Kritischen Theorie‹, etwa im Sinne der Frankfurter Schule, insofern sie keinen in aufklärerischer Tradition transzendierten normativen Standpunkt als Bezugspunkt der Kritik wählt. Dies bedeutet keineswegs, dass die Forscher*innen normative Enthaltsamkeit für sich beanspruchen würden – im Gegenteil: Sie äußern teilweise sehr deutlich ihre Besorgnis und ihr Ungerechtigkeitsempfinden angesichts der analysierten Zustände. Die Basis dieser Kritik ist jedoch eine empirische: Sie speist sich aus der ambivalenten Wirkung gegenwärtiger Sozialität und zeigt, dass etwa autonomes Arbeiten und berufliche Selbstentfaltung gegenwärtig
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mit massiven strukturellen Entsicherungen und bedrückenden Verantwortungsverlagerungen einhergehen oder dass der Wille zum kreativen Selbstausdruck mit einem ebensolchen Zwang verkoppelt ist, der in Erschöpfung und Unzulänglichkeitsempfindungen münden kann2 . Und sie weisen vor allem auf Basis ihrer empirischen Analysen auf die ungleichen Wirkungen der Entwicklungen hin, die keineswegs individualisiert werden können, sondern strukturell erzeugt sind. So macht die praxistheoretische kritische Analytik sichtbar, dass Aspekte moderner Gesellschaftlichkeit, die als positiv wahrgenommen werden, und solche, die als negativ erscheinen, derselben Praxis entspringen. Erstaunlicherweise lässt sich trotz bzw. gerade wegen der analytischen Ausrichtung auf Vielfalt, praktische Unschärfen und Ambivalenzen eine besonders differenzierte Aufschlüsselung der hierin eingelagerten Konflikte, ungleichen Wirkungen und Ungleichheit erzeugenden Mechanismen realisieren. Daher richtet sich Reckwitz’ gegenwartsdiagnostischer Anspruch nicht nur auf die Rekonstruktion der Singularisierung der Gesellschaft, sondern er verweist zudem darauf, dass sich »[d]ie Spannungen und Widersprüche, die sich daraus ergeben, […] präzise identifizieren [lassen]: für das Feld der Arbeit, der Medien, der Lebensstile und der Politik« (Reckwitz 2018: o.S.). Gerade durch die differenzierte Betrachtung unterschiedlicher sozialer Gruppen und Lebensformen, durch die Fokussierung von Praxis und ihrer spezifischen Kontexte, sowie durch die Rekonstruktion konkreter Überlagerungen verschiedener Logiken gelingt einer kritischen Analytik die klare Benennung und Begründung ungleicher Hervorbringungen und divergenter Effekte gegenwärtiger Sozialität.
Sozialkonstruktivistisches Wissenschaftsverständnis Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen zeichnen sich nicht nur durch eine sozialkonstruktivistische Konzeptualisierung von Sozialität und Gesellschaftlichkeit aus, sondern darüber hinaus auch durch ein sozialkonstruktivistisches Wissenschaftsverständnis. Das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Ansätzen lässt sich daher weder als Konvergenz- noch als Konkurrenzbeziehung3 beschreiben. Basierend auf geteilten sozialtheoretischen und konzeptionellen Grundlagen, bilden sie ein Netzwerk sich verkreuzender, aufeinander verweisender und sich zum Teil auch widersprechender und weiterentwickelnder Perspektiven auf die soziale Praxis unserer Gegenwart. Die Verbindungslinien stellen sich teilweise erst in neuen Kontextualisierungen her: So grenzt Boltanski seine Forschungsperspektive explizit von jener Bourdieus ab, im Rahmen der Prekarisierungsforschung zeigen sich jedoch fruchtbare Verknüpfungen nicht nur in sozialtheoretischer, sondern insbesondere auch in diagnostischer Hinsicht. Ähnliches
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Umgekehrt ermöglicht es diese kritische Analytik auch, positive Effekte in gemeinhin als negativ markierten Entwicklungen zu identifizieren, und so die (implizite) Normativität der eigenen Forschungstradition einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Deutlich wird dies etwa in Völkers Analysen (2013a): Sie zeigt auf, dass in prekären Lebensverhältnissen insbesondere für Frauen auch Möglichkeitsräume entstehen können. Dies gilt zumindest in wissenschaftstheoretischer bzw. konzeptioneller Hinsicht. Wissenschaftspraktisch kann eine Konkurrenzsituation nicht so umstandslos negiert werden (Bourdieu 1992c).
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lässt sich in Bezug auf das Verhältnis von Ökonomisierungsanalyse und Singularisierungsthese feststellen, die einander auf den ersten Blick widersprechen: »Nach meinem Verständnis handelt es sich nicht um eine Abgrenzung, vielmehr integriere ich die Ökonomisierungsdiagnose und kapitalismustheoretische Argumente in einen umfassenderen und tatsächlich etwas anders akzentuierten Theorierahmen. Auch unter meiner Perspektive lässt sich in der Spätmoderne eine durchgreifende Ökonomisierung, das heißt Vermarktlichung des Sozialen, beobachten. Doch muss man sich des Sachverhalts bewusst sein, dass es sich in aller Regel um jene spezifische Struktur handelt, die ich Kulturökonomisierung nenne.« (Reckwitz 2018: o.S.) Praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen greifen einander auf, bieten neue Deutungskonzepte an und laden sich wechselseitig zur kritischen (Re-)Lektüre ein. Auch dies macht sie besonders fruchtbar für die Analyse prekärer, ambivalenter und unübersichtlicher Sozialität, wie sie gegenwärtig moderne Gesellschaften kennzeichnet. Mit Boltanski (1990) ließe sich die kritisch-konstruktive wechselseitige Bezugnahme als ›Hommage durch Praxis‹ begreifen: Mit Blick auf den theoretischen Dissens, den er zwischen seiner eigenen Position und jener Bourdieus feststellt, bzw. hinsichtlich der Leerstellen und Probleme, die in seinen Augen mit Bourdieus Perspektive einhergehen, konstatiert er: »Man erweist Pierre Bourdieu und seinem Werk zweifellos die respektvollste Würdigung seiner eigenen intellektuellen Werte, indem man diesen Problemen nicht ausweicht und indem man versucht, Lösungen zu finden, die dazu bestimmt sind, entsprechend der Logik – um nicht zu sagen der Ethik – des wissenschaftlichen Handelns ihrerseits in Frage gestellt und kritisiert zu werden und damit neue Interpretationen und Synthesen hervorzubringen.« (Boltanski 2003, zitiert nach Bogusz 2010: 124) Das sozialkonstruktivistische Wissenschaftsverständnis wird getragen von der kulturtheoretischen Basis und Differenzlogik der praxistheoretischen Gegenwartsdiagnose, von ihrer qualitativen Forschungsausrichtung und ihrer kritischen Analytik. Im Zusammenspiel dieser Aspekte kann nicht nur der skizzierte Umgang mit anderen zeitanalytischen Arbeiten erfolgen, sondern es entstehen auch Gegenwartsdiagnosen, die in Anlehnung an Latour (2007) beschrieben werden können als Panoramen, die sich ihres Panoramastatus bewusst sind: Sie zielen auf umfangreiche Beschreibungen und das Herausarbeiten transversaler Strukturen, wohlwissend, dass mit zunehmender Abstraktion die Spannung zwischen der synthetisierenden Darstellung von Homologien und der praktischen Vielfalt deren Hervorbringung wächst. Neben der kritisch-reflexiven Forschungshaltung und der qualitativ-empirischen Forschungspraxis ist das sozialkonstruktivistische Wissenschaftsverständnis und die daraus folgende vernetzende Forschungsarbeit eine Strategie des Umgangs mit diesen Spannungen und des Schutzes gegen allzu glatte Gegenwartsrekonstruktionen. In dieser Logik ist eine praxistheoretische Gegenwartsanalyse im ›doppelten Sinne empirisch‹: Nicht nur basiert sie unweigerlich auf empirischen Rekonstruktionen, sie soll umgekehrt »neuer empirischer Forschung Impulse (inklusive Impulse zum Widerspruch) geben« (Reckwitz 2017b: o.S.). Insofern ist der heuristische Charakter dieser Arbeiten ein besonderer, denn er ist nicht als ›Einbahnstraße‹ zu verstehen. Das heißt:
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Auch eine praxistheoretische Wandelforschung, die nicht auf den Entwurf eines Panoramas abzielt, sondern auf die Analyse konkreter Praxisvollzüge bezogen ist, sollte sich als Teil dieses praxistheoretischen Forschungsnetzes verstehen und den Anspruch teilen, diese Perspektive zu erweitern. Dies ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass die angebotenen Heuristiken kritisch-reflexiv aufgegriffen und gegebenenfalls modifiziert oder gar verworfen werden.
14.3
Der Wandel transversaler Logiken als Perspektive auf gewandelte gesellschaftliche Integrationsmuster, Kontingenzsteigerung und Individualisierung
Das Netzwerk praxistheoretischer Gegenwartsdiagnosen zeichnet unterschiedliche, einander teilweise aufgreifende, verschiebende und ergänzende transversale Logiken sozialer Praxis nach. Damit verkoppelt es auch unterschiedliche Perspektiven auf das soziale Ordnungsgeschehen, auf gesellschaftliche Allokations-, Integrations- und Desintegrationsprozesse, aber auch auf die Individualisierungstendenzen hinsichtlich dieser praktischen Ordnungsleistungen und auf die Zunahme sozialer Kontingenz. Die Frage nach der praktischen Ordnung von Sozialität bzw. Gesellschaftlichkeit bildet dabei eine wesentliche, aber in keinem Fall die einzige analytische Dimension. Die von Irene Dölling aufgeworfene Kritik, dass Ordnungs- und Integrationsprinzipien im Rahmen gegenwarts- bzw. gesellschaftsanalytischer Arbeiten oft unhinterfragt auf eine Krise bzw. einen Wandel des Integrationsprinzips ›Arbeit‹ fokussiert werden (Dölling 2010), gibt Anlass für eine kritische Reflexion der praxistheoretischen Gegenwartsanalysen – zumal viele praxistheoretische Perspektiven gewichtige Argumente für die integrative Wirkmacht von Arbeit liefern, die weit über die sozialstrukturelle Feststellung institutioneller Einbindung und formaler, statusbezogener Verortung hinausweisen und daher im soziologischen Diskurs auf großes Interesse gestoßen sind. Ein Beispiel hierfür bilden die Erkenntnisse der Governmentality Studies oder auch die Studien zur Ästhetisierung und Singularisierung sozialer Praxis, die Arbeit als wesentliche Instanz der Subjektivierung rekonstruieren (Bröckling 2007b; Reckwitz 2012, 2017a; Rose 2000a). Damit leisten sie die theoretische Konzeptualisierung eines auch jenseits der Praxistheorien in den Blick genommenen Aspekts, dass nämlich Arbeit die Mitglieder einer Gesellschaft nicht etwa lediglich über formale Strukturen integriert, sondern in spezifischer Weise identitätsstiftend bzw. subjektformierend wirkt. Zugleich weisen sie darauf hin, dass gerade arbeitsvermittelte und ökonomisch konnotierte Subjektivierungsformen in der Gegenwartsgesellschaft mit (selbst-)ökonomisierenden, aktivierenden Logiken verkoppelt sind, die zu einer Individualisierung vormals öffentlich geleisteter Steuerungsleistungen beitragen (Bröckling 2007a; Fach 2000; Rose 2000b). Auch Chiapello und Boltanski machen mit ihrer Rekonstruktion der cité par projets die integrative Wirkmacht von Arbeit plausibel (Boltanski & Chiapello 2006): Die Zuschreibung von Größe, d.h. die Anerkennung der positiven Valenz von Flexibilität, Eigenständigkeit, Kreativität etc., entfaltet ihre Relevanz auch weit jenseits der bloßen Positionierung auf dem Arbeitsmarkt. Sie bildet damit zugleich einen Fluchtpunkt des
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veränderten Umgangs mit sowie der symbolischen Aufwertung und aktiven Eröffnung von laufbahnbezogener Kontingenz. Eine andere Perspektive eröffnet die Prekarisierungsforschung auf die Verquickung von verblassenden Strukturen sozialer Einbindung, gesteigerter Kontingenz und Individualisierung: Für diesen Forschungszweig kann die Erosion der Arbeitswelt als initiales Moment gelten, und entsprechend laufen viele der Forschungsarbeiten Gefahr, soziale Integration als originären Effekt der Arbeit zu verstehen und auch Kontingenzsteigerung und Individualisierung (oft im Sinne von Vereinzelung) insbesondere von dieser Warte aus zu betrachten (Bittlingmayer 2002; Bourdieu 2004b; Schultheis 2013). Einen Gegenpol bilden jedoch die feminismus- und geschlechtertheoretischen Überlegungen im Prekarisierungsdiskurs, die explizit nach (neu entstehenden) Praktiken sozialer Einbindung jenseits der Arbeitswelt und den Chancen der Kontingenz in Form positiv gestaltbarer Möglichkeitsräume fragen (Aulenbacher 2009; Hark & Völker 2010; Völker 2009c). Bourdieu wiederum verweist besonders explizit auf die integrative Relevanz von Arbeit, wobei er das Zusammenspiel von struktureller Einbindung und Sinnstiftung bzw. praktischem Weltzugang in den Blick nimmt: »Mit der Arbeit haben die Arbeitslosen die tausend Nichtigkeiten, in denen sich eine gesellschaftlich anerkannte Funktion verwirklicht und manifestiert […] verloren: all das Notwendige und Vordringliche – ›wichtige‹ Treffen, Arbeiten, die abzuliefern […] sind – und die ganze in der unmittelbaren Gegenwart in Form von einzuhaltenden Fristen, Terminen, Zeitplänen – der Bus, der zu nehmen, das Arbeitstempo, das einzuhalten ist, Arbeiten, die fertigzustellen sind usw. – bereits enthaltene Zukunft. Ausgeschlossen aus dem objektiven Universum von Anreizen und Hinweisen, die dem Handeln und dadurch dem ganzen gesellschaftlichen Leben eine Richtung vorgeben und es stimulieren, können sie ihre freie Zeit nur als tote Zeit erleben, bar jeden Sinns. Scheint die Zeit vernichtet zu sein, dann deshalb, weil Lohnarbeit, bezahlte Arbeit Träger, wenn nicht Grundlage der meisten auf die Gegenwart ebenso wie auf die Zukunft oder die von ihr implizierte Vergangenheit gerichteten Interessen, Erwartungen, Ansprüche, Hoffnungen und Investitionen ist, kurz, eines der Hauptfundamente der illusio als Bindung an das Spiel des Lebens, der Gegenwart, als zentrale Investition, die – […] indem sie die Loslösung von der Zeit mit der von der Welt gleichsetzen – die Zeit macht, die Zeit selbst ist.« (Bourdieu 2001b: 285; H.i.O.) Auf diese Weise betrachtet, wird Arbeit zur sozialen Existenzgrundlage schlechthin. Ihr Fehlen produziert nicht nur eine gleichzeitige Kontingenzschließung und -öffnung, die für betroffene Akteure schwer zu ertragen ist, es raubt der Alltagspraxis auch ein sinnund zugleich gemeinschaftsstiftendes Moment, dessen Absenz die Frage nach selbstoder fremdgeleisteter gesellschaftlicher Integration gar nicht erst aufkommen lässt. Dennoch unterscheiden sich die praxistheoretischen Rekonstruktionen des Wandels gesellschaftlicher Integration durch Arbeit sichtlich von jenen der modernisierungstheoretischen Gegenwartsdiagnosen: Da der Modus der Herstellung von Integration nicht auf Basis funktionalistischer Prämissen vorausgesetzt, sondern analytisch erst erschlossen wird und zu diesem Zwecke das praxistheoretische Analyseinstrumentarium eine größtmögliche Offenheit gegenüber den betreffenden praktischen Formen
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aufweisen muss, sind auf konzeptioneller Ebene auch die Voraussetzungen für die Beobachtung von Bedeutsamkeitsverschiebungen gesellschaftlicher Integrationsprinzipien gegeben. Das Problem verlagert sich damit jedoch auf eine andere Ebene: Da Gesellschaft nicht als geschlossene Entität verstanden wird, die nach klaren, systematisch aufeinander verwiesenen und (objektiv) empirisch erfassbaren Regeln und Mechanismen funktioniert, müssen praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen als analytische Schlaglichter gelten, als Forschungsarbeiten, die bestimmte Logiken – die als relevant zu plausibilisieren sind – in den Fokus rücken, ohne für sie einen Alleingeltungsanspruch durchsetzen oder eine exakte Reichweite angeben zu können bzw. zu wollen. Dies drückt sich bei vielen der praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen bereits im Werktitel aus, der oft den spezifischen Analysefokus benennt – etwa ›Der neue Geist des Kapitalismus‹, ›Das Elend der Welt‹, ›Geschichte der Gouvernementalität‹ oder ›Die Erfindung der Kreativität‹ – und nicht, wie in gesellschaftsanalytischen Arbeiten durchaus üblich, auf eine gesamte Gesellschaftsformation verweist (denkbar wären ja auch Titel wie ›Projektgesellschaft‹, bzw. ›prekäre‹, ›neoliberale‹ oder ›kreative Gesellschaft‹)4 . Dass nun auch praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen einen Schwerpunkt auf die Rekonstruktion jener Wandelprozesse legen, die sich um Veränderungen der Institution Arbeit formieren, ist empirisch naheliegend. Jedoch verweisen sie explizit auf die Grenzen der Deutungskraft der erarbeiteten Analysekonzepte: Beispielsweise sind neben der ›Cité par projets‹ andere Rechtfertigungsregime und darüber hinaus andere Modi der Handlungslegitimation wirksam, das ›unternehmerische Selbst‹ ist nur eine der möglichen sozialen Anrufungsformen unserer Gegenwart und neben dem Kreativitätsdispositiv lassen sich nicht nur weitere Formen ästhetischer Praxis, sondern auch andere transversale Logiken identifizieren. Die Ansätze finden ihren Ausgangspunkt also in der Frage nach praktischen Logiken, Grammatiken und Wirkungszusammenhängen, die bestimmten allgemein wahrnehmbaren Veränderungen eine Regelmäßigkeit verleihen; sie entspringen nicht dem Anspruch einer möglichst umfassenden Vermessung gewandelter Gesellschaften. Daher stellt die von Dölling (2010: 37; H.i.O.) aufgeworfene Frage, ob »(Lohn-)Arbeit als grundlegender Modus sozialer Integration und Kohäsion sich erschöpft, in diesem (und nur in diesem) Sinne also vom Ende der ›Arbeitsgesellschaft‹ gesprochen werden kann« eine Herausforderung für praxistheoretische Gegenwartsanalysen dar: Chiapello und Boltanski 4
Eine Ausnahme bildet Reckwitz’ ›singularisierte Gesellschaft‹. Hierbei handelt es sich explizit um eine Gesellschaftstheorie, die möglichst umfassend die Struktur- und Integrationsprinzipien der ›Gesamtgesellschaft‹ (gemeint ist ein spezifischer spätmodernder Typus von Gesellschaftlichkeit) in den Blick nimmt. Dabei arbeitet Reckwitz offensiv mit Gesellschaftslabels – allerdings in einer praxistheoretischen Variante, die irritiert, da der »Gesellschaftsbegriff so eigentümlich leer bleibt«: »Während seit Langem die inflationäre soziologische Produktion immer neuer Gesellschaftslabels […] beklagt wird, […] erlaubt es sich Reckwitz, in ein und demselben Buch gleich drei solcher Labels zu prägen (neben der Gesellschaft der Singularitäten sind das die Affektgesellschaft und die Valorisierungsgesellschaft), die zu seiner früheren, ausführlichen Bestimmung der Gesellschaft als ›Ästhetisierungsgesellschaft‹ einfach hinzutreten.« (Rosa 2018: o.S.) Die verschiedenen Gesellschaftsbegriffe sollen jedoch weniger die Gesellschaft in summa charakterisieren, sondern anzeigen, dass hier die Herstellung von Gesellschaftlichkeit entlang einer bestimmten Struktur betrachtet wird. Die Labels entsprechen also unterschiedlichen analytischen Schlaglichtern, die genutzt werden, um die komplexen Prozesse differenziert rekonstruieren zu können.
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können zeigen, dass sich die Logik wandelt, nach der eine soziale Integration durch Arbeit hervorgebracht wird, Bourdieu macht sichtbar, wie Entwertung und sozialer Ausschluss in einer neoliberalen Rationalität produziert wird und die Prekarisierungsforschung verweist darauf, dass Praktiken der Prekarität nicht zwangsläufig gesellschaftliche Exklusion bedeuten. Dabei können sie, mit Verweis auf die subjektivierende Wirkmacht von Arbeit, auf ihr ordnendes und relationierendes Potenzial, auf die soziale Verkennung und das Leiden, das oft mit einer prekären Arbeitssituation verbunden ist, nachweisen, dass Arbeit für einen großen Teil der Bevölkerung nach wie vor ein hoch relevantes soziales Integrationsprinzip darstellt. Die Frage danach, wie viele verschiedene Integrationsprinzipien derzeit insgesamt wirksam sind und in welchem hierarchischen Verhältnis sich diese zueinander befinden, entspricht hingegen nicht der theoretischen Grundhaltung praxistheoretischer Gegenwartsanalysen. Sie bestimmen Arbeit nicht als den, sondern als einen (grundlegenden) Modus sozialer Integration und Kohäsion und sprechen von der Arbeitsgesellschaft, um eine analytische Perspektive und nicht die Gesellschaft als solche und in toto zu charakterisieren. Da einerseits der praktische Wirkungsbereich einer transversalen Logik prinzipiell offen ist, andererseits aber die sozialtheoretischen Prämissen der Praxistheorie einer umfassenden Generalisierung entgegensteht, wird für Rezipient*innen mit (insbesondere auf Quantifizierung ausgerichtetem) sozialstrukturanalytischem Interesse oft nicht deutlich, welchen Geltungsbereich praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen beanspruchen. Eine Gefahr, die mit dem Fokus auf eine spezifische praktische Logik, auf eine bestimmte Form sozialer Integrations- und Ordnungsprinzipien oder eine besondere Wirkungsweise sozialen Wandels einhergeht, ist die (implizite) Verallgemeinerung eben dieser Wirkungsweisen, Integrationsprinzipien und Logiken. Ist der analytische Blick auf einen bestimmten Aspekt sozialer Praxis gerichtet, müssen andere zwangsläufig unbeleuchtet bleiben – dies gilt nicht nur für die Praxistheorien. Da diese jedoch aufgrund ihres relationalen, nichthierarchischen Grundverständnisses die analytisch unberücksichtigten Aspekte sozialer Praxis nicht als Residuen markieren, geraten praxisanalytische Verallgemeinerungen, die ein Integrationsprinzip als das grundlegende kennzeichnen, schnell in einem Konflikt mit den eigenen sozialtheoretischen Prämissen. Deutlich wird dies etwa an Bourdieus Rekonstruktion der integrativen Bedeutung von Arbeit: Die scharfsinnige Analyse des Zustandes der Arbeitslosigkeit als ein ›Ausder-Zeit-gefallen-Sein‹, als Positionierung in einem Raum der totalen Kontingenz und dabei geradezu vollständigen Kontingenzschließung führt eindringlich die brutale Wirkung wie auch sozialexkludierende Wirksamkeit des Arbeitsmarktausschlusses vor Augen, lässt aber wenig Raum für die Analyse alternativer Praxis: »Was Bourdieus radikal nichthierarchischem, relationalem und nichtbinärem Denken vielleicht fehlt, ist die Vorstellung einer nichtbinären, nichthierarchischen, nichtreproduzierenden Bindung, die in der Lage wäre, […] die Kontingenz unseres gemeinsamen Lebens nicht als ›tot‹ auszuschließen, sondern Raum, sozialen Raum, Relationalität, Locality, wie Arjun Appadurai sagt, oder ›Zukunft des Raums‹, wie es Elisabeth Grosz ausdrückt, werden zu lassen: ›How then can space function differently from the ways it has always functioned? What are the possibilities of inhabiting otherwise? Of being
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extended otherwise? Of living relations of nearness and farness differently?‹ (Grosz 2001).« (Trinkaus & Völker 2009: 215) Die Vernetzung und wechselseitige Rezeption praxistheoretischer Gegenwartsanalysen kann einer Perspektivverengung und überstrapazierenden Verallgemeinerung entgegenwirken. Vor allem aber eröffnet die Analyse konkreter Praxisvollzüge die Möglichkeit, die praktische Variationsbreite und unterschiedlichen Produktionsformen eines Integrationsprinzips zu analysieren, zugleich nach anderen Integrationsmodi zu fragen und die Interferenzen verschiedener Ordnungsprinzipien zu rekonstruieren. Die Analyse spezifischen Praxisgeschehens ist zwar eingeschränkt, wenn es um die Herausarbeitung sozialer Wandelprozesse im Sinne der Veränderung transversal wirksamer Logiken geht – hier leisten die praxistheoretischen Gegenwartsanalysen ihren Beitrag. Sie ist jedoch geeignet, den Möglichkeitsräumen sozialen Wandels nachzuspüren und Hinweisen auf neue, bisher (noch) relativ begrenzt wirksame und wenig institutionalisierte Formen sozialer Ordnung und Einbindung detailliert nachgehen: Sie zielt auf die Rekonstruktion der (möglicherweise sehr heterogenen) Logiken, nach denen sich eine spezifische Praxis entfaltet. Wandel kommt dann in den Blick, indem die Hervorbringung der fokussierten Praxisform zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. in einer historischen Perspektive erforscht, indem die Veränderung institutionalisierter Strukturen in ihrer praktischen Hervorbringung betrachtet, indem das Gefüge ›neuer‹ Praxisformen analysiert oder indem gegenwartsanalytisch herausgearbeiteten, ›neuen‹ transversalen Logiken nachgespürt wird. Der Vorteil dieser Annäherungsweise liegt im Irritationspotenzial: Werden praktische Homologien nicht mit dem Ziel in den Blick genommen, eine transversale Logik zu abstrahieren, sondern um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im konkreten Praxisvollzug zu entdecken, wird also die modale Vielfalt, Unschärfe und Ambivalenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, zeigt sich das Potenzial praktischen Wandels in jenen Aspekten, die sich nicht umstandslos bereits existierenden Analysekategorien zuordnen lassen. Die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen zeigen also auf, dass die Analysekategorien, mit denen sozialer Wandel erforscht wird, selbst in hohem Maße Wandel unterworfen sind, denn sie sind praktisch konstituiert und räumlich-historisch situiert. Wandel drückt sich also nicht zuletzt gerade in der veränderten praktischen Hervorbringung dieser Analysekategorien aus. Die Frage muss also (nicht) nur lauten, ob Arbeit noch ein maßgebliches Prinzip gesellschaftlicher Integration bzw. ob Kontingenz und Individualisierung voranschreiten, sondern in welcher (möglicherweise gewandelten Form) ›Arbeit‹, ›Kontingenz‹ und ›Individualisierung‹ praktisch hervorgebracht werden. Nicht zuletzt zur Beleuchtung dieser Frageperspektive ist die wandelbezogene Analyse spezifischer Praxisvollzüge zielführend.
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Teil IV: Wandelrekonstruktionen in spezifischen Praxisvollzügen – Exemplarische Analyse des Wandels sozialer Praxis in Handlungsorientierungen und Lebensentwürfen von Existenzgründerinnen
15 Lebensentwürfe als Kristallisationspunkt sozialen Wandels: Analytische Fluchtpunkte und methodisches Vorgehen
Im abschließenden Teil soll nun eine Sekundäranalyse von Daten eines Forschungsprojekts zur Alltags- und Arbeitspraxis von Existenzgründerinnen vorgenommen werden, um auf dieser Basis sozialen Wandel in spezifischen Praxisvollzügen empirisch in den Blick zu nehmen. Der Interessensschwerpunkt liegt entsprechend auf Handlungsorientierungen und Lebensentwürfen von Frauen, die sich selbstständig machen und sich dabei – so die Vermutung – in einem überaus dynamischen Spannungsfeld verschiedener praktischer Logiken bewegen. Anhand zweier systematisch verschränkter Analyseperspektiven soll dabei der Wandel sozialer Praxis fokussiert werden: 1) In einer synchronen Betrachtung werden die in Teil 3 herausgearbeiteten Wandellogiken (Ökonomisierung, Prekarisierung, Ästhetisierung und Singularisierung) in ihrer potenziellen praktischen Hervorbringung rekonstruiert, um deren modale Vielfalt, aber auch Interferenzen, Ambivalenzen, Konflikte, Ungleichzeitigkeiten und ungleiche Wirkungen herausarbeiten zu können. 2) In einer diachronen Betrachtung werden sodann (etwaige) Unterschiede in diesen Hervorbringungen auf Differenzen in den familialen Herkunftskulturen untersucht.
15.1
Datenbasis: Erzählungen aus dem Alltag von Existenzgründerinnen
Das Datenmaterial wurde im Kontext des Forschungsprojekts »Familiale Voraussetzungen von Gründungsneigung und Gründungserfolg« (Leitung: Dr. Anna Brake) erhoben1 . Der Material-Korpus des (Teil-)Projekts besteht aus jeweils einem leitfadengestützten Einzelinterviews mit 20 Existenzgründerinnen, mit deren Eltern, einer Schwester bzw. einem Bruder, dem Partner bzw. der Partnerin, sowie aus jeweils einem gemeinsamen
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Das Projekt war Teil des von BMBF und ESF geförderten Forschungsverbundes »Entrepreneuresse – dem unternehmerischen Habitus auf der Spur«, das von 2007 bis 2011 an den Universitäten Augsburg und Marburg durchgeführt wurde (Weber et al. 2011).
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›Familiengespräch‹ (in Anlehnung an die Methode der Gruppendiskussion, vgl. Brake 2006b). Die Gründung der im Fokus der Untersuchung stehenden Frauen fand zwischen 2007 und 2009 statt und lag zum Zeitpunkt des jeweiligen Interviews nicht länger als ein Jahr zurück. Die interviewten Gründerinnen sind zum Zeitpunkt der Gründung zwischen 28 und 51 Jahre alt, haben studiert und sich in (mindestens) einem der drei Bereiche ›Medien‹, ›Bildung‹ und/oder ›Beratung‹ selbstständig gemacht2 . Daher lassen sich die Gründungsprojekte dem Bereich der neuen, wissensintensiven Dienstleistungen zurechnen und viele liegen (in einem weiteren Sinne) im Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft3 : Die Gründerinnen arbeiten als interkulturelle Beraterinnen, Lifeund Work-Coaches, als PR-Dienstleisterinnen, Texterinnen oder Grafikdesignerinnen, aber auch als Bewerbungs- oder Personaltrainerinnen. Zwei Gründerinnen haben gemeinsam mit Geschäftspartner*innen eine GmbH gegründet, die anderen 18 Interviewten sind solo-selbstständig. Neben Branchenzugehörigkeit und Bildungshintergrund, die im Rahmen des systematischen Samplings berücksichtigt wurden, sind auch weitere sozialstatistische Daten erhoben und ausführliche Lebensläufe erstellt worden, die Hinweis auf die objektiven Existenzbedingungen und die sozialräumliche Verortung der Interviewten geben. Die Einzelinterviews und Familiengespräche dauerten zwischen eineinhalb und drei Stunden. Die Interviewleitfäden waren darauf ausgerichtet, durch offene Fragen eine möglichst freie Erzählung zu generieren. Zugleich waren die Fragen entlang verschiedener Themenkomplexe strukturiert, sodass die Interviews auf verschiedene Bereiche des Alltagslebens fokussierten4 . Damit folgt der Erhebungsansatz einigen Überlegungen von Andreas Witzel (1985) zum narrativen bzw. problemzentrierten Interview5 : Zwar werden bestimmte, im Forschungsinteresse stehende Themen durch die Interviewer*innen angesprochen, jedoch tragen sie auch dem praktischen Eigensinn der Interviewsituation Rechnung, indem sie das Prinzip der Offenheit durch 2 3 4
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Hier waren Überschneidungen möglich, etwa bei Gründungen im Bereich ›Bildungsberatung‹. Zur Definition der Kultur- und Kreativwirtschaft in einem engeren und weiteren Sinne siehe Kapitel 17.3 Folgende Themen wurden adressiert (Leitfadenstruktur): Biografische Wegbereitung der Gründung; Erwartungen zum Zeitpunkt der Realisierung; gegenwärtige Herausforderungen; Zeitpraxis (der Gründerin und in der Herkunftsfamilie); Freizeit in der Herkunftsfamilie; Erwerbsarbeit/Hausarbeit in der Herkunftsfamilie; schulischer/beruflicher Werdegang; (familiale) Haltung gegenüber Institutionen/Organisationen; Umgang mit Geld; Leitbilder und Selbstzuschreibungen der Gründerinnen (der Gründerin und in der Herkunftsfamilie); Zukunftsperspektiven. In einigen Punkten weicht das Vorgehen jedoch auch explizit von Witzels Konzeptionen ab. So werden die durch den Leitfaden angesteuerten Themenbereiche zwar durch immanente Nachfragen vertieft, wobei durch Aufgreifen der Begrifflichkeit der Interviewten an deren implizite Logiken angeschlossen werden soll. Zurückspieglungen und Konfrontationen, die darauf abzielen, die Gesprächspartner*innen argumentativ unter Druck zu setzen und so die Explikation von (Handlungs-) Zielen zu erzwingen, werden jedoch entschieden abgelehnt. Dies nicht nur, weil kein Zweifel am den Interviewten entgegengebrachten Respekt entstehen darf, was einerseits forschungsethisch schwer vertretbar wäre und andererseits auch eine durch die Interviewsituation ohnehin bereits gefährdete Ungezwungenheit der Narration konterkarieren würde. Sondern vor allem auch deshalb, weil aus einer praxeologischen Perspektive nur eingeschränktes Interesse an der Explikation von Motiven besteht, da die Praxis der Interviewten auf eine praktische Logik zurückgeführt wird, die den Akteuren reflexiv nicht oder nur in Teilen zugänglich ist.
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eine möglichst weite Formulierung der Fragen und durch den Verzicht auf Exante-Hypothesenbildungen wahren. »Zum einen […] kontrolliert [der Interviewer] also durch die innere Vergegenwärtigung des Leitfadens die Breite und Tiefe des Vorgehens. Zum anderen kann er sich aus den thematischen Feldern, etwa bei stockendem Gespräch bzw. bei unergiebiger Thematik, inhaltliche Anregungen holen, die dann ad hoc entsprechend der Situation formuliert werden. Damit lassen sich auch Themenfelder in Ergänzung zu der Logik des Erzählstranges seitens des Interviewten abtasten, in der Hoffnung, für die weitere Erzählung fruchtbare Themen zu finden bzw. deren Relevanz aus der Sicht der Untersuchten festzustellen […]. (Witzel 1982: 90) Die Vorgehensweise ermöglicht somit thematische Vergleichbarkeit unter Berücksichtigung narrativer Freiheit. Zudem sind die Familieninterviews gespiegelt, das heißt, die einzelnen Familienmitglieder wurden auf die gleichen Themen angesprochen (Freizeit in der Herkunftsfamilie; Umgang mit Geld in der Herkunftsfamilie, Zeitstrukturen etc.). Darüber hinaus wurde in allen Interviewtypen (Gründerinnen, Mütter, Väter, Geschwister, Partner*innen) nach möglichen wahrnehmungs- und haltungsbezogenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der Familie gefragt und somit eine »Verortung der eigenen Sichtweise auch im Bezug zu den anderen Familienmitgliedern« angeregt (Brake 2006b: 62). Im Kontext des Forschungsprojekts »Entrepreneuresse« konnten auf Basis der Interviews spezifische familial transmittierte Habitusstrukturen herausgearbeitet werden, welche den Gründungsprozess beeinflussen und variieren (Ruiner 2013; Wehr 2010, 2011). Die Ergebnisse zeigen, dass sich familial geteilte habituelle Dispositionen wie beispielsweise Sicherheitsbedürfnis, Bildungsaffinität oder biografische Ambivalenzen in der Gründungspraxis niederschlagen, dabei aber auch modifiziert werden. Aus verschiedenen Gründen scheint eine Sekundäranalyse des Materials für die Erforschung sozialen Wandels potenzialreich: 1) Eine alltagspraktische Verkreuzung unterschiedlicher transversaler Logiken, die gegenwärtige Wandelprozesse bedingen, ist wahrscheinlich: Strukturell kann die Arbeitssituation der Gründerinnen mit hoher Wahrscheinlichkeit jenen ›atypischen Beschäftigungsverhältnissen‹ zugerechnet werden, die in ausgeprägter Weise durch soziale Unsicherheiten und Prekarität gekennzeichnet sind (Keller & Seifert 2008). Als – im wahrsten Sinne des Wortes – Unternehmerinnen ihrer Selbst, die ihre Selbstständigkeit im historischen Rahmen einer politischen ›Aktivierungsoffensive‹ beginnen6 , sind sie zudem vermutlich mit
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Die in Deutschland politisch initiierte ›Gründungsoffensive‹, schlug sich zwischen 2003 und 2006 im Konzept der ›Ich-AG‹ nieder und wurde bis 2011 in förderpolitisch etwas veränderter Form (Zusammenlegung von ›Überbrückungsgeld‹ und ›Existenzgründungszuschuss‹) weitergeführt (IAB 2007). Sie ist im Rahmen der aktivierenden Arbeitspolitik der Hartz-Reformen zu verorten. Zugleich bedingt eine Solo-Selbstständigkeit nicht automatisch die Subjektivierung als ›unternehmerisches Selbst‹ im Sinne der governmentality studies. Als Adressatinnen eines politischen Programms, das maßgeblich auf die Stärkung und Erzwingung einer eigenverantwortlichen Selbststeuerung und Selbstvermarktung zielt, sind die Gründerinnen aber zumindest in wahrscheinlich hohem Maße mit einem Selbstunternehmertum einfordernden Imperativ konfrontiert.
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Ökonomisierungs- und Selbstvermarktungspostulaten konfrontiert. Mit den Schwerpunkten ›Medien‹, ›Beratung‹ und ›Bildung‹ wurden außerdem bereits im Sample des Ursprungsprojekts Branchen fokussiert, die sich im engeren und weiteren Sinne im Wirkungszusammenhang des Kulturkapitalismus eingliedern (Reckwitz 2017a). Zudem haben alle befragten Gründerinnen studiert, und sind damit als akademisch ausgebildete Selbstständige in expandierenden, wissensintensiven Branchen potenziell in soziale Gefüge eingebunden, die besondere Aufmerksamkeit durch praxistheoretische Gegenwartsdiagnosen erfahren haben, sei es als ›neue Mittelklasse‹, als potenziell prekäre Akademiker*innenschaft oder als hochqualifizierte Netzwerkarbeiterinnen. 2) Die Interviews thematisieren eine biografische Umbruchssituation bzw. eine Statuspassage (Glaser & Strauss 2009), die von den Gründerinnen gerade durchlebt wurde und in der sie sich teilweise zum Zeitpunkt der Erhebung noch verorten. Insbesondere unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen bedeutet die Bewältigung einer Statuspassage eine individuelle Eigenleistung: »Durch den Prozeßcharakter des Geschehens und den sozialen Wandel verändern Statuspassagen sich ständig, werden neu erfunden, sind Teil eines nicht organisierten Alltags«, sodass die Akteure eigenständig »Ziel und Ablauf von Statuspassagen mitdefinieren« müssen – »die aktive Mitgestaltung von Statuspassagen [… kann als] Grundverpflichtung des Lebens« gelten (Friebertshäuser 1992: 31f.). Dies bedeutet, dass die Alltagsroutinen der Frauen irritiert werden und sie unter Gestaltungsdruck geraten können. Die Gründung kann daher als ein Ereignis gelten, in dessen Rahmen vorwiegend implizite, habitualisierte Handlungsstrategien besser thematisierbar werden. Auch bieten biografische Umbrüche (je nach Disponiertheit) Anlass, die eigene Lebenssituation zu reflektieren. 3) Vielfalt, Interferenzen, Konflikte und ungleiche Wirkungen sozialen Wandels können entlang der gesellschaftlich hochgradig wirksamen Basisunterscheidung ›Geschlecht‹ analysiert werden: Im Augsburger Forschungsprojekt wurden ausschließlich Existenzgründerinnen befragt. Die Konzentration auf eine der beiden sozial normierten Geschlechterkategorien ermöglicht die Rekonstruktion der potenziell aufscheinenden transversalen Logiken vor dem Hintergrund der spezifischen Adressierung von Frauen und praktisch produzierter ›weiblicher‹ Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Dies ist insofern von besonderem Interesse, als wissenschaftliche Verallgemeinerungen mitunter dazu tendieren, eine androzentrische Perspektive zu perpetuieren und daher blinde Flecken bei der Rekonstruktion der modalen Vielfalt von Wandlungsprozessen zu befürchten sind (Aulenbacher 2009; Völker 2009a). Zudem verweisen verschiedene Studien darauf, dass ›Geschlecht‹ nicht einfach nur als Differenzierungskategorie verschiedener Varianten von Ökonomisierung, Prekarisierung, Ästhetisierung und Singularisierung zu betrachten ist, sondern die Geschlechterstrukturen ihrerseits massiven Einfluss auf soziale Dynamiken nehmen (Bröckling 2002; Reckwitz 2017a; Völker 2009c).7
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Das kein Material aus einer ›Vergleichsgruppe‹ sich selbstständig machender Männer vorliegt, wird nicht als grundsätzlicher Hinderungsgrund gesehen. Einerseits kann die Analyse auf eine Fülle an Erkenntnissen aus der Frauen- und Geschlechterforschung zurückgreifen, andererseits thematisieren die Befragten ihr Frausein und dessen Bedeutung für den Gründungsprozess, aber auch ihre Lebensumstände, die in den meisten Fällen strukturell verallgemeinert werden können
15 Lebensentwürfe als Kristallisationspunkt sozialen Wandels
4) Die hohe Adäquanz des Materials hinsichtlich des Forschungsinteresses an sozialem Wandel verdankt sich nicht zuletzt auch der Möglichkeit, Veränderungsprozesse und mithin die Zeitlichkeit sozialer Praxis sichtbar zu machen: Die Interviews sind so angelegt und der Teilnehmer*innenkreis so gewählt, dass für das Ursprungsprojekt die umfassende Rekonstruktion familial geteilter Habitusstrukturen, sowie familial transmittierter Orientierungsmuster möglich wurde (Büchner & Brake 2006)8 . Zwar unterliegen die Orientierungen aller Familienmitglieder und nicht zuletzt die Familienkultur ihrerseits sozialem Wandel, sodass die analytische Perspektive nicht zu verwechseln ist mit der einer qualitativen Längsschnittstudie. Doch hat eine vergleichende Analyse familial geprägter Sinnmuster, die sich (nicht nur, aber auch) vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Zusammenhänge herausbilden, die zudem zu verschiedenen Zeitpunkten der jeweiligen Trajektorie wirksam waren, einen eigenen Reiz für die Wandelforschung.
15.2
Sozialer Wandel und die spezifische Konstitution von Lebensentwürfen: Fragestellung und analytische Fluchtpunkte
Die Existenzbedingungen von Gründerinnen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geben also Anlass zu vermuten, dass sich die interviewten Frauen im Wirkungsraum gewandelter transversaler Logiken befinden. Außerdem ist anzunehmen, dass sich diese Wirkung nicht auf einen bestimmten Bereich des Lebens, etwa das Berufsleben als Selbständige, beschränkt, sondern – aufgrund der bereichsübergreifenden strukturierenden Kraft der Logiken, aber auch aufgrund des umfassenden Einflusses einer ›Existenzgründung‹ auf das Alltagsleben – tendenziell die gesamte Lebensform betrifft. Allerdings soll nicht die Lebensform der Gründerinnen im Zentrum der Analyse stehen, sondern deren explizite und implizite Lebensentwürfe. In gewisser Weise bildet der Lebensentwurf die sinnhafte Konstitution der Lebensform ab, während das Gesamtkonzept sich auch auf die lebensbezogenen objektivierten Institutionen, Normierungen und alltagspraktischen Regelmäßigkeiten eines bestimmten Milieus bezieht. Viele der praktischen Lebensformen haben sich innerhalb der letzten Jahrzehnte massiv gewandelt, etwa hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Geschlechterrollen, Familienformen, Lebensführung, Bildungsbezüge und Verlaufsvorstellungen. Hiervon nicht zu trennen ist der Wandel der sinnhaften und symbolischen Ordnungen, die diese Lebensformen organisieren und in den Lebensentwürfen der betreffenden Akteure zum Ausdruck kommen. Dass in Lebensentwürfen auch der Wandel transversaler Rationalitäten – im Sinne einer Ökonomisierung, Prekarisierung, Ästhetisierung oder Singularisierung – Einfluss nimmt bzw. sichtbar wird und sie daher Aufschluss über
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(Status als Mutter, Ehefrau, Zuverdienerin etc.), sodass entsprechenden kategorialen Verknüpfungen analytisch nachgegangen werden kann. Befragt wurden neben den Gründerinnen auch deren Geschwister und Eltern, thematisiert wurden Bereiche der gegenwärtigen und vergangenen (d.h.: familialen) Alltagspraxis wie Zeitnutzung, Freizeitgestaltung, Erwerbs- und Haushaltspraxis. Darüber hinaus zielen die Interviews auf die Rekonstruktion der (familialen) Haltung gegenüber Geld, Institutionen, Organisationen und der Zukunft.
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deren alltagspraktische Wirkung geben können, bildet den Anknüpfungspunkt der empirischen Untersuchung. In ihren Narrationen entfalten die Gründerinnen nun sowohl in impliziter als auch expliziter Form ihre Lebensentwürfe. Dies ist der Anlage des Interviews geschuldet, denn der Leitfaden evoziert gezielt Explikationen hinsichtlich der Relation von Arbeit und Leben, der Haltung gegenüber Bildung, Berufstätigkeit und Familie, er schließt aber auch die Frage nach Entwicklungschancen und Risiken der Selbstständigkeit sowie die Bitte um einen prospektiven Entwurf des eigenen Lebens ein. Auf der anderen Seite zielt der Leitfaden auf die Anregung von Erzählungen zum vergangenen und gegenwärtigen Alltag der Gründerinnen, zur praktischen Lebensführung und zum Tagesablauf als Unternehmerin. Erstere Frageformen reizen eine Explikation des als normal empfundenen Lebens, der Vorstellungen vom Lebensideal, aber auch als inakzeptabel empfundener Lebensformen. Letztere Frageformen zielen vor allem auf Erzählungen, in denen sich die Vorstellungen vom Leben, von dessen normaler, idealer und inakzeptabler Form, dokumentieren. Oft gehen explizite und implizite Darstellungen des Lebensentwurfs fließend ineinander über und müssen dabei nicht zwingend kohärent sein. Anhand der Ausführungen wird bereits deutlich, dass der Lebensentwurfsbegriff hier in einem umfassenden Sinn genutzt wird: Alltagssprachlich wird unter Lebensentwurf – in einem individuellen Sinne – die Planung des eigenen Lebens, bzw. – in einem allgemeinen Sinne – die generelle Vorstellung vom typischen Verlauf des Lebens verstanden. In den gesellschaftlichen common sense ist also die Vorstellung eingelassen, »daß ›das Leben‹ ein Ganzes darstellt, eine kohärente und gerichtete Gesamtheit, die als eigentlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven ›Intention‹, eines ›Entwurfs‹ aufgefasst werden kann und muß: Sartres Begriff des ›Entwurfs‹ formuliert nur explizit eine Hypothese, die implizit auch in den gewöhnlichen Biographien und ihrem ›schon‹, ›von nun an‹, ›von frühester Kindheit an‹ usw. oder in den ›Lebensgeschichten‹ mit ihrem ›immer schon‹ (›immer schon habe ich Musik geliebt‹) steckt.« (Bourdieu 1998b: 75) Dass diese Vorstellung ein (doxisches) Alltagskonstrukt ist und nicht korrespondiert mit der praktischen Hervorbringung des Lebens, arbeitet Bourdieu in seinem Aufsatz ›Die biographische Illusion‹ heraus (Bourdieu 1998b). Darin verdeutlicht er die immense Wirkmacht dieser Grundvorstellung vom Leben: Die Praxis der Lebensreflexion, wie auch biografisch orientierte Interviewsettings können sich ihr kaum entziehen. Das Erzählen über das eigene Leben greift lineare, kontinuitätsgebundene und holistische Denkkategorien selbstverständlich auf und auch die Konstruktion des hier verwendeten Leitfadens konnte – auch wenn immer Alternativformulierungen angeboten wurden – nicht vollständig auf entsprechende Formulierungen verzichten9 . Bei der Analyseka-
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Die Eingangsfrage des Interviews lautete: »Wenn Sie noch einmal zurückdenken, wie sich bei Ihnen die Idee einer eigenen Selbstständigkeit entwickelt hat, wo sehen Sie da die Anfänge, was hat da eine Rolle gespielt? Sie können alles erzählen, was Ihnen dazu einfällt, ich höre Ihnen jetzt erstmal ganz in Ruhe zu.« Hier wird zwar sowohl die Möglichkeit einer chronologischen Erzählung
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tegorie ›Lebensentwurf‹ ist es daher umso zentraler, dass sie konzeptionell offen ist für Entwürfe, die den common sense der kohärenten, sich chronologisch und gerichtet erweiternden Gesamtheit des Lebens durchbrechen. Wie sich anhand der Analyseergebnisse zeigen lassen wird, kann das Leben in sehr divergenter, bisweilen auch antichronologischer und inkohärenter Form entworfen werden und in diesen disparaten Entwürfen wird – so die Vermutung – sozialer Wandel in unterschiedlicher Form hervorgebracht. Mit der empirischen Analyse soll nun herausgearbeitet werden, inwiefern sich aktuell transversal wirksame praktische Logiken, die durch die Gegenwartsdiagnosen skizziert wurden, in den Lebensentwürfen der Gründerinnen manifestieren. Dabei ist dreierlei von Interesse: 1) Wie genau werden die unterschiedlichen Logiken – so sie im Alltag der interviewten Existenzgründerinnen denn produziert werden – praktisch hervorgebracht? Welche praktische Spezifik erhalten also die in den Gegenwartsdiagnosen eher allgemein und in ihrer grundsätzlichen Funktionsweise herausgearbeiteten Rationalitäten, wenn sie in einem konkreten Kontext fabriziert werden und den Modus einer bestimmten sozialen Praxis bedingen? 2) Welche praktischen Ambivalenzen und Interferenzen entstehen dort, wo unterschiedliche Logiken aufeinandertreffen – genauer: dort, wo soziale Praxis Sinnstrukturen aufweist, die Aspekte divergenter transversaler Logiken bergen? Andreas Reckwitz hat herausgearbeitet, wie unterschiedliche Rationalitäten einander komplementär gegenüber stehen können oder Überschneidungen aufweisen, in deren Rahmen sie sich wechselseitig verstärken: So sind beispielsweise Prozesse der Ästhetisierung und der Ökonomisierung des Sozialen zwar »nicht zwangsläufig miteinander verknüpft […,] jedoch lassen sich zwischen der Ästhetisierung und der Vermarktlichung […] strukturelle Gemeinsamkeiten erkennen« (Reckwitz 2012: 334). Pierre Bourdieu hingegen weist darauf hin, dass die praktische Orientierung auf divergente Logiken zu habituellen Spannungen führen kann (Bourdieu 1997b; Bourdieu 2002). Zeigen sich solche Verknüpfungen auch in der Praxis der Gründerinnen oder lassen sich (zusätzlich) andere Formen der Interferenz rekonstruieren? Dokumentiert sich möglicherweise eine »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« (Mannheim 2009b; Pinder 1961), weist die soziale Praxis also Bezüge zu Rationalitäten auf, die zu einem anderen, früheren Zeitpunkt gesellschaftlich wirkmächtig waren und wenn ja: wie stellen sich solche Praktiken dar, die zugleich auf unterschiedliche historische Entstehungskontexte rekurrieren? Und schließlich: 3) Wie bilden sich soziale Praktiken und die hierin potenziell eingelagerten transversal wirksamen Logiken heraus, das heißt, welche historischen Bedingungen lassen sich hinsichtlich ihrer Spezifik herausarbeiten? Wie kommt also die neue Rationalität in ihrer praktischen Besonderheit in die Welt? Mit diesen Fragekomplexen ist der Blickwinkel umrissen, der die Perspektive auf den Wandel sozialer Praxis im Rahmen dieser empirischen Analyse bestimmt. Nicht im Fokus steht hingegen die
als auch die Möglichkeit des Bezugs auf relevante Einzelaspekte eröffnet. Beide Optionen treten jedoch nicht hinter die Adressierung eines »Ursprung[s] im doppelten Sinne von Ausgangspunkt, Beginn, aber auch Urgrund, raison d’être, erste Ursache« zurück und sind daher durchaus voraussetzungsreich (Bourdieu 1998b: 76, H.i.O.).
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Veränderung von Gründungs- oder Lebensentwurfspraktiken zwischen zwei verschiedenen Zeitpunkten. Dies erforderte eine längsschnittlich angelegte Studie. Es soll jedoch gezeigt werden, dass sozialer Wandel in spezifischen Praxisvollzügen auf die hier vorgeschlagene Weise mit anderen, ebenso fruchtbaren Erkenntnisschwerpunkten erforscht werden kann.
15.3
Rekonstruktive Analyse des Wandels von Lebensentwürfen: Synchrone und diachrone Perspektive
Um diese forschungsleitenden Fragen verfolgen zu können, wird der empirischen Analyse eine sinn- bzw. praxisrekonstruktive Methodologie zugrunde gelegt (Bohnsack 2010b). Diese wird im Folgenden kurz allgemein skizziert, um daran anschließend die beiden Schritte, in denen das Datenmaterial analytisch bearbeitet wird, genauer darlegen zu können. Diese beiden Interpretationsschritte unterscheiden sich im analytischen Zugriff auf die Daten: Im ersten Schritt wird eine synchrone Perspektive auf praktischen Wandel eingenommen, indem sinngenetisch unterschiedliche Lebensentwurfstypen herausgearbeitet werden und danach gefragt wird, wie (wenn überhaupt) in unterschiedlichen Lebensentwürfen gewandelte transversale Logiken in spezifischer Form hervorgebracht werden, wie sich also in den Gegenwartsdiagnosen herausgearbeitete Aspekte sozialen Wandels in den Orientierungen der Gründerinnen zeigen. In einem zweiten Schritt wird eine diachrone Analyseperspektive eingenommen, indem anhand dreier Fallanalysen die Lebensentwürfe der Gründerinnen vergleichend mit dem Lebensentwürfen ihrer Eltern analysiert und so in ihren familialen Entstehungskontexten betrachtet werden: Welche generationalen Veränderungen dokumentieren sich im Hinblick auf den Lebensentwurf? Lässt sich sozialer Wandel bei der Betrachtung familial transmittierter Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster beobachten?
Praxeologische Methodologie und sinnrekonstruktive Analyse Eine sinn- bzw. praxisrekonstruktive Methodologie zielt auf die Analyse und wissenschaftliche Reformulierung – also auf die Rekonstruktion – jener Logiken und Sinnstrukturen, die soziale Praxis in ihrer spezifischen Form konstruieren (Bohnsack 2010b). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass sich erstens alltagspraktische Logiken von einer wissenschaftlichen Logik unterscheiden und dass zweitens diese Logiken auch untereinander – in Abhängigkeit von ihren Entstehungskontexten – divergieren. Von der phänomenologischen qualitativen Sozialforschung unterscheidet sich der praxeologische Zugang dadurch, dass er nicht auf die Analyse des (über den common sense erschließbaren) subjektiven Sinns einer Handlung, sowie auf deren Motivlagen zielt (Schütz & Luckmann 2003). Vielmehr wird angenommen, dass unter der Voraussetzung impliziten, praktischen Wissens, welches auch unter praktischem Handlungsdruck ein sinnvolles und homologes Denken, Wahrnehmen und Handeln ermöglicht, »die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun« und daher »ihr Tun mehr Sinn [hat], als sie selber wissen« (Bourdieu 1993c: 127):
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»Der praktische Sinn als Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeiten sorgt dafür, daß Praktiken in dem, was an ihnen dem Auge ihrer Erzeuger verborgen bleibt und eben die über das einzelne Subjekt hinausreichenden Grundlagen ihrer Erzeugung verrät, sinnvoll, d.h. mit Alltagsverstand ausgestattet sind.« (Bourdieu 1993c: 127) Auf diese überindividuellen, den Akteuren nicht bewussten, aber gleichsam der Praxis Form verleihenden Sinnstrukturen sowie auf die Bedingungen ihrer Erzeugung, zielt die praxeologische rekonstruktive Sozialforschung. Insbesondere jene praxeologisch orientierten Soziologien, die einen feldforschungsbezogenen Ansatz verfolgen, wie etwa die Chicagoer Schule, die Ethnomethodologie und auch Teile der cultural studies, haben sich mit der Explikation methodischer und methodologischer Überlegungen auseinander gesetzt (Flick et al. 2008) und zum Teil elaborierte Forschungsansätze entwickelt, von denen die Grounded Theory zu den bekanntesten zählt (Glaser & Strauss 1998). Ralf Bohnsack steuert mit der Dokumentarischen Methode ein Instrumentarium zur Rekonstruktion praktischer Logiken bei, das sich – wie die Grounded Theory – insofern von phänomenologischen Zugängen abgrenzt, als es nicht auf den subjektiven Sinn, sondern auf die Analyse von dem (subjektiven) Denken, Wahrnehmen und Handeln zugrunde liegenden Sozialitäten zielt und dabei komparativ verfährt. Auch ist beiden Ansätzen gemeinsam, dass sie auf Theoriengenerierung ausgerichtet und daher abduktiv angelegt sind. Anders als die Grounded Theory setzt die Dokumentarische Methode jedoch explizit an Bourdieus Praxistheorie an, versucht daher die spezifische habituelle Bedingtheit sozialer Praxis herauszuarbeiten und geht dabei mehrdimensional vor – das heißt, sie versucht den unterschiedlichen Entstehungskontexten eines spezifischen und gleichsam regelmäßig vorfindbaren modus operandi nachzuspüren (Bohnsack 2010a). Zur Konzeptualisierung eines praxeologisch orientierten methodischen Vorgehens greift Bohnsack auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims zurück, die in einigen Punkten sozialtheoretische Überschneidungen mit der Praxeologie Bourdieus aufweist, wie etwa in der Vorstellung der Seinsverbundenheit des Denkens und Handelns, aber auch im Konzept des impliziten Wissens und des praktischen Verstehens (Meuser 2013). Mannheims Begriffe und wissenssoziologische Konzepte bieten Bohnsack einen konkreten Zugang zur praktischen Konstitution des Datenmaterials, das auf Basis von Gruppendiskussionen, aber auch von narrativen Interviews und teilnehmenden Beobachtungen bzw. Videographien gewonnen werden kann (Bohnsack 2010b). Insbesondere die von Mannheim herausgearbeitete (analytische) Trennung verschiedener Wissensformen und Sinnebenen ermöglicht das systematische methodische Vorgehen im Rahmen der Dokumentarischen Methode.
Systematische Sinnrekonstruktion Für seine Analysemethode unterscheidet Bohnsack mit Mannheim zunächst zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen. Beim kommunikativen Wissen handelt es sich um ein durch die Akteure explizierbares, reflexiv erfassbares Wissen, das der intersubjektiven Verständigung – beispielsweise über Milieugrenzen hinweg – dient und daher objektiviert ist bzw. Aspekte des common sense adressiert. Unter konjunktivem
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Wissen fasst Mannheim hingegen ein atheoretisches Erfahrungswissen, das implizit bleibt und das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Akteure strukturiert. Auf theoretischer Ebene bestehen Parallelen zwischen konjunktivem Erfahrungswissen (Mannheim), tacit knowledge (Polanyi) und implizitem Körperwissen (Bourdieu). Für die Interviewsituation ist von Bedeutung, dass die Interviewten ihr atheoretisches Wissen nicht oder nur schwerlich erfassen und explizit thematisieren können. In analytischer Hinsicht ist dieses Wissen jedoch besonders relevant, weil es den Sinnhorizont bildet, in dem sich Handeln, Denken und Wahrnehmen strukturieren: »Daß man den Ausdrucksgehalt gerne als assoziiert, eingefühlt betrachten möchte, folgt daraus, daß man ihn nicht als ›Sinn‹ anzuerkennen geneigt ist. Das was von einer Melodie, Musik zurückbleibt, falls man das rein Musikalische (organisierte Hörbare) wegläßt, […] pflegt man als ›Stimmung‹, ›Lebensgefühl‹ zu benennen. Daß es aber geformte Gefühle, geformte ›Erlebnisse‹, zu ›Sinn‹ gewordene – wenn auch begrifflich unbenennbare – Innenweltgehalte gibt, das merkt man in der Regel nicht« (Mannheim 2009a: 61) Diese durch implizites Wissen konstituierten Sinnstrukturen werden von Mannheim nicht als willkürlich betrachtet, vielmehr sind sie ›seinsverbunden‹ (Mannheim 1995), das heißt, sie werden als historisch und (sozial-)räumlich spezifisch betrachtet: Wissen und Sinn bilden sich in der alltäglichen Erfahrung mit den umgebenden Akteuren, Dingen, Institutionen etc. heraus und strukturieren das Denken, Wahrnehmen und Handeln in regelmäßiger und homologer Weise10 . Kommunikatives und konjunktives Wissen wird in einer Erzählung praktisch verschränkt hervorgebracht, da für eine Sinnvermittlung immer auf kommunikatives Wissen – eine gemeinsame Sprache, gemeinsames Wissen um bestimmte Gegebenheiten etc. – rekurriert werden muss, dieses explizite Wissen jedoch zugleich durch das konjunktive, implizite Wissen in spezifischer Weise organisiert ist. Im Sinne einer praxistheoretischen Perspektive muss also beachtet werden, »dass das Wissen nicht als ein ›theoretisches Denken‹ der Praxis zeitlich vorausgeht, sondern als Bestandteil der Praktik zu begreifen ist. Dies hat zur Konsequenz, dass aus Sicht der Praxistheorie und im Gegensatz zum Mentalismus Wissen und seine Formen nicht ›praxisenthoben‹ als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren sind: Statt zu fragen, welches Wissen eine Gruppe von Personen, d.h. eine Addition von Individuen, ›besitzt‹, lautet die Frage, welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt (und erst darauf aufbauend kann man auf die Personen als Träger der Praktiken rückschließen).« (Reckwitz 2003: 292) Die beiden von Mannheim unterschiedenen Wissensformen sind zwar nur analytisch zu trennen, sie bieten innerhalb eines Interviews aber zwei verschiedene Zugänge zur
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Die Parallelen zum Habituskonzept sind nicht in direkter Bezugnahme Bourdieus entstanden. Allerdings entwickelte er einige theoretische Überlegungen in Auseinandersetzung mit den Schriften Erwin Panofskys (1957). Zwischen Panofsky und Mannheim wiederum herrschte ein expliziter theoretisch-konzeptioneller Austausch (Meuser 2013).
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Erschließung der Erzähllogik. Die Dokumentarische Methode macht sich diese analytische Trennung also für eine systematische Annäherung an das Datenmaterial zunutze: »Während der methodische Zugang zum kommunikativen Wissen unproblematisch ist, da es ohne große Schwierigkeiten abgefragt werden kann, erschließt sich uns das konjunktive Wissen nur dann, wenn wir uns (auf dem Wege von Erzählungen und Beschreibungen oder auch der direkten Beobachtung) mit der Handlungspraxis vertraut gemacht haben. Die dokumentarische Methode ist darauf gerichtet, einen Zugang zum konjunktiven Wissen als […] Orientierungswissen zu erschließen.« (Bohnsack et al. 2013: 15) Um das konjunktive Wissen erschließen zu können, nutzt die Dokumentarische Methode nun eine weitere Unterscheidung Mannheims, die den Sinngehalt einer verbalen oder non-verbalen Äußerung betrifft: Er differenziert »drei Arten des Sinns« – zwei immanente Sinnformen und eine dokumentarische Sinnform (Mannheim 2009a). Die immanenten Sinnformen lassen sich wiederum in einen intentionalen Ausdruckssinn und einen objektiven Sinn differenzieren. Der intentionale Ausdruckssinn bezeichnet, was eine Person mit einer Handlung, Aussage etc. ›tatsächlich‹ subjektiv intendiert und kann empirisch nicht erfasst werden, da er weder vermittelbar noch hinreichend rekonstruierbar ist. Der objektive Sinn hingegen knüpft an den common sense an und bezeichnet den allgemein erkennbaren, spontan erfassbaren und gesellschaftlich objektivierten Sinn einer Handlung, Aussage etc. Er lässt sich in Interviews erfassen, indem zunächst das Gesagte als thematische Abfolge erfasst wird, die Interpret*innen also beispielweise in der Antwort auf die Frage, wie es zur Existenzgründung kam, zunächst feststellen, was thematisiert wird (Familiengründung, ergebnislose Suche nach einer neuen Anstellung, Entschluss den alten Beruf nun auf eigene Rechnung auszuüben) ohne dabei direkt assoziierbaren, möglicherweise im Subtext transportierten Sinn in diese Erfassung einfließen zu lassen. Die dritte, vollständig anders gelagerte Sinnform ist der dokumentarische Sinn. Er bezeichnet die implizite Logik, die mit der praktischen Hervorbringung einer Handlung bzw. einer Aussage verbunden ist und kann nicht über die Frage nach den angesprochenen Themen erschlossen werden. Vielmehr geschieht eine rekonstruktive Annäherung über die Frage nach der Thematisierungsweise, also nach den Herstellungsbedingungen und -prozessen. Auch wenn dieser dokumentarische Sinn die in erster Linie interessierende analytische Sinnebene bezeichnet, sind beide Ebenen (wie auch die künstliche Unterscheidung beider Ebenen) konstitutiv für das methodische Vorgehen der Dokumentarischen Methode: »Der methodologischen (Leit-)Differenz von kommunikativ-generalisierendem, wörtlichen oder ›immanentem‹ Sinngehalt auf der einen und dem konjunktiven, metaphorischen oder eben dokumentarischen Sinngehalt auf der anderen Seite entspricht die Unterscheidung von Beobachtungen erster Ordnung (mit der Frage nach dem Was) und Beobachtungen zweiter Ordnung (mit der Frage nach dem Wie). Diese grundlegende methodologische Differenz findet ihren Ausdruck auch in zwei klar voneinander abgrenzbaren Arbeitsschritten der Textinterpretation, nämlich in den Schritten der formulierenden Interpretation einerseits und der reflektierenden Interpretation andererseits.
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In diesem Sinne geht es darum, das, was (wörtlich) gesagt wird, also das, was thematisch wird, von dem zu unterscheiden, wie ein Thema, d.h. in welchem Rahmen es behandelt wird. Dieser Orientierungsrahmen (den wir auch Habitus nennen) ist der zentrale Gegenstand dokumentarischer Interpretation« (Bohnsack et al. 2013: 15f., H.i.O.) Der Methode folgend wurde daher im Rahmen einer formulierenden Interpretation zunächst für die 20 Interviews mit den Existenzgründerinnen ein thematischer Verlauf angefertigt, der einen Überblick über die angesprochenen Themen und über die Reihenfolge bzw. (mit Blick auf die Interviewfragen und Erzählanreize) den Ort der Thematisierung verschafft. Auf Basis der thematischen Verläufe können innerhalb der Interviews jene Textabschnitte identifiziert werden, die einer ausgiebigeren formulierenden und im Anschluss einer reflektierenden Interpretation unterzogen werden sollen. Die Auswahl dieser Textstellen geschieht entlang dreier Kriterien (Nohl 2006: 46): 1) Zunächst spielt die Forschungsfrage eine wesentliche Rolle. Bei der Auswahl wurden also vor allem solche Textstellen berücksichtigt, die den Lebensentwurf der Gründerinnen betreffen. Relevant sind also solche Passagen, in denen sich die Gründerinnen mit dem Verhältnis von Arbeit und Leben auseinandersetzen oder über ihren Alltag sprechen, während Kindheitserzählungen (in dieser ersten, alle Gründerinnen umfassenden Analyse) ein geringerer Stellenwert beigemessen wurde. 2) Des Weiteren sind jene Textstellen von Bedeutung, in denen sich zeigt, was innerhalb der Dokumentarischen Methode Fokussierungsmetapher genannt wird. Dabei handelt es sich um Passagen, die von einer besonderen erzählerischen Ausführlichkeit und Engagiertheit sowie durch metaphorische Dichte gekennzeichnet sind. Die Erzählweise zeigt an, dass die Interviewten an dieser Stelle thematisch besonders involviert sind, dass sie von etwas berichten, das sie berührt bzw. das ihnen wichtig ist. Daher sind diese Textstellen auch geeignet, um den Analysierenden unreflektierte Vorannahmen hinsichtlich der thematischen Relevanzen vor Augen zu führen. In den Gründerinneninterviews stellten sich durchaus unterschiedliche Themenabschnitte als Fokussierungsmetaphern heraus, allerdings zeigten sich hier bereits Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Interviewten: So schildert eine Reihe von Gründerinnen in symbolisch äußerst aufgeladener Form Schlüsselmomente, die als Ausgangspunkt für die Gründung dargestellt wurden, während andere in ausdrucksstarker Form über die Freiheiten, die mit der Gründung einhergehen sprechen und wieder andere die Grenzziehung zwischen Berufs- und Privatleben besonders engagiert problematisieren. 3) Schließlich können als weiteres Kriterium der Textstellenauswahl thematische Parallelen zwischen den einzelnen Fällen (Gründerinneninterviews) herangezogen werden. Dieser Schritt bereitet eine komparative Analyse vor und zielt auch auf die Identifizierung von Themen, die nicht direkt durch die Interviewfragen angeregt wurden und dennoch in verschiedenen Interviews Relevanz entfalten. Im Fall der Gründerinneninterviews handelte es sich dabei um Themen wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den Umgang mit unternehmerischen Freiheiten und die Anforderung, sich selbst zu organisieren bzw. zu motivieren, aber auch die Frage nach stabilisierenden Elementen in der offenen Gründungssituation. Diese Themen wurden – wie sich dann in der komparativen Analyse herausstellte – in sehr unterschiedlicher Weise thematisiert, und bildeten nicht zuletzt deshalb Analyseachsen, die auch später, im Rahmen der sinngene-
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tischen Typenbildung, gute Orientierungslinien boten. Sie strukturieren nicht zuletzt – in verdichteter Form als thematische Schwerpunkte (›Verhältnis von Innen und Außen‹, ›Entgrenzung und Begrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche‹ und ›Stabilität und Dynamik‹) die Darstellung der Ergebnisse. Die anhand dieser Kriterien ausgewählten Textstellen wurden einer formulierenden Feininterpretation unterzogen, das heißt, sie wurden thematisch genauer aufgeschlüsselt, reformuliert bzw. paraphrasiert und auf markante Themenwechsel untersucht. Dieser Schritt dient dazu, »die Forschenden gegenüber dem Text fremd zu machen. Ihnen wird vor Augen geführt, dass der thematische Gehalt nicht selbstverständlich, sondern interpretationsbedürftig ist« (Nohl 2006: 47). Diese Interpretation wird im Rahmen der reflektierenden Analyse aufgenommen, die sich – ausgehend vom in der formulierenden Interpretation herausgearbeiteten ›Was‹ – nun dem ›Wie‹ der Erzählung zuwendet.
Konjunktive Erfahrungsräume und vergleichende Analyse Um nun dem dokumentarischen Sinn einer Narration auf die Spur zu kommen, sieht die Dokumentarische Methode eine reflektierende Interpretation vor, in der einerseits die Form des Gesagten und andererseits die Semantiken genauer untersucht werden, um den Modus, in dem ein Thema behandelt wird, erschließen zu können. Beide Aspekte korrespondieren eng miteinander und sind daher wiederum nur analytisch voneinander zu trennen. Im ersten Schritt der reflektierenden Analyse – der formalen Interpretation – werden zunächst die Textsorten, die in den ausgewählten Passagen zum Einsatz kommen, identifiziert und voneinander getrennt. Bohnsack greift dabei auf Überlegungen von Fritz Schütze zurück, der vorschlägt, drei zentrale Textsorten zu unterscheiden (Kallmeyer & Schütze 1977): 1) Die Erzählung ist jene Textsorte, bei der die interviewte Person besonders nahe an ihren Erfahrungen bleibt. Hier wird in der Regel ein singuläres Ereignis narrativ dargelegt. Zwar handelt es sich um eine retrospektive praktische Konstruktion des Geschehenen, es wird jedoch nicht unter Zuhilfenahme einer Alltagstheorie abstrahiert, sondern erfahrungsnah geschildert, sodass maßgeblich implizites Wissen zum Einsatz kommt. Die Erzählung ist zumeist durch einen Erzählverlauf mit einem Anfang und einem (erzähllogischen) Ende gekennzeichnet. Diese Gestalt lässt sich auf verschiedene »Zugzwänge des Erzählens« zurückführen (Detaillierungszwang, Gestaltungszwang, Relevanzfestlegungszwang), die wiederum die interpretatorische Ergiebigkeit der Textsorte erklären (Kallmeyer & Schütze 1977). 2) Die Beschreibung hingegen zielt auf die Darstellung wiederkehrender, üblicher Sachverhalte, die weitaus weniger detailliert geschildert werden. 3) Bei Argumentationen schließlich handelt es sich um »(alltags-)theoretische Zusammenfassungen und Stellungnahmen zu den Motiven, Gründen und Bedingungen für eigenes oder fremdes Handeln« (Nohl 2006: 27). Sie rekurrieren daher in höherem Maße auf kommunikatives Wissen, das im common sense objektiviert ist. Die drei Textsorten treten in Interviewpassagen oft verschränkt auf, das heißt, Erzählungen können mit Beschreibungen und/oder Argumentationen durchzogen sein. Auch die Textsortentrennung ist hilfreich, um analytischen Abstand zum Text zu gewinnen und darüber hinaus den kommunikativen Rahmen zu bestimmen, in dem
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eine Aussage zu betrachten ist. Insbesondere Schütze stellt dabei auf den besonderen Wert der Erzählung ab: »Of course, the intention and the drive to reach authenticity of expression of life historical experiences and thus to start and to realize biographical work must be empirically grounded on an adequate language instrument for the expression and presentation of personal experiences. The adequate language instrument of this task is the communicative scheme of (oral) extempore narration of one’s experiences of having personally been involved in the concatenations of events within the mundane world of social existence. The communicative scheme of extempore narration is the most elementary means to focus on, to present and to understand the flow of events making up the smaller and greater changes of one’s (everyday and biographical) life, and these changes are very deeply connected with – sometimes more and sometimes less decisive – historical changes of one’s social surroundings. – There are two other elementary communicative schemes of representing life and world: those of description and of argumentation.« (Schütze 2016: 89) Schütze argumentiert hier, dass aufgrund der Detailliertheit und Verlaufsförmigkeit von Erzählungen auch biografischer (und mittelbar sozialer) Wandel in den Blick kommt. Dieser Aspekt ist bei der hier zugrundeliegenden Forschungsfrage selbstverständlich von besonderem Interesse. Allerdings möchte ich die Überbetonung der Textform Erzählung auf Basis der Auswertungserfahrungen in zweierlei Hinsicht relativieren: Zum einen zeigt sich, dass die Verlaufsförmigkeit der Erzählung eng verbunden ist mit der von Bourdieu aufgezeigten biografischen Illusion. Es handelt sich also um einen tief in den common sense eingegangenen Modus, das Leben wahrzunehmen, zu denken und zu erzählen. In der Analyse der Gründerinneninterviews zeigte sich nun, dass dieser Modus in einigen Orientierungsrahmen mehr Wirkmacht entfaltet als in anderen. Zum anderen lässt sich feststellen, dass die Textsorten (ebenfalls typspezifisch) teilweise in bestimmter, regelmäßiger Form miteinander verquickt sind. So wird im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ die Erzählung in bestimmter Weise mit einer argumentativen Rechtfertigung verbunden, was sich als bezeichnend für den typspezifischen Orientierungsrahmen herausstellt. Es lohnt sich also meines Erachtens, den Textsorten eine gleichmäßige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und gerade auch danach zu fragen, warum bestimmte Themen in einem bestimmten Modus oder in einer spezifischen Kombination von Modi dargelegt werden. Die (implizite) Wahl der Erzählform sollte ihrerseits als spezifizierender Aspekt einer praktischen Logik bzw. eines Orientierungsrahmens in den Blick genommen und nicht im Rahmen allgemeiner Kommunikationsregeln generalisiert werden11 .
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Innerhalb der Dokumentarischen Methode wird die Textsortentrennung von Schütze teilweise ebenfalls relativiert. Zwar wird auf die besondere Relevanz der Erzählung verwiesen, da sich hier das konjunktive Wissen der Interviewten in besonderer Weise dokumentiert, allerdings schlägt Nohl (2006: 50, H.i.O.) vor, »auch die Herstellungs- bzw. Konstruktionsweise der Argumentationen [zu] rekonstruieren und auf diese Weise heraus[zu]arbeiten, wie jemand seine Handlungsweise rechtfertigt«.
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Der zweite Schritt der reflektierenden Analyse zielt nun im engeren Sinne auf die Herausarbeitung des Sinnhorizonts einer interviewten Person und umfasst die semantische Interpretation und komparative Sequenzanalyse der ausgewählten Interviewpassagen. Sie zielt auf den (habitusbedingten) Modus der Hervorbringung einer Aussage und mithin auf die impliziten Wissensordnungen der Interviewten, die eine Erzählung in bestimmter Weise strukturieren und mit einer Logik versehen. Bohnsack nennt diesen Bezugspunkt der Analyse Orientierungsrahmen (Bohnsack 2010b). Orientierungsrahmen werden in einer ersten Annäherung über die interne semantische Organisation einer Aussage erschlossen, indem sequenziell eine Abfolge unterschiedlicher Themen einer Erzählpassage hinsichtlich ihrer Kontinuität erforscht wird. Dieses Vorgehen wird auf den Vergleich unterschiedlicher Textstellen eines Interviews ausgeweitet. Im Rahmen der hier vorgenommenen Analyse zeigte sich etwa, das eine Gründerin sowohl das Zustandekommen der Selbstständigkeit als auch ihren üblichen Tagesablauf – also zwei unterschiedliche Themen – in der gleichen strukturierten, feingliedrigen, aber systematischen Weise rekapitulierte, während eine andere Gründerin auffällig viele und diverse Gegebenheiten als eine Überwindung bzw. einen Kampf gegen widrige Umstände schilderte. Diese Grundlogiken stellen also eine themen- und textstellenübergreifende Homologie innerhalb der jeweiligen Erzählung dar. Anhand der Beispiele wird bereits deutlich, dass die Spezifik der jeweiligen Erzähllogik besonders deutlich im Vergleich zu anderen Logiken hervortritt. In einer ersten Annäherung kann dabei gedankenexperimentell vorgegangen werden, indem sich die Forscher*innen fragen, wie ein bestimmter Sachverhalt auch in anderer Form erzählt werden könnte. Wesentlicher ist im Rahmen der Dokumentarischen Methode jedoch der Vergleich mit anderen Interviews. Hier stellen jene Textstellen eine besondere Ressource dar, in denen dasselbe oder ein ähnliches Thema behandelt wird. In den Differenzen und Gemeinsamkeiten der Thematisierungsmodi geraten dann Hinweise auf divergente oder geteilte Orientierungsrahmen in den Blick. Entsprechend bereitet dieser Analyseschritt die Typenbildung vor, das heißt: die Entkopplung des analytischen Fokus vom Orientierungsrahmen einzelner Fälle. Die Möglichkeit dieser Ablösung ist sozialtheoretisch begründet und schließt wiederum an die Prämissen einer praxistheoretischen Forschung an. »Diejenigen, die über Gemeinsamkeiten des atheoretischen handlungsleitenden Erfahrungswissens und somit über Gemeinsamkeiten des Habitus verfügen, sind durch eine fundamentale Sozialität miteinander verbunden, die wir im Sinne von Mannheim auch als ›konjunktive‹ bezeichnen. Milieus und Klassen konstituieren sich somit auf der Grundlage konjunktiver Erfahrungsräume, einer konjunktiven Verständigung, eines unmittelbaren Verstehens, welches wir von der kommunikativen Verständigung abgrenzen. Letzteres sichert – auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen – die Verständigung über die Grenzen konjunktiver Erfahrungsräume hinweg.« (Bohnsack 2010a: 54f., H.i.O.) Die Ähnlichkeiten zum von Bourdieu herausgearbeiteten, durch gemeinsame Existenzbedingungen hervorgebrachten und durch die Möglichkeit eines unmittelbaren Verstehens verbundenen Klassenhabitus sind unverkennbar (Bourdieu 1987). Insofern zielt die Dokumentarische Methode – als praxeologisch-rekonstruktives Analyseinstrumen-
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tarium – auf die systematische empirische Erschließung einer Kernüberlegung des praxistheoretischen Weltzugangs, nämlich der historisch-(sozial-)räumlichen Ortsgebundenheit bzw. der Seinsverbundenheit sozialer Praxis. Die Dokumentarische Methode ist dabei konzeptionell auf eine Multiplizität der Erfahrungsräume insbesondere entlang gesellschaftlich relevanter sozialer Differenzierungen wie Geschlecht, Generation, Klasse, Ethnizität etc. ausgerichtet. Da in einem Fall (einem Interview, einer Gruppendiskussion, einer beobachteten Situation) »unterschiedliche Erfahrungsräume übereinander gelagert« sind, zeugen die Erzählungen, Diskussionsabschnitte oder Beobachtungen von »unterschiedlichen ineinander geschachtelten Orientierungsfiguren« (Bohnsack 2010b: 138). Bei der Typenbildung werden daher in zwei Schritten zunächst die voneinander unterscheidbaren Logiken hinsichtlich der praktischen Hervorbringung eines bestimmten Interessensbereichs (hier: Lebensentwurf) differenziert (sinngenetische Typenbildung) und hieran anschließend unterschiedliche Erfahrungsräume identifiziert, welche die jeweilige Spezifik dieser Logiken bedingen (soziogenetische Typenbildung). In meiner Analyse steht die sinngenetische Typenbildung zunächst im Zentrum der Forschung. Die soziogenetische Typenbildung wird durch eine familienfallbasierte Vorgehensweise ersetzt. Auf die Gründe für diese Abweichung werde ich später zurückkommen.
Synchrone Perspektive und dokumentarische Typenbildung: Spätmoderne Orientierungen in Lebensentwürfen von Existenzgründerinnen Bohnsack sieht die Typenbildung in einer praxistheoretischen Tradition, die eine spezifische Lesart der Soziologie Max Webers vornimmt. Weber, der den soziologischen ›Idealtypus‹ als analytisches Konzept ausgearbeitet hat, stellt auch eine wesentliche Grundlage der phänomenologischen Typenbildung dar. »Eine andere Linie der Rezeption des Weberschen Idealtypus ist die der Wissens- und Kultursoziologie, vor allem von Karl Mannheim und Pierre Bourdieu. Diese gehen dort, wo sie auf Weber Bezug nehmen, weniger – wie Schütz und die meisten WeberInterpreten und Interpretinnen – von Webers ›Wissenschaftslehre‹ aus. Vielmehr beziehen sie sich primär auf seine eher forschungspraktischen, hier vor allem auf seine historischen Arbeiten.« (Bohnsack 2010a: 47) Ergebnis ist eine »praxeologische Typenbildung«, die auf die Rekonstruktion der Handlungspraxis und der handlungsbedingenden impliziten Wissensordnungen abzielt und »die Strukturprinzipien der Praxis typologisch verdichtet« (Bohnsack 2010a: 49).
Sinngenetische Typenbildung: Lebensentwurfstypik In der sinngenetischen Typenbildung sollen also Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der praktischen Hervorbringung eines (impliziten) Lebensentwurfs herausgearbeitet und zu divergierenden Logiken verdichtet werden. Dies ist nicht zu verwechseln mit einer Clusterbildung: Die Gründerinnen lassen sich aufgrund der Überschneidungen der von ihnen belebten Erfahrungsräume nicht trennscharf in Gruppen unterteilen, von denen jede einem bestimmten sinngenetischen Typus entspricht. Zwar gibt es Gründerinnen, die in besonderer Weise eine typusspezifische Logik hervorbringen, genauso
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gibt es jedoch Erzählungen, die in der Logik verschiedener Typen hervorgebracht werden. In der sinngenetischen Typenbildung findet also eine Loslösung von den einzelnen Fällen statt. Die Übergänge zwischen reflektierender Analyse und sinngenetisch typisierender Analyse stellen sich dabei forschungspraktisch als fließend heraus: »Sobald der rekonstruierte Orientierungsrahmen nicht mehr nur auf einer fallinternen komparativen Analyse basiert, sondern auch eine fallübergreifende umfasst, sich also von der fallspezifischen Besonderheit löst, reden wir von Typus.« (Bohnsack 2010a: 58) Die derart typisierende Vorgehensweise in der komparativen Analyse von Interviewmaterial sucht dann nach dem Kontrast in den Gemeinsamkeiten, etwa wenn gleiche Themen auf unterschiedliche Weise thematisiert werden, und nach Gemeinsamkeiten im Kontrast, etwa wenn unterschiedliche Themen oder auch ähnliche Themen in unterschiedlichen Interviews auf gleiche Weise thematisiert werden. Um eine einheitliche Typisierung zu erreichen, wird zunächst nach Orientierungsproblemen gesucht, die in allen Interviews Relevanz entfalten und zum Ausdruck kommen. Hierbei bieten die bereits in der formulierenden Interpretation identifizierten thematischen Parallelen der Erzählungen gegebenenfalls erste Hinweise. Diese gemeinsam vorliegenden, jedoch in teilweise hoch disparater Form adressierten Orientierungsprobleme bilden das tertium comparationis, anhand dessen sich nun die unterschiedlichen Orientierungsrahmen der Gründerinnen kontrastiv differenzieren lassen (Bohnsack et al. 2013). Im Falle der interviewten Existenzgründerinnen lassen sich die Lebensentwürfe entlang der (impliziten) Vergleichsthemen ›Verhältnis von Innen und Außen‹, ›Entgrenzung und Begrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche‹ und ›Stabilität und Dynamik‹ entfalten. Hierbei handelt es sich um jene zentralen Orientierungsprobleme, die alle Gründerinnen gleichermaßen beschäftigen, die sie jedoch in höchst unterschiedlicher, aber systematisch differenzierbarer Art und Weise praktisch bearbeiten. Sie werden analytisch-konzeptionell als Aspekte der Hervorbringung eines Lebensentwurfs zusammengefasst. Der spezifische Modus, in dem die jeweiligen Orientierungsprobleme bearbeitet werden, weist wiederum jeweils themenübergreifende Homologien auf. Auf diese Weise können quer zu den Vergleichsthemen drei verschiedene Lebensentwurfstypen sinngenetisch voneinander unterschieden werden: Der Typus ›Pfad‹, der Typus ›Drift‹ und der Typus ›Fügung‹.
Sinngenetische Typen und gewandelte transversale Logiken sozialer Praxis Die sinngenetische Typenbildung »begibt sich auf dem Weg der Abduktion auf die Suche nach dem genetischen Prinzip, nach dem modus operandi, welcher die Alltagspraxis in deren unterschiedlichen Bereichen in homologer Weise strukturiert« (Bohnsack 2010a: 59). Sie ist also geeignet, die Logik zu spezifizieren, in der eine bestimmte Form des Lebensentwurfs hervorgebracht wird. Sie hilft herauszuarbeiten, auf welch unterschiedliche, aber regelmäßige Weise das Leben implizit erfasst und praktisch rekonstruiert wird, welche habituellen Strategien bei der Bearbeitung allgemein lebensbezogener Probleme zum Einsatz kommen und wie das konjunktive Wissen über das Leben geordnet ist. »Sie kann aber nicht deutlich machen, in welchen sozialen Zusammenhängen und Konstellationen die typisierten Orientierungsrahmen stehen« (Nohl 2006: 57), kann also nicht klären, ob eine bestimmte typisierte Art, das Leben aufzufassen, zum
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Beispiel mit der sozialen Herkunft der entsprechend orientierten Akteure oder mit deren Generationenzusammenhang korrespondieren. Hinsichtlich dieser Fragerichtung gibt die soziogenetische Typenbildung Aufschluss, die in der Regel an die Ergebnisse der sinngenetischen Typenbildung angeschlossen wird. Für das der vorliegenden Analyse zugrundeliegende Forschungsinteresse ist die sinngenetische Typenbildung jedoch in einer anderen Hinsicht relevant: Als Ergebnis der sinngenetischen Typenbildung liegen drei verschiedene, empirisch rekonstruierte Praktiken bzw. praktische Logiken der Lebensentwurfsproduktion vor, d.h. implizite Wissensordnungen, in deren Rahmen das Leben wahrgenommen, gedacht und in spezifischer Weise handelnd bearbeitet wird. Diese Wissensordnungen können nun analytisch mit den in den Gegenwartsdiagnosen herausgearbeiteten Rationalitäten der gesellschaftlichen Ökonomisierung, Prekarisierung, Ästhetisierung und Singularisierung in Bezug gebracht werden. Auf diese Weise lässt sich herausarbeiten, inwiefern die transversalen Logiken im Rahmen der Hervorbringung von Lebensentwürfen Wirkung entfalten, in welcher spezifischen Weise diese also praktisch (mit-)produziert werden und welche Konkurrenzen, Interferenzen und ambivalenten Effekte sich dabei praktisch zeigen. Dies ist das Kernanliegen meines ersten analytischen Zugriffs auf sozialen Wandel in spezifischen Praxisvollzügen.
Soziogenetische Typenbildung Die soziogenetische Typenbildung trägt dem Umstand Rechnung, dass das konjunktive Wissen der Interviewten nicht willkürlich voneinander abweicht. Vielmehr werden – so die Prämisse – in den regelmäßig voneinander zu unterscheidenden Homologien in der Bearbeitung allgemein lebensbezogener Probleme bzw. in der Hervorbringung von Lebensentwürfen divergente geteilte Erfahrungsräume als Strukturierungsprinzipien wirksam. Dabei überschneiden sich verschiedene Erfahrungsräume in den Habitus der Interviewten. In der Art und Weise, in der diese Überschneidungen signifikante Auswirkungen auf die Praxis der Lebensentwurfsproduktion haben, weichen die Modi dieser Produktion systematisch voneinander ab und lassen sich (sinngenetisch) typisieren. Insofern ist es folgerichtig, nach den unterschiedlichen Generierungsprinzipien der divergenten Modi zu fragen, d.h. die sinngenetischen Typen auf ihre sozialstrukturellen Bedingungen hin zu untersuchen (Geschlecht, Generation, Klasse etc.). Dabei werden nicht alle denkbaren Strukturierungsprinzipien gleichermaßen wirksam. Eine soziogenetische Analyse wäre also geeignet, die spezifische soziale Bedingtheit einer bestimmten Form des Lebensentwurfs herauszuarbeiten. Zudem dient die soziogenetische Typenbildung der Verallgemeinerung der herausgearbeiteten Typik. Ralf Bohnsack verdeutlicht dies am Beispiel einer von seiner Forschungsgruppe herausgearbeiteten Migrationstypik: »[D]as rekonstruierte Orientierungsmuster [lässt sich] erst dann als eines der Migrationstypik validieren und generalisieren, nachdem wir kontrolliert haben, ob es sich nicht etwa um Orientierungen handelt, die ganz allgemein typisch sind für die junge Generation (Generationstypisches) oder für die Adoleszenzphase (Altersoder Entwicklungstypik) oder für männliche Jugendliche (Geschlechtstypik). Es ist also erst dann in valider Weise möglich, das beobachtete Orientierungsmuster dem
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›migrationstypischen Erfahrungsraum‹ zuzuordnen und es somit als eine migrationstypische Orientierung zu generalisieren, nachdem in komparativer Analyse kontrolliert wurde, ob diese Orientierung bei (Migranten-)Jugendlichen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und unterschiedlicher Milieuzugehörigkeit, also durch milieu- und entwicklungsspezifische Variationen oder Modifikationen von Erfahrungsräumen hindurch bzw. in der Überlagerung durch andere Dimensionen oder Erfahrungsräume, auf einer abstrakten Ebene als Gemeinsamkeit identifizierbar bleibt. Mit der dokumentarischen Methode eröffnet sich die Möglichkeit zur Bewältigung des Problems der Generalisierung in der qualitativen Sozialforschung.« (Bohnsack 2009: 328, H.i.O.) Mein Forschungsinteresse gilt jedoch nicht der Generalisierung einer Lebensentwurfstypik. Diese wäre auf Basis des zugrundeliegenden Datenmaterials ohnehin von sehr eingeschränkter Aussagekraft: Aufgrund der Samplekriterien können mit Blick auf den Bildungshintergrund, auf die Dimension Geschlecht und die berufliche Verortung keine differenzierenden Aussagen getroffen werden. Auch hinsichtlich der Dimension Ethnizität sowie in Bezug auf das Milieu (untere bis obere Mittelschicht) und die Generationenzugehörigkeit der Gründerinnen sind keine größeren Differenzen festzustellen (zwischen der jüngsten und der ältesten Gründerin liegen nur 22 Lebensjahre, die Hälfte der Interviewten war zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 34 und 44 Jahre alt). Zwar wird die Analyse zeigen, dass milieuspezifische Unterschiede und hieran anschließend auch Unterschiede in der geschlechtsbezogenen Subjektivierung die spezifische Hervorbringungsweise von Lebensentwürfen (und die Spezifik im Wandel dieser Hervorbringungsweisen) bedingen. Diese Unterschiede sind jedoch intersektional zu sehr verwoben, als dass sie mit einer soziogenetisch typisierenden Analyse sinnvoll erfassbar wären. Wesentlicher ist allerdings, dass mit Blick auf die Frage, wie sozialer Wandel in konkreten Praxisvollzügen zum Ausdruck kommt, die Frage nach typisierbaren (!) soziogenetischen Zusammenhängen der sinngenetischen Typen und die Frage nach der Reichweite der Lebensentwurfstypik sekundär ist. Vor dem Hintergrund der Frage nach sozialem Wandel ist erstens relevant, wie sich gewandelte transversale Logiken mit der spezifischen Hervorbringung von Lebensentwürfen verbinden – dies wird auf Basis der sinngenetischen Typik im Rahmen der synchronen Analyse eruiert. Und zweitens ist von Interesse, wie die Produktionsweisen von Lebensentwürfen und die darin eingelassenen transversalen Wandellogiken vor dem Hintergrund spezifischer Sozialisationskontexte entstanden sind und sich verändert haben. Diese zweite, diachrone Perspektive setzt ebenfalls eine soziogenetische Logik voraus, wird jedoch im Rahmen dieser Arbeit in Form dokumentarischer Familienfallanalysen realisiert.
Diachrone Perspektive und Familienfallanalyse: intergenerationaler Vergleich von Lebensentwürfen Die diachrone Perspektive wird durch einen Analyseschritt realisiert, der auf die Soziogenese der Lebensentwürfe zielt und danach fragt, durch welche Entstehungskontexte sie bedingt sind und auf welche Weise sie sich in ihrer historisch-sozialen Genese mit gewandelten transversalen Logiken verbinden. Insofern bedarf es eines bestimmten
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methodischen Blicks auf das Material, der anders gelagert ist als jener der sinngenetischen Typenbildung und den ich zunächst im Folgenden ausführen möchte, bevor ich dann das methodische Vorgehen bei meiner (dokumentarischen) Familienfallanalyse und deren Relevanz mit Blick auf die empirische Erfassung sozialen Wandels darstelle.
Soziogenetische Interpretation Arnd-Michael Nohl stellt fest, dass sich bisweilen hoch differente sinngenetische Typen in Materialien herausarbeiten lassen, ohne dass sich eine soziogenetische Typisierung sinnvoll anschließen lässt. Dies führt er darauf zurück, dass »solche sozialen Formationen […] nicht zu den gesellschaftlich etablierten Dimensionen sozialer Heterogenität gehören« und in sozialen Zusammenhängen situiert sind, die »noch im Entstehen begriffen sind, deren Genese also noch andauert« (Nohl 2013: 60): Insbesondere dort, »wo sozialer Wandel geschieht, wo sich also gesellschaftliche Strukturen verändern und neue Relationen sozialer Orientierungen und Erfahrungen zu Tage treten« verweisen sinngenetische Typen dann auf eine »Kollektivität im status nascendi«, die nicht mit einer soziogenetischen Typenbildung sozialräumlich verortet werden kann, da diese »– zumindest in bisherigen Untersuchungen – eher auf gesellschaftlich etablierte Formen und Dimensionen der Kollektivität verweist« (Nohl 2013: 60). Während Nohl an diese empirische Ausgangslage mit dem methodischen Konzept einer relationalen Typenbildung anschließt, die jedoch auf Ebene der Sinngenese verbleibt, sodass keine Aussagen über soziogenetische Zusammenhänge möglich werden, schließe ich mit einer Analyseform an, die Bohnsack als ›soziogenetische Interpretation‹ bezeichnet. Bohnsack geht davon aus, dass es im Rahmen der Dokumentarischen Methode verschiedene Wege zur Erschließung der sozialen Bedingungen einerseits homologer, andererseits regelmäßig voneinander unterscheidbarer Sinnstrukturen (hier: Lebensentwurfstypen) gibt: »Die Zuordnung eines Orientierungsrahmens zu einem Erfahrungsraum ist nicht nur auf dem Weg der mehrdimensionalen soziogenetischen Typenbildung möglich, sondern auch auf demjenigen der soziogenetischen Interpretation. Die Rekonstruktion der Genese des genetischen Prinzips, also die Genese des Habitus oder des Orientierungsrahmens […], in soziogenetischer Interpretation meint dann […] die Rekonstruktion jenes Sozialisationsprozesses bzw. dessen interaktiver Struktur […], als deren Produkt der Orientierungsrahmen […] anzusehen ist.« (Bohnsack 2010a: 60, H.i.O.) Die soziogenetische Interpretation birgt also vor dem Hintergrund meiner Fragestellung gegenüber der soziogenetischen Typenbildung insbesondere zwei Vorteile12 : Zum einen ermöglicht sie einen komplexen Zugriff auf die Entstehungskontexte von Orientierungsrahmen bzw. habitueller Dispositionen. Wenn die empirische Annährungsweise an sozialen Wandel über spezifische Praxisvollzüge insbesondere die Vielfalt sowie die Interferenzen, Ambivalenzen und Konflikte in der Hervorbringung gewandelter Praxismuster in den Blick nehmen soll, ist es meines Erachtens notwendig, die spezifischen Produktionsbedingungen in ihrem Zusammenspiel analytisch zu fokussieren, sich also nicht 12
Bohnsack (2010a: 60) versteht die beiden Zugänge allerdings nicht als Alternativen: »Soziogenetische Typenbildung und soziogenetische Interpretation ergänzen und validieren einander.«
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über einen typisierenden und damit in erster Linie trennenden Zugang zu nähern. Damit ist das Problem jener Intersektionalitätsforschungen berührt, deren Ziel die verschränkende Analyse verschiedener Differenzkategorien ist und die dabei ein »Verständnis von Intersektionalität als Wechselwirkungen zwischen (und nicht als Addition von) Ungleichheitskategorien« zugrunde legt (Winker & Degele 2010: 14). Auch Bohnsack möchte die soziogenetische Typenbildung nicht als schlichte Aufschlüsselung sozialstruktureIler Überlagerung verstanden wissen, bei der jeder Typus einen bestimmten Teilaspekt eines empirischen Falls erklärt, die Dokumentarische Methode ist ebenfalls an den Wechselwirkungen unterschiedlicher, strukturierender Strukturen mit gesellschaftlicher Reichweite interessiert. »Hermann Nohl (1920) hat das ›Wesen des Typus‹ am Beispiel des Kunstwerks als eines Individuums erläutert: ›Was in der Analyse getrennt ist, wirkt im Kunstwerk geheimnisvoll zusammen, und gerade in diesem Ineinanderwirken verschiedener Faktoren liegt ein spezifisch Individuelles‹. Der Fall, das Individuum – sei dies nun eine Person oder eine Gruppe – repräsentiert unterschiedliche Typiken und dies nicht in additiver Weise, sondern in ihrer logischen Beziehung zueinander, die nicht lediglich theoretisch postulierbar, sondern in methodisch kontrollierter Weise empirisch rekonstruierbar ist.« (Bohnsack 2010a: 64) Die soziogenetische Typenbildung ist dabei jedoch auf eine dimensionierende Konzeption von sozialstrukturellen Kategorien wie Geschlecht, Bildung, Generation, Klasse etc. ausgerichtet – hierauf stützt sie den Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer empirischen Aussagen. Zwar ist die weitreichende Wirkungsweise gesellschaftlicher Differenzierungskategorien etwa bei der Produktion sozialer Ungleichheiten oder hinsichtlich der Strukturierung sozialer Praktiken unstrittig. Allerdings geht meines Erachtens mit der dimensionierenden Betrachtungsweise die Gefahr einer (analytischen) »Versämtlichung« einher (Hark & Villa 2018), also die Gefahr einer derartigen Verallgemeinerung und Vereinheitlichung sozialstruktureller Kategorien, dass Mitglieder einer Gruppe von Merkmalsträger*innen in gleichmäßiger Form als ›Exemplar‹ verstanden werden. Zwar weist Bohnsack eine additive Konzeptualisierung zurück, allerdings kann eine dimensionierende Vorgehensweise dem Problem nicht entgehen, dass eine latent strukturalistische Idee der Wechselwirkung mitgeführt wird, die jene Punkte, an denen sich zwei Dimensionen überkreuzen, als Orte relativ gleichmäßig verlaufender Reaktionen bzw. Operationen behandelt. Dies ermöglicht zwar die Verallgemeinerung und führt zu zweifellos interessanten Ergebnissen. Es reduziert zugleich jedoch die Komplexität der Wechselwirkungen unterschiedlicher Differenzstrukturen. Um dem von Bohnsack zitierten ›geheimnisvollen Zusammenwirken bzw. Ineinanderwirken verschiedener Faktoren‹ auf die Spur zu kommen, ist die von ihm vorgeschlagene soziogenetische Interpretation meines Erachtens der fruchtbarere Weg. Mit ihrer Hilfe kann der Konstitution sozialer Praxis in angemessenerer Form Rechnung getragen werden – sowohl der praktischen (und nicht mechanischen) Hervorbringung sozialer Muster, die eine allzu glatte Rekonstruktion von Differenzkategorien verunmöglicht als auch der Situiertheit und der kontextabhängigen Wirkungsweise von Differenzkategorien. Denn geschlechtsspezifische, klassenspezifische oder generationsspezifische Praxis wird nicht nur je nach Ort und Überlagerung in divergenter Weise hervorge-
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bracht, sie zeitigt auch unterschiedliche Effekte. Beide Aspekte sind für die Frage danach, auf welchen Wegen gewandelte transversale Logiken Eingang in die soziale Praxis finden, hoch relevant. Und beide Aspekte können mit einer soziogenetischen Interpretation in den Blick genommen werden. Dies leitet über zum zweiten Vorteil, den eine soziogenetische Interpretation vor dem Hintergrund meiner Fragestellung gegenüber einer soziogenetischen Typenbildung aufweist: Während letztere nämlich »Aufschluss darüber zu geben [vermag], welcher Typik, d.h. welchem Erfahrungsraum eine Orientierung […] zuzuordnen ist, d.h. in welchem Erfahrungsraum […] ihre Sozio-Genese zu suchen ist«, zielt erstere auf die Analyse dieser »Genese in ihrer Prozessstruktur oder ihrer interaktiven Struktur« (Bohnsack 2013: 267, H. J.E.). Die soziogenetische Interpretation nimmt also die Prozesshaftigkeit der Soziogenese methodisch-analytisch in den Blick, weshalb sie für die Rekonstruktion der Entstehung neuer bzw. gewandelter Sinnstrukturen überaus geeignet ist. Auch wenn dieser Zugang der Dokumentarischen Methode weniger bekannt ist, so zeigt er doch, dass sie – dem praxistheoretischen Anspruch folgend – nicht etwa eine methodenkonzeptionelle Überformung der reproduktiven Aspekte sozialer Praxis vornimmt bzw. eine statische Perspektive auf soziale Praxis präformiert: »Die Genese einer Orientierung, eines Orientierungsrahmens, hat […] eine eigene Prozessstruktur, die von der Prozessstruktur des Orientierungsrahmens selbst, die wir auch als Modus Operandi bezeichnen, noch einmal zu unterscheiden ist. Während ich die Rekonstruktion dieses Modus Operandi, wie gesagt, als sinngenetische Interpretation bezeichne, meint soziogenetische Interpretation die Rekonstruktion der Genese des Modus Operandi.« (Bohnsack 2013: 267) Analytisch setzt die soziogenetische Interpretation an »interaktiven Schlüsselszenen innerhalb der (kollektiven) Sozialisationsgeschichte und Biographie« an, die sich insbesondere in metaphorisch dichten Kindheits- und Jugenderzählungen finden lassen (Bohnsack 2013: 267). Diese bilden für Bohnsack den Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion jener Wirkungen, die zur Herausbildung eines spezifischen Orientierungsrahmens geführt haben. Bezogen auf die von mir analysierten Lebensentwürfe bedeutet dies, dass über die Schilderung von Kindheits- und Jugenderfahrungen nicht nur der Herausbildung der spezifischen Lebensentwürfe, sondern vor allem der Herausbildung jener habituellen Dispositionen nachgespürt werden kann, die diese Spezifik bedingen. Das der Analyse zugrundeliegende Datenmaterial weist in dieser Hinsicht jedoch eine Besonderheit auf: Es umfasst nicht nur biografische Erzählungen (einschließlich ausführlicher Kindheits- und Jugenderzählungen) der 20 Gründerinnen, sondern darüber hinaus Spiegelinterviews mit verschiedenen Mitgliedern der Kernfamilien der Gründerinnen (Mutter, Vater, ein*e Schwester/Bruder), sodass ganze Familienzusammenhänge in Form von Einzelinterviews und teilweise sogar gemeinsamen Familiengesprächen13 empirisch erfasst wurden. Daher kann die Familie – als geteilter Erfahrungshorizont
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Die Familiengespräche konnten nicht in allen Fällen realisiert werden, zeigten sich in der Analyse aufgrund ihrer spezifischen Form aber auch nur bedingt tragfähig. Sie wurden daher nur als flankierendes Material ergänzend einbezogen.
15 Lebensentwürfe als Kristallisationspunkt sozialen Wandels
und Ort der Genese habitueller Dispositionen – bei meiner soziogenetischen Analyse aus verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen werden. Insofern erweitere ich an diesem Punkt die konzeptuellen Überlegungen zu einer soziogenetischen Interpretation, indem ich im Rahmen dreier Familienfallanalysen einen wesentlichen Erfahrungsraum (Familie) durch Perspektiventriangulation rekonstruiere und so die Orientierungsrahmen der Gründerinnen an die Strukturen ihrer Entstehungskontexte rückbinden kann.
Dokumentarische Familienfallanalyse Die Familienfallanalyse schließt an die sinngenetische Typenbildung an, indem zu jedem der drei herausgearbeiteten Typen ein ›Kernfall‹ identifiziert wird, der in besonderem Maße dem jeweiligen Orientierungsrahmen zuzuordnen ist. Analysiert wird also ein Familienfall, in dessen Zentrum eine Gründerin steht, deren Orientierungen in besonders hohem Maße dem Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ entsprechen (Familie Töbelmann) und analog hierzu findet jeweils eine Familienfallanalyse zum Orientierungsrahmen des Typus ›Drift‹ (Familie Berg) und des Typus ›Fügung‹ (Familie Wunsch) statt. Mit diesem Analyseschritt weiche ich vom Anspruch der Dokumentarischen Methode ab, eine möglichst valide Verallgemeinerung der herausgearbeiteten sinngenetischen Typen herzustellen und fokussiere mich auf die detaillierte Rekonstruktion der sozialen Produktionsbedingungen der verschiedenen Lebensentwürfe und mithin auf die praktische Hervorbringung sozialen Wandels. Obwohl die Themen ›Wandel‹ und ›soziale Dynamik‹, aber auch ›soziale Reproduktion‹ eine lange Tradition im soziologischen Diskurs um Generation aufweisen (Eisenstadt 1966; Lettke & Lange 2007; Mannheim 2009b), stellt Beate Fietze (2009: 165) fest, dass »[b]is heute […] in der mangelnden Reflexion des Verhältnisses zwischen Generationen und sozialem Wandel das größte Desiderat der Generationssoziologie« liegt. Dies liegt nicht zuletzt an der Uneindeutigkeit bzw. der Bedeutungsvielfalt des Begriffs der Generation: Dieser oszilliert zwischen »Bedeutungsmuster und Messeinheit« und hat eine geradezu mystische Qualität, insofern er – im Sinne Roland Barths – eine überaus gelungene Verwandlung von Geschichte in Natur darstellt und in dieser Form als ein wesentlicher und zugleich verdeckter sozialer Mechanismus der Sinnstiftung und Evidenzerzeugung gelten kann (Parnes et al. 2008). Hierin ähnelt er dem Begriff der Familie, der jenen sozialen Ort bezeichnet, an dem Akteure unterschiedlicher Generationenzugehörigkeit in spezifischer Form dauerhaft gemeinsam soziale Praxis hervorbringen. »[T]he family as an objective social category (a structuring structure) is the basis of the family as a subjective social category (a structured structure), a mental category which is the matrix of countless representations and actions (e.g. marriages) which help to reproduce the objective social category. The circle is that of reproduction of the social order. The near-perfect match that is between the subjective and objective categories provides the foundation for an experience of the world as self-evident, taken for granted. And nothing seems more natural than the family; this arbitrary social construct seems to belong on the side of nature, the natural and the universal« (Bourdieu 1996: 21)
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
Die lange unhinterfragten und auch heute – da sowohl Generationenverhältnisse als auch Familienstrukturen kritisiert, dekonstruiert, umgestaltet oder abgelehnt werden – nur teilweise reflektierte, weitreichende Wirkmacht hinsichtlich der Konstitution sozialer und symbolischer Ordnungen räumt der konzeptionellen Triade ›Generation – Familie – Wandel/Reproduktion‹ einen besonderen Stellenwert bei der Erforschung sozialer Dynamik bzw. Statik ein. Praxistheoretisch kann die Familie dabei als Ort der intergenerationalen Reproduktion und Transformation von Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen verstanden werden, als Praxisensemble und Bündel sozialer Beziehungen (Crompton 2006), in deren Rahmen Denk-, Wahrnehmungs-, und Handlungsmuster, das implizite Wissen um die Ordnung der Dinge sowie körperliches Know-how alltagspraktisch im gemeinsamen Tun (implizit) vermittelt werden. Sie schließen eher an die Sphäre der Lebensformen als an spezifische soziale Felder an und umfassen daher allgemeine Praktiken der Lebensführung, schaffen und vermitteln aber auch relationale Bezüge zu verschiedenen Feldern (z.B. Feld der Bildung, der Politik, der Ökonomie oder berufliche Felder). Familien (wie auch Generationen) dürfen nicht als statische Konzepte bzw. gleichbleibende Vermittlungs- und Vereinheitlichungsinstanzen betrachtet werden. Als Praxisensembles unterliegen sie der Unschärfe der Praxis, sind raumzeitlich spezifisch und weisen Wandeldynamiken auf, was sich auf die Bildungs- bzw. Transmissionsprozesse innerhalb der Familie auswirkt14 . Zu den Aspekten, die dabei beachtet werden müssen, zählen unter anderem folgende: 1) Die Form der Familie, sowie der (sozialräumlich variierende) Wandel dessen, was als normale bzw. respektable Familie aufgefasst wird, wirkt sich auf die familiale Alltagspraxis ebenso aus wie auf die Transmissions- bzw. Sozialisationsprozesse (Geulen 2004). 2) Familien sind eingewoben in verschiedenste praktische Kontexte, die sie bedingen und die zum Teil in unterschiedlicher Form auf die einzelnen Mitglieder einwirken. Sie sind also nicht die einzigen »Sozialisationsinstanzen«, die auf das Denken, Wahrnehmen und Handeln ihrer Mitglieder Einfluss nehmen (Frerichs & Steinrücke 1997). 3) Wandeldynamiken und Transmissionsprozesse, die im Rahmen des alltäglichen Zusammenlebens entstehen, betreffen nicht nur die Kindergeneration. Bildung bzw. habituelle Veränderungen können praxistheoretisch nicht als unidirektionales Geschehen aufgefasst werden, sondern betreffen alle Mitglieder der Familie (Atkinson 2014; Büchner 2006). Soll sozialer Wandel im Praxiskontext von Familien erforscht werden, kann dies also nicht bedeuten, dass ein schlichter Abgleich zwischen den habituellen Strukturen der Eltern- und der Kindergeneration vorgenommen wird. Vielmehr muss die Analyse – ganz im Sinne der soziogenetischen Interpretation – auf die Rekonstruktion der Produktionsbedingungen und -prozesse von Lebensentwürfen im spezifischen familialen Kontext zielen. Gleichwohl stellen laut Bohnsack (2009: 323) »[d]ie Mutter/KindBeziehung und die Familie […] konjunktive Erfahrungsräume par excellence dar.« Sie bilden nicht zuletzt deshalb einen so wesentlichen Bezugspunkt für die Erforschung soziogenetischer Prozesse, weil sie in der Regel jener Ort sind, wo Akteure erstmals
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Unter anderem um diese Dynamiken konzeptionell besser in den Blick nehmen zu können, rekonstruiert Atkinson (2014) Familien im Anschluss an Bourdieu als soziale Felder.
15 Lebensentwürfe als Kristallisationspunkt sozialen Wandels
gesellschaftlich situiert sind, wo die Seinsgebundenheit also ihren Ausgangspunkt findet und wo sich jene Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen konstituieren, die wiederum die Basis für das folgende Denken, Wahrnehmen und Handeln bilden (Rosenberg 2011). Dies gilt für Akteure aller Generationen gleichermaßen und lebenslang, weshalb die Generationsbedingtheit des Habitus auch nicht bedeutet, dass ein spezifisches Denken, Wahrnehmen und Handeln auf Dauer gestellt ist, sondern ein generationaler Erfahrungsraum habituelle Entwicklungen in spezifischer Weise ermöglicht und begrenzt. Dieser Umstand kann für die Erforschung des Wandels sozialer Praxis fruchtbar gemacht werden. Das Datenmaterial eignet sich nicht nur aufgrund der multiperspektivischen Erfassung des konjunktiven Erfahrungsraums Familie gut für eine soziogenetische Analyse, sondern auch aufgrund der Datenqualität. Dies hängt damit zusammen, dass das Ursprungsprojekt ›Entrepreneuresse‹ in der Tradition des von Peter Büchner und seinem Forschungsteam durchgeführten Forschungsprojekts ›Bildungsort Familie‹ (Büchner & Brake 2006) steht und die Datengenerierung daher auf ein elaboriertes Analysekonzept zur Erforschung familialer Transmissionsprozesse ausgerichtet war. Die Forschungsarbeiten zum ›Bildungsort Familie‹ (und in der Folge auch die Forschungsstrategie des Entrepreneuresse-Projekts) sind zudem, auch wenn sie nicht explizit an das Instrumentarium der Dokumentarischen Methode anschließen, methodologisch ausgesprochen kompatibel mit deren Analysewerkzeugen: »In diesem Projekt geht es dabei nicht nur um das Was des intergenerationalen Kulturtransfers, um die Frage also, welche Art von (inkorporiertem) kulturellen Kapital in verschiedenen Familienkulturen weitergegeben und angeeignet wird. In den Blick genommen werden soll auch der modus operandi des Bereitstellens und Annehmens von kulturellem Kapital in der Mehrgenerationenfolge, also die Frage nach dem Wie der kulturellen Transmission im familialen Kontext.« (Brake & Kunze 2004: 74, H.i.O.) Das konkrete Vorgehen bei der Familienfallanalyse variiert nun die soziogenetische Interpretation nach Bohnsack insofern, als die Analyse des soziogenetisch relevanten konjunktiven Erfahrungsraums Familie nicht ausschließlich auf Kindheitserzählungen der Gründerinnen verwiesen war, sondern dieser komparativ anhand der Interviews mit den jeweiligen Familienmitgliedern herausgearbeitet werden konnte. Hier wurde – im Sinne der soziogenetischen Interpretation – nach Schlüsselerzählungen gesucht, die auf familiale Logiken der gemeinsamen Hervorbringung sozialer Praxis verweisen. Die Suche umfasste dabei die Interviews aller Familienmitglieder und war vergleichend angelegt: Wurde in einem Interview eine Schlüsselpassage identifiziert, wurde in den übrigen Familieninterviews nach thematisch ähnlichen Erzählungen gesucht. Auf diese Weise konnten zentrale geteilte habituelle Dispositionen – der gemeinsame Orientierungsrahmen der Familie – ebenso herausgearbeitet werden, wie Strategien der Erziehung bzw. Transmission. Ein zweiter Fluchtpunkt der Familienfallanalysen stellten die Lebensentwürfe der Familienmitglieder da. Die Familienfälle wurden ausgehend von den Lebensentwürfen der Gründerinnen ausgewählt. Diese waren jeweils möglichst eindeutig auf einen der drei sinngenetisch herausgearbeiteten Typen orientiert. Der jeweilige Lebensentwurf wurde dann wiederum in einem analytischen Vergleich den Lebensentwürfen der Eltern
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
gegenübergestellt. Im generationalen Kontrast konnten so 1) spezifische Veränderungen herausgearbeitet und 2) diese Veränderungen mit den gewandelten transversalen Logiken in Korrespondenz gebracht werden. Schließlich ließ sich 3) mit Rekurs auf die parallel herausgearbeiteten familialen Orientierungsrahmen bzw. familienhabituellen Strategien aufzeigen, nach welchen Sinnmustern die Transformation von Lebensentwürfen erfolgt – und damit auch, wie der Wandel transversaler Logiken in spezifischer Weise alltagspraktisch hervorgebracht wird.
16 Die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen
Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits darauf eingegangen, weshalb das Datenmaterial des Forschungsprojekts ›Entrepreneuresse‹ sich für eine Analyse des Wandels sozialer Praxis eignet. Im Folgenden soll nun auf jene soziale Situation genauer eingegangen werden, in der sich die Existenzgründerinnen zum Zeitpunkt ihrer Gründung befinden, um dabei die These zu entfalten, dass sie sich in besonders dynamischen Kontexten bewegen und sich die Interviews daher in hohem Maße für die Rekonstruktion spezifischer Hervorbringungsmodi gewandelter praktischer Logiken eignen. Den Ausgangspunkt der These bilden die in Teil III vorgestellten praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen: Diese definieren jeweils eine ›Avantgarde‹, welche die analysierten Wandelprozesse in besonderem Maße vorantreibt (Boltanski & Chiapello 2006; Reckwitz 2012, 2017a) und/oder gesellschaftliche Gruppen, die vorrangig von veränderten praktischen Logiken erfasst werden, insofern sie beispielsweise in hohem Maße durch die Anrufung neuer Subjektivierungsformen adressiert sind (Bröckling 2002, 2007a; Rose 2000a). Sie verweisen aber auch auf Milieus, die in besonderer Weise von den (prekären) Auswirkungen gegenwärtiger Wandelprozesse erfasst werden (Bourdieu 1997b; Schultheis 2013; Völker 2009b). Aus verschiedenen, im Folgenden aufgeschlüsselten Gründen ist es wahrscheinlich, dass die interviewten Gründerinnen (strukturell) mehreren dieser Akteursgruppierungen zuzurechnen sind. Die soziale Situation der Gründerinnen zeichnet sich nun durch eine Anzahl von Merkmalen aus, die durch die Gegenwartsanalysen als Ausdruck gegenwärtiger praktischer Wandelprozesse analysiert werden: Mit der beruflichen Selbstständigkeit geht etwa eine Flexibilisierung, Selbststeuerungsnotwendigkeit, sowie ein Selbstvermarktungsimpetus einher, der institutionell durch das politische Programm des ›aktivierenden Staates‹ in spezifisch neoliberaler Form konnotiert ist. Zudem wird die SoloSelbstständigkeit zu jenen ›atypischen Beschäftigungsformen‹ gezählt, die als wesentlicher Anhaltpunkt für eine strukturelle Prekarisierung gelten. Da sich die Gründerinnen im Bereich der wissensintensiven und akademisierten Dienstleistungen selbstständig gemacht haben, könnten sie sich aber auch als Pionierinnen von Lebensformen herausstellen, in denen Arbeit einen neuen Stellenwert einnimmt und Kreativität, Autonomie
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
und Selbstentfaltung von zentraler Bedeutung sind, sodass auch Prekarität nicht in einer ausschließlich defizitären Logik rekonstruiert werden kann. Es liegt also der Verdacht nahe, dass in der sozialen Situation, in der sich die interviewten Gründerinnen befinden, verschiedene der gegenwartsanalytisch herausgearbeiteten transversalen Logiken ihre Wirkung entfalten, konkurrieren oder auch interferieren. Als akademisch ausgebildete, vornehmlich in schwach strukturierten Feldern arbeitende, hauptsächlich über kulturelles Kapital verfügende Akteure können die meisten der befragten Gründerinnen1 mit Bourdieu (1987) auf verschiedenen Positionen der Achse ›Neues Kleinbürgertum‹ – ›Neue Bourgeoisie‹ verortet oder mit Reckwitz (2017a) der ›Neuen Mittelklasse‹ zugerechnet werden. Diesen sozialstrukturellen Standorten ist eine relativ große Zukunftsoffenheit hinsichtlich der beruflichen (und sozialen) Laufbahn sowie eine relativ hohe praktische Kontingenz der Lebensführung gemein. Hier positionierte Akteure sind tendenziell orientiert an neuen Wissens- und Ordnungsstrukturen, die – im Gegensatz zu traditionellen Ordnungsmustern – geeignet sind, ihrer Lebensform Anerkennung zu verschaffen. Sie bewegen sich also in sozialen Unbestimmtheitszonen, an Orten, an denen die Hervorbringung gewandelter sozialer Logiken und Praxisregime strukturell wahrscheinlich ist. Diese Situation relativer Unbestimmtheit lässt sich entlang dreier Schlaglichter entfalten, die jedoch an verschiedenen Stellen Überschneidungen aufweisen: Erstens stellt die Selbstständigkeit eine relativ kontingente Arbeitsform dar, die gerade in den 2000er Jahren – in jenem Zeitraum also, in dem die Gründungen der Interviewten stattfanden, – öffentlich stark gefördert, allerdings politisch auch in spezifischer Weise vereinnahmt wurde. Als ›atypische Beschäftigungsform‹ sind sie in einem gesellschaftlichen Bereich zu verorten, in dem fordistisch tradierte Ordnungsstrukturen, d.h. vornehmlich um das ›Normalarbeitsverhältnis‹ und zugehörige Familienmodelle zentrierte Lebensformen, zusehends erodieren und dabei einerseits Raum für die Aushandlung neuer Strukturen schaffen, andererseits aber auch zum Teil (bedrückend) prekäre Lebenslagen entstehen lassen. Zweitens geht – wie die feministische und geschlechtertheoretische Prekarisierungsforschung bereits herausgearbeitet hat – mit der Erosion des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses auch eine (partielle) ›Erschöpfung‹ der damit zusammenhängenden und lange vorherrschenden Geschlechterordnungen einher (Völker 2011). Dies schafft nicht nur Zonen der Unbestimmtheit, in denen Geschlechterverhältnisse in veränderter Form hervorgebracht werden können, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, dass männlich tradierte Berufsbilder in veränderten, prekärer aber eben auch ›weiblicher‹ werdenden Kontexten sinnhaft umstrukturiert werden. Und schließlich repräsentieren – drittens – die Berufsfelder, in denen die interviewten Frauen gründen, Branchen, die in enger Verbindung zum Aufstieg der Kultur- und Kreativwirtschaft gesehen werden können. Dieser Wirtschaftszweig gilt als Vorreiter neuer Arbeits- und Lebensformen.
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Von den 20 interviewten Gründerinnen übt nur eine Frau eine klar definierte, mit formalen Zutrittsschranken belegte und traditionell freiberuflich organisierte Profession aus (Steuerberaterin).
16 Die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen
16.1
Flexible Arbeitswelt und prekäres Unternehmertum
Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts setzt in Deutschland eine international bereits seit den 1980er Jahren spürbare ›Renaissance der Selbstständigkeit‹ ein: Von Beginn der 1990er Jahre bis 2007 erhöhte sich die Anzahl der Selbstständigen unter den Erwerbstätigen in Deutschland von 10 % auf 12,5 % (Schulze Buschoff 2010). Während also der Beginn gesteigerter Gründungsaktivität nicht direkt mit den ›Hartz-Reformen‹ der 2000er Jahre im Zusammenhang steht, die explizit auch auf eine Stimulierung beruflicher Selbstständigkeiten zielen, so wird in der gouvernementalen Neuausrichtung doch eine Verschiebung der Vorstellung von Arbeit und mithin von Selbstständigkeit explizit: Die gezielte Ausweitung des Anteils selbstständig Beschäftigter zeigt einen politischen Strategiewechsel vom ›Keynesian welfare-state‹ zum ›Schumpeterian workfare-state‹ (Jessop 1993) an, der auf die Aktivierung, Flexibilisierung und Responsibilisierung der (arbeitslosen) Bürger*innen abzielt und Hilfeleistungen des Staates an Gegenleistungen knüpft, insbesondere an die aktive Beteiligung an Widereingliederungsmaßnahmen oder den Ausbau der persönlichen Employability. Erwerbsfähigkeit wird in diesem neuen politischen Rahmen vor allem als Fähigkeit zur Selbstversorgung gedeutet und diese wiederum als in individueller Verantwortung zu leistende Aufgabe markiert (Freier 2016). Dabei ist Selbstständigkeit (ironischerweise) nicht so sehr im Sinne Schumpeters auf das Schöpferische bzw. die Innovation ausgerichtet, sondern auf die Möglichkeit, sich in Arbeit zu bringen. Eine berufliche Selbstständigkeit gilt also als probates Mittel der Verantwortungsübernahme und wird entsprechend gefördert: Die 2003 als politisches Instrument einer ›Gründungsoffensive‹ eingeführte ›Ich-AG‹ (§421 1 SGB III), die für einen Zeitraum von drei Jahren einen monatlichen Existenzgründungszuschuss gewährte, stellte zumindest kurzzeitig2 eine wesentliche Säule der Arbeitsmarktreformen dar und bildete 2006 den größten Einzelposten aktiver Arbeitsmarktpolitik – freilich auch deshalb, weil andere Förderprogramme wie etwa die ›Arbeitsbeschaffungsmaßnahme‹ zugleich merklich gekürzt wurden (Fischer 2010). Ein Beschäftigungsausbau, so die zugrundeliegende Idee, ließe sich am besten über die Schaffung neuer Arbeitsplätze bewerkstelligen, und eine Neugründung – insbesondere aus der Arbeitslosigkeit – bringt nicht nur eine Person in Arbeit, sondern birgt das Potenzial, weitere Arbeitsplätze zu schaffen und wichtige Impulse für den erwünschten Strukturwandel zu geben (Koch & Wießner 2003). Die Gründungsoffensive firmiert also in mehrfacher Hinsicht unter dem aktivierungspolitischen Leitspruch ›Sozial ist, was Arbeit schafft‹ (Freier 2016). Diese Hoffnungen erfüllten sich keineswegs: Zwar lässt sich zwischen 2000 und 2007 ein Anstieg der beruflichen Selbstständigkeiten um 14 % verzeichnen, dabei handelt es sich jedoch fast ausschließlich um Selbstständige ohne Beschäftigte, sogenannte Solo-Selbstständige (Pongratz & Simon 2010). Insbesondere bei Frauen nahm die SoloSelbstständigkeit überproportional zu (Schulze Buschoff et al. 2017). Seit rund zehn Jah-
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Mitte 2006 wurde der Existenzgründungszuschuss (Ich-AG) mit dem ›Überbrückungsgeld‹ (§ 57 SGB III) zusammengelegt und in den ›Gründungszuschuss‹ (§57-58 SGB II) umgewandelt, der eine Förderdauer von neun Monaten vorsieht die ggf. um 6 Monate verlängert werden kann (Fischer 2010).
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Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis
ren liegt der Anteil der Solo-Selbstständigen unter den Selbständigen nahezu unverändert bei 54 % (Statistisches Bundesamt 2018: 353). Die Zahl der geförderten Gründungen aus der Arbeitslosigkeit stieg zwischen 2003 und 2006 um rund eine Million, was sich durchaus positiv auf die Arbeitslosenstatistik auswirkte (Fischer 2010). Allerding ergab eine Nachhaltigkeitsprüfung, dass nach fünf Jahren nur 50-60 % der geförderten IchAG-Gründer*innen nach wie vor selbstständig tätig waren (Caliendo et al. 2010)3 . Zwischen 2006 – drei Jahre nach Einführung der dreijährigen Einkommensbezuschussung im Rahmen der Ich-AG – und 2008 verdoppelte sich die Zahl jener Selbstständigen, deren Einkommen so gering war, dass sie zusätzlich auf staatliche Mittel angewiesen waren, von 56.000 auf 114.000 (Schulze Buschoff 2010). »Mit weniger als etwa 14.000 Euro Einkommen befindet sich die Hälfte der Selbständigen im Bereich jenes Wertes, der meist als Armutsgrenze bestimmt wird, nämlich 50 % des Haushalts-Durchschnittseinkommens der Gesamtbevölkerung. Müssten die Haushalte dieser Selbständigen allein davon leben, so wären sie sämtlich als arm einzustufen. Tatsächlich ist die Armutsquote der Haushalte von Selbständigen (als Hauptverdienern) deutlich niedriger« (Pongratz & Simon 2010: 35) Dies hängt – so die Annahme der Autor*innen – auch damit zusammen, dass selbstständige Männer häufiger Hauptverdienende in ihren Haushalten sind als selbstständige Frauen, und steht dabei umgekehrt mit dem Umstand in Verbindung, dass letztere häufig ein besonders niedriges Einkommen aufweisen: Pongratz und Simon (2010: 36) errechnen für in Vollzeit erwerbstätige Selbstständige einen Gender Wage Gap von 34,7 % (zu Ungunsten der Frauen), der damit deutlich über den Einkommensunterschieden abhängig Beschäftigter (22,6 %) liegt. Diese Unterschiede lassen sich zum Teil berufsstrukturell erklären, denn Solo-Selbstständigkeiten von Frauen sind vermehrt in unterdurchschnittlich bezahlten ›Frauenberufen‹ platziert: Dies gilt einerseits für den Bereichen der haushaltsnahen und personenbezogenen Dienstleistungen, andererseits finden jedoch auch qualifikatorisch voraussetzungsreiche Selbständigkeiten von Frauen vor allem in Branchen statt, die vergleichsweise schlechte Einkommensmöglichkeiten bieten. Die hohen Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen selbstständig oder freiberuflich ausübbaren Berufen lassen sich also »nur bedingt durch differierende Qualifikationsniveaus erklären, denn auch [manche; J.E.] Berufe im unteren Einkommensspektrum, wie z.B. Journalist/inn/en […] setzen in der Regel ein Studium voraus. Offenbar konnten aber die klassischen Professionen, wie Ärzte und Rechtsanwälte, mit berufsständischen Strategien privilegierte Einkommensansprüche durchsetzen.« (Pongratz & Simon 2010: 37) Insgesamt kommen Pongratz und Simon zu dem Schluss, dass »[d]as Risiko geringen Einkommens […] besonders hoch für Solo-Selbständige, für selbständige Frauen und für Berufe mit geringem Professionalisierungspotenzial« ist, wobei sich die Einkommensnachteile »[t]eilweise kumulieren« (Pongratz & Simon 2010: 37).
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Allerdings muss eingeräumt werden, dass sich die Gruppe der Gründer*innen, die einen Existenzgründungszuschuss in Anspruch genommen haben, diesbezüglich nicht sonderlich von anderen Selbständigen unterscheidet: Etwa 40 % aller neu gegründeten Unternehmen stellen den Betrieb innerhalb der ersten vier Jahre wieder ein (Pongratz & Simon 2010).
16 Die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen
Damit zeigt sich in der ›neuen Selbstständigkeit‹ eine Tendenz, die sich durch nahezu alle im Zuge der arbeitspolitischen Umstrukturierung expandierenden ›atypischen Beschäftigungsverhältnisse‹ zieht (Schulze Buschoff 2010): Ob Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Anstellungsverhältnisse oder Ich-AG, »Frauen sind, abgesehen von Leiharbeit, bei allen atypischen Formen überproportional vertreten (Keller & Seifert 2008: 4401). Zwar zielt das seit den 1990er Jahren von der OECD propagierte und in vielen, insbesondere westlichen Nationen, auf die ein oder andere Weise umgesetzte Leitbild der ›Active Society‹, vor allem auf »eine Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit, insbesondere für benachteiligte Gruppen, und betont die Unterstützung von Frauen bei der Integration in den Arbeitsmarkt.« (Dingeldey 2007: 191) Doch wurde gerade in Deutschland eine verstärkte Arbeitsintegration von Frauen offenbar unter Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit realisiert. Dies ist auch auf mangelhafte Unterstützungsstrukturen und fehlende Wandelanreize hinsichtlich geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilungen im Haushaltsbereich zurückzuführen – hier zeigt Deutschland im internationalen Vergleich große Defizite (Dingeldey 2007). Unter den atypischen Beschäftigungsverhältnissen stellt die (neue) Solo-Selbstständigkeit jedoch eine »Zwitterform« dar (Keller & Seifert 2008: 4391): Während alle anderen Formen weiblich dominierter atypischer Beschäftigung einer strukturellen Entsicherung unterliegen, indem etwa die leistbaren Beiträge zur Rentenversicherung sehr niedrig ausfallen oder (im Falle der geringfügigen Beschäftigung) keine eigenständige Beteiligung an Kranken- und Arbeitslosenversicherung besteht, ist die Prekarität in Bezug auf allgemeine Sicherungssysteme im Falle der Solo-Selbstständigkeit prinzipiell kontingent. Zwar belegen die Einkommensstatistiken ein faktisch hohes Risiko, in den Bereich der ›working poor‹ zu geraten (Pongratz & Simon 2010), formal ist jedoch eine Beteiligung an Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung auf freiwilliger Basis gegeben und hängt somit einerseits vom monetären unternehmerischen Erfolg, andererseits von der Risikobereitschaft der Selbstständigen ab. Bei undifferenzierter Betrachtung stellt sich die Selbstständigkeit – objektiv wie auch teilweise subjektiv, was mit Blick auf die Motivationslagen von Gründer*innen eine große Rolle spielt, – als ein schwach strukturierter Möglichkeitsraum dar, in dem die persönliche Leistungsbereitschaft bzw. -fähigkeit, Kreativität oder auch unternehmerische Findigkeit über Erfolg und Scheitern entscheiden4 . Selbstständige sind unmittelbar und individuell den Mechanismen der freien Marktwirtschaft ausgesetzt. Wie lohnend das Marktrisiko sein kann, zeigt der Mittelwert der von Selbstständigen erwirtschafteten Netto-Jahreseinkommen, der 2003 mit 38.562 Euro deutlich höher lag als jener der abhängig Beschäftigten (26.975 Euro); dass es sich jedoch um ein beachtliches Risiko handelt, zeigt der Median der NettoEinkommen: Während das mittlere Einkommen abhängiger Beschäftigter 22.480 Euro beträgt, liegt es bei Selbstständigen mit 14.252 Euro unterhalb der Armutsgrenze
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Dass bei differenzierter Betrachtung die Gewinnchancen von Unternehmer*innen – etwa entlang der sozialstrukturellen Dimensionen Geschlecht oder Bildungsgrad (Pongratz & Simon 2010) – systematisch variieren, zeigt, dass der Möglichkeitsraum, den das Unternehmertum eröffnet sehr wohl deutlich sozial strukturiert ist.
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(Pongratz & Simon 2010). Die (Solo-)Selbstständigkeit kann als prekäre Beschäftigungsform gelten (Schulze Buschoff et al. 2017), allerdings ist sie mit ihrer weiten Möglichkeitsspanne und großen Zukunftsoffenheit trotz statistisch hohem Armutsrisiko nicht ganz umstandslos dem sich ausdehnenden Bereich prekärer Arbeitsstrukturen zuzurechnen. Ohnehin ist es nicht sinnvoll, atypische mit prekären Beschäftigungsverhältnissen gleichzusetzen. Die Frage, ob eine Lebenslage (mit Blick auf die soziale Integration) prekär ist, lässt sich nicht auf die Frage nach der beruflichen Einbindungsform reduzieren, vielmehr können auch Einbindungsstrukturen jenseits der Arbeit Relevanz entfalten (Castel 2008). Ebenfalls spielen biographische, wie familiale bzw. haushaltsbezogene Kontexte eine wesentliche Rolle (Klenner 2011) sowie die subjektive Verarbeitung bzw. Wahrnehmung – auch diskriminierender Prekarität (Dörre 2009). Gerade (Solo-)Selbstständigkeiten – insbesondere, wenn sie von Frauen ausgeübt werden, – zeichnen sich durch eine große Bandbreite der praktischen Einpassung in den jeweiligen Lebensentwurf aus, sodass ihre Form und finanzielle Rentabilität tatsächlich nur unzureichend Aufschluss über deren Prekarisierungspotenzial bietet (Bührmann et al. 2018b; Bührmann & Pongratz 2010a). Im Zuge der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche lässt sich eine zunehmende »Erwerbshybridisierung« feststellen, womit gemeint ist, »dass die individuelle Erwerbsbiographie verschiedene, aufeinander folgende Phasen von abhängiger Erwerbstätigkeit und Selbstständigkeit aufweist (die ›serielle Erwerbshybridisierung‹)« oder »Mehrfachbeschäftigungen und Kombinationen abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit im selben Zeitraum (›synchrone Erwerbshybridisierung‹)« bestehen (Bührmann et al. 2018a: 3). Außerdem können »multiple Phasen hybrider Erwerbstätigkeit auftreten, wenn beispielsweise die Erwerbstätigkeit durch eine Phase der Nichterwerbstätigkeit aufgrund von Arbeitslosigkeit, Pflege eines Angehörigen oder Phasen des Mutterschutzes und der Kindererziehung unterbrochen wird« (Bührmann et al. 2018a: 5). Diese Diskontinuitäten und Diversitäten in der Erwerbsbiografie (nicht nur) von Unternehmer*innen sind einerseits Ausdruck der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, sie tragen auf der anderen Seite aber auch zu einer zunehmend expliziten Infragestellung des ›Normalunternehmertums‹ bei (Pongratz & Bührmann 2018). Dass eine diversitätsbezogene Perspektive bei der Betrachtung von Arbeits- und Lebenssituationen – gerade unter Bedingung der nachlassenden Normalisierungskraft des Normalarbeitsverhältnisses – konstruktiv ist, verdeutlichen Rosemarie Kay et al. (2018) anhand einer entsprechenden Auswertung von Daten des nationalen Bildungspanels (NEPS): Wird nicht nach einem punktuellen Anteil (vollerwerblicher) Selbstständigkeiten gefragt – diese lag laut Mikrozensus im Jahr 2018 bei 9,8 % (Statistisches Bundesamt 2018: 357) – sondern jener Bevölkerungsanteil in den Blick genommen, der im Laufe des Lebens zeitweise einmal selbstständig war, liegt die Selbstständigenquote bei 27,0 %. Von dieser Warte aus betrachtet, gerät Selbstständigkeit etwa als ›lebensphasenspezifisches Arrangement‹ in den Blick, das die Möglichkeit zum Berufswiedereinstieg (etwa nach einer vornehmlich auf die Kindererziehung gerichteten Lebensphase) bietet oder als Aspekt eines spezifischen ›Lebens- und Familienmodells‹, welches größere Unabhängigkeit in der Relationierung verschiedener Lebensbereiche gewährt (Pongratz & Simon 2010). Bei der Frage, wie prekär diese Lebensarrangements von Selbstständigen sind, spielen nicht zuletzt ökonomische, kulturelle und soziale Kapitalausstattungen
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eine wesentliche Rolle: Bestreiten Solo-Selbstständige das Haushaltseinkommen nicht alleine, kann sich dies ebenso unsicherheitsmildernd auswirken wie ein ausgedehntes soziales Netzwerk, das im Krisenfall mit finanziellen Mitteln oder Aufträgen aushelfen kann. Zudem erleben hochqualifizierte Selbstständige »die inhaltlichen Herausforderungen und arbeitsorganisatorischen Freiräume vielfach als ausreichende Kompensation für prekäre Erwerbsbedingungen. Ihre Solo-Selbstständigkeit lässt sich folglich als ›spezifische Mischung von Privilegierung und Prekarisierung‹ (Betzelt/Gottschall 2005) oder als ›Prekarisierung auf hohem Niveau‹ (Manske) interpretieren« (Pongratz & Simon 2010: 40). Die Ausführungen machen deutlich, dass mit der Existenzgründung ein Feld betreten wird, das nicht nur schwach strukturiert ist und somit einen großen praktischen Möglichkeitsraum eröffnet, sondern in dem sich darüber hinaus die gegenwärtigen Umbrüche von Arbeits- und Lebensformen unmittelbar praktisch ereignen. Existenzgründungen sind daher nicht lediglich als formale Berufsstatuierungen zu begreifen, die »entweder erfolgreich [sind] oder […] scheitern«, vielmehr sind sie kontingente Praxisbereiche, die sich »häufig über lange Phasen […] in einer Prekaritätszone zwischen Erfolg und Scheitern« bewegen (Bührmann & Pongratz 2010b: 12). Wie diese Phase jeweils alltagspraktisch hervorgebracht wird, ob sie als prekär erlebt wird oder nicht und ob die Selbstständigkeit einen Ort darstellt, an dem soziale Ordnungen überwiegend reproduziert oder neu verhandelt, verschoben und umgedeutet werden, muss empirisch betrachtet werden.
16.2
Selbstständige Frauen als ›besondere‹ Existenzen? Erodierende Geschlechterordnungen und Unternehmerinnen ihrer Selbst
Wenn neue (Solo-)Selbstständigkeiten als potenziell prekäre Beschäftigungsverhältnisse bzw. die Existenzgründung als Prekaritätszone verstanden werden können, liegt es aus einer wandelbezogenen Perspektive nahe, nicht nur nach den desintegrativen Aspekten, den unsicherheitsfördernden Strukturen und der zum Ausdruck kommenden Erosion gesellschaftlicher Institutionen (wie etwa des Normalarbeitsverhältnisses) zu fragen, sondern auch die »Entsicherung von Zuweisungen und Herrschaftsverhältnissen, die mit dieser ›Erosion‹ von Institutionen verbunden ist«, in den Blick zu nehmen (Völker 2009a: 269, H.i.O.). Das in der fordistischen Produktions- und Reproduktionslogik eindeutig bestimmte Geschlechterverhältnis verliert gerade in Bereichen an Wirkmacht, in denen es durch neue Beschäftigungs- und soziale (Ent-)Sicherungsformen, sowie veränderte Relationierungen unterschiedlicher Lebensbereiche als dysfunktional, deplatziert oder gestrig aufscheint. Mit dem Wandel der Erwerbsarbeit geht also – untrennbar – ein »Wandel von Geschlechterarrangements und -regimes [… einher], weil ›Arbeit‹ und ›Geschlecht‹ wechselseitig mit- und durcheinander konfiguriert sind« (Völker 2009a: 274). Gemeinsam mit tradierten Arbeitsformen und geschlechtsspezifischen Aufgabenteilungen geraten auch andere, im Rahmen der organisierten Moderne unhinterfragt als ›Tatbestände‹ akzeptierte Institutionen, wie Familie, Ehe oder alters-, geschlechts- und klassenspezifische Koordinaten des Lebensverlaufs, in Bewegung.
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Dies geschieht nicht an allen sozialen Orten in gleicher Weise und in gleichem Tempo. Aufgrund der praktischen Verquickung institutioneller Arrangements (etwa von Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit im Rahmen der Kleinfamilie) ist es jedoch wahrscheinlich, dass auch die Auflösungserscheinungen tradierter sozialer Strukturen in bestimmten Bereichen kumulativ wirken, dass also beispielsweise in Familien, in denen ein oder beide Elternteil(e) atypisch beschäftigt sind, auch die Relationierung unterschiedlicher Lebensbereiche, die Aufgabenverteilungen im Haushalt, Erziehungsfragen usw. in veränderter Form praktisch hervorgebracht werden – freilich ohne damit automatisch Geschlechterungleichheiten oder tradierte Rollenbilder aufzuheben. Dennoch haben wir es »mit der Erschöpfung von sozialen Klassifikationen zu tun, also damit, dass soziale Formate als Norm, als begehrtes Leitbild einerseits symbolisch überdeterminiert sind (bspw. das Normalarbeitsverhältnis) und andererseits in den praktizierten Lebensund Geschlechterarrangements als haltlos, vergangen, nicht mehr realisierbar erfahren werden. Diese Nichtübereinstimmungen, diese Erschöpfungszustände zwischen symbolischer und institutioneller Ordnung und praktischen Arrangements treffen auf in der Vergangenheit klar zugewiesene geschlechtsdifferente Vergesellschaftungen und mithin auf unterschiedliche soziale Erfahrungen.« (Völker 2009a: 281) Auf welche Weise sich diese Gemengelage »ins praktische Handeln, in die alltägliche Aneignung prekarisierter Verhältnisse übersetzt und ob sie neue, veränderte Einbindungen und Zugehörigkeiten zu schaffen vermögen« bleibt dabei eine empirisch zu bearbeitende Frage (Völker 2009a: 281). Die Reproduktion und der Wandel von Geschlechterverhältnissen wie von praktischen Logiken generell, findet alltagspraktisch also in der Arbeit als Unternehmerin, in der Koordination verschiedener Lebensbereiche, in der Interaktion mit Geschäftspartner*innen, Familienmitgliedern und Freund*innen usw. statt. Geschlecht ist dabei nicht nur eine tradierte soziale Differenzierungskategorie, die aufgrund ihrer logischen Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsverhältnissen der organisierten Moderne nun auch eine wesentliche Rolle bei der Veruneindeutigung von Funktionszuweisungen und von Grenzziehungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen spielt. Geschlecht ist auch ein Aspekt der Selbstverhältnisse von Akteuren bzw. der Subjektivierung und interferiert daher nicht nur mit der Art und Weise, wie Selbstständige, Angestellte, Arbeitslose, aber auch Familienmitglieder etc. ›sind‹, sondern bedingt auch die je spezifische praktische Hervorbringung von Unternehmertum, Arbeitsalltag, Arbeitslosigkeit, Hausarbeit usw. Daher ist es nicht verwunderlich, dass erste Annäherungen zwischen der Arbeits- und Industriesoziologie und der Frauen- und Geschlechterforschung um die beiden Interessensschwerpunkte ›Subjekt‹ und ›Entgrenzung‹, d.h. um »[d]ie (neue) Bedeutung des Subjekts für die gegenwärtigen Rationalisierungsprozesse in der Erwerbsarbeit« und »[d]as sich verändernde Verhältnis von Arbeit und Leben« gruppiert waren (Frey et al. 2010: 10). Zumindest latent trug sicherlich auch die politische Neuausrichtung im Zuge der Arbeitsmarktreformen zu einer Öffnung der Arbeits- und Industriesoziologie in Richtung Frauen- und Geschlechterforschung bei. Dort hatte sich zum Zeitpunkt der arbeitsstrukturellen Umwälzungen um die Jahrtausendwende bereits ein jahrzehntelan-
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ger Diskurs um das Verhältnis von Geschlecht und Arbeit etabliert (Aulenbacher 2009). Arbeitspolitisch rückten Frauen als ›unerschlossene Ressource‹ in den Fokus, die es zu erfassen und optimal zu nutzen galt (Hansen 2001), wobei die vorherrschende (und größtenteils unreflektierte) Meinung dahin ging, dass mit dem Schumpeter’schen Entrepreneur bereits der Idealtypus des Unternehmers5 und damit auch die ›one-andbest-practice‹ unternehmerischen Handelns identifiziert sei (Bührmann et al. 2007). Dieses Unternehmer-Leitbild weist wiederum eine hohe Kongruenz mit der über verschiedene, private wie öffentliche Mikrotechniken an Wirkmacht gewinnenden Subjektivierungsform des ›unternehmerischen Selbst‹ auf: »Schumpeter stellt den Unternehmer in den Rahmen einer politischen Anthropologie, in der sich Führer und Geführte gegenüberstehen und die einen das dynamische, die anderen das statische Prinzip verkörpern. In den konkreten Personen mögen sich beide Momente in unterschiedlichen Kombinationen verbinden, bezogen auf die Funktion im ökonomischen Prozess gibt es nur Neuerer oder Nachahmer. Schöpferische Gestaltung oder Routine, einen Weg bauen oder einen Weg gehen – tertium non datur. Die wirtschaftliche Entwicklung wird allein von den Entrepreneuren vorangebracht, die anderen verwalten die Bestände. Es herrscht die Semantik der totalen Mobilmachung: Plus ultra lautet, so Schumpeter, das Motto des Unternehmers – immer noch weiter.« (Bröckling 2007a: 117, H.i.O.) Die ›Ich-AG‹ etabliert sich daher nicht nur als öffentliches, arbeitspolitisches Förderprogramm, sondern auch als Modus der Selbstbezugnahme, der etwa in der Ratgeberliteratur mit Titeln wie ›Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet‹ oder ›Die Marke Ich®. So entwickeln Sie Ihre persönliche Erfolgsstrategie‹ expliziert wurde (Bröckling 2007a: 65ff.). Gemein ist den politisch implementierten und den Privatpersonen adressierenden Technologien, dass sie einen ressourcenorientierten Blick auf den Akteur bzw. das Selbst zentralisieren. Das heißt, sie forcieren eine permanente, auf das Selbst bezogene Reflexions- und Optimierungspraxis, um ›Employability‹ zu steigern, oder – allgemeiner – um das ›Vorankommen‹ in der Welt und die Maximierung von Gewinnchancen zu gewährleisten. Arbeitspolitische Programme, Ratgeberliteratur für die persönliche Lebensführung, aber auch neue manageriale Ausrichtungen in privatwirtschaftlichen Organisationen und die Umgestaltung bzw. ›Ökonomisierung‹ praktischer Abläufe in vormals wirtschaftsfernen Sektoren (Gesundheit, Bildung, Verwaltung etc.) treffen sich in dieser spezifischen ›unternehmerischen‹ Logik und ermöglichen als Technologienensemble die Hervorbringung sowohl einer entsprechenden Regierungsals auch Subjektivierungsform. Allerdings unterscheiden sich die Technologien in der Form ihrer geschlechtsspezifischen Adressierung: Während im lebensberaterischen Bereich Frauen und Männer in divergenter Weise angesprochen werden, tendiert das arbeitspolitische Programm zur Aktivierung ungenutzter Ressourcen in bisher benachteiligten bzw. wenig beachteten Bevölkerungsteilen dahin, das (männliche) Ideal des Schumpeter’schen Entrepreneurs
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Das Idealbild, das hier angesprochen wird, ist männlich gedacht (Bührmann et al. 2006, Elven 2010).
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auszudehnen, sodass sich »nun Menschen aus allen Schichten bzw. Klassen, aus unterschiedlichen Ethnien/-Rassen und eben auch Frauen als unternehmerisches Selbst fühlen« können und sollen (Bührmann & Hansen 2006: 13). Die Adressierung angehender Unternehmerinnen erfolgte daher zunächst – mit Ausnahme von Frauenberatungszentren und -netzwerken, die bereits vor der arbeitspolitischen Offensive einen feministisch informierten Beratungszugang wählten (Schwarz 2016) – vornehmlich aus einer androzentrischen Perspektive. Ein Großteil der Gründungsberatungsangebote unterstellte pauschal Unternehmensgründungen, die auf Innovation, Gewinnmaximierung und Expansion ausgerichtet sind (Elven 2010), ungeachtet der Tatsache, dass diese Ziele – auch unter (männlichen) Gründern – keine uneingeschränkte Verbreitung aufweisen. Die Bandbreite des praktischen Unternehmertums wird auf diese Weise nicht erfasst. Nebenerwerbsgründungen, etwa um in Teilzeit erwirtschaftete Einkommen aufzustocken oder den Alltag zwischen Familie und Broterwerb flexibler gestalten zu können, ›Selbstverwirklichungsgründungen‹, die auf eine Lebensführung nach individuellen Vorstellungen und nicht primär auf ökonomische Ziele ausgerichtet sind, Ausgründungen, bei denen ursprünglich als Mitarbeiter*in eines Unternehmens geleistete Arbeit nun selbstständig und auf eigene Rechnung erbracht wird oder ›Verlegenheitsgründungen‹, die vornehmlich erfolgen, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen und idealiter einen Wiedereinstieg in ein festes Anstellungsverhältnis zu ermöglichen, weisen ganz verschiedene, Gewinnmaximierungsbestrebungen zum Teil konterkarierende Orientierungsrahmen auf. Es ist anzunehmen, dass insbesondere Frauen, die allgemein als Abweichung vom (Schumpeter’schen) Normalunternehmer, wie auch vom (fordistischen) Normalarbeitnehmer verstanden werden und im Sinne einer ›doppelten Vergesellschaftung‹ (Becker-Schmidt 2003) traditionell stärker disponiert sind, die Logiken unterschiedlicher sozialer Sphären (vor allem Arbeit und Familie) zu internalisieren, mit ihrer Gründung anderen und teilweise zugleich mehreren divergierenden Logiken folgen. Zumindest lässt sich konstatieren, dass sich das Selbstverständnis von Unternehmerinnen in Deutschland als überaus heterogen erweist (Schmeink & Schöttelndreier 2006). Im Rahmen der Ratgeberliteratur geschieht die Anrufung des unternehmerischen Selbst – qua Selbstmanagement-Leitfaden – in durchaus geschlechtsspezifischer Form: »Diese höchst populäre Literaturgattung – das Genre ist in den oberen Rängen der Bestsellerlisten stets vertreten – bedient sich reichlich aus dem Fundus feministischer und linker Bewegungen und verheißt die Versöhnung von Emanzipation und Fungibilität, von Selbstverwirklichung und Selbstverwertung. Was vor nicht langer Zeit noch als Remedium gegen Entfremdung, Ausbeutung oder Unterdrückung in Anschlag gebracht wurde, nutzen diese Gebrauchsanweisungen zur erfolgreichen Vermarktung der eigenen Person inzwischen als sozialtechnologisch zu erschließende Ressource. Sie postulieren Autonomie statt Reglementierung, Empowerment statt Kontrolle und übersetzen die Parole vom Recht auf Differenz in den Distinktionszwang ›Brand yourself!‹ Die Grenzen zwischen Kritik und Affirmation verschwimmen […], die Subversion der Ordnung [ist] Teil ihrer Optimierung.« (Bröckling 2002: 176) Bröckling betont dabei, dass die häufig kritisierte Verkopplung gegenkultureller Technologien und Diskurse mit Technologien und Diskursen der neoliberalen Gouverne-
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mentalität6 teilweise an speziell Frauen adressierenden Formationen ansetzt und sich somit nicht nur frauenbezogener Semantiken, sondern auch weiblicher Subjektivierungsmuster bedient. Insbesondere Selbstmanagement-Ratgeber – so das Ergebnis seiner Analyse – stellen eine diskursive Verknüpfung von Unternehmerisch-Sein und Frau-Sein her und betonen, »dass die angehende Selbst-Unternehmerin mit anderen Problemen zu kämpfen und sich daher anderer Strategien und Taktiken zu bedienen hat als ein Mann. […] Die Botschaft ist identisch, doch anrufbar sind und angerufen werden die Frauen immer noch eher in ihrer Identität als Frauen« (Bröckling 2002: 184). Praktiken der Subjektivierung von Geschlecht – das implizite Erlernen, was es bedeutet ein (respektables) weibliches Subjekt zu sein – werden also verschränkt mit Praktiken der Subjektivierung von Arbeit – mit dem impliziten Erlernen, was es bedeutet, ein ökonomisch produktives (und daher respektables) Subjekt zu sein. Dies verweist auf eine Verschiebung der allgemeinen Respektabilitätsvorstellungen. Auf welche Weise die beiden Anrufungsformen jedoch praktisch verknüpft werden, welche subjektiven Selbstverständnisse dabei konkret hervorgebracht werden und welche kontextbedingten Interferenzen von ›doing gender‹ und ›doing entrepreneurial self‹ situativ entstehen, muss empirisch herausgearbeitet werden. Es ist anzunehmen, dass eine geschlechtsspezifische Subjektivierung des ›unternehmerischen Selbst‹ dessen Verbreitungsmöglichkeiten steigert und so jene Regierungsform verstärkt hat, die Verantwortlichkeiten, aber auch die Risiken der Transformation von Arbeitskraft in (erbrachte) Arbeit auf die Frauen und Männer überträgt, die die Leistung erbringen. Die repressiven Effekte dieses Praxisregimes sind vielfach diskutiert worden und können auf Basis der vorliegenden Interviews mit Gründerinnen auf ihre praktische Wirksamkeit in der Lebensführung selbstständiger Frauen ausdifferenziert werden. Zugleich wird aber hinsichtlich der gegenwärtigen Subjektivierung von Arbeit jedoch auch ein zweiter, gegenläufiger Aspekt diskutiert (Nickel et al. 2008; Völker 2010a): Neben der ökonomischen Subjektivierung, die zu einer ursprünglich arbeitsbezogenen Rationalisierung des gesamten Lebens tendiert, rückt der »Anspruch« in den Fokus, »den die Beschäftigten in ihre Arbeitszusammenhänge hineintragen« – eine ›normative Subjektivierung‹ also, mit der »die veränderten Einstellungen zur und die gestiegenen Ansprüche an Erwerbsarbeit […betont und] in Verbindung mit außerbetrieblichen, außerökonomischen soziokulturellen Veränderungen in der Gesellschaft (Stichwort Wertewandel, steigende Erwerbsemanzipation von Frauen) betrachte[t]« werden (Völker 2010a: 303). Dies erinnert nicht zuletzt auch an die gegenwartsdiagnostischen Einlassungen zur Ästhetisierung bzw. Singularisierung der Gesellschaft: Sowohl Boltanski und Chiapello als auch Reckwitz diskutieren die Überlagerungen und Verschränkungen einer sich radikalisierenden Ökonomisierungslogik einerseits und einer Orientierung an Selbstverwirklichung, Autonomie und Authentizität andererseits. Reckwitz weist dabei auf die Bedeutung von Geschlecht hin. Geschlecht gehört in seiner Lesart zu jenen praktisch
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Die Kritik wurde entlang verschiedener Begriffe wie ›Empowerment‹, ›Kreativität‹, ›Lebenslanges Lernen‹, ›Autonomie‹ oder ›Diversity‹ entfaltet und kontinuierlich in den diversen Aufsatzsammlungen der gouvernementality studies diskutiert (vgl. z.B. Burchell et al. 1991; Bröckling et al. 2000, 2004; Weber & Maurer 2006).
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produzierten Differenzen, an denen sich sozialer Wandel im Sinne einer Verundeutlichung tradierter Grenzziehungen und zugleich Vervielfältigung (objektivierter) Hervorbringungsformen zeigt: Neben verschiedenen Degendering-Prozessen entfaltet sich ein »breites kulturelles Repertoire von Geschlechtermodellen« (Reckwitz 2017a: 339), wobei auch hier empirisch zu bestimmen ist, auf welche Weise sich die Ökonomisierung der Alltagspraxis und die Ästhetisierung der Arbeitswelt in den jeweiligen Geschlechtlichkeiten praktisch überkreuzen. Boltanski und Chiapello beziehen sich in ihrer Studie hingegen kaum (und wenn, dann nicht systematisch) auf die soziale Kategorie Geschlecht. Dies ist insofern irritierend, als die Autor*innen jene Kritiken, auf die der Kapitalismus transformativ bzw. integrativ reagiert, aus Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen ableiten, die zumindest teilweise eng mit feministischen Bewegungen verschränkt waren. Günter Burkart, der Boltanskis und Chiapellos Studie feministisch reflektiert, fragt deshalb danach, »ob mit der Durchsetzung des neuen Geistes eine Feminisierung der Kultur des Kapitalismus verbunden sein könnte oder ob eher eine Modernisierung der patriarchalen kapitalistischen Herrschaft zu erwarten ist« (Burkart 2012: 153). Die Frage nach einer ›Feminisierung‹ des Kapitalismus durch eine feministische Kapitalismuskritik liegt durchaus nahe, zeigt sich in der cité par projets doch eine deutliche Aufwertung traditionell ›weiblicher‹ Zuschreibungen (Empathie, Kommunikations- und Teamfähigkeit etc.), eine Abwertung patriarchaler Strukturen sowie ein Bedeutungsverlust askriptiver Merkmale wie Geschlecht (Burkart 2012). Doch kommt Burkart zu dem Schluss, dass – obwohl sowohl Frauen als auch bislang marginalisierte Männer von der neuen kapitalistischen Rechtfertigungslogik durchaus profitieren können – es voreilig wäre, »einen Niedergang männlicher Dominanz oder sogar eine Feminisierung des Kapitalismus (als Aufstieg weiblicher Dominanz) als unvermeidliche Trends zu konstatieren« (Burkart 2012: 170). Während Burkart das geschlechtertheoretische Potenzial des Grundgedankens von Boltanski und Chiapello nicht vollständig ausschöpft, dass nämlich der Kapitalismus durch Internalisierung von Kritiken seine Herrschaftsstrukturen perpetuiert, und somit die Argumentation weniger auf die Frage ›Feminisierung oder Modernisierung patriarchaler kapitalistischer Herrschaft‹, sondern eher auf die These ›Reproduktion patriarchaler kapitalistischer Herrschaft durch Feminisierung‹ hinauslaufen sollte7 , nutzt Nancy Fraser eben jene Argumentationslogik für eine kritische Reflexion des ›secondwave feminism‹ (Fraser 2009). Sie richtet den Blick auf Geschlecht als blinden Fleck der Analyse und verweist auf die hohe Relevanz der feministischen Kapitalismuskritik für die moralische Stabilisierung des ›neuen Geistes‹8 : 7
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Dies freilich nur unter der Prämisse, dass ›Feminisierung‹, das heißt, die »Stärkung von Werten und Praktiken, die bisher eher als ›weiblich‹ galten und demzufolge im patriarchalen Kapitalismus abgewertet waren« nicht, wie bei Burkart (2012: 155), in enger Konsequenz mit einer »Steigerung weiblicher Partizipations- und Herrschaftschancen« verkoppelt werden. Fraser stellt die These auf, dass sich die volle Wirkmacht des neuen Geistes des Kapitalismus erst unter Berücksichtigung der Kritik erschließt, welche der ›second-wave feminism‹ am ›state-organized capitalism‹ übt: »Boltanski and Chiapello’s argument is original and profound. Yet, because it is gender-blind, it fails to grasp the full character of the spirit of neoliberal capitalism.« (Fraser 2009: 110)
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»Disorganized capitalism turns a sow’s ear into a silk purse by elaborating a new romance of female advancement and gender justice. Disturbing as it may sound, I am suggesting that second-wave feminism has unwittingly provide a key ingredient of the new spirit of neoliberalism. Our critique of the family wage now supplies a good part of the romance that invests flexible capitalism with a higher meaning and a moral point.« (Fraser 2009: 110) Nur ein Teil der Bevölkerung zählt zu jenen akademisch ausgebildeten, (familial) ungebundenen, Arbeitsinhalte als Selbstverwirklichungspotenziale auffassenden Akteuren, die im neuen Rechtfertigungsregime des Kapitalismus zum Maßstab gemacht werden. Der neue Kapitalismus erzeugt systematische Benachteiligungen (NichtAkademiker*innen, lokal Gebundene, zu denen oft Mütter zählen), verschleiert diese jedoch durch das von den Kritiken symbolisch aufgeladene und romantisch verklärte Ethos einer liberalen, auf freie Wahl und Leistung setzenden und Askriptionen ignorierenden Marktwirtschaft. Auf diese Weise wird – so Frasers Kritik – Anerkennung als Gleiche unter Gleichen gegen die Bekämpfung sozialer Ungleichheit ausgespielt (Fraser & Honneth 2003). Als besonders problematisch erweist sich für die feministische Kritik dabei der Umstand, dass Frauen im Rahmen der gewandelten Ungleichheitsstrukturen offenbar sowohl zu den Gewinnerinnen als auch zu den Verliererinnen zählen und zwar nicht nur in intersektionaler Perspektive, sondern möglicherweise auch in Personalunion: als zugleich hervorragende Leistungsträgerinnen und besonders ausbeutbare Subjekte (Voß 2007). Jedoch ist die Befreiung der Arbeit von ihren entfremdenden, zeitrestriktiven, autoritären Strukturen (bei allen damit einhergehenden Entsicherungen und Optimierungszwängen) ebenfalls ein (begrenzter) praktischer Effekt der sozialen Umbrüche. Hierin liegen die ›riskanten Chancen‹ bzw. der ›Doppelcharakter‹ der Subjektivierung: »Im Effekt zeigt sich eine paradoxe Gleichzeitigkeit: Einerseits geraten die Lebensführungen und die außerbetrieblichen Lebensbereiche in einen Ökonomisierungssog; andererseits erleben Beschäftigte ihr ›subjektiviertes‹ Arbeitshandeln durchaus als Erweiterung ihrer Gestaltungsspielräume. Mehr noch: ›Subjektivierung‹ […] thematisiert in der betrieblichen Organisation ›ungewollt‹ und nicht intendiert subjektive Lebensansprüche – und zwar nicht nur an Erwerbsarbeit, sondern an die Organisation von Arbeit und ›Leben‹. Beides – Ökonomisierung bzw. Kolonialisierung aller Lebensbereiche und gewachsene Gestaltungs- und Artikulationsräume – ist nicht voneinander zu trennen.« (Völker 2010a: 304) Dies führt zurück zur Entgrenzungsthematik – dem zweiten initialen Schnittpunkt der Zusammenarbeit zwischen der Arbeits- und Industriesoziologie und der Frauen- und Geschlechtersoziologie. Während die Arbeitssoziologie vor allem drei Entgrenzungsdimensionen – zwischen Unternehmen und Markt, zwischen Arbeits- und Lebenswelt, zwischen Unternehmen und Arbeitskraft (Sauer 2012) – ins Zentrum ihrer Diskussion stellt, bearbeitet der gemeinsame Diskurs die verschiedenen Entgrenzungsaspekte integriert (Voß & Weiß 2010) und bezieht weitere gesellschaftliche Entgrenzungstendenzen ein, vor allem die Entgrenzung von Geschlechteridentitäten, aber auch die Erosion sozialpolitischer Begrenzungen. Mit Blick auf den Wandel von einer ›fordistischen‹ in
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eine ›postfordistische‹ Gesellschaft kann der Entgrenzungsdiskurs als zentrales Deutungsangebot der Arbeits- und Industriesoziologie verstanden werden (Kratzer 2017). In diesem Zuge wird auch die Vormachtstellung der Arbeit als zentrale Institution gesellschaftlicher Integration verteidigt: »Offensichtlich hat der Bereich der gesellschaftlichen Produktion und Arbeit entgegen früherer Zeitdiagnosen vom ›Ende der Arbeitsgesellschaft‹ in den letzten Jahrzehnten nicht an Bedeutung verloren. Vielmehr haben gerade hier gesellschaftliche Umbruchprozesse einen vielgestaltigen sozialen Wandel in Gang gesetzt, in dem die konkreten Folgen von Entgrenzung für die betroffenen Individuen und Institutionen besonders deutlich werden.« (Sauer 2012: 3) Diese Folgen sind überaus vielfältig und lassen sich etwa in zeitlicher, räumlicher, sachlicher bzw. qualifikatorischer, technischer, sinnhafter, sozialer oder emotionaler Hinsicht erforschen (Voß 2007). Und sie wirken sich nicht zuletzt auf die Hervorbringung von Geschlecht aus, denn es ist anzunehmen, dass durch die Entgrenzung von Arbeitskontexten das »für jede Arbeit konstitutive ›Doing Gender‹ aktuell eine gänzlich neue Qualität bekommt« (Voß & Weiß 2010: 139). Umgekehrt wirkt sich die Kategorie Geschlecht offenbar auch auf die Motivation, eine berufliche Selbstständigkeit aufzunehmen, und auf die Gründungspraxis aus: So stellen Bührmann und Hansen (2006) fest, dass Frauen ihre Unternehmung vor allem in Formen adressieren, die bislang als Bricolage, als Krisen- oder als Step-byStep-Gründung eher marginalisiert wurden. Schließlich kann die Existenzgründung als durchaus gängige Strategie von Frauen gewertet werden, um Berufstätigkeit und (traditionell ›weibliche‹) familiale Verpflichtungen zu vereinbaren, denn die Selbstständigkeit ermöglicht eine stärkere Flexibilität und Selbststeuerung des Arbeits- bzw. Familienlebens (Gerlach & Damhus 2010): Die mit der Jahrtausendwende einsetzende Dynamisierung im Bereich der Existenzgründung bringt auch mit sich, dass »Frauen mit Kindern […] überdurchschnittlich stark an beruflicher Selbstständigkeit partizipieren« (Leicht & Lauxen-Ulbrich 2006: 116). Dies weist nicht zuletzt auf einen Lebensentwurf hin, bei dem sich gerade Frauen unter veränderten sozialen Existenzbedingungen aktiv an der Hervorbringung bestimmter Entgrenzungsformen beteiligen.
16.3
Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft als gesellschaftliche Avantgarde
Die Kultur- und Kreativwirtschaft zählt sowohl mit Blick auf die Beschäftigungszahlen als auch hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zu den Wachstumsmärkten. Sie erwirtschaftet gegenwärtig etwa 3,1 % des Bruttoinlandsprodukts und zählt rund 1.117.000 Erwerbstätige (ZEW 2017)9 . Anfang der 2000er Jahre kam die
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Im Jahr 2006 – also ungefähr in dem Zeitraum, in dem sich die hier beforschten Existenzgründerinnen selbständig gemacht haben – lag der BIP-Anteil der Kultur- und Kreativwirtschaft noch bei 2,6 % (Automobilindustrie: 3,1 %, Chemieindustrie: 2,1 %) und sie zählte etwa 938.000 Selbstständige und abhängig Beschäftigte (Söndermann et al. 2009).
16 Die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen
Bundesregierung zu dem Schluss, dass aufgrund der in den Jahren zuvor stark gestiegenen ökonomischen, arbeitsmarktpolitischen, sozialen, infrastrukturellen sowie städtebaulichen Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft, diese im Rahmen der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ näher bestimmt und in ihren Wirkungsweisen ausgelotet werden sollte (Enquete-Kommission Kultur 2007). Die Kommission folgt der Definition, nach der mit der Abgrenzung dieses Wirtschaftszweigs »diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst [werden], welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen« (Söndermann et al. 2009: XI)10 . Politisch besonders hervorgehoben wird das umfangreiche innovative Potenzial der Kultur- und Kreativwirtschaft: So zeichnet sie sich durch ›zukunftsorientierte‹ Arbeits- und Geschäftsmodelle (z.B. hybride Arbeitsformen), durch den Einsatz und die Entwicklung neuer Technologien und eine per definitionem am Schöpferischen orientierte Ausrichtung der Produktion aus. Die Empfehlung an die Politik lautet daher, »die Entwicklung der Querschnittsbranche Kultur- und Kreativwirtschaft in ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung [zu] integrieren«, um den »Ausbau der Innovationskraft in Deutschland« zu stärken (Söndermann et al. 2009: X). In diesem als innovativ und zukunftsorientiert markierten Wirtschaftszweig im engeren Sinne sind 5 der 20 interviewten Existenzgründerinnen beschäftigt. Sie sind Grafikdesignerinnen, Journalistinnen, aber auch Managerinnen bzw. Vermarkterinnen kommunaler und regionaler Kulturprojekte. Zwei der Gründungen sind mit dem Feld der Kunst bzw. mit dem Thema Kultur inhaltlich assoziiert (Kunsttherapie, interkulturelle Beratung). Der überwiegende Teil der Gründerinnen beschäftigt sich jedoch beruflich mit der Profilierung von Unternehmen oder Personen. Sie sind PR-Beraterinnen, Personalentwicklerinnen, auditieren und beraten bei der Vermarktung von PremiumBio-Lebensmitteln oder sie sind Kommunikationstrainerinnen sowie Karriereberaterinnen. Diese Gründungsbereiche sind insofern interessant, als sie einen Teil jener wissensbasierten Dienstleistungen darstellen, die relativ schwach formal strukturiert sind, keinen eindeutig festgelegten Ausbildungsweg bzw. Abschluss voraussetzen und daher einen relativ großen Spielraum für die persönliche Ausdeutung des Berufs eröffnen. Auf der anderen Seite erfordern die Branchen daher aber auch ein hohes Maß an Eigenstrukturierung. Zudem sind sie hart umkämpft und versammeln besonders viele der zwar akademisch ausgebildeten, aber schlecht bezahlten (Solo-)Selbstständigkeiten (Pongratz & Simon 2010). Die letztgenannte Gruppe an Gründungsprojekten weist jedoch noch eine Besonderheit auf: Es handelt sich um Dienstleistungen, die in besonderem Maße auf die Profilierung und Optimierung der Selbstdarstellung und Außenkommunikation von Unternehmen bzw. Einzelpersonen orientiert sind. Zudem greifen sie in ihrer Angebotspalette auf Leitkonzepte gegenwärtiger Selbstregierungstechniken zurück (neben
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Darunter fallen elf Kernbranchen bzw. Teilmärkte, nämlich Musikwirtschaft, Buchmarkt, Kunstmarkt, Filmwirtschaft, Rundfunkwirtschaft, Markt für darstellende Künste, Designwirtschaft, Architekturmarkt, Pressemarkt, Werbemarkt und Software-/Games-Industrie (Söndermann et al. 2009).
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Kreativität: Beratung, Mediation, Evaluation, Lebenslanges Lernen etc.) (Bröckling et al. 2004). Auch vor dem Hintergrund solcher marktlichen Entwicklungen plädiert Reckwitz dafür, sich bei der Bestimmung der Kultur- und Kreativwirtschaft definitorisch nicht strikt an bestimmten Branchen zu orientieren, sondern in Rechnung zu stellen, dass in vielen Industrie- und Dienstleistungsbereichen eine massive Kulturalisierung stattfindet: Viele Unternehmen klassischer Branchen (Tourismus, Gastronomie, Einzelhandel etc.) sind inzwischen auf die Produktion oder Vermarktung einzigartiger, kreativer Güter ausgerichtet. Reckwitz zufolge ist dies besonders anschaulich an der Bildungsbranche nachzuvollziehen, deren Mitglieder sich nicht nur immer offensiver in kreativer und einzigartiger Weise darstellen, sondern ihre Leistungen vermehrt in den Dienst der Besonderung ihrer Kund*innen stellen, die sich »von ihnen singulären Wert erwarten« (Reckwitz 2017b: o.S.). Insofern sind die Gründerinnen im Bereich der Profilierungsarbeit nicht nur schöpferisch tätig, da sie – wie etwa die Werbeindustrie – für jede*n Kund*in eine passgenaue Story, einen organisationskulturadäquaten Mitarbeiter*innenstamm bzw. eine einzigartige Produktpalette kreieren und/oder ihnen behilflich sind, diese zu verkaufen. Die von ihnen angebotene Leistung ist zudem ihrerseits ein kreatives, auf Affekte zielendes und singuläres Produkt. Die Form der Leistungen, aber auch die Selbstständigkeit lassen vermuten, dass die Gründerinnen – entweder gezwungenermaßen oder freiwillig – Abstand nehmen von einer fordistisch geprägten, standardisierten Arbeitsweise und sich einer dem jeweiligen Produkt flexibel angepassten Praxis zuwenden. »Die Fähigkeit zur Kreativität ist nichts mehr, was nur bestimmten Professionen zugesprochen wird, sondern findet sich ebenso in der öffentlichen Verwaltung, in der Hochschule oder der Stadtplanung. Gemein ist diesen unterschiedlichen Bereichen, dass erfolgreiches Arbeiten nicht mehr (vordergründig) in der bürokratisch-technischen Organisation und exakten Planung (wie etwa in der ingenieurswissenschaftlichen Innovationsforschung), sondern in der aktiven und situationsbezogenen Zuwendung zu einem Arbeitsgegenstand verortet wird.« (Krämer 2012: 112) Insofern lässt sich ein Großteil der interviewten Gründerinnen in Wirtschaftsbereichen verorten, die – im engeren oder weiteren Sinne – der (kreativen) Produktion kultureller Güter verschrieben sind. Eine Abgrenzung des Bereichs ist auch deshalb so schwer, weil sich die ›Kreativierung‹ der Arbeit nicht ausschließlich von Seiten der im engeren Sinne Kultur- und Kreativbranchen vollzieht. Vielmehr scheint das Künstler*innenideal, als ein spezifisches Leitbild selbstbestimmter, schöpferischer Arbeit im Zuge der Erosion einer fordistischen Arbeitslogik in den verschiedensten Bereichen des Arbeitslebens Eingang gefunden zu haben und musste nicht erst den Umweg über einen bestimmten Wirtschaftszweig nehmen (Chiapello 2012; Reckwitz 2012). Wie inzwischen vielfach herausgearbeitet wurde, ist die Ästhetisierung von Arbeit dabei eine zweischneidige, ambivalente Angelegenheit: »Nahezu sämtliche fordistische Transformationsphänomene wie z.B. Feminisierung, Akademisierung, Flexibilisierung von Erwerbsformen und neue Verknüpfungen von
16 Die Situation von Existenzgründerinnen soziologisch in den Blick genommen
Arbeit und Leben, erwerbsbiografische Brüche, sowie eigenverantwortlich zu bewältigende soziale Risikostrukturen charakterisieren die Strukturen der künstlerisch-kreativen Arbeit. Daran anschließend gewann in der Arbeitsmarktforschung die Annahme an Bedeutung, dass sich die Merkmale von Künstlerarbeitsmärkten auch in andere Erwerbs- und Wirtschaftsbereiche ausweiten und die Formen der Arbeitsorganisation zunehmend projektbezogener, organisationsübergreifender, kurzfristiger und marktbezogener werden würden. Während zunächst angenommen (und gehofft) wurde, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft einen Prototyp für zukunftsfähige Formen von Erwerbsarbeit abgeben könnte, wurden Arbeitsverhältnisse aus dem Kunst- und Kulturbereich zunehmend als Sinnbild für allzeit bereite und stark subjektivierte Arbeit und somit zu einem Modell nachfordistischer Arbeitspolitik erklärt.« (Manske & Schnell 2018: 426) Die Allverfügbarkeit selbständiger Kreativer ist dabei vor allem auch durch die oft sehr geringe Entlohnung bedingt: Im Jahr 2004 betrug das Jahreseinkommen der über die Künstlersozialversicherung abgesicherten Publizist*innen und Künstler*innen im Schnitt 11.100 Euro (Enquete-Kommission Kultur 2007)11 . Zudem ist die Branche von Kleinstunternehmen – unter die auch Solo-Selbständige fallen – dominiert, diese machen 60 % der angebotsseitigen Marktteilnahme aus und erwirtschaften etwa 27 % des Umsatzes (Söndermann et al. 2009). Schließlich findet sich im Bereich der Kulturund Kreativwirtschaft eine große Bandbreite atypischer Beschäftigungsformen und verschiedene Spielarten der Erwerbshybridisierung (Manske 2018). Dennoch lassen sich die (Solo-)Selbständigen der Kultur- und Kreativwirtschaft nicht umstandslos als prekäre Marktsubjekte charakterisieren. Bührmann (2012) weist darauf hin, dass zwar insbesondere Alleinunternehmer*innen der Kreativbranchen zu jenen Selbstständigkeiten gehören, die auch Jahre nach der Gründung keine zufriedenstellende Marktanpassung realisieren können und im Bereich des Existenzminimums verharren, dies sei aber vor allem auf den Wunsch nach einer selbstbestimmten Arbeits- und Lebensweise zurück zu führen. Daher ließen sich die betreffenden Akteure einer Form prekären Unternehmertums zurechnen, die durch eine objektive Prekaritätslage, aber zugleich auch durch ein fehlendes Prekaritätsempfinden charakterisiert ist. Kreativarbeiter*innen betreiben oft bewusst eine Art ›Selbstprekarisierung‹, da sie strukturierte Beschäftigungsverhältnisse als restriktiv und beengend empfinden (Manske 2016). Insofern zeichnet sich die Arbeit vieler kreativwirtschaftlicher Alleinunternehmer*innen durch eine »Prekarisierung auf hohem Niveau« (Manske 2007) bzw. einen Doppelcharakter aus Privilegierung und Prekarisierung aus (Betzelt & Gottschall 2005). Dabei werden die Unternehmen zwischen Selbstverwirklichungsraum und Existenzsicherung, d.h. auch zwischen Erfolg und Scheitern, in der Schwebe gehalten (vgl. Pongratz & Simon 2010). Dieser Schwebezustand verlangt den Selbständigen eine hohe ›Kontingenz-Kompetenz‹ ab (Manske 2009).
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Bis 2010 hat sich das Durchschnittseinkommen immerhin auf 13.288 Euro erhöht, liegt jedoch nach wie vor deutlich unterhalb der Armutsgrenze (Manske 2010).
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Alltagspraktisch zeichnet sich diese Form kreativwirtschaftlicher Selbstständigkeit durch eine massive Entgrenzung der unter den Bedingungen der organisierten Moderne separierten Lebensbereiche aus: »Die Konturen zwischen ›betrieblicher und häuslicher Arbeit‹ verschwimmen, weil Künstler/innen und Publizist/inn/en häufig zu Hause arbeiten bzw. die Arbeits- und Lebensstätten in unmittelbarer Umgebung, im selben Haus oder fußläufig erreichbar sind. Aufgrund der unregelmäßigen Arbeitszeiten herrscht eine positive Einstellung zur Kombination von Wohnung und Arbeitsplatz vor. Selbstständige Künstler/innen und Publizist/inn/en nutzen ihre Arbeitsmittel (Computer, räumliche Ausstattung, PKW etc.) beruflich und privat. Auch Haushalts- und Unternehmensfinanzen werden nur insoweit getrennt, wie es das Steuerrecht und das Sozialrecht erfordern. Arbeitsund Lebensmotivationen überlagern sich.« (Dangel-Vornbäumen 2010: 159) Dieser Lebensentwurf ist oft mit einem spezifisch künstlerischen Subjektideal verkoppelt, dass sich durch ›Leidenschaft für die Sache‹, also durch eine persönliche Hingabe in Bezug auf Arbeits- und Lebensaufgaben, aber auch durch den Glauben an Talent und Genie, in jedem Fall durch die hohe Bedeutsamkeit von Authentizität auszeichnet (Koppetsch 2006b). Allerdings lässt sich nicht nur eine Normativierung bzw. Subjektivierung von Arbeit, sondern auch eine Ökonomisierung der privaten Lebensführung verzeichnen. Alexandra Manske (Manske 2009: 290f.) macht in Teilen der kreativwirtschaftlichen Solo-Selbstständigkeiten gar eine »ideologische Überhöhung des unternehmerischen Selbst« aus. Alles in allem erhöht der Gründungsbereich der Kultur- und Kreativwirtschaft offenbar massiv die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei den Selbstständigkeiten um neue Formen der Arbeit und der Relationierung von Arbeit und Leben handelt. Sie unterscheiden sich von den klassischen Professionen mit ihren klar reglementierten Verfasstheiten und Zutrittsschranken, grenzen sich durch ihre Arbeitsstrukturen aber auch von den traditionellen Selbstständigkeiten ab und lassen sich auch nicht umstandslos dem Niedriglohnsektor zuordnen, der sich insbesondere durch Beschäftigungsangebote für Geringqualifizierte auszeichnet. »Zugleich erinnert die erwerbsbiografische Projektifizierung von Kreativarbeitern strukturell an das Schicksal von Tagelöhnern und ist insofern ein neuralgischer Punkt ihres Lebenszusammenhangs.« (Manske 2009: 294)
17 Lebensentwurfstypik
Die Lebensentwürfe der interviewten Gründerinnen zeigen sich tatsächlich in der vermuteten praktischen Vielfalt. Auch weisen sie unterschiedliche praktische Bezüge sowohl zu den relativ standardisierten Lebensentwürfen der organisierten Moderne als auch zu den durch die praxeologischen Gegenwartsanalysen herausgearbeiteten gegenwärtigen transversalen Logiken auf. In den Interviews dokumentieren sich drei unterschiedliche Orientierungsrahmen, in denen sich die Lebensentwürfe verorten lassen: Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ stellt sich das Leben als ein Weg dar, auf dem in klar definierten Transitionsphasen systematisch Entscheidungen über den weiteren Verlauf getroffen werden müssen. Wesentlich ist dabei die berufliche und persönliche Weiterentwicklung, die im Grunde unbegrenzt fortgesetzt wird. Im Rahmen des Typus ›Drift‹ ist das Leben hingegen als fluides Gefüge aus Erfahrungen und Ereignissen entworfen, das sich mit dem Wahrnehmen von Gelegenheiten entfaltet und vor allem auf die Beschäftigung mit sinnstiftenden Aufgaben und Themen von persönlichem Interesse orientiert ist. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ wird das Leben hingegen als eine schicksalhafte Geschichte hervorgebracht, in der sich (z.T. gegen widrige Umstände) ein spezifischer, als angemessen empfundener sozialer Status realisieren soll. Die Typen sollen im Folgenden näher ausgeführt werden. Dabei beginne ich mit dem Lebensentwurfstypus ›Pfad‹, der in der narrativen Hervorbringungsweise in vielerlei Hinsicht der von Bourdieu (1990) herausgearbeiteten ›biographischen Illusion‹ entspricht. Insofern mag er zunächst wie die selbstverständliche Form der Vorstellung vom Leben wirken. Im Vergleich mit den anderen beiden Lebensentwurfstypen wird jedoch deutlich, dass es ganz unterschiedliche Logiken gibt, nach denen das Leben praktisch hervorgebracht werden kann.
17.1
Lebensentwurf und Handlungsorientierungen des Typus ›Pfad‹
Das Leben als einen Weg zu entwerfen, ist im common sense unserer Gegenwart fest verankert (Bourdieu 1990). Hierin drückt sich nicht nur die moderne lineare Zeitvorstellung aus, sondern auch die Idee kontinuierlicher Entwicklung, die sich im Medium einer sinnhaft aneinander anschließenden Reihung von Ereignissen entfaltet. Die-
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se Grundvorstellung findet als Verlaufsbeschreibungen Eingang in viele Bereiche des Sozialen – sei es im Feld der Wissenschaft, wo die Theorie der Pfadabhängigkeit organisationale Prozesse zu rekonstruieren sucht oder im Feld der Literatur, wo etwa der Bildungsroman die geistige und moralische Entwicklung seiner Protagonist*innen nachvollzieht. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch die interviewten Gründerinnen, die immerhin gebeten wurden, von verschiedenen Zeiten ihres Lebens und vom Zustandekommen ihrer Selbstständigkeit zu erzählen, an dieses verbreitete Narrativ anschließen und dass sich also in Bezug auf den Lebensentwurf ein Orientierungsmuster abzeichnet, welches als ›Pfad‹ beschrieben werden kann1 . Im Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfadabhängigkeit‹ umreißen die Gründerinnen ihr Leben als einen Weg, den sie sukzessive bewältigen und auf dessen Verlauf sie vor allem durch das Treffen bewusster Entscheidungen aktiv gestalterisch einwirken. Die Wegmetapher spielt bereits auf der sprachlichen Ebene eine große Rolle: Die Gründerinnen sprechen davon, wie wichtig es ihnen ist, in Leben und Beruf den eigenen Weg zu gehen (Kunze: 14)2 oder den richtigen Weg für sich zu finden (Töbelmann: 4), und rekonstruieren sich mitunter an einem Scheideweg oder an einer Schwelle stehend (Haller: 38; 28). Sie durchlaufen ihr Leben gedanklich und narrativ in Etappen (Schneider: 24), die sie hinter sich lassen bzw. überwinden, die ihnen jedoch auch prospektiv als Ziele vor Augen stehen. Die Zielerreichung erfordert bisweilen Zwischenschritte (Kunze: 2), manchmal müssen auch Rückschritte verzeichnet werden (Huber: 21). Angesichts der mit ihr einhergehenden Veränderungen und Anforderungen stellt die Gründung einen großen Schritt (Huber: 27), aber auch einen logischen Schritt (Kunze: 10) dar; sie ist ein Schritt, der gewagt werden muss (Haller: 6) und sich wiederum in einzelne Schritte (Töbelmann: 11) unterteilen lässt, sich also Schritt für Schritt aufbaut (Haller: 2). Die Gründung wie auch der gesamte Lebensweg zergliedern sich in der Rekonstruktion der Gründerinnen also in einzelne, logisch aufeinander aufbauende Elemente, die in der Erzählung systematisch nachvollzogen werden.
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Zwar legt dies zunächst den Verdacht von durch das Interview produzierten ›Zugzwängen des Erzählens‹ nahe (Kallmeyer & Schütze 1977), allerdings ist diese Vermutung mit Verweis auf andere Gründerinnenerzählungen zu relativieren: Insbesondere Lebensentwurfsnarrationen des Typus ›Drift‹ folgen in ihren Erzählungen keiner strikt chronologischen Logik, sondern gehen thematisch vernetzt vor. Im Folgenden werde ich Zitate aus Interviewpassagen, die in den Analysetext eingebunden sind, kursiv setzen und auf die Seitennummer innerhalb des jeweiligen Transkripts verweisen. Wo nötig, werde ich diese eingebundenen Zitate zur besseren Lesbarkeit grammatikalisch anpassen. Vollständige Interviewpassagen werden als Blockzitate gekennzeichnet; Redepausen unter drei Sekunden sind dabei mit zwei Punkten, längere Pausen mit drei Punkten markiert. Während Umgangssprache bei der Transkription berücksichtigt und gesprochene Betonung in Großbuchstaben wiedergegeben wurde, sind dialektale Einfärbungen der Sprache geglättet. Ortsbezeichnungen und andere Eigennamen wurden entweder mit einem (randomisierten) Buchstabenkürzel versehen oder dort, wo mit der Angabe eine besondere Bedeutung verknüpft ist, sinnverwandt verändert und mit einem Sternchen gekennzeichnet. Die Namenspseudonyme sind von den Interviewten selbst gewählt.
17 Lebensentwurfstypik
Grundmuster des Lebensentwurfs des Typus ›Pfad‹ Zwar wird ›Lebensentwurf‹ im Rahmen der vorliegenden Analyse als ein weit gefasstes Konzept genutzt, das vor allem auch das implizite Wissen und die unausgesprochene, praktische Konturierung dessen, was sich die Gründerinnen unter ihrem Leben vorstellen, einbezieht, viele Erzählungen enthalten jedoch auch gezielte Adressierungen von Plänen, Hoffnungen und Erwartungen, die an das eigene Leben geknüpft sind, sowie explizite Vorstellungen vom generellen, typischen Verlauf eines Lebens. Der Typus ›Pfad › zeichnet sich nun dadurch aus, dass er eine besonders ausgeprägte Explikation des ›normalen‹ Lebens, sowie einen konkreten intentionalen Entwurf des jeweiligen ›eigenen‹ Lebens umfasst.
Das Leben als konventionsgeleiteter Pfad Dass jene Gründerinnen, in deren Interviews sich eine Orientierung am Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ dokumentiert, eine typisierende bzw. normalisierende Vorstellung des Lebens haben und diese explizieren können, korrespondiert mit ihrer Fähigkeit, die Welt in einer hochgradig strukturierenden, sogar standardisierenden Weise wahrzunehmen. Die meisten lebensweltlichen Umstände sind daher kategorisierbar und kalkulierbar, weil sie in den Vorstellungen dieser Gründerinnen systematisch bestimmten Kausalitäten, Grundmustern und Regeln unterworfen sind: So ist es beispielsweise was anderes, wenn Frauen gründen, wie wenn Männer gründen, weil in der Regel ist man dann nicht der Haupternährer, in der Phase der Gründung. (Töbelmann: 4) Die Gründerin führt hier eine kategorisierende Grundunterscheidung ›weiblicher‹ und ›männlicher‹ Gründung ein. Diese wird nicht auf eine divergente Wesenheit von Frauen und Männern zurückgeführt, sondern aus den wahrscheinlichen strukturellen Lebensumständen kausal hergeleitet und somit nicht als natürliche, sondern als empirische Tatsache markiert (›in der Regel‹). Durch die klare, teilweise formalistisch anmutende Formulierung und die im Maskulinum verallgemeinerte, sowie funktional-analytische Begrifflichkeit (›man‹, ›Haupternährer‹, ›Phase der Gründung‹) wird die Unterscheidung jedoch objektiviert. Sprachlich besteht zwar die Möglichkeit einer Ausnahme von der Regel (dann, wenn Männer nicht die Haupternährer sind), diese scheint jedoch so unwahrscheinlich oder irrelevant, dass sie weder expliziert wird noch eine stärker relativierende Formulierung evoziert. Kennzeichnend für den Typus ›Pfad‹ ist nun, dass dieser kausallogische, standardisierende Zugang nicht in ein allgemeines Welterklären mündet, also nicht den Impetus einer beispielsweise wissenschaftlichen Annäherung teilt, sondern nur in Bezug auf die direkte Umwelt der jeweiligen Gründerin hervorgebracht wird. Es handelt sich um einen Modus, der es den Gründerinnen alltagspraktisch ermöglicht, die eigene Lebenswelt (implizit) zu strukturieren und ihren konkreten Standpunkt dabei relational zu evaluieren. Dabei zeigen sie sich äußerst empfänglich für konventionalisierte Regeln und Normen, die sie akzeptieren und auch häufig explizieren: ein Vorstand hat auch eine ganz andere Verantwortung als ich. Also dass Positionen unterschiedlich monetär belohnt werden, völlig d´accord, darauf lässt man sich ja auch ein bei so einem Spiel (Kunze: 6). Allgemeine Spielregeln werden hier nicht als etwas dargestellt, das es zu brechen oder gegen das
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es aufzubegehren gilt. Zugleich dokumentiert sich in der Erzählung von Mareike Kunze weder Unmut noch das Gefühl, den Strukturen hilflos ausgeliefert zu sein. Auch wenn der generalisierende Erzählstil den Eindruck vermittelt, als würde die Gründerin hier lediglich offenkundige Tatsachen artikulieren und damit die Unumstößlichkeit der dargelegten Verteilungsregeln unterstreicht, nimmt Kunze keineswegs eine passive Haltung ein: Sie weiß um die Spielregeln, die in einer Wirtschaftsorganisation zu akzeptieren sind, das Mitspielen ist jedoch als eine aktive Einlassung ihrerseits rekonstruiert. Die Sensibilität für Regeln, Muster und Strukturen ermöglicht den Gründerinnen, eine klare persönliche Positionierung zu eben diesen Strukturen, die sie als objektive Bedingungen ihrer Praxis anerkennen. Dabei korrespondiert mit dem Wissen um soziale Spielregeln und die hierdurch strukturierten persönlichen Handlungsspielräume eine relativ souveräne und ausgeglichene Haltung. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Möglichkeit, zwischen strukturellen Effekten und persönlichen Beziehungen bzw. Befindlichkeiten trennen zu können: organisatorische Reibungsverluste, das hat man einfach, da kann das Team noch so nett sein […]. Wir hatten eine tolle Abteilung, aber trotzdem, es gibt halt einfach ständig Knatsch wegen irgendwelchen Sachen. (Töbelmann: 7). Im Rahmen dieser konventionell strukturierten Kontexte entwerfen die Gründerinnen nun den ›typischen‹ Lebensverlauf als einen Pfad, den sie zwar nicht als vorherbestimmt rekonstruieren, jedoch auch nicht als vollständig kontingent wahrnehmen. Der typische Lebensweg durchläuft dabei Phasen, die durch bestimmte institutionelle Konstellationen gekennzeichnet sind und dadurch je spezifische Möglichkeitsräume eröffnen: man hat immer, denk ich mal, so verschiedene Fenster im Leben, wo man Dinge tun kann. Ob’s ne Weltreise ist, oder was weiß ich, nachm, vorm Studium oder so, und man kann’s IMMER noch machen, aber man machts dann meistens nicht mehr. (Haller: 3) Biografische Transitionsphasen – hier: vor und nach dem Studium – werden als (Zeit-)Fenster auf dem Lebensweg gekennzeichnet, die mehr Kontingenz aufweisen als die institutionalisierte und nach bestimmten Verlaufsmustern standardisierte Phase des Studiums, sowie die hier nicht explizierten, aber durch die Thematisierung der Übergänge angedeuteten Phasen Schule und Beruf, die in der Regel vor und nach dem Studium liegen. Das Fenster und das damit einhergehende Moment des Öffnens und wieder Schließens von Kontingenz wird also als eine generelle Position im Lebensverlauf markiert, mit der bestimmte Möglichkeiten verbunden sind (Weltreise) und die dadurch, dass sie Phasen der Zukunftsoffenheit klar umgrenzen, insgesamt zu der Standardisierung von Lebensentwürfen beitragen (›man‹ könnte auch in einer anderen Lebensphase reisen, tut dies aber nicht). Vor allem aber werden diese Zeitfenster von den Gründerinnen narrativ als Räume hervorgebracht, in denen Anschlussentscheidungen getroffen werden – es handelt sich also um Entscheidungssituationen, um jene ›Stationen‹ im Lebensverlauf, an denen ein Wegziel erreicht ist (oder ein gegebener Weg endet) und sich die Frage nach dem Weitergehen stellt. Diese Entscheidungssituationen sind durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet, denn für die Gründerinnen stellen sie Schnittpunkte in ihrer konkreten Biografie dar, in denen sich strukturelle Bedingungen, persönliche Lebensumstände und individuelle Präferenzen kreuzen und aus denen unterschiedliche Möglichkeiten des künftigen Pfadverlaufs erwachsen. Barbara Haller markiert die Existenzgründung als eine solche Anschlussmöglichkeit:
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»Ich bin jetzt 43, da [als sie begonnen hat, über eine berufliche Selbstständigkeit nachzudenken, J.E.] war ich 41, und dann hab ich mir überlegt, WENN ICH NOCH MAL EIN GESCHÄFT AUFBAUEN KANN, ja, also WENN ich dieses Projekt in die Hand nehm, dann muss ich es jetzt tun. Jetzt […] sind erstens meine Kinder so alt, dass die mich jetzt nicht mehr ständig brauchen, zweitens ich so vital und fit und hab auch die Erfahrung natürlich, aus meinem alten Job raus, und vielleicht auch das notwendige Selbstbewusstsein, das ich zehn Jahre früher gar nicht gehabt hätte. Ja, zu sagen: Ich stell mich jetzt hin und verkauf MEINE Sachen. Ja, man muss sich ja auch anbieten und das ist ja irgendwie auch manchmal nicht schön, ja. Kann schön sein, aber kann auch irgendwie…, also man muss da schon ne gewisse Distanz zu, also darfs nicht zu persönlich nehmen, sagen wir so.« (Haller 03/22-31) Nicht nur rekonstruiert Barbara Haller die strukturellen Bedingungen ihrer Lebenssituation als günstig (die Kinder sind alt genug), sondern sie sieht insbesondere bei sich selbst die Voraussetzungen dafür gegeben, das ›Projekt Gründung‹ anzugehen: Einerseits schätzt sie ihre physische Verfassung als (noch) geeignet ein, andererseits bringt sie die nötige berufliche Erfahrung und auch Lebenserfahrung mit. Diese verschiedenen Aspekte werden jeweils für sich genommen als kontinuierliche Verläufe rekonstruiert: Das Aufwachsen der Kinder, das eigene Altern, die berufliche Entwicklung, wie auch das Sammeln von Lebenserfahrung, die wiederum Persönlichkeitsentwicklung bedeutet (Steigerung von Selbstbewusstsein, Gelassenheit, Ausgeglichenheit). Für sich genommen charakterisieren sie die persönliche Situation der Gründerin in jeweils einer bestimmten Hinsicht. Zusammengenommen ermöglichen Sie die Einschätzung, dass der Moment im Lebensverlauf günstig ist für die Gründungsentscheidung: etwas früher wäre sie mit Blick auf die familialen Umstände und die fachliche bzw. persönliche Reife noch nicht ideal gewesen, etwas später ist sie den Anstrengungen eines Unternehmensaufbaus möglicherweise physisch nicht mehr gewachsen. An ihrem Kreuzungspunkt bilden die verschiedenen dynamischen Aspekte den subjektiv ›richtigen‹ Moment für die Gründung. Zugleich ist er (auch in der Wahrnehmung der Gründerinnen) rückgebunden auf ein ›typisches‹, strukturell bedingtes biografisches Fenster in weiblichen Lebensverläufen: Jenes des beruflichen Wiedereinstiegs nach einer intensiveren Familienphase.
Der Entwurf des eigenen Lebens als planvolle Gestaltung eines Entwicklungspfads Mit Blick auf den persönlichen Lebensentwurf, d.h. in Bezug auf das eigene Leben der Gründerinnen, bedingt die strukturierende, standardisierende Grundorientierung einen reflexiven und systematischen Abgleich zwischen Umwelt und individuellem biografischen Standpunkt, der ein planvolles Entwickeln des Lebenswegs ermöglicht. Dies bedeutet nicht, dass die Gründerinnen Dekaden oder gar ihr ganzes Leben prospektiv umreißen, vielmehr stecken sie sich verschiedene kleine Ziele, Etappenziele sozusagen (Huber: 28). Solche Ziele werden systematisch bearbeitet und etwa durch das Einholen von professionellem Rat oder durch Weiterbildungen und Zusatzqualifikationen vorangetrieben. Dieses Vorgehen bedeutet indes nicht, dass die Gründerinnen unzugänglich sind für spontane Gelegenheiten, die sich in unvorhergesehener Weise ergeben: So erzählt beispielsweise Barbara Haller, dass die mittelständischen Unternehmen, für die
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sie als Selbstständige die PR-Arbeit übernimmt, oft dringend eine Marketing-Expertin benötigen: »die sind gar nicht klein, die machen Vertrieb, aber die machen kein Marketing, die haben überhaupt keine Strategie, die haben keine Ausrichtung, die haben keine corporate identity, die wissen auch gar nicht den Unterschied zwischen PR und Marketing. Ich hab einen Kunden, mein erster Kunde, der neulich, den hab ich seit eineinhalb Jahren, sagt er: ›Die Frau Haller ist unsere Marketingagentur.‹ […] Am Anfang hab ich gesagt: Ich mach kein Marketing. Hab ich mir ganz, ganz, ganz schnell abgewöhnt, weil, das interessiert die nicht.« (Haller 17/36-18/38) Nicht nur passt sich Haller den Gewohnheiten des Kunden an, sie erkennt hierin auch die Gelegenheit, ihr Geschäft auszubauen und – wie sie später erzählt – ihr berufliches Profil für eine (als hypothetisch markierte) Rückkehr in ein Angestelltenverhältnis weiterzuentwickeln. Zwar hat sie in ihrem früheren Berufsleben einige Kenntnisse im Marketingbereich sammeln können, empfindet diese jedoch als handgestrickt, sodass sie sich entschließt, ihre Kompetenzen systematisch durch eine Ausbildung zur Marketingfachwirtin zu erweitern: und dann hab ich mich da entschieden, die zu machen und mir da das Fachwissen zu holen. (Haller: 18) Hierin drückt sich eine pragmatische, anwendungsbezogene Haltung zur Bildung aus und zugleich die Bereitschaft, Zeit in die persönliche bzw. berufliche Entwicklung zu investieren. Dennoch – auch dies wird deutlich – wird die zeitliche Investition in Bildung nicht unüberlegt getätigt, auch sie ist an eine explizite Entscheidung geknüpft. In Hallers Erzählung dokumentiert sich nicht nur die Strategie, Bildung als ein Mittel der planvollen und systematischen Weiterentwicklung des (beruflichen) Lebenswegs zu nutzen, sie verdeutlicht darüber hinaus, dass diese Pläne im Zusammenspiel mit konkreten kontextuellen Gegebenheiten entworfen werden, dass Haller ein Gespür für ihre Umgebung besitzt und hieraus sowohl Ziele als auch zukunftsgerichtete Handlungskonsequenzen ableitet. Dabei geht sie neue Wege, betritt jedoch kein völlig neues Feld, sondern folgt einer Möglichkeit, die sich organisch aus ihrer momentanen Lage entwickelt und zunächst eine Fortführung und sogar Stabilisierung des Pfads der Selbstständigkeit bedeutet. Darüber hinaus hat die Weiterqualifikation jedoch auch das Potenzial, in einer grundsätzlicheren Entscheidung über den weiteren Lebensweg, die Bandbreite der Anschlussmöglichkeiten zu erweitern: »jetzt mit dieser Marketingfachwirt-Ausbildung, da bietet sich natürlich auch wieder ein gew, würde sich ein gewisses Berufsfeld anbieten, die vielleicht auch sagen, dass könnte man im Angestelltenverhältnis tun, ja. Das war auch am Anfang meine Überlegung, irgendwann zu sagen, vielleicht jump ich wieder zurück. Aber jetzt im Moment -« (Haller 39/44-40/01) Mit der Nutzung des Konjunktivs markiert Haller den hypothetischen Charakter dieser Überlegung. Insbesondere vom aktuellen Standpunkt aus betrachtet (›jetzt im Moment‹) ist ein solcher Pfadwechsel für die Gründerin keine Option, aber sie antizipiert vor dem Hintergrund eines dynamischen, entwicklungsbezogenen Verständnisses von Umwelt und Selbst dessen Möglichkeit. Dies verweist auf ein weiteres Merkmal des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹: Die Zukunft wird in alternativen Szenarien entworfen, die jeweils an die gegenwärtige Situation anschließen, aber durchaus unterschiedliche Folgen zeitigen, sodass die Entscheidung für den Anschlusspfad wohlüberlegt getroffen werden
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muss. So antwortet Haller auf die Frage, wie ihr Leben in drei Jahren aussähe, wenn es sich nach ihren Vorstellungen entwickelte: »Oh! Das ist gut, das überleg ich gerade. Also in einem Jahr ein Büro und dann irgendwann, ich weiß es noch nicht ganz genau, das eine Bild ist Mitarbeiterin oder Mitarbeiter, ein oder zwei, je nach dem, wie’s sich entwickelt. Und das andere ist, in einer Gemeinschaft mit jemand, der oder die ähnliches macht, oder Werbeagentur, oder wie auch immer. So eine Art Bürogemeinschaft, wo man sich so, also wo jeder seine Firma hat, aber letztendlich sich so zuarbeitet, also ergänzt, sagen wir mal, das wär ideal.« (Haller 40/19-25) Zunächst macht die Gründerin deutlich, dass sie sich momentan auch unabhängig von der Interviewsituation mit Zukunftsüberlegungen beschäftigt, verweist also implizit auf die persönliche Relevanz einer bewussten Auseinandersetzung mit der Zukunft. Die Pläne im Horizont des nächsten Jahres scheinen bereits relativ konkretisiert, hierauf verweist sie ohne dass die Frage auf diesen Zeitraum zielt in einem knappen Nebensatz – es handelt sich um den nächsten Schritt, der gegangen werden muss, um weiter vorgreifende Entwürfe darauf aufzubauen (›und dann‹). Wenngleich nach dem best case gefragt wird, entwirft Haller zwei Szenarien bzw. zwei ›Bilder‹. Was auf den ersten Blick wie Unentschlossenheit wirken mag, ist vielmehr dem analytischen, Möglichkeiten abwägenden Modus dieses Orientierungsrahmens geschuldet: Ein gedankliches Durchspielen der Entwicklungen in drei Jahren ist zwar sinnvoll, um rechtzeitig geeignete Schritte einleiten zu können, zugleich ist die dynamische Umwelt auf diese zeitliche Entfernung nur sehr allgemein antizipierbar, auch deshalb ›weiß sie noch nicht ganz genau‹ in welche Richtung ihr Lebensweg verlaufen wird. Gleichwohl werden beide Bilder zwar knapp, aber durchaus konkret dargestellt und vor allem ausdifferenziert. Haller folgt narrativ verschiedenen Entscheidungspunkten, die sie entsprechend der in Frage kommenden Wahlmöglichkeiten aufschlüsselt (›Firmenwachstum oder Bürogemeinschaft‹, ›Mitarbeiterin oder Mitarbeiter‹3 , ›ein oder zwei‹). Am Ende steht die Bürogemeinschaft als (momentan) präferiertes Szenario (›das wär Ideal‹). So rasch und konkret diese Szenarien in der Erzählung entworfen sind, so unabsehbar ist es aus Sicht der Gründerin, welches der Bilder (und ob überhaupt eines von beiden) die Zukunft vorwegnimmt. Es handelt sich um zwei alternative Pfadanschlüsse, die bei aller Konkretheit in der Darstellung noch virtuell sind. Aus Sicht der Gründerinnen gilt es, die Entwicklung ihrer Unternehmung, aber auch der Umstände abzuwarten, denn gerade große Veränderungen des Lebensverlaufs werden im Abgleich mit der Umwelt und in kleinen, wohlüberlegten Schritten unternommen. Das heißt, es bedarf einer ausgiebigen Reflexion der Möglichkeiten, Bedingungen und Alternativen, bevor eine Pfadentscheidung getroffen wird.
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Dass es sich hier wahrscheinlich nicht um eine geschlechteregalitäre Formulierung sondern um eine antizipierte konkrete Entscheidung zwischen einer weiblichen oder einem männlichen Angestellten handelt, wird in Bezug auf die gesamte Erzählung von Barbara Haller deutlich: Bei verallgemeinernden Schilderungen nutzt sie ansonsten das generische Maskulinum.
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Biografische Entscheidungssituationen zwischen Emergenz und Planung Bis zu diesem Punkt der Analyse können die Orientierungsmuster des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Leben wird als ein kontinuierlicher, sich sukzessive aus gesammelten Erfahrungen konstituierender und in den Grenzen einer objektivierbaren, strukturierten Umwelt verlaufender Weg verstanden, der in reflektierter, planvoller Weise von der Vergangenheit in die Zukunft zu entwickeln ist. Auf diesem Weg öffnen sich immer wieder teils konventionalisierte (z.B. Bildungsübergänge), teils aus der spezifischen Konstellation der persönlichen Lebensumstände entstehende biografische Fenster. Diese werden von den Gründerinnen als Entscheidungssituationen oder Scheidewege rekonstruiert, die mehrere Anschlussmöglichkeiten – mehrere Pfade – eröffnen, und dabei auch eine Fortsetzung des derzeitigen Weges nicht ausschließen: Und da bin ich jetzt so ein bisschen so am Scheideweg, dass ich mir eine Richtung, dass ich die Richtung weiter bestimme, wo’s hin geht. Oder sage, ich bleib jetzt noch zwei, drei Jahre so, solang die Kinder noch so alt sind, und wage dann den Sprung (Haller: 38). Der persönliche Lebensweg wird hier kurzfristig als relativ kontingent wahrgenommen, da sich mögliche Kursänderungen eröffnen und noch nicht entschieden ist, welcher Pfad beschritten wird. Die wahrgenommene Kontingenz lässt insbesondere die Entscheidung für eine andere Richtung als ein Wagnis erscheinen, als etwas, das Überwindung kostet. Zwar spielen Umweltbedingungen hinsichtlich des (antizipierten) künftigen Verlaufs eine Rolle, die Gründerinnen verstehen sich jedoch als aktive Planerinnen, Gestalterinnen und Entscheiderinnen: ob’s in die Richtung geht oder ob’s in die Richtung geht, das ist dann deins und du musst es machen und du musst es steuern (Kunze: 41). In beiden Textstellen dokumentiert sich dabei eine spezieller Doppelcharakter der aktiven Position: Die Gründerinnen verstehen sich sowohl als ›bestimmende‹ bzw. ›steuernde‹ Subjekte, das heißt, sie sprechen sich eine gewisse Souveränität hinsichtlich ihres Lebenswegs zu. Zugleich müssen sie ›den Sprung wagen‹, ›es machen‹ und die nötigen Schritte gehen, sie sind also auch die Triebkraft, die ihren Lebensweg vorantreibt. Gleichwohl wird die Entstehung einer Entscheidungssituation als eine Kombination aus externen Strukturen und persönlicher Entwicklung bzw. Entwicklungsansprüchen rekonstruiert, wobei sich mal die äußeren Umstände, mal die persönliche Weiterentwicklung als letztendlich ausschlaggebendes Moment darstellen. So rekonstruiert etwa Anna Töbelmann das Zustandekommen des biografischen Fensters, in dem die Entscheidung für eine Existenzgründung gefallen ist, als vornehmlich strukturell bedingt: Der Hauptgrund, den sie am Beginn ihrer Erzählung platziert, ist die Geburt ihres Sohnes: es war völlig klar, dass, wenn wir Nachwuchs haben, dass wir gesagt haben, also einer wird zuhause bleiben, im Zweifelsfall ich, und dann wollen wir auch nicht mehr pendeln (Töbelmann: 1). Zunächst stellt Anna Töbelmann die Situation als eine biografische Neuerung dar: mit der Familiengründung ändern sich die Lebensumstände. Hieran knüpft sie eindeutige Prämissen, zu denen einerseits die Herstellung eines gemeinsamen geographischen Wohn-, Arbeits- und Lebensmittelpunktes, andererseits aber auch der Wiedereinstieg ins Berufsleben gehören. Zunächst scheint dies auch relativ problemlos möglich: Der Konzern, für den sie arbeitet, verfügt über eine Niederlassung nahe dem neuen Wohnort und bevor sie in die Elternzeit geht, kann sie mit ihrem Vorgesetzten einen
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Wechsel dorthin vorbereiten. Die Pläne werden jedoch durch eine Umstrukturierung des Konzerns durchkreuzt: »Und als dann der Nils ein, so knapp ein Jahr war, so nach einem halben, dreiviertel Jahr, halben Jahr, hab ich dann angefangen eben Kontakt zu meinem Chef aufzunehmen. Die Situation war aber bei meinem Arbeitgeber dann so, dass die fusioniert hatten und dass die Marschrichtung schon ganz klar war, der Standort wird geschlossen, C. [der potenzielle neue Arbeitsplatz; J.E.], und auch A. [ihr alter Arbeitsplatz; J.E.] wird es dauerhaft nicht mehr geben. Ja und dann war natürlich das eine komplett neue Situation.« (Töbelmann 01/19-34) In der Schilderung von Anna Töbelmann dokumentiert sich jene Variante, in der vor allem äußere Umstände eine biografische Entscheidung notwendig machen: Die Gründerin sieht sich selbst als eine sicherheitsorientierte Person (Töbelmann: 1), die nie wirklich vorhatte, sich selbstständig zu machen (das ist nicht so, dass ich schon immer den Traum von der Selbstständigkeit hatte, mh, im Gegenteil; Töbelmann: 1). Entsprechend richtet sich das für diesen Lebensentwurfstypus charakteristische schrittweise Vorgehen zunächst auf die Kontinuierung des eingeschlagenen Wegs. Die Familiengründung wird rückblickend als ein Moment artikuliert, der Anlass zu einer planvollen Umgestaltung der Arbeits- und Lebensverhältnisse gibt. Der Wohnort muss verlagert werden, der Vorgesetzte muss in die hieraus folgenden Versetzungswünsche eingeweiht werden, damit die notwendigen Schritte eingeleitet werden können. Frühzeitig – wie die wiederholte korrigierende Vordatierung in der Erzählung suggeriert – nimmt Anna Töbelmann wieder Kontakt zum Vorgesetzten auf, um den beruflichen Wiedereinstieg in die Wege zu leiten, stellt aber fest, dass die Voraussetzungen, unter denen sie geplant hat, nicht mehr gelten. Sie findet sich daher relativ unvermittelt in einer komplett neuen Situation wieder, in einer Entscheidungssituation, in der der weitere biografische Verlauf nun kontingent ist. Wird die Entstehung einer biografischen Weggabelung eher als aktives persönliches Herbeiführen einer Entscheidungssituation rekonstruiert, so erscheint dies stets als ein Prozess des reflexiven Abgleichs struktureller Bedingungen und eigener Ansprüche: »Die Anfänge waren […] am Ende einer 17-jährigen Angestelltentätigkeit. Und zwar hab ich im öffentlichen Dienst gearbeitet und habe gesehen, dass ab einer gewissen, na, sagen wir mal für ein gewisses Anspruchsniveau hats nicht mehr gereicht. Also es gab keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr nach oben, das war öffentlicher Dienst, Stellenplan, alles sehr, sagen wir mal, sehr verwaltungstechnisch eingeteilt und die Stellen, die eventuell in Frage gekommen WÄREN, die wurden politisch besetzt. Von daher gabs die Möglichkeit, also richte ich mich jetzt da in meinem Angestelltenverhältnis so ein oder mach ich was ganz anderes. (Schneider 01/11-25) In ähnlicher Weise schildert Barbara Haller die Entstehung der Entscheidungssituation: »Sagen wir mal so, die Anfänge . ich war ja ähm sieben Jahre in ner Agentur, in ner PR-Agentur, also da hab ich das als Angestellte gemacht, was ich jetzt selbstständig tue. Insofern hab ich relativ lange Erfahrungen gesammelt. War da, als die Kinder noch klein waren, halbtags, hab dann später mehr Zeit da verbracht und wollte eigentlich weiterkommen, also mich weiterentwickeln. Und die Agentur ist zwar relativ groß, also hat große Kunden, so eigentlich weltweit Kunden, aber doch eine zu kleine Struktur als dass Aufstiegsmöglichkeiten jetzt unbe-
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grenzt möglich sind. Das wär eigentlich so meine erste Überlegung gewesen, dass ich aus diesem Redakteurs- und PR-Bereich mehr raus komm, in die Geschäftsführungsebene. Das […] hat relativ lange gedauert und mein Prozess, der Prozess war eigentlich der, dass ich mir irgendwann überlegt hab, bestimmte Dinge gefallen mir nicht, bestimmte Dinge würd ich selber gerne anders machen« (Haller 01/17-29) Beide Gründerinnen explizieren hier im Ausgangspunkt der Existenzgründung den Wunsch nach einer innerorganisationalen Karriere, wobei diese nicht nur als formales Weiterkommen nach oben, sondern auch als persönliche Entwicklungsmöglichkeit, als ein sich entwickeln rekonstruiert wird. Barbara Haller expliziert an dieser Stelle bereits, dass die Gründung eine inhaltliche Fortsetzung ihrer durch bisherige berufliche Erfahrungen ausgeprägten Tätigkeitsschwerpunkte bedeutet. Sie deutet somit an, dass eine Diskontinuität im Lebensverlauf (Wechsel der Beschäftigungsform) in anderer Hinsicht durchaus eine konsequente Kontinuierung darstellen kann (Weiterentwicklung der Arbeitsschwerpunkte). Auch in diesem inhaltsbezogenen Sinne ist der Wunsch nach Weiterentwicklung zu verstehen. Beide Gründerinnen nehmen eine knappe, rational gehaltene Benennung jener strukturellen Aspekte vor, die ihre Entwicklung begrenzen: Eva Schneider beschränkt sich darauf, die (einschränkenden) Rahmenbedingungen mit einigen Schlagworten zu umreißen (öffentlicher Dienst, Stellenplan, verwaltungstechnisch eingeteilt). Barbara Haller leitet die Begrenzung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten aus der Konstitution der Aufbauorganisation ihres ehemaligen Arbeitgebers und der damit einhergehenden (zu geringen) Anzahl höherer Posten ab. In beiden Fällen dokumentiert sich eine Selbstverständlichkeit in Hinblick auf die Legitimität der Karrierepläne: Mit dem Verweis auf politisch motivierte Personalentscheidungen, die anderen Rationalitäten als dem Leistungsprinzip folgen, impliziert Schneider, dass eine angemessene Entscheidung womöglich zu ihren Gunsten ausgefallen wäre. Haller wählt einen anderen, jedoch ebenso indirekten Weg: Indem sie auf die im Unternehmen gesammelte Berufserfahrung verweist und diesem zugleich Respektabilität und Prestige zuspricht (›große Kunden, weltweit Kunden‹), markiert sie ihre berufliche Sozialisation als hochwertig. Wenngleich beide Gründerinnen also Anhaltspunkte für die Illegitimität der Verhinderung eines innerorganisationalen Aufstiegs einstreuen, werden die Begrenzungen ohne Rekurs auf etwaige Ungerechtigkeitsempfindungen oder Personen, die unlautere Personalentscheidungen getroffen hätten, als schlichte (vornehmlich strukturell bedingte) Tatsachen dargestellt, mit denen es nun umzugehen gilt. Für den Typus ›Pfad‹ ist charakteristisch, dass bereits das Einleiten einer Entscheidungssituation als Prozess beschrieben wird: Die Inkommensurabilität von Entwicklungsansprüchen und strukturellen Möglichkeiten ist etwas, das sich langsam herausstellt und den ursprünglichen Lebensplan allmählich unwahrscheinlicher werden lässt. Ein Richtungswechsel auf dem Lebensweg erfolgt also nicht spontan oder übereilt, sondern mit Bedacht. Hierfür ist auch bezeichnend, dass die berufliche Selbstständigkeit (anders als im Rahmen anderer Lebensentwurfstypen) nicht als etwas Naheliegendes rekonstruiert wird – im Gegenteil: gerade ausgehend von einer entfristeten Festanstel-
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lung findet eine Annäherung nur langsam statt4 . Auf der anderen Seite scheint die Kontinuität einer beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung von größerer Relevanz als die Fortsetzung eines einmal eingeschlagenen organisationalen Pfades, der sich als entwicklungsarm herausstellt. Daher mündet die vor dem Hintergrund der persönlichen Ansprüche unbefriedigend ausfallende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation in die aktive Öffnung biografischer Kontingenz – gleichwohl der Lebensentwurf des Typus ›Pfad‹ allgemein eher auf Kontingenzschließung ausgerichtet ist.
Entscheidungssituationen als Weggablungen Wenn die Gründerinnen eine Entscheidungssituation rekonstruieren, so adressieren sie eine ganze Reihe alternativer Pfade, die oft ein weites Panorama institutionalisierter bzw. konventionalisierter Anschlussmöglichkeiten abbildet: »Also ich stell mir das schrecklich vor, wenn man jetzt Familienhaupternährer ist und man geht aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit und man weiß irgendwie, Arbeitslosengeld läuft in drei Monaten aus oder so, das stell ich mir schon echt heftig vor. Das hatte ich nicht […]; wenn das mit P [Name des eigenen Unternehmens] überhaupt nicht klappt oder so, dann bin ich genauso wie jeder andere in der Situation, zu sagen, jetzt … Entweder ich bleib Hausfrau, und das möcht’ ich nicht, oder ich müsste dann genauso auch erst mal auf dem Arbeitsmarkt suchen oder mir was anderes überlegen dann, irgendeine Idee, mit der das vielleicht besser klappt oder so. Also von daher schon, glaub ich, die die Grundüberleg-, -gedanken auch gehabt, aber vielleicht nicht in der, ähm, Heftigkeit oder in der Brisanz, wie das vielleicht, ich weiß jetzt nicht, wie es bei den anderen Frauen ist, hängt natürlich auch immer von der Situation ab« (Töbelmann 08/09-16) Anna Töbelmann spielt hier gedanklich eine potenzielle Entscheidungssituation durch, die vorliegen würde, sollte ihre Gründung scheitern. Dabei setzt sie verschiedene gesellschaftlich institutionalisierte Möglichkeiten mit ihrer persönlichen Lage und Präferenzstruktur in Beziehung. Zunächst nennt sie daher – sozusagen der Vollständigkeit halber – auch eine Variante, die für sie persönlich nicht in Frage kommt (Hausfrau), ohne näher darauf einzugehen, warum sie dies für sich ausschließt. Sowohl das systematische Einbeziehen als auch die nüchterne Feststellung, dass sie diese Variante nicht realisieren möchte, unterstreichen den rationalen, sogar formalisierenden Charakter ihrer Vorgehensweise: auch diesen Weg gäbe es generell, sie persönlich möchte ihn aber nicht beschreiten. Vor dem Hintergrund allgemeiner bzw. konventioneller sozialer Abläufe kann Töbelmann das Spezifische ihrer persönlichen Situation erfassen. Dies erlaubt es ihr, den persönlichen Präferenzen mit ruhigem Gewissen zu folgen: Zwar hat sich der (übliche) Gedanke an ein potenzielles Scheitern der Selbstständigkeit auch bei ihr eingestellt, allerdings birgt diese Möglichkeit nicht die Brisanz, die sie – je
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Viele der Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ hervorbringen, explizieren dies bereits relativ früh in ihren Erzählungen: »dass ich sehr früh schon irgendwelche Bedürfnisse gehabt hätte, mein eigener Chef zu sein oder selbst schon relativ früh mit der Selbstständigkeit geliebäugelt hätte, NEIN. Ganz klar nein« (Schneider: 2) »Und dann hab ich mich so, so ganz langsam mit dem Gedanken angefreundet, mich selbstständig zu machen« (Haller: 1) »also eigentlich, also Selbstständigkeit war jetzt nicht unbedingt im Fokus für mich« (Töbelmann: 2)
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nach Situation – bei anderen Frauen entfaltet. Dies liegt an den spezifischen Umständen, unter denen Anna Töbelmann gründet, denn da sie nicht die Haupternährerin ihrer Familie ist, ist sie einem weniger großen Erfolgsdruck ausgesetzt. Die systematische Reflexion, an deren Ende eine wohlüberlegte und gelungene Entscheidung stehen soll, geht mit zunehmender Konkretisierung in ein Ausschlussverfahren über. Ausgeschlossen werden dabei zunächst Pfade, von denen die Gründerin zwar eine klare Vorstellung hat, die sie jedoch eher unattraktiv findet, während jene, die noch undeutlich sind, über die also nur unzureichendes Wissen besteht, in der Schwebe gehalten werden. Ein klar strukturierter und daher unproblematischer Ausschlussprozess dokumentiert sich in der Erzählung der Gründerin Mareike Kunze: »Ja. Nee, und für mich war klar, für mich geht nicht mehr Organisation, für mich geht auch nicht mehr wissenschaftliche Karriere, das war natürlich auch noch so eine Überlegung. Und dann, dann geht nur noch das Andere.« (Kunze: 16) Auch Kunzes Ausführungen verweisen auf die typusspezifische Orientierung auf allgemeine, konventionalisierte Anschlussoptionen, die den Weltzugang strukturiert: Der Wechsel in eine andere Festanstellung, die Wiederaufnahme der formalen Bildungslaufbahn, die Konzentration auf Sorgearbeit in Haushalt und Familie und die Aufnahme einer beruflichen Selbstständigkeit bilden das Portfolio gesellschaftlich normalisierter Wege, welches von den Gründerinnen entfaltet wird. Als nicht explizierte Möglichkeit ließe sich vielleicht die Arbeitslosigkeit anführen, diese scheint jedoch im Orientierungsrahmen dieses Lebensentwurfstypus undenkbar – zu sehr sind die Gründerinnen auf eine berufliche und persönliche Entwicklung orientiert, mit der sich sowohl eine selbstverständliche Leistungsbereitschaft als auch eine bestimmte, mit Berufstätigkeit verknüpfte Respektabilitätsvorstellung verbindet. Dies grenzt den Lebensentwurfstypus gegen das fordistische Ideal geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ab – wo sich sozialer Status durchaus in der ›Freiheit‹ ausdrückt, als Ehefrau und Mutter nicht zum Familieneinkommen beitragen zu müssen – und transponiert traditionell eher männlich konnotierte Respektabilitätsvorstellungen in einen weiblichen Lebensentwurf. Entsprechend wird die Möglichkeit der ausschließlichen Konzentration auf Sorgearbeit nur selten explizit ausgeschlossen; zumeist findet sie (ähnlich wie die Option Arbeitslosigkeit) gar nicht erst Eingang in die Sammlung potenzieller Pfadanschlüsse. Während Mareike Kunze eine weitere Festanstellung kategorisch ausschließt (keine Arbeit in Organisationen mehr), markiert sie eine wissenschaftliche Laufbahn zwar grundsätzlich als ansprechend, kommt aber zu dem Schluss, dass eine (Wieder-)Aufnahme des Wissenschaftspfades vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Laufbahn nicht aussichtsreich ist. Hierin dokumentiert sich der Vergangenheitsbezug eines pfadabhängigen Lebensentwurfs: Die planvolle, auf Kontinuität bedachte Gestaltung der Zukunft setzt eine Reflexion und Vereindeutigung der Vergangenheit voraus, denn nur so lässt sich überhaupt über Kontinuität und Diskontinuität urteilen. Was hier an ein ›lockin‹ erinnert, hat für die Gründerinnen eine kontingenzreduzierende, entscheidungsförderliche und damit entlastende Wirkung: Für Mareike Kunze erscheint der wissenschaftliche Karrierepfad ausgeschlossen und so kennzeichnet sie ihre diesbezüglichen Überlegungen als abgeschlossen – es dokumentieren sich weder Hadern noch Bedau-
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ern. Nach dem Ausschlussprinzip verbleibt für Kunze ›das Andere‹ als offenbar potenzialreichste und zugleich unbestimmteste Möglichkeit. Liegen die Alternativen nicht jenseits der persönlichen Präferenzen oder lassen sich aufgrund mangelnder Anschlussmöglichkeit ausschließen, rekonstruieren die Gründerinnen im Rahmen des Interviews einen ausführlicheren Abwägungsprozess. Dieser bedeutet ein genaues Durchdenken jener Punkte, die letztendlich zur Entscheidung für einen Pfad oder zu dessen (wohl überlegtem) Ausschluss führen: »Dann war die Alternative: geh ich in eine andere Agentur? Eine große Agentur, schlicht und ergreifend, wäre nur in X. [Nachbarmetropole], also mit größerem Aufstieg in ner Agentur wär nur in X. -also das ist für Y. [Wohnort] schon eigentlich eine der größten Agenturen in dem Bereich – möglich gewesen. Und da hab ich dann einfach, äh . ja, da dacht ich mir, ob das wirklich ne Alternative ist, mit dem Fahren, und dann letztendlich muss man sich ja da im Grunde auch erst wieder hocharbeiten.« (Haller 01/30-35) Hier wird wiederum der Bewertungsrahmen deutlich, der sich zusammensetzt aus der präferierten Lebensführung (ohne Pendeln) und den karrierebezogenen Fortsetzungschancen, die hier vor dem Hintergrund von Businesskonventionen und Standardverläufen beruflicher Laufbahnen antizipiert werden (man muss sich erst wieder hocharbeiten). Sowohl die Einbußen an Lebensqualität als auch die notgedrungene Inkaufnahme eines Rückschritts lassen den thematisierten Pfad nicht nur als schlechte Wahl, sondern grundsätzlicher als keine ernstzunehmende Alternative erscheinen. Auch hierin dokumentiert sich die kontingenzreduzierende Praxisausrichtung dieses Lebensentwurfstypus: Anschlussmöglichkeiten, die zu weit von den Vorstellungen und Ansprüchen der Gründerinnen abweichen, werden nicht etwa als ›Plan B‹ weiter mitgeführt, sondern konsequent aus den weiteren Überlegungen suspendiert. Bleiben mehrere Optionen im Bereich des Denkbaren, unternehmen die Gründerinnen Schritte in verschiedene Richtungen – erkundigen und bewerben sich, bilden sich fort oder nehmen Kontakt in die entsprechenden Felder auf: »und dann hab ich gedacht, gut, dann bewirbst du dich eben in Z [Region]. Hatte dann verschiedenste Bewerbungen geschrieben, im Personalbereich, bin ja Personalerin. Und hatte dann auch Vorstellungsgespräche in S., hatte auch mit der Uni Kontakt, das war in Y. gewesen, für eine Promotion, also ich hatte so verschiedenste Optionen. Und eine sehr attraktive, das Angebot kam dann von einer Personalberatung. Und der Vorteil für mich damals war eben, zumindest was das Stellenprofil anging, war, a) war es sehr nah an dem, was ich gemacht hatte, und zum anderen war’s home office. Und das ist natürlich jetzt für, für Vereinbarung von Beruf und Familie in den ersten Jahren super.« (Töbelmann 01/31-42) Die Attraktivität der sich konkretisierenden Möglichkeiten wird ebenfalls im Bewertungsrahmen aus der persönlichen (Lebensführungs-)Präferenzen und Fortsetzungschancen beurteilt. Das attraktivste Angebot ermöglicht nicht nur einen relativ direkten thematischen Anschluss an die bisherige Berufstätigkeit, es erlaubt auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Attraktivität dieser Anschlussmöglichkeit generiert sich vor allem aus diesen beiden Aspekten und bliebt sogar bestehen, als sich herausstellt, dass es sich nicht wie vermutet um ein Anstellungsverhältnis handelt:
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»Und dann hab ich mich mit dem Chef dieser Beratung in F. getroffen, und dann hat der mir in dem Gespräch, das ging in der Stellenanzeige nicht hervor, dass das auf freiberuflicher, also quasi als Freelancer tätig zu sein. Und das hat er mir dann in dem Gespräch mitgeteilt, […] dass er im Grunde einen Partner sucht. Gut, dann bin ich nach Hause gefahren, er hat dann erstmal abgefragt, ob ich mir das denn so vorstellen könnte, dann hab ich erstmal ja gesagt, bin dann nach Hause gefahren und dachte, pff, also eigentlich, also Selbstständigkeit war jetzt nicht unbedingt im Fokus für mich und Akquisetätigkeit gehörte dann eben auch dazu. Hab ich gedacht so, mhh, ob mir das so liegt, ob ich das gern mache. Ja, dann hatte ich mir nochmal Bedenkzeit ausgebeten, und dann waren wir eigentlich so verblieben, dass ich gesagt hab, ich probier das jetzt, ich hab ja nichts zu verlieren, das ist ja kein Arbeitsvertrag, den man unterschreibt« (Töbelmann 01/42-02/08) Anna Töbelmann äußert weder Erstaunen noch Belustigung oder Verärgerung über die mangelhafte Auskunft der Stellenanzeige, etwas Irritation dokumentiert sich ausschließlich in den für sie ungewöhnlichen Artikulationsschwierigkeiten. Davon abgesehen bilanziert sie jedoch nüchtern und in formal-neutraler Begrifflichkeit: Auf die Mitteilung der tatsächlichen Konditionen der Stelle erfolgt eine Abfrage, ob dies vorstellbar wäre und das Ausbitten einer Bedenkzeit. Zugleich rekonstruiert Töbelmann den gedanklichen Abwägungsprozess in Form eines inneren Monologs: Zunächst stellt sie für sich fest, dass Selbstständigkeit nicht etwa grundsätzlich negativ besetzt, sondern einfach nicht in ihrem Blickfeld gewesen ist. Die in ihrer Wahrnehmung problematischen Aspekte einer Gründung werden im Begriff ›Akquise‹ zusammengezogen. Hiermit werden – so lässt sich angesichts der zweifelnden Thematisierung vermuten – eher negative Begriffskonnotationen adressiert: das beständige Werben um Kund*innen, das vehemente Selbstanpreisen, das Wegstecken von Absagen und andauernde Selbstmotivieren, sowie das selbst zu tragende Risiko, trotz aller Bemühungen zu scheitern. Allerdings geht Töbelmann nicht von vornherein davon aus, dass ihr die nötige Kompetenz und die Motivation fehlen. Ihre bisher gesammelten Erfahrungen reichen offenbar nicht aus, um Aufschluss darüber zu geben, ob ihr die Arbeit als Selbstständige liegt und ob sie diese gerne machen würde. Daher entschließt sie sich, es auszuprobieren, was vor dem Hintergrund der geringen Verbindlichkeit umstandslos möglich ist. Auch dieser Modus ist typisch im Sinne einer ›Pfad‹-Orientierung: Bei aller Reflexion, Planung und Abwägung kommen die Gründerinnen in ihren Entscheidungsphasen an eine Schwelle, an der das Überlegen vorerst abgeschlossen und der nächste Schritt einfach unternommen werden muss: Und das war so ein Punkt, wo ich mir gedacht hab, dann probier ich das, oder mach ich das jetzt. Genau. (Haller: 3) Ebenso wichtig wie das systematische Vorwärtsbewegen in Situationen, die ihnen bekannt und überschaubar erscheinen, ist das Austesten und kontrollierte Erproben von Situationen, die ihnen unvertraut sind. Diese können vorbereitet und gedanklich durchgespielt werden, aber ab einem bestimmten Punkt müssen sie praktisch ausprobiert werden: »Irgendwann in dieser Entscheidung, da bestimmt auch das Gefühl, dass man gar nicht mehr so guckt, wann ist jetzt der Zeitpunkt, sondern sagt, DANN ist der Zeitpunkt, bis da und da bin ich den Schritt gegangen, und wen brauch ich dann sozusagen auch als Partner an meiner Seite, damit ich mich gut aus diesem Geschäft verabschieden kann und eben auch einen guten neuen
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Start habe, und das ist das, was ich dann machen will, und nun, ja, bin ich wirklich einfach losgedackelt.« (Kunze 07/45-08/03) Ein Lebensentwurf des Typus ›Pfad‹ zeichnet sich daher auch durch Trial & ErrorBewegungen aus: Gerade in der Gründungsphase zeigen die Gründerinnen Offenheit für Suchbewegungen, sie halten nicht zwingend an Plänen fest, wenn sie den Eindruck haben, dass diese nicht tragen: die ersten vier Monate der Selbstständigkeit war das so, dass ich mit anderen Leuten zusammen das versucht habe und im fünften Monat NICHT mehr. Sondern dann gedacht hab, DANN muss ich einfach eine Nummer kleiner anfangen und muss am Anfang erst mal alles selbst machen (Schneider: 6). Außerdem erproben sie attraktive Anschlussmöglichkeiten auch dann, wenn sie hinsichtlich der Realisierungschancen skeptisch sind: Also, dass ich schon guck’, dass ich mir jetzt eine Zeitschiene setze von drei Monaten, mir das angucke, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob ich der Meinung bin, das kann laufen. Denn ich war […] schon der Meinung, das wird sehr schwierig. (Töbelmann: 2) Das Analysieren, Standardisieren, Priorisieren und rationale Entscheiden dient den Gründerinnen dazu, ein Gefühl für Situationen zu entwickeln: Das strukturierte Vorgehen schafft und umgrenzt einen Erfahrungsraum, in dessen Rahmen Anna Töbelmann zu einer praktischen Einschätzung der Lage gelangen möchte, die nicht ›von außen‹ generiert werden kann. Diesem schwach strukturierten Erfahrungsraum setzt sie jedoch klare zeitliche Grenzen.
Das Verhältnis von Innen und Außen Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ wird eine deutliche Trennung zwischen Subjekt und Umwelt hervorgebracht: Die Gründerinnen können ein analytisch-distanziertes Verhältnis zu ihrer Umgebung einnehmen, indem sie diese versachlichen und gemäß der ihnen bekannten Konventionen und Normen strukturieren. Einen ebenso rationalen Zugang können sie auch reflexiv auf sich selbst anwenden: In nüchterner Form bilanzieren sie die eigenen Wünsche, Fähigkeiten und mentalen bzw. physischen Zustände, sodass sie diese differenziert betrachten und nach Präferenzen ordnen können. Zwischen der auf diese Weise objektivierten Umwelt und den in ähnlicher Form objektivierten persönlichen Dispositionen stellen die Gründerinnen nun Beziehungen her, das heißt, sie positionieren sich bewusst und systematisch gegenüber den äußeren Gegebenheiten. Diese Relationierungspraxis wenden die Gründerinnen unter anderem zur Reflexion ihrer gegenwärtigen Lage, aber auch zur Analyse in der Vergangenheit liegender Verläufe an: wir haben oft gesagt, dass ich schon aus einer sehr komfortablen Situation heraus diesen Schritt gehen kann, also das muss man, seh ich nach wie vor so, und ich glaube, dass das vielleicht auch mit ein Grund ist, warum es dann vielleicht auch gut geklappt hat, weil der Druck eben nicht so da war. (Töbelmann: 7) Rückblickend führt Anna Töbelmann den guten Beginn ihrer Selbstständigkeit (auch) auf die komfortable Startsituation zurück, deren Annehmlichkeit vor allem durch die Entlastung von Druck charakterisiert wird. Der Situation, d.h. der persönlichen Lage im umgebenden Kontext, kommt hier also eine besondere Relevanz bei der Einschätzung von Gelingensbedingungen zu: Erfolg und Zufriedenheit werden als Effekte einer günstigen Relation von Selbst und Umwelt verstanden, die gute Voraussetzungen
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für weitere Schritte, für die Entwicklung des Lebensweges bieten. Entsprechend wird die Relationierungspraxis vor allem auch in prospektiver Absicht hervorgebracht: Die Gründerinnen entwerfen auf Basis ihrer Kenntnisse konventioneller Verläufe Zukunftsszenarien, spielen unterschiedliche Pfadoptionen gedankenexperimentell durch oder erproben sogar einige Wege in einem abgesicherten Modus. Gerade letzteres ist notwendig, da die Gründerinnen ihre Umgebung nicht als vollständig berechenbar erleben: Vielmehr rekonstruieren sie die Umwelt ihrerseits als komplex und dynamisch, so dass sie zwar mögliche Verläufe antizipieren und mit einer impliziten Wahrscheinlichkeitsbewertung versehen können, letztendlich jedoch den Sprung in eine neue, unbekannte und kontingente Situation wagen müssen. Das standardisierende und schematische Ausbreiten unterschiedlicher Kontexte und Szenarien zeugt also nicht etwa von einer unterkomplexen Wahrnehmung der Umwelt, sondern von dem Versuch, die wahrgenommene Komplexität und Kontingenz zu reduzieren. Dies geschieht oft durch reflektierten und rationalen Ausschluss bestimmter Möglichkeiten. Ebenso wichtig ist jedoch auch ein Gespür für Situationen, denn dort, wo die Gründerinnen zu wenig über die Kontexte wissen, verlassen sie sich auf ihren sozialen Sinn. In überkomplexen Zusammenhängen ist es also notwendig, ›ein Gefühl dafür zu bekommen‹ (Töbelmann: 2), d.h. so ein Feingefühl auch zu entwickeln, wo ist ein guter Ort, wo würde ich mich wohl fühlen, wer sind meine Nachbarn hier eben auch so drum rum, und das hat sich dann aber ergeben, also je länger ich mich damit auseinandergesetzt hab. Und, ähm, ja, und dann, dann, dann ging’s einfach los. (Kunze: 8) Die Erzählung von Mareike Kunze dokumentiert, dass sich eine schematische Annäherung an die Umwelt und die Relevanz einer intuitiven Einschätzung im Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ keineswegs ausschließen: hier trifft beides aufeinander, die bewusste Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit Einzelaspekten (›Ort‹, ›Nachbarn‹) und das subtile Gespür (›Fein-‹ und ›Wohlgefühl‹).
Locus of control Die Richtung, in die sich der Lebensweg entwickelt, entscheidet sich im Sinne der Rekonstruktion dieses Lebensentwurfstypus weder ausschließlich auf Seiten der Umwelt noch ausschließlich auf Seiten der Gründerin. Die Gründerinnen gehen davon aus, dass der Verlauf ihres Lebens in der Wechselwirkung zwischen beidem entsteht, wobei die Umwelt eine eigene Dynamik aufweist, auf die die Gründerin nur begrenzt Einfluss nehmen kann. Auf der anderen Seite handelt auch die Gründerin aus einer bestimmten Motivation heraus, die sie auch nur bis zu einem gewissen Grad an äußere Bedingungen anzupassen bereit ist. In den Interviews zeigt sich eine explizite und wiederum rational gehaltene Trennung der jeweiligen Einflussbereiche: »Und, ähm, ja, und dann hab ich einfach, wir hatten dann so die ersten Termine auch gemeinsam beim Kunden, und dann kam für mich eigentlich schon relativ schnell so der Gedanke, ähm, ganz, äh, das kann ich auch alleine machen. Also das ist jetzt nichts, wo ich sag’, das, das muss in der Partnerschaft sein, das muss unter dem Kooperationsvertrag laufen. Wobei ich dazu sagen muss, wir sind heute noch Partner. Also wir arbeiten heute auch noch in Projekten zusammen. Aber ich hab ihm das halt dann schon nach einem dreiviertel Jahr dann mitgeteilt, dass, dass ich überlegen würde, was Eigenes daraus entstehen zu lassen, auch mit einem noch
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weiteren Schwerpunkt. Und da er da sehr positiv eigentlich oder sehr offen reagiert hat, jetzt also auch nicht irgendwie verärgert war darüber, hätt’ ja sein können, also er hätt’ ja durchaus auch anders reagieren können. Hat er nicht. Und von daher sind wir eben heute noch in einer Zusammenarbeit, und das ist, glaub ich, für beide Seiten recht, recht gute Ausgangssituation jetzt heute.« (Töbelmann: 02/29-41) Geschildert wird hier eine Situation, in der Anna Töbelmann die zuvor eingegangene Partnerschaft mit jenem anderen Selbstständigen aufkündigt, der ihr erst im Vorstellungsgespräch eröffnet hat, dass er ihr keine Anstellung, sondern lediglich eine Kooperation anzubieten hat (s.o.). In eben jener unbekümmerten und nüchternen Form, in der sie die unerwartete Wendung der Bewerbungssituation rekonstruiert (das hat er mir dann in dem Gespräch mitgeteilt), berichtet sie nun von der Beendigung der vertraglichen Kooperation, nur befindet nun sie sich in der Position der Mitteilenden. In beiden Situationen markiert Töbelmann mit der Begriffswahl (mitteilen), dass Fakten eingeführt werden, die außerhalb eines bestimmten persönlichen Einflussbereichs liegen (ihres eigenen bzw. des Kooperationspartners). In der Beschreibung gleichen sich die Situationen formal (unterstützt durch die ähnliche Begrifflichkeit), allerdings verändert sich die Position der Gründerin: Im ersten Fall handelt es sich um Umstände, die – so die nüchterne und rationale Bilanz – außerhalb ihres Einflusses liegen, im zweiten Fall um eine ausschließlich von ihr zu fällende Entscheidung. Die Reaktion auf die Beendigung der Partnerschaft liegt wiederum nicht in ihrer Hand, entscheidet aber über die Entwicklung ihrer (Geschäfts-)Beziehung. Zwar antizipiert Töbelmann die Möglichkeit, dass der Kooperationspartner verärgert reagieren könnte, stellt aber relativ lakonisch fest, dass er dies nicht getan hat (›Hat er nicht‹). Auf Basis der positiven und offenen Reaktion, entsteht nach Einschätzung der Gründerin eine recht gute Ausgangssituation für beide. Das iterative Wechseln zwischen Aktion und Reaktion bzw. zwischen Kontrolle und Umgehen mit unkontrollierbaren Tatsachen ist der Modus, in dem sich der Lebensweg im Rahmen dieses Lebensentwurfs entfaltet. Zwar sind die Gründerinnen bestrebt, ihre Handlungsspielräume weitestgehend auszuschöpfen, es bleiben jedoch immer Umweltbedingungen, die sie nicht beeinflussen können und die sich ihnen als unkalkulierbar darstellen. Entwickeln sich diese zu ihren Gunsten, werden sie daher als ›Glück‹ rekonstruiert: »Ich hab, ich mein’, man kann nicht damit rechnen, dass man dann auch, ich hab auch Glück gehabt, keine Frage, aber das gehört halt auch dazu, dass man vielleicht zur richtigen Zeit den richtigen Riecher hat, oder die Zeitung im richtigen Moment aufschlägt oder den richtigen Draht hat zu demjenigen, der da grad am Telefon ist, und sich das einfach vom Gespräch her nett entwickelt oder …. Also von daher glaub ich schon, dass das, ähm, … von der Entwicklung her kann man, glaub ich, viel machen, hab ich auch viel gemacht. Also es ist mir jetzt nicht alles in den Schoß gefallen. Aber ich hatte auch Glück« (Töbelmann 11/30-38) In der Erzählung dokumentiert sich eine gewisse Schwierigkeit, das Eintreten günstiger Umstände in Worte zu fassen – etwa in der Suche nach dem geeigneten Anfang oder in den langen Erzählpausen. Auffällig ist, dass Töbelmann trotz der Verwendung des Glück-Begriffs darauf bedacht ist, ihre eigenen Anteile am Gelingen nicht unbe-
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rücksichtigt zu lassen: Es handelt sich nicht um ein Glück, dass völlig ungerechtfertigterweise einfach in den Schoß fällt; vielmehr sind hiermit situative Konstellationen adressiert, die erkannt und nutzbar gemacht werden müssen und die zumindest teilweise durch die Gründerin selbst mit hervorgebracht werden – durch das Aufschlagen der Zeitung, durch die Entwicklung des richtigen Drahts oder durch die Beteiligung an einem netten Gespräch. Das Glück ist also kein (unverdientes) Geschenk, sondern die positive Entfaltung jener Kontextbedingungen, die sich in einer ansonsten planvoll gestalteten Situation dem Einflussbereich entziehen. Es ist eine vorteilhafte Konstellation dynamischer Umweltbedingungen. Entsprechend gehört zu den unverzichtbaren Eigenschaften einer erfolgreichen Selbstständigen neben sozialen und fachlichen Kompetenzen ein gewisses Glück auch, grad zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, die richtigen Leute zu kennen oder kennen zu lernen (Haller: 39).
Selbstverortung Eine Selbstverortung innerhalb gesellschaftlicher Kontexte stellen die Gründerinnen vor allem über ihre unmittelbare Umwelt her. Sie sind leistungs- und erfolgsorientiert, nehmen jedoch Abstand von einer ostentativen Darstellung von Bildungsabschlüssen, Leistungsnachweisen bzw. erlangtem Status. Nur am Rande erwähnen sie etwa das Renommee der Firmen, für die sie gearbeitet haben oder die Personal- und Führungsverantwortung, die ihnen zugesprochen wurde. Diese Bescheidenheit zeugt einerseits von sozialem Geschick, denn es gelingt den Gründerinnen – ohne aufschneiderisch zu wirken – ihre persönlichen Laufbahnambitionen zu legitimieren. Wenn sie auf objektivierte Prestigeinsignien verweisen, geschieht dies nicht, um ihren gesellschaftlichen Status zu markieren, sondern um die Qualität ihrer Arbeit zu betonen: »Und da dachte ich mir, Mensch, ich weiß, ich kann TV, aber wie gut ist meine Schreibe eigentlich, taug ich auch zur Texterin, ja, also so wirklich eine Werbetexterin, wenn dich eine Werbeagentur jetzt frei beschäftigt und auf einen großen Kunden setzt, ja, kann ich das eigentlich? Und dann mit dem ersten Auftrag, da kam schon auch die Muffe. Ja. Und der war echt auch Horror, das war für eine große Agenturgruppe in Hamburg*, ähm, für einen Pharmakunden, und da hab ich echt Blut und Wasser geschwitzt zwei Wochen bis zur Abgabe und als dann kam, hey, gut, ja, super, hast die Tonalität getroffen so, das ist, genau wie die sich das vorstellen, wir haben nur kleine Änderungen, da hab ich mir dann gedacht, wow, cool. Ja. Und da war ich dann ab dem Zeitpunkt auch wieder entspannt und hab mir gedacht, boa, wenn das sogar, also das, was ich produziere, sogar den Anforderungen einer großen Werbeagentur, einem sehr anspruchsvollen Kunden, genügt, dann passt das schon.« (Huber 05/35-42) In dieser Passage dokumentiert sich der Stellenwert, den Resonanz sowohl für die Selbstreflexion als auch für die Bewertung und die Darstellung der Wertigkeit der eigenen Arbeit einnimmt: Die Ängste, die Theres Huber hier rekonstruiert, entstehen beim Eintritt in einen neuen Arbeitsbereich und scheinen zudem mit Größe und Prestige der auftraggebenden Agentur bzw. des dahinterstehenden Kunden zusammenzuhängen: nicht nur handelt es sich um eine große Agenturgruppe aus einer der Metropolen Deutschlands, auch wird der Kunde als anspruchsvoll charakterisiert. Der Auftrag wird in der Erzählung wie ein Lackmustest für die Qualität ihrer Arbeit dargestellt. Entsprechend beschreibt sie die Projektphase als eine angespannte Situation. Einerseits wird
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die Erzählung dadurch als Erprobungsgeschichte lesbar, als eine für den Typus kennzeichnende Situation des Ausprobierens neuer Kontexte, die immer auch kontingenzbedingte Unsicherheiten birgt, da sie Bereiche betrifft, in denen die Gründerinnen ihre Kompetenzen, aber auch die Tragfähigkeit ihrer Vorgehensweise noch nicht evaluieren konnten (im Kontrast hierzu steht die charakteristisch nüchterne, aber selbstbewusste Feststellung ich weiß ich kann TV). Andererseits dokumentiert sich nicht nur die Erleichterung, dass sie offenbar auch dieses neue Aufgabengebiet meistern kann, sondern auch der Stolz darauf, dass sie sogar den Anforderungen einer großen Werbeagentur und eines sehr anspruchsvollen Kunden genügt. Der Effekt, den dieser Erfolg bei der Gründerin auslöst, ist größer als das lakonisch-evaluative ›dann passt das schon‹ zunächst vermuten lässt: Mit Bewertungseinwürfen wie boa, wow und cool markiert sie Freude über eine – objektiv, wie mit der Attribuierung von Auftraggeber und Kunde belegt wird – bewunderungswürdige Leistung. Mit Blick auf gesellschaftliche Ordnungsprinzipien und Relationierungslogiken kann der Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ als meritokratisch beschrieben werden. Eine wesentliche Quelle des Selbstwertgefühls der Gründerinnen bildet kompetente, professionelle, verlässliche und erfolgreiche Arbeit. Nur wenn es um den Beleg dieser Qualitäten geht, führen die Gründerinnen Prestigeverweise in ihre Erzählung ein. Ihr Erzählstil ist weder sonderlich distinktiv, noch stellen sie den Wert materialistischer Statussymbole in den Vordergrund. Gegenüber Geld dokumentiert sich ein pragmatisches Verhältnis: »Ich geh natürlich auch gern mal aus und lad Freunde ein, und ich möchte nicht darüber nachdenken, kannst du dir das leisten oder nicht, ich weiß, dass ich es mir leisten kann. Und so möchte ich leben. Aber das mach ich irgendwie einmal im Monat oder so. […] das ist ja alles überschaubar. Und von daher ist Geld natürlich schon wichtig im Sinne von, ich möchte meine Dienstleistung angemessen verkaufen. Das ist schon ein Grund für mich, in meiner alten Firma, dass ich mich nicht angemessen bezahlt gefühlt hab, im Sinne von: meine Arbeit und ich bin mir mehr wert. Aber nicht so, dass ich dachte, wenn ich jetzt noch mehr Geld hätte, dann könnte ich das und das und das damit machen. Ich hab keinen Plan, was ich mit meinem Geld mache. Wo andere sofort wüssten, was sie noch kaufen könnten, hab ich keine Ahnung und es interessiert mich auch nicht.« (Kunze 40/03-13) Geld wird hier als Mittel zur Ermöglichung eines angenehmen Lebensstils adressiert. Es kann das Alltagsleben erleichtern, da mit einem komfortablen Einkommen eine sparsame und detaillierte Haushaltsplanung nicht unbedingt erforderlich ist. Kunzes Szenario der Geldverwendung ist ein soziales, großzügiges und zugleich bescheidenes: Sie möchte ihr Geld gemeinsam mit Freunden nutzen, wobei sie sogleich einräumt, dass der finanzielle Aufwand dabei überschaubar ist. Diesen Lebensstil will und kann sie sich leisten, weitere Pläne, was sie mit ihrem Geld machen könnte, hat sie nicht. Zudem grenzt sie sich – gerade auch in der Darstellung ihrer bescheidenen, sozial orientierten Wünsche – gegen hedonistischen Geltungskonsum sehr grundsätzlich ab: Wenngleich sie in anderen Bereichen des Lebens äußerst planvoll vorgeht, hat sie keinen Plan, was sie mit ihrem Geld macht; sie verweist sogar darauf, dass sie hinsichtlich (hedonistischen) Konsums weder über Ahnung noch über Interesse verfügt.
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Anders verhält es sich mit der finanziellen Entlohnung ihrer Arbeit: Unabhängig davon, ob sie mehr Geld besitzen möchte oder nicht, ist es Mareike Kunze wichtig, für ihre Arbeit angemessen entlohnt zu werden. Hier steht der symbolische Wert des Geldes im Vordergrund, denn es kann als (objektivierter wie objektivierender) Maßstab für den Wert einer Leistung gelten. Angesichts des hohen Leistungsbezuges dieses Lebensentwurfstypus liegt in einer nicht-leistungsgerechten Entlohnung ein hohes Konfliktpotenzial, das sich auch in Mareike Kunzes Erzählung dokumentiert: Sie deutet an, dass die Abwertung ihrer Leistung durch eine in ihren Augen unangemessene Bezahlung auch ein Grund war, die Firma zu verlassen.
Entgrenzung und Begrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche Charakteristisch für den Lebensentwurf des Typus ›Pfad‹ ist, dass die Auflösung zeitlicher, räumlicher und sachlicher bzw. thematischer Strukturen des Arbeitslebens aktiv vorangetrieben wird, zugleich jedoch eine Restrukturierung nach eigenen Vorstellungen stattfindet. Die Gründerinnen schätzen dies als ›Riesen-Vorteil‹ (Töbelmann: 12), ›Riesen-Freiheit‹ (Haller: 15) oder sogar als ›das größte Geschenk überhaupt‹ (Kunze: 18): Also das find ich… so super. Also heute sagen zu können, das Wetter ist schön, ich könnte an die Isar* fahren. Wir leben im Jahr 2009, ich könnte sogar da arbeiten, ich muss nur einen Laptop haben. Also flexibler mit Zeit und mit Ort umgehen zu können, das ist für mich eine totale Entlastung. Nicht mehr in dieses Korsett gezwungen zu sein. (Kunze: 18/12-15)
Fremdstrukturierte Entgrenzung als Problem Grundsätzlich stellen die Gründerinnen einen positiven Bezug zu Arbeit her: Arbeit ist nicht lediglich ein notwendiges Übel, das der Finanzierung des Lebens dient, sie ist auch Bestandteil der persönlichen Entwicklung und ein wesentlicher inhaltlicher Bezugspunkt der Lebensgestaltung. Sie haben ein Berufsfeld gewählt, das ihren Interessen entspricht und in dem sie gerne arbeiten und sie möchten sich in diesem Bereich nicht lediglich als ausführende Organe, sondern als gestaltende Akteure bewegen. Insofern verweisen sie auf die grundsätzliche Angewohnheit, selbstständig und eigenständig und selber zu handeln (Waldmann: 4) und auf die Freude, die es ihnen bereitet, den Dingen einen eigenen Stempel aufzudrücken (Kunze: 9). Dabei dokumentiert sich in den Interviews neben einer hohen Leistungsbereitschaft und einem ausgeprägten Arbeitsethos auch der Wunsch und Anspruch, im Berufsleben mit Eifer und Engagement bei der Sache zu sein: »Also nicht so als Mitarbeiter eigentlich, in dem Sinn von: Jetzt sitz ich hier meine Stunden ab und geh nach Hause. Das fand ich immer grässlich. Also Zeit muss, die muss, mit der muss gearbeitet werden und dann wie im Flug vergehen. Und da denk ich, muss man, ja, das hat schon was mit Engagement zu tun. Mit so einem Herzblut, das man auch in etwas reinhängt. Wenn man das nicht tut, glaub ich, dann kann man, kann man nicht selbstständig sein, aber kann man letztendlich, glaub ich, auch kein guter Mitarbeiter sein. Das ist, glaub ich, eine Grundfrage.« (Haller 04/11-18)
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Der Anspruch und die Möglichkeit, Arbeitsprozesse eigenständig zu gestalten, also nicht nur in, sondern mit der Zeit zu arbeiten, macht in den Augen der Gründerinnen unter anderem die Qualität ihrer Arbeit aus. Auf der anderen Seite bedingt die hohe Relevanz und Wertigkeit selbstständigen Handelns auch ein durchaus konfliktives Verhältnis zu organisationalen Strukturen, denn bestimmte Dinge würden die Gründerinnen selber gerne anders machen (Haller s.o.). Organisationen – insbesondere Großkonzerne – werden als ein solches Korsett wahrgenommen, gegen das sich Mareike Kunze in der eingangs zitierten Passage wendet, weil es sie an einer freien, flexiblen und angenehmen Arbeitsgestaltung hindert (s.o.): »diese, mich nervende Organisationsstruktur, hier eine Sitzung, da einen Bericht schreiben, da nochmal ein Protokoll, und ich gedacht hab, ne, das hältst du auf Dauer einfach nicht aus, das bist nicht du. Ich verdien gern Geld, ich bring gute Leistung gerne an den Mann, und dann sitzt man da und macht irgendwie so eine blöde Sitzung zu irgendwas, und denkt, das sind jetzt drei Stunden, oder wenn fünf Leute sitzen, macht 15 Stunden, was für einen Stundensatz haben wir denn, dann fangen wir mal an, den einfach mal so hochzurechnen, und was ist am Ende eigentlich rumgekommen, manchmal viel, manchmal nicht so viel. Und da hab ich einfach gemerkt, ne, das ist alles zu eng und, und zu doof.« (Kunze 02/42-03/03) Die zeitliche und inhaltliche Strukturierung von Arbeit durch die Organisation wird als Behinderung guter Leistung, als ein unangemessener Ressourcenaufwand und als dysfunktional beschrieben, denn letztendlich kann bei der Vorgehensweise nicht einmal ein gleichbleibend hoher Outcome gewährleistet werden. Diese Problematik wird durch die Gründerin nicht auf das Missmanagement einer bestimmten Organisation zurückgeführt, sondern – entsprechend der Wahrnehmungslogik dieses Lebensentwurfstypus – auf strukturelle Gegebenheiten, die grundsätzlich mit der Funktionsweise großer organisationaler Gebilde verknüpft sind. Diese werden mit Blick auf die Erbringung guter Arbeit als sinnfrei (blöd bzw. doof ) und begrenzend empfunden, da durch die hohe Arbeitsteiligkeit ein bürokratischer Überschuss entsteht, der zum vorrangig strukturerhaltenden Arbeiten zwingt und die inhaltliche, produktive Arbeit in den Hintergrund drängt: »Aber in der großen Organisation, wo dann dauernd jemand noch jemand anruft, und schicken Sie hier nochmal eine Mail, und da gab’s nochmal eine Frage, wir müssen über den Pfad des Controlling, wo ich hier dieses Gefühl hatte, ich muss hier nur noch irgendwelche Sachen beantworten, damit die arbeiten können und die und die und die, das ist jetzt total anders. Ich muss zwar alles selbst machen, hab keine Sekretärin mehr, aber, ähm, es ist nur meine Verantwortung, mit meiner Zeit gut umgehen zu können. Und ich arbeite nicht weniger am Tag und trotzdem bin ich viel, viel, viel zufriedener als dieses ewig, ich muss, man macht sein E-MailFach auf und denkt so, um Gottes Willen, gleich wieder zu. Und das ist was, wo ich denke, ja, das, das hat sich geändert.« (Kunze 09/43-10/05) Mit der Selbstständigkeit wird die Arbeit aus dem starren organisationalen Korsett befreit. Dies bedeutet nicht, dass es nun ausschließlich inhaltliche Themen zu bearbeiten gilt – im Gegenteil: durch das Wegfallen der Arbeitsteiligkeit in SoloSelbstständigkeiten müssen nun sämtliche Aufgaben einer Unternehmung durch Kunze persönlich geleistet werden. Aber die administrativen Aspekte können nun
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eigenverantwortlich gestaltet und direkt auf die eigene inhaltliche Arbeitsfähigkeit bezogen werden. Dabei wird auch deutlich, dass es der Gründerin nicht um mehr Freizeit, sondern vor allem um die in ihren Augen sinnvolle (und effiziente) Gestaltung der Arbeitszeit geht – nicht die grundsätzliche Vermeidung, sondern eine funktionale Strukturierung der Arbeit steigert ihre Zufriedenheit. Zudem haben die Gründerinnen den Eindruck, dass ein innerorganisationaler Aufstieg nicht nur eine Unterwerfung gegenüber dysfunktionalen Strukturen erfordert, sondern darüber hinaus auch die Investition privater Zeitressourcen: »Dann ist auch ein bestimmter Punkt, dass viele KollegINNEN, äh, aus meiner Sicht, ähm, 40-, 50-, 60-Stunden-Wochen wahnsinnig schlecht vereinbaren können mit Familie. Ja, also gerade meine direkte Chefin, da hatte ich immer so das Gefühl, dass sie permanent in diesem Konflikt steht, ähm, ich bin weder quasi eine gute Arbeitskraft, weil ich eigentlich mehr hier sein müsste und noch mehr bringen und leisten sollte, und auf der anderen Seite, ich bin eigentlich eine schlechte Mutter, weil ich ja ständig versuche, mein Kind von der Krippe über die Tagesmama zur Großmama zu schieben oder umgekehrt, ja… Also man muss ständig jonglieren. So kam es mir zumindest vor, ja. Und gerade in dem Bereich, wo ich jetzt eben vorher gearbeitet habe, im Bereich PR, das sind halt wirklich, das sind ganz extreme Karrierepersonen, die da dann erfolgreich werden. Ja, durch Leistung, viel arbeiten, wenig Urlaub, sehr wenig Zeit für Persönliches, ähm, ist da echt an der Tagesordnung. Und das kann ich mir für mich und vielleicht eine zukünftige Familie NICHT vorstellen. Genau. Deswegen ist auch da die Selbstständigkeit wieder die Alternative.« (Huber 01/40-02/05) Zeigen die Gründerinnen also eine grundsätzlich hohe Bereitschaft, gute Arbeit zu leisten und Arbeitsprozesse zeitlich, räumlich und inhaltlich zu entgrenzen, stellt eine einseitige und fremdbestimmte Entgrenzung ein Problem für den persönlichen Lebensentwurf dar. Hier wird deutlich, dass in der Wahrnehmung der Gründerinnen nicht nur die Qualität der Arbeit, sondern auch anderer Lebensbereiche unter organisationalen Zwängen leiden. Strukturell problematisch ist dabei die Asymmetrie der Entgrenzung: Sie stellt die Prozesslogik der Unternehmung ins Zentrum, nach der eine hohe zeitliche Flexibilität von den Mitarbeiterinnen gefordert wird (40-, 50-, 60-Stunden-Woche), die aber zugleich nur kleine oder keine strukturellen Spielräume zugunsten der privaten Lebensführung lässt – insbesondere wenn eine innerorganisationale Karriere angestrebt wird. Insofern dokumentiert sich die von den Governmentality Studies beschriebene Anrufung eines unternehmerischen, der ökonomischen Steigerungslogik unterworfenen Selbst. Die von Theres Huber geschilderten Effekte lassen sich als ein Kontrollverlust hinsichtlich der persönlichen Lebensführung und sogar mit Blick auf den eigenen Lebensentwurf beschreiben. Die organisationsstrukturellen Zwänge gepaart mit der Entgrenzung von Arbeit führen zu einer Kolonialisierung nicht-arbeitsbezogener Lebensbereiche. Sie versetzten insbesondere Frauen (für die das Problem durch Huber expliziert wird) in einen Zustand des Jonglierens, bei dem sich letztendlich ein Gefühl des Ungenügens sowohl in beruflicher als auch in familiärer Hinsicht einstellt. Hinzu kommt der Eindruck, dass man als Angestellte irgendwie für andere Leute das Geld verdient (Kunze: 3), d.h. nicht für sich arbeitet – vielmehr arbeitet man natürlich immer zu, man berichtet an irgendjemanden, und derjenige verwertet dann wiederum die Erfolge oder Misserfolge (Huber: 1).
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Die Gründerinnen sind also auf eine selbstbestimmte, selbststrukturierte und selbstverantwortliche Entgrenzung orientiert: Also Dinge zu gestalten, die, die man halt in einer relativ engen Struktur von ner Jobbeschreibung, äh, irgendwann, also, entweder nicht tun kann, darf, oder irgendwann halt findet, warum soll ich das eigentlich machen? Für wen mach ich das eigentlich? Und dieses, dass man es halt für sich selbst macht (Haller: 3).
Selbstbestimmte und eigenverantwortliche Entgrenzung von Arbeit Unter den Bedingungen einer selbstbestimmten Gestaltung von Arbeit, Freizeit und Familienleben betreiben die Gründerinnen nun in verschiedener Hinsicht praktische Entgrenzung: Diese wird in Form von Flexibilisierungen der Zeit- und Raumstrukturen vorgenommen – etwa wenn bei schönem Wetter im Freien bzw. erst abends gearbeitet wird, oder wenn berufs- und familienbezogene Aufgaben ineinander geschachtelt werden (Wenn ich eine Pause machen will, geh ich runter und mach mal eben eine Wäsche rein; Töbelmann: 13). Aber auch in formaler Hinsicht bietet die Befreiung von organisationalen Strukturen Entgrenzungsmöglichkeiten, wenn etwa Konventionen des Berufslebens situativ aufgehoben werden können: »ich find’s einen Riesenvorteil, ich hab vorher für eine Versicherung gearbeitet, im Personalbereich, und das ist einfach ein Riesenkonzern gewesen, und ich war, es gab einen definitiven Dresscode und der war einzuhalten. […] dann gibt’s halt auch Stress in der Familie, weil die Kinder sich eben die Nase abwischen an der Bluse, die gerade frisch gebügelt ist, oder tausend Situationen. Das hab ich nicht, weil ich kann in Turnschuhen zur KiTa laufen und dann komm ich nach Hause und dann setz’ ich mich hin. Und wenn ich keinen Termin hab und ich meine, ich muss jetzt erst einkaufen gehen, dann kann ich das halt so regeln. Das find ich eine RiesenErleichterung.« (Töbelmann 12/44-13/10). An den Beispielen wird deutlich, dass Entgrenzung durch die Gründerinnen nicht mehr nur einseitig zugunsten der Arbeitsstrukturen wahrgenommen und praktisch hervorgebracht wird. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ wird Entgrenzung insbesondere als denk-, wahrnehmungs- und handlungsbezogene Verflechtung unterschiedlicher Lebensbereiche produziert: Auch wenn Aspekte des Arbeits- und Privatlebens in einer Praxis zusammenfallen (z.B. beim Arbeiten an der Isar), unterscheiden die Gründerinnen diese Lebensbereiche als je eigene Sphären und verstehen deren Entgrenzung eher als eine praktische Kopplung, nicht als eine bereichsauflösende praktische Integration: »In meiner Freizeit? Also ich treff mich einmal in der Woche mit meinen Laufkolleginnen, wir gehen zum Joggen. Also mach ich hier mit meinem Mann auch in der Früh manchmal, schon bevor die Kinder aufstehen. Und da haben wir gestern übrigens […] eine Werbeaktion gemacht, da haben wir T-Shirts bedrucken lassen und sind den [x]-Triathlon, zwei Frauenstaffeln, hier [gelaufen]« (Haller 18/43-19/01). Selbst wenn ein professioneller Blick das Privatleben beständig begleitet, so wird dieser doch als einer eigenen Logik und Wahrnehmungsdimension zugehörig adressiert, die ›dabei‹ ist, also sich zum Privatvergnügen hinzugesellt: Also son bisschen, ja, der Blick, ist das für mich beruflich verwertbar, ist eigentlich immer dabei, wenn ich mir beispielsweise kulturelle Veranstaltungen, Vorträge oder was aussuche, das ist immer mit dabei (Schneider: 11).
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Der Lebensweg wird also durch die Gründerinnen nicht nur in diachroner Betrachtung in unterschiedliche Bereiche (Pfadabschnitte) differenziert, er ist darüber hinaus in verschiedene synchrone Bereiche (›Dimensionen‹) differenziert, die koordiniert werden müssen: Also grundsätzlich hab ich jeden Tag das Gefühl, das könnten doppelt so viele Stunden, könnte der Tag haben und wahrscheinlich biste trotzdem, oder bin ich trotzdem noch nicht durch irgendwie […] Weil das einfach immer zu wenig ist. Also über alle Dimensionen, ob das jetzt Job ist, ob das Familie ist, ob man das selber ist (Töbelmann 14/10-14). Auch wenn sich die verschiedenen Dimensionen in der Alltagspraxis durchaus kontinuierlich überlagern, ist dies nicht der präferierte modus operandi im Lebensentwurfstypus ›Pfad‹. Entsprechend problematisieren die Gründerinnen solche Überlagerungen explizit: »was mir schwerer fällt, ist eine Distanz zu finden im Sinne von: Du musst nicht immer mit solchen Augen durch die Welt gehen, […] wo du eine Anregung findest. Ich grabbel alle Postkarten durch, zum Beispiel diese Kinopostkarten immer unten auf dem Weg zu den WCs oder irgendwas, was ich gut finde. Ich blättere auch immer alles aus an Prospekten, die ich von irgendwoher bekomm, wo mir eine Farbe gut gefällt oder einfach der Aufmacher, das pack ich dann weg. So war ich früher nie, hab ich alles weggeschmissen, weil ich das hasse, weil ich denk, oh, soviel Sachen um mich herum, das kannst du gar nicht haben. Also ich geh manchmal viel wacher durch die Welt und überreiz die Sinne natürlich auch total, das ist ja auch nicht gesund. Ich les wieder viel mehr Bücher, das find ich auch sehr schön, ich hab früher wenig gelesen, weil ich ja auch gedacht hab, oh, das hältst du ja gar nicht mehr aus, das ist so eine Lebensqualität, die zurückgekommen ist, aber auch immer vor diesem Hintergrund, ein bisschen was davon kann ich verwerten, und das ist jetzt nicht gut. Also nicht mehr so diese Lockerheit zu haben, ich les auch mal irgendwas, ohne das zu verwerten. Also, es läuft immer dieser Film im Hintergrund. Kennst du irgendwas davon, spricht dich das an, könntest du was davon machen, ist das ein schöner Slogan. Das find ich manchmal ein bisschen befremdlich.« (Kunze 17/17-34) Die Befremdung rührt von einer Dissonanz her, die zwischen dem hohen Engagement für die beruflich-selbstständige Bearbeitung eigener Themen und dem ordnenden, das Leben und die Umwelt in seine Bestandteile zerlegenden Weltzugang entsteht: Die Allzuständigkeit und die hohe Identifikation, welche mit der Selbstständigkeit einhergehen, bedingen einerseits eine beständige Aufnahmebereitschaft. Dies umso mehr, als die Gründerinnen im hohen Maße auf die Umwelt orientiert sind und diese als einen dynamischen Kontext verstehen, der zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Chancen birgt, sodass es darum geht, ›zur rechten Zeit am richtigen Ort‹ zu sein. Andererseits ist eine Praxis, die unterschiedliche Sphären mit je eigenen Aufmerksamkeitsfoki miteinander vermischt, unangenehm. Sie wird in der Erzählung als gegenständliche, wie auch mentale Unordnung adressiert und als ungesund zurückgewiesen, ohne dass sich die Gründerin tatsächlich daraus zu lösen vermag. Unterschiedliche Lebensbereiche sind für die Gründerinnen also nicht nur in der Wahrnehmung voneinander trennbar, idealerweise werden sie im Alltag auch separat in sequenziell aufeinander folgenden Abschnitten handlungspraktisch hervorgebracht. Dies betrifft auch längere Freizeitphasen, die bewusst genutzt werden und daher als umgrenzte Zeitabschnitte der Entspannung adressiert werden: Ja, wie gesagt, in Zeiten, in denen ich Zeit hab, da nehm ich mir die dann. Also vielleicht, vielleicht dann eher so inter-
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vallmäßig, diese work-life-balance (Huber: 10) Insbesondere die Mütter unter den Gründerinnen schildern die Sequenzialisierung unterschiedlicher Lebensbereiche ausführlich hinsichtlich der Berufs- und Familienzeitpraxis: »in der Regel ist es so, dass ich den Vormittag am Schreibtisch komplett verbringe. Und deshalb schätz ich das, das ist jetzt der Vorteil des Hier-Seins, wenn die dann nach Hause kommen, dann mach ich halt was Kleines zum Mittagessen und wir machen Break, und dann sind die Kinder eh mit irgendwelchen anderen Sachen beschäftigt und dann kann ich mich wieder hinsetzen. Also jetzt in letzter Zeit war es so viel, dass ich eigentlich IMMER nachmittags hingesessen bin, und wenns ganz, sagen wir mal ganz intensiv ist, dann sitz ich, dann mach ich irgendwie, jetzt um die Zeit ist normalerweise dann bei uns, was weiß ich, Abendessen und Reden und irgendwie halt Unruhe und Telefon und so. Und dann mach ich Pause und setz mich am Abend nochmal hin, so um neun. Und manchmal, also das schaff ich nicht immer, aber wenn der Druck groß genug ist, und dann ist es manchmal ganz effektiv. […] also, sagen wir mal, dadurch, dass die Familie ja noch da ist, ich denk wenn ich jetzt alleinstehend wäre, dann müsst ich mir irgendwie auch eine Struktur suchen, dass ich mit Freundinnen Mittagessen geh, die irgendwie auch im Büro sind, oder so, oder dass man so Punkte hat, wo man rauskommt.« (Haller 15/39-16/12) Familien- und Berufsphasen lösen sich in dieser Erzählung in hoher Frequenz ab und strukturieren sich wechselseitig. Das wird von der Gründerin als ein Vorteil gesehen, so muss die Arbeit nicht ausschließlich aus sich heraus strukturiert werden, sondern wird durch andere Lebensbereiche (Familie, Freundschaften) begrenzt. Solche Grenzziehungen können auch durch räumliche Strukturen vorgenommen werden, entlang derer sich dann die Trennung unterschiedlicher Lebensbereiche materialisiert. Diese ›greifbaren‹ Abgrenzungen helfen den Gründerinnen auch dabei, bereichsbezogene Differenzierungen alltagspraktisch zu etablieren: »Am Anfang hab ich das eigentlich noch jeden Tag gemacht, immer nach Feierabend, hier diesen Tisch an die Wand und dann ist das Wohnzimmer wieder das Wohnzimmer und nicht Wohnzimmer und Arbeitszimmer. Mittlerweile mach ich’s aber eigentlich nur noch am Wochenende. Vielleicht, weil es mir mittlerweile auch nicht mehr so viel ausmacht, dass das jetzt halt hier mein Arbeitsbereich ist. Das ist mir wohl früher viel mehr aufgefallen, weil das ja neu war, ja, das kam ja mit in die Wohnung dazu, und jetzt gehört’s dazu und wenn ich hier sitze, dann ist Arbeiten und wenn ich da nicht sitze, dann nicht. So eine strikte Trennung brauch ich da nicht mehr.« (Huber 10/22-30) Ebenfalls als positiv bewerteter Effekt selbstständiger Arbeitsstrukturierung markieren die Gründerinnen die relativ eigenständige Gestaltung der Intensität der Arbeitsphasen: So können sie – je nach Auftragslage, Freizeitplänen und Bedürfnissen der Familie – ihre Produktion entweder durch flexible Mehrarbeit oder durch schnelleres Abarbeiten beeinflussen. Auch auf diese Weise kann das ›Arbeiten mit der Zeit‹, wie es Barbara Haller nennt, verstanden werden: Also das ist, für sich selbst einteilen zu können, wann ich wie, wo, was mache oder auch nicht. Oder eben auch zu wissen, heute hast du Druck, heute musst du richtig ranrauschen und wenn du abends zum Sport willst, dann musst du eben doppelt ranrauschen, dann kann ich mich entscheiden, ob ich das mach oder ob ich das nicht mach. (Kunze: 18) Zwar nehmen die Gründerinnen durchaus wahr, dass sie auch als Selbstständige nicht völlig frei über ihre Zeit verfügen können und es zu intensiven Phasen kommen
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kann, in denen eine Ausdehnung der Arbeitszeit unumgänglich ist. Jedoch rekonstruieren sie diese Entgrenzungen als einigermaßen kontrollier- und steuerbare Ereignisse, in denen sie letztlich Entscheidungsfreiheiten behalten, mit anderen Worten: souverän bleiben. Zudem können sie durch effizienteres Arbeiten Zeitspielräume schaffen. Das heißt, sie können Leistung also nicht nur in direkte finanzielle Erträge oder Karrierechancen, sondern auch in anderweitig nutzbare Zeit umwandeln. Insgesamt entsteht der Eindruck einer kontrollierten, aktiv gestalteten Entgrenzung der Arbeit, wobei andere Lebensbereiche durch die Gründerinnen als begrenzende und strukturierende Instanzen genutzt werden. Die Selbstständigkeit scheint allerdings Voraussetzung für eine solche Lebensführung zu sein, sie wird als berufliche Grundstruktur rekonstruiert, welche die für eine solche Praxis notwendigen Freiheiten erlaubt. Auf dieser Basis arbeiten die Gründerinnen durch effizientes Verschachteln von Aufgaben unterschiedlicher Lebensbereiche, durch das minutiöse Planen, klare Definieren und konsequente Nutzen von Zeitfenstern, durch das disziplinierte und konzentrierte ›Bearbeiten‹ der jeweiligen Lebensbereiche im dafür vorgesehenen Zeitraum, sowie durch flexibles Reagieren auf situative Anforderungen sehr geschickt an der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und persönlichen Freizeitinteressen: »sechs Uhr sind wir dann wach, halb sieben stehen wir auf, dann Frühstück und dann bring ich die Kinder in die KiTa, meistens eigentlich zu Fuß, laufen wir da hin. Auf dem Rückweg muss ich sowieso durch das Einkaufszentrum, dann bring ich so die Grundlebensmittel mit […] Und dann, ja, und wie gesagt, mach ich meistens eine Wäsche rein und setzt mich hoch. Und dann sitz ich, seh’ zu, dass ich spätestens um halb zehn am Schreibtisch sitze […] Und dann hängt’s halt davon ab, was ich für Termine habe. [… die Kinder] hol ich in der Regel so um halb vier, vier ab. Also ist das schon relativ begrenzt für mich. […] ich hab schon öfter geguckt, ich mein’, das sind sechs, sechseinhalb Stunden Netto, die ich hab. Davon kann man eine Stunde locker abziehen für mal was essen oder… Das sind fünf Stunden am Tag und das ist nicht viel. Das ist nicht viel, also ich muss schon ziemlich Gas geben eigentlich dann in der Zeit.« (Töbelmann 14/35-15/25)
Stabilität und Dynamik Die für diesen Lebensentwurfstypus charakteristische Form der Bezugnahme auf Stabilität und Dynamik wurde in den vorhergehenden Abschnitten bereits gestreift. Zusammenfassend können folgende Aspekte festgehalten werden: Im Rahmen des Typus ›Pfad‹ wird das Leben als ein relativ linear verlaufender, zukunftsgerichteter Weg rekonstruiert. In diesem Lebensverlauf gelangen die Gründerinnen immer wieder an Kreuzungspunkte, an denen sie in Abhängigkeit von den sie umgebenden Kontexten, sowie von ihren persönlichen Wünschen und Zielen, die Richtung bestimmen, in die der Lebenspfad weiterentwickelt werden soll. Zielgerichtetes und planvolles Vorgehen spielen dabei eine große Rolle, dies bedeutet aber nicht, dass die Gründerinnen versuchen, ihren persönlichen Lebensentwurf über weite zeitliche Distanzen vorzustrukturieren. Dafür werden sowohl die Umweltbedingungen als auch die Entwicklung der eigenen Präferenzen als zu dynamisch wahrgenommen. Allerdings zeigt sich vor diesem Hintergrund eine stabilisierende praktische Strategie: die Gründerinnen versuchen, unter-
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schiedliche Szenarien zu antizipieren und auf dieser Basis verschiedene Pfade frühzeitig auszuschließen. Diese Form der Kontingenzreduktion entfaltet für die Gründerinnen eine entscheidungs- und handlungsentlastende Wirkung.
Entwicklung und Stagnation Die Orientierung auf Leistung und Leistungserfolge ist verflochten mit einer zentralen Bedeutsamkeit beruflicher und persönlicher Entwicklung. Neben der als relativ dynamisch rekonstruierten Umwelt, auf die es beständig zu reagieren gilt, ist der Entwicklungsimpetus ein zentrales Movens dieses Lebensentwurfstypus. So stellt Barbara Haller bereits zu Beginn ihrer Erzählung fest, dass sie eigentlich weiterkommen, also sich weiterentwickeln will (Haller: 1). Weiterentwicklung wird dabei als ein (implizites) Konzept produziert, mit dem eine deutliche Steigerungsidee verknüpft ist: »Aber das ist schon so meine Planung, dass ich dann denk, ähm, ich würd immer wachsen wollen, was nicht heißt, ich müsste Mitarbeiter haben, hab ich irgendwann in meinem Café, aber auch persönlich natürlich zu wachsen. Was sind so, dass man überlegt, was sind so Beratungsaufträge, vor denen ich quasi vor fünf Jahren noch zurückgeschreckt wäre, das würd ich einfach gerne machen mit den entsprechenden Kollegen natürlich dann auch. Und das, das fühlt sich so ganz gut an.« (Kunze 12/08-20) Die Planung und gedankliche Vorwegnahme des weiteren Lebenswegs beinhaltet hier einen unbedingten Wachstumsanspruch (›immer wachsen wollen‹). Mit dem Begriff des Wachsens wird die Entwicklungsidee dabei als ein ›Größerwerden‹ spezifiziert. Dies ist in doppelter Hinsicht gemeint. Einerseits adressiert Kunze ihre Selbstständigkeit, andererseits ihre persönliche Entwicklung: Das Unternehmen soll wachsen und zwar sowohl in Bezug auf die Geschäftsbereiche (irgendwann soll ein Café hinzukommen) als auch mit Blick auf die Mitarbeiterzahl. Diese Wachstum-Vorstellung ist aber nicht die einzige, auf die ihre Erzählung zielt – und meines Erachtens auch nicht die zentrale. Wesentlicher erscheint der Aspekt des persönlichen Wachstums (persönlich natürlich zu wachsen). Dieses persönliche Wachsen bedeutet für Kunze das gezielte Suchen und Überwinden von Herausforderungen: Sie möchte Aufträge bearbeiten, vor denen sie vor fünf Jahren zurückgeschreckt wäre. Die Überwindung einer Hürde verschafft nicht nur ein befriedigendes Gefühl, sondern bestätigt zugleich das persönliche Wachstum. Entwicklung wird damit zumindest für die Gründerinnen anhand bestimmter Merkmale objektivierbar und zumindest in Teilen plan- und verfolgbar. Sie wird also nicht als ein ›wildes‹ Persönlichkeitswachstum rekonstruiert, sondern folgt bestimmten Entwicklungszielen. So wesentlich die Weiterentwicklung ist, so deutlich wird deren Stillstand problematisiert. Barbara Haller verweist etwa bei der Begründung ihrer Selbstständigkeit auf ein Gefühl der Stagnation: Und irgendwann hab ich aber festgestellt, das dreht sich immer im Kreis, da passiert nichts. (Haller: 03) Der Pfad ist hier unversehens in einen ›Kreisverkehr‹ geraten. Zwar ist das Leben noch in Bewegung, es ereignet sich aber nichts Neues mehr, die Zukunftsgerichtetheit ist verloren gegangen. Auch Eva Schneider adressiert das Problem der Stagnation: Also es gab keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr nach oben […]. Von daher gabs die Möglichkeit, also richte ich mich jetzt da in meinem Angestelltenverhältnis so ein oder mach ich was ganz anderes. (Schneider: 1) Die Formulierung des ›Einrichtens‹ im
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Angestelltenverhältnis konnotiert die Konsequenzen eines Verbleibs an Ort und Stelle in spezifischer Weise: Es bedeutet das Aufgeben von Aufstiegsambitionen, gegebenenfalls aber auch das Herstellen von Behaglichkeit. Hierin zeigt sich eine Ambivalenz, denn wenngleich die Zukunfts- und Entwicklungsorientierung der Gründerinnen starke Beweggründe sind, die notfalls einen Pfadwechsel nötig machen, bedeutet ein solcher Wechsel auch Destabilisierung: Die Gründerinnen müssen dann um der Weiterentwicklung willen den sicher angelegten Weg verlassen und eine größere Kontingenz der Zukunft in Kauf nehmen. Entwicklung bedeutet für die Gründerinnen also bei aller intrinsischen Motivation auch das gezielte Heraustreten aus der eigenen Komfortzone. Sie ist kein zufälliges Nebenprodukt des Lebenswegs, sondern dessen Leitlinie und sie erfordert Selbstüberwindung und das Inkaufnehmen von Unsicherheit. Dies wird durch die Gründerinnen nicht durchweg positiv wahrgenommen: Also es gab schon zwischendrin so Zeiten, wo ich gedacht hab: Mensch, jetzt hast du das alles aufgegeben. Da hättest du ja, weil, wenn man so lang irgendwo ist und einen relativ guten Stand hat, dann könnt es ja auch, dann ist es ja auch ganz gemütlich. (Haller: 13) Die Gefahr bei einem entwicklungsermöglichenden Pfadwechsel besteht also darin, die bisherigen Entwicklungserfolge zu vernichten (alles aufgegeben zu haben) und einen Bruch bzw. eine Diskontinuität des Lebenswegs zu produzieren. In der Passage deutet sich jedoch bereits an, dass ein Einrichten und damit die Stagnation keine annehmbare Alternative darstellt: Gemütlichkeit ist im Sinne dieses Lebensentwurfstypus eine zweifelhafte Eigenschaft – zu sehr steht sie dem Leistungsanspruch und Zielstrebigkeit entgegen5 . Die Praxis der Gründerinnen, die in ihren Orientierungen dem Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ entsprechen, ist durch eine gewisse Rastlosigkeit gekennzeichnet. Diese entsteht im Zusammenspiel der Entwicklungsorientierung und der zugleich fehlenden Festlegung eines finalen Fluchtpunktes, der diese Dynamik zum Erliegen bringen würde (etwa ein Karriere- oder Lebensziel). Entwicklung bzw. das Immer-weiter-Wachsen – wie Kunze es formuliert – bilden ihrerseits die Grundausrichtung des Lebenswegs. Dies bedeutet nicht, dass eine solche Entwicklung gegen alle Bekundungen der Gründerinnen im Grunde ziellos verläuft – im Gegenteil: Sie bringen ihren jeweiligen Lebensweg als ein Zusammenhang aus vielen kleinen Zwischenschritten (Kunze: 2), d.h. aus verschiedenen kleinen Zielen, Etappenzielen sozusagen (Huber: 28), hervor. Diese generieren sich jedoch erst im Prozess aus den jeweiligen gegenwärtigen Umständen und aus dem bisherigen Pfadverlauf. Beides ist zwar teilweise antizipierbar, aber letztendlich kontingent. Dies macht die Pfadabhängigkeit dieses Lebensentwurfs aus: Der gewählte Weg bestimmt die weiteren Anschlussmöglichkeiten, legt aber weder fest, welche Option zu wählen ist, noch welchen Verlauf der gewählte Pfad nehmen wird. Insofern stellt sich
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Dies verdeutlicht Haller auch an anderer Stelle in ihrem Interview, bei der es um die Vor- und Nachteile von Gründerinnen-Netzwerken geht: »Und ich hab mich dann entschieden, wenn ich mir ein Netzwerk suche, oder mein Netzwerk eigentlich eher potentielle Kunden sein müssen, in der Zeit, die ich zur Verfügung hab und nicht, also es ist schön, es ist kuschelig, wenn man sozusagen mit anderen sich unterhält und die gleichen Probleme hat, aber letztendlich wollt ich, war mir das zu wenig zielorientiert.« (Haller 08/34-38)
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dieser Lebensentwurfstypus als ein unidirektionaler und kontinuierlicher Steigerungsverlauf dar, der nach einer beständigen Weiterentwicklung strebt und daher keinen teleologischen Fluchtpunkt aufweist. Diese Grunddynamik und die mit ihr einhergehende Ambivalenz beschäftigt die Gründerinnen schon zu Beginn der Selbstständigkeit6 . In ganz ähnlicher Weise thematisieren Barbara Haller und Anna Töbelmann eine zentrale Entscheidung, die sie vor sich sehen – entweder sie stabilisieren und konservieren die Selbstständigkeit in ihrem momentanen Zustand oder sie akquirieren weiter, vergrößern sich und bauen die Selbstständigkeit aus: Ich fühl mich als Selbstständige, die jetzt so an der Schwelle steht oder überlegen muss, ob sie Selbstständige bleibt, im Grunde zu sagen: Hallo, ich mach dieses Fass mehr oder weniger so zu und guck, dass ich das immer so halte, mit bisschen Durchlauf, oder investiert und sagt: Die Agentur soll größer werden. (Haller: 38) Sowohl Haller als auch Töbelmann sehen mit der Gründung eine biografische Entscheidung verknüpft, die deshalb ambivalent ist, weil sie zwei Orientierungsmuster des Lebensentwurfstypus gegeneinander ausspielt – Stabilität und Planbarkeit auf der einen, Wachstum und Entwicklung auf der anderen Seite: An dem Punkt werd’ ich mich auch irgendwann entscheiden MÜSSEN, ob ich sage, ich akquiriere jetzt weiter, ich stelle ein und ich wachse, mit allen Vor- und Nachteilen oder, ob ich sag, nee, ich möchte das nicht, dieses, das, was wir dadurch haben, ist völlig ausreichend. Dafür haben wir mehr Freizeit, weniger Stress, ähm, mit den ganzen Vorteilen (Töbelmann: 31) Während Haller die Stabilisierung eher als faktische Möglichkeit erwähnt, das Weiterwachsen hingegen als ›Traumvorstellung‹ kennzeichnet, zeigt sich bei Anna Töbelmann deutlicher die Ambivalenz dieser Entscheidung: also vom Gefühl her weiß ich schon, wo ich hin möchte, auf der anderen Seite seh’ ich halt auch das Potential und seh’ das schon auch als reizvollen Versuch, das noch weiter auszubauen. (Töbelmann 31/01-08).
Antizipation alternativer Pfade und Kontingenzbewusstsein Das spezifische Verhältnis von Stabilität und Dynamik zeigt sich auch in der für diesen Lebensentwurfstypus so charakteristischen Hervorbringung alternativer Pfade und Zukunftsszenarien: Einerseits geht mit der Logik sich verzweigender Pfade das Problem einher, dass jede Anschlussmöglichkeit seine eigenen, teils nicht antizipierbaren Potenziale birgt: »Das ist natürlich auch sowas, wo ich denke, ja, das hätte ich verpasst, wenn ich das nicht gemacht hätte, dann hätt ich was anderes gelernt, das ist auch gut. (Kunze: 41) Gerade weil die Gründerinnen in der Lage sind, in unterschiedlichen Pfadalternativen unterschiedliche Chancen zu sehen, ist das planvolle, Entwicklungspotenziale abschätzende, Präferenzen reflektierende Vorgehen bei einer Entscheidungsfindung ebenso entlastend wie das gedankliche Suspendieren ausgeschlossener Wege. Diese implizite Strategie stabilisiert gleichermaßen die Handlungsfähigkeit und den Lebensentwurf der Gründerinnen, die sich so nicht in eine endlose Entfaltung von Potenzialitäten verstricken. Ein weites Vorgreifen in die Zukunft ist in diesem Modus und vor allem auf Basis dieses Selbst- und Weltverständnisses nicht möglich: zu dynamisch und kontingent sind sowohl die Umwelt als auch die persönlichen Lebensumstände und Präferenzen.
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Der Akquisestrategie entsprechend liegt zum Zeitpunkt der Interviews liegt die formale Gründung höchstens ein Jahr zurück.
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Aber weil die Gründerinnen um diese Dynamiken wissen, bestehen sie auch nicht auf der Endgültigkeit ihrer Entscheidungen: »ich kann’s mir im Moment überhaupt nicht vorstellen, dass ich irgendwann in so eine Struktur zurückgehen würde, wäre vielleicht, dann mit der Erfahrung eine größere Leitungsfunktion zu übernehmen in dem Bereich, das wär’ dann noch was, wo ich sagen würde, das könnte mich dann vielleicht irgendwann mal reizen. Aber ich… Eigentlich im Moment, muss ich sagen, gar nicht« (Töbelmann 32/32-36) Hier nimmt Anna Töbelmann gedanklich nicht nur einen Erfahrungszuwachs und Kompetenzfortschritt vorweg, den sie in den kommenden Jahren der Selbstständigkeit erwartet, sondern antizipiert zudem, dass sie auf der Basis dieser Entwicklung eine Leitungsfunktion in einem Unternehmen wiederum reizvoll finden könnte. Mit einer Fülle an Konjunktiven und relativierenden Einschüben verweist sie jedoch vehement darauf, dass es sich um eine rein hypothetische Skizze der Änderung ihrer Präferenzen handelt, die mit ihren momentanen Vorlieben nicht übereinstimmt (kanns mir im Moment überhaupt nicht vorstellen). Diese Darstellung wirkt einigermaßen paradox, denn immerhin führt sie ja die Möglichkeit an, dass eine Rückkehr in ein attraktives Anstellungsverhältnis zu irgendeinem Zeitpunkt potenziell reizvoll wird, womit es de facto im Bereich des Vorstellbaren erscheint. In ganz ähnlicher Weise bringt Barbara Haller eine solche Vorstellung des Unvorstellbaren: »Also im Moment kann ich es mir nicht vorstellen, es aufzugeben. Ich denk mir, entweder man hat keine Kunden, es läuft nichts, oder man kriegt die große Lebenskrise, ja, dass man findet, es ist alles Quatsch, was man macht, das kann natürlich auch irgendwann sein, ja, alles heiße Luft, und ich will keine heiße Luft mehr produzieren. Keine Ahnung. Oder man ist komplett überarbeitet irgendwann und sagt: Hallo! Ich mein, jetzt mit dieser MarketingfachwirtAusbildung, da bietet sich natürlich auch wieder ein gew-, würde sich ein gewisses Berufsfeld anbieten, die vielleicht auch sagen, dass könnte man im Angestelltenverhältnis tun, ja. Das war auch am Anfang meine Überlegung, irgendwann zu sagen, vielleicht jump ich wieder zurück. Aber jetzt im Moment…« (Haller 39/39-40/01) Im Gegensatz zu Anna Töbelmann greift Barbara Haller auf verallgemeinerbares Wissen über typische Phasen konventioneller Lebensverläufe zurück (markiert durch den häufigen Gebrauch des verallgemeinernden ›man‹). Sie wählt neben dem äußerst pragmatischen Grund der mangelnden Wirtschaftlichkeit ein sehr drastisches und daher (gerade im Kontrast zu ihrer positiven Gesamterzählung) besonders hypothetisch wirkendes Abbruchszenario: eine große Sinn- und Lebenskrise. Sie stellt also den maximalen objektiven Grund einer Geschäftsaufgabe (keine Kunden) dem maximalen subjektiven Grund (totale innere Abkehr vom Arbeitsinhalt) gegenüber. Anhand dieser Grenzfälle spannt sie das Kontinuum der Pfadabbruchmöglichkeiten auf und markiert zugleich deren Unwahrscheinlichkeit. Während die Gefahr des Ausbleibens der Kunden allgemein formuliert wird und somit ausgesprochen virtuell bleibt, wechselt sie in Sachen Sinnkrise langsam wieder in ›ich‹-Formulierungen, es bleibt aber offen, ob dieses Szenario weniger hypothetisch ist – sie bricht die Ausführungen an dieser Stelle ab. Stattdessen wechselt auch sie gedanklich zur Festanstellung. Anders als in der Erzählung von Anna Töbelmann wird diese jedoch nicht als potenziell reizvoll, sondern schlicht als
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Potenzial angeführt und hieran wird die Logik dieser Erzählpassagen deutlich: Beide Gründerinnen legen dar, dass der von ihnen gewählte Pfad auch für den unwahrscheinlichen, vom gegenwärtigen subjektiven Standpunkt aus nicht einmal vorstellbaren Fall, einen Plan B eröffnet, dass also – sollte es zu einem erneuten Pfadwechsel kommen – wenigstens in eine Richtung die Kontinuität ihrer Entwicklung gesichert ist. Dies führt zurück auf die hohe Planungsaffinität und die ausgiebigen Stabilisierungsbestrebungen, die mit diesem Lebensentwurfstypus verbunden sind, denn bei allem Kontingenzbewusstsein sind die Gründerinnen hochgradig an der Reduktion und Kontrolle von Kontingenz interessiert: »Also ein Studienfreund von mir, da, die, da machen sich beide gerade selbstständig, die haben zwei Kinder und da muss ich sagen, Hut ab, echt Hut ab. Weiß ich nicht, ob ich das wollte… Also ich find’s toll, aber… [Pause, 3] Ob das was für mich wär’, weiß ich nicht. Kann ich nicht sagen. Ich glaub, ich würde dann eher sagen, gut, wenn das jetzt dein, äh, dein beruflicher Weg ist, dann mach das, aber dann geh ich jetzt in ein Angestelltenverhältnis erstmal, bis das läuft, also… So beide open space in der Gründung, muss man, glaub ich, mögen…« (Töbelmann 08/16-23)
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Lebensentwurf und Handlungsorientierungen des Typus ›Drift‹
Als zweiter Lebensentwurfstypus lässt sich eine Orientierung rekonstruieren, für die ein Modus des Sich-treiben-lassens, des Driftens, zentral ist. Gründerinnen, die in besonderem Maße diesen Typus von Lebensentwurf hervorbringen, rekonstruieren ihre Lebenssituation als mehr so zufällig geworden (Berg: 2) und verspüren einen Drang, regelmäßig wieder alles hinter sich lassen und was ganz Neues machen zu wollen (Linkerhand: 1), ohne dabei jedoch einem langfristigen Ziel zu folgen. Vielmehr entsteht Bewegung unweigerlich mit der Entfaltung persönlicher Interessen in einer sich beständig wandelnden Umwelt, weshalb der Lebensverlauf nicht nur in den Augen Außenstehender als unstet wahrgenommen, sondern auch von den Gründerinnen selbst so empfunden wird. Diese vage, unbeständige und vorläufige Haltung in Bezug auf das eigene Leben dokumentiert sich auch im sprachlichen Duktus der Interviews: Beschreiben die Gründerinnen ihr Leben, so tun sie dies zumeist in narrativen Schleifen oder argumentieren sternförmig entlang unterschiedlicher Aspekte auf ihren gegenwärtigen Standpunkt hin. Dabei nutzen sie oft relativierende, den unscharfen Charakter des Dargestellten betonende Begriffe wie irgendwie, mehr oder weniger, vielleicht oder wie soll ich sagen und produzieren insgesamt weitaus brüchigere Narrationen als jene Gründerinnen, die im vorangehenden Kapitel im Zentrum standen. Dies liegt jedoch nicht etwa an mangelnder Sprachkompetenz – auch bei den Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Drift‹ hervorbringen, handelt es sich um studierte Frauen, die teilweise Akademiker*innenhaushalten entstammen und sie nutzen einen entsprechend elaborierten Wortschatz. Vielmehr drückt sich bereits in der Erzählweise ein spezifischer Weltzugang aus, der sich fluider darstellt als jener auf Strukturierung und Systematisierung ausgerichtete Zugang des Typus ›Pfad‹. ›Drift‹ bringt bereits für Richard Sennett den Zustand des flexiblen Menschen im neuen Kapitalismus auf den Begriff: Nichts scheint im ausgehenden 20. Jahrhundert
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von Dauer zu sein, die Mitglieder moderner Gesellschaften – so seine Diagnose – leben in der ständigen Gefahr und mit der anhaltenden Befürchtung, »jede innere Sicherheit zu verlieren« und »in einen Zustand des Dahintreibens zu geraten« (Sennett 2000: 22). Weder berufliche Ausrichtung und arbeitsorganisationale Einbindung noch soziale Beziehungen wie Freundeskreise und Nachbarschaften scheinen noch selbstverständlich und von Dauer zu sein. Sennett befürchtet, dass die Umstände ›ethische und emotionale Drifter‹ hervorbringen, denen eine stabile Charakterentfaltung und die Entwicklung grundsätzlicher Werte und Ideale verunmöglicht wird: »Instabilität ist normal, Schumpeters Unternehmer erscheint als der ideale Jedermann. Vielleicht ist die Zerstörung des Charakters eine unvermeidliche Folge. ›Nichts Langfristiges‹ desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindung von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung.« (Sennett 2000: 38) In der vorliegenden Analyse kristallisiert sich jedoch ein anderes Bild der Drift heraus: Zwar zeichnet sich dieser Lebensentwurfstypus tatsächlich durch die auf Dauer gestellte Vorläufigkeit der Lebenssituationen und insbesondere der umgebenden Arbeitsstrukturen aus, hiermit gehen jedoch weder Werterelativismus noch mangelnde Selbstachtung einher. Die Gründerinnen stellen sich – trotz zeitweilig durchaus belastender Existenzängste – als kompetente Drifterinnen heraus, die darauf vertrauen (können), dass sie bei aller Fluidität der Lebenssituationen immer neue Kontakte knüpfen, neue Projekte finden und sich neue Themen aneignen können: »irgendwie hat sich das immer ergeben« (Müller: 11).
Grundmuster des Lebensentwurfs des Typus ›Drift‹ Das Leben stellt sich für die Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Drift‹ hervorbringen, nicht als ein Weg dar, sondern vielmehr ist es ein Gefüge aus Erfahrungen und Ereignissen, das sich ohne strikte Planung und Zielsetzung entfaltet. Während sich für Gründerinnen, deren Lebensentwurf insbesondere dem Typus ›Pfad‹ entspricht, der allgemeine, typische Lebensverlauf aus konventionalisierten Phasen zusammensetzt, zu denen sie sich mit ihrem eigenen Lebensweg in Beziehung setzen können, zielen die Narrationen der Gründerinnen, die dem Typus ›Drift‹ nahestehen, nicht so sehr auf Lebensverläufe, sondern vor allem auf Formen der Lebensführung und den Sinn, der mit dem Leben verknüpft ist. Dabei stellen sie generationale Verschiebungen fest, die unter anderem dazu führen, dass neben ›ältere‹ Lebensentwürfe ›neue‹, alternative Varianten treten. Einem solchen alternativen Lebensentwurf entspricht in der Rekonstruktion der Gründerinnen auch das eigene Leben.
Abkehr vom ›traditionellen‹ Lebensentwurf Im Gegensatz zum Typus ›Pfad‹, in dessen Orientierungsrahmen ein allgemeiner Entwurf des Lebens in abstrakter, standardisierender Weise erfolgt, dokumentieren sich für den Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ die unbedingte Bezugnahme auf konkrete Personen. Für die Charakterisierung eines traditionellen, ›normalen‹ Lebensentwurfs verweisen die Gründerinnen dabei häufig auf ihre Eltern:
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»mein Vater hat in einer Bank gearbeitet, also der hat, sein Herzblut war immer Gärtner, hat er gelernt. Und dann hat er irgendwann festgestellt, dass das irgendwie, er wollte ganz klar, ja natürlich Frau und eigentlich mehr Kinder als nur drei. Und hat dann irgendwie so pragmatisch festgestellt, so mit Gärtner ist das irgendwie nicht zu wuppen und hat dann so in den 50er Jahren, glaub ich, so eine Bankausbildung, was heißt Bankausbildung, bei der Raiffeisenbank, also die haben wirklich noch so mit Säcken… Also, wenn er das so erzählt… Also mit WAREN hat er das gelernt, Banking irgendwie so. Und… Ja. Und hat dann Jahre lang, also ist dann irgendwann nochmal von der Raiffeisenbank zur Vereins- und Westbank und hat da ewig gearbeitet. Als… Bankangestellter, war eine Zeit lang mal Abteilungsleiter. Und hat das aber, weil ihm das zu viel Verantwortung war und er merkte, dass ihm das körperlich nicht gut tat, wieder aufgegeben. Wo ich immer dachte… Also was für mich, als Kind, also echt, also, wie alt war ich denn da, ich war irgendwie so in der Pubertät, als das passierte. Und da ist irgendwie mein Vater für mich persönlich echt gepurzelt, ich hab gedacht, wie kann man sowas machen, also, wie kann man irgendwie einen verantwortungsvollen Posten mit mehr Geld, wie kann man den [lachend] aufgeben und so und… Also heute so, aus der Distanz sag’ ich, so, es ist halt auch so latent, in der Familie ist immer Bluthochdruck so ein Thema, der hat da einfach gut für sich gesorgt so. […] Und insofern, sag ich mal, der war immer in seinem Garten nach der Arbeit und war irgendwie froh.« (Sachs 06/05-28) In dieser Erzählpassage adressiert die Gründerin Karin Sachs eine ganze Reihe von Merkmalen einer klassischen Berufslaufbahn der organisierten Moderne: Der Vater wird als Mann der 1950er Jahre vorgestellt, der als solcher natürlich – also selbstverständlich und den vorherrschenden Normen entsprechend – ein Leben mit Frau und Kindern anstrebt. Daher tauscht er pragmatisch einen aus Passion erlernten Beruf gegen einen handfesten Broterwerbsberuf, um seiner Rolle als Familienernährer gerecht werden zu können. Interesse oder sogar Freude an den Arbeitsinhalten erscheinen damit in der Erzählung der Gründerin als für die Entscheidung unerhebliche Aspekte. Vielmehr wird die Solidität der Berufswahl durch den Hinweis auf die sehr grundlegende Ausbildung verdeutlicht, in deren Rahmen das Bankwesen noch mit Säcken, d.h. mit (echten) Waren, erschlossen wird. Darauf folgt zunächst eine typische Organisationskarriere, bei der abgesehen von einem einzigen Wechsel Jahre lang bzw. ewig in gleichbleibenden Kontexten gearbeitet und auch – dem Anciennitätsprinzip einer traditionellen Arbeitsorganisation folgend – der obligatorische innerorganisationale Aufstieg zum Abteilungsleiter realisiert wird. Vergnügliche oder erfüllende Tätigkeiten scheinen erst nach dem Feierabend stattzufinden: Seiner eigentlichen Leidenschaft, der Gartenarbeit, geht der Vater in seiner Freizeit nach. Diese strikte Trennung von Arbeit und Freizeit bzw. Broterwerb und Lebensgenuss vermittelt sich durch den Kontrast von Bankwesen und Gärtnerei, zeigt sich aber auch im Abbruch bzw. in der Rücknahme der Laufbahn: Die Arbeit dient hier ausschließlich der Finanzierung der Lebensführung und scheint relativ frei von Karriereambitionen. Zugleich umschließt die Erzählung den expliziten Hinweis auf ein Umdenken, dass sich auf Seiten der Gründerin ereignet hat: Während die Teenagerin Karin Sachs keinerlei Verständnis für den Karriererückschritt ihres Vaters zeigt, dieser dabei sogar in ihrem Ansehen purzelt, erscheint ihr die Handlung rückblickend in einem anderen Licht – und zwar als durchaus sinnvolle Selbstsorge. Hierin dokumentiert sich nicht nur, wie
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sehr die Umkehr einer linear verlaufenden Karriere dem ›normalen‹ Lebensentwurf dieser Zeit zuwiderläuft – sosehr nämlich, dass die eigene Tochter in einem offenbar nicht übermäßig karriereorientierten Elternhaus die Handlung missbilligt. Es verweist auch auf eine Änderung der Lebenseinstellung, die Sachs an anderer Stelle thematisiert: »Also da hab ich tatsächlich, ähm, gelernt, dass Arbeit, ja, also, dass Arbeit eben auch Spaß macht und sinnerfüllend, vorher war das ja mit dem Kellnern und so, immer eher so, wie mein Vater das gemacht hat. Das diente […] letztendlich nur dem Gelderwerb.« (Sachs: 36) Diese Markierung einer grundsätzlichen Perspektivverschiebung, die zwischen einem älteren Entwurf des ›normalen‹ Lebens und einem neueren ›alternativen‹ Lebensentwurf stattfindet, ist charakteristisch für den Lebensentwurfstypus ›Drift‹. Sie wird von den Gründerinnen als grundlegender Wandel rekonstruiert, wobei als Anzeichen für die Intensität der Veränderungen auf massive Verständnisschwierigkeiten seitens der Elterngeneration verwiesen wird: »Also wenn ich jetzt so auf Familie zurückgehen würde, ist ja so, dass die ., also dass meine Eltern eigentlich immer ., die haben ja beide einfach- also ich mein, die sind ja beide Zahnärzte und meine Mutter war angestellt, mein Vater hatte eine eigene Praxis, aber, dass die eh immer gesagt haben: ›Hey, wie das bei euch jetzt ist mit dieser Arbeit und nichts Festes und so was. Das ist für uns total unnachvollziehbar‹. Weil, es war auch so in dieser Nachkriegsgeneration, wenn du da eine gute Ausbildung hattest dann und dich entschieden hast nen akademischen Werdegang einzuschlagen, dann war das überhaupt ., also dann bist du da angekommen, wo du wolltest, mehr oder weniger.« (Berg 05/14-22) Auch in der Erzählung von Jana Berg werden wesentliche Aspekte des ›klassischen‹ Lebensentwurfs der Mitte des letzten Jahrhunderts thematisiert, nämlich dessen Planbarkeit und Gradlinigkeit. Dabei erkennt Berg die normalisierende Wirkung, die dieser Entwurf in der Generation der Eltern entfaltet an: Sie generalisiert den Umstand, dass zu dieser Zeit eine akademische Ausbildung zu einem antizipierbaren Ziel führte (wenn du da eine gute Ausbildung hattest…dann bist du da angekommen, wo du wolltest). Diese Normalität wird nun von der Gründerin in Kontrast zu den gegenwärtigen Lebensentwürfen ihrer eigenen Generation gestellt, indem sie ihre Eltern ebenfalls verallgemeinernd sprechen lässt (wie das bei euch – das ist bei uns). Damit dokumentiert sich in der Passage der Unterschied zwischen den beiden jeweils generational rückgebundenen Lebensentwürfen als ein grundsätzlicher: ein an klaren Berufsbildern (z.B. Zahnarzt) und Werdegängen (z.B. akademisch) orientiertes, strukturiertes und planbares Leben der ›Nachkriegsgeneration‹ und ein Leben der Folgegeneration, in dem klare Berufsbilder aufgelöst (›mit dieser Arbeit‹) und stabile (Verlaufs-)Strukturen erodiert erscheinen (nichts Festes). Die Veränderungen betreffen in den Augen der Gründerin so grundlegend die Konstitution des ›normalen‹ Lebens, dass sich zumindest für die Elterngeneration der neue Lebensentwurf als total unnachvollziehbar darstellen muss. Die Elterngeneration dient den Gründerinnen als eine Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund sie das, was ihnen an ihrem eigenen Lebemsentwurf wesentlich erscheint, herausstellen. Zu diesem Zwecke greifen sie aber durchaus auch auf Lebensentwürfe anderer Generationenzusammenhänge zurück:
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»Das waren Frauen, halt die auch, sich selbstständig gemacht haben, und sozusagen die neue Frauengeneration da, die sich selbstständig machen und gecoacht haben. Und was mich sehr stört war, dass sie genau dieses vermittelt haben, also Urlaub: ›Ich hab die letzten zwei Jahre keinen Urlaub mehr gemacht. Und ich arbeite so und so viel‹. Und ich saß dann da und hab gedacht: ›Hey Leute, warum macht ihr das, ihr müsst es nicht tun. Wenn es soviel grausamer ist, dann, dann lasst es‹. Und es hat wirklich dieses, dieses Schwere oft gehabt und dieses, ja und die können dann mit niemanden mehr reden, weil wer selbstständig arbeitet, kann ja dann keinen., der wird nicht mehr verstanden von den nichtselbstständig Arbeitenden und so. Und es hat für mich auch nicht gepasst so. Also wirklich total gestresste Menschen, die, glaube ich, ihr Leben voll durchgerechnet haben. Sei es, nur in Ausgaben, Eingaben und Zeit- und Projektpläne. Das war für mich total fremd. Es gibt für mich nen Sinn, aber nicht wenn es mein ganzes Leben so bestimmt. […] Und ich hätt mir mehr Lebenslust, und: ›Ja!, da is auch Zeit für Urlaub‹. Und da is auch Geld dafür und ich arbeite, mit dem Ziel, um zu leben. Oder die Arbeit in mein Leben zu integrieren, also sie nicht nur als mühsam zu empfinden oder so. Ja und vielleicht noch andere Werte, was ich irgendwie meinte, das warn dann Leute, die eine war irgendwie mal Bankerin gewesen und jetzt macht sie glaube ich Systemische Arbeit und des is alles so scheuklappenwirtschaftlich gedacht. Also ich denk, wo sind da so die menschlichen Werte. Ich kanns dir jetzt gar nicht genau auf den Punkt bringen.« (Linkerhand 09/11-46) Martha Linkerhand verweist in dieser Erzählpassage auf Frauengenerationen und skizziert dabei eine Lebenseinstellung, die sich von den Lebensentwürfen der Elterngeneration unterscheidet. Anders als die Entwürfe der Eltern in den vorhergehenden Passagen, wird der hier umrissene Zugang zwar als für eine bestimmte Haltung typisch, allerdings nicht als normal dargestellt: In der Wahrnehmung der Gründerin handelt es sich weniger um eine gesellschaftliche Norm (einer bestimmten Zeit), sondern ist eine spezifische Lebenseinstellung (dieses keinen Urlaub haben, dieses Schwere, so scheuklappen-wirtschaftlich), die allerdings keinen allgemeingültigen Charakter hat. Anhand der Abgrenzung gegen diesen Entwurf wird nun die persönliche Einstellung von Martha Linkerhand deutlich: Sie positioniert sich gegen ein in jeglicher Hinsicht ›durchgerechnetes‹ Leben ohne Zeit zur Erholung und ohne Kontakt in die Welt der NichtSelbstständigen. Diesen Lebensentwurf findet Linkerhand befremdlich, vor allem, weil die Akteure den Eindruck machen, als fänden sie dieses Leben selbst nicht besonders attraktiv (Stress, mangelnde Lebenslust): Sie strahlen eine Schwere aus, die Linkerhand ablehnt. Ihre Positionierung geht aber über eine persönliche Bewertung dieser Lebenseinstellung und -führung hinaus: Sie markiert das Auftreten der älteren Unternehmerinnengeneration als störend, was sich aus dem – in ihren Augen – illegitimen Versuch begründet, einen solchen Lebensentwurf zu generalisieren und damit zu normalisieren (wer selbstständig arbeitet, der wird nicht mehr verstanden von den nichtselbstständig Arbeitenden). Einerseits rekonstruiert Linkerhand den schweren Lebensentwurf als unnötig und unterläuft damit den Normalisierungsversuch (warum macht ihr das, ihr müsst es nicht tun). Andererseits dient er als kontrastiver Ausgangspunkt für die Darstellung jener Aspekte, die ihr persönlich im Leben wichtig sind: Lebenslust und Leichtigkeit spielen dabei eine wesentliche Rolle – Arbeit soll nicht nur einem guten Leben dienlich sein, sie sollte idealerweise so ins Leben integriert sein, dass sie keine Mühsal ist. Besonders wichtig
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sind ihr menschliche Werte, die vor allem aus der Abgrenzung gegen eine scheuklappenwirtschaftliche Haltung und eine vollständig durchrationalisierten Lebensführung Kontur gewinnen. Die Passage lässt sich also auch als eine Ökonomisierungskritik lesen, die typische Elemente des öffentlichen Neoliberalismus-Diskurses aufgreift (Intrusion der Ökonomie in sämtliche Bereiche des Lebens, totale Entgrenzung der Arbeit und daraus folgende Allverfügbarkeit, soziale Kälte, die Getriebenheit jener Akteure, die sich dem Markt vollständig unterwerfen). Die Artikulation einer Vorstellung vom eigenen Leben bzw. dessen, was ihr wichtig und erstrebenswert erscheint, fällt Linkerhand nach eigenem Bekunden schwer. Eine Explikation gelingt insbesondere in der Abgrenzung – ansonsten bleiben die Ausführungen relativ vage (menschliche Werte, Lebensfreude). Diese für den Typus ›Drift‹ charakteristischen kontrastiven Darstellungen von Lebensentwürfen beinhalten drei wesentliche narrative Muster: Erstens umfassen die Entwürfe nicht nur objektivierbare Ereignisse oder Verläufe, sondern auch grundlegende Haltungen bzw. Lebenseinstellungen, das heißt, es dokumentiert sich für diesen Typus eine ganzheitliche Orientierung auf die Lebenspraxis: Anders als im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ steht hier nicht so sehr die lineare, chronologisch erfassbare Entwicklung im Zentrum, sondern die Lebensführung, etwa das Familienleben, die Freizeitgestaltung, das Verhältnis zur Arbeit, die (Nicht-)Vorhersehbarkeit der Zukunft, Lebensziele und Sinngebung etc. Zweitens spielen zeitlich bedingte Veränderungen eine große Rolle, Lebensentwürfe werden also als dynamische Gebilde hervorgebracht. Die in die Erzählungen der Gründerinnen eingelassenen Rekurse auf einen Wandel von Lebensentwürfen sind dabei insbesondere entlang unterschiedlicher Generationen aufgespannt. Zwar werden für die Beschreibung des Lebens der Elterngeneration normalisierende Elemente genutzt, zugleich wird dieser Normalentwurf jedoch in die Vergangenheit versetzt (es war auch so in dieser Nachkriegsgeneration). Demgegenüber werden gegenwärtige Lebensentwürfe zwar auch in stilisierender Erzählweise dargestellt, jedoch erhalten diese einen weniger allgemeingültigen Charakter. Schließlich verweist – drittens – die kontrastive erzählerische Annäherungsweise, d.h. die Nutzung anderer Lebensformen als Gegenhorizonte, auf ein Denken in Alternativentwürfen: Die eigene Lebensführung wird als eine Variante unter mehreren Lebensentwürfen hervorgebracht.
Drift als alternativer Lebensentwurf In welcher Form bringen nun jene Gründerinnen, die entsprechend dem Typus ›Drift‹ orientiert sind, ihren persönlichen Lebensentwurf hervor? Die Gründerin Martha Linkerhand reflektiert ihren Zugang zum Leben im Anschluss an die Frage, wie es zu ihrer Selbstständigkeit gekommen ist, folgendermaßen: »Also ich denk die Entscheidung dazu ist vor zwei Jahren vielleicht gefallen, oder gewachsen besser gesagt. Und zwar hab ich damals halt in S. gearbeitet, als Integrationsberaterin und war damit mehr und mehr unglücklich. Einerseits weil meine Partnerin hier in B. ist, andererseits weil’s mich inhaltlich nicht erfüllt hat, oder ja, weil ich irgendwie an meine Grenzen stieß und das Gefühl hatte, ich kann mich da nicht entwickeln und ich komm da nicht weiter mit dem was ich möchte. Dann habe ich halt, rutsch ich dann immer so in Phasen, wo ich so unglaublich viel recherchiere, was ich alles machen könnte, wo ich wieder hingehen könnte, also wo ich,
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ich sag mal, ich hab so ein Nomadenherz, also wo ich dann immer wieder, so jetzt muss ich aufbrechen, jetzt muss ich wieder alles hinter mir lassen und was ganz Neues machen. Und das war dann, das pendelte immer so hin und her und die Stelle war letztendlich der Ort, der mich so ein bisschen gehalten hat, also wo ich, da kann ich jetzt nicht raus. Und das hat mich gestört, weil ich gleichzeitig die Idee, ich wollte diese Freiheit, ich wollte das machen, also ich wollte mich entwickeln oder ich wollte so, mir neue Sachen aneignen und zugleich kann ich mich darin verlieren. Also was mache ich jetzt, wenn ich die Freiheit habe. Möchte ich weiter studieren, möchte ich noch ins andere Ausland gehen, wo auch immer. Und das ist das eine, diese Unzufriedenheit würde ich mal sagen und so ein Grund- so eine Grundrastlosigkeit die ich habe.« (Linkerhand 01/10-27) Auf den ersten Blick weist Linkerhands Erzählung Ähnlichkeiten mit den Erzählungen von Gründerinnen auf, die dem Typus ›Pfad‹ entsprechend orientiert sind: Auch sie spricht von einer sich allmählich herausbildenden Entscheidung, von dem Wunsch nach Entwicklung, den sie im Anstellungsverhältnis nicht realisieren kann und von einer Phase, in der sie eruiert, in welche Richtung sie sich weiterentwickeln möchte. Allerdings dokumentiert sich in dieser Erzählung ein ganz anderer Orientierungsrahmen als dies im vorangegangenen Kapitel der Fall war: Die Entwicklung etwa, auf die sich Linkerhand hier bezieht, ist nicht mit der Entwicklung ihrer Karriere, sondern vielmehr mit persönlicher Entfaltung konnotiert: Die Kritik an der Verunmöglichung ihrer Weiterentwicklung entspringt dem Umstand, dass sie ihre Arbeit inhaltlich nicht als erfüllend empfindet. Die hier beschriebenen Grenzen, die mit dem Anstellungsverhältnis einhergehen, sind also keine Einschränkungen des beruflichen Aufstiegs oder einer persönlichen Weiterentwicklung in professioneller Hinsicht. Vielmehr verhindern sie ein erfülltes Leben, dass sich an inhaltlichen Interessen und an persönlichen Wünschen bzw. Affinitäten orientiert – auch wenn zunächst offenbleibt, worauf sich diese Wünsche richten (ich komm da nicht weiter mit dem was ich möchte). Die Beschränkung dieses Selbstentfaltungsanspruchs wird narrativ im Wesentlichen auf emotionaler Ebene bearbeitet: Anders als beim Typus ›Pfad‹, in dessen Rahmen die Grenzen von Anstellungsverhältnissen rational reflektiert werden, verweist Linkerhand vor allem darauf, dass sie mit der Beschäftigung mehr und mehr unglücklich war. Ausgehend von diesem Umstand beschreibt sie einen organisch gewachsenen Entscheidungsprozess, der als intuitive Auseinandersetzung mit dem Bedürfnis nach Aufbruch markiert wird. Linkerhand verzichtet dabei auf (retrospektive) Rationalisierungsversuche in Rahmen der Interviewsituation. Das Identifizieren der eigenen Wünsche stellt jedoch offenbar eine Herausforderung dar. Ausdrücklich thematisierbar ist einerseits der Wunsch nach einer erfüllenden Arbeit, d.h. nach einer Arbeit, die weit über den bloßen Broterwerb hinaus einen sinnvollen Lebensinhalt bietet. Andererseits expliziert Linkerhand eine Grundrastlosigkeit, in der sich auch ein Zwang zur Suche nach Erfüllung ausdrückt bzw. Ungeduld und Unzufriedenheit mit Strukturen, die das Gefühl vermitteln, die persönliche Entfaltung einzugrenzen. Wodurch sich Erfüllung und Entfaltung realisieren lassen, bedarf jedoch der Recherche und Selbstbefragung und bleibt letztendlich vage: Im Zentrum der Narration steht das Neue an sich, die Einverleibung bzw. Aneignung neuer Sachen, wobei die Konkretisierungen studieren und in ein anderes Ausland gehen weniger auf Inhalte verwei-
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sen als vielmehr Möglichkeitsräume umreißen, in denen das Sammeln andersartiger Erfahrungen realisiert werden kann, die also Orte der Aneignung von Neuem darstellen. Das Umherziehen und Erschließen neuer Kontexte scheint dabei maßgeblich für die Entdeckung neuer, erfüllender Inhalte. Die Herausforderung liegt nicht nur im Finden solcher (Lebens-)Inhalte, sondern auch im angemessenen Umgang mit der Freiheit des Suchprozesses: Das Arbeitsverhältnis aufzugeben und damit die Struktur aufzulösen, die Linkerhand an Ort und Stelle hält, ermöglich einerseits die Freiheit des ungebundenen Umhertreibens bis ein neuer Anknüpfungspunkt gefunden ist, es birgt aber auch die Gefahr des sich Verlierens. Im Lebensentwurfstypus ›Drift‹ steht also nicht (nur) das ziellose Schweifen und Suchen im Zentrum – ebenso wesentlich ist das Finden und Aneignen sinnvoller Themen und Inhalte. Gründerinnen, die im Rahmen des Typus ›Drift‹ orientiert sind, beziehen Diskontinuität als zentralen Aspekt ihrer Lebensentwürfe ein. Auf diese Weise brechen sie mit den Konventionen der biografischen Erzählung: Wie Bourdieu (Bourdieu 1998b: 75, H.i.O) herausarbeitet, beschreibt der common sense das Leben »als Weg, Straße, Bahn samt Kreuzungen […] oder als Wanderung, also als Fahrt, Lauf, cursus, Übergang, Reise, gerichteten Verlauf, lineare, in nur eine Richtung gehende Bewegung (›Mobilität‹) mit einem Beginn (›Eintritt ins Leben‹), verschiedenen Etappen, einem Ende im doppelten Sinne von Endpunkt und Ziel«. Diesem Topos der (narrativen) Kontinuität in der Darstellung und Wahrnehmung des eigenen Lebens sind die Gründerinnen offenbar nicht verpflichtet – sie zentrieren vielmehr den Bruch mit Vergangenem und radikalisieren diesen, indem sie die Möglichkeit, immer wieder alles hinter sich zu lassen als Wert an sich bzw. als allgemeines Orientierungsmuster geltend machen. In diesem Sinne produziert der Typus ›Drift‹ einen ostentativ alternativen Lebensentwurf gegenüber dem konventionellen, am common sense orientierten Entwurf der Elterngeneration und gegenüber dem auf planvolle Kontinuierung ausgerichteten Entwurf des Typus ›Pfad‹. Dies drückt sich auch in der folgenden Erzählpassage der Gründerin Johanna Müller aus: »Also, ich glaube, dass ich ja nie in meinem Leben irgendwie so vorgegangen bin, dass ich mir besondere Pläne gemacht hätte, dass irgendwas so oder so SEIN muss, sondern, ich glaube, das war eine Gelegenheit, die sich ergab. Ich war ja Chefredakteurin, angestellt, und hatte dann mit der Wirtschaftsförderung zu tun, und die hatten einen Auftrag, der mich sehr gereizt hat, den man aber hätte eben als Selbstständiger erfüllen müssen. Und dann hab ich gedacht, dass mich dieser Auftrag sehr reizt und dass ich dazu Lust hätte und dass es eigentlich mal wieder Zeit wäre, was anderes zu machen, weil ich jetzt eben schon so lange diesen Job da hatte.« (Müller 01/17-24) Auch hier zeigen sich sowohl ein inhaltliches Interesse als auch die grundsätzliche Orientierung am Aufbrechen zu neuen Ufern als wesentliche Antriebskräfte, die keineswegs rational, sondern in affektiver Weise adressiert werden. Zudem wird deutlich, dass verlockende Gelegenheiten die Richtung der Selbstentfaltung bestimmen. Anders als im Rahmen des Typus ›Pfad‹, wo die Öffnung von Kontingenz bzw. das Aufspannen verschiedener biografischer Anschlussmöglichkeiten in klar umgrenzte Entscheidungssituationen eingebettet wird, macht eine hohe Unbestimmtheit und weite Potenzialität gerade den Reiz von Arbeitskontexten aus: Der attraktive Auftrag, auf den sich Johanna Müller bezieht, hatte unheimlich viele Perspektiven und auch Chancen, in alle mög-
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lichen Richtungen (Müller: 4), wird also bereits in sich als polyvalent und multioptional charakterisiert. Wie im Rahmen des Typus ›Pfad‹ bildet nicht die Selbstständigkeit an sich den Fluchtpunkt des Lebensentwurfs. Während dort jedoch die Gründung als (beste) Möglichkeit zur Kontinuierung des Lebenswegs wahrgenommen wird, bedeutet sie hier einen strukturellen Ort der Erschließung sinnvoller Lebensinhalte: da stand nicht die Selbstständigkeit im Vordergrund, sondern im Vordergrund stand diese Aufgabe, und die vertrug sich nicht mit dem, was ich bisher tat. (Müller: 4) Die neue berufliche Ausrichtung wird weniger als Herausforderung, sondern vielmehr als Aufgabe begriffen, und zwar als eine Aufgabe, die nicht nur durch die berufliche Selbstständigkeit ausgefüllt wird, sondern die zugleich das Potenzial birgt, das gesamte Leben mit sinnvollen Inhalten zu füllen. Nicht die Karriereentwicklung, sondern sinnvolle (Lebens-)Inhalte und persönliche Erfüllung treten als zentrale Anforderungen an das Berufsleben hervor. Anders als dies der Elterngeneration zugeschrieben wird, beanspruchen die Gründerinnen für sich eine Arbeit, deren Bedeutung über den reinen Broterwerb wie auch über das arbeitsteilige Erbringen eines betrieblichen oder volkswirtschaftlichen Beitrags hinausweist: das, glaub ich, hat sehr viel mit so nem . hm, weiß ich gar nicht, wie man das dann nennt, aber mit so ner Vorstellung vom eigenen Leben zu tun, oder mit nem, dass mir das unheimlich wichtig ist in meinem Leben, dass ich den Eindruck hab, ich mach sinnvolle Dinge. Und der Sinn ist dann schon recht stark bemessen an . also entweder sozial Sinn, politisch Sinn, im Sinne von: sich einsetzen für die Gemeinschaft oder so was. (Berg: 12) Damit richtet sich der Lebensentwurf im Rahmen des Typus ›Drift‹ gegen eine als entfremdend empfundene Arbeit. Diese wird vielmehr als (potenziell) sinnstiftendes Moment aufgewertet und nicht so sehr rational, sondern vor allem emotional erschlossen: Ja, und das ist sozusagen, vielleicht auch ein zentrales Thema meiner Selbstständigkeit, dass das halt ICH persönlich als hohes, hohes Gut ansehe, wenn man im Leben etwas findet, was einem Spaß macht, eine Tätigkeit macht, was einem Spaß macht und einen erfüllt und wo man auch noch Geld mit verdienen kann. (Sachs: 37)
Das Leben als Aufschichtung von Erfahrungen Mit dem an Neuheit, persönlicher Entfaltung und dem Entdecken interessanter Lebensaufgaben orientierten biografischen Umherschweifen der Gründerinnen bilden sich komplexe berufliche Werdegänge. Diese unterscheiden sich deutlich von klassischen Karrierevorstellungen der organisierten Moderne: »Ich hab ne grafische Ausbildung gemacht, also so ganz normal eine handwerkliche Ausbildung die drei Jahre dauert, und hab dann danach mehr oder weniger so rum gejobbt als eigentlich Selbstständige, aber nicht bewusst ins selbstständig gehende, sondern damals hab ich mir überhaupt keine Gedanken drüber gemacht, sondern da war halt die Ausbildung zu Ende und dann . Also dass das ein eigener Status ist und so was, das war mir damals überhaupt nicht so richtig klar, hat mich glaub ich auch nicht so richtig interessiert. Und dann hab ich ja angefangen zu studieren und hab dieses Philosophiestudium gemacht und hab dann jetzt nach dem Philosophiestudium wieder den mehr oder weniger bewussten Schritt in die Selbstständigkeit gemacht.« (Berg 01/12-21) In der Textpassage dokumentiert sich eine Distanz zu Karriereüberlegungen im Desinteresse am formalen Berufsstatus: Die bürokratische Form und Struktur der Arbeit gerät in diesem Orientierungsrahmen zur Nebensache. Im Schnittfeld dieser Distanz
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zu Berufskarrieren und dem Wunsch nach neuen Aufgaben entsteht eine relativ hohe Kontingenz des Lebensverlaufs, die von den Gründerinnen auch narrativ markiert wird. Der Wechsel von der handwerklichen Ausbildung in die Phase des ›Jobbens‹, sodann ins Studium und schließlich in die Selbstständigkeit wird erzählerisch keiner bestimmten Logik unterworfen: Weder ein persönlicher Plan, noch berufsbiografische Konventionen oder strukturell aneinander anschließende Karrierepassagen werden zur Begründung des Werdegangs angeführt, dieser wird vielmehr als bunter Strauß an Erfahrungen präsentiert. Während die Ausbildung noch als ›normale‹ Position einschließlich des hierfür üblichen Zeitrahmens charakterisiert wird, lösen sich die formalen Aspekte der biografischen Stationen zusehends auf: Dies drückt sich nicht nur in der expliziten Distanznahme gegenüber dem Status als Selbstständige aus – selbst die zweite Selbstständigkeit wird nur als mehr oder weniger bewusster Schritt unternommen – sondern auch im sparsamen Einsatz zeitlicher und räumlicher Verortungen. Die einzelnen Erfahrungen fließen ineinander; wenn ein Faden endet, wird ein anderer aufgegriffen. Die formalen beruflichen Stationen treten im Rahmen des Typus ›Drift‹ in den Hintergrund. Sie ergeben sich im Laufe des Lebens und sind die Räume, in denen Interessen entfaltet und Erfahrungen gesammelt werden. Dabei verweisen die Gründerinnen auf deren Unvorhersehbarkeit und sogar Willkür: Aber das war tatsächlich alles mehr so zufällig geworden (Berg: 2). Das bewusste Offenhalten der Zukunft verlangt einerseits Aufgeschlossenheit in verschiedene thematische und institutionelle Richtungen, andererseits auch Vertrauen in die Anschlussvielfalt der eigenen Lebenswelt: Die Gründerinnen verlassen sich (implizit) darauf, dass ihr Lebensentwurf, der sich in ganz verschiedene Kontexte ausdehnt und die Anhäufung sehr diverser Kompetenzen und Erfahrungen bedeutet, immer an irgendeiner Stelle interessantes Neues erschließbar macht und zugleich eine Einbindung in den Arbeitsmarkt ermöglicht. »Und das ist eine Erfahrung, die ich eben auch in meinem Berufsleben gemacht hab, ob nun selbstständig oder nicht, es ging auf. Es geht irgendwie immer auf. Die komischsten Dinge passieren, und irgendwie kommt dann aber was, wo man denkt, das ist Zufall, aber ich glaub, man hat diese Struktur schon lange vorher angelegt, kommt jemand und hilft einem, oder es kommt ein Anruf und man kriegt eine Info, die alles rettet, oder es kommt sowieso alles anders, als man glaubt und denkt.« (Kunze 10/44-11/03) Zwar rekonstruieren die Gründerinnen das Zustandekommen ihrer gegenwärtigen und vergangenen kontextuellen Einbindungen als relativ zufällig, jedoch dokumentiert sich dabei keineswegs ein passives Selbstverständnis: Es sind ihre Erfahrungen, Interessen, Kompetenzen und nicht zuletzt auch Kontakte, die den Wechsel in einen neuen Kontext überhaupt realisierbar machen. Dabei zeigt sich eine weitere wesentliche Herausforderung dieses Lebensentwurfs: Die unterschiedlichen Erfahrungen, die in den verschiedenen Arbeits- und Lebenskontexten gemacht, sowie die diversen Themen und Interessen, die erschlossen werden, können nicht einfach wieder abgelegt oder verworfen werden. Zwar können Arbeitsstrukturen oder auch geographische Orte aufgegeben werden, Erfahrungen und Interessen sind jedoch nicht eingeschlossen, wenn es darum geht, wieder alles hinter sich lassen und was ganz Neues zu machen (Linkerhand: 1). Da der beständige Wunsch nach Neuem sowie die Diskontinuität und Kontingenz des Lebens-
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verlaufs eine große Spannweite an Erfahrungen entstehen lassen, stellt sich für den Typus ›Drift‹ das Problem der Integration: »Hm, bin ich jetzt Graphikerin? Nee, eigentlich bin ich auch Philosophin. Und aber nur Philosophin bin ich auch nicht – und so halt. Und dass ich schon irgendwie so ein bisschen den Ehrgeiz hab, das dann alles wo rein zu packen. Wo dann meine ganzen TOLLEN Seiten so richtig, weißt Du, zusammenfließen und, weiß auch nicht. Und das glaub ich wiederum, das hat schon ganz viel mit Vorstellung von Berufstätigkeit und wie man sein Leben so mit Sinn füllt überhaupt zu tun.« (Berg 12/36-42) Das Selbstbild der Gründerinnen lässt sich (auch narrativ) nicht auf eine Richtung – etwa auf eine einzelne biografische Station oder auf ein Themengebiet – festlegen. Damit konterkarieren sie einen weiteren Aspekt des common sense über biografische Konstruktionen, wonach das Erzählen einer Lebensgeschichte immer auch den (impliziten) Versuch darstellt, eine konsistente und homogene Identität der Protagonistin bzw. des Protagonisten zu produzieren (Bourdieu 1990). Jene Gründerinnen, die in hohem Maße dem Typus ›Drift‹ entsprechen, bestehen jedoch gerade auf das Entfalten unterschiedlicher Interessen und das Finden neuer Themen als identitätsstiftende Momente. Es ist gerade die Vielzahl heterogener und wenig kompatibler Erfahrungen, die das Selbstbild der Gründerinnen bestimmt, weshalb es notwendig ist, die verschiedenen Interessen und Kenntnisse beständig als Teil des Lebens zu aktualisieren. Entsprechend werden gesammelte Erfahrungen im Rahmen dieses Lebensentwurfstypus explizit erhalten und von Ort zu Ort mitgenommen. Sie schichten sich zu einem komplexen Gefüge unterschiedlichen Wissens und Könnens auf, das von Kontext zu Kontext anwächst und sich dynamisch in verschiedene Richtungen entfalten kann – je nachdem, wo sich eine reizvolle Aufgabe oder ein interessantes Thema auftut. Die (wachsende) Herausforderung besteht nun jedoch in der Herstellung einer basalen identitätsbezogenen bzw. lebensgeschichtlichen Konsistenz, d.h. in der Basisintegration der unterschiedlichen Erfahrungen. Das Zusammenfließen-Lassen aller geschätzten (tollen) Facetten des Selbst weckt einerseits Ehrgeiz, gerät andererseits jedoch mit jeder biografischen Station zu einer komplexer werdenden Aufgabe. Dies zeigt sich etwa in der Unentschiedenheit hinsichtlich der identitätsstiftenden Erfahrungen und der mäandernden Selbstbeschreibung (bin ich jetzt Graphikerin? Nee, eigentlich bin ich auch Philosophin. Und aber nur Philosophin bin ich auch nicht). Nicht nur vor dem Hintergrund vielseitiger Interessen und diverser Möglichkeitsräume stellen daher biografische Entscheidungen eine ernsthafte Herausforderung dar. Sie bedeuten auch eine Ausweitung und zugleich eine partielle, zumindest zeitweilige Fixierung des Selbstbildes. Die Gründerinnen erzählen entsprechend von großen Entscheidungsschwierigkeiten, von Phasen, in denen sie sich gleichzeitig in unterschiedlichen Kontexten bewegen und von Eltern, Partner*innen oder Freundeskreisen, die als externe Instanzen Entscheidungshilfe leisten müssen. Dies hängt auch damit zusammen, dass Entscheidungen als Festlegungen, d.h. als das Schließen von Kontingenz wahrgenommen werden und dies – anders als im Rahmen des Typus ›Pfad‹ – weniger als Entlastung wahrgenommen wird, sondern vielmehr Beunruhigung auslöst:
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»Was mach ich denn jetzt eigentlich? Und das irgendwie nicht…, ja, ich weiß auch nicht, dass das nicht…, ich glaub das ist halt so ne Verantwortung fürs eigene Leben übernehmen, ist jede Entscheidung eigentlich und das, glaub ich, macht es auch so schwierig, aber das ist auch schon…, also das fällt mir oft schwer glaub ich.« (Berg 13/11-14) Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ werden Entscheidungen nicht im Horizont eines kontinuierlichen Lebenswegs getroffen, den es schlüssig weiterzuentwickeln gilt, und sind auch nicht durch ein rationales Abwägen zuvor festgelegter Alternativen strukturiert. Vielmehr werden sie als thematische, lebensinhaltbezogene Grundsatzentscheidungen unter großer Ungewissheit hinsichtlich künftiger Entwicklungen und potenzieller Alternativen getroffen. Sie bedeuten nicht zuletzt einen Ausschluss potenziell interessanter Themen. Ein wesentlicher Ansatz dieses Lebensentwurfstypus ist es also, Entscheidungen eher zu vermeiden und Strukturen zu finden oder mit hervorzubringen, in denen sich die gesammelten Erfahrungen integrieren lassen: »Also ich hab Interkulturelle Pädagogik studiert und war eigentlich in dem ganzen Studium wenig mit den Menschen meines Studiums zusammen, sondern hauptsächlich mit Slawisten. Weil ich sehr, immer, ich hatte diesen Ostdrill. […] Und es war nicht des, was common sense war. Interkulturalität bedeutete doch irgendwie so Richtung Afrika, Lateinamerika und so. Und damit war ich mit den Themen, die ich hatte und das, was mich beschäftigte, glaube ich, es war so mein Nest, was ich da machte und womit ich mich inhaltlich beschäftigt hab. Also ich hab da auch nicht so zwangsläufig Anschluss gefunden oder so. Mir waren aber meine Themen wichtiger als der Anschluss, also des vielleicht dann auch so was. […] Aber trotzdem war das ja nicht des Pädagogische, sondern es war ja wieder dieses Linguistische. Also musste ich immer für mich schauen, also schon immer dieses eigene Häuschen bauen, so, weil ich nirgendwo so richtig reinpasste.« (Linkerhand 04/12-29) In dieser Passage verweist Martha Linkerhand in zweifacher Hinsicht auf eine persönliche Konstruktionsleistung: Einerseits deutet sie in ihrer Darstellung den Studiengang der interkulturellen Pädagogik gegen den common sense um und rückt gegen die Anlage des Studiums eine andere, gemeinhin ausgeklammerte Interkulturalität ins Zentrum ihres Interesses. Andererseits muss sie zu diesem Zwecke Strukturen suchen und Orte schaffen, an denen diese individuelle Form der interkulturellen Pädagogik studierbar wird. In der Erzählung deutet sich dabei die Einsamkeit an, die für Linkerhand mit dieser Individualisierung einhergeht und die es auszuhalten gilt. Die persönliche thematische Orientierung wird dabei als Nest oder Häuschen beschrieben, als etwas also, das es zu bauen gilt und das zugleich Geborgenheit ausstrahlt. Das Einschließen in eine eigene Themenwelt und zugleich das mangelhafte Anschließen an den studentischen Kontext wird jedoch durchaus ambivalent thematisiert – zumindest stellt es sich als etwas Erklärungsbedürftiges dar (Mir waren aber meine Themen wichtiger als der Anschluss, also des vielleicht dann auch so was). Hier zeigt sich eine grundlegende Antinomie des Lebensentwurfstypus ›Drift‹, die einer beständigen Bearbeitung durch die Gründerinnen bedarf: Der Lebensentwurf wird als hochgradig individuelles Gefüge hervorgebracht und zwar nicht nur aufgrund der Integration diverser Themen und persönlicher Interessen, sondern auch, weil die Gründerinnen im Zweifelsfall die Kontexte aktiv mitgestalten, in
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denen sie ihren Interessen nachgehen können. Zugleich wird dabei dauerhaft ein Problem der kontextuellen Anschlussfähigkeit und Passung mit hervorgebracht. In dieser Hinsicht ist der Lebensentwurf dieses Typus prekär.
Das Verhältnis von Innen und Außen Wie im vorangegangenen Kapitel bereits angeklungen, entsteht die Drift-Bewegung, die diesen Lebensentwurfstypus auszeichnet, in einem spezifischen Verhältnis persönlicher Entfaltungsprozesse und kontextueller (Gelegenheits-)Strukturen. Das (innerliche wie äußerliche) Umherziehen der Gründerinnen ist zugleich eine Suche nach erfüllenden Themen und nach Kontexten, in denen diese Themen entfaltet und zwecks Arbeitsmarktintegration in einen formalen Status verwandelt werden können. Bei der Suche und Herstellung von Passungsverhältnissen ist dabei entscheidend, in welchem Ausmaß die Gründerinnen vormalige Interessen hinter sich lassen.
Gelegenheitsstrukturen und organische Passung Die Gründerinnen sind in hohem Maße auf die Passungsverhältnisse zwischen potenziell zu erschließenden Aufgabengebieten und ihren persönlichen Interessen orientiert: In ihrer Wahrnehmung passen Themen und Kontexte, die ihnen begegnen bzw. in denen sie sich befinden mehr oder weniger gut oder auch gar nicht zu ihrer Persönlichkeit7 . Sie werden dann als mehr oder weniger sinnstiftend oder uninteressant, als bedrückend oder befreiend empfunden. Wie gesehen, zeichnet sich der Typus ›Drift‹ durch eine relativ geringe Toleranz gegenüber (für sie) uninteressanten Aufgaben, sowie gegenüber Kontexten aus, die sie daran hindern, ihre Interessen zu entfalten. Auf der anderen Seite dokumentiert sich in den Erzählungen eine große Offenheit und Aufmerksamkeit gegenüber Neuem, wie auch gegenüber Gelegenheiten in Form unerwarteter Aufgaben und Kontexte. »dann hab ich nämlich noch angefangen Kriminologie zu studieren, da war ich nämlich voll auf ’m, dacht’ ich, jetzt, jetzt mach ich hier an der Uni Karriere . Und das hat mich dann halt auch interessiert, und ich dachte ja immer so, ach mit meiner Geschichte, Kriminologie passt auch irgendwie, mit den subversiven Elementen, da hab ich mich ja so ein bisschen, kenn’ ich mich ein bisschen aus, und hat mich auch irgendwie interessiert und da kam dann aber irgendwie halt auch nur, also man musste halt schon ein abgeschlossenes Studium haben und eine Empfehlung und so, und das muss halt irgendwie passen, und dann hab ich da auch einen Platz gekriegt und hab eben aber parallel, weil dann doch wieder, als der Gelderwerb auch wieder wichtig wurde, angefangen zu arbeiten. Und das ging irgendwann nicht mehr, dann kriegte ich da halt die Leitungsstelle und musste mich entscheiden, weil das schon wieder so ein EndlosStudium zu werden drohte und dann dachte ich, ne, das mach ich jetzt nicht nochmal. Und in der Zwischenzeit hat sich dann eben auch bei MIR herauskristallisiert, dass Kriminologie nicht 7
Dies gilt wohlgemerkt für die Wahrnehmung der Gründerinnen. Aus praxistheoretischer Sicht entstehen Passungsverhältnis zwischen Kontexten und habituellen Dispositionen unweigerlich in der praktischen Bezugnahme. Insofern darf Passung hier nicht als besondere Qualität einer Beziehung missverstanden werden, vielmehr wird sie beständig und in verschiedenster Form in jeglicher sozialen Praxis mit hervorgebracht (Schwarz et al. 2019).
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mehr das Thema ist. Ich bin dann eben, also hab parallel Kriminologie studiert und hab bei diesem Bildungsträger mit benachteiligten Jugendlichen gearbeitet, da passte das noch. Und dann bin ich aber selber in so ein Förderprogramm gekommen, bei diesem, bei meinem Arbeitgeber für junge Nachwuchs-Führungskräfte und hab DA entdeckt, Personalentwicklung, das ist das, was mich wirklich interessiert. Und hab dann auch mit der Personalabteilung, haben die so, haben die so Workshops gemacht und so und dann hab ich gesagt und führen und leiten, Bereichsleitung, das find’ ich auch, Mitarbeiterführung find’ ich viel interessanter als, also diese, irgendwann hat mich das halt nur noch genervt, diese subversiven Elemente, weil ich irgendwie dachte so, das müsste jetzt . Ich hatte halt damit abgeschlossen, das passte nicht mehr. Und . Ja, und dann, dann hab ich eben Kriminologie, hab ich mich ausgeschrieben und hab mich dann eben darauf konzentriert. Und war dann eben Bereichsleitung. Und das, wie gesagt, war ja inhaltlich auch gut, aber eben von den Strukturen dann irgendwann nicht mehr das Richtige. […] Und währenddessen hab ich dann halt schon immer versucht mich zu bewerben und hab gedacht, ich will aber auch aus diesem sozialen Bereich raus, ich glaube, weil ich dann irgendwann für mich einfach gesagt hab, so, das ist es jetzt irgendwie so GAR nicht mehr, ne. Und das hat aber irgendwie auch nicht funktioniert, und die Arbeit selber, wie gesagt, hat mir ja auch Spaß gemacht. Na ja, und dann bin ich halt schwanger geworden, also das, wir wollten halt auch Kinder, und das wurde dann irgendwann auch Zeit [lachend] und passte irgendwie einfach auch, passte so, passte sogar ideal. (Sachs 36/15-37/21) In dieser Passage, die eine Fülle unterschiedlicher Passungsverhältnisse adressiert, dokumentieren sich die komplexen Wechselverhältnisse von thematischen Interessen, sinnstiftenden Aufgaben und Kontextstrukturen: Als wesentlich für die Aufnahme des Kriminologiestudiums werden sowohl eine inhaltliche und biografische als auch eine formale und strukturelle Passung angeführt. Der Rekurs auf all diese Übereinstimmungen lässt das Studium rückblickend als ein ungeplantes, aber stimmiges Projekt erscheinen. Gleichwohl unterstreicht die unbestimmte Erzählweise (›passt auch irgendwie‹, ›kenn ich mich ein bisschen aus‹) die Kontingenz der Wahl – das Studium ist eine passende, aber nicht etwa schicksalhafte Gelegenheit. Es wird als ein Ort rekonstruiert, an dem Interesse und günstige Strukturen zusammenfließen und möglicherweise sogar in eine (Uni-)Karriere einmünden. Allerdings fehlt es dem Kontext an Erwerbsmöglichkeiten, weshalb Karin Sachs parallel in ein Arbeitsverhältnis eintritt. Hier zeigt sich nun die Fluidität des Lebensentwurfs: Zwar rekonstruiert Sachs einen thematischen Bezug zwischen der Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen und dem Studium der Kriminologie, mit dem Betreten des neuen Kontextes begegnen ihr aber auch neue Themen, die ihr Interesse wecken. Neben das Interesse an Subversivität tritt ein Interesse an Personalentwicklung und löst dies sukzessive ab. Es wird also nicht als Doppelinteresse weitergeführt, wie dies etwa bei Jana Berg der Fall ist, die sich gleichermaßen als Grafikerin und Philosophin versteht. Zugleich – so ließe sich feststellen – ist die Entscheidung gegen die Kriminalistik und für die Personalentwicklung mit Blick auf die (sich unmittelbar bietenden) Karrieremöglichkeiten durchaus rational. Jedoch drückt sich bereits im lakonischen Statusbericht (Und war dann eben Bereichsleitung), der sogar auf Personalisierung verzichtet, das distanzierte Verhältnis zu formaler Statuierung aus.
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Ebenso deutlich zeigt sich diese Distanz in der Rekonstruktion einer Passungsproblematik, die sich mit der Arbeit als Bereichsleiterin einstellt: Zwar besteht eine inhaltliche Passung zu den persönlichen Interessen, die (Arbeits-)Strukturen beschreibt Karin Sachs als dann irgendwann nicht mehr das Richtige. In dieser Formulierung drückt sich eine relationale und dynamische Wahrnehmung der Kontexte aus: Sie werden nicht allgemein bewertet, sondern in Bezug auf die gegenwärtigen persönlichen Ansprüche als mehr oder weniger passend erfasst, wobei sich dieses Verhältnis offenbar im Laufe der Zeit verändern kann. Im Gefüge persönlicher Interessen und Leidenschaften und wechselnder Kontexte mit variierenden Themen und Aufgaben wird das Finden und Herstellen günstiger Passungsverhältnisse zum erfolgskritischen Moment auf der Suche nach sinnstiftender Arbeit. Anders als im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹, kann es dabei nicht um die Reduktion und Kontrolle von Komplexität und Kontingenz gehen. Vielmehr bilden größtmögliche Zukunftsoffenheit und Flexibilität die Basis dieses Lebensentwurfs. Das Zurechtlegen von Plänen und das rationale Abwägen nächster Schritte scheinen also keine geeigneten Strategien im Umgang mit der Welt zu sein – als Instrumente der Kontingenzreduktion schränken sie künftige Entfaltungsmöglichkeiten zu sehr ein. In den Narrationen der Gründerinnen dokumentiert sich hingegen eine eher intuitive Bewegung: So führt Karin Sachs in ihrer Erzählung keine Gründe für das Auftauchen und Verschwinden von Interessen und nur wenige Anhaltspunkte für die Passung bzw. Nicht-Passung von Kontexten an. Eine Rationalisierung des Lebensverlaufs bleibt nicht nur aus, sie wird durch den vagen Erzählstil und den Einsatz von Gefühlslagen als Bewertungsmaßstab (hat genervt, hat Spaß gemacht) konterkariert. Das Leben zeigt sich in dieser Erzählung als ein Gefüge beständig in Bewegung befindlicher Passungsverhältnisse, als ein organisches Entstehen und Vergehen von Schnittpunkten zwischen persönlichen Interessen und inhaltlichen Anschlussmöglichkeiten der Kontexte. Karin Sachs erspürt dabei in erster Linie, welche Interessen akut, welche Kontexte angenehm und welche Aufgaben erfüllend sind. Dieser intuitive Zugang erhält – bei größtmöglicher Zukunftsoffenheit – die Handlungsfähigkeit der Gründerinnen dieses Lebensentwurfstypus: »Und ich könnte mir auch vorstellen, wenn es die Möglichkeit gibt, in einem Stelle oder Projekt zu arbeiten, mit dem ich mich inhaltlich identifizieren kann, was für mich stimmig ist und mir auch den Rahmen bietet, mich selbstständig da zu bewegen. Also selbst da, würde ich auch nicht sagen: ›nee, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen‹. Also, das heißt, dass ich mir schon auch Alternativen vorstellen kann, aber es ist für mich müßig, die jetzt alle aufzuzählen. Sondern ich werde dann an der Stelle halt entscheiden. Im Moment winkt mir nichts Anderes, was für mich lukrativer oder besser wäre als das, was ich gerade versuche. Das ist für mich total stimmig und dann geh ich so weit, bis ich an den Punkt komme, wo’s nicht mehr stimmig ist. Und alles andere finde ich, ist halt son bisschen hypothetisch. Aber ich würde NICHT kategorisch sagen, dass es nichts Anderes gäbe.« (Linkerhand 34/26-37) Auch in dieser Erzählpassage zeigt sich Passung als Fluchtpunkt biografischer Überlegungen: Im Zentrum steht die Stimmigkeit von Arbeitskontexten, d.h. in Anstellungsverhältnissen (wie auch in der Selbstständigkeit) müssen inhaltliche Identifikation, Bewegungsfreiheit gewährleistende Strukturen und Verdienstmöglichkeiten harmonisch (stimmig) ins Verhältnis gesetzt werden. Zudem dokumentiert sich hier deutlich eine
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implizite Strategie, mit der im Rahmen des Typus ›Drift‹ Komplexitätsreduktion betrieben wird – nämlich ein strikter Rekurs auf die Gegenwart: Da sowohl die Kontexte als auch die persönlichen Interessen der Gründerinnen in ihrer Wahrnehmung von hoher Dynamik und Kontingenz sind, ist es nahezu unmöglich, längerfristige Zukunftsentwürfe oder gar alternative Entwicklungspfade zu entwerfen. Die Gründerinnen orientieren sich daher vor allem an gegenwärtigen Gelegenheiten, die sie vornehmlich intuitiv bzw. affektiv erschließen. Entsprechend ist es aus Martha Linkerhands Perspektive ›müßig‹ (und im Grunde auch nicht möglich), alle Alternativen, die sich in einer Situation bieten, aufzuzählen. Sie lehnt dies als hypothetisierende und spekulative Betrachtung ab. Wesentlich ist für Linkerhand, dass sich aktuelle (nicht potenzielle) Situationen stimmig und erfüllend gestalten. Damit wendet sich dieser Lebensentwurf implizit auch gegen eine konstant prospektive, auf Dauer gestellte Steigerungslogik. Gegenwärtige Lebenskonstellationen werden – wenn sie harmonisch sind – nicht durch das Ausmalen noch attraktiverer Situationen überboten. Die Gründerinnen verbleiben mit ihrer Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Dies gilt auch – zumindest teilweise – hinsichtlich der Vergangenheit: Wie die Erzählpassage von Karin Sachs verdeutlicht, kommt es durchaus vor, dass Interessen verblassen. Es zeigen sich daher Unterschiede in der Adressierung jener Interessenbereiche, die für ihre gegenwärtige Situation nach wie vor von Relevanz sind, und jener Bereiche, mit denen Sachs (vorläufig) abgeschlossen hat. Während Kriminologie – als abgeschlossenes Interessengebiet – als irgendwie interessant charakterisiert wird, handelt es sich beim Personalwesen um einen Bereich, der sie wirklich interessiert. Entsprechend wird im Laufe der Interviewpassage die Personalarbeit mit verschiedenen Inhalten konkretisiert: Kunze berichtet von Programmen und Workshops, in denen sie ihre Affinität für diesen Themenbereich entdeckt und nennt konkrete Aufgaben, die sie reizen (führen und leiten, Bereichsleitung, Mitarbeiterführung). Im Gegensatz dazu bleibt das Thema Kriminologie relativ unbeleuchtet und wird eher über die vergangenen biografischkontextuellen Passungsverhältnisse adressiert (Kriminologie passt auch irgendwie, mit den subversiven Elementen; Ich hatte halt damit abgeschlossen, das passte nicht mehr).
Selbstständigkeit als Verlegenheitsstruktur und das gezielte Arbeiten an Passung Was aber geschieht, wenn sich die Interessen der Gründerinnen nicht überleben und die Komplexität des dynamischen identitätsstiftenden Gefüges aus Erfahrungen und Lebensaufgaben potenzieren? In der Erzählung von Karin Sachs wird deutlich, dass sich das Interesse an Kriminologie nicht aus einer bewussten Entscheidung heraus legt, sondern es vielmehr langsam und selbstläufig abklingt (in der Zwischenzeit hat sich dann eben auch bei MIR herauskristallisiert, dass Kriminologie nicht mehr das Thema ist). Wie bereits herausgearbeitet wurde, bleiben den Gründerinnen jedoch nicht selten verschiedene, durchaus disparate Interessen erhalten, die sie dann in ihren Selbstverständnissen und Lebensentwürfen zu integrieren suchen. Dies bedeutet eine besondere Herausforderung für das Finden passender Kontexte, in denen die Gründerinnen mit ihren Interessen auch Geld verdienen können.
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»Ich guck wie man das Ganze profilieren könnte und so was. Das ist aber nach wie vor in so einem Prozess, dadurch dass ich so eine-, wie soll man sagen, so eine Ausbildung, oder so Qualifikationen hab, die so in der Schere so weit auseinander gehen, hat das relativ lang gedauert jetzt, bis ich überhaupt-, obwohl ich selbstständig bin, wie der Status halt heißt, mir irgendwas zu suchen, was eine Schnittmenge von dem Ganzen sein könnte. Und geh jetzt momentan in so ne Ausstellungs- Museumsrichtung. Das heißt, eigentlich war es-, das war nie so ne, also das was ich sagen wollte, das war eigentlich gar nicht so eine RICHTIG bewusste Entscheidung und die ist eigentlich nach wie vor noch nicht so richtig gefallen. Also ich würd, wenn ich einen Job kriegen würde, der fest ist, dann würd ich das machen. Das ist aber wahrscheinlich-, das kenn ich von ganz vielen Selbstständigen Freunden und Freundinnen, dass das natürlich so ist, dass diese ganzen, alles was damit einhergeht, nämlich eigentlich ständige Akquise machen müssen, sich dauernd Gedanken machen zu müssen darüber, was sind meine Stärken und Schwächen, was könnte das Profil sein, wie geh ich denn damit an die Öffentlichkeit, was ja dann auch immer die Fragen in diesen Gründerinnenseminaren sind. Also wie bau ich mir was, was in der Öffentlichkeit als irgendwie vorstellbar ankommt. Das ist also total-, also grad je mehr Qualifikationen und Interessen man hat, desto schwieriger wird das, weil man alles immer noch so versucht so rein zu packen und dann, na ja, weiß auch nicht.« (Berg 01/24-42) Jana Berg beschreibt ihre Situation mit dem Bild einer auseinandergehenden Schere, in deren Spannweite sich die gesammelten Erfahrungen als Qualifikationen und Interessen einfinden und mit jedem weiteren Erlebnis vermehren. Ähnlich wie sich dies in der vorangegangenen Erzählung von Karin Sachs dokumentiert, entwirft auch Jana Berg in ihrem Interview einen Lebensverlauf, der von persönlichen Interessen, Gelegenheiten und Zufällen bestimmt ist – z.B. beginnt sie die Ausbildung, weil’n Freund von mir ne Ausbildung gemacht hat und ich das einfach ganz cool fand. Und weil ich ja so viel so politische Initiativen mitgemacht hab […], da musst man halt immer irgendwelche Plakate und Flyer und so was machen und das fand ich irgendwie gut, das zu können (Berg: 34). An die Phase im Ausbildungsbetrieb schließt sich eine Phase des freiberuflichen Jobbens an, in der sie insbesondere über alte Kontakte immer wieder zu Aufträgen kommt. Parallel beginnt sie das Studium der Philosophie – eigentlich nur aus Spaß – und schließt dies ab, weil sich ein Stipendium ergibt. Im hier zitierten Erzählausschnitt dokumentiert sich nun jedoch eine Anschlussschwierigkeit, die sich aus der immer weiter anwachsenden Komplexität ihrer Interessen, Kenntnisse und Qualifikationen ergibt. Als einen passenden Kontext identifiziert sie momentan die Ausstellungs- und Museumsrichtung – dem sie sich zur Zeit des Interviews mit einem Aufbaustudium und ehrenamtlichen Projekten annähert. Vorerst findet sie jedoch kein passendes Anstellungsverhältnis, weshalb sie den Status als Selbstständige wählt. In der Erarbeitung einer Angebotsstruktur, d.h. in der Reflexion darüber, wie man das Ganze profilieren könnte, manifestieren sich nun die Probleme im Übereinbringen von Selbst und Welt: Nicht nur stellt es eine Schwierigkeit dar, den nicht abreißenden Strom an Erfahrungen und Qualifikationen in ein schlüssiges Gesamtbild zu integrieren, weil man alles immer noch so versucht so rein zu packen. Die mindestens ebenso gewaltige Herausforderung besteht darin, dieses Gesamtbild gesellschaftlich anschlussfähig zu machen, es also so zu konstruieren und zu präsentieren, dass es in der Öffentlichkeit als irgendwie vorstellbar ankommt. Die Selbstständigkeit wird als ein eher zufälliger for-
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maler Rahmen dargestellt (obwohl ich selbstständig bin, wie der Status halt heißt), als ein Mittel zum Zweck bzw. als strukturelle Konstellation, die den Raum für die biografische Konstruktionsarbeit bietet, diese aber nicht erleichtert. Nicht auf die Herstellung des formalen Status, sondern auf das Strukturieren, Formalisieren und ›Veröffentlichen‹ des Gesamtensembles persönlicher Erfahrungen und Interessen richten sich die Anstrengungen der Gründerin. Zwar ist der Gründerinnenstatus flexibel genug, um potenziell alle Interessensbereiche integrieren zu können, offenbar liegt aber gerade in der flexiblen und offenen Konstitution der Selbstständigkeit auch eine besondere Belastung: ständige Akquise machen müssen, sich dauernd Gedanken machen zu müssen darüber, was sind meine Stärken und Schwächen, was könnte das Profil sein, wie geh ich denn damit an die Öffentlichkeit. Die als besonders schwierig beschriebene Reflexions- und Konstruktionsleistung wird in dieser Erwerbsform auf Dauer gestellt und bildet sogar deren Kern (Selbstvermarktung). Die Selbstständigkeit entspricht also einerseits den Prämissen des Lebensentwurfs ›Drift‹, bedeutet aber andererseits eine besondere Anstrengung: also so Profilsuche spielt trotzdem ständig eine Rolle und der Vorsatz, seit einem Jahr, dass ich mir eine Internetseite mache, die dann auch immer daran scheitert, dass ich nicht so genau weiß, welches Profil hab’ ich denn jetzt eigentlich? Weil so weiß man schon nicht, was soll ich denn jetzt vorne in die zehn Zeilen Anreißtext, Vorstellungstext schreiben? (Berg: 6) Die Form des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ steht in einem Spannungsverhältnis zu den institutionalisierten und konventionalisierten Formen der Selbst- bzw. Laufbahndarstellung. Dies verdeutlichen bereits die elementaren darstellerischen Abweichungen gegenüber der ›biographischen Illusion‹ (Bourdieu 1990). Die Lebensentwürfe des Typus ›Drift‹ lassen sich schwerlich als Zehnzeiler darstellen, vor allem läuft aber bereits dieser Anspruch den Dispositionen der Gründerinnen zuwider. Nicht nur die Reduktion der persönlichen Interessen und Erfahrungen auf einen essenziellen Kern, sondern auch die lineare Projektion und die Idee prospektiv formulierbarer Ziele werden durch den Lebensentwurfstypus ›Drift‹ konterkariert: »da es ja nicht so mein Ziel war, selbstständig zu werden – […] es gab unheimlich viele Menschen auf meinen Weg, die mich nach da, nach da, nach da, nach da oder nach da beeinflusst haben oder Vorbilder waren oder so was, aber jetzt nicht irgendwas, wo ich sagen würde, ach, der war selbstständig und so selbstständig wollte ich auch gerne sein. Nee, überhaupt nicht. Das kam dann eigentlich später erst, also als ich auch realisiert habe, was ich da jetzt gemacht habe. Ich bin jemand, der sehr schnell handelt, ne. Ach ja genau, das machen wir, und hinterher guck ich mir dann an, was hast du denn jetzt gemacht, und dann guck ich, wie man es jetzt sozusagen in eine Geschichte rückwärts packen kann. (Müller 03/13-22) Hier dokumentieren sich erneut der intuitive Handlungsmodus und die multidirektionale Ausdehnung der ›Drift‹ (Menschen, die mich nach da, nach da, nach da, nach da oder nach da beeinflusst haben). Auch reflektiert Johanna Müller explizit die retrospektive Konstruktionsleistung, die mit dem Erzählen einer Lebensgeschichte verbunden ist. Diese Leistung markiert die Gründerinnen als persönliche Aufgabe, wenngleich sie dieses Unterfangen durchaus kritisch betrachten: »ich hab halt total viel unterschiedliche Sachen gemacht, das ist jetzt nun mal Fakt. Und dadurch, dass man dann, wenn man versucht, das in so ein Berufsprofil einzusortieren, dann find
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ich, wird das ganz schnell so, dass man rückwärtig die Sachen total entwertet. Also weißt Du, dass wenn ich mir denke: Okay, eigentlich wär’s ganz schlüssig, so ., also einfach eine Internetseite zu machen, für mich als Graphikerin. Dann ist natürlich dieses ganze Philosophiestudium, kann man sagen, also zumindest bezogen auf Berufsqualifikation, ist da total wurscht, weil das keine Sau interessiert. Und umgekehrt ist es natürlich genauso. Und deswegen ist auch glaub ich die Entscheidung ganz gut, tatsächlich irgendwie eine Verbindungsmöglichkeit von diesen ganzen Qualifikationen zu suchen, weil…, also man rutscht da so rein. Also es war auch damals so, dass ich das Studium, das hab ich aus Spaß angefangen und wollt’s eigentlich gar nicht zu Ende machen und hatte dann das Stipendium und hab mir dann gedacht: Ja, wenn ich es eh finanzieren kann, eigentlich macht es mir total Spaß, dann mach ich es halt fertig. Also das ist so eine Entscheidung im Werden gewesen, die ganze Zeit, und wenn man dann aber so stark über Berufsbilder nachdenkt oder anfängt so stark da drin zu denken, dann denkt man sich: Mei, wieso hab ich eigentlich nicht Graphik studiert? Zum Beispiel. Das wär doch viel besser gewesen. Was ja quatsch ist, weil jetzt ich es ja schon fertig hab. Also so mein ich mit der rückwärtigen Entwertung.« (Berg 05/42-06/13) Die Essentialisierung unterschiedlicher Interessen, Erfahrungen und nicht zuletzt auch Leistungen wird hier als eine rückwärtige Entwertung beschrieben, die vor dem Hintergrund rationalistischer Logiken – etwa in der Erwartung eines linearen, kohärenten Lebenslaufs – geschieht. Durch die Standardisierung und Klassifikation der Lebenserfahrung in Form von Berufsprofilen bzw. -bildern wird ein Einsortieren – gewissermaßen ein Schubladendenken – erzwungen, das den Gründerinnen widerstrebt und dass sie angesichts der Komplexität und Kontingenz ihres Lebensentwurfs als unangemessen empfinden. Dass Jana Berg sich und ihren Lebensverlauf nicht unbedingt als Ausnahme versteht, drückt sich in der Verallgemeinerung der Drift-Bewegung aus (also man rutscht da so rein). Die Passage lässt sich insgesamt als Kritik an konventionellen Lebensentwürfen und Zeitvorstellungen verstehen: Zum einen wendet sich Berg gegen die Vorstellung bestimmter Zeitfenster, in denen biografische Entscheidungen gefällt werden – sie versteht Entscheidungsfindung als kontinuierlichen Prozess bzw. als etwas, das permanent ›im Werden‹ begriffen ist. Zum anderen betont sie die Sinnlosigkeit einer retrospektiven Kritik an bereits erfolgten Schritten und versteht diese – angesichts der Unmöglichkeit, verändernd auf die Vergangenheit zuzugreifen – als Instrument der Entwertung von Lebensleistungen. Für den Lebensentwurfstypus ›Drift‹ zeigt sich also ein Verhältnis von Selbst und Welt, das einerseits von vielen potenziellen Verknüpfungen zwischen den Interessen der Gründerinnen und sozialen Kontexten geprägt ist. Die Gründerinnen sind auf das Offenhalten von Optionen und das Finden interessanter, stimmiger Kontexte orientiert und bewegen sich oft intuitiv von einem Möglichkeitsraum zum nächsten, wobei auch Überschneidungen bzw. Überlagerungen entstehen, die Effekte auf die Entfaltung von Lebensinhalten haben können. Andererseits kennzeichnet den Lebensentwurfstypus eine kritisch-reflexive Haltung gegenüber den Bedingungen der Produktion von Passungsverhältnissen: Eine wesentliche Ambivalenz des Typus tritt hervor in der Aushandlung zwischen persönlichen Interessen bzw. Selbstentfaltungsbestrebungen und der Herstellung überindividueller Nachvollziehbarkeit bzw. gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit. Diese Verknüpfung intuitiver und kritisch-reflexiver Zugänge
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kennzeichnet auch die Rekonstruktion der Be- bzw. Entgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche.
Entgrenzung und Begrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche Gerade aus dem Umgang mit der Be- bzw. Entgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche bezieht der Lebensentwurfstypus ›Drift‹ seinen Alternativ-Charakter gegenüber klassischen Entwürfen der reflexiven Moderne: Nicht nur zeitliche und räumliche Begrenzungen zwischen Arbeit, Familie, Freizeit, ehrenamtlichem Engagement etc. werden dabei als überkommene Konventionen markiert, auch wird – wie eingangs bereits angeklungen – die Trennung zwischen Broterwerb und erfüllender Lebensaufgabe in Frage gestellt: dass ich das eine TOTAL grauslige Vorstellung finde, acht Stunden […] in ner Werbeagentur zu sitzen und da was zu machen, was ich auch schon gemacht hab, ne Werbekampagne für Dienstleistung an Autobahnraststätten. Das ist…, irgendwie ist das nicht so richtig ne Option für mich. Also was ja, man kann ja auch sagen, man macht einfach nen Job, um Geld zu verdienen und seine Freizeit gestaltet man dann sinnvoll, aber glaub ich wär nichts für mich. Sondern das ist schon, dass ich irgendwie son- Ja genau, was Sinnvolles machen will (Berg: 12). Wie in dieser Passage deutlich wird, soll idealiter keine Grenze spürbar werden zwischen dem Geldverdienen und einer sinnvollen Tätigkeit. Dem Lebensentwurf ist also eine Entgrenzungstendenz immanent, die sich auf das erfüllende, sinnstiftende Moment von Lebensinhalten bezieht, aber auch Entgrenzungen hinsichtlich der Strukturierung von Lebensbereichen nach sich zieht.
Entgrenzung von Arbeit und projektbasierte Differenzierung Die Abkehr von konventionellen Arbeitsstrukturen wird von den Gründerinnen als bewusster Schritt rekonstruiert, der zum Teil durchaus eine Selbstüberwindung bedeutet: »Ich hab gemerkt, dass mein Selbstwert, oder dass sich daran bestimmte, ob ich heute erfolgreich war, ob ich so und so viel Stunden am Schreibtisch gesessen hab. Also ich hab mich sehr danach orientiert, was in einer klassischen Arbeitswelt als erfolgreicher Tag gewertet wird. Also, wenn ich 9 – 17 Uhr, dann hab ich mir diese Arbeitszeiten gesetzt, die ich früher hatte. Um halt irgendwie: ›Ja ich hab heut was gemacht‹, weil das manchmal nicht so greifbar ist. Und jetzt löst sich das mehr auf, dass ich mehr Mut bekomme, und mir auch, wenn die Sonne scheint, so setz ich mich raus und ich arbeite anders, und ich arbeite am Wochenende.« (Linkerhand 36/16-24) Konventionelle Arbeitsstrukturen werden von Martha Linkerhand hier als Rahmenbedingungen erkannt, die in unübersichtlichen Arbeitsprozessen oder in unproduktiven Phasen auf der Basis abgegoltener Arbeitsstunden die Sicherheit vermitteln, etwas getan zu haben. Das Loslösen von diesem Arbeitsmodus – das heißt zugleich: das Umstellen auf ein vom Ergebnis her strukturiertes, projektiertes Arbeiten – erfordert zwar Mut, bedeutet für die Gründerin aber eine Verbesserung der Lebensqualität: Die räumliche und zeitliche Flexibilisierung ermöglicht es ihr, die Arbeit den jeweiligen Bedürfnissen und Situationen anzupassen. Dabei dokumentiert eine Gegenüberstellung von konventionell-formalistischer 9to5-Arbeit, die Engagement und tendenziell auch Leistung über Quantität ermittelt und erfüllender Arbeit, die sich eher an der (Lebens-)
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Qualität bemisst. Allerdings birgt die Narration eine argumentative Gegenläufigkeit, wenn Linkerhand erklärt, nun nicht mehr von 7 bis 5 am Schreibtisch sitzen zu müssen, sondern alternativ nun im Freien und am Wochenende arbeiten kann. Gerade durch die Bedeutungsaufwertung ›sinnvoller‹ Arbeit verliert diese in Relation zu anderen Lebensbereichen nicht an Relevanz. Entgrenzung wird daher – wie auch in Linkerhands Erzählung deutlich wird – von der Arbeit her gedacht, die nun freilich ihren rigiden, entfremdenden Charakter verliert. Die Flexibilisierung bzw. Entgrenzung von Lebensbereichen als Ausdruck einer alternativen Lebensführung zeigt sich auch in anderen Zusammenhängen: »Meine Beobachtung ist die, dass auch, wenn ich mich mit Kindergartenmüttern, wenn ich so gucke, dass, ähm, wir, okay, wir im Speziellen, ist halt auch ein sehr spezieller, sehr engagierter Vater so, […] Also wir haben, verbringen schon echt viel Zeit mit unseren Kindern. Und, ja, und leben ja trotzdem, also arbeiten aber trotzdem und erwerben, erwirtschaften ja irgendwie was, und das sehe ich so, wenn ich das vergleiche mit anderen Müttern im Kindergarten, sogar, die sind vielleicht gar nicht arbeiten und zu Hause sind, aber wo der Mann dann immer weg ist, also das ist jetzt nicht, find ich, also das, das ist halt nicht reizvoll, und das ist ja bei Selbstständigen dann halt schon mal eher so, dass dann doch mal der Vater auch zum Theaterstück kann, weil er sich eben mal freischaufelt oder so. Also das ist halt irgendwie flexibler.« (Sachs 09/35-45) Der Arbeits- und Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ umfasst also auch eine Alternative zu tradierten Geschlechterrollen. Karin Sachs gestaltet die Integration der Lebensbereiche Arbeit und Familie durch die Flexibilisierung zeitlicher und räumlicher Strukturen, sodass sie sowohl viel Zeit mit ihren Kindern verbringen als auch eine Berufstätigkeit realisieren kann. Sie versteht sich also zugleich als gute Mutter und als arbeitendes und daher produktives Mitglied der Gesellschaft. Dass es sich dabei nicht um eine spezielle Eigenheit ihres Lebens, sondern um Muster alternativer Lebensentwürfe handelt, dokumentiert sich in der erzählerischen Gegenüberstellung zweier Gruppen von Kindergartenmüttern (und im Ausnahmefall auch -vätern): Jene, die Beruf und Familie in ihrem Entwurf integrieren und jene, die eine traditionelle, geschlechtsspezifische Aufgabenteilung praktizieren. Der alternative Ansatz wird dabei als überlegen dargestellt – nicht zuletzt, da die Zeit mit den Kindern auf beide Elternteile verteilt ist, auch hierin liegt die besondere Qualität. Der Lebensentwurf beinhaltet also auch einen anderen Zugang zu Partnerschaft und Vaterschaft. Wie schon in Linkerhands Erzählpassage zur Abkehr vom 9to5-Job deutlich wird, geriert sich der Lebensentwurfstypus ›Drift‹ gerade deshalb als Alternative, weil der ›konventionelle‹ Lebensentwurf zwar als Abgrenzungsfolie präsentiert wird, dabei jedoch unweigerlich ebenfalls als wirksamer Sinnhorizont bzw. Wissensordnung ins Spiel kommt. Dass sich Wandelprozesse hier langsam und uneindeutig vollziehen, wird in der Erzählung von Karin Sachs dort deutlich, wo sie – bei aller Kritik an der klassischen Rollenaufteilung – ihrerseits den engagierten Kindergartenvater als Ausnahme oder die gelegentliche Teilnahme der Väter an Kindergartenaktivitäten als Merkmal der Dekonventionalisierung anführt. Die Neuausrichtung von Arbeit an deren Sinnhaftigkeit und potenziellen Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität, wie auch die damit einhergehende Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen und Entgrenzung von Lebensbereichen zeigt sich im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ zunächst also als Befreiung von rigiden, entfremden-
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den Arbeitsstrukturen. Um den Lebensentwurf praktisch zu realisieren, wird jedoch nicht nur eine Entgrenzung, sondern auch eine neue Anordnung und Abgrenzung von Lebensbereichen vorgenommen: »Das wär mein Traum. Also dieses mich bewegen zu können und mal da und dort zu sein. Und da und dort die Seminare zu geben oder anzubieten und auch mal über so ne längere Zeit halt aktiv zu sein. Aber dann hab ich auch wieder so diese Lücken dazwischen. Also ich kann glaube ich gut in Blöcken arbeiten. Weniger das, was ich mir dann selbst verordnet hab, dieses, ›weil halt Montag ist und weil Dienstag ist, sitz ich bis dann und dann an meinem Schreibtisch‹. Und auch an anderen Orten arbeiten, das finde ich unglaublich intensiv und inspirierend.« (Linkerhand 36/26-33) Martha Linkerhand spiegelt hier auf Ebene der Arbeitsstrukturierung die Grundelemente des Lebensentwurfstypus ›Drift‹: Idealerweise gestaltet sich das Arbeitsleben als dynamisches Umherziehen, das sich in aktivere, bewegtere Phasen und ruhigere Phasen teilt. Die flexible Wahl von Arbeitsplatz und Arbeitszeit, das Umherreisen und das Erschließen neuer Orte stilisiert Linkerhand als Quelle der Inspiration und Sinnstiftung – Aspekte, die im Umkehrschluss bei der konventionellen Schreibtischarbeit entfallen. In der Erzählung dokumentiert sich also eine Affinität zwischen dem Lebensentwurfstypus ›Drift‹ und projektierter Arbeit. Diese wird als präferierte, den eigenen Neigungen entsprechende Arbeitsform beschrieben (Also ich kann glaube ich gut in Blöcken arbeiten). Vor allem aber erlaubt projektiertes Arbeiten im Rahmen der Selbstständigkeit die Koordination und Integration divergenter Interessen und Aufgaben, sowie das flexible Aufgreifen neuer Themen. Da die Projektarbeit fixierte zeitliche Strukturen umfassend flexibilisiert und dynamisiert, birgt sie jedoch auch die Gefahr der Überlastung und ungewollter Fragmentierung: »Und womit ich Probleme hab, ist das nicht zu stark voll zu stopfen und nicht zu viele unterschiedliche Sachen gleichzeitig zu machen, weil das also bei mir so stark zerrupft ist. Also ich hab halt ne politische Gruppe, die regelmäßig stattfindet, dann hab ich diese, mach ich diese Ausstellung mit wieder anderen Leuten zusammen, dann hab ich meine Arbeit und dann, weiß ich, dann hab halt noch Freunde, mit denen ich mich auch treffen will, und da muss ich oft…, also das fällt mir auch oft schwer, dann die Prioritäten nach meinem Beruf zu setzen oder wahrscheinlich eher nach’m Geldverdienen zu setzen, weil ich oft dann mir eher denke, so was weiß ich, Freunde sind eigentlich viel wichtiger, oder irgendwie so. Oder ne Veranstaltung machen zu blablabla Thema ist viel wichtiger als jetzt irgend’n blödes Faltblatt. Das fällt mir oft schwer. Und dann ist es natürlich, also dann bleibt natürlich dann nur weniger Zeit, dann muss man das halt quetschen und am Wochenende arbeiten, so. Aber eigentlich, weiß nicht, ich glaub, insgesamt läuft das eigentlich relativ gut, find ich.« (Berg 14/47-15/13) In der Erzählung von Jana Berg zeigt sich zunächst wieder die spezifische Umdeutung von Arbeit bzw. Beruf – beides wird nicht mit Geldverdienen gleichgesetzt. Vielmehr scheinen die Tätigkeiten, mit denen die ökonomische Existenz gesichert wird, der unattraktivste Aspekt der Arbeit zu sein. Weil den als sinnvoll wahrgenommenen Aufgaben Vorrang eingeräumt wird, muss Berg unter Zeitdruck die verschiedenen Arbeitspakete quetschen und zum Teil am Wochenende arbeiten. Projektarbeit bedeutet hier weniger eine geordnete Abfolge von Projekten und Erholungsphasen, sondern ein beständi-
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ges Verkreuzen unterschiedlicher Interessens- und Lebensbereiche im Rahmen parallel laufender Projekte. Die räumliche, zeitliche und (arbeits-)formale Entgrenzung von Lebensbereichen birgt also die Anforderung einer individuellen, selbsttätigen Begrenzung der einzelnen Aspekte: Jana Berg unterscheidet durchaus zwischen unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens. Tatsächlich grenzt sie sich – trotz ihrer grundsätzlichen Umdeutung von Arbeit, die nun weit über das bloße Geldverdienen hinaus in alle Bereiche sinnstiftender Tätigkeiten hineinragt – gegen eine undifferenzierte Wahrnehmung ihrer Alltagspraxis ab: Es ist ihr wichtig, festzuhalten, dass das aber alles so dann doch relativ fest abgesteckte Projekte sind. Also das ist nicht einfach IRGENDWIE was. (Berg: 16) Die Entgrenzung von Arbeit und die Abgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche liegen also im Rahmen dieses Lebensentwurfstypus – anders als beim Typus ›Pfad‹ – quer zueinander: Was genau in den Bereich der Arbeit fällt, ist durch deren Entkopplung vom Aspekt des Geldverdienens und die Zentrierung der Sinnstiftung nicht mehr eindeutig zu bestimmen, insofern findet eine Entgrenzung von Arbeit auf der Bedeutungsebene statt. Auf der anderen Seite dokumentiert sich eine Praxis der Grenzziehung zwischen unterschiedlichen Interessens- bzw. Alltagsbereichen. Vor allem die Projektarbeit stellt eine besondere Form der Grenzziehung dar: Das Projektieren von Arbeits- und Lebensaufgaben ermöglicht eine feingliedrige, flexible, nicht allzu trennscharfe und temporär den Anforderungen angepasste Abgrenzung. Trotz der Auflösung der Differenz zwischen (Erwerbs-)Arbeit und sinnstiftender und zugleich im Idealfall vergnüglicher Tätigkeit, verzichten die Gründerinnen jedoch nicht auf die Unterscheidung von Freizeit. Diesbezüglich zeigt sich eine Ambivalenz des Lebensentwurfstypus, denn die praktische Überlagerung verschiedener Projekte und Lebensbereiche macht es schwer, Freizeit – im eigentlichen Sinne des Wortes, also eine Phase, die frei ist von arbeitsbezogenem Handeln – hervorzubringen: »eine Konsequenz aus dieser bewussten Selbstständigkeitsentscheidung war, das Wochenende frei zu machen. Also da wird nichts, da wird zumindest nichts Arbeitsmäßiges eingetragen. Ich mein ich hab ja dann noch genug andere Projekte, die so halb Arbeit halb Vergnügen sind, aber das heißt, das war davor auch nicht so, also ich hab sehr, sehr oft, am Samstag mindestens noch gearbeitet, also dass ich den ganzen Samstag hier [Büro] saß.« (Berg 18/38-44) Zur Trennung von Arbeit und Vergnügen greift Berg auf eine räumliche Strukturierung zurück. Was hier (also im Büro) erledigt werden muss, wird nicht am Wochenende erledigt, dies bleibt somit zumindest frei von räumlichen Zwängen. Dass im Zuge der Entgrenzungsbewegung dieses Lebensentwurfs Arbeit zumeist auch Vergnügen, umgekehrt aber viele Freizeitvergnügen zugleich auch Arbeit sind, wird von den Gründerinnen unterschiedlich bewertet. Mal wird es als ein totaler Luxus empfunden (Linkerhand: 10), mal mit Sorge betrachtet: ich glaube, dass das schon sehr, sehr gefährlich ist […] wenn man sein Hobby zum Beruf machen will, mehr oder weniger. Oder wenn man sagt: Okay, ich mache das sehr gerne. Und dann da die Grenze zu ziehen […] zwischen Sozial und Arbeit und Freizeit und Arbeit, und so was. Das ist, glaube ich, schon total wichtig. Und schwierig. Also eine große Gefahr, dass man das überhaupt nicht mehr im Blick hat (Berg: 40). Wie souverän dieser Modus gelebt werden kann, unterliegt nicht zuletzt ökonomischen Zwängen, hängt aber auch mit den Möglichkeiten der Gründerinnen zusammen, eine verstärkt auf Selbststeuerung und eigenständige Begrenzungsarbeit verwiesene Praxis hervorzubringen.
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Instrumentalisierung sozialer Beziehungen Wie bereits in der von Jana Berg geäußerten Sorge anklingt, verschwimmen aufgrund der Ausweitung des Arbeitsverständnisses im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ nicht nur die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit bzw. Arbeitsraum und Privatraum, sondern auch die Grenzen zwischen Sozial und Arbeit. Damit adressiert Berg eine Verschiebung im Bereich sozialer Beziehungen, die sie äußerst kritisch betrachtet. Diese Verschiebung ist systematisch in den Lebensentwurfstypus eingelassen, denn sie ist ein Effekt der entgrenzten Auffassung von Arbeit: Durch die Zentrierung von Sinn und Interesse und der damit einhergehenden affektiven Aufladung von Arbeit, aber auch durch die Informalisierung von Arbeitsstrukturen, verwischen die Grenzen zwischen arbeitsbezogenen und freundschaftlichen Beziehungen. Das gemeinsame Arbeiten an einem sinnstiftenden Projekt, das beständige Offensein für interessante (Arbeits-)Kontexte – ob nun vermittelt über Geschäftskontakte oder Bekanntenkreise – bedingt eine spezifische Qualität sozialer Beziehungen, die das organische Ineinanderfließen von Arbeit und Privatheit mitträgt8 . Dies hat wiederum Auswirkung auf beide Bereiche, was sich im Falle der Gründung von Johanna Müller zeigt, in deren Unternehmung eine Bekannte als Partnerin eingestiegen ist, die sie über ihren ehemaligen Arbeitgeber kennengelernt hat: »Also ich glaube, das größte Risiko, das wir beide sehen, liegt in uns beiden, ob wir es schaffen, uns nicht zu verzicken oder…, also, weil die Gefahr besteht, weil wir beide ziemlich starke Frauen sind. Und wenn wir Zickenalarm kriegen, dann wird es scheitern. Und wenn wir aber keinen Zickenalarm kriegen, dann würd ich sagen, steht uns die Welt offen. Und dann könnte man jetzt noch so allgemeine Hindernisse bemühen, wie das falsche Konzept, die Krise oder sonst irgendwas. Das glaub ich aber eigentlich nicht. Also das trauen wir uns beide ALLES zu und sehen eben wirklich aber auch beide als ganz reales Risiko, zu sagen, dass wir’s irgendwie uns verzicken.« (Müller 37/04-11) Johanna Müller sieht in dieser geschäftlichen Verbindung zweier starker Frauen einen großen Vorteil. Die Partnerschaft wird als überaus potenzialreich dargestellt (uns steht die Welt offen) und als Konstellation, die organisationsstrukturellen und externen Problemen (falschen Konzepte und Krise) relativ mühelos trotzen könnte. Ein ganz reales Risiko, das – so die Schilderung – von beiden Frauen ernst genommen wird, liegt jedoch gerade auf Ebene der persönlichen Beziehung: Die Möglichkeit des Scheiterns wird ausschließlich in der Gefahr gesehen, dass sich die Geschäftspartnerinnen verzicken. Müller nutzt ausschließlich und mehrfach diesen Begriff, um das Risiko eines Zerwürfnisses zu beschreiben. Zunächst bringt er eine spezifisch weibliche Konnotation in den potenziellen Konflikt. Die gemeinhin zur Markierung überspannter, widerspenstiger und streitlustiger Frauen verwendete pejorative Tiermetapher der Zicke erhält hier jedoch 8
Entsprechend bewegen sich die Gründerinnen häufig in Soziotopen, in denen dieser spezifische Lebensentwurf geteilt wird: Das heißt, ich kenn schon VIELE die selbstständig sind, oder die es, glaub ich auch, sogar eher nicht als bewusste Entscheidung, so, ab JETZT bin ich selbstständig, sondern wo es einfach so geworden ist, dass man halt immer wieder mal hier was macht und da was macht und mal in so halben Anstellungsverhältnissen und oft aber, weil sie auch nicht so projektgebunden arbeitet und das macht man ja oft als Selbstständige. Eine ist Cutterin und macht so Filmzeugs, dann einer ist Programmierer, Informatiker, so, also es sind schon so…, und alle hier. (Berg 04/22-28)
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eine durchaus positive Wendung: die Gefahr des Verzickens bzw. Zickenalarms wird auf den Umstand zurückgeführt, dass zwei starke Frauen aufeinandertreffen. Damit wird das Risiko als eine strukturelle Schwierigkeit verallgemeinert und als individuelles Problem neutralisiert: Es leitet sich aus der Konstellation, nicht aus spezifischen maliziösen Persönlichkeitsmerkmalen ab. Dass es sich in erster Linie um eine konstellative Gefahr handelt, zeigt sich auch in der speziellen narrativen Hervorbringung: Es findet nicht etwa eine Attribuierung einer der beiden bzw. beider Frauen als Zicke statt, vielmehr ist Zicken(-alarm) ein Beziehungszustand, der möglicherweise eintritt (Zickenalarm kriegen; Gefahr, dass wir uns verzicken). Der unerwünschte Beziehungszustand wird also als eine gemeinsam hervorgebrachte Relation erfasst, die gerade durch die Gleichheit (beide stark) und Gleichberechtigung (Partnerinnen) der beiden Frauen erzeugt wird. Diese Gleichberechtigung wird narrativ auf Ebene der Gefahrenreflexion verstärkt, denn Müller führt sowohl sich als auch ihre Partnerin als Bedenkenträgerin ein: Sie sind sich einig darin, dass im Verzicken das größte und zugleich ein ganz reales Risiko liegt. Welche Beziehungsbzw. Konfliktqualität wird nun mit dem Begriff des Verzickens adressiert? Zunächst fällt auf, dass Müller in keinster Weise auf einen fachlichen, inhaltlichen oder strategischen Dissens verweist. Der Konflikt ist auf keinen konkreten Auslöser verwiesen, der Anlass spielt also eine untergeordnete Rolle. Die Gefahr des Verzickens wird vielmehr auf eine emotionale Beziehungsebene verwiesen, auf der etwaige Streitthemen nicht rational und sachlich bearbeitet werden, sondern sich ein grundsätzlicher, umfassender und nur noch diffus an Sachlagen angeknüpfter Disput entzündet. Die gesamte Beziehung unterliegt dann dem Zickenalarm. Die Passage dokumentiert die spezifische Beziehungsqualität der beiden Gründerinnen: Sie sind mehr als nur Geschäftspartnerinnen, die persönliche Befindlichkeiten dem Wohl des Unternehmens unterordnen und Müller unternimmt keinen Versuch, die Verbindung zu rationalisieren, was sich nicht zuletzt an der Verwendung des hochgradig informellen Begriffs des Verzickens festmacht, mit dem sie die Gefahrenquelle der Beziehung charakterisiert. Die komplexe und narrativ nicht weiter erschlossene Beziehung wird aber nicht ausschließlich als eine Gefahrenquelle eingeführt, sie bildet zugleich die Basis für einen potenziell unbegrenzten Erfolg: Die Zusammenarbeit der beiden starken Frauen eröffnet in der Erzählung einen Möglichkeitsraum, in dem große betriebs- und volkswirtschaftliche Hindernisse als lösbar erscheinen – mit dem lapidaren Verweis auf so allgemeine Hindernisse, wie das falsche Konzept, die Krise oder sonst irgendwas werden grundlegende Probleme, wie ein nicht tragfähiges unternehmerisches Fundament und die Weltwirtschaftskrise 2007 geradezu marginalisiert. Der Effekt der typusspezifischen Entgrenzung auf Ebene sozialer Beziehungen lässt sich also im Kontext der Arbeitswelt als eine Antinomie beschreiben: In der holistischen Beziehung der beiden Frauen liegt einerseits das Potenzial unbegrenzten Erfolgs (uns steht die Welt offen, wir trauen uns das alles zu), andererseits das Potenzial der vollkommenen Zerstörung der Arbeitsbasis. Beide Aspekte sind auf das spezifische Beziehungsverhältnis zurückzuführen und können nicht voneinander getrennt werden. Auch im privaten Bereich entfaltet die Entgrenzung zwischen arbeitsbezogenen und privaten Beziehungen ihre Wirkung. Als positiver Effekt kann etwa das gemeinsame Bearbeiten geteilter Interessen angeführt werden, das sowohl die Arbeit bereichert
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als auch die private Beziehung intensiviert und nicht zuletzt die Möglichkeit eröffnet, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Dies schildert etwa Martha Linkerhand, wenn sie von gemeinsamen Projekten mit ihrer Lebensgefährtin berichtet. Auf der anderen Seite bedeutet die Entgrenzung durchaus eine Gefährdung privater Beziehungen, da die Beteiligten in der Regel an die gemeinsame Vollendung eines Projekts gebunden sind und sich im Streitfall nicht zurückziehen können. Diese Problematik deutet sich nicht nur in der oben zitierten Passage der Gründerin Müller an, sie wird z.B. auch von Karin Sachs umrissen, die sich bereits einmal gemeinsam mit ihrem Ehemann selbstständig gemacht hat: Das hat aber aus vielerlei Gründen nicht geklappt, und wir haben auch festgestellt, dass wir als Paar das nicht zusammen machen sollten, […] das ist auch zu viel Verknüpfung mit Familie und dann auch noch arbeiten, also das ist nicht unser Weg (Sachs: 2f). Neben dem Problem, dass in solchen Beziehungen die Partner*innen und Freund*innen in ökonomischer Hinsicht im Extremfall auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden sind und sich dadurch potenzielle Konfliktfelder nicht nur erweitern, sondern auch verschärfen, verweist insbesondere Jana Berg aber noch auf ein weiteres strukturelles Problem: »meine Befürchtung ist, dass darüber die Beziehungen so instrumentell werden, weil du natürlich, und das ist automatisch und teilweise kann man auch gar nicht so richtig was dagegen machen, dass du natürlich mit niemandem streitest, der auch dein Arbeitgeber ist. […] Und das ist glaub ich schon ganz oft ein Problem bei so Selbstständigen, dass du, dass das viel mit so sozialökonomischen Netzwerken läuft, also dass man dann auch Jobs von Freunden kriegt, oder die einen empfehlen oder irgendwie so was und man da sehr, sehr, sehr, weiß nicht, sehr bewusst damit umgehen muss, dass das nicht als halt nur ein großes Geschäft wird. Und das find ich total grässlich. Das ist eine Befürchtung, also was einfach was anders ist, in einer, also ich hab ja auch in meiner Lehre ganz normal in einem Anstellungsverhältnis gearbeitet, das war einfach cool, weil da weißt du wer dein Gegner ist, da kann man, was weiß ich, eine Jugendvertretung gründen, da kann man sich gewerkschaftlich organisieren, dann gibts eine institutionalisierte Form von Interessensaustragung und so weiter und so weiter. Das hat man ja alles als Selbstständige nicht. Und das ist schon, ja, kann man mal unter Befürchtungen so fassen.« (Berg 08/06-21) Das von Jana Berg in dieser Passage herausgestellte Problem der Instrumentalisierung teils privater sozialer Beziehung wird von ihr einleitend als ein strukturelles (automatisches), der Beziehungskonstellation immanentes Problem verallgemeinert: Natürlich streitet man nicht mit seinem Arbeitgeber. Strukturell rückgebunden wird die Problematik dabei – in Kontradiktion zum Begriff Arbeitgeber – auf die Berufsform der Selbstständigkeit. Damit ist freilich implizit die spezifische Form der Selbstständigkeit angesprochen, wie sie im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ hervorgebracht wird und die sich durch eine starke Einbindung in sozialökonomische Netzwerke und Freundeskreise auszeichnet.9 Gerade in der Verflechtung arbeitsbezogener und freundschaftlicher Beziehungen bzw. genauer: im Doppelcharakter von beruflich-privaten Beziehungen
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Andere Formen von Selbstständigkeit hingegen, die etwa Geschäftsbeziehungen vornehmlich über professionelle Netzwerke und akquirierte Kundenkreise herstellen, gelangen nicht in den narrativen Bezugshorizont.
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sieht Berg ein zentrales Problem der Entgrenzung. Dadurch, dass neben das egalitäre Verhältnis einer Freundschaft das asymmetrische Verhältnis einer AuftraggeberinAuftragnehmerin-Beziehung tritt, erhält der gesamte Beziehungszusammenhang eine neue, funktionale Konnotation. Das nun in einer bestimmten, nämlich arbeitsbezogenen Hinsicht hergestellte hierarchische Verhältnis strahlt in diffuser Weise auf die gesamte Bekanntschaft oder Freundschaft aus und droht deren Vorbehaltlosigkeit zu zerstören. Da dieser Doppelcharakter von Beziehungen der ›Drift‹-Selbstständigkeit logisch immanent ist, kann er nicht ausgeklammert oder aufgelöst werden. Die einzige Möglichkeit zur Milderung der negativen Effekte (dass nicht alles nur ein großes Geschäft wird) besteht im reflexiven Umgang mit der Problematik. Als positiven Gegenhorizont dieser Form der diffusen Beziehungsentgrenzung adressiert Jana Berg einen Kontext, in dem Hierarchien und Interessenskonflikte nicht etwa ausgeschlossen, sondern formalisiert und institutionalisiert sind. Als das coole an der klassischen Opposition zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen werden die geordneten Verhältnisse dargestellt: Einerseits ist klar, auf welcher Seite die jeweiligen Akteure stehen (du weißt wer dein Gegner ist). Andererseits sind in der klassischen Opposition sowohl die Formulierung von Interessendifferenzen als auch die Verhandlungen im Konfliktfall formalisiert und institutionell geregelt. Beides trägt zu einer Rationalisierung und Entpersonalisierung des Konfliktes bei, die sich auch im von Berg verwendeten Begriff der Interessensaustragung widerspiegelt. Die (für die organisierte Moderne typische) Trennung von Person und Funktion, sowie von Arbeit und Privatleben wirkt sich also – so die implizite Vermutung Jana Bergs – entlastend auf soziale Beziehungen aus.
Stabilität und Dynamik Abschließend soll der Blick noch einmal auf die spezifische Dynamik gerichtet werden, die dem Lebensentwurfstypus ›Drift‹ seinen Namen gibt. Diese Bewegung wurde bereits als ein Umherschweifen in ganz verschiedenen Kontexten auf der Suche nach immer neuen interessanten Themen charakterisiert, bei dem teilweise in hochgradig intuitiver Form neue biografische Anschlussmöglichkeiten erschlossen werden. Im Folgenden soll nun der Fokus auf den Umgang mit etwaigen Unsicherheiten gelegt werden, die teilweise durch die hohe Zukunftsoffenheit des Driftens entsteht.
Driften Die Selbstständigkeit ermöglicht den Gründerinnen, die dem Typus ›Drift‹ zuneigen, ihren zukunftsoffenen, an Interessen und persönlicher Erfüllung orientierten Lebensentwurf zu realisieren: Also für mich hat die Selbstständigkeit, ein bisschen mehr mit diesem im Fluss zu sein, oder noch näher am Leben dran zu sein (Linkerhand 32/40-41). Mit der Formulierung im Fluss sein dokumentiert sich die organische Bewegung, die das Leben im Rahmen dieses Lebensentwurfstypus vollzieht: Die Gründerinnen befinden sich idealerweise mit ihrer Umgebung im Einklang und werden von sich neu eröffnenden Themen und Interessensgebieten von Kontext zu Kontext getragen. In der Explikation, mit der Selbstständigkeit näher am Leben dran zu sein, deutet sich nicht zuletzt erneut die Ermöglichung einer erfüllenden Arbeit an, die einen Gegenentwurf zur Entfremdungs-
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gefahr klassisch-ökonomisch orientierter Arbeitskontexte darstellt. Allerdings wird die Gründung – wie bereits aufgezeigt wurde – nicht an sich als Erfüllung rekonstruiert, sie bildet lediglich einen Rahmen, in dem das Leben relativ umfangreich nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden kann. Auch die Suche nach und das Aufnehmen einer beruflichen Selbstständigkeit erhält damit den beiläufigen, tendenziell zufälligen Charakter der Drift-Bewegung. Auf die Frage, was das Aufgeben der Selbstständigkeit für sie bedeuten würde, antwortet Karin Sachs: »Ja so einen Abschied, ne. Erstmal wieder, erstmal wieder was, was lassen, […] Umorientieren würde das heißen. Also ich… Also auch davon würde die Welt nicht untergehen. Also das ist… Es ist jetzt halt ein Versuch. Ich bin da selber noch so am Schwanken. Man könnte natürlich auch sagen, mit so einer Haltung, das ist eigentlich die falsche Haltung, weil eigentlich, mh, fehlt da irgendwie so der Biss, aber, ähm… Und man sollte das irgendwie erstmal gar nicht in Erwägung ziehen, dass das überhaupt eine Möglichkeit ist so, dass es halt schiefgeht, aber kann ja sein, dass ich für mich entdecke, dass ich mich total schwer tu’ mit der Akquise« (Sachs 41/06-14) In der Erzählpassage dokumentiert sich das Festhalten an einer zukunftsoffenen Haltung entgegen der hier indirekt adressierten Empfehlung vieler Unternehmensratgeber, die Möglichkeit eines Scheiterns der Selbstständigkeit gedanklich zu suspendieren. Aber im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ geht es eben nicht in erster Linie um den unternehmerischen Erfolg, sondern um die Authentizität und Erfülltheit der Lebensführung. Da beides weder zu erzwingen noch eindeutig vorhersagbar ist, muss das Gelingen der Selbstständigkeit schon alleine aus persönlichen Erwägungen offen bleiben. So könnte sich beispielsweise noch herausstellen, dass sich die Gründerin mit der Akquise schwertut, was sowohl auf ein ›Nicht-Können‹ als auch auf ein ›Nicht-Wollen‹ verweisen kann. Insofern wird die Gründung als ein Versuch markiert, dessen sich Karin Sachs nicht sicher ist und im Falle dessen Scheiterns die Welt nicht untergehen würde. Wesentlich ist nicht die Frage, ob es sich dabei um eine Schutzbehauptung handelt, sondern der Umstand, dass die Gründung als vorläufiges Projekt rekonstruiert wird, dessen Tragfähigkeit sich erst noch herausstellen muss. Insofern würde das Scheitern der Unternehmung auch nicht in erster Linie eine Niederlage bedeuten, sondern – der Drift-Bewegung entsprechend – einen Abschied und eine Umorientierung, d.h. ein Aufbrechen und Weiterziehen in neue Kontexte. Dabei löst die Ungewissheit, die mit der lebensentwurfsimmanenten Zukunftsoffenheit einhergeht, nicht nur die in den vorangegangenen Kapiteln bereits beschriebenen Entscheidungsschwierigkeiten aus, welche maßgeblich mit einer Abneigung gegenüber dem Ausschließen von Optionen korrespondieren. Vielmehr kann sie sich durchaus bei einigen Gründerinnen auch in Form von Existenzängsten niederschlagen. Dies betrifft unter anderem Vorbereitungs- und Entscheidungsphasen, die sich in den Erzählungen der Gründerinnen als Phasen der Parallelführung unterschiedlicher Arbeitsoptionen dokumentieren, in denen mitunter auch an Exit-Strategien festgehalten wird: Und ich hab, wie gesagt, auch sehr viel Zeit darin investiert, zu überlegen, wie ich da abspringen könnte oder wie ich mich in Sicherheit wieder begeben (Linkerhand 08/21-23). Es betrifft aber auch den Arbeitsmodus der Selbstständigkeit an sich:
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»Also wenn ein Job aufhört und man hat noch keinen neuen, dann praktisch wirklich so ne Art Akquise zu machen und sich zu überlegen: Wen könnt ich mal noch fragen? Oder so was, und nicht dann andere sinnvolle Dinge zu tun, das ist schwierig. Und das ist überhaupt, also das ist es insgesamt dieser Übergang zwischen den Jobs […] also das ist immer eine schwierige Phase insgesamt, weil das ist halt, was weiß ich, man hat dann drei Wochen nen Job, dann denkt man eine Woche: Cool, jetzt hab ich viel Geld verdient. Und dann in der nächsten Woche geht schon wieder die Existenzangst los und die Suche und so was.« (Berg 15/15-24) Berg verweist in dieser Erzählpassage auf Existenzängste, die sich in den Übergängen zwischen den unterschiedlichen Projekten einstellen. Diese sind jedoch nicht ausschließlich Ausdruck ökonomischer Unsicherheit, sondern werden narrativ zugleich mit der Gefährdung des lebensentwurfsspezifischen Kerninteresses an einer erfüllenden (Lebens-)Aufgabe verkoppelt: Wenn ein Job aufhört und noch kein neuer Auftrag in Sicht ist, muss die Beschäftigung mit interessanten Inhalten unterbrochen werden. Stattdessen wird eine Phase der Akquise und Reflexion erzwungen, die den Fluss inspirierender Arbeit und das Umherschweifen von einem Thema zum nächsten stört. Dabei geht vor allem jene Leichtigkeit verloren, die den Narrationen der Drifterinnen anhaftet. Zwar ist Geldverdienen – auch dies dokumentiert die Passage – keineswegs verpönt, Jana Berg freut sich über Gewinne. Anders als im Rahmen anderer Lebensentwurfstypen wird hier Geldverdienen und berufliche Tätigkeit jedoch wesentlich indirekter aufeinander bezogen. Existenzängste sind daher zwar durchaus an die ökonomische Tragfähigkeit der Unternehmung angeschlossen, sie sind jedoch zugleich auch nur ein Effekt neben anderen (ärgerlichen) Auswirkungen der prekären Phasen zwischen den Arbeitsaufträgen. Existenzängste müssen aber nicht zwangsläufig mit diesem Lebensentwurfstypus einhergehen: »Also, ich habe keine, ähm… Existenzängste oder so was. Überhaupt nicht. […] So was ist mir irgendwie fremd. Ich habe in meinem Leben immer von allem gelebt, was ich hatte. Wenn das 400 Mark waren, dann habe ich von 400 Mark gelebt, und wenn es 4000 Euro waren, habe ich von 4000 Euro gelebt. Also, das war irgendwie, hat sich das immer ergeben. Das fand ich nie…, und auch die nächste…, also, ungekündigte Stellung aufgegeben, um eine anzutreten, die zwei Jahre befristet war, oder solche Sachen. Also…, und da gabs keinen Partner, der irgendwas hätte auffangen oder so was damals… Nee, keine Existenzängste.« (Müller 11/23-31) Auch diese Wahrnehmung der Zukunftsoffenheit ist im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ möglich. In der Erzählpassage wird noch einmal deutlich, dass die Gründerinnen nicht in erster Linie auf ökonomischen Erfolg hin orientiert sind und eine Lebensführung realisieren, die relativ unabhängig von den Einkünften gestaltet bzw. flexibel an diese angepasst werden kann. Dies hängt einerseits mit dem Zentralsetzen immaterieller Werte zusammen (z.B. Arbeitsfreude, Sinnhaftigkeit der Alltagsaufgaben oder das Leisten eines politischen, gesellschaftlichen oder ökologischen Beitrags). Andererseits hängt es auch mit der Orientierung auf eine alternative Lebensführung zusammen, deren Umsetzung nicht an bestimmte ökonomische Standards gekoppelt ist. Was sich darüber hinaus in dieser Passage dokumentiert, ist die (erfahrungsbasierte) Zuversicht, dass die persönliche Erfahrungs-, Kompetenz- und Interessenvielfalt
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sowie die große Bandbreite sich dynamisch verändernder Kontexte beständig ausreichend Anschlussmöglichkeiten bereithalten werden. Die Vorstellung, dass sich immer etwas ergeben wird, ist charakteristisch für diesen Lebensentwurfstypus: Sie geht mit der Kontextoffenheit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Gründerinnen einher und bildet die Basis, auf der dieser Lebensentwurf überhaupt realisiert werden kann, da er immer ein Mindestmaß an Angstbefreitheit voraussetzt.
Verankern Zwar gehen Komplexität und Zukunftsoffenheit des Lebensentwurfs mit Unsicherheiten und Vagheit einher, die Gründerinnen nutzen jedoch verschiedene (implizite) Strategien, um damit umzugehen: In durchaus unterschiedlicher Weise stabilisieren sie bestimmte Aspekte ihres Lebens. Insofern bilden sich im Rahmen dieses Entwurfstypus Strukturen aus, die der von Sennett befürchteten, allumfassenden, charaktererodierenden Instabilität entgegenwirken können. »Wie ich damit [mit Unsicherheiten] umgehe, ist glaub ich schon so, […] dass ich versuche, nicht 100.000 Baustellen so offen zu haben. Das glaub ich ist schon was, was ne Konsequenz daraus ist, dass ich also, was weiß ich, da in ner WG wohne, die relativ stabil ist, und dann zwar auch immer wieder überlege: Hm, vielleicht ist das ja gar nicht so günstig und das ist auch mit meinem Bruder zusammen und so vielleicht ist die Familienanbindung zu viel. Aber dass das schon eine Konsequenz ist, dass ich mir denke, nicht jetzt an allen möglichen Ecken so ne Individualisierungsentscheidungen treffen. Weißt Du, dass man dann so im luftleeren Raum ist, sondern dass ich ansonsten schon versuche, das irgendwie möglichst stabil so zu gestalten, insgesamt meine sozialen Beziehungen.« (Berg 10/03-13) Der von Jana Berg in dieser Passage reflektierte Umgang mit Unsicherheiten wird zunächst implizit im Rahmen des Lebensentwurfs kontextualisiert: Der Hinweis auf den Versuch, nicht 100.000 Baustellen offen zu haben, bestimmt die Multioptionalität und Projektiertheit der Lebensführung als Quelle einer Instabilität, die nicht so sehr als Auslöser einer direkten Angst vor dem Scheitern oder als Grund für Existenzsorgen thematisiert wird, sondern als eher diffuses Momentum der Unruhe und Ungewissheit. Mit der Reduktion von Herausforderungen und Aufgabengebieten setzt Berg allerdings nicht im Bereich beruflicher Tätigkeiten und Interessen an, diese bleiben in ihrer Offenheit uneingeschränkt. Vielmehr setzt sie einen Kontrapunkt im Bereich sozialer Beziehungen: Die Wohngemeinschaft mit ihrem Bruder wird als Ankerpunkt adressiert, der den Lebensentwurf erdet, sodass das Driften der Gründerin nicht im luftleeren Raum stattfindet. Als potenziell belastender, zumindest destabilisierender Aspekt wird dabei wieder auf die Notwendigkeit verwiesen, Entscheidungen zu treffen. Diese werden hier als Individualisierungsentscheidungen markiert. Individualisierung ist in diesem Lebensentwurfstypus aufgrund der starken Interessengeleitetheit und dem Anspruch, immer neue, durchaus unterschiedliche Themenbereiche zu erschließen, nicht nur strukturell eingelassen, sondern sie wird von den Gründerinnen auch angestrebt, denn sie schätzen das Gefühl, irgendwie nicht so austauschbar (Berg 13/01) zu sein. Zugleich bedeutet sie Handeln unter relativ großer Unsicherheit, denn es gibt keine institutionellen Leitlinien oder Konventionen, an denen sich das individuelle Vorgehen weitestgehend ori-
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entieren könnte. Entscheidungen sind also nicht nur herausfordernd, weil sie – wie in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt – das Ausschließen von Optionen bedeuten, sondern weil sie zumeist auch individuelle Konstruktionsleistungen erfordern: Das Suchen eines passenden Kontextes, das Bauen eines thematischen Häuschens (Linkerhand) oder das Entwickeln einer besonderen Selbstdarstellungsstrategie. Diesen Anforderungen zeigt sich Berg auch deshalb gewachsen, weil sie die multidirektionalen Bewegungen ihres Lebensentwurfs um einen Ruhepol herum arrangiert: Das Wohnen mit dem Bruder bringt langjährige familiale Vertrautheit in den Alltag. Eine Verankerung als Gegenpol zu der hohen Flexibilität des Lebensentwurfs kann jedoch auch auf ganz andere Weise, nämlich sequenziell, hergestellt werden: »Aber mein Ziel ist es, nicht hier zu bleiben. Also das ist […] grade son geschützter Rahmen hier, der für mich überschaubar ist, weil ich mich zuvor immer sehr überfordert habe, indem ich sehr schnelle Ortswechsel gemacht habe oder eben auch ins Ausland, gibt es sehr sehr viele Rahmen, Sachen, die da irgendwie zu checken sind, und dann kommst du gar nicht äh, bin ich gar nicht zum Inhaltlichen gekommen. Und daher kam diese Entscheidung ›okay, ich such mir jetzt einfach mal für mich nen günstigen Rahmen‹ an nem Bereich in der Entwicklung arbeiten zu können. Nicht immer so in diesem Orientieren im Außen.« (Linkerhand 35/07-14) Martha Linkerhand verweist zu Beginn dieser Erzählpassage auf die Grundorientierung des Lebensentwurfs, d.h. auf das Weiterziehen und das Erschließen neuer Kontexte. Diese wird negativ formuliert als ein nicht bleiben wollen, was den zwingenden Charakter des Bewegungsdrangs unterstreicht, diesen also als Bewegung um der Bewegung willen erscheinen lässt. Allerdings möchte Linkerhand einer möglichen Überforderung durch zu schnelle Ortswechsel vorbeugen, denn das rasche Ziehen von Ort zu Ort birgt die Gefahr, die Inhalte den Kontextbedingungen unterzuordnen. Ihre Strategie ist es daher, mit der Gründung einen überschaubaren und geschützten Rahmen zu gestalten, in dem sie zunächst einen thematischen Bereich erschließen und entwickeln kann, bevor sie diesen in einen anderen (nationalen) Kontext versetzt. Driften bedeutet also nicht, vollständig destabilisiert zu sein. Zwar evozieren die Orientierung am Neuen, der Wunsch, vielfältige Themen zu integrieren, und die explizite Abkehr von konventionalisierten Lebensverläufen durchaus alltagspraktische Herausforderungen. Sie zeitigen jedoch nicht den von Sennett befürchteten Werterelativismus – im Gegenteil: Gerade jene Gründerinnen, die diesen Lebensentwurfstypus hervorbringen, sind in hohem Maße an der Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeiten orientiert, wobei die Frage nach der ökonomischen Verwertbarkeit zur Nebensache gerät. Dabei deutet sich eine Form struktureller Zwänge an, die sich von Leistungs- oder Konformitätsdruck unterscheidet: Das unbedingte Streben nach einer erfüllenden, sinnvollen und Freude bereitenden Aufgabe lässt nur wenig Toleranz für eintönige, bürokratische und unangenehme Tätigkeiten zu. Insofern ist dem Lebensentwurfstypus ›Drift‹ eine Unruhe immanent, die sich in den Erzählungen der Gründerinnen zugleich als einerseits hoch wirksamer Antrieb und andererseits als ermüdende Herausforderung sowie als einerseits positiver und andererseits negativer Bezugspunkt dokumentiert.
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17.3
Lebensentwurf und Handlungsorientierungen des Typus ›Fügung‹
Der Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ ist deutlicher als die anderen beiden Typen auf sozialen Status hin orientiert. Gründerinnen, die sich in diesem Orientierungsrahmen bewegen, bringen in ihren Erzählungen die Vorstellung einer ihnen rechtmäßig zustehenden sozialen Position zum Ausdruck. Die Erzählungen tragen daher bisweilen einen legitimatorischen Charakter: Nicht nur verweisen die Gründerinnen bei vielen Gelegenheiten auf objektivierte Leistungen wie Abschlüsse, Noten und Besten-Ränge, auf besondere Auszeichnungen, sowie Privilegien, die ihnen aufgrund ihrer Begabungen oder beharrlicher Anstrengungen eingeräumt wurden. Auch betonen sie narrativ mit der Anhäufung von Begriffen wie ›wirklich‹, ›tatsächlich‹ oder ›ehrlich‹ den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Darüber hinaus zeigt sich diese Form des Lebensentwurfs in den Narrationen der Gründerinnen als eine Lebensgeschichte, die besonders expressive bzw. dramatische, zum Teil auch polemische Erzählelemente von hoher metaphorischer Dichte aufweist. Dabei dokumentiert sich auch die Vorstellung einer impliziten Begründetheit und Gerichtetheit des Lebens, die Bourdieu als ein spezifisches Merkmal der ›biographischen Illusion‹ kennzeichnet: »Sartres Begriff des ›Entwurfs‹ formuliert nur explizit eine Hypothese, die implizit […] in den Lebensgeschichten mit ihrem ›immer schon‹ (›immer schon habe ich die Musik geliebt‹) steckt. Dieses wie eine Geschichte (gleich Erzählung) ablaufende Leben hat – nach einer chronologischen Ordnung, die auch eine logische Ordnung ist – einen Anfang, einen Ursprung im doppelten Sinne von Ausgangspunkt, Beginn, aber auch Urgrund, raison d’être, erste Ursache, und ein Ende, das auch Ziel ist, eine Vollendung (telos).« (Bourdieu 1998b: 75f., H.i.O.) Diese Form der biografischen Konstruktion zeigt sich im Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ besonders deutlich und gibt der Erzählung eine fatalistische Konnotation, die subtil durch die Verwendung der auch von Bourdieu angeführten Begriffe wie ›immer schon‹ erzeugt wird, aber durchaus auch explizit mit Redewendungen wie ›also wie das ja im Leben so ist, es kommt sowieso alles so, wies kommen muss‹ (Große: 6) oder ›alles im Leben hat seinen Sinn‹ (Wunsch: 4) zum Ausdruck gebracht wird. Sowohl der dramatische als auch der schicksalshafte Charakter der Erzählungen wird schließlich in der Art der Thematisierung einzelner biografischer Begebenheiten bzw. Episoden deutlich, die für sich genommen, insbesondere aber auch in ihrem Zusammenspiel den Charakter einer ›Heldenreise‹ annehmen (Campbell 1999): Einzelne Episoden des Lebens werden narrativ in einer Weise symbolisch aufgeladen, dass sie als plötzliche Begegnung mit dem Schicksal, als ›Weg der Prüfungen‹ oder auch als ›Apotheose‹, d.h. als Moment, in dem sich die persönliche Besonderheit manifestiert, erscheinen. Welche sozialen Orientierungen sich hierin ausdrücken, soll im Folgenden näher betrachtet werden.
Grundmuster des Lebensentwurfs des Typus ›Fügung‹ Das Leben der Gründerinnen, die einen Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ hervorbringen, ist auf das Erreichen einer sozialen Position orientiert, die sie als angemessen und legitim empfinden. Entsprechend zeigt sich einerseits besonders deutlich ein Den-
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ken in Relationen und Distinktionen und andererseits eine (implizite) argumentative Darlegung der Rechtmäßigkeit der persönlichen Positionierungsansprüche. Außerdem zeichnen sich die Erzählungen der Gründerinnen durch die detaillierte erzählerische Entfaltung von einerseits Hindernissen und Kränkungssituationen, andererseits aber auch von Schlüsselmomenten aus, in denen sich die Bestimmung der Gründerinnen zu realisieren scheint.
Sozialer Raum und rechtmäßige Position Auch jene Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ produzieren, bringen relationale Bezüge zu anderen Akteuren und Akteursgruppen in impliziter, praktischer Form hervor. Im Rahmen einer praxistheoretischen Analyse muss selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass alle Gründerinnen sich relational zu anderen Akteuren verorten und somit über einen praktischen Zugang zu der (objektivierten) Strukturiertheit des sozialen Raums verfügen, an deren Hervorbringung sie beteiligt sind. Der Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ ist jedoch durch eine ausgeprägte Orientierung an und durch die Explikation von sozialer Positionierung gekennzeichnet. Dies zeigt sich in den Narrationen der Gründerinnen zunächst in den vielfältigen Typisierungen, die sie hinsichtlich verschiedener sozialer Gruppen vornehmen: Sie adressieren etwa die Gründer, denen ein ganz ausgeprägtes Selbstbewusstsein zugesprochen wird oder die Deutschen, die Selbstständigkeit weder toll finden noch unterstützten (Graf: 2; 5). Sie sprechen von den Frauen, für die gesellschaftliche Veränderungen teils ganz angenehm sind, teils Orientierungslosigkeit bedeuten oder von den Leuten von der Uni vor deren Eintreffen gemeinhin alle Fenster geputzt werden müssen (Schmidt: 8; 18). Oder sie charakterisieren die Ossis, als Menschenschlag, der sich gerne bitten lässt bzw. der gefragt werden will, Erzieher als gemütlich und arbeitsscheu (die sitzen da und trinken Kaffee und sitzen) und Katholiken als SEHR konservativ und borniert (Große: 7; 29; 10). Oft treten soziale Akteure in den Erzählungen der Gründerinnen also nicht so sehr als Individuen, sondern als Vertreter*innen einer bestimmten Gruppe auf, zu der sie sich wertend in Beziehung setzen. Anders als im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹, der durch eine hohe Sensibilität gegenüber sozialer Standardisierung und Konventionalisierung gekennzeichnet ist, zielen Typisierung im Rahmen dieses Typus nicht auf Handlungsnormen, sondern vor allem auf Menschen, die in der Lebenswelt der Gründerinnen eine Rolle spielen. Einerseits skizzieren die Gründerinnen mit diesen Verallgemeinerungen den Kontext, der ihre Situation prägt: in Deutschland wird ihnen die Selbstständigkeit aufgrund der generell ablehnenden Haltung erschwert, als Frauen sind sie einer wandelevozierten Orientierungslosigkeit ausgesetzt etc. Andererseits birgt die wertende Charakterisierung verschiedener Akteursgruppen eine implizite Selbstpositionierung: In der Abwertung erheben sich die Gründerinnen implizit über die Position der ›arbeitsscheuen Erzieher‹, der (anderen) ›negativen Deutschen‹ oder der ›konservativen Katholiken‹, andererseits wird in positiver Weise in der Regel von Gruppen gesprochen, denen die Gründerinnen sich zugehörig oder verwandt fühlen. Häufig geht die Charakterisierung von sozialen Gruppen daher in Selbstbeschreibungen über:
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»wenn die Anderen, die Geschwister von meinem Vater da waren, die eben nicht selbstständig sind, da war auch immer so ein bisschen Neid, weil wir eben ein Haus haben, weil mein Vater gut verdient – Und da hab ich dann immer als Kind nur mitbekommen, dass da teilweise dann auch politisiert wurde. Ich denk’, das hat schon auch viel ausgemacht, dass ich da viel aufgeschnappt hab – wo mein Vater eben eher dieses Arbeitgeber-Denken hatte und die Anderen eben so, absolut Arbeitnehmer und Gewerkschaft und überhaupt und – Und das hat mir immer nie gefallen, weil die Anderen irgend – mein Vater hat immer so souverän diskutiert und war immer so entspannt. Und die Anderen haben sich immer so aufgeregt. Und ich denk’, dass sich da, irgendwo auch eine Verknüpfung da stattgefunden hat bei mir. Und das hab ich dann massiv gespürt, als ich in der Lehrzeit in die Jugend- und Auszubildendenvertretung gewählt wurde. Da war ich nicht lang. Das, das ging überhaupt nicht. Also ich konnte mit diesem Betriebsrat, Gewerkschaften, JAV – da konnt’ ich nix anfangen. Da dacht’ ich immer: Wie DENKT ihr denn? Also – und da ist mir dann wirklich bewusst geworden, dass ich einfach ein, dass ich denke wie ein Arbeitgeber. Also das war irgendwo – da ist das glaub ich schon sehr, sehr plakativ geworden. Und ich denk’, das hat durch – also dass da, denk’ ich, hat hauptsächlich eben mein Vater und meine Mutter, UND ich glaub’ wirklich, auch so diese Geschichten mit, mit meinen Onkeln und, und Tanten, dass ich da so diese Negativ-, für mich damals Negativbeispiele hatte. Des war so ein bisschen, ja – eher so proletenmäßig so, ja, so. Ja, war aber auch ein ganz anderes Klientel, also die sind, sind beide Hausmeister, und das war irgendwo so. Ja, und da hab ich irgendwo in meinem Kopf diese Verknüpfung, ja, das sind halt so, ich sag’s jetzt mal: Das einfache Volk, ja, und die sind so, ja, wir sind doch die Arbeiter und. Und dann eben da so meine Eltern, mein Vater, der souveräne Geschäftsmann.« (Wunsch: 07/15-40) Wie im Rahmen des Typus ›Drift‹, wird auch hier eine Selbstverortung im Kontrast zu einer anderen Position herausgearbeitet. Während die Gründerinnen im Rahmen des Drift-Typus allerdings die eigene Position als einen Alternativentwurf hervorbringen, der nicht in erster Linie auf die Unterordnung anderer Entwürfe abzielt, generiert die Gründerin Sinabell Wunsch in dieser Erzählpassage eine konfliktive Opposition zweier sozialer Milieus, wobei sie die Gegenposition explizit abwertet. Die oppositionale Verfasstheit der Erzählung wird bereits mit der Einführung der Gegenposition deutlich: Noch bevor die Gegenpartei näher charakterisiert oder personalisiert wird, wird sie zunächst als die Anderen, also als Gegenformation dargestellt. Erst danach wird deutlich, dass sich die Gegenseite aus den Geschwistern des Vaters zusammensetzt. Diese tragen in Wunschs Rekonstruktion den sozialen Konflikt zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen in die Familie. Die Arbeitnehmer*innenposition von Onkel und Tante wird dabei bereits zu Beginn als (Sozial-)Neid markiert und damit diskreditiert. Der Neid bezieht sich dabei vor allem auf ökonomisches Kapital, nämlich auf den guten Verdienst des Vaters und auf das Haus der Familie, welches zugleich den Status des Vaters bzw. der Kernfamilie zum Ausdruck bringt. Die narrative Demontage der Position von Onkel und Tante wird auch über den Vorwurf der Politisierung betrieben: Damit bringt sie zu Ausdruck, dass es sich bei dem Streit eben nicht um einen im Kern politisch-normativen Dissens handelt, sondern die im Grunde neidgetriebene Debatte nur die Form einer politischen Diskussion annimmt. Eine normative Positionierung der Gegenpartei wird damit zwar eingeräumt, zugleich jedoch als vor-
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geschobene Argumentation markiert, als ein unlauterer Versuch also, den Status des Vaters zu delegitimieren. Über die politische Dimension wird der Familienstreit dabei transzendiert: Auf der einen Seite stehen die Arbeitgeber*innen repräsentiert durch den Vater, auf der anderen Seite stehen die Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften, die Anderen, repräsentiert durch Onkel und Tante. Die beiden Positionen werden von Wunsch charakterisiert als einerseits souveräner, im Sinne des Begriffs herrschender Standpunkt, der sich durch Diskussionsstärke und ein spezifisches Denken, das Arbeitgeber-Denken, auszeichnet. Damit erhält die Position des Vaters eine rationale, vernunftbezogene Konnotation, deren Legitimität narrativ dadurch verstärkt wird, dass sie entspannt vertreten werden kann. Auf der anderen, opponierenden Seite befinden sich die nicht-souveränen Arbeitnehmer*innen, die sich immer so aufgeregt haben, wobei mit der Aufregung eine unangemessene und übertrieben emotionale Entrüstung zugeschrieben wird: Die familiale Unruhe wird nicht von beiden Seiten erzeugt, denn während der Vater entspannt und überlegen (souverän) diskutiert, echauffieren sich die Verwandten und legen damit das unkontrollierte und empfindliche Verhalten schlechter Verlierer an den Tag. Dabei wird erzählerisch betont, dass es sich bei den familiären Konflikten nicht um temporäre Spannungen, sondern um gleichbleibende (strukturelle) Muster handelt: Die Geschwister des Vaters waren immer neidisch, das hat Sinabell Wunsch immer mitbekommen und während der Vater immer souverän diskutiert hat und immer entspannt war, haben sich die Verwandten immer aufgeregt. Da die Opponent*innen nicht ausschließlich als Familienmitglieder, sondern darüber hinaus als Vertreter*innen unterschiedlicher sozialer Milieus gekennzeichnet sind, wirkt die Erzählung implizit als Verallgemeinerung spezifischer habitueller Dispositionen, die mit bestimmten Positionen im sozialen Raum verknüpft sind. Neben der Entfaltung dieser impliziten sozialräumlichen Relationierungen und Positionierungen zielt die Erzählung auf eine Selbstbeschreibung, denn die dargestellten logischen Verknüpfungen (Onkel – Arbeiter – Neid bzw. Vater – Arbeitgeber – Souveränität) werden von Sinabell Wunsch als etwas markiert, das sie schon in der Kindheit internalisiert hat. Die Folge, die sie hieraus ableitet, ist ein ausgeprägtes Denken wie ein Arbeitgeber. Dies konnte sie feststellen, als sie in ihrer Ausbildung der Arbeitnehmervertretung angehörte. Dabei stellt sie heraus, dass dieser arbeitspolitische Einsatz auf der ›falschen‹ Seite nicht aus Interesse oder Engagement zustande kommt, sondern weil sie gewählt wurde, wobei sich in dieser Ausführung sowohl Passivität bei der Erlangung des Postens als auch der Verweis auf ein Erwählt-sein bzw. Besonderung im Vergleich zu den Mitauszubildenden dokumentiert. Die Beteiligung an der Arbeitnehmervertretung wird als erhellendes Ereignis bzw. als reflexiver Schlüsselmoment markiert: Hier wird ihr klar (so die Erzählung), dass die Denkweisen der Arbeitnehmerschaft und ihre eigenen Denkstrukturen inkompatibel sind und dass sie sich am falschen Ort befindet (das ging gar nicht). Um die Eindrücklichkeit zu beschreiben, mit der dieser Umstand augenfällig wird, nutzt die den Begriff plakativ (Da ist das sehr, sehr plakativ geworden). Damit betont Sinabell Wunsch nicht nur die vordergründige Auffälligkeit der Nicht-Passung, sondern befreit sie narrativ von jeglicher Komplexität, Nuanciertheit und Ambivalenz. Diese Entschiedenheit expliziert Wunsch nicht nur in Bezug auf die eigene relationale
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Positionierung, sie betrifft auch eine generelle Vorstellung eindeutiger Klassensegregation, die das Grundthema der Erzählpassage ist. Im letzten Teil der Passage spitzt Wunsch die Grenzziehung zu: Onkel und Tante werden hier in rascher Folge als proletenmäßig, als einer bestimmten, ganz anderen Klientel zugehörig und als einfaches Volk charakterisiert. Nicht nur wirken die gewählten Zuschreibungen despektierlich, sie stellen auch implizit eine Verbindung zwischen (mangelndem) ökonomischen und (mangelndem) kulturellen Kapital her: Die im ersten Teil der Passage begonnene Skizze der wenig begüterten, unsouveränen und neidvollen Verwandtschaft wird nun um den Aspekt der Unkultiviertheit (proletenmäßig) und Schlichtheit (einfaches Volk) ergänzt. Die Position der Verwandten – und in der Abstraktion die Position der Arbeitnehmerschaft – wird damit vollumfänglich der Position des Vaters und Arbeitgebers unterworfen. Wunsch ordnet sich explizit der Seite der Arbeitgeber*innen zu und bestimmt damit ihre eigene, angestammte Position. Die Passage ist daher als Distinktionserzählung zu lesen, in der sich die Gründerin in ökonomischer, kultureller und intellektueller Hinsicht vom einfachen Volk abgrenzt. Die soziale Position, welche die Gründerinnen, die den Typus ›Fügung‹ hervorbringen, für sich reklamieren, erschließt sich also nicht allein über die ökonomische Dimension, sie wird im Rahmen der Narrationen auch über Verweise auf kulturelles Kapital und mentale Fähigkeiten bestimmt. In den Erzählungen spielen daher nicht nur materialistische Statussymbole wie ein Haus oder ein hohes Einkommen eine Rolle, sondern auch (traditionelle) Insignien der Kultiviertheit: Sinabell Wunsch etwa gibt an, in ihrer Kindheit eine hervorragende Balletttänzerin gewesen zu sein (dann war ich irgendwann die Beste in der Ballettschule und hab da dann meine Soli gehabt; Wunsch: 21). Karen Graf verweist mehrfach auf ihre kulturell gebildete Mutter (meine Mutter ist sehr musikbegeistert. Die hat immer Klavier gespielt, […] Cembalo, Spinett; Graf: 27), mit der sie eine ausgeprägte Frankophilie teilt (mich hat schon auch französische Kultur sehr fasziniert; Graf: 34). Und Andrea Schmidt erzählt von ihrer Faszination für Bücher und Gartengestaltung (Und dann hab ich Publizistik und Literaturwissenschaften studiert, weil mir diese Bücher, diese Literaturwelt mir schon immer am Herzen lag; Schmidt 21). Dabei werden nicht nur einzelne hochkulturelle Aspekte betont: Vielmehr rekurrieren die Gründerinnen auf eine spezifische Lebensführung, zu der sie – wie sie in den Erzählungen herausstellen – bereits seit Kindheit und Jugend neigen. Einige Gründerinnen berichten von Ausbildungen, die sie begonnen haben, um sich bestimmte hochkulturelle Bereiche zu erschließen: Katharina Große erzählt ausführlich von ihrer Luxushotel-mäßigen Ausbildung in der sie wirklich alles gelernt hat, was einen gehobenen Hotelstandard auszeichnet: Also ich hab’ alles von Flambieren, Zigarren abschneiden, Vorlegen, Cognac kredenzen, alles, wirklich alles gelernt. Das war Filetieren und so was. Alles auch am Tisch und so. Und das wurde auch gemacht. Also ich […] bin immer edel gekleidet, mit Handservietten durch die Gegend gelaufen, vorgelegt und Wein eingeschenkt, Rotwein, so, so und so, mhm. Das war schon GANZ edel. (Große: 27) Die kurze Passage dokumentiert bereits die affektive Bindung an die gesamte Atmosphäre des feinen Lebens. Hierzu gehören nicht nur die repräsentablen Praktiken am Tisch, sondern auch die edle Kleidung und stilvolle Erscheinung. Während Große in dieser Erzählung als Auszubildende im Hotelfach an der Hervorbringung hochkultureller Praxis beteiligt ist, stellt sie anderweitig heraus, dass sie ein solches Setting vor allem auch als Gast zu schätzen weiß:
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»Ich LIEBE Essen, muss ich ganz ehrlich sein. Und ich bin ein Essenssnob. Muss ich ganz ehrlich sagen. Es muss schon was Edles dran sein, es muss auch’n guter Wein sein, man muss das zelebrieren. Also ich weiß nicht, ich fand auch schon Filme immer gut, wo die immer so – also dieses Ambiente. Für mich ist nicht nur essen, es muss alles stimmen. Das war schon GANZ früh irgendwie so. Ich fand das faszinierend. Und auch, ich hab’ immer so diesen –, vielleicht hat das ja auch was mit ›Haus am Eaton Place‹ zu tun. Ich fand diese Sache, wenn man da so die Leute so hofiert, also denen was Gutes tun konnte, sich auch mit […], selbst sich auch mit diesen schönen Dingen umgeben zu können, fand ich toll. […] Das ist auch heute noch ne Leidenschaft von mir. Mir kann man was GANZ Gutes tun, indem man mit mir GANZ nobel essen geht und wirklich vom Feinsten und haste nicht gesehen.« (Große: 28/04-16) Diese Erzählung wird in Form eines Geständnisses eingeführt, indem Große anmerkt, dass sie ehrlich sein will in Bezug auf ihre Liebe zum (stilvollen) Essen. Zugleich kokettiert sie mit dieser Zurückhaltung und mit der Selbstbezichtigung, ein Essenssnob zu sein – eine Formulierung, mit der zwar scherzhaft Kritik an der Überheblichkeit der eigenen Vorliebe für kultiviertes Essen eingeräumt wird, die aber dennoch auf die Überlegenheit der eigenen Praxis verweist. Wie schon in der ersten Erzählpassage, wird auch hier deutlich, dass nicht das Essen oder der Wein im engeren Sinne für Faszination und Leidenschaft verantwortlich sind – beides muss vor allem gut oder edel sein. Wesentlicher sind Ambiente und Zeremoniell. Dabei bringt Große mit dem Verweis auf die Fernsehserie ›Das Haus am Eaton Place‹ die Qualität der Atmosphäre auf den Begriff: Anziehungskraft übt offenbar eine klassische, sich durchaus aristokratisch gerierende, bürgerliche Etikette aus, die das Hofieren des Gastes in den Vordergrund stellt. Die Erzählung dokumentiert also in erster Linie den Genuss an distinktiver Praxis, in der sich das Edle, Noble und Feine des Opus Operatum auf die Zelebrant*innen überträgt. Auch verweist Große darauf, dass sie die Affinität für das geschmackvolle und kultivierte Leben schon GANZ früh an sich feststellen konnte. Im Sinne Bourdieus Interpretation der ›feinen Unterschiede‹ dokumentiert sich dennoch eine spezifische Aneignung dieser Vorlieben jenseits familialer Transmissionsprozesse: Die Betonung der Distinguiertheit lässt diese nicht als selbstverständlichen Handlungsmodus erscheinen, sondern als bewunderte und angestrebte Praxis. Feinsinnigkeit und die leidenschaftliche Zuneigung zum gehobenen Lebensstil bilden allerdings nur eine Argumentationslinie, die im Rahmen dieses Lebensentwurfstypus die Beanspruchung einer entsprechenden sozialen Position legitimiert.
Selbstpositionierung Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits deutlich, dass die Gründerinnen, die entsprechend des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ orientiert sind, auf verschiedenen Wegen einen (überlegenen) sozialen Status narrativ für sich geltend machen und zudem diverse argumentative Strategien verfolgen, um diesen Anspruch zu rechtfertigen. So legitimiert Sinabell Wunsch die Selbsterhöhung gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen durch die ihr eigenen, familial transmittierten Denkstrukturen. In ihrer Erzählung dokumentiert sich also auch die Vorstellung einer sozialen Erbfolge bzw. einer familial begründeten sozialen Positionierung. Katharina Große hingegen verweist vor allem auf ihren Feinsinn und die emotionale Gebundenheit an soziale Praktiken, die einem
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gehobenen gesellschaftlichen Status zuzuordnen sind. Gemeinsam ist den beiden Argumentationslinien der Verweis auf die Internalisierung anerkennungswürdiger Denkund Wahrnehmungsmuster, womit zugleich eine hohe persönliche Passung zu den souveränen und kultivierten sozialen Statusgruppen markiert wird. Darüber hinaus wird die narrative Selbstpositionierung jedoch auch durch die Betonung einer hohen Leistungsfähigkeit legitimiert: Die Gründerinnen charakterisieren sich als ehrgeizige, hartnäckige, willensstarke und disziplinierte Leistungsträgerinnen, die sich durch hartes Arbeiten an sich selber und auch über den Schmerz hinaus auszeichnen (Wunsch: 9). Insofern basiert die Legitimation der avisierten sozialen Position auch auf einer hochgradig meritokratischen Argumentationslogik: »Deswegen hab ich mir letzten Endes alle Chancen, die ich brauchte, um mich zu entwickeln, durch meine Leistung selbst erobert, ja. Durch hervorragende Abschlüsse und durch hervorragende Zensuren und Beurteilungen bin ich immer in die Lage versetzt worden, beruflich auch das aufzubauen, was ich gerne haben wollte. Also ich stand mir da selber nie im Weg, dass ich sag, ja, da hast du jetzt aber nicht die Fähigkeiten oder die Abschlüsse oder die Kompetenzen. Was ich nicht hatte, hab ich mir hergeholt!« (Graf 07/18-24) Karen Graf führt hier zur Begründung ihrer beruflichen Position – sie war vor der Selbstständigkeit Kommunikationsmanagerin in einem Großkonzern – vor allem persönliche Leistungen an. Dabei verdeutlicht sie, wie tief der Erfolg in ihrer Selbstbefähigungskompetenz wurzelt: Nicht nur hat sie sich die berufliche Position erarbeitet, sondern letzten Endes alle Chancen, d.h. auch sämtliche Bedingungen, die ihre Positionierung begünstigt haben, sind auf ihr persönliches Engagement zurück zu führen. Diese Ermöglichungsbedingungen hat sie erobert, wobei sich in der Begriffswahl eine kämpferische Haltung dokumentiert, die auf die aktive Beanspruchung von Positionen orientiert ist. Bemerkenswert ist der in die Passage eingelassene Wechsel zwischen einerseits den Selbstbeschreibungen als treibende Kraft, die erobert, aufbaut und herholt und andererseits der passiven Formulierung des In-die-Lage-versetzt-worden-seins. Zwar verweist Graf darauf, dass sie die Voraussetzungen für ihre Erfolge eigenständig geschaffen hat. Hieraus resultiert jedoch offenbar nicht automatisch die Erreichung einer angemessenen beruflichen Position. Vielmehr deutet die narrative Konstruktion auf eine Zwischeninstanz hin. Damit wird eine nicht näher erörterte, außerhalb des eigenen Einflussbereichs liegende Wirkmacht adressiert, die offenbar unverzichtbar für die Realisierung der beanspruchten soziale Positionierung ist. Dies dokumentiert sich auch in der Formulierung ›ich stand mir da selber nie im Weg‹: Auch hier wird die Entfaltung des Wegs zum Erfolg trotz Leistung und Gestaltungswillen von der eigenen Handlungskompetenz abgelöst. Die Anstrengungen münden nicht etwa direkt in einer angemessenen beruflichen bzw. sozialen Stellung, sondern formieren lediglich ein Setting, in dem Graf das Erlangen eines angemessenen Status nicht behindert. Die Gründerin kann allein an den Bedingungen arbeiten und darauf hinwirken, dass sie sich selbst nicht sabotiert. Das Eintreten der angestrebten und verdienten gesellschaftlichen Positionierung liegt jedoch letztendlich jenseits des persönlichen Einflussbereichs. Die Passage verdeutlicht auch die hohe Orientiertheit auf objektiviertes kulturelles Kapital in Form von Bildungsabschlüssen und Zensuren. Sie ist ein Element des legitimatorischen Duktus, der mit diesem Lebensentwurfstypus verbunden ist: Die Grün-
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derinnen führen beständig Beweise ihrer Exzellenz und Besonderheit an, die ihre Ansprüche rechtfertigen. Einerseits werden dabei die Leistungen in bemerkenswerter Genauigkeit wiedergegeben – so führt Sinabell Wunsch an, dass sie in der 11. Klasse noch einen Notenschnitt von 1,7 hatte und dann für ihre Verhältnisse leider einen relativ schlechten Abiturschnitt von 2,3 oder 2,4 geschafft hat (Wunsch: 28) und Katharina Große verweist darauf, die sechst Beste in ihrer Berufsschulklasse gewesen zu sein, diese Erzieherausbildung also wirklich gut gemacht zu haben. Auffällig ist dabei die Genauigkeit, mit der die Bewertung der Leistungen wiedergegeben wird. Diese unterstreicht die Objektivität des Geleisteten und kann als narratives Mittel zur Verstärkung des Beweises persönlicher Vortrefflichkeit, sowie der Legitimation hoher Ansprüche verstanden werden. Auch lassen die Gründerinnen Zensuren, Abschlüsse und Ränge nicht für sich selbst sprechen, sondern explizieren deren Bedeutung, was den legitimatorischen Charakter der Erzählungen verstärkt. Und schließlich dokumentiert sich in den Interviews die hohe Relevanz einer relationalen Einordnung der persönlichen Leistungen und Qualitäten. Diese kann – wie bei Sinabell Wunsch – auf die eigenen Leistungen im Zeitverlauf bezogen sein, um anhand persönlicher Standards und periodischer Abweichung die individuelle Güte exakt zu Protokoll zu geben. Für den Typus ›Fügung‹ besonders bezeichnend ist jedoch die Relationierung im Verhältnis zu anderen Akteuren oder Akteursgruppen: »Dann hab ich da eben dieses tolle Angebot bekommen und ähm, wie gesagt, die wollten mich unbedingt haben, ich war damals auch, äh, hab als in, und in dem Jahrgang, in dem ich fertig war, deutschlandweit haben die da ein Besten-Treffen gemacht von dem Jahrgang, da war ich bei den 20 Besten dabei, also ich war dann auch immer irgendwo bei den Besten. Und die wollten mich unbedingt behalten und hatten mir da eben das Trainee-Programm angeboten.« (Wunsch 30/02-07) Objektivierbare Leistungen entfalten ihre Relevanz vor allem im Vergleich mit anderen Akteuren, indem sie einen Maßstab für die Relationierung der Leistung und die Legitimation für eine positionale Über- bzw. Unterordnung bilden. Sie ermöglichen Sinabell Wunsch, sich innerhalb der Leistungselite zu verorten, also darzustellen, dass sie zu den Besten gehört – wobei sie diese Zuordnung verallgemeinert, indem sie angibt, immer irgendwo bei den Besten gewesen zu sein. Zudem dokumentiert sich in der Erzählpassage die zentrale Bedeutung von expliziter Anerkennung persönlicher Qualitäten durch Dritte: Wunsch betont in dieser Passage widerholt, dass ›die‹ sie unbedingt in der Bank haben bzw. behalten wollten. Zunächst fällt auf, dass keine direkte argumentative Verbindung zwischen der (Recruiting-)Situation des Besten-Treffens und dem Angebot des Trainee-Programms hergestellt, sondern beides narrativ als abhängige Variable der Person dargestellt wird: Wunsch war sowohl eine der Besten als auch gefragte Mitarbeiterin – nicht etwa gefragte Mitarbeiterin, weil sie zu den Besten zählte. Damit exponiert Wunsch ihre Person als gleichermaßen leistungsstark und nachgefragt, wobei ihre Begehrtheit die Exzellenz zu verstärken oder zumindest zu beweisen vermag. Während also in der Erzählpassage die Besonderheit und Qualität der Leistungen auf die gesamte Person der Gründerin Wunsch übertragen wird, bleibt die Seite derjenigen Personen, die sie unbedingt behalten wollen, seltsam unbestimmt: mit dem Personalpronomen ›die‹ wird narrativ eine konkrete Gruppe adressiert, wobei offen bleibt, um wen es sich dabei handelt. Hierin kommt womöglich die für die Wissensordnun-
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gen dieses Typus hohe Relevanz von Statusgruppen zum Ausdruck. Grundsätzlich zeigt die Formulierung jedoch vor allem an, dass der Zustand des Nachgefragt-Seins bzw. Anerkannt-Werdens nicht an bestimmte Situationen oder Personen rückgebunden werden muss, zugleich jedoch auch nicht als abstraktes Merkmal erzählerisch hervorgebracht wird, sondern einer diffusen Gruppe mit Entscheidungsbefugnissen und Urteilskraft zugeschrieben wird. Damit wird die Anerkennung, von der Wunsch erzählt, einerseits verallgemeinert, denn sie stammt nicht von einer Einzelperson, sondern von einem relevanten Kollektiv, andererseits bleibt der Grad der Abstraktion in einem personalen Rahmen, der die Anerkennung als real, konkret und gezielt auf sie gerichtet erscheinen lässt. In dieser Passage dokumentiert sich also eine starke Orientierung auf (positive) Sanktionierung durch äußere Instanzen, welche sich auf persönliche Qualitäten bezieht und der Besonderung bzw. Erhöhung der Erzählerin dient. Hierin drückt sich eine Selbstzentriertheit, aber auch eine verstärkte Selbstbezüglichkeit aus, die für den Lebensentwurfstypus charakteristisch ist. Die hohe Bedeutung der Anerkennung zeigt sich auch in der Freude an und dem genussvollen Ausdeuten von Situationen, in denen den Gründerinnen die erwünschte Aufmerksamkeit entgegengebracht wird: »da hilft mir wieder die Hochschule X, da krieg ich meinen Raum gestellt, ich krieg alles, ich brauch bloß meinen Stick mit meiner Powerpointpräsentation mitbringen. Die hamm mir heute ein Schild geschickt, was sie immer aufhängen und plakatieren, da musst ich nur noch das so verändern, wie ich wollte. Das wird gedruckt da, das wird da aufgehängt und . Also ich bin da wirklich ein kleiner Star, sag ich immer. Find ich schön. Jedenfalls fühl ich mich wie ein Star. Ich bin kein Star, ich fühle mich sehr wie ein Star behandelt.« (Große 11/12-16) Katharina Große erzählt hier von einer Begebenheit zu Beginn ihrer Selbstständigkeit: Sie entschließt sich, ihr Angebotsportfolio um Seminarangebote an einer Hochschule zu erweitern. Die Zuarbeit durch die Hochschule empfindet sie nun als ein ebensolches Hofieren, das sie bereits in einer früheren Passage als angenehm und reizvoll anführt. Dabei blendet die Gründerin erzählerisch alle Bezüge auf eine mögliche Standardisierung des Umgangs mit Lehrenden und Vortragenden aus. Hierin kommt wiederum die starke Konzentration auf die eigene Person und die gesteigerte Selbstbezüglichkeit in der Deutung umgebender Kontexte zum Ausdruck. Die Auslassung der Möglichkeit, dass auch andere Akteure eine ähnliche Behandlung erfahren, lässt für Große die Unterstützungsleistungen als etwas erscheinen, das ihr persönlich zugedacht und nicht etwa strukturell auf Seminare bezogen ist. Entsprechend gibt ihr die Behandlung das Gefühl, wirklich ein kleiner Star zu sein, also nicht als eine Dozentin unter vielen, sondern als etwas Besonderes in Erscheinung zu treten. Zwar schwächt sie die Erzählung durch das Bekunden ab, zu wissen kein Star zu sein; wesentlich ist jedoch, dass sie sich von ihrer Umgebung sehr wie ein Star behandelt fühlt, sie also einen ganz realen Anlass für die Empfindung ausmachen kann. Auch Sinabell Wunsch zeigt sich empfänglich für Komplimente: »ich hab’s eben da noch liegen, den Zeitungsartikel, da sprechen die auch, da bin ich zitiert worden, und da steht drin: Die jungen Unternehmerinnen. Das ging mir runter wie Öl. Da dachte
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ich mir, das hört sich gut an. Ja. Also das ist wirklich, ähm… Also ich denk schon groß.« (Wunsch 39/42-44) Wunsch freut sich in dieser Erzählpassage, darüber, dass sie in einer Zeitung zitiert und als junge Unternehmerin adressiert wurde. Der Artikel scheint griffbereit vorzuliegen, so dass der Wahrheitsgehalt ihrer Aussage als unmittelbar überprüfbar markiert wird. Im Zentrum der Erzählung steht die schmeichelhafte Adressierung durch die Zeitung – den Umstand, dass sie zitiert wurde, schiebt sie als erwähnenswerten Aspekt ein. Zentral ist jedoch die Bezeichnung als junge Unternehmerin, die hier keineswegs als neutrale Funktionszuschreibung, sondern als Kompliment oder anerkennende Bezugnahme aufgefasst wird und die runtergeht wie Öl. Auch wird deutlich, dass ›Unternehmerin‹ in der Wahrnehmung Sinabell Wunschs mit einer spezifischen Konnotation versehen ist, auf welche die wiedergegebene Form der Adressierung nicht näher verweist: Unternehmerin-sein ist für Wunsch offenbar mit dem Besitz eines größeren Unternehmens verknüpft – Solo-Selbstständigkeiten sind also implizit ausgenommen. Zwar sieht sie dies für sich noch nicht eingelöst, sie scheint aber in der Benennung eine Vorwegnahme bzw. eine Passung zu ihrem eigenen Denken in großen Maßstäben zu erkennen. In beiden Passagen ist die anerkennende Instanz wiederum mit offiziellen Bewertungsbefugnissen ausgestattet: Katharina Große wird in ihrer Wahrnehmung von einer Hochschule als Star behandelt, d.h. von einer ernstzunehmenden, ihrerseits anerkennungswürdigen Institution hofiert, während Sinabell Wunsch durch die Zeitung, d.h. durch die publikative Gewalt, öffentlich als Unternehmerin dargestellt wird. Beide Instanzen verleihen der narrativen (Selbst-)Besonderung der Gründerinnen Nachdruck. Ebenfalls gemeinsam ist den Erzählungen eine auffällige Deutungsentschlossenheit: Sowohl die Unterstützungsleistungen der Hochschule als auch die gewählte Begrifflichkeit der Zeitung bedürfen eines spezifischen Wahrnehmungsschemas, um als besonderer Ausdruck von Anerkennung verstanden zu werden. Die – durchaus im Spektrum des Normalen befindliche – Koordinationspraxis der Hochschule und Publikationspraxis der Zeitung, werden durch die Gründerinnen mit Nachdruck in eine positive Bestätigung und Besonderung verwandelt, indem sie die jeweilige Praxis in einen bestimmten Deutungsrahmen versetzten.
Hindernisse und Verkennungen Die Kehrseite der starken Außenorientierung, wie auch der ausgeprägten Selbstbezüglichkeit und des spezifischen Interpretationsrahmens, ist eine hohe Sensibilität hinsichtlich verkennender Praxis und kränkender Situationen. Die für den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ typische Neigung, umgebende Praxisstrukturen vor allem auf sich selbst zu beziehen, führt dazu, dass die Gründerinnen Probleme oder Rückschläge überaus persönlich nehmen. So werden etwa Bewerbungsabsagen, nicht als Ausdruck einer zu geringen Passung zwischen Stelle und Qualifikationen oder als Effekt einer großen Bewerber*innenschaft, sondern als persönliche Kränkung wahrgenommen: ich hab mich in M. beworben bei sieben Stellen und hab dann Absagen bekommen und das war für mich schon irgendwie das Höchstmaß an Demütigung irgendwie, also es war fürchterlich (Schmidt: 19f). Superlativ und bedeutungsstarke Begrifflichkeit bringen eine hohe emotionale Berührtheit in Bezug auf die Ablehnung zum Ausdruck. Aber nicht nur die Be-
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werbungsabsage an sich, auch die Bewerbungssituationen empfindet Andrea Schmidt als herabwürdigend: »Und diese Situation, die fand ich eher demütigend. Dieses Hingehen und dann, sag ich mal, auf meine alten Tage, mich so präsentieren zu müssen, um dann eventuell genommen zu…, ne? Das war bei der einen Stelle ganz entsetzlich, das war von der Caritas […] nee war Kolping. Und dann wollten die den Lebenslauf von dem Kolping von mir wissen. Ob ich mich also auch im Internet vorher informiert hab und ich wusste in dem Moment gar nicht, was die von mir wollten« (Schmidt: 05/19-26) Hier adressiert Schmidt insbesondere die Begutachtungssituation, in der sie sich präsentieren und sich den Fragen der potenziellen Arbeitgeber*innen stellen muss, als eine Demütigung. Sie beschreibt die Situation einerseits als ihrem Alter nicht angemessen, andererseits wird auch deutlich, dass die Möglichkeit des Scheiterns ihrer Bemühungen als entwürdigend wahrgenommen wird (sich präsentieren müssen, um dann eventuell genommen zu werden). Ähnlich wie bereits im vorhergehenden Kapitel, dokumentiert sich auch hier eine deutliche Selbstbezüglichkeit in der Deutung der Situation: Die Gesprächspartner*innen – so die Erzählung – wollen gezielt von Andrea Schmidt wissen, ob sie sich im Internet informiert hat, wobei die Begebenheit narrativ auf diese konkrete, persönliche Interaktion zusammenschrumpft und so der obligatorische Charakter der Frage in den Hintergrund tritt. Die Bewerbungssituation gerät damit erzählerisch zu einer Prüfungssituation, in der nicht etwa das Interesse an der normativen Ausrichtung der Kolpingwerke und hierauf aufbauend die Passung der Bewerberin erfragt, sondern Schmidt persönlich abgefragt, geprüft und bewertet wird: Der Duktus der Erzählung erzeugt den Eindruck einer Machtasymmetrie, die eher zu einem Lehrer*innenSchüler*innen-Verhältnis als zu einem Bewerbungsgespräch passt (Und dann wollten die von mir wissen). Dies quittiert die Gründerin in ihrer Erzählung mit empörter Irritation, wobei sie mit der Darstellung verdeutlicht, dass sie nur in dem Moment verwirrt war, ihr rückblickend jedoch die mit den Fragen provozierte Herabwürdigung deutlich vor Augen steht. Die Erzählpassage bezieht ihre besondere Spannung also aus dem Umstand, dass sich Andrea Schmidt über eine degradierende Behandlung empört, die sie möglicherweise vor allem in ihrer Deutung als solche hervorbringt: Zumindest ließe sich vorsichtig einwenden, dass soziale Einrichtungen (wie auch viele Wirtschaftsunternehmen) in ihren Bewerbungsverfahren durchaus regelmäßig Fragen zu Tradition, Geschichte und normativer Ausrichtung der Organisation stellen. Die hohe Selbstbezüglichkeit in der Rekonstruktion von Situationen führt offenbar dazu, dass die Gründerinnen Gesagtes und Getanes häufig als explizite Anerkennung oder aber als gezielten Angriff auf ihre Persönlichkeit deuten. Dies wird auch in der folgenden von Katharina Große geschilderten Situation deutlich, in der sie im Anschluss an ein vom Arbeitsamt arrangiertes Vorstellungsgespräch gegen ihren Wunsch als Erzieherin im frühkindlichen Bereich eingesetzt werden soll: »Und dann hat ich dieses große Vorstellungsgespräch, war mit den ganzen Stadtmenschen hier, da waren zehn Leute am Tisch, neun von der Stadt, und die eine Dame vom Arbeitsamt und wo ich das dann auch kommuniziert hab, also dass ich das nicht kann und dass ich das nicht will und dass ich gerne bereit bin, mehr zu arbeiten, aber ihr könnt mich besser unterbringen, und
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wir werden glücklicher miteinander, wenn diese Stelle so und so WÄRE. Und dann meinte die Dame vom Arbeitsamt: ›Also Frau Große, wenn sie sich nicht an die Gewohnheiten des Badenlandes* gewöhnen wollen, dann müssen sie zurück gehen, nach S. da wo Sie hergekommen sind.‹ Vor allen anderen. Und ich glaub, das war so’n ausschlaggebendes Erlebnis für mich, dass –, oder so’n tiefgreifendes Erlebnis, dass ich auch gedacht hab, die wollen mich gar nicht. Also die können mit dieser – mit diesem Flexibilität oder mit diesem offenen Mensch, der ich ja auch einfach bin, und auch mit dieser Klarheit nicht viel anfangen. Die hamm ne andere Gesprächsroutinen, so zu sagen, dass es da schwierig werden wird, mit uns. Und das hab ich sehr persönlich aufgenommen, das war ja auch’n persönlicher Angriff, das kann man nicht unpersönlich sehen, andererseits hat sie sich auch selber sehr ins Aus gespielt damit und – ja, und so zeichneten sich auch die ganzen anderen Werdegänge dann vom Arbeitsamt – ich hab dann auf dieser Absage heraus, die ich ja dann selbst gewählt hab, zu sagen, nein, das mach ich nicht, ne Sperre bekommen sollen vom Arbeitsamt, aber ich hatte die Variante, und da ich mich im Arbeitsrecht ganz gut auskannte, dass ich, wenn ich weniger als 30 Prozent verdiene, muss ich die Stelle nicht annehmen.« (Große 04/20-41) Die Erzählung wird mit der Skizze einer Frontenstellung eröffnet: Die Gesprächspartner*innen im Bewerbungsverfahren werden als Kontrahent*innen eingeführt, die der Gründerin in großer Überzahl entgegentreten. Zudem werden sie als Vertreter*innen öffentlicher (Macht-)Instanzen adressiert (Stadt, Arbeitsamt). Katharina Große tritt in der Narration als Arbeitssuchende auf, die hinsichtlich ihrer Haltung und Kompromissbereitschaft klar orientiert ist, wobei die Formulierung ›ich kann nicht, ich will nicht‹, keinerlei Begründung der ablehnenden Einstellung beinhaltet und daher trotzig wirkt. Dies wird jedoch durch den jovialen Hinweis konterkariert, dass sie den Entscheider*innen erklärt habe, wie sie besser untergebracht werden könne, auf dass sie alle miteinander glücklicher würden, wobei die Konkretisierung einer geeigneten Stelle angedeutet wird (wir werden glücklicher miteinander, wenn diese Stelle so und so WÄRE). Diese wie ein Friedensangebot rekonstruierte Einlassung der Gründerin markiert einerseits ein selbstbewusstes Auftreten im Kreis des versammelten Entscheidungsgremiums. Andererseits stellt sie insofern eine ungewöhnliche Handlung dar, als der Rahmen, in dem die Konfrontation stattfindet, als Vorstellungsgespräch gekennzeichnet ist, in dem die strikte Ablehnung des potenziellen Tätigkeitsbereichs und die Unterbreitung eines Gegenangebots eher unüblich sind. Im Zentrum der Erzählung steht jedoch die Ablehnungserfahrung, die Große als tiefgreifendes bzw. ausschlaggebendes Erlebnis bezeichnet und damit als ein Ereignis mit Folgen für ihr weiteres Handeln markiert. Die Ablehnung wird dabei nicht als Reaktion auf den Vorschlag, eine andere Stelle für sie zu finden, oder als Konsequenz ungeeigneter Qualifikationen erzählt, sondern als Generalablehnung ihrer gesamten Person eingeführt, die im Vorschlag der Dame vom Arbeitsamt, sie solle sich aus der Region entfernen, ein prägnantes Bild findet. Die Narration birgt einen doppelten Angriff auf die Person der Gründerin: Einerseits soll Große gegen ihr Naturell handeln bzw. sich (um)gewöhnen, um sich in die lokale Sozialordnung einfügen zu können, womit zugleich eine Verkennung der gegenwärtigen habituellen Disponiertheit adressiert wird. Andererseits birgt der Ortsverweis eine Maximale Ablehnung, die gegen die gesamte Person in ihrer körperlichen Anwesenheit gerichtet ist. Mit Blick auf die geschilderte Situation
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formuliert Große daher als vordringlichen Eindruck, unerwünscht bzw. nicht gewollt zu sein. Diese Kränkung wirkt umso stärker als sie vor allen anderen geschieht also zugleich eine öffentliche Demütigung bedeutet. Dass die Erzählung insgesamt einen kämpferischen Duktus aufweist, wird nun auch in der Explikation der Kränkung als persönlicher Angriff deutlich. So führt die Argumentation eine Logik mit, bei der Katharina Große dem Gremium einen vernünftigen, weil für alle Seiten glücklicheren Vorschlag unterbreitet und daraufhin persönlich attackiert wird, in einer Art und Weise, die selbst bei größter Bemühung nicht als unpersönlich zu verstehen ist, die also den Bereich des sachlichen Austauschs verlässt. Damit wird der Angriff als illegitim markiert. Die formale Unrechtmäßigkeit wird dabei mit der inhaltlichen Unangemessenheit parallelisiert: Die Anfeindung geht gegen ihr flexibles, offenes und klares Naturell, mit dem die Gesprächspartner*innen nicht viel anfangen können. Zwar räumt sie ein, dass ihr Umgang mit der Situation des Vorstellungsgesprächs offenbar die Gesprächsroutinen der anderen Anwesenden gestört hat, folgert hieraus jedoch nur bedingt, dass die Abweisung aufgrund mangelnder Passung erfolgt. Als mindestens ebenso wesentliche Begründungslinie dokumentiert sich die Charakterisierung der anderen Anwesenden, die in der Negation der eigenen, positiven Eigenschaften liegt: Katharina Großes Erzählung legt nahe, dass die Gesprächspartner*innen an ihre Wesensart nicht anschließen können und in ihren Gesprächsroutinen verharren, weil sie im Gegenteil zu ihr unflexibel und borniert sind. Damit wird die Verkennung nicht nur als formal und inhaltlich illegitim markiert, sondern auch als Impertinenz angedeutet, da das Gegenüber offenbar nicht in der Lage ist die charakterlichen Qualitäten der Gründerin zu erkennen. In der Erzählpassage kommt ein zentraler Aspekt des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zum Ausdruck: Kränkungen und Misserfolge werden hier als Verhinderungen einer angemessenen Positionierung rekonstruiert, die zumeist auf die Inkompetenz oder Missgunst anderer Akteure und Akteursgruppen, aber auch auf unglückliche Umstände zurück zu führen sind. Fehlschläge sind Ausdruck der Verkennung und illegitimen Verwehrung jenes sozialen Status, der dem Charakter und der Leistung der Gründerinnen entspricht. Wesentlich sind dabei nicht etwa die Probleme, Misserfolge und Kränkungen an sich, die selbstverständlich auch in biografischen Rekonstruktionen im Rahmen anderer Lebensentwurfstypen vorkommen. Im Typus ›Fügung‹ nehmen sie aber die Form von Hindernissen oder Prüfungen an, welche die Erreichung einer angemessenen Positionierung erschweren. Durch dieses Erzählelement erhält die Lebensgeschichte den für diesen Typus charakteristischen heroischen Charakter: Die Gründerinnen versetzen sich narrativ in eine (unverschuldete) missliche Lage, in der ihre Qualitäten auf die Probe gestellt werden und die sie überwinden müssen. Dieses Muster zeigt sich schließlich auch in der Erzählpassage von Katharina Große, denn diese endet mit einem (Teil-)Sieg über die Mitarbeiterin der Arbeitsagentur. Dabei beweist die Gründerin Standhaftigkeit und Integrität, indem sie sich trotz persönlicher Angriffe und strukturellen Drucks nicht von ihren Überzeugungen abbringen lässt. Zudem betont sie, dass die Absage selbst gewählt ist, womit sie sich narrativ letztendlich Souveränität über die Anstellungsentscheidung verschafft und zugleich die Schmähung ihrer Person als ein bewusstes Erdulden im Dienste der Authentizität darstellt. Darüber hinaus kann sie dank ihrer juristischen Kenntnisse der angedroh-
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ten Strafe entgehen. Die Kontrahentin von der Arbeitsagentur erhält in der Erzählung hingegen, was sie verdient, indem sie sich mit dem persönlichen Angriff selber sehr ins Aus gespielt hat. Worin diese Selbstbeschädigung genau liegt wird allerdings nicht ganz deutlich. Narrativ trägt diese Feststellung vor allem zu einer moralisch befriedigenden Vervollständigung der ›Story‹ bei, indem die sprichwörtliche Verhaltensfolge, nach der diejenigen, die anderen eine Grube graben, selbst hineinfallen, zumindest erzählformal der folgerichtigen Auflösung zugeführt wird, sich die Geschichte also zum Guten wendet und die Gegnerin die Auswirkungen ihres Verhaltens spüren muss. Solche Überwindungsgeschichten kennzeichnen den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ und zeigen sich als narratives Grundmuster, das in durchaus unterschiedlichen Erzählsituationen Anwendung findet: In ehemaligen beruflichen Kontexten, bei der Begegnung mit Ämtern, in Schule und Universität, sogar im Freundes- und Bekanntenkreis treffen die Gründerinnen in ihren Rekonstruktionen auf Hindernisse die überwunden und Verkennungen die zurückgewiesen werden müssen. Dabei wird deutlich, dass der beständige Kampf um die Legitimierung und Durchsetzung der persönlichen Statusansprüche für die Gründerinnen eine dauerhafte Anstrengung und Anspannung bedeutet: »Wo ich oft am Boden nach Hause gekrochen bin am Wochenende, um mich mal zu erholen, weil es auch ein schwerer Weg war. Es war ein verschlungener Weg, es war auch ein sehr spannender Weg, aber es war eben auch ein schwerer Weg. Und mein Bruder hat sich einfach eingebildet, dass ich mach, was ich will, dass ich so heiter durchs Leben gehe und er muss arbeiten und die anderen und ich eben nicht. Und das waren dann immer so Konfliktpunkte, die auch heute zum Teil noch so sind, wo ich dann auch gleich explodier, wenn er jetzt zum Beispiel mit der Ferienwohnung gesagt hat, na ja, das ist ja locker verdientes Geld. Da bin ich ausgerastet, ne.« (Schmidt 22/18-26) In der Passage dokumentiert sich, dass dieser Lebensentwurfstypus von den ihn hervorbringenden Gründerinnen als zeitweilig emotional höchst beanspruchend empfunden wird. Andrea Schmidt beschreibt ihren Lebensweg als verschlungen und spannend, aber eben auch als beschwerlich. Dass dies von ihrem Bruder nicht wahrgenommen und gewürdigt wird, empört sie. Dabei zeigt sich zugleich, dass die Familie für die Gründerin nicht den erwünschten Rückzugsraum bietet: Zwar sucht sie hier Erholung vom strapazierenden Kampf um ihren Platz in der Gesellschaft, doch ist sie auch innerhalb der Familie mit Verkennung konfrontiert, etwa wenn ihr der Bruder einen unbedachten, eigensinnigen und müßigen Lebenswandel vorwirft. Er zweifelt also in ihren Augen die Respektabilität ihres Lebensentwurfs an und verwehrt ihr die zur Erreichung des erwünschten Sozialstatus zwingend notwendige soziale Anerkennung. Vor dem Hintergrund des zentralen Verlangens nach externer Bestätigung, das mit diesem Lebensentwurfstypus einhergeht, sowie der hohen Sensibilität für Verkennung und einer Selbstbezüglichkeit, die Misserfolge als persönliche Kränkung erscheinen lassen, erhält die Selbstständigkeit einen besonderen Stellenwert in den Erzählungen der Gründerinnen.
Schlüsselmomente Die Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ hervorbringen, weisen der Selbstständigkeit eine besondere Relevanz in Bezug auf eine angemessene Positionie-
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rung im sozialen Raum zu. Ähnlich wie dies für den Typus ›Drift‹ bereits beschrieben wurde, dient die Gründung also auch hier nicht in erster Linie der (stringenten) Fortsetzung einer beruflichen Laufbahn, sondern bietet einen formalen Rahmen, in dem der spezifische Lebensentwurf in Praxis gebracht werden kann. Anders als beim Typus ›Drift‹ handelt es sich jedoch nicht um eine pragmatische Bezugnahme, bei der die Selbstständigkeit insofern austauschbar erscheint, als sie durchaus gegen eine ähnliche arbeitsformale Ermöglichungsstruktur ersetzt werden könnte. Vielmehr wird die Gründung mit Blick auf den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ als ein befreiendes Moment und existenzielles Ereignis rekonstruiert, das zumeist plötzlich und auf unerwarteten Wegen eintritt: »Und dann bin ich auf ein Seminar von denen [gemeint ist die Deutsche Vermögensberatung AG] mitgegangen. Das ist auch im Nachhinein sehr interessant, weil da wurden mir einige Steine in den Weg gelegt, weil ich eigentlich an diesem Seminar, es waren drei Tage, gar nicht teilnehmen hätte können, weil ich niemanden für die Hunde hatte. Mein Mann war zu dem Zeitpunkt beruflich in Amerika, meine Eltern hatten auch, die normalerweise, wenn, dann im Zweifel die Hunde nehmen konnten, keine Zeit, und ich hatte aber dieses IRRsinnige Bedürfnis. Ich WUSSTE, ich MUSS da hin. Also ich, sowas hab ich, glaub ich, so stark noch nie erlebt. Ich WUSSTE, ich muss da hin, weil, das wird mein Leben verändern. Das war also ein DRANG, den ich zu dem Zeitpunkt nicht erklären konnte, aber ich hab dann wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt, hab dann eine FREUNDIN, also meine beste Freundin, mit der ich studiert hab, mobilisieren können, sie hat sich extra URLAUB genommen, dass sie die drei Tage hier ist für meine Hunde. Und es war dann tatsächlich so, also das war, im Nachhinein war das so ein richtiges, ähm, ja ich sag einfach, Motivations- so ein Chakka-Seminar. Also so: Wir sind die Tollen und die Starken und überhaupt und- Ich bin da aber so motiviert rausgegangen, also, es war natürlich eigentlich für die DVAG, und da ist so viel passiert und es war so ein, ähm-, ja, ein, ein Gruppenerlebnis einfach auch- ich denke, das hat sehr viel für mein Selbstwert getan, dass mir einfach klar wurde, was ich wirklich kann, wie gut ich bin. Und- und auch, also ich hab, mhh, ich beschäftige mich ja schon viele, viele Jahre mit Kommunikation, mit, ja äh, Konstruktivismus und, und diesen ganzen Sachen, also was einfach, wie ich meine eigene Realität gestalte, und das wurde da nochmal intensiv, also, bestätigt. Die haben, sie waren genau auf diesen Trip, von wegen, jeder ist für sein Leben selber zuständig, und es sind nicht die Anderen schuld, sondern ich bin nur für mich selber verantwortlich und äh alles im Leben hat seinen Sinn […] und so auf die Tour: Jeder kann es schaffen, wenn er nur wirklich will. Also jeder kann alles schaffen. Und das ist ja grad bei dieser DVAG auch so, dass die ja wirklich Elektriker, was weiß ich, also wirklich Menschen ansprechen, die jetzt vielleicht nicht den Bildungsstand haben und sagen: Du kannst die große Kohle machen. Wie gesagt, ähm, mir hat trotz allem das Ganze sehr viel genutzt, weil da, also da ist bei mir irgendwie ein Knoten geplatzt bei dem Seminar. Also des war tatsächlich- da ist dann- ich kam so motiviert und ähm, ja, voller Zuversicht und Vertrauen einfach zurück. Und das ist also ne Eigenschaft von mir, ich brauch manchmal ein bisschen länger, aber WENN dann bei mir was äh, wenn der, mhh, ja, der Punkt äh bei mir erreicht ist und überschritten ist, dann . dann geht das alles ratzfatz. Also dann bin ich im totalen Aktionismus, und, ähm, dann geht das alles ganz schnell bei mir. Und so war’s da auch, also es ist und es, also im Nachhinein, das muss man sich wirklich vorstellen. Ich hab also dann, ich kam am Montag oder wann von diesem Seminar zurück, nee, gar nicht wahr, das ging länger, ist ja egal,
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Dienstag oder Mittwoch. Auf jeden Fall am Donnerstag hab ich dann für mich die Entscheidung getroffen: Ich mach’ mich selbstständig.« (Wunsch 03/38-04/32) Die Passage ist auf die Erzählung eines Schlüsselmoment konzentriert, der als Auslöser für Sinabell Wunschs Selbstständigkeit dargestellt wird. Die persönliche Ausgangslage, auf die das Erzählte zu beziehen ist, kann – wie sie später expliziert – als ein biografischer Tiefpunkt verstanden werden: also ich für mich selber würd’s so definieren, dass ich da wirklich an einem Tiefpunkt angelangt war. Ähm, gesundheitlich an einem Tiefpunkt war. Ähm, psychisch und emotional an einem Tiefpunkt war. Und sich mir einfach so diese, ähm, ja diese Frage nach dem Lebenssinn gestellt hat. (Wunsch: 10) Das für den Gesamtentwurf dieses Typus charakteristische Muster der Überwindungsgeschichte, wiederholt sich nun in dieser Erzählpassage im Kleinen: auch die Schlüsselmomenterzählung folgt einer Dramaturgie, deren Spannung unter anderem durch die Notwendigkeit, sich gegen Widerstände durchzusetzen, erzeugt wird. Die Bewältigungsthematik wird dabei mit dem Verweis auf Steine, die der Gründerin in den Weg gelegt wurden, expliziert. Durch diesen erzählerisch in das Schlüsselereignis eingelassenen Überwindungsgestus erhält dieses einen befreienden, geradezu kathartischen Charakter und die Gründung selbst wird auf diese Weise mit einem Entstehungsmythos ausgestattet. Umso erstaunlicher nimmt sich das konkrete Problem aus, welches es zu bewältigen gilt: Sinabell Wunsch verspürt den Drang, an einem Seminar der DVAG teilzunehmen, findet allerdings keine Betreuung für ihre Hunde und ist also durch ihre Fürsorgepflicht ans Haus gebunden. Verwunderung löst das im Grunde profane Problem vor allem aufgrund der Bedeutungsüberhöhung aus, denn sowohl die Ausweglosigkeit der Ausgangssituation als auch die Dringlichkeit der Seminarteilnahme werden vor allem narrativ erzeugt und geradezu magisch aufgeladen. Dies geschieht durch eine Vielzahl erzählerischer Mittel: Bereits der Verweis darauf, dass die Hürden, die es zunächst zu überwinden gilt, in der Rückschau bemerkenswert sind (das ist auch im Nachhinein sehr interessant) und dass ihr (von etwas oder jemandem) Steine in den Weg gelegt wurden impliziert eine nicht genauer fassbare, aber dennoch in der Situation wirksame Kraft, deren Logik nur retrospektiv zu erahnen ist. Die missliche Ausgangssituation wird somit nicht als das ungünstige Aufeinandertreffen verschiedener Gegebenheiten gedeutet (der Ehemann ist nicht zu Hause, die Eltern haben keine Zeit, das Seminar findet ausgerechnet in diesem Zeitraum statt), sondern als eine gezielte Verhinderung. Dem gegenüber steht die positive Aufladung des Seminars, die ebenso diffus hervorgebracht wird, denn sie verspürt einen unerklärlichen Teilnahmedrang, ein irrsinniges Bedürfnis. Mit dieser Vorahnungserzählung (Ich WUSSTE, ich muss da hin, weil, das wird mein Leben verändern) werden pragmatische Lösungen – etwa der Seminarbesuch zu einem späteren Zeitpunkt – suspendiert. Die Möglichkeit der Seminarteilnahme gerät damit narrativ zur Schicksalsfrage. Der sich hierin dokumentierende Glaube an einen tieferen Sinn oder eine schicksalshafte Macht wird dabei insofern als Grundprämisse sichtbar, als die Gründerin bekundet sowas noch nie so stark erlebt zu haben und damit gleichzeitig die generelle Vertrautheit mit Schicksalsbegegnungen adressiert. Auch dem inneren Drang wird ein retrospektiv erschließbarer Grund zugeschrieben, indem Wunsch darauf verweist, dass sie sich diesen zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht erklären konnte, sie also in der Situation zwar keinen Zugriff auf den tieferen Sinn des Schlüs-
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selmoments hatte, dieser jedoch offenbar bereits vorlag und für sie zu erahnen bzw. zu spüren war. Die Erzählung erhält also durch die implizite Darstellung einer Konfrontation mit verhindernden und ermöglichenden Kräften, die über eine lebensverändernde Situation entscheidet, einen dramatischen und fantastischen Charakter. Die Ermöglichung der sich ankündigenden positiven Folgen schreibt sich Wunsch selbst zu: Aufgrund der hellsichtig erkannten Bedeutsamkeit des Seminars, setzt sie alle Hebel in Bewegung und mobilisiert normalerweise unangetastete soziale Ressourcen, indem sie eine Freundin um Unterstützung bittet, die daraufhin extra Urlaub nimmt. Das Seminar selbst wird in einer Doppelstruktur erzählt: Einerseits rekurriert Sinabell Wunsch auf die vordergründige Ausrichtung und den offensichtlichen, aber etwas zweifelhaften Stil eines Chakka-Seminars, bei dem allen Anwesenden, egal welchen Bildungsstand sie aufweisen, suggeriert wird, sie gehörten zu den Tollen und Starken, sie könnten alles schaffen und die große Kohle machen. Auf dieser Ebene der Erzählung dokumentiert sich das Selbstverständnis einer abgeklärten Seminarteilnehmerin: Sie durchschaut die Strategie des Strukturvertriebs und weiß, dass nicht jeder Elektriker durch die DVAG zum Millionär werden kann. In diesem Hinweis drückt sich abermals die für den Typus kennzeichnende distinktive und statusbezogene Orientierung aus, denn hier wird weniger das Aufstiegsversprechen an sich in Frage gestellt, sondern eher angezweifelt, dass dies für alle Teilnehmer*innen gleichermaßen gilt, dass es also jeder schaffen kann, wenn er nur wirklich will. Dieser Ansicht ist Wunsch nicht, sie impliziert jedoch, dass sie selbst nicht nur zu jenen Menschen zählt, die hochgesteckte Ziele auch erreichen können, sondern – mehr noch – ihren eigenen Nutzen aus dem Seminar ziehen können. Während die eine Ebene der Narration also die reflektierte Seminarteilnahme thematisiert, adressiert die andere Ebene einen inneren Prozess, der – ohne dass dies vom Veranstalter beabsichtigt ist (es war natürlich eigentlich für die DVAG) – zur Selbsterkenntnis führt: Die genauen Geschehnisse bleiben dabei vage, Wunsch expliziert nur, dass da so viel passiert ist und das Gruppenerlebnis ihr zu bestimmten Einsichten verholfen hat. Die Unbenennbarkeit der Ereignisse verweist einerseits auf die Diffusität und Komplexität von Erkenntnisprozessen, verstärkt aber auf der anderen Seite den Eindruck, dass es sich bei dem inneren Prozess um eine Metamorphose handelt, die sich von gewöhnlichen Lernereignissen unterscheidet und sich einer rationalen Erläuterung weitestgehend entzieht. Das Seminar hat, nach Wunschs Bekunden, sehr viel für ihren Selbstwert getan. Auffällig an dieser Formulierung ist der Verzicht auf eine Subjektivierung der Selbstwertsteigerung, denn üblicherweise wird von einer Verbesserung des Selbstwertgefühls gesprochen. Ähnlich bemerkenswert sind auch die Formulierungen der weiteren Effekte des Seminars: Wunsch erzählt, dass ihr klar geworden ist, was sie wirklich kann und wie gut sie ist. Die Erkenntnis betrifft also nicht grundsätzlich den Umstand, dass Wunsch bestimmte Qualitäten aufweist, sondern vielmehr das Ausmaß der persönlichen Vortrefflichkeit. Anscheinend wirkt das Seminar deshalb motivierend auf die Gründerin, weil es nicht nur den vermuteten Selbstwert bestätigt, sondern ihr sogar dessen gesamtes Ausmaß vor Augen führt. Es produziert oder aktiviert nichts, was nicht bereits objektiv in Sinabell Wunschs Persönlichkeit angelegt gewesen wäre, aber es verhilft diesem Potenzial durch Selbsterkenntnis zur Entfaltung. Dies betrifft auch die Gestaltungskompetenz: Auch hier verfügt Wunsch schon vor der Seminarteilnahme über Ressourcen
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(über viele Jahre gesammeltes Wissen über Kommunikation und Konstruktivismus), die sie jedoch offenbar bisher nicht zum Einsatz bringen konnte. Das Seminar bestätigt nun ihre Überlegungen zur Gestaltbarkeit der eigenen Realität. Die Lebensphilosophie, die Wunsch daraufhin kursorisch wiedergibt und die sie zwar salopp als ›Trip‹ bzw. ›Tour‹ der DVAG markiert, an der sie zugleich jedoch Parallelen zur eigenen Weltanschauung ausmacht, verbindet die Idee der Eigenverantwortlichkeit mit Schicksalsbezügen: Einerseits ist jeder für sein Leben selber zuständig, und es sind nicht die Anderen schuld, sondern ich bin nur für mich selber verantwortlich andererseits hat alles im Leben seinen Sinn. In diesem Spannungsfeld zwischen dem Glauben an die eigene Leistungsfähigkeit bzw. Selbstwirksamkeit und dem fatalistischen Verweis auf einen tieferen Sinn bewegt sich der Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹: Die Unentschiedenheit zwischen Autonomie und Heteronomie, aber auch zwischen Innen- und Außenorientierung, die sich über die gesamten Erzählungen der Gründerinnen erstreckt und etwa die Begründung der Angemessenheit eines bestimmten sozialen Status sowohl in persönlicher Leistungen als auch in einer leistungsunabhängigen persönlichen Besonderheit verankert, zeigt sich konzentriert in dieser Schlüsselmoment-Passage. Während Wunsch also nach Kräften die Voraussetzungen schafft, damit sich ihr Schicksal zum Guten wenden kann, hat sie auf das entscheidende Ereignis, dass nämlich der Knoten platzt, keinen direkten Einfluss. Dabei unterstützt das Seminar, wobei in der Erzählung deutlich wird, dass es zwar ein Katalysator ist, nicht aber die treibende Kraft des lebensverändernden Wandlungsprozesses. Es wird als ein profanes Instrument adressiert (Chakka-Seminar), dass jedoch den notwendigen Rahmen für die Veränderung bietet. Worin das eigentliche Movens besteht, kann Wunsch nicht benennen: Entweder sie bleibt in der Beschreibung vage (da ist so viel passiert) oder sie scheitert bei dem Versuch einer Explikation (Also des war tatsächlich- da ist dann- ich kam so motiviert und ähm, ja). Die Unmöglichkeit einer näheren Erklärung reiht sich stimmig in die Form der Gesamterzählung ein: Die unerklärliche Vorahnung des lebensverändernden Ereignisses; die durch das rasche Erzähltempo und die intensive Nutzung verstärkender und steigernder Begriffe (›viel‹, ›sehr‹, ›so‹) vermittelte Euphorie; das durch den Einsatz bekräftigender Formulierungen (›wirklich‹, ›tatsächlich‹) verdeutlichte Beharren auf die Wahrhaftigkeit des Geschehenen; die sich überschlagende Argumentation (Und- und auch, also ich hab, mhh, ich beschäftige mich ja schon viele, viele Jahre mit Kommunikation, mit, ja äh, Konstruktivismus und, und diesen ganzen Sachen), die sowohl die Unerklärlichkeit des Geschehenen als auch die emotionale Bewegtheit der Gründerin dokumentiert. Die Gesamtheit dieser Erzählelemente verstärkt den apotheotischen, die Ereignisse mystisch überhöhenden Charakter der Narration. Die Hürden, die den Lebensweg bisher behindert haben, verlieren in diesem Schlüsselmoment an Bedeutung und die Gründerin findet Zugang zu ihrem Potenzial. Nach dem innerlich befreienden Seminarerlebnis geraten auch die Lebensumstände wieder ins Lot. Der Eindruck einer entfesselnden und gleichsam katalytischen Wirkung des Schlüsselmoments wird durch den Verweis auf den geplatzten Knoten bzw. den überschrittenen (kritischen) Punkt verstärkt. Entsprechend geht im Folgenden alles ganz schnell: innerhalb kürzester Zeit – wie durch die Nennung der einzelnen verstreichenden Wochentage betont wird – fasst Sinabell Wunsch den Entschluss, sich selbstständig zu machen.
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Der Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ ist – wie sich in der Erzählpassage zeigt – deutlich auf eine besondere Bedeutsamkeit orientiert. Anders als im Rahmen des Typus ›Drift‹, der das Bedeutsame von (Lebens-)Aufgaben zentriert, steht hier die Bedeutsamkeit der eigenen Person bzw. die Bedeutung des eigenen Lebens – der persönliche Lebenssinn – im Vordergrund. Schlüsselmomente stellen nun Situationen dar, in denen die Gründerinnen diesbezüglich zu einer Einsicht gelangen. Sie weisen explizit auf Prozesse des Umdenkens bzw. der innerlichen Entwicklung hin, die jedoch narrativ auf einen äußerlichen Auslöser rückgebunden werden: »Aber der Gedanke an eigene Firma, und des ist ja auch wieder eine Beratungstätigkeit, diese Gartengeschichte, die hat sich letzten Herbst entwickelt, als ich aufgehört hab zu rauchen. Ich glaub im August hab ich aufgehört zu rauchen und da hat sich viel getan in der ganzen Art den Tag zu leben und so was und man kriegt wirklich auch einen ganz freien Kopf. Und da hat sich dann der Gedanke mit der Gartenberatung, auch noch mal ausgelöst durch den Besuch der Ausstellung in K. von dieser Gärten der Kunst, des war im Juli, im August hab ich aufgehört zu rauchen und im September hab ich gedacht, ich mach eine Art von kultureller Gartenberatung« (Schmidt 01/44-02/04) Auch Andrea Schmidt verweist in dieser Erzählpassage auf eine umfassende persönliche Veränderung, die der Gründung vorausgeht: Die Grundsätzlichkeit der Veränderung zeigt sich in der ganzen Art den Tag zu leben. Wesentliche Voraussetzung für die Existenzgründung ist der ganz freie Kopf, mit dem sie den Gedanken an die Selbstständigkeit fassen kann. Schmidt führt nun zwei Ereignisse als Schlüsselmomente der Selbstständigkeit ein: einerseits die Rauchentwöhnung, die ihr diesen klaren Kopf verschafft und andererseits ein Ausstellungsbesuch, der ihr die zündende Idee für ein Gründungsprojekt liefert. Ähnlich wie in der Erzählung von Sinabell Wunsch werden auch die hier aufgeführten Schlüsselmomente insbesondere durch die Art der Adressierung in den Status eines einschneidenden Erlebnisses überführt. Während der Rauchentwöhnung im Allgemeinen bereits der Entschluss vorausgeht, etwas an der Lebensführung zu ändern bzw. die Aufgabe des Rauchens schon an sich eine Änderung der Lebensführung darstellt, wird die Entwöhnung in dieser Erzählung zum Ausgangspunkt der Entwicklung. Sie bildet die Voraussetzung dafür, dass die bereits gemachte Ausstellungserfahrung in eine zündende Idee verwandelt werden kann. Auch in dieser Erzählpassage geht danach alles sehr rasch, auch hier zeigt die Aufzählung der wenigen vergehenden Monate zwischen den Schlüsselmomenten und der Gründungsentscheidung den schnellen und fast selbstläufigen Weg zur Selbstständigkeit an. Dieses rasche, fast eigenständige Fügen der Dinge zeigt sowohl die Relevanz als auch die Wirkmacht der Schlüsselereignisse an. Umgekehrt sind diese entscheidenden Momente, die in ihrer narrativ erzeugten Unerklärlichkeit eine mystische Konnotation erhalten, geeignet, die Selbstständigkeit als schicksalshafte Lebensaufgabe zu markieren. Sie wird nicht aus einer Laune heraus, aus rationalen Überlegungen oder aufgrund äußerer Zwänge gewählt, sondern sie hat ihren Ursprung in einem besonderen, durch die Narration magisch aufgeladenen Moment, in dem die Gründerinnen zu Selbsterkenntnis gelangen. In der Gründung erfüllt sich daher (vorläufig) die Bestimmung der Gründerinnen.
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Das Verhältnis von Innen und Außen Wie bereits im letzten Kapitel deutlich wurde, ist das in den Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ eingelassene Verhältnis zwischen Selbst und Umwelt vielschichtig. Durch die explizite Relevanz eines bestimmten sozialen Status ist der Typus grundsätzlich in einem hohen Maße auf das Erspüren bzw. Erfahren ihrer relationalen sozialräumliche Verortung und mithin auf die Anerkennung durch andere Akteure angewiesen. Dies drückt sich – wie bereits gezeigt wurde – in der Betonung objektivierter Zeugnisse persönlicher Vorzüglichkeit aus, wird aber auch durch Erzählungen angezeigt, in denen andere Personen die Exzellenz der Gründerinnen adressieren, sie protegieren, unbedingt einstellen bzw. im Unternehmen halten wollen oder wegen ihrer besonderen Fähigkeiten loben (eine Freundin sagt immer, das ist dein Blick auf die Menschen, den du hast, der deine Dinge so schön macht; Schmidt: 31). Legitimiert wird der angestrebte Status dabei zumeist durch Leistungen, Begabungen und eine ausgeprägte Passung zwischen den persönlichen Neigungen und einem gehobenen Lebensstil. Der Weg zu einer angemessenen sozialen Position ist durch ein für die Gründerinnen wenig fassbares Zusammenspiel eigener Anstrengungen und besonderer Kontextbedingungen gekennzeichnet: Den Gründerinnen obliegt die Aufgabe, die in ihrem Einflussbereich liegenden Ermöglichungsbedingungen günstig auszurichten, die eigentliche Realisierung der persönlichen Statusansprüche entzieht sich jedoch ihrem Wirkungsbereich. Der Lebensentwurfstypus erhält durch dieses Element eine fatalistische Konnotation: Der Lebensweg birgt Schlüsselmomente, in denen den Gründerinnen zu einem adäquaten Status verholfen wird oder sie diesem Ziel zumindest näherkommen. Insofern ist der Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ nicht nur eine Überwindungs-, sondern auch eine Aufstiegsgeschichte, wobei der Aufstieg nicht kontingent, sondern bereits im Wesen der Gründerinnen angelegt ist, sich also nur noch erfüllen muss.
In Erwartung der Anerkennung des rechtmäßigen Status Trotz der Betonung persönlicher Leistungen dokumentiert sich in Bezug auf die Umwelt ein relativ geringer Gestaltungsanspruch. Während etwa im Rahmen der Lebensentwurfstypen ›Pfad‹ und ›Drift‹ beständig verschiedene Kontexte erschlossen werden, um entweder den geeigneten Anschluss für die Fortsetzung des Lebenswegs oder eine möglichst große Aufgaben- und Themenvielfalt zu erhalten, genügen hier bereits kleinere Rückschläge – etwa einige Bewerbungsabsagen oder ein kränkendes Bewerbungsgespräch – um bestimmte Arbeitssettings kategorisch auszuschließen: Also ich hab mich in M. beworben bei sieben Stellen und hab dann Absagen bekommen und das war für mich schon irgendwie das Höchstmaß an Demütigung irgendwie, also es war fürchterlich, aber der Gedanke, wie würde ich dann leben, das war wirklich sehr unangenehm. Dann lieber promovieren. (Schmidt: 19f) Die Möglichkeiten einer aktiven Gestaltung des eigenen Lebenswegs geht im Rahmen des Typus ›Fügung‹ also weniger mit der Suche, Erprobung und Erschließung neuer Kontexte einher und basiert auch nicht auf der Bereitwilligkeit, sich Gegebenheiten anzupassen, vielmehr zeigt sich eine starke Fokussierung der eigenen Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse. Diese Selbstbezüglichkeit dokumentiert sich besonders deutlich im Glauben an die Kraft des positiven Denkens. So berichtet bei-
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spielsweise Karen Graf von Erfolgen, die sie mit der Konzentration auf bestimmte Ziele errungen hat: Und dann hab ich den Vertrag visualisiert, wann der zustande kommt und in welcher Summe, und so ist es geworden (Graf: 9). Und auch Sinabell Wunsch hebt die Wirkung positiven Denkens hervor: »Meine, meine Gedanken. Also ich bin einfach der festen, wirklich mittlerweile der festen, Überzeugung, dass man, ähm … Naja, also, ich will jetzt nicht sagen, man kann alles schaffen, was man will. Aber ich glaub’ schon, dass es ausschlaggebend ist, in welche Richtung man denkt. Und wenn man einfach an Erfolg glaubt und, und in Richtung Erfolg denkt, und, äh, eben Zweifel gar nicht aufkommen lässt, sondern wirklich powert und . ja, einfach den Glauben nicht verliert. Das ist für mich ausschlaggebend. Also ich denk’, das ist auch der Bereich, warum Menschen erfolgreich sind.« (Wunsch 14/35-42) Hierin dokumentiert sich eine Logik, die Handlungserfolg weniger auf bestimmte Ereignisketten oder auf Zufall zurückführt, sondern als ausschlaggebendes Element den Glauben an sich selbst und an den eigenen Erfolg identifiziert. Zwar verweist Wunsch auch darauf, dass es wichtig ist wirklich zu powern, allerdings steht dieser Hinweis auf diszipliniertes, beständiges Arbeiten nicht im Zentrum der Argumentation und wird eher als Strategie eingeführt, die geeignet ist, Zweifel zu zerstreuen. Als wesentliche Erfolgsgaranten sind in dieser Passage der Glaube bzw. das positive Denken genannt. Letzteres geht dem gelingenden Lebensweg geradezu voraus, wenn es in die richtige Richtung, nämlich in Richtung Erfolg gelenkt wird. Dabei handelt es sich um einen aktiven Prozess, der zum einen die gezielte Denkausrichtung, zum anderen das Zurückweisen aufkommender Zweifel beinhaltet. Obwohl Wunsch der festen Überzeugung ist, dass das positive Denken ein ganz realer Schlüssel zum Erfolg ist, bleibt die Wirkungsweise in der Erzählung vage. Dies drückt sich nicht nur in der diffusen Feststellung aus, es handele sich um den Bereich, warum Menschen erfolgreich sind, sondern auch in der großen Bedeutung, die dem Glauben zukommt: Es geht um das vorbehaltlose Vertrauen darauf, dass sich der Erfolg einstellt, ohne faktische Anhaltspunkte oder konkrete Begründungen zu verlangen, die bezeugen, dass dies auch geschehen wird. Die persönlichen Anteile bei der Gestaltung des Lebenswegs, d.h. die Konzentration auf das Schaffen persönlicher Voraussetzungen und auf den Erfolgsglauben, finden ihr Gegenstück in der Vorstellung, dass die Umstände – einem tieferen Sinn folgend – ihrerseits den Weg zu einer angemessenen sozialen Position freigeben. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Rekonstruktion von Schlüsselmomenten, drückt sich aber auch in einer bestimmten Erwartungshaltung gegenüber anderen Akteuren und Situationen aus: »Also wie das ja im Leben so ist, es kommt sowieso alles so, wie’s kommen muss. Ich war im Anerkennungsjahr als Diplomsozialpädagogin hier in einem Museum und da wurde auch ne Stelle frei, und diese Stelle war sehr hart umkämpft und der Ossi kämpft nicht, der Ossi will gefragt werden, ich in dem Fall, wollte gefragt werden und ich wurde nicht gefragt, beziehungsweise . wurde nicht gefragt, und andererseits, da die Machtkämpfe dort anfingen, um diese Stelle sich zu positionieren, da mach ich ungern mit, also ich mach nicht gerne Spielchen, um mich besser darzustellen, das ist das, was ich nicht gelernt hab, was ich nicht gut kann. Und da war dann auch noch mal klar, also wenn ich das können muss, um diese Stelle zu bekommen, oder Stel-
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len, die mich halt weiter bringen irgendwie, dann, nee, dann gehst du … dann bist du, glaub ich, in der Selbstständigkeit besser aufgehoben. Da musst du sicherlich auch bestimmten Menschen um den Bart gehen, um Aufträge zu bekommen, oder so, aber da kann ich, wenn mir einer wirklich ABSOLUT zuwider ist, dann kann ich auch sagen, nein, das mach ich nicht, das knick ich mir. Und da . und nur, um mich anzubiedern, oder irgendwelche Ränkespiele zu machen, um ne Stelle zu bekommen, das ist mir einfach . da geh ich in die Verweigerung. So. Und da war dann auch für mich ganz klar: funktioniert nicht. Anstellung funktioniert einfach nicht.« (Große 06/45-07/14) Die Erzählpassage thematisiert eine Situation, in der Katharina Große eine attraktive, aber umkämpfte Arbeitsstelle nicht erhält, weil sie sich nicht um diese Stelle bemüht, sondern diese gerne, ohne eigens darauf hinzuwirken, angeboten bekommen möchte – sie möchte gefragt werden, wird jedoch nicht gefragt. Diese Haltung führt sie auf ihre ostdeutsche Herkunft zurück und legt sie im Laufe der Passage näher dar: Ihr widerstreben die offene Konkurrenz (der Ossi kämpft nicht) ebenso wie die Spielchen der Selbstdarstellung und Positionierung. Die hat sie nicht gelernt und kann sie nach eigener Einschätzung auch nicht spielen. Allerdings stellt sie dies nicht als Schwäche dar, sondern bringt das Konkurrieren um einen Arbeitsplatz mit vornehmlich negativen Handlungspraktiken und Charaktereigenschaften in Verbindung: Das Kämpfen um einen Arbeitsplatz setzt in dieser Erzählung Anbiederung und Ränkespielchen voraus, erfordert also Selbsterniedrigung, Schöntuerei, Heimtücke und Hinterlist. Der Verweis auf das eigene Unvermögen in dieser Hinsicht deutet also zugleich einen aufrechten, ehrlichen und integren Charakter an. Diese implizite Selbstbeschreibung wird auch durch die Adressierung der Vorteile einer Selbstständigkeit gestützt, die in der Möglichkeit liegen, Aufträge oder auch Auftraggeber*innen, die ihr absolut zuwider sind, ablehnen zu können. In der Erzählpassage werden die negativen Charaktereigenschaften als Voraussetzung für das Reüssieren im Kampf um ein Anstellungsverhältnis verallgemeinert und zugleich verweigert Große ihre Beteiligung an derart gestalteten Machtkämpfen (also wenn ich das können muss, um diese Stelle zu bekommen, oder Stellen, die mich halt weiter bringen irgendwie, dann, nee). Gefragt zu werden, ist in dieser Erzählung also nicht nur angemessen, es ist auch zugleich die einzige Möglichkeit, eine Person ihres Charakterschlags als Mitarbeiterin zu gewinnen. Da dies nicht geschieht, kommt es wie’s kommen muss: Katharina Große entscheidet sich für die Selbstständigkeit. Damit dient die Episode jedoch in der Retrospektive zumindest der Erkenntnis, dass abhängige Beschäftigungsverhältnisse für sie nicht in Frage kommen (Und da war dann auch für mich ganz klar: funktioniert nicht. Anstellung funktioniert einfach nicht). Hierauf lässt sich der Schicksalsbezug zu Beginn der Erzählpassage beziehen: Zwar hätte die Weiterbeschäftigung nach dem Praktikum eine schlüssige Fortsetzung der beruflichen Laufbahn bedeutet, stattdessen wurde Große aber vor Augen geführt, dass die Selbstständigkeit das für sie passendere Tätigkeitsfeld darstellt. Darüber hinaus drückt sich auch im Abwarten, ob die Stelle ohne weiteres Zutun in Aussicht gestellt wird, eine fatalistische Haltung aus, welche die Erwartung impliziert, dass sich der richtige Arbeitsplatz ohne Kampf und Kränkungserfahrungen finden wird.
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Kampf gegen widrige Umstände Mit Blick auf das Verhältnis von Selbst und Umwelt ist die Annahme, dass die Umwelt den Gründerinnen eher feindlich gegenübersteht, ein weiteres markantes Merkmal des Typus ›Fügung‹. »Also da wären eher, was in Deutschland vielleicht nicht besonders überraschend ist, eher negative Eindrücke, die sich so angesammelt haben, im Laufe der Jahre. Ein Selbstständiger hat in unserem Land, so empfinde ich es, KEIN gutes Image. GAR NICHT. Das wird weder toll gefunden oder unterstützt. Es ist meiner Wahrnehmung nach eher so, dass jeder nur SOFORT versucht rauszufinden, wo sind die Schwächen bei dem Modell. […] Das ist dasselbe, wie wenn sie mit Kindern berufstätig sind. […] Es wird nur geschaut, was klappt da nicht. Entweder die Kinder kommen zu kurz oder die Ehe geht kaputt oder die ist beruflich überhaupt nicht erfolgreich. Es ist so, dass man nur nach Nachteilen gefragt wird. Und die Leute wirklich immer reingehen und schauen, was klemmt an dem Modell? Um sich dann zurückzulehnen vielleicht und zu sagen, mein Modell ist doch besser.« (Graf 05/03-25) Den Kontext dieser Erzählung bildet die Frage nach Menschen, die auf dem Weg in die Selbstständigkeit eine Rolle gespielt haben, wobei Graf dies als Frage nach dem Vorhandensein von Leitplanken, Vorbildern bzw. beeindruckenden Wegen reformuliert und sofort verneint (Graf: 4). Sie bezieht sich – im Gegenteil – auf die ganz und gar nicht vorbildliche, vielmehr behindernde Art der Menschen in Deutschland. Dabei steigert sich die Darstellung der beklagenswerten Aspekte im Laufe der Erzählung von mangelnder Achtung und Unterstützung über das gezielte Suchen nach Schwächen bis hin zum beständigen Versuch, sich auf Kosten anderer selbst zu erhöhen. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht also erneut das Thema Anerkennung bzw. Verkennung, das facettenreich entfaltet wird – von der Verwehrung (Selbstständigkeit wird weder toll gefunden noch unterstützt) über die Suche nach Gründen für Despektion, bis hin zur schadenfrohen Überheblichkeit. Die negative Lage wird narrativ in zwei Richtungen verallgemeinert: Zum einen treffen die Herabwürdigungsversuche bestimmte soziale Gruppen, nämlich Selbstständige und berufstätige Mütter, wobei Graf beiden Gruppen angehört und somit in doppelter Hinsicht von der gezielten Geringschätzigkeit betroffen ist. Zum anderen ist die negative Haltung nicht auf einzelne Akteure oder Situationen begrenzt, sondern wird (mindestens) in weiten Teilen der Bevölkerung dauerhaft hervorgebracht: Jeder versucht nur und sofort die Schwächen der anderen zu finden und die Leute schauen wirklich immer zuerst danach, was nicht funktioniert. Zudem wird die Trefflichkeit der Beobachtung narrativ mit dem Gestus der Kennerschaft gestützt, indem einerseits auf den common sense (in Deutschland vielleicht nicht besonders überraschend), andererseits auf die persönliche Lebenserfahrung (Eindrücke, die im Laufe der Jahre gesammelt wurden) rekurriert wird. In der Passage dokumentiert sich das Bild einer Einzelkämpferin, die ihr Ziel ohne fremde Unterstützung erreichen muss und kann, die also keine Person zu nennen weiß, die auf dem Weg in die Selbstständigkeit eine Rolle gespielt hat. Die Umwelt in Gestalt der missgünstigen Bevölkerung erschwert dabei die Bemühungen, indem sie nicht nur ihren Zuspruch verweigert, sondern sich sogar verächtlich zeigt. Nun ließe sich die dargestellte Problemlage mit dem Verweis auf deren Virtualität verkleinern, denn immerhin wird von keiner faktischen Behinderung berichtet. Mit Blick auf das
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für den Lebensentwurf zentrale Ziel, einen respektablen, als angemessen erachteten Status zu erreichen, ist die (gefühlte) Verkennung allerdings eine vordringliche Gefahr, da sie die persönlichen Bestrebungen umfassend angreift. Neben der Aneignung objektivierter Statusinsignien ist die konkrete Anerkennung und Hochachtung durch das Gegenüber der Gradmesser, der die Annäherung an das (Lebens-)Ziel anzeigt. Das von Karen Graf thematisierte Problem liegt also nicht nur in der konkreten Abwertung, es wird vielmehr dadurch intensiviert, dass sich damit die eigentlich notwendige – und als angemessen empfundene – Haltung der Anerkennung in ihr Gegenteil verkehrt. Eine neutrale Einstellung gegenüber der Gründerin löst das Problem nicht, da auch die Neutralität es an Anerkennung mangeln lässt. Dies dokumentiert sich im Problemaufriss, der eben nicht von der Demontage, sondern von der verweigerten Achtung ausgeht. Dass diese Verweigerung illegitim ist, macht Graf mit dem Hinweis kenntlich, dass der Grund für die mangelnde Unterstützung ein Imageproblem der Selbstständigkeit sei, also in einer verbreiteten negativen Konnotation liegt, die dadurch zugleich als (haltloses) Vorurteil gekennzeichnet wird. Die Illegitimität der Verkennung zeigt sich aber auch in der Darstellung sozialer Interaktion als infame und selbstgerechte Suche nach Schwächen. Die Passage kann daher auch als eine Ausführung gelesen werden, die aufzeigt, dass die Erreichung eines angemessenen Status auf breiter Linie durch die Böswilligkeit der Menschen behindert wird. Zwar verallgemeinert Karen Graf das dargelegte Problem, es wird jedoch bereits deutlich, dass sich hieraus eher das Gewicht der persönlichen Erschwernis denn eine Gesellschaftskritik ableitet. Diese Konstruktion des einsamen Ankämpfens gegen widrige Umstände ist zentral für den Lebensentwurfstypus und fundiert maßgeblich den bereits aufgezeigten Topos der Überwindungsgeschichte. »hier in B. ist es absolut nicht möglich, ne Anstellung zu finden, weil katholisch und evangelisch, also die Kirche ist da im sozialen Bereich sehr, sehr präsent, und in den öffentlichen Trägern wird oft ., also ich sag mal dazu Vetternwirtschaft. Da wird ganz oft versorgt mit den Leuten, die man halt kennt. Und da ich Främe bin, hier sagt man Främe zu den Fremden, kam ich da immer auch zu kurz« (Große 01/35-41) Auch hier thematisiert die Erzählung eine unlautere Behinderung (Vetternwirtschaft) und auch hier dokumentiert sich mit Blick auf die Position der Gründerin eine Vereinzelung. Deutlicher als in der vorherigen Passage wird diese als aktiver Ausschluss rekonstruiert. Dieser wird auf die reaktionäre Haltung der religiös geprägten Region zurückgeführt, die Fremde per se benachteiligt. Auch wird ein biografisches Scheitern (absolut nicht möglich, ne Anstellung zu finden) mit dem unredlichen Verhalten der Umwelt begründet, wobei die mangelnde Redlichkeit umfassend verankert wird: Große verweist nicht nur auf formal unzulässiges Handeln, sondern auch auf die bornierte Haltung der Ortsansässigen – beides trägt dazu bei, dass sie zu kurz kommt. Die Passage handelt daher nicht in erster Linie vom biografischen Scheitern, sondern vor allem vom Scheitern an liederlichen Umständen. Erschwernisse und Verhinderungen werden durch die Gründerinnen aber auch auf ungleiche Ausgangsbedingungen zurückgeführt:
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»Es hat mich schon sehr angestrengt. Also ich hab mich . Hm, also wirklich wohl hab ich mich an der Uni da nicht gefühlt. […] Zu dem Zeitpunkt war ich schon verheiratet, ich hatte, ich hatte einen eigenen Hausstand und ich hab das halt bei den anderen Studenten mitbekommen, die haben halt noch bei Mami zu Hause gewohnt, die hat sich um alles gekümmert, und die mussten nicht . Ich hab da zu dem Zeitpunkt ja parallel in der Bank weitergearbeitet. Also ich hab dann… Bin da nicht ganz ausgestiegen, einfach das, vom Geld her. Und das war schon ein bisschen frustrierend zu sehen, die anderen haben einfach auch die ZEIT, um zu lernen, weil sie sich auch, und auch den Kopf, sag ich mal, weil sie sich einfach um nichts anderes kümmern brauchen. Und ich hatte da eben Mann, Haushalt, zu dem Zeitpunkt hatten wir auch einen Hund schon. Also ich hab, war irgendwo mit allem anderen so beschäftigt UND hatte die Uni noch. Es war schon eine Herausforderung.« (Wunsch 31/19-31) Sinabell Wunsch erzählt hier, wie anstrengend sie das Studium empfindet, was sie relativ unerwartet trifft, da sie in der Schule zu den guten Schülerinnen gehörte und als Bankkauffrau zudem bereits Einblick in die Inhalte des BWL-Studiums gewinnen konnte (Wunsch: 31). In dieser Passage nimmt sie nun einen impliziten Leistungsvergleich zwischen sich selbst und den anderen Studierenden vor, den sie umgehend als unfair darstellt, denn während die anderen noch bei Mami wohnen und sich voll und ganz auf das Studieren konzentrieren können, steht sie selbst bereits mitten im Leben, muss Geld verdienen, einen Haushalt führen und sich um Mann und Hund kümmern. Wunsch verweist also auf die besonderen Umstände, die ihr das Studieren erschweren und kennzeichnet somit ihre Schwierigkeiten mit dem Studium als erklärlich. Dabei geht sie in einem doppelten Sinne relativierend vor, denn nicht nur stellt sie die eigenen Leistungen als umstandsbedingt vermindert, sondern auch die Leistungen der anderen Studierenden als umstandsbedingt verbessert dar. In dieser Passage wird abermals der für den Typus kennzeichnende Doppelcharakter der Umwelt deutlich: Diese wird einerseits als Ort der relationalen Positionierung und als Maßstab für die eigene Leistungen hervorgebracht, andererseits als hürdenreiches und beschwerliches Gelände, durch das der persönliche Weg zum Erfolg führt. Hierin drückt sich auch das in den Lebensentwurfstypus eingelassene einzelkämpferische Selbstverständnis aus, welches zum Teil als auferlegtes, zum Teil als selbst gewähltes Schicksal rekonstruiert wird, in jedem Falle aber eine Besonderung der Gründerin markiert. Das einzelkämpferische Moment entsteht nicht ausschließlich im Erfordernis, sich der Umwelt zu erwehren, sondern ist zugleich auch ein Aspekt des Selbstverständnisses, den die Gründerinnen positiv hervorheben. Einzelkämpfertum dokumentiert sich also nicht nur als Zwangslage, sondern auch als Charaktereigenschaft. »Also bei mir steht ganz oben im Leben, […] dass ich für mich immer versuche, wenn ich Zwänge erkenne, diese Zwänge aufzulösen und ›n eigenen Weg zu probieren. Das war schon immer so. Also dieses, […] so hinterherlaufen und wie alle mitschwimmen, kann ich mich nicht erinnern, dass ich mich dabei je gut gefühlt hätte. Und ich bin’s auch gewöhnt, von früh an, dass meine Fragen oder meine Interessen als sehr unbequem empfunden wurden. Und auch sehr negative Reaktionen zum Teil ausgelöst haben.« (Graf 06/33-43) In dieser Passage erhalten die negativen Reaktionen der Umwelt eine neue Konnotation: Sie werden nicht als erschwerende oder verhindernde Widerstände dargestellt,
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sondern als Gradmesser, der die Eigenständigkeit und Individualität der Gründerin anzeigt. Karen Graf thematisiert hier ihren freiheitsliebenden, unabhängigen Charakter als grundlegende Konstante ihrer Persönlichkeit (immer schon). Mit diesen Eigenschaften geht eine Aversion gegen Zwänge einher und der Drang, eigene Wege zu suchen. In der Erzählung dokumentiert sich dabei eine direkte Verknüpfung der persönlichen Unabhängigkeit mit der Notwendigkeit gegen den Strom zu schwimmen. Der ausschließliche Bezug auf den Modus lässt die Nonkonformität allerdings als Selbstzweck erscheinen: Es geht hier nicht in erster Linie um Integrität und Standhaftigkeit hinsichtlich einer spezifischen Haltung oder um das Durchsetzen eines bestimmten Ziels, sondern um die Darstellung einer autonomen Persönlichkeitsstruktur, die sich positiv gegen Heteronomie und Opportunismus abhebt. Hier zeigt sich, dass das konfliktive Verhältnis zur Umwelt nicht ausschließlich durch eine besondere Sensibilität hinsichtlich kränkender und behindernder Situationen, sondern auch durch die Lust am Konfrontativen, den Stolz auf Nonkonformität und den Willen zur Besonderung bedingt ist.
Entgrenzung und Begrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche Die Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ hervorbringen, positionieren sich besonders explizit gegen die Zwänge, die ein Angestelltenverhältnis mit sich bringt und zeigen sich sensibel hinsichtlich etwaiger Unterordnungspraktiken. Auf der anderen Seite bewerten und erfahren sie Arbeit als einen wesentlichen Aspekt zur Erlangung sozialer Anerkennung. Phasen der Arbeitslosigkeit belasten die Gründerinnen daher in einem besonders hohen Maße. Sie bedeuten nicht nur ökonomische Verunsicherung, sondern vor allem auch eine persönliche Entwertung. Dies drückt sich etwa in Katharina Großes Begründung des Studiums aus: »das war dann eher so Status erfüllend, so. So, dass man irgendwie nicht ewig arbeitslos ist, sondern – was ja auch ne Abwertung von Gesellschaft – also was man auch erlebt, Abwertung. Also es heißt, wenn man also Abwertung in dem Sinne, was ich erlebt hab, ›Na, guten Tag, hast du schon n Job gefunden? Wo bewirbst du dich denn demnächst?‹ – Wo ich gedacht hab, ey, gibt es noch was anderes im Leben, ne? Definiert man sich hier NUR über die Arbeit oder so was? Und so konnt ich dann wenigstens sagen, ich studier. So. Und mir war aber klar, ich pass in diesen sozialen Bereich, in der Form, wie er da existiert nie hin, aber ich hab erst mal drei Jahre Ruhe und kann sagen, ich studiere. So. Deswegen hab ich’s gemacht. Ja.« (Große 30/05-17) In der Erzählung dokumentiert sich die Sorge um den sozialen Status, der durch Arbeitslosigkeit gefährdet ist. Diese Befürchtung ist so wirksam, dass Große ein Studium aufnimmt, das sie als nicht sonderlich passend empfindet – die Statuserfüllung wird nicht nur als vordringlichster, sondern explizit als einziger Grund angeführt. Das Studium stellt also ein Moratorium dar, eine Phase, in der die Gründerin ihre Ruhe vor der Positionierungspraxis hat und weder der Verkennung noch den als repressiv empfundenen Strukturen des Arbeitsmarktes ausgesetzt ist. Die Selbstständigkeit wird im Rahmen dieses Lebensentwurfstypus in ganz ähnlicher Weise rekonstruiert. Die Gründung bietet also die Möglichkeit einer Statussicherung bei gleichzeitig selbstbestimmten Arbeitsstrukturen.
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Selbstkonstruierte Formalisierung Die mit der Selbstständigkeit verbundene Möglichkeit, Arbeitszeit und Freizeit eigenständig bestimmen zu können, wird von den Gründerinnen als enorme Befreiung (Graf: 21) empfunden. Während im Rahmen des Typus ›Pfad‹ den Arbeitsstrukturen der Selbstständigkeit eine gute Passung zur Lebenssituation und zu den persönlichen Entwicklungsambitionen zugesprochen wird und im Rahmen des Typus ›Drift‹ die Korrespondenz zwischen deren Flexibilität und der Komplexität persönlicher Interessen in den Vordergrund steht, betonen Gründerinnen des Typus ›Fügung‹, dass die Selbstständigkeit mit ihrem Charakter, insbesondere ihrem Freiheitsdrang, harmoniert: »Also das ist einfach auch dieser Luxus, dass ich mir, dass ich eben nicht so dieses, ha, in der Früh aufstehen, fertig machen, in die Arbeit gehen, da reinkommen. Und das jeden Tag. Also und ich glaub’, da bin ich auch zu… zu spontan und zu… ja, ich glaub’, zu lebenslustig, als dass ich mich da eben in was reinpressen lassen würde.« (Wunsch 17/06-10) Sinabell Wunsch betont hier, dass die Monotonie des (klassischen) Angestelltendaseins nicht zu ihrem Naturell passt, welches sie als aktiv, lebensbejahend und fröhlich darstellt. Damit wird umgekehrt der Topos der Selbstentfremdung durch eintönige, sinnentleerte Arbeit adressiert und zur Konnotation nicht-selbstständiger Arbeit genutzt. Allerdings kann im Rahmen des Lebensentwurfstypus die Arbeit nicht ihrer Ernsthaftigkeit und Seriosität entledigt werden: Damit sie in den Augen der Gründerinnen symbolisch wirksam ist, also als ›echte Arbeit‹ gelten kann, muss sie auch erkennbar als Arbeit – im Sinne von Anstrengung – markiert werden: Ab zehn muss ich am Schreibtisch sitzen und habe Anrufe zu machen oder Rechnungen zu schreiben oder . wie auch immer, meinen Überblick zu verschaffen oder es ist irgendwas da. Um zehn sitz ich immer am Schreibtisch, das sag ich auch jedem, meine Bürozeit fängt um zehn an und da bin ich erreichbar (Große: 13). Die Erzählung schließt an die Frage nach dem konkreten Arbeitsalltag der Gründerin an, wobei mit der Darstellung klassischer Insignien der Büroarbeit geantwortet wird. Auffällig ist der massive Einsatz von Formulierungen, die in ihrer imperativen Wendung eher eine Fremdbestimmtheit der Arbeit anzeigen: Katharina Große muss um zehn am Schreibtisch sitzen und hat dann Anrufe zu machen Rechnungen zu schreiben und sich einen Überblick zu verschaffen. Hierin dokumentiert sich jedoch vor allem eine Betonung des realen Charakters der Selbstständigkeit: Die Unternehmung der Gründerin ist keineswegs virtuell, sondern weist konkrete berufliche Interaktionen und Anforderungen auf, denen sie nachkommen muss. Große stellt also die Seriosität ihrer Selbstständigkeit heraus und verweist mit der raschen Aufzählung aller Dinge, die alltäglich getan werden müssen, auf ihre rege Geschäftigkeit. Die Bedeutsamkeit des Zustands des Beschäftigtseins korrespondiert mit der hohen Statusrelevanz von Arbeit. Daher ist die Betonung von Leistung, arbeitsstruktureller Einbindung und Arbeitsintensität wesentlich für diesen Lebensentwurfstypus, wenngleich sie die Betonung des Freiheitsdrangs tendenziell konterkariert. Das Spannungsverhältnis zwischen der Ernsthaftigkeit der Arbeit, die sich in den Vorstellungen der Gründerinnen offenbar vor allem in klassischen Arbeitsstrukturen ausdrückt, und dem Verlangen, sich struktureller Zwänge zu entledigen, ist in den Erzählungen der Gründerinnen in unterschiedlicher Form dokumentiert. Andrea Schmidt
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adressiert beide Aspekte als kennzeichnend für ihren Arbeitsalltag, indem sie einerseits auf die Relevanz zeitlicher Selbstbestimmtheit verweist: diese Freiheit, des selbst die Zeit einteilen zu können, des war für mich ganz wichtig und auch ganz angenehm, also wo ich mir auch gedacht hab, so wünsch ich mir mein Berufsleben, dass ich selbstverantwortlich meine Zeit einteilen kann (Schmidt: 1); und indem sie andererseits die Bedeutung klarer Zeitstrukturen betont: aber ich hab meine Richtlinie, um neun steh ich auf der Matte und meine Nachmittagskaffeepausen. Also feste Termine sind auch sehr wichtig für so ein Leben zu strukturieren (Schmidt: 10). Anders als im Rahmen des Typus ›Pfad‹, wo die Freiheit im Umgang mit der Arbeitszeit eher aus pragmatischen Gründen von Bedeutung ist, folgt daraus jedoch weniger eine selbst gewählte, aber gewissenhaft eingehaltene Alltagstaktung: »Also diese Einteilung oder zu sagen, was ich mir jetzt angewöhnt hab, jeden Morgen meinen Tee draußen im Garten zu trinken. Dann geh ich erst mal durch den Garten und schau mir alles an, wächst alles, wo ist irgendwas. Und diese Viertelstunde, manchmal auch eine halbe Stunde, oder ich stell meine Tasse hin und sag, so jetzt mach ich das erst mal. Und schreib das dann erst am Mittag. Also dieses freie Jonglieren von Dingen, das gefällt mir total gut.« (Schmidt 10/1925) Die Passage vollzieht erzählerisch die typusspezifische Fluidität zeitlicher Grenzziehungen nach: Ihren Ausgangspunkt nimmt die Erzählung in der Einteilung und der raumzeitlichen Konstitution eines Morgenrituals, welches der Schreibtischarbeit vorausgeht und in einem Spaziergang durch den Garten besteht. Der Zeitrahmen dieses Rituals wird in der Erzählung zwar festgelegt, aber potenziell so weit ausgedehnt, dass der Gang durch den Garten und das Schauen nach den Pflanzen erzählerisch fließend vom Morgenritual in ein vormittägliches Werkeln im Garten überleitet, es in manchen Fällen also zu einer spontanen Verschiebung der Arbeit kommt. Dieser als freies Jonglieren von Dingen bezeichnete Umgang mit den zeitlichen Begrenzungen unterschiedlicher Lebensbereiche verweist auf die alltagspraktischen Aushandlungen zwischen Erwerbsarbeit und anderen Aufgaben bzw. auf das situative Entscheiden für die eine oder andere Tätigkeit. Die unbedingte Durchsetzung persönlicher Freiheit drückt sich also auch darin aus, selbst gesetzte zeitliche Rahmen missachten zu können und sich auch selbst geschaffenen Strukturen nicht konsequent zu unterwerfen. In anderer Form zeigt sich diese Orientierung auch in der Alltagsstrukturierung von Karen Graf: Und dann schau ich einfach, ich hab, Sie sehen hier auch, dieses goldene Buch, das ist mein goldenes Buch der wichtigen Punkte. Da sind alle meine Themen drin, die ich lösen WERDE, ja. Das geht von Steuerberater informieren über Schauspielschule für die Tochter oder Angebot für eine Trainingsgesellschaft, ehemaligen Kontakt fragen, . ob, da ist was mit Umweltkommunikation, ob der mir da was schicken kann. Ja, so geht das. Dieses Buch beinhaltet alles, was mein Leben bestimmt an Ideen, Chancen und klaren Aufträgen. So, und das . daraus kommt das Wichtigste in meinen Terminkalender, und da stehen die Dinge drin, die ich an dem Tag lösen werde. Sollte das nicht gelingen, wird das . wird das, mach ich mir klar, warum’s nicht gelungen ist. Vielleicht hab ich mich auch entschieden, diesen Anruf heute nicht zu machen, oder ich hab bewusst etwas . Ich entscheide mich immer, löse ich das oder löse ich’s nicht. (Graf 22/47-23/07) Während sich in der Erzählung von Andrea Schmidt das Abweichen von den selbst auferlegten Arbeitsstrukturen als ein ungeplantes Abschweifen darstellt, sich also als ein
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spontanes, an den Präferenzen des Moments orientiertes Handeln zeigt, darf für Karen Graf Nicht-Einhaltung nur begründet erfolgen. Auffällig ist die erzählerische Striktheit, mit der die Erfüllung des geplanten Arbeitssolls prospektiv bereits festgelegt wird: Im Kalender stehen Dinge, die sie an dem jeweiligen Tag lösen wird. Entsprechend gerät Graf ins Stocken, wenn sie sich narrativ einer Situation annähert, in der dies nicht gelingt. Sie gibt an, in diesem Fall zunächst ergründen zu wollen, warum der Plan nicht umgesetzt wurde, wesentlich ist jedoch, dass die Frage, ob eine Aufgabe gelöst oder vertagt wird, immer absichtsvoll entschieden wird. Anders als Andrea Schmidt, ist es Karen Graf offenbar wichtig herauszustellen, dass die Nicht-Einhaltung von Plänen an eine bewusste Entscheidung rückgebunden ist. Beiden Erzählungen ist jedoch gemein, dass die (Nicht-)Einhaltung selbst auferlegter Strukturen als Ausdruck des freien Willens hervorgebracht wird und der Möglichkeit, sich situativ zu erlauben, auch selbst gesteckte Ziele zu missachten, eine hohe Relevanz zukommt. Die Selbstständigkeit ermöglicht eine Vereinbarkeit der beiden auf den ersten Blick inkommensurabel erscheinenden Orientierungen – einerseits an klassisch strukturierter und daher respektabler Arbeit und andererseits an der Freiheit, sich situativ Arbeitsstrukturen entziehen zu können – auf Basis der hochflexiblen Zeitstrukturen, die (bis zu einem gewissen Grad) eine Alltagspraxis erlauben, die die Grenzen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen bzw. zwischen Arbeit und Freizeit variabel hält. Eine Besonderheit des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ ist jedoch, dass für die Verbindung der gegensätzlichen Orientierungen noch eine weitere, nämlich eine deutungsbezogene Form der Entgrenzung zum Einsatz kommt, die sich in der Erzählpassage von Karen Graf bereits andeutet: Ähnlich wie sich dies für den Typus ›Drift‹ dokumentiert, verschwimmen in Grafs Erzählung die Grenzen zwischen beruflichen und nicht-beruflichen Tätigkeiten, was sich darin zeigt, dass diese gleichberechtigt und unsortiert im goldenen Buch der wichtigen Punkte auftauchen. Hier fließen Steuerthemen, Erledigungen für die Kinder und Netzwerken, Ideen, Chancen und klare Aufträge undifferenziert zusammen und werden in gleicher Weise prozessiert. Während im Rahmen des Typus ›Pfad‹ Aufgaben unterschiedlichen Lebensbereichen zugeordnet und in rascher Folge sequenziert werden und im Kontext des Typus ›Drift‹ Arbeit und Freizeit zwar entgrenzt, jedoch projektiv (neu-)geordnet werden, findet beim Typus ›Fügung‹ eine gezielte Vermischung statt: Hier wird nicht etwa von Arbeitskomplexen erzählt, bei denen nicht eindeutig entschieden werden kann, wie viel Arbeit und wie viel Freizeitvergnügen darin verborgen ist. Vielmehr erzeugt Graf (narrativ) ein Aufgabenkonglomerat, bei dem die einzelnen Tätigkeiten durchaus den unterschiedlichen Lebensbereichen, denen sie entstammen, zuzuordnen sind, die von ihr jedoch – nicht zuletzt durch die gemeinsame geschäftliche Bearbeitungsform – zusammengeschlossen und sämtlich der Arbeitssphäre zugeschrieben werden. Diese spezifische Entgrenzungspraxis ist insbesondere mit Blick auf die der Arbeit zugeschriebene Respektabilität von Bedeutung und soll daher im Folgenden näher beleuchtet werden.
Reframing »Und ich empfinde das so, dass ich auch MEHR Freizeit habe als im Angestelltenverhältnis. Empfind ich so, was aber real gar nicht so ist, weil ich auch ganz viel in meiner Freizeit Inter-
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netrecherche mache, was ja einfach auch Arbeitszeit ist. Aber das läuft bei mir nebenbei, so, ne. So zu gucken, wer jetzt wieder wo welchen Vortrag hält, oder wo welche neue Fachliteratur mit meiner Ost-West-Kommunikation raus . was der und der Autor macht, ist er noch im Markt, ist er nicht im Markt, oder so. Das sind alles Sachen, die ich WISSEN MUSS, ne, so. Und das sind . oder ICH MÖCHTE die wissen. Und das ist eigentlich alles Arbeitszeit und die läuft dann halt so zwischen Tür und Angel« (Große 14/06-14)
Entgrenzung – dies dokumentiert sich in der Passage – findet im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ auch als ein bewusster Deutungs- bzw. Umdeutungsprozess statt. Voraussetzung hierfür ist zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Freizeit und Arbeit, die Große hier expliziert. Anders als etwa im projektierten Arbeiten üblich, wird hier Arbeit vornehmlich über die Tätigkeit an sich, d.h. über die mit Arbeit verbrachte Zeit definiert und weniger über den Output. Wie ernstzunehmend die Selbstständigkeit als ›echter‹ Berufsstatus ist, bemisst sich also auch an der Zeit, die in sie investiert wird, an der Zeit, die mit Arbeit und nicht mit Freizeitaktivitäten verbracht wird. Dadurch, dass Große arbeitsbezogene Tätigkeiten nun narrativ in ihre Freizeit versetzt, verwischen die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, sodass nicht mehr genau festzulegen ist, wo Arbeit endet und das Freizeitvergnügen beginnt. Ähnlich wie im Rahmen des Typus ›Drift‹ ist dies auch deshalb nicht eindeutig festzulegen, weil persönliches und professionelles Interesse (auch dem Anspruch nach) nicht klar voneinander zu trennen sind: Das sind alles Sachen, die ich WISSEN MUSS oder ICH MÖCHTE die wissen. Zudem mündet Arbeit nicht unbedingt – wie die beispielhaft angeführten Internetrecherchen – in ein konkretes Produkt. Während für den Typus ›Drift‹ hieraus jedoch eine Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit folgt und als ›reine‹ Arbeit entweder die bürokratischen Aspekte der Selbstständigkeit oder das gezielte Vorantreiben eines Projekts adressiert wird, dokumentiert sich im Rahmen des Typus ›Fügung‹ eine andere praktische Strategie: Hier wird alles, was im Sinnhorizont der Arbeit anschlussfähig ist auch als Arbeit definiert. Durch das Einstreuen arbeitsbezogener Handlungen im zeitlichen Rahmen der Freizeit wird es schwer, den Anteil der Arbeit festzulegen. Durch die Entgrenzung der Lebensbereiche und durch das gleichzeitige explizite Festhalten an deren sinnhafter Trennung wird eine Lebensführung hervorgebracht, die potenziell immer auf Arbeit orientiert ist. Auf diese Weise gelingt es Große, dem Empfinden nach gleichzeitig mehr Freizeit zu haben und viel zu arbeiten. Eine ähnliche Variante dieser Entgrenzungsstrategie zeigt sich in einer Erzählung, die – wie die vorige Passage – an die Frage nach der konkreten zeitlichen Gestaltung des Arbeitsalltags anschließt, jedoch einen anderen Arbeitsbereich, nämlich das Netzwerken, thematisiert: »Obwohl es natürlich auch nett ist, mal über andere Dinge und über Geschehnisse an der Hochschule mal was zu erfahren, was da wieder für Ränkespielchen [lacht] so gerade aktuell sind oder was da wieder so grade abgeht. Und dann kann man auch noch mal sich einfach son bisschen platzieren. Das ist einerseits natürlich auch’n Vergnügen, weil ich ganz viele Leute da gerne mag auch oder gerne mit denen kommuniziere, aber andererseits kann ich da auch mein Geschäft mit platzieren. Und das ist alles Arbeitszeit. Auch wenn ich zu meinen Netzwerktreffen gehe, das ist für mich Arbeitszeit, ja, das ist auch Verkaufen, ein Stückchen weit. […] Ich
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geh ganz viel zu . jetzt zu Sommerfesten war ich ganz viel, hab mich einfach präsentiert, meine Kärtchen verteilt und meine Nase gezeigt, was einfach Öffentlichkeitsarbeit ist. Ja.« (Große 13/29-44) Hier wird ein insbesondere für Selbstständige typisches Entgrenzungssetting adressiert, das auch in anderen Orientierungsrahmen oft thematisiert wird: Alltagskontakte und Vergnügungsveranstaltungen, die zum Sammeln von Ideen oder für kurze Absprachen mit (befreundeten) Geschäftspartner*innen genutzt werden oder die – wie Große hier darlegt – geeignet sind, um Kontakte zu knüpfen bzw. sich zu platzieren. Während im Rahmen der anderen beiden Lebensentwurfstypen solche Settings jedoch als hybride Situationen rekonstruiert werden, mit denen die Ambivalenz einhergeht, dass sich dadurch nicht nur die Arbeit vergnüglicher gestaltet, sondern umgekehrt auch das Vergnügen immer einen latenten Zweckbezug erhält, zeigt sich für den Typus ›Fügung‹ ein anderer Fluchtpunkt in der Auffassung solcher Settings. Hier dokumentiert sich die Sorge, dass informelle, unterhaltsame Situationen möglicherweise nicht als Arbeitskontexte plausibilisierbar sind. Dies zeigt sich in der Vehemenz, mit der Große darauf besteht, dass das alles Arbeitszeit ist, sowie in den argumentierenden Ausführungen, die diese Feststellung legitimieren (da kann ich mein Geschäft platzieren, das ist ja auch Verkaufen, was einfach Öffentlichkeitsarbeit ist). Auffallend ist das Beharren darauf, dass all diese Situationen als Arbeitszeit zu werten sind, auch deshalb, weil diese Logik eher der Zeitbudgetierung oder Arbeitszeiterfassung entliehen ist. So entsteht der Eindruck, dass die Gründerin hier in erster Linie darlegen will (oder sich sogar gezwungen sieht, darlegen zu müssen), dass sie ein hohes Arbeitspensum bewältigt. Ähnliches dokumentiert sich auch in der folgenden Erzählpassage von Sinabell Wunsch: Ja, also dieses Zeit-selber-Einteilen, das ist, wie gesagt, für mich der größte Luxus überhaupt. Das ist für mich mit einer der wichtigsten Gründe, selbstständig zu sein. Dass ich es wirklich selber entscheide. Ich arbeite natürlich deswegen, ich arbeite wesentlich mehr als 40 Stunden die Woche, da braucht man nicht reden, aber ich teil’s mir selber ein. Und ich hab nicht diese Vorgaben von außen. Ich mein’ klar, wenn ich jetzt ein Training hab, wenn ich da im BFZ bin, da hab ich von 8 bis 16 Uhr meine Seminare . das ist okay, klar, aber das hab ich nur sechs Mal im Monat. Also das sind sechs Trainertage, das ist in Ordnung, und ansonsten bin ich halt am . am Werkeln. Also das ist . Und, und das ist einfach eben diese Zeit, dieses, diese Zeit selber einteilen zu können, ist für mich wirklich wertvoll. (Wunsch 16/36-45) In diesem Zitat fließen beide zentralen Aspekte des typusspezifischen Hervorbringungsmodus hinsichtlich der Entgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche zusammen: Einerseits verweist Wunsch hier auf die hohe Relevanz des Zeit-selbst-Einteilens, d.h. der eigenverantwortlichen Begrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche. Auf der anderen Seite zeigt sich die Zentralität der (zeitlichen) Entgrenzung von Arbeit als performativer Akt, wenn Wunsch betont, dass sie wesentlich mehr als 40 Stunden die Woche arbeitet, oder auch freie Zeiteinteilung als wirklich wertvoll expliziert. Zugleich geht das hohe Arbeitspensum in einem diffusen Werkeln auf. Wesentlich ist dabei, dass die Darstellung des massiven Arbeitseinsatzes erst im Kontext des sich dokumentierenden Sinnhorizonts verwundert: Nicht nur lassen die protokollierenden, auf genaue Zeitangaben aufbauenden Stilelement der Erzählung, den wesentlichen Teil der Arbeit
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– das Werkeln – besonders nebulös erscheinen, sie verdeutlichen auch eine Leerstelle der Erzählung, denn es bleibt die Frage offen, was genau unter dem freien Zeiteinteilen und unter dem Entscheiden über Zeitverwendung zu verstehen ist, wenn jenseits der fremdstrukturierten Aufgaben alles im unbestimmten Werkeln aufgeht. Hierin zeigt sich wiederum die zentrale Ambivalenz, die darin besteht, dass die Gründerinnen als offensichtlichsten Anhaltspunkt für ›wirkliche‹ und damit respektable Arbeit jene Aspekte identifizieren, von denen sie sich befreien wollen, nämlich die durch definierte Zeiträume sichtbar gemachte Geschäftigkeit. Vor diesem Hintergrund kann der explizite Verweis auf eine Über-40-Stunde-Woche und das Bestehen darauf, dass bestimmte, in der Freizeit stattfindende Tätigkeiten als Arbeit zu definieren sind, als eine Strategie verstanden werden, mit der die so dringend vorzuweisende Geschäftigkeit auch jenseits (im konventionellen Sinne) zweifelsfreier Arbeitskontexte zu finden ist. Diese Form der praktischen Entgrenzung von Arbeit stellt sich daher als ein aktives Umdeuten bzw. ein Reframing von Arbeitszeit und Freizeit dar und zwar nicht etwa, weil von einer objektiven Position aus festzulegen wäre, dass es sich beim Werkeln oder bei der Online-Recherche ›eigentlich‹ um Freizeit handelt, sondern weil die Gründerinnen selbst diese Neuinterpretation gegen ihre Deutungsgewohnheiten vornehmen.
Stabilität und Dynamik Die Dynamik, die den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ kennzeichnet, ist einerseits eine Such- und andererseits eine Überwindungsbewegung. Diese entstehen im Zusammenspiel zwischen der Beanspruchung eines hohen, in den Augen der Gründerinnen jedoch angemessenen Sozialstatus, der das Telos des Lebensentwurfs bildet, und einer Vagheit hinsichtlich der Strategien, die zu dessen Realisierung führen sollen.
Hochgesteckte Ziele Der angestrebte Status wird durch die Gründerinnen implizit in eine Reihe von Zielen übersetzt, die durchaus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen zuzuordnen sind, denen jedoch ein relativ hohes soziales Prestige gemein ist. Sie sind dabei nicht auf ein bestimmtes Ziel festgelegt, vielmehr sind sie zumeist unentschlossen, welche beruflichen Positionen und welche Kapitalien den gewünschten Status anzuzeigen vermögen: »Bewerbungscoaching, Bewerbungsworkshops, aber hoch bezahlte Workshops und möchte auch langsam schon in die Teamentwicklung rein gehen, sprich Ost-Westthematik, dort auch Verkaufsstrategien, […] Da einfach noch mal rein zu gehen. Und da wäre es schön, wenn ich da so auch mir noch Erfahrungen … wie läuft eigentlich so’n Verkaufscoaching und da diese Ressource mit meiner DDR-Erfahrung, mit diesen ganzen Sachen rein zu bringen, und ich will eventuell eine Doktorarbeit schreiben. Das ist jetzt so meine Ziele.« (Große 39/29-38) Katharina Große verbindet in dieser Erzählung eine relativ große Bandbreite beruflicher Inhalte mit einer Doppelorientierung auf die Akkumulation sowohl ökonomischen (hoch bezahlt) als auch kulturellen Kapitals (Doktorarbeit). Die erzählerisch hervorgebrachte Entwicklungsfolge der inhaltlichen Orientierung (Bewerbungsworkshops – Teamentwicklung – Verkaufscoaching) steht in einem Kontrast zur thematischen Diversität dieser Aufgabenbereiche und nicht zuletzt auch zum Ausbildungshintergrund der
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diplomierten Sozialarbeiterin. Ähnlich bemerkenswert ist der plötzliche Verweis auf eine Promotion, der ohne eine narrative Anbindung an das zuvor oder danach Erzählte eingestreut wird. Während im Rahmen des Typus ›Pfad‹ die näheren und ferneren Etappenziele als Kontinuierung des bisherigen Lebenswegs plausibilisiert werden und im Rahmen des Typus ›Drift‹ eine Explikation des inhaltlichen Interesses bzw. der persönlichen Beweggründe erfolgt, stehen in dieser Erzählpassage die Ziele selbst im Vordergrund. Zwar adressiert Große die Ost-West-Thematik als Grundthema, welches eine Schnittmenge von Teamentwicklung und Verkaufscoaching bilden soll, und rekurriert auf ihre Vergangenheit als DDR-Bürgerin, dies dient erzählerisch jedoch vor allem der Eignungsbegründung: Die DDR-Erfahrung wird weder als Ausgangspunkt einer (stringenten) biografischen Entwicklung, noch als Ursprung eines dringenden persönlichen Interesses, sondern als in erster Linie als Ressource dargestellt, die es ermöglicht, ohne betriebswirtschaftliche Expertise oder merkantile Erfahrung in den Bereich der Verkaufsstrategien einfach noch mal rein zu gehen. Die starke Fokussierung eines beruflichen Ziels, welches relativ unabhängig von inhaltlichen oder laufbahnbezogenen Aspekten definiert wird, zeigt sich auch in folgender Erzählung: Ich will Geld machen! Ich will . ich will . ich hab es einfach . ich bin es einfach leid, in Sozialwesen für GUTE Arbeit schlecht bezahlt zu werden. Ich will an die großen Töpfe ran und will WEITERHIN gut arbeiten und will aber auch dafür bezahlt werden. WILL auch mein dementsprechendes Geld haben. Für mich ist schon jetzt, dass ich sage, ich arbeite GRUNDSÄTZLICH nicht unter 25 Euro die Stunde in Workshops oder andere Aufträge, die ich hab. Und das ist klasse. Und da solls aber noch hoch gehen. Ich hab auch schon Aufträge gehabt mit 60 Euro die Stunde und so weiter und da solls aber noch hoch gehen. Mein Ziel ist 120 Euro erst mal, die Stunde und . also ich will GELD haben. Ich will an die großen Fische ran und ich seh’s nicht ein, die sollen was abgeben.« (Große 37/39-38/08) Am Anfang der Passage steht eine klare Willensbekundung: Katharina Große will Geld machen, wobei diese Redewendung einer spezifischen Businesskultur entlehnt ist, bei der es um die schnelle Akkumulation einer großen Menge ökonomischen Kapitals geht und der Weg dorthin permutabel ist. Dass es sich bei dem eingeforderten Geld in erster Linie um ein Statussymbol handelt, dokumentiert sich einerseits darin, dass es keineswegs zweckgebunden ist, das Geldhaben also als Wert an sich dargestellt wird. Andererseits zeigt sich dies in der ungebremsten Steigerung der Forderung: An die von Große aufgerufenen Tagessätze schließt sie jeweils ein da solls aber noch hochgehen an und sie setzt diese implizite Steigerungslogik beim letzten genannten Betrag auf Dauer, in dem sie diesen ebenfalls als vorläufige Forderung markiert. Damit entkoppelt sie Honorar und Leistung. Zwar wird mit dem Verweis auf die generelle Unterbezahlung im Bereich Sozialwesen an einen Gerechtigkeitsdiskurs angeschlossen, Große bezieht schlechte Bezahlung jedoch umgehend auf ihre eigene Situation, sodass die Entlohnungsungerechtigkeit zu einer konkreten Repression gerät, die begründet, weshalb die Gründerin bislang unangemessen bezahlt wird. Damit legitimiert sie einerseits ihre Forderung und stellt andererseits heraus, dass ihr das geforderte Geld bereits zusteht (will WEITERHIN gut arbeiten und will aber auch dafür bezahlt werden. WILL auch mein dementsprechendes Geld haben).
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Insgesamt verdeutlicht die Erzählung die für diesen Typus charakteristische spezifische Rekonstruktion sowohl des ökonomischen als auch des sozialen Raums: Große ist nicht auf die unternehmerische Idee der Schaffung eines Mehrwerts orientiert, vielmehr entwirft sie das Bild eines Nullsummenspiels, bei dem das zur Verfügung stehende Kapital – die Töpfe – definiert ist und Kapitalakkumulation eine Umverteilung, also auch ein Abgeben bedeutet. Leistung ist dabei zwar in legitimatorischer Hinsicht relevant, sie ist jedoch von einer unmittelbaren Verdienstidee auf ökonomischer Ebene abgelöst. Entsprechend dokumentiert sich eine Logik, die weniger auf das Erarbeiten als vielmehr auf das Einfordern ökonomischen Kapitals gerichtet ist (die sollen was abgeben). Zwar steht Kapitalakkumulation in dieser Vorstellung nicht direkt mit konkreter Arbeitsleistung in Verbindung, sie wird allerdings auch nicht dem Zufall zugeschrieben. Vielmehr zeigt sich der implizite Entwurf einer sozialen Ordnung, bei der das (große) Geld bestimmten Akteuren, nämlich den großen Fischen vorbehalten bleibt. Um teilhaben zu können, muss sich Große nun auf diese Gruppe zubewegen, sie muss an die großen Töpfe bzw. an die großen Fische ran. Allerdings weist die Erzählung neben der Willensbekundung und der Legitimation einer solchen Selbstverortung keine Strategie auf, mit der diese Umpositionierung, d.h. dieser soziale Aufstieg realisiert werden soll. In ganz ähnlicher Form kommt dieses Grundmotiv des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ in einer Erzählung von Sinabell Wunsch zum Ausdruck: »Ich bin grad dabei, alte Glaubenssätze abzubauen. Die, eben, die ich glaube, die in dem Bereich bremsen können. Eben so von wegen: Von nix kommt nix. Ja, oder: Man muss eben hart arbeiten für sein Geld. Also da bin ich grad dabei, diese Glaubenssätze abzubauen. Um eben zu sagen: Nee, nee. Ich will viel Geld für wenig Arbeit. Also es, es soll leicht gehen. Das ist so irgendwo meine Maxime. Ja, also es soll, es soll leicht gehen und es soll eben, vielleicht auch geprägt durch meine Eltern, es soll eben nicht bedeuten, dass ich SO viel arbeiten muss. Also das ist schon, wo ich mir denk: Nee, das, das muss leichter gehen. Also es gibt ja auch Menschen, die wirklich vom Nix-Tun fliegen die, fliegt denen einfach das Geld zu. Und sowas will ich auch. Also, dass es einfach LEICHT geht. […] Genau, also da dann wirklich erfolgreich sein. Also irgendwo ist es, glaub ich, schon mein Ziel, irgendwann das so gut aufgebaut zu haben, dass dann andere für mich arbeiten. Also, dass es dann wirklich… Also da träum ich schon irgendwo so, keine Ahnung, von, von, von der Insel, wo ich dann vielleicht noch mit dem Laptop sitze und ein bisschen das Ganze manage, aber wo ich einfach noch viel, viel mehr Freizeit dann hab. Und eben reisen kann, ähm, ich tauche zum Beispiel auch, ähh, also solche Dinge dann, ja, ausleben. Motorradfahren, ein schickes Auto haben. Solche Dinge. Und das dann auch genießen und zu leben. Und dann quasi das . Und natürlich schon irgendwo so das Unternehmen am Laufen halten, aber das darf dann . Eben das, was meine Eltern eigentlich nicht gehabt haben, weil, die haben sich, glaub ich, also für meinen Geschmack, echt abgerackert die ganzen Jahre. Obwohl’s ihnen auch gut geht, und die sind glücklich heut und die sind zufrieden mit dem, was sie haben, und ich glaub, die hätten’s auch gar nicht anders gewollt. Aber so will’s ich nicht.« (Wunsch 40/28-41/11) Auch hier dokumentiert sich eine Vorstellung unterschiedlicher sozialer Gruppen, wobei insbesondere jene Akteure adressiert werden, denen wirklich vom Nix-Tun das Geld einfach zufliegt. Daneben gibt es Akteure, die – wie die Eltern der Gründerin – zwar gutes Geld erwirtschaften, sich hierfür aber echt abrackern. Als dritte Gruppe werden noch jene Akteure implizit, die das Geld für die Reichen erwirtschaften. In der Erzählung
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drücken sich die typusspezifischen Aufstiegsambitionen der Gründerin aus, denn sie möchte die Lage der Eltern überwinden und wesentlich mehr Kapital akkumulieren, nämlich so viel, dass sie sich kostspielige Statussymbole leisten kann (Reisen, Tauchen, schickes Auto, Motorrad, Inselwohnsitz) und zugleich viel, viel mehr Freizeit hat. Der angestrebte überlegene Status zeigt sich aber auch in dem Wunsch, andere für sich arbeiten lassen zu können. Hierin dokumentiert sich die bereits bei Große angeklungene, unmittelbare Relationalität: Die angestrebte positionale Aufwertung wird nicht nur an die aufgeführten Statussymbole rückgebunden, sondern beinhaltet auch den expliziten Verweis auf das Überflügeln der Eltern und auf die Unterordnung anderer (ihr den Profit erwirtschaftender) Akteure. Anders als in der Erzählung von Katharina Große wir hier auf eine Legitimation der Ansprüche verzichtet. Vielmehr werden Glaubenssätze adressiert, die für eine Wissensordnung stehen, in deren Rahmen die Notwendigkeit einer Rechtfertigung angezweifelt wird. Diese neue Maxime bzw. das ihr vorausgehende Umdenken dokumentiert sich als Angelpunkt der Aufstiegspläne: Zwar gibt Wunsch an, natürlich schon irgendwo so das Unternehmen am Laufen halten zu müssen und von der Insel das Ganze ein bisschen managen zu wollen, die Basis, auf der dies funktionieren kann, bleibt jedoch relativ unbeleuchtet: Wunsch verweist lediglich auf das Ziel, irgendwann das so gut aufgebaut zu haben, dass dann andere für mich arbeiten. Das Fundament, auf dem Wunschs Forderung nach sozialem Aufstieg aufbaut, ist also nicht so sehr eine gute Geschäftsidee oder eine Phase der harten Arbeit, an die sich eine Phase anschließt, in der das Erreichte genossen werden kann. Vielmehr setzt Wunsch den unbedingten Willen zum Aufstieg zentral und das Denken in neuen Regeln. Menschen wie ihre Eltern, die mit großer Anstrengung Kapital akkumuliert haben, hätten dies – so Wunschs Vermutung – auch gar nicht anders gewollt. Sie selbst hingegen will viel Geld für wenig Arbeit und es macht den Anschein, als solle der bloße Wille diesem Entwurf zur Realisierung verhelfen. Entsprechend wird dieser narrativ auch nicht als Traumvorstellung, sondern als konkrete Forderung gerahmt: In der Erzählung finden sich keine Konjunktive oder relativierende Formulierungen, vielmehr zeigt sich ein imperativer Duktus (es soll leicht gehen, es muss leicht gehen, ich will das auch). Zugleich dokumentiert sich in den gehäuften ich will- bzw. es soll-Formulierungen, die sowohl Große als auch Wunsch nutzen und die bezeichnend sind für den Typus ›Fügung‹, eine relativ ungerichtete Forderung. So merkt Große an, dass die etwas von den ökonomischen Ressourcen abgeben sollen. Hierin zeigt sich in konzentrierter Form die Haltung der Gründerinnen: Einerseits scheinen die Adressat*innen der Forderungen überaus vage, denn es wird nicht deutlich, wer genau mit dem die angesprochen ist. Wunsch verzichtet sogar weitestgehend auf Personalisierung, wenn sie sagt es soll leicht gehen. In der ungerichteten Forderung drückt sich andererseits auch eine gewisse Passivität in den Umsetzungsvorstellungen aus: Im Zentrum steht die Einforderung der erwünschten Position, die sich realisieren soll. Hierin zeigt sich die fatalistische Haltung, die in den Lebensentwurfstypus eingelassen ist: Die ungerichtete Forderung scheint in erster Linie die ›richtige‹ Fügung der Dinge zu adressieren. Es können auch Dinge geschehen, wo … Weiß der Geier. Keine Ahnung, dass ich sag, ich schreib doch ein Buch und es lässt sich ganz gut davon leben. (Schmidt: 35)
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Vagheit der Strategien Den relativ hoch gesteckten Zielen der Gründerinnen steht also eine Vagheit hinsichtlich der Zielerreichungsstrategien gegenüber. Die latente Vorstellung, eine soziale Position, die mit hohen Einkünften verbunden ist, soll sich (selbsttätig) einstellen, bedeutet indes nicht, dass diese sich als untätige Akteure verstehen: »Da bin ich wieder bei dem Thema Disziplin. Also ich find Disziplin, Beharrlichkeit seh’ ich als Erfolgsfaktor. Dranbleiben, Vertrauen haben, vor allem in sich selber. Also wirklich, ja, und, und nicht nur träumen, sondern ins Handeln kommen. Also wirklich dieses TUN. Und das, das ist auch das, was ich einfach mache, also sich wirklich trauen und einfach mal anfangen, und sich da auch nicht vom Perfektionismus, den wir Frauen ja häufig auch haben, äh, bremsen zu lassen und zu sagen: Na, erst brauch ich die Ausbildung und dann brauch ich das, und erst, wenn ich das hab, dann kann ich anfangen. Sondern wirklich sagen: Nee. Jetzt. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als JETZT. Und wirklich tun. Weil, nur dadurch krieg ich Übung. Anders geht’s nicht.« (Wunsch 41/16-25) In dieser Passage bekräftigt Sinabell Wunsch die Bedeutsamkeit des Tuns, des Umsetzens und disziplinierten und beharrlichen Dranbleibens. Allerdings sind diese Aktivitätsbekundungen nicht auf ein bestimmtes Thema oder Projekt gerichtet, sondern auf die Person der Gründerin: Es geht nicht darum, ein bestimmtes Ziel mit Nachdruck und Beharrlichkeit zu verfolgen, sondern es geht um das Tun an sich und um eine persönliche Haltung, die das Handeln, nicht das Träumen und Vorbereiten zentriert. Durch die narrative Ungerichtetheit des Handelns erhält die Erzählung daher eine aktionistische Konnotation und wirkt wie eine Selbstbeschwörungsformel: dieses Tun und die Konzentration auf das unmittelbare Umsetzen werden per se als Erfolgsschlüssel dargestellt, die unternehmerischen Inhalte geraten dabei zur Nebensache. Ähnlich vage machen sich jene Strategien aus, die auf das Schaffen erfolgversprechender Rahmenbedingungen orientiert sind: »Das war auch der Spruch damals von ihr [einer Gründungsberaterin], ähm, wenn du erfolgreich sein willst, dann such dir Menschen, die erfolgreich sind. Und das hab ich dann auch getan. Also ich hab mich dann wirklich auch, ähm, von einigen Menschen getrennt im Freundeskreis, auch davor schon, und hab dann wirklich angefangen, mich mit solchen Menschen zu umgeben. Also ich hab dann wirklich auch jetzt da, ich bin sehr, sehr aktiv am Netzwerken, ich hab ganz tolle Frauen in meinem Bekanntenkreis, die eben selbstständig sind, die . ja wo man sich einfach gegenseitig pushen kann und ich glaub’, das ist sehr wichtig.« (Wunsch 08/45-09/05) Auch diese Vorgehensweise richtet sich in erster Linie auf die persönliche Einstellung: In der Erzählpassage dokumentiert sich eine Strategie, die auf die Schaffung eines erfolgreichen Milieus gerichtet ist. Hierin kommt wiederum die Statusgruppenbezogenheit des Lebensentwurfstypus zum Ausdruck: Die dargestellte Selektion des Freundeskreises lässt sich als Versuch lesen, sich aktiv einer Akteursgruppe zuzuordnen, die eine hohe Chance auf Status und ökonomischen Erfolg verspricht. Damit zeigt sich eine Strategie, die konträr zu den Erfolgsstrategien des Typus ›Pfad‹ verläuft, denn letztere ist maßgeblich an konkreten Handlungszielen orientiert. Dies dokumentiert sich etwa in der geradezu antipodischen Äußerung der Gründerin Haller die das Netzwerken mit anderen Gründerinnen zwar als kuschelig insgesamt aber zu wenig zielorientiert be-
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zeichnet, weshalb sie sich auf die Vernetzung mit potenziellen Kundinnen konzentriert (Haller: 8). Während für die Gründerinnen, die dem Typus ›Pfad‹ entsprechend orientiert sind, der nächste Schritt, die nächste Etappe der Weiterentwicklung im Zentrum steht und genauestens geplant wird, wohingegen der Lebensentwurf kein umfassendes Fern- oder gar Endziel aufweist, verhält es sich mit dem Typus ›Fügung‹ umgekehrt: Hier steht das finale Ziel im Vordergrund, während die Strategien zu dessen Erreichung und die Etappen, die es auf dem Weg dorthin zu bewältigen gilt, vage bleiben. Für den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ dokumentiert sich dabei in gewisser Weise ein Dilemma: Statuserfolg ist maßgeblich an eine bestimmte soziale Position geknüpft und diese geht dem Erfolg insofern voraus, als sich auf diesen Positionen ökonomisches Kapital ohne weitere Anstrengung einfindet. Diese soziale Position ist also nicht Resultat, sondern Voraussetzung des Erfolgs. Damit ist jedoch der Weg dorthin nicht aus konkreten Unternehmensstrategien herzuleiten, sondern entzieht sich der gezielten Planung. Die angestrebte soziale Position und damit der Erfolg müssen sich ab einem gewissen Punkt von selbst einstellen bzw. fügen. Dass nun die Gründerinnen legitimerweise hoffen können, dass sich der Erfolg in ihrem Fall einstellen wird, begründen sie einerseits mit ihrer positiven, erfolgsgerichteten Einstellung, andererseits mit ihren persönlichen Leistungen, beides bietet jedoch keinen direkten Zugang zur erwarteten Position. Entsprechend wichtig ist es in den Augen der Gründerinnen, der Fügung genügend Platz einzuräumen: »Und ich hab das auch im Internet mal gelesen, dass Laufen Sachen strukturiert, dass die an ihren Platz fallen, durch diese Tat des Laufens. Das ist einerseits natürlich ne körperliche Anstrengung, aber es gibt auch ganz viele Freiräume, so zu sagen gedankliche Freiräume und die fallen eigentlich mehr oder weniger selber an ihren Platz und das ist auch so. Und wenn ich so vor großen Projekten steh, da ist mir das immer GANZ, ganz wichtig, dass ich das auch wirklich jeden Tag mache.« (Große 14/40-45) In dieser Passage dokumentiert sich die hohe Relevanz von Tätigkeiten, die nicht auf ein direktes Handlungsziel, sondern auf die Herstellung eines Raumes gerichtet sind, in dem sich die Dinge in der erwünschten (›richtigen‹) Weise ergeben können, in dem sie an ihren Platz fallen. Die Idee, dass mit etwas gedanklichem Abstand und durch körperliche Betätigung Denkprozesse befördert werden können, wird dabei eine so hohe Wirkmacht zugesprochen, dass nicht nur die konkrete Arbeit an Themen narrativ ausgeblendet, sondern das gedankliche Abschalten in Vorbereitung auf Projekte zur Methode schlechthin erhoben wird. Dabei wird das Laufen nicht als unterstützendes oder entlastendes Ritual, sondern als wesentliche Lösungsstrategie adressiert, die entsprechend auch zu einer regelmäßigen Anwendung kommen muss. Durch die narrative Kodifizierung der Tat des Laufens, die rituelle Redundanz der Handlung, die mystifizierende Formulierung, dass die Sachen von selber an ihren Platz fallen und durch das erzählerische Unterschlagen anderer Vorbereitungsschritte erhält der Prozess der Ergebnisproduktion eine magische Anmutung. Die Strategien der Gründerinnen richten sich jedoch nicht nur auf die Schaffung von Rahmenbedingungen und Freiräumen, in denen sich der Erfolg einstellen kann, sie betreffen auch das positive Denken:
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»Mhh, ja, Risiken, mhh. Ich beschäftig’ mich ungern mit den Dingen, die irgendwo Negatives anziehen, also. Natürlich mag’s Risiken geben, aber wie gesagt, meine . Das ist auch eine meiner Maximen, ich glaub einfach, wenn ich . Je mehr ich mich mit negativen Dingen beschäftige, desto mehr zieh ich diese negativen Dinge an. Und deswegen . Klar, irgendwo realistisch bleiben, dass man da jetzt nicht irgendwo naiv an was rangeht, aber ich denk’, wenn ich mich auf das konzentrier’, was ich wirklich will, dann kommt das auch.« (Wunsch 41/45-42/04) Sinabell Wunsch äußert in dieser Erzählpassage die Befürchtung, dass negative Gedanken auch negative Konsequenzen zeitigen, währen das positive Denken, ihrer Vorstellung nach, den Weg zum Erfolg ebnet. In ähnlicher Weise rekonstruiert auch Karen Graf die Wirkmacht positiven Denkens: »Also vielleicht hängt’s auch damit zusammen, dass die ., ja, dass man diese negativen Vorerwartungen eben sich auch selber dann im Alltag, sich selber auftischt, wenn man zu sehr darüber nachdenkt, und das hab ich einfach völlig aufgehört, an etwas zu denken, was nicht funktionieren könnte. Ich seh’ nur, WAS funktionieren kann und wo Chancen sind […] Also vielleicht ist es schon so, dass man mit der inneren Einstellung doch ganz viel prägt. Also ich glaub das auf jeden Fall.« (Graf 17/04-12) Während in Sinabell Wunschs Erzählung die Risiken und sonstigen negativen Aspekte als unabhängig von ihrem Denken objektiv vorhandene Gefahren adressiert werden, die durch das negative Denken angezogen werden können und durch das positive Denken fern gehalten werden müssen, erhalten sie in der Erzählpassage von Karen Graf einen etwas konstruktivistischeren Charakter: das Negative ist hier etwas, das man sich selber auftischt und das den Blick auf die Chancen erschwert. Zwar schließt Grafs Narration damit durchaus an rationalistische Wissensordnungen an, während Wunsch Formulierungen hervorbringt, die ihre Erzählung verstärkt an esoterische Diskurse anschließen – etwa die Substanzialisierung des Negativen, die Möglichkeit es durch gedankliche Auseinandersetzung anzulocken und die Herbeiführung des Positiven durch Konzentration. Gemein ist den beiden Erzählungen jedoch die Grundvorstellung, dass positive und negative Lebensgeschicke nicht in erster Linie Handlungskonsequenzen, sondern eine Frage der inneren Einstellung und des Glaubens an positive Ereignisse sind. Diese werden also gerade durch den Verweis auf die Notwendigkeit einer entsprechenden inneren Ausrichtung dem handelnden Zugriff entzogen. Damit verschließt sich der Weg zum Ziel des Lebensentwurfs der aktiven Gestaltbarkeit, ebenso wie der Durchschaubarkeit. Eine Lösung des Problems der unzureichenden Möglichkeiten eines gezielten Arbeitens am ökonomischen und sozialen Aufstieg liegt in einer – wie Graf es formuliert – frohen, erwartungsfreien Arbeitshaltung: Einfach dieses, nicht an vorgefertigten oder an ganz festen Vorstellungen festhalten zu wollen. Das war schon, denk ich, ist ein Schlüssel, wo viele Türen aufgehen (Graf: 17). Diese Grundhaltung bildet den Kristallisationspunkt des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹: »es war einfach dadurch, dass ich auch dieses, dieses Moment hatte, dass es wirklich funktioniert. Also da eine Woche später10 , dann gleich die ersten Aufträge kommen und, war ich also 10
Wunsch bezieht sich hier auf das von ihr besuchte DVAG-Seminar.
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in so einem Flow, wo ich mir dachte: ja, ich, ich kann das, ich krieg’, also, das läuft einfach. Und, ähm, das waren einfach die Erwartungen, dass mir klar war, mh, es funktioniert. Ich HATTE da keine Zweifel, weil ich ja wusste, es funktioniert, wenn ich dran glaube. Also wenn ICH selber dran glaube und wenn’s ich wirklich will, dann funktioniert’s auch. […] Ich kann da nicht wirklich von Erwartungen sprechen, weil ich mir abgewöhnt hab’, Erwartungen zu haben. Ähm, ich glaub einfach dran. Und ich bin aber auch . ich nehm’s aber auch dann hin, wenn’s anders läuft. Also das ist eben ähm, Erwartungshaltung ist für mich immer was, ähm also ich erwarte was und wenn’s dann nicht funktioniert, dann, äh, bringt mich das aus dem Gleichgewicht. Und deswegen hab ich keine Erwartungen mehr. Sondern ich nehm’s so wie’s ist, ich hab natürlich meine Ziele, ich hab irgendwo meinen Weg, aber es ist auch okay, wenn es dann mal nach rechts oder nach links geht. Also ich lass mich da nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen, wenn irgendwas dann halt nicht so läuft, wie ich’s vielleicht gern gehabt hätte, wobei das nicht wirklich passiert, weil’s eigentlich immer so kommt, dann wie . wie ich’s haben will. Irgendwo.« (Wunsch 11/04-21) Die Passage schließt an die Frage nach den Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen an, die sich bei Sinabell Wunsch hinsichtlich der Gründung eingestellt haben, und beginnt mit einem Verweis auf die Evidenz des Gelingens, die das Erwarten, Hoffen und Befürchten unnötig erscheinen lassen. Diese Evidenz wird mit dem Verweis auf das Moment, dass es wirklich funktioniert bekräftigt. Die Formulierung birgt eine zeitliche Dimension und führt dabei noch einmal auf das die Selbstständigkeit auslösende Schlüsselereignis zurück. Mit dem Momentum-Begriff verweist Wunsch aber auch auf die in der Gründung liegende Bewegungskraft, die wiederum mit dem Flow-begriff aufgegriffen wird. Dem Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus entsprechend wird in der Erzählung das Gelingens externalisiert. Zwar setzt Wunsch narrativ bei der eigenen Wirksamkeit an (ich kann das, ich krieg-), doch unterbricht sie sich hier und wechselt in einen passiven Modus (das läuft einfach). Der unternehmerische Erfolg wird also dem aktiven Zugriff entzogen. Dabei ist es bezeichnend, dass der Erzählfluss wahrscheinlich bei der prognostischen Idee ich krieg [das hin] unterbrochen wird: Dies verstärkt den Kontrast zwischen Können (und Wollen) auf der einen Seite und der tatsächlichen Umsetzung bzw. dem Gelingen auf der anderen Seite. Letzteres emergiert im Rahmen des Flow, der direkt zu Beginn der Erzählung mit Erfolgsinsignien verknüpft wird (dann gleich die ersten Aufträge kommen und, war ich also in so einem Flow). Sich diesem Fluss zu überlassen, stellt sich in der Erzählung als Sinabell Wunschs Kernaufgabe heraus: Im Einzelnen bedeutet dies, Zweifel zu suspendieren, an das Gelingen zu glauben, den Erfolg zu wollen und sich klar zu machen, dass diese Strategie funktionieren wird. Zudem stellt Wunsch es als unumgänglich dar, dass sie Abstand nimmt von konkreten Erwartungen. Insofern kann die Frage der Interviewerin als Herausforderung verstanden werden. Erwartungen beziehen sich in der Erzählung auf konkrete Umsetzungspläne, die funktionieren können. Die Gefahr besteht nun darin, dass die Erwartung, dass ein Plan funktioniert, die Gründerin im Fall einer Enttäuschung aus dem Gleichgewicht bringt. Diese Formulierung schließt an das Bild des Flows an, das heißt, Wunsch problematisiert hier weniger die Enttäuschung oder Frustration selbst, sondern die Unterbrechung des fließenden, absorptiven und produktiven Arbeitszustandes, der zum Erfolg führt. Das Gelingen im Zustand des Flow vollzieht sich
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also auf einer anderen Ebene als auf jener der konkreten Unternehmensziele. Vielmehr wird ihm die Ermöglichung der grundlegenden (Lebens-)Ziele zugesprochen. Entsprechend verweist Wunsch darauf, dass sie natürlich Ziele und irgendwo ihren Weg hat, in der Vagheit der Formulierung dokumentiert sich jedoch, wie wenig sie sich Einblick in bzw. Zugriff auf beides zuspricht. Ihre persönliche Leistung ist es, das Nicht-Funktionieren hinzunehmen und Abweichungen vom Weg auszuhalten, d.h. die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Dies setzt ein aktives Abgewöhnen der Erwartungshaltung voraus. In der Erzählung werden die konkreten Vorstellungen von Lebensweg bzw. die Erwartungen, der schicksalhaften Erfüllung des Lebenswegs und der Glauben an dessen Fügung einander gegenübergestellt. Wunsch äußert keinen Zweifel daran, dass sie einen (Lebens-)Weg hat und dass sie dieser zum Ziel führen wird, er erscheint narrativ jedoch als etwas extern Hergestelltes und dem Zugriff Entzogenes. In komprimierter Form dokumentiert sich die lebensentwurfsimmanente Strategie erneut im letzten Satz der Erzählpassage: Die Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten, weil etwas nicht so läuft, wie Wunsch es vielleicht gerne gehabt hätte besteht nicht mehr, weil sie nicht länger an solchen Erwartungen festhält – dies wird erzählerisch durch die betont hypothetische Formulierung markiert. Entsprechend kann eine Störung des Gleichgewichts und des produktiven Flusses nicht wirklich passieren. Dass diese Gefahr aus Wunschs Realität suspendiert ist, ist für sie evident, weil’s eigentlich immer so kommt, dann wie ich’s haben will. Irgendwo.
17.4
Spuren gewandelter transversaler Logiken
Pfad Der Lebensentwurf des Typus ›Pfad‹ beinhaltet die im common sense verbreitete Vorstellung eines Lebenswegs, der beständig kontinuiert wird bzw. werden muss. Zwar erscheint eine solche Rekonstruktion mit Blick auf die von Bourdieu beschriebene Konvention der ›biographischen Illusion‹ naheliegend, der Vergleich mit den anderen Lebensentwurfstypen zeigt jedoch, dass es sich dabei nicht um den einzig möglichen Entwurfsmodus handelt. Die Vorstellung eines Lebenswegs bzw. die pfadförmige biografische Bezugnahme ist mehr als eine Kontinuität erzeugende Denk- und Erzählkonvention: Sie ist Ausdruck eines spezifischen Lebensentwurfes, der in besonderer Weise auf Entwicklung hin orientiert ist – sowohl auf die Entwicklung der beruflichen Laufbahn als auch auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Zunächst lässt sich die Aktualität dieser Grundorientierung schlüssig mit dem Instrumentarium der Governmentality Studies deuten: Die hohe Relevanz eines rationalen, abwägenden Vorgehens, die Reflexion des eigenen Standpunktes und die abgleichende Analyse potenzieller Arbeitskontexte, sowie der Wunsch nach Verbesserung und Erweiterung sowohl des Unternehmens als auch der eigenen Kompetenzen lassen wesentliche Grundmuster des von Peter Miller und Nikolas Rose, sowie Ulrich Bröckling herausgearbeiteten ›enterprising self‹ erkennen. Tatsächlich lassen sich viele der von Ulrich Bröckling (2007a) zusammengetragenen Merkmale des als ›Selbstunternehmertum‹ bezeichneten Regierungs- und Subjek-
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tivierungsprogramms wiederfinden. Die Fähigkeit, das Denken und Handeln auf die eigene Person zu richten und unter Rekurs auf eine ökonomische Rationalität Strategien der Verbesserung sowohl der Lebensumstände als auch der persönlichen Lebensgestaltungskompetenzen zu entwickeln, zeigt sich im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ besonders deutlich. Als eine wesentliche Basis der selbstunternehmerischen Rationalität identifiziert Bröckling klassische Unternehmerfunktionen, die nun nicht auf eine Unternehmung, sondern auf das Subjekt angewendet werden. Dabei stellt er erstens auf die Idee des ›Unternehmers als Nutzer von Gewinnchancen‹ ab: »Entscheidend ist die axiomatische Setzung, dass alles Handeln eine Wahl zwischen mehr oder weniger attraktiv empfundenen Alternativen darstellt und deshalb in einem umfassenden Sinne eigennützig ist, wobei der Eigennutz auch in der Genugtuung des Altruisten bestehen kann, anderen geholfen zu haben. Weil aber keine Wahlhandlung mit Gewissheit den gewünschten Erfolg zeitigt, bleibt jede ein Wagnis.« (Bröckling 2007a: 111f., H.i.O.) Die Ausrichtung auf das Nutzen von (Gewinn-)Chancen findet sich in der Denkfigur der ›Weggablungen‹ bzw. in der ausführlichen Reflexion von Entscheidungssituation wieder, welche im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ eine wesentliche Rolle spielt: Dabei handelt es sich nicht um das impulsive ergreifen von Chancen, sondern um ein systematisches Entdecken, Abwägen und gedankliches Durchspielen von Möglichkeiten. Im Rahmen des Lebensentwurf stellen solche Chancen Entwicklungsmöglichkeiten dar, das heißt, sie bilden Anschlussalternativen, die sich kontextuell ergeben und jeweils mit den eigenen aktuellen Bedürfnissen und der gegenwärtigen Lebenssituation abgeglichen werden müssen, damit ihre Potenziale angemessen erfasst werden können. Dieses nüchterne, analytische, sowie reflexive Vorgehen entspricht dem Modus des unternehmerischen Kalküls. Allerdings – dies dokumentiert der Typus ›Pfad‹ – ist das berechnende Vorgehen nicht gleichbedeutend mit einer Suspendierung subjektiver Affinitäten und dem Unterordnen des persönlichen Wohlbefindens, vielmehr werden sie als affektive Aspekte der Präferenzstruktur identifiziert und auf diese Weise rationalistisch prozessiert, also als Variablen in die Chancenabwägung einbezogen. Zweitens rekurriert Bröckling auf das Schumpeter’sche Konzept des ›Unternehmers als Innovator‹ und leitet hier die Vorstellung eines ungebremsten Steigerungsdrangs ab: Unternehmersein bedeutet das Suchen nach neuen Wegen und das programmatische Ausbrechen aus Routinen. »Es herrscht die Semantik totaler Mobilmachung: Plus ultra lautet, so Schumpeter, das Motto des Unternehmers – immer noch weiter.« (Bröckling 2007a: 117, H.i.O.) Diese nicht-teleologische Idee einer ungebremsten Steigerung ist in die Entwicklungsorientierung des Lebensentwurfstypus eingelassen: Weiterentwicklung ist ein Grundmotiv jener Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ hervorbringen. Auf Basis dieser Orientierung gehen sie Risiken ein, wie etwa die Kündigung eines unbefristeten Anstellungsverhältnisses, und suchen beständig nach neuen Herausforderungen, beispielsweise neue Angebote zur Erweiterung des unternehmerischen Portfolios. Dass es sich hierbei keineswegs um Praktiken handelt, die das Unternehmertum generell erfordert, sondern die in erster Linie mit der spezifischen Lebensentwurfsorientierungen zu tun haben, zeigt der Vergleich mit den unternehmerischen Haltungen anderer Lebensentwurfstypen: Diese sind nicht nur weniger oder
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gar nicht an einer entsprechenden Steigerungslogik orientiert, für sie dokumentiert sich auch ein wesentlich weniger rationalistischer Modus in der Erschließung neuer Aufgabenbereiche. Der dritte Aspekt, den Bröckling zur Konturierung der Rationalität des unternehmerischen Selbst nutzt, ist die Vorstellung des ›Unternehmers als Träger von Risiken‹: Hier trifft sich die Subjektivierungsform des unternehmerischen Selbst mit dem ebenfalls im Rahmen der Governmentality Studies bearbeiteten Sicherheitsdispositiv. Grundlage dieses Aspekts einer unternehmerischen Rationalität ist die Ungewissheit von Wissen und Handeln, die wiederum in zwei Formen unterschieden werden kann. Einerseits in Risiken, »jene Ungewissheiten also, die sich mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitskalkülen objektivieren [lassen] und folglich durch Technologien der Versicherung oder Prävention aufgefangen« werden können und andererseits » ›reine Ungewissheit, gegen die man sich nicht versichern und auch keine anderen Vorsorgemaßnahmen treffen kann, weil weder die Häufigkeitsverteilung noch ihre Parameter bekannt sind« (Bröckling 2007a: 117). Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ zeigt sich nicht nur eine hohe Sensibilität hinsichtlich der Risiken von Entscheidungen, konstitutiv ist vor allem die Unterscheidung beider Formen, denn auf ihr basiert das charakteristische Vorgehen in Entscheidungssituationen. Die genaue Selbstbefragung und systematische Analyse der Kontextbedingungen dienen der Abwägung von Chancen und Risiken und ermöglichen es, den Punkt festzulegen, an dem die Kalkulation eingestellt und der Schritt in die Ungewissheit unternommen werden muss. Das dies dennoch zumeist in einem abgesicherten, kontrollierten Modus geschieht, ist ebenfalls Ausdruck dieses spezifischen praktischen Umgangs mit Risiko. Viertens schließlich verweist Bröckling auf die Idee des ›Unternehmers als Koordinator‹. Das Unternehmersein zeichnet sich demnach durch die gezielte, entscheidungsbasierte und nutzenoptimierende Allokation von Ressourcen aus. Für den Typus ›Pfad‹ lässt sich nun eine hohe Relevanz des Selbstmanagement mit dem Ziel einer möglichst effizienten Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit konstatieren: Die Gründerinnen möchten und können ihr Leben ökonomisch organisieren, schätzen an der Selbstständigkeit vor allem die Möglichkeit der freien Arbeitsgestaltung und nutzen diese, um die verschiedenen Bereiche ihres Lebens möglichst optimal miteinander zu verzahnen. Insofern findet unweigerlich eine Ausdehnung des Zeit- und Arbeitsmanagements auf das gesamte Leben statt. Möglich ist dies auf der Grundlage einer hohen Selbstdisziplin: Die enge Verflechtung der unterschiedlichen Lebensbereiche, die unterschiedlichen Aufgaben, die es als Unternehmerin, Mutter, Partnerin, Freundin etc. zu koordinieren und erfüllen gilt, und denen die Gründerinnen gewissenhaft nachkommen, lassen sich nur dann ausnahmslos bearbeiten, wenn die selbst auferlegten Zeit- bzw. Arbeitspläne eingehalten werden. Die Subjektivierungsform des ›unternehmerischen Selbst‹ erweist sich als geeignet, um die Orientierungen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ analytisch entlang einer transversalen Logik der Ökonomisierung zu organisieren, seine unterschiedlichen Charakteristika also als homologe Äußerungen einer spezifischen ökonomistischen Rationalität zu rekonstruieren, die über den Erhebungsrahmen hinausweist. Umgekehrt ermöglichen die Homologien zwischen dem Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ und dem Konzept des ›unternehmerischen Selbst‹ einen differenzierten Blick
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auf die Architektur dieser transversalen Logik und erlaubt es so, einige logische Verknüpfungen kritisch zu beleuchten. So wird etwa die Idee der beständigen Weiterentwicklung und Optimierung in der Logik des Selbstunternehmertums an die Mechanismen der Konkurrenz rückgebunden: »[D]ie Selbstoptimierungsimperative implizieren die Nötigung zur kontinuierlichen Verbesserung. Angetrieben wird dieser Zwang zur Selbstüberbietung vom Mechanismus der Konkurrenz. Weil jeder seine Position stets nur für den Moment und in Relation zu seinen Mitbewerbern behaupten kann, darf niemand sich auf dem einmal Erreichten ausruhen.« (Bröckling 2007a: 71f.) Im Gegensatz dazu dokumentiert sich für die Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ hervorbringen zwar ein hohes Leistungsethos, sowie eine Orientierung auf Verbesserung (der Karriereoptionen, der eigenen Kompetenzen, der Selbstorganisation etc.) und durchaus auch der Hang zur Selbstüberbietung, eine sonderlich kompetitive oder konkurrente Haltung lässt sich hingegen nicht feststellen. Dieses zeigt sich stärker im Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ und ist dort mit einem anderen Modus der Leistungsorientierung verbunden. Der Leistungsbezug des Typus ›Pfad‹ zeigt sich vor allem als Bestrebung, gemessen an objektivierten Standards und den eigenen (oft noch schärferen) Qualitätsvorstellungen, gute Leistungen zu erbringen und weniger darin, besser sein zu wollen als andere. Entsprechend lässt sich der für das ›unternehmerische Selbst‹ charakteristische Siegeswille vor allem im Sinne einer Selbstüberwindung bestimmen. Die Entkopplung der Leistungsvorstellungen vom direkten Vergleich mit anderen bzw. die Internalisierung sozialer Leistungsstandards, sodass diese als persönliche Ansprüche erscheinen, ist zwiespältig: Einerseits bildet sie die Grundlage dafür, dass die Gründerinnen als relativ souveräne Entwicklerinnen ihres Lebenswegs und Optimiererinnen ihres Alltags handeln können. Zwar bilden Entwicklung und Verbesserung durchaus auf Dauer gestellte Orientierungsmuster des Lebensentwurfs, Tempo und Grad werden jedoch von den Gründerinnen nicht auf der Basis eines Vergleichs mit anderen Gründerinnen, Unternehmerinnen, Müttern, Freundinnen etc. bestimmt, sondern aus der Relationierung äußerer Umstände und persönlicher Präferenzen gewonnen. Andererseits sind auch die Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ hervorbringen, mehr oder weniger belastet von Zukunftsunsicherheiten, Versagensängsten oder hohen Arbeitspensen und insofern durchaus von Leistungsdruck und Steigerungsimperativ des ›unternehmerischen Selbst‹ betroffen. Offenbar sind sie jedoch nicht den dauerhaften Unzulänglichkeitsempfindungen und erschöpfenden Aktivismen ausgesetzt, die Bröckling als Effekte dieser Subjektivierungsform befürchtet (Bröckling 2007a). Die für diesen Lebensentwurf typische Form der Ökonomisierung zeigt sich also als eine ambivalente Doppelstruktur von disziplinierter Selbstüberbietung und persönlichen Vorlieben folgender Selbstentfaltung und mithin als schmaler Grat zwischen Belastungspotenzialen und Entlastungsmöglichkeiten. Teilweise können die weniger gravierend ausfallenden Zumutungen einer subjektivierten Ökonomisierung unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der Governmentality Studies erklärt werden. So zeigt sich für den Orientierungsrahmen des Typus ›Pfad‹ das von Lemke (2000: 41) angesprochene »›Mischverhältnis‹ von Zwang und Freiheit« als eine praktische Verkopplung von autonomer Lebensgestaltung und dem Rückgriff auf konventionalisierte Formen der Lebensführung, als Verschränkung situativ abge-
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stimmter, individueller Strategien zur Koordination verschiedener Lebensbereiche mit dem bewussten Einsatz von Alltagsroutinen. Sowohl der Rekurs auf Konventionen als auch der systematische Einbezug von Routine als Organisationsstrategie ermöglichen erst die rationale Abwägung unterschiedlicher Lebenswegalternativen bzw. die effiziente und eigenverantwortliche Koordination unterschiedlicher Lebensbereiche. Die Gründerinnen – so ließe sich überspitzt formulieren – sind gerade deshalb erfolgreiche Unternehmerinnen ihrer Selbst, weil ihr Orientierungsrahmen der Logik des unternehmerischen Selbst nur bis zu einem gewissen Grad entspricht. Aber warum lassen sich nun nur einzelne, spezifische Überscheidungen mit einer Ökonomisierungslogik feststellen? Beispielsweise fehlt der Kompetitivitätsaspekt im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ vollständig, das heißt, Leistung wird nicht durch die Überbietung der Konkurrenz definiert und die Entwicklung bzw. Steigerung der eigenen Fähigkeiten bedeutet nicht den Versuch, besser zu sein als alle anderen11 . Vielmehr zeigt sich sogar eine Leistungs- bzw. Erfolgsdiffusion, d.h. ein Aufteilen der Lebensleistung auf unterschiedliche Lebensbereiche, sodass persönliche Erfolge in einer Weise individualisiert werden, die den Vergleich mit Errungenschaften anderer Akteure erschwert. Dieser Umstand legt nahe, dass die typspezifische Form der (Selbst-)Ökonomisierung einen Effekt der Interferenz mit anderen transversalen Logiken darstellt, und zwar mit jenen, die im Rahmen der Ästhetisierungs- und Singularisierungsdiagnosen herausgearbeitet wurden. Hier bilden persönliche Affiziertheit und Selbstentfaltung, aber auch Authentizität und Einzigartigkeit den logischen Kern. Eine dominante Orientierung auf das Ästhetische oder Singuläre lässt sich für den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ zwar nicht konstatieren – zu sehr ist er auf die Entwicklung einer stringenten Laufbahn unter Rekurs auf effiziente Handlungs- und rationale Entscheidungsstrategien orientiert. Allerdings werden die subjektiven Präferenzstrukturen, die den wesentlichen Bezugshorizont in Entscheidungssituationen bilden, als Wert an sich rekonstruiert: ob eine Entscheidung als richtig und eine Entwicklung als erfolgreich zu verbuchen ist, hängt in erster Linie vom persönlichen Wohlbefinden ab und das wird auf Basis einer Arbeits- und Lebenssituation gesteigert, die sich flexibel an die Bedürfnisse der Gründerinnen anpassen lässt. Nicht nur beruflicher Erfolg, sondern auch eine Lebensführung, die unterschiedliche Lebensbereiche, Familie, Freundschaften etc. in Balance bringt, die zudem Freiräume für individuelle Selbstentfaltung schafft, gelten im Rahmen des Typus Pfad als erstrebenswert. Die Orientierung an der erfolgreichen Selbstentwicklung und rationalen Lebenswegoptimierung ist also im Sinne einer ästhetischen, authentischen Lebensführung eingefärbt. Der Lebensentwurf zeigt, wie sich die transversalen Logiken der Ökonomisierung und der Ästhetisierung empirisch verschränken können. Interessant ist, dass dabei weniger eine wechselseitige Verstärkung der beiden Logiken einzutreten scheint, wie Reckwitz dies für die Ästhetisierungs- und Singularisierungsprozesse herausarbeitet, sondern die Logiken sich wechselseitig tendenziell in ihrer zwingenden Wirkung entschärfen: Die Wertigkeit einer Lebensführung, die jenseits der Arbeit noch 11
Dies kann nun auf eine bestimmte Selektivität durch die Merkmale hinweisen, anhand derer die Grundgesamtheit der Studie zusammengestellt wurde, dagegen spricht allerdings das ausgeprägte Konkurrenzdenken im Typus ›Fügung‹.
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weitere Aspekte aufweist, die diese erfolgreich machen und erfüllen können, entlasten den Lebensentwurf bis zu einem gewissen Grad von beruflichem Erfolgsdruck – auch wenn die Gründerinnen sich keinesfalls vorstellen können, nicht zu arbeiten oder eine berufliche Position auszufüllen, die keinerlei ökonomische Erfolgschancen bietet. Umgekehrt ermöglicht die nicht geringe Orientierung an ›klassischer‹ beruflicher bzw. arbeitsbezogener Anerkennung eine Entlastung in Bezug auf das ›Paradox der erfolgreichen Selbstverwirklichung‹ (Reckwitz 2017a: 289): Anders als dies im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ der Fall ist, entsteht für den Typus ›Pfad‹ weder ein Dilemma aus der Fülle potenziell interessanter Themen, die bearbeitet werden könnten, noch muss die Arbeit jederzeit erfüllend und sinnstiftend sein. Persönliche Präferenzen und Interessen bilden nicht den Fluchtpunkt der Optimierung, sondern sind ein Entscheidungskriterium sowie ein (invarianter) Maßstab der erfolgreichen Lebensführung. Nicht die Selbstverwirklichung, sondern Karriere und Kompetenzen unterliegen der Entwicklungsprämisse.
Drift Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ kann das Leben als fluides Gefüge aus Interessen, Erfahrungen und Ereignissen beschrieben werden. Es zeichnet sich durch eine große Vorläufigkeit bzw. einen Schwebezustand aus und ist um Sinn und Bedeutung beruflicher und nicht-beruflicher Tätigkeiten zentriert. Insofern schließt der Orientierungsrahmen deutlich an die Ästhetisierungs- und Singularisierungsdiskurse an, verweist aber auch auf die Perspektive der Prekarisierungsforschung. Besonders treffend lassen sich die Orientierungen des Typus anhand der von Boltanski und Chiapello herausgearbeiteten Cité par projets organisieren und an eine transversale Logik anschließen. Dies wird bereits an einem einführenden Beispiel deutlich, welches Boltanski und Chiapello nutzen, um die Cité näher zu charakterisieren: Sie verweisen auf die englisch- und französischsprachige Managementliteratur, welche dafür plädiert, den traditionellen Begriff der Arbeit zu ersetzen durch ein Portfoliokonzept, das die Tätigkeitsbereiche Lohnarbeit, freiberufliche Arbeit, Hausarbeit, Ehrenamt und Bildungsarbeit integriert, also bezahlte und unbezahlte Arbeit gleichwertig in eine Sammlung heterogener Interessens- und Aufgabenbereiche überführt (Boltanski & Chiapello 2006: 155). Im Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ sind diese Überlegungen nicht nur realisiert, sondern er lässt zugleich erkennen, welche praktischen Effekte die Integration der verschiedenen Lebensbereiche unter der Grundvorstellung arbeitsäquivalenter produktiver Tätigkeit hervorbringt. Der in die Cité par projets eingelassenen Grammatik folgend, kann zunächst festgestellt werden, dass das zentrale Beurteilungskriterium (Äquivalenzprinzip), nämlich der Grad der Aktivität, die auf die Entwicklung und Durchführung von Projekten gerichtet ist, für den Orientierungsrahmen des Typus ›Drift‹ eine wichtige Rolle spielt. Praktisch verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit – etwa, wenn die Gründerinnen nicht mehr zu sagen wissen, inwiefern eine Veranstaltung privat oder beruflich ist und darauf zurückgreifen, Arbeitszeit im Kern an formalen (Büro) und emotionalen Merkmalen (macht nicht so viel Spaß) festzumachen. Dabei verwischen auch die Grenzen zwischen Verpflichtung und Freiwilligkeit, insofern Pflichtge-
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fühl nicht in erster Linie aus der Bindung an Arbeitsorganisationen oder -institutionen, sondern vielmehr aus der Relevanz generiert wird, die dem bearbeiteten Thema zugemessen wird. Und schließlich veruneindeutigen sich die Grenzen zwischen in Begriffen der Produktivität erfassbaren Tätigkeiten und jenen, die sich einer standardisierten, numerischen Bewertung entziehen, da auch der Bewertungsrahmen für Produktivität neu verhandelt wird. Dabei wird anhand des Lebensentwurfs des Typus Drift jedoch deutlich, dass – anders als von Boltanski und Chiapello (2006: 156, H.i.O.) formuliert – das Leben weniger als »eine Abfolge von Projekten aufgefasst« wird, sondern sich für die Gründerinnen als jenes Netzwerk entfaltet, das durch die beruflichen und nicht-beruflichen, synchronen und diachronen Projekte gebildet wird. Die Netzwerklogik scheint also tief in die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen der Gründerinnen eingelassen und findet ihre Entsprechung in der Art und Weise, wie sie ihr Leben verstehen. Während Bourdieu die im common sense verankerte ›biographische Illusion‹ noch als vorherrschenden praktisch-reflexiven Zugang zum eigenen Leben herausarbeitet, zeigt sich im Lebensentwurfstypus ›Drift‹ ein Orientierungsrahmen, der bereits im narrativen Zugriff auf die eigene Biografie keiner Chronologie folgt, sondern eine themenzentrierende, verästelte Logik aufweist. Auch Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Polyvalenz, Engagement und Begeisterungsfähigkeit, die im Rahmen der Cité par projets den ›Zustand von Größe‹ anzeigen, sind eindeutig mit diesem Lebensentwurfstypus verbundene Attribute. Dabei handelt es sich keineswegs um Eigenschaften, mit denen sich die Gründerinnen schmücken, vielmehr stellen sie sich als praktische Voraussetzungen heraus, die den Lebensentwurf überhaupt erst ermöglichen und zugleich als Effekte, die sich aus einem solchermaßen geführten Leben ergeben. Insofern sind sie nicht nur als arbeitsmarktrelevante Kompetenzen und bewusste Performationen, sondern auch als teils vorreflexive Aspekte des Modus Operandi zu verstehen. Sie bilden zugleich die habituelle Basis, auf der die Gründerinnen eine projektierte Arbeitspraxis hervorbringen können. Der praktische Orientierungsrahmen des Lebensentwurfs kann also mit als Grundlage einer habituellen Strategie verstanden werden, die den Akteurinnen selbst keinen direkten reflexiven Zugriff auf die Nützlichkeit ihrer Prämissen erlaubt, Handlungen also nicht an einem unmittelbaren Zweck ausrichtet, sondern in spielerischer Form hervorbringt und auf diese Weise deren Erfolgspotenzial steigert. Zwar weisen die Orientierungen der Gründerinnen eine hohe Passung zum ›Zustand der Größe‹ auf, bemerkenswert ist jedoch, dass der ›Zustand von Nicht-Größe‹ – auch wenn er nicht den Dispositionen der Gründerinnen entspricht – keine explizite Abwertung erfährt. Der Lebensstil der Elterngeneration, der sich durch geringe Mobilität, durch das Festhalten an einem bestimmten Beruf und durch lokale Verwurzelung auszeichnet, verliert zwar im Zuge der persönlichen Abkehr von diesem Entwurf an Anerkennung, Widerwillen und explizite Ablehnung erfahren jedoch vor allem Lebensentwürfe, die persönliche Interessen der ökonomischen Nutzenmaximierung und Authentizität der Selbstoptimierung unterordnen. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ geht also die Orientierung an einer Ästhetisierung des Lebens mit der Ablehnung einer Ökonomisierung des Lebens einher, das heißt, hier konfligieren die verschiedenen transversalen Logiken, die von den praxistheoretischen Gegenwartsanalysen aufgezeigt werden. Dies kann als eine Ursache für die Ambivalenzen und inneren
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Konflikte der Gründerinnen verstanden werden, denn die Gründerinnen leiden daran, dass etwa die Freiheit der Projektwahl im Rahmen der Selbstständigkeit um den Preis der Selbstvermarktung und die Ineinssetzung privater und beruflicher Interessen um den Preis der Ökonomisierung privater Beziehungen realisiert werden. Die Dissonanzen, die im Rahmen des konkreten Lebensentwurfs zwischen unterschiedlichen transversalen Logiken entstehen, werden von den Gründerinnen also praktisch nicht nur als konkurrierende Wissen- und Werteordnungen adressiert, sondern sind in bestimmten Praxiskomplexen dermaßen miteinander verwoben, dass sie zwangsläufig gemeinsam hervorgebracht werden müssen und dabei Ambivalenzen erzeugen. Auf der anderen Seite führt der Lebensentwurfstypus ›Drift‹ vor Augen, dass eine auf Authentizität, Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit zielende praktische Logik als kapitalistisches Rechtfertigungsregime durchaus Sprengkraft birgt. Die von Boltanski und Chiapello herausgearbeitete Formel der Investition der Cité par projets ist ebenfalls konstitutiver Bestandteil des Lebensentwurfstypus: Ihr entspricht im Grunde die charakteristische Drift-Bewegung die von der Abwesenheit stabilisierender, bindender, absichernder Aspekte, sowie von der räumlichen und zeitlichen Ungebundenheit der Lebensführung zeugt. Diese ›nomadische‹ Lebenseinstellung wird von den Gründerinnen allerdings nicht als Investition, sondern als innerer Drang rekonstruiert. Andererseits verstehen sie die ebenfalls aus der Investitionsformel resultierende mangelnde soziale Absicherung durchaus als ein für die Freiheit der Arbeitsinhalte in Kauf zu nehmendes Problem. Im Rahmen des Lebensentwurfs zeigen sich jedoch auch praktische Strategien der Verankerung, die sich mit der Unabhängigkeit vereinbaren lassen – etwa die Stärkung familialer oder freundschaftlicher Beziehungen oder die Erzeugung einer phasenweisen sozialen Verwurzelung. Schließlich lässt sich auch das Bewährungsmodell der Cité par projets in der Alltagspraxis der Gründerinnen ausmachen: Gerade auf Basis der Selbstständigkeit bewerkstelligen sie den Wechsel zwischen den Projekten, aber auch die parallele Bearbeitung verschiedener Projekte relativ umstandslos. Die Logik, an der der Lebensentwurf orientiert ist, drückt sich also nicht zuletzt in der spezifischen Gründungspraxis aus, denn anders als etwa jene Gründerinnen, die entsprechend dem Typus ›Pfad‹ orientiert sind und zumeist über klare Aufgabenportfolios und feste Kund*innenkreise verfügen, für die sie dauerhafte Aufgaben übernehmen, ist die Selbstständigkeit im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ Projektarbeit im Geiste des neuen Kapitalismus: eine Melange unterschiedlicher Themenbereiche, bezahlter und unbezahlter Tätigkeiten, staatlich und privat finanzierter Aufträge, akquirierter und selbstentwickelter Projekte, deren zeitliche Rahmen von wenigen Wochen bis hin zu Jahren umfassen und die vornehmlich interessenbezogen, gelegentlich aber auch zur finanziellen Sanierung unternommen werden. Dass die Übergänge zwischen den Projekten besonders heikle Momente bzw. ›kritische Situationen der Rechtfertigungsordnung‹ darstellen (Potthast 2001: 557), zeigt sich in der Diskrepanz zwischen der Unbekümmertheit, mit der das potenzielle Scheitern eines Gründungsprojekts betrachtet wird, und der tiefen Verunsicherung bzw. Existenzangst, die ein fehlender Projektanschluss auslöst: Während die Gründerinnen einen eher pragmatischen Zugang zur Selbstständigkeit aufweisen und diese eher als formalen Rahmen der Arbeit an ihren persönlichen Interessensgebieten verstehen, schildern
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sie die Phasen kurz vor dem Auslaufen von oder zwischen zwei Projekten als zutiefst belastend. Sie stellen keine Verbindung zwischen dem pragmatischen Selbstständigkeitsverständnis und den praktischen Anzeichen faktischen Scheiterns des Gründungsprojekts her, wie dies etwa Gründerinnen tun, die entsprechend des Typus ›Pfad‹ orientiert sind. Diese sind zwar auch mit Existenzängsten konfrontiert und adressieren das mögliche Scheitern der Gründung als ärgerliche Niederlage, sie verstehen es jedoch auch als eine weitere Weggablung, an der wiederum zu entscheiden wäre, in welche Richtung der Lebensweg weiterentwickelt werden soll. Obwohl mit dem Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ die Zuversicht einhergeht, dass sich immer ein interessantes Thema oder ein neuer Projektkontext ergeben wird, scheint dieses Vertrauen in die eigene Vernetztheit gerade in prekären Übergangssituationen erschüttert. Dies mag am elementaren Stellenwert der Projektakquise liegen, denn wer keine neuen Projekte findet bzw. »das Netz nicht mehr nach neuen Projekten absucht, läuft in einem Retikularuniversum Gefahr, ausgeschlossen zu werden, d.h. faktisch seine Lebensgrundlage zu verlieren. Er wird höchstwahrscheinlich nicht mehr an Projekten beteiligt und hört auf zu existieren.« (Boltanski & Chiapello 2006: 157) Die Diagnose, dass Projekte »umso wertvoller sind, je deutlicher sie sich voneinander unterscheiden« (Boltanski & Chiapello 2006: 156), findet eine besonders interessante Entsprechung im Orientierungsrahmen des Typus ›Drift‹: Die Gründerinnen beherrschen »die Kunst, verschiedenste und entfernteste Verbindungen zu knüpfen und diese zu nutzen«, und sie sind ausgesprochen stark am Neuen und Andersartigen orientiert (Boltanski & Chiapello 2001: 467). Allerdings entfaltet diese Orientierung durchaus Ambivalenzen: Alltagspraktisch stellt sich die Heterogenität, zwar als eine wesentliche Ressource für künftige Projektanschlüsse, aber auch als verunsichernde und kraftraubende Herausforderung dar, denn sie bindet die Gründerinnen an eine kontinuierliche Reflexions- und Integrationsleistung. Sie sind beständig darauf angewiesen die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen als Quelle vielfältiger Kompetenzen und zugleich stringente Unternehmung für potenzielle Kunden erkennbar und anschlussfähig zu machen. Der innere Drang zur Realisierung immer Neuer und vor allem neuartiger Projekte kann als besonders erfolgreiche Internalisierung der Cité par projets gelesen und die affektive Bindung an diverse und sich beständig erweiternde Interessensgebiete als aussichtsreiche habituelle Strategie verstanden werden. Allerdings verstärkt offenbar gerade diese Affektivität die Belastung, denn sie erzeugt nicht nur eine hohe Identifikation mit bestehenden und vergangenen Projekten, die keinesfalls rückwirkend entwertet werden sollen, sondern führt im Extremfall zu einer betont unökonomischen, das heißt aber auch: besonders schwer integrierbaren Wahl des nächsten Interessengebiets. Das Neue und Andersartige spricht die Gründerinnen auf einer emotionalen Ebene an und auf diese Affektion orientieren sie ihr Handeln. Auch spielt kulturelles Kapital für sie eine wesentlich höhere Rolle als ökonomisches Kapital. Insofern lässt sich der Lebensentwurf des Typus Drift auch schlüssig mit Bezug auf die Singularisierungsdiagnose von Reckwitz als Ausdruck einer hohen (bzw. gesteigerten) gesellschaftlichen Relevanz des Kreativen, Affektiven und Authentischen deuten, denn diese Aspekte stehen im Zentrum des Selbst- und Weltverständnisses der Gründerinnen. Der von Reckwitz plausibel dargelegte Effekt einer wechselseitigen Steigerung ökonomischer und ästhe-
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tischer Logik zeigt sich allerdings auch in diesem Lebensentwurf nicht als besonders wirkmächtig. Zwar weisen die Praktiken der Gründerinnen durchaus Verschränkungen auf: Wenn sich beispielsweise private und berufliche Situationen, aber auch Beziehungen untrennbar verbinden, überlagern sich beide Logiken, sodass es zu einer Ökonomisierung des Privaten und zugleich zu einer Affizierung des Beruflichen kommt. Allerdings stehen die Gründerinnen diesen Hybridisierungen äußerst kritisch gegenüber und beziehen aus dieser Kritik und generell aus der Ablehnung ökonomisierter Handlungslogiken einen wesentlichen Teil ihrer Authentizität. In einem entscheidenden Punkt macht sich die Verschränkung einer ökonomischen Logik der unbeschränkten Steigerung und der Logik des Authentischen und Einzigartigen jedoch deutlich bemerkbar und zwar in jener Konstellation, die Reckwitz die ›Paradoxie der erfolgreichen Selbstverwirklichung‹ nennt: Die Gründerinnen unterliegen dem Zwang im Idealfall jeder Tätigkeit und jedem Lebensbereich Bedeutsamkeit und Sinnstiftung entnehmen zu können. Uninspirierende Arbeiten, Routinen und Projekte, die keine Freude bereiten, sind für sie hingegen auch für kurze Zeitspannen nur schwer zu ertragen. Dies verstärkt in gewisser Weise die Rastlosigkeit dieses Lebensentwurfs und erzeugt – bei allem Bestreben nach Unverfälschtheit und Authentie – eine innere Spannung. Insgesamt wird deutlich, dass der Lebensentwurf des Typs ›Drift‹ in der Tradition der von Boltanski und Chiapello herausgearbeiteten Künstlerkritik – also der Kritik an einer entfremdenden, autonomiebegrenzenden und bevormundenden Arbeit – gelesen werden kann. Diese Kritik wird von den Gründerinnen nicht zuletzt auch explizit geäußert. Dabei verstehen sie die gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse keineswegs als Befreiung oder gelungenes Aufgreifen der geäußerten Kritikpunkte. Vielmehr empfinden sie ihre Arbeitssituation durchaus als strapaziös und unsicher, wobei sie diese Lage billigend in Kauf nehmen, um ihren Lebensentwurf realisieren zu können. Damit sind sie gezwungen, die gegenwärtige Verfestigung der gesellschaftlichen Steuerungslogik der Prekarität praktisch mit hervorzubringen, d.h. an der »Stabilisierung der Instabilität« (Brinkmann et al. 2006: 62) mitzuwirken. Zwar handelt es sich um eine faktisch relativ möglichkeitsoffene Form der Prekarität, denn die Gründerinnen sind hoch qualifiziert, verfügen über ökonomische und soziale (Unterstützungs-)Netzwerke und bringen habituelle Strategien hervor, die einen souveränen Umgang mit volatilen Situationen erlauben. Dennoch leiden sie unter der prekären Lebenslage und wünschen sich gesellschaftliche Strukturen, die sowohl eine langfristig gesicherte Existenz als auch ein freies und interessengeleitetes Arbeiten ermöglichen. Insofern eröffnet der Orientierungsrahmen dieses Typus auch einen Blick auf den Zustand der Künstler- und Sozialkritik: Die Gründerinnen schätzen im Sinne der Künstlerkritik die gewonnenen Freiheiten hinsichtlich der Lebensgestaltung, halten die neuen Arbeitsstrukturen aber nicht für einen geeigneten institutionellen Rahmen. Sie lassen sich auf die Strukturen ein, bewerten dies aber als ein Zugeständnis und sind grundsätzlich auf der Suche nach Kontexten, die ein angemessenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ermöglichen. Für das Problem der Sozialkritik zeigt sich im Rahmen des Lebensentwurfstypus erstaunliches: Es finden sich Anzeichen für die von Boltanski und Chiapello diagnostizierten Interpretationsschwierigkeiten der Sozialkritik, welche in den dezentralen strukturellen Neuerungen des Kapitalismus weder ein System zu erkennen vermag, noch an dessen verändertes normatives Re-
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pertoire anschließen kann. Da die Problemlagen innerhalb schwach strukturierter Zonen sozialer Ungewissheit situiert sind erscheinen sie ihnen als neue, besondere und individuelle Handlungserschwernisse. Unbestimmtheitszonen öffnen also einen Möglichkeitsraum für neue Ordnungsgefüge, sie bieten auf der anderen Seite jedoch nur wenige Anknüpfungspunkte für institutionalisierte Kritikformen und sind insbesondere für Sozialkritik eine Herausforderung, die ja gerade auf stabile Ungleichheitsverhältnisse zielt und die Reproduktion von Machtverhältnissen in gewandelten Praxismodi erst erkennen muss. Dort, wo die Problemlagen von den Gründerinnen als strukturell erzeugte Konflikte wahrgenommen werden, zeigt sich zudem, wie wenig die Instrumente der Sozialkritik geeignet sind, um die Situationen zu bearbeiten: Wie die Gründerin Jana Berg treffend beschreibt, sind der Kritik nämlich die Adressat*innen abhandengekommen. Im Rahmen traditioneller Arbeitsstrukturen war die Austragung von Interessenskonflikten nicht nur möglich, weil sich hierfür eigens Institutionen herausgebildet hatten, sie basierte vor allem auf der klaren Verortung organisationaler Statusgruppen; der Unmut gegenüber kapitalistischen Produktionsstrukturen konnte nicht dem Kapitalismus selbst, wohl aber dessen Nutznießer*innen und nicht zuletzt denjenigen vorgetragen werden, die (begrenzte) Möglichkeiten hatten, etwas an den Strukturen zu ändern. In der Lebenswelt der Gründerinnen verschwimmen diese Kommunikationsstrukturen nicht nur, sie werden zusätzlich durch die Vermischung persönlicher und beruflicher Beziehungen tendenziell unbrauchbar, denn ein Arbeitskampf kann gerade ohne institutionellen Rahmen nur schwerlich gegen Freund*innen ausgetragen werden, die zudem unter den Bedingungen flexibler, projektierter Arbeit mal als Kolleg*innen, mal als Auftraggeber*innen und mal als beauftragte Zuarbeiter*innen auftreten.
Fügung Der Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zeichnet sich durch die klare Vorstellung eines angemessenen sozialen Status aus, den die Gründerinnen noch nicht (vollständig) erreicht haben, von dem sie aber annehmen, dass er ihnen zusteht. Insofern beinhaltet der Lebensentwurf ein Telos, auf welches das Leben ausgerichtet ist. Die Legitimation des angestrebten Status beziehen die Gründerinnen aus persönlichen Qualitäten: Sie verstehen sich als disziplinierte, hervorragende Leistungen erbringende und distinguierte Personen und sehen in diesen Eigenschaften die Grundlage für eine rechtmäßige Beanspruchung (hoher) sozialer Anerkennung. Einerseits geht damit eine Loslösung der Alltagspraxis und konkreter Handlungsziele von der Erreichung des angestrebten Status einher, denn dieser muss sich auf Basis der persönlichen Qualitäten und des Glaubens an eine Ordnung, die jedem Akteur seine rechtmäßige soziale Position zuweist, im Grunde selbsttätig einstellen. Insofern sind die Handlungsstrategien der Gründerinnen relativ diffus und explizit vom übergeordneten Lebensziel entkoppelt, denn sie können nur die Grundlagen für eine herausgehobene Statuierung schaffen. Andererseits geht mit der Überzeugung, herausragende persönliche Qualitäten zu besitzen, ein relativ konfliktives Verhältnis zur Umwelt einher, denn sie erzeugen praktische Inkongruenzen in der Interaktion mit anderen Akteuren, die von den Gründerinnen als Verkennung, Kränkung oder Demütigung wahrgenommen werden.
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Der Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ verweist also auf einige Schwierigkeiten bzw. Ambivalenzen bei der Internalisierung gegenwärtig geteilter sozialer Ordnungen. Daher eigenen sich für die Reformulierung des Lebensentwurfs vor dem Hintergrund praxistheoretischer Gegenwartsanalysen zunächst insbesondere solche, die auf die verunsichernden, desorientierenden Aspekte gegenwärtiger Wandlungsprozesse verweisen, wie dies im Rahmen des Prekarisierungsdiskurses und in Bourdieus Ausführungen zum ›Elend der Welt‹ geschieht. Bourdieu führt das Leiden, welches gegenwärtige soziale Wandelungsprozesse in bestimmten Teilen der Bevölkerung hervorrufen, auf strukturelle Konflikte zurück, die sich im Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ wiederfinden lassen. Zunächst sind Perspektivkonflikte zu nennen, Auseinandersetzungen also über die legitime Sichtweise auf die Welt, die sich in der kämpferischen Haltung gegenüber der Umwelt und in den ausgeprägten Kränkungserfahrungen ausdrücken. Bourdieu verweist darauf, dass sich Perspektivkonflikte insbesondere an ›heterogenen Orten‹ entladen, an denen unterschiedliche Wissensordnungen und Bewertungslogiken systematisch aufeinandertreffen, wie etwa in Schulen, Büros oder Ämtern, die dort angesiedelt sind, wo sich Akteure aus unterschiedlichen sozialen Milieus begegnen und wo zugleich die Angst vor sozialem Abstieg und Armut besonders groß ist. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zeigt sich nun, dass Perspektivkonflikte potenziell überall auftreten können und nicht in erster Linie an eine ökonomisch prekäre Situation geknüpft sind. Die Konflikte sind bei den Gründerinnen auf ein Gefühl sozialer Verkennung zurückzuführen, die aus einer Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen (die nach einer spezifischen sozialen Logik strukturiert sind) und dem praktischen Verlauf bestimmter sozialer Situationen (die nach einer divergenten Logik strukturiert sind) herrühren. In ihrem Verständnis haben die Gründerinnen etwa bereits unter Beweis gestellt und von offizieller Stelle durch Benotungen und Abschlüsse bestätigt bekommen, dass ihnen ein bestimmter sozialer Status zusteht. Werden ihnen entsprechende berufliche Positionen nun nicht angeboten, werden sie in Vorstellungsgesprächen einer erneuten Prüfung unterzogen oder im Rahmen von Bewerbungsverfahren abgelehnt, wird dies als Ausdruck einer Zuwiderhandlung und als persönlicher Angriff gewertet, da sich die Entscheider*innen über die soziale Ordnung nach der zu einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur auch eine bestimmte soziale Position gehört hinwegsetzen. Verstärkt wird die Problematik dadurch, dass die internalisierte Ordnungslogik eine geradezu verhindernde soziale Praxis evoziert, denn die abwartende und zugleich auf die Angemessenheit einer bestimmten beruflichen Position beharrende Haltung steht jener ›neoliberalen‹ Logik entgegen, die ein konkurrieren um Arbeitsstellen hervorbringt oder – im Sinne des Diktums der Selbstökonomisierung – das Anpreisen und Verkaufen der persönlichen Qualitäten voraussetzt. Insofern zeigt sich der Perspektivkonflikt hier als das Aufeinanderprallen einerseits älterer Ordnungslogiken, wie sie in der organisierten Moderne vorherrschen und die sich durch die umfassend standardisierte Definition der Voraussetzungen für, sowie durch eine institutionalisierte Zuweisung von sozialen Positionen auszeichnen, und andererseits gewandelter, ökonomisierter Ordnungslogiken. Hierin liegt auch ein wesentliches Moment eines typusspezifischen Laufbahnkonflikts, der sich ebenfalls in den Erzählungen der Gründerinnen dokumentiert: Die an-
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tizipierte soziale Position kann als Ausdruck einer internalisierten, milieuspezifischen Trajektorie verstanden werden, welche die sozialen Ordnungen und Verteilungslogiken zum Zeitpunkt ihrer Entstehung widerspiegelt und sich als spezifisches soziales Gespür in der Praxis der Gründerinnen niederschlägt. Im Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zeigen sich nun die Effekte einer überkommenen Trajektorie: Während sich die Produktionsbedingungen sozialer Positionen, d.h. die objektivierten Ordnungslogiken, nach denen sich Akteure relational zueinander verorten können, gewandelt haben, erweisen sich sowohl die antizipierte Positionierung als auch die Strategien zur Erreichung der Position im Rahmen des Lebensentwurfstypus als ausgesprochen hysteretisch. Sie sind nur noch unzureichend mit der Ordnung praktischer Alltagssituationen übereinzubringen. Die Gründerinnen reagieren hierauf kämpferisch aber auch gekränkt und sie weisen eine deutliche Tendenz zur Reinterpretation sozialer Situationen auf, etwa wenn sie ein Vorstellungsgespräch als gezielte Demütigung oder die Kritik an ihrer Person als Selbstdemontage der Kritiker*innen rekonstruieren. Wie Bourdieu (1987) dies für das französische Kleinbürgertum beschreibt, zeigt sich auch bei den Gründerinnen die Schule als zentrale Institution auf deren Basis sie ihre Statusansprüche legitimieren. Sie rekurrieren auf ihre exzellenten Leistungen, ohne die tendenzielle Entwertung von Bildungsabschlüssen und die subtiler werdenden Distinktionsstrategien in Rechnung stellen zu können. Die Schule, wie auch bildungspolitische Rhetoriken, stützen die nicht mehr fraglos angemessenen Erwartungen der Gründerinnen und tragen so zu deren Enttäuschung bei. In ähnlicher Weise wie die von Bourdieu herausgearbeiteten Laufbahnkonflikte erhellen auch die Erkenntnisse der Prekarisierungsforschung die ambivalente Struktur des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹: Castel verweist darauf, dass die gesellschaftliche Ausdehnung von Prekarisierungserfahrungen vor dem Hintergrund der sozialstaatlichen Interventionen, der ökonomischen Aufwertung von Lohnarbeit und den strukturell beförderten sozialen Aufstiegschancen zu verstehen sind, die für die vorhergehende Generation prägend waren. Die ›soziale Unsicherheit nach der Absicherung‹, von der Castel spricht, verweist also einerseits darauf, dass die an diesen Ordnungen ausgerichteten Lebensformen und die damit einhergehenden Sicherheiten brüchig geworden sind und zudem eine symbolische Abwertung erfahren. Denn das Festhalten an Ordnungen, die durch staatliche Intervention gewährleistet und hochgradig an institutionellen Arrangements ausgerichtet sind, wird auch in jenen Milieus der Mittelschicht, die diese Logiken ursprünglich als legitime Orientierungsrahmen ihrer Praxis hervorgebracht haben, vermehrt hinterfragt. Während viele Akteure – wie dies die Lebensentwürfe der Typen ›Pfad‹ und ›Drift‹ zeigen – Wege finden ihre Orientierungsrahmen mit den veränderten Wissensordnungen und praktischen Logiken in Einklang zu bringen, ist der Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ von Orientierungsschwierigkeiten und internalisierten Ambivalenzen gekennzeichnet. Er ist im Sinne Castells nicht nur deshalb prekär, weil die Inkongruenzen zwischen den in den Lebensentwurf eingelassenen sozialen Ordnungslogiken und den gegenwärtig als dominant herausgearbeiteten Ordnungslogiken in Bezug auf die Trajektorie besonders große Kontingenz entfaltet. Er ist auch prekär, weil er ein konfliktives Verhältnis zur sozialen Umwelt evoziert und somit die soziale Einbindung der Gründerinnen gefährdet.
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Ein Aspekt, der ebenfalls im Rahmen des Prekarisierungsdiskurs herausgearbeitet wurde, bezieht sich auf die ›Erschöpfung‹ sozialer Ordnungen im Zuge sozialen Wandels, das heißt, vormals orthodox wirksame Orientierungsrahmen verlieren an Deutungsmacht und büßen ihre fast uneingeschränkte Möglichkeit ein, Praxis zu strukturieren. Sie konkurrieren nunmehr verstärkt mit alternativen praktischen Logiken und eröffnen zudem Möglichkeitsräume für Aushandlungsprozesse und Neuordnungen. Die Nutzung solcher Möglichkeiten setzt jedoch ein spezifisches habituelles Vermögen voraus, nämlich die Fähigkeit, Situationen eigenständig zu definieren, zu strukturieren und diese Strukturen sozial geltend zu machen. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zeigen sich jedoch verschiedene Orientierungen, die eine solche Strukturierungspraxis erschweren: Die Praxis der Gründerinnen rekurriert in einem hohen Maße auf Institutionen, insbesondere sozial standardisierte Prozesse, objektiviertes Kulturkapital wie Abschlüsse und Zensuren, aber auch soziale Normierungen wie etwa milieuspezifische Trajektorien. Dies zeigt sich nicht zuletzt in ihren Rechtfertigungsstrategien, die in stark institutionalisierten Strukturen gründen. Auch sind sie in einem hohen Maße auf Anerkennung durch Autoritäten angewiesen. Fallen solche Strukturen weg, dokumentiert sich eine Orientierungslosigkeit, die sich insbesondere in der Vagheit der Handlungsstrategien ausdrückt: Die Strategien zur Zielerreichung beziehen sich auf die Herstellung der richtigen Einstellung und auf das akribische Strukturieren bürokratischer Handlungen, wie etwa das Ausleihen von Büchern. Auf der anderen Seite sind berufliche Ziele eher allgemein formuliert (Verkaufstrainerin; Karrierecoach; Gartenberaterin), nicht unmittelbar anschlussfähig an die bisherige Laufbahn (Erzieherin, Bankkauffrau, Buchhändlerin) und zum Teil mit sehr hoch gesteckten Ambitionen versehen (Teilzeitkoordination eines gut laufenden Unternehmens aus der Ferne). Zwar strukturieren die Gründerinnen konkrete Aufgaben, denen sie sich gegenüber sehen, das strategische Arbeiten an den gesteckten Zielen fällt ihnen jedoch schwer: Sie recherchieren, konzipieren und planen, ohne ihre Überlegungen in unternehmerische Angebote überführen zu können. Vielmehr dokumentiert sich die Hoffnung, dass sich der Erfolg zu gegebener Zeit selbsttätig einstellen wird. Die Gründerinnen beanspruchen in verschiedenen Situationen durchaus Definitionsmacht, doch handelt es sich dabei weniger um schwach strukturierte Settings, als vielmehr um solche, bei denen grundlegende Aushandlungen hinsichtlich der praxisbestimmenden sozialen Logik eher unüblich und nicht besonders aussichtsreich sind. Dies betrifft beispielsweise Bewerbungsverfahren, die die Gründerinnen als unangemessene Prüfungssituationen empfinden, und in denen sich der Anspruch auf Definitionsmacht etwa in dem Versuch äußert, die angebotenen Stellen vollständig abzuändern. Dabei zeigen sich teilweise erhebliche Diskrepanzen zwischen den Rekonstruktionen der Gründerinnen und dem common sense. Dies wirkt sich in doppelter Hinsicht problematisch aus, denn einerseits scheitern die Gründerinnen bei dem Versuch, ihre Position durchzusetzen, andererseits nehmen sie dies vor dem Hintergrund ihres spezifischen Deutungsrahmens besonders deutlich als persönliche Kränkung wahr, was das Leiden an solchen Situationen verstärkt. Die Gründerinnen, die den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ hervorbringen, sind also in einer Weise disponiert, welche die Nutzung schwach strukturierter Situationen und der Beteiligung an der Produktion günstiger Deutungs- und Ordnungsstrukturen behindert.
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Es ist nicht so, dass der Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ ausschließlich entlang überkommener sozialer Logiken strukturiert ist. Einerseits finden sich in der Gegenwartsgesellschaft durchaus Ordnungslogiken, die eine Formalisierung und Standardisierung sozialer Positionen ebenso hervorbringen, wie allgemeingültige Definitionen und Handlungsanweisungen und die somit besonders anschlussfähig sind für vornehmlich auf disziplinierte und aufmerksame Entsprechung ausgerichtete Subjektivierungsformen. Andererseits gibt es Anzeichen dafür, dass jene Wandel markierenden transversalen Logiken, die durch die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen herausgearbeitet wurden, auch in den Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ Eingang finden: In der Umdeutung weiter Teile des Alltags als Arbeitszeit, d.h. in der sinnhaften Ökonomisierung des Lesens interessanter Internetposts oder des Besuchs von Sommerfesten, zeigt sich ebenso sehr das Regime der ökonomischen Nutzenorientierung, wie in der Selektion des Freundeskreises mit dem Anspruch, sich von unergiebigen Kontakten zu trennen. Und wenn die Gründerinnen an einer positiven Einstellung arbeiten bzw. sich das Nachdenken über Scheitern, schlechte Zukunftsaussichten und mögliche Hürden versagen, tun sie dies, um ihre Erfolgschancen zu maximieren. Sie bringen also ihr gesamtes Leben auf einen ökonomischen Kurs, indem sie ihre Alltagspraxis, ihr Wahrnehmen und Denken im Sinne der ihrer Erfolgsstrategie optimieren. Auf der anderen Seite zeigen sich auch Aspekte der Ästhetisierung und Singularisierung im Rahmen des Lebensentwurfs: So teilen die Gründerinnen die Orientierung auf eine selbstbestimmte, von Selbstentfremdung unbelastete Arbeitspraxis. Sie betonen die Relevanz des Affektiven beim Treffen lebensverändernder Entscheidungen bzw. die Bedeutung von ›Schlüsselmomenten‹, in denen sich ein Gefühl für das Richtige und Erfolgreiche einstellt. Und sie verweisen mit Stolz darauf, dass sie eine eigene, durchaus unbequeme Meinung und Haltung haben, keine Mitläuferinnen sind und mit Freude ›gegen den Strom schwimmen‹. Allerdings scheinen die unterschiedlichen Ordnungslogiken in teilweise ungünstiger Form zu interferieren und in den Lebensentwurf strukturell eingelassene Ambivalenzen und Antinomien zu erzeugen. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, dass unterschiedliche, teils disparate Orientierungen in sozialer Praxis aufeinandertreffen – die Unschärfe der Logik der Praxis ermöglicht dennoch deren Hervorbringung. Die Orientierungen, welche im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ aufeinander treffen, sind jedoch in einer Weise inkongruent, die eher an Bourdieus Ausführungen zum ›gespaltenen Habitus‹ erinnern: Die unterschiedlichen Orientierungen – auf die disziplinierte Befolgung objektivierter Regeln und auf ein selbstbestimmtes Arbeiten, auf explizierte Anerkennung und auf das Durchsetzen einer individuellen, konfrontativen Haltung, auf die Geltung und die Ablehnung ›klassischer‹ Maxime wie ›von nichts kommt nichts‹ – konterkarieren sich in einem Ausmaß und in einer Weise, die systematisch zu Orientierungsschwierigkeiten und Handlungsunsicherheiten führen. Insofern zeigt sich für den Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ auch eine spezifische Variante des dritten, von Bourdieu in Bezug auf sozialen Wandel herausgearbeiteten Strukturkonflikts: Der Lebensentwurf weist Formen eines double-bind-Konflikts auf, insofern die Gründerinnen bestimmte Praxisformen vor dem Hintergrund mehrerer transversaler Logiken rekonstruieren und dabei weder eine praktisch anschlussfähige Integration, noch eine tragfähige Verschleierung der Ambivalenzen gelingt.
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Variabilität und Zusammenspiel von Praktiken der sozialen Integration, der Kontingenz und der Individualisierung
Die sinngenetische Herausarbeitung divergenter gegenwärtiger Lebensentwurfstypen gibt nicht zuletzt Aufschluss über die praktische Hervorbringung jener Prozesse, die bereits im Rahmen der Modernetheorien und Gegenwartsanalysen als transversales Wandelgeschehen markiert wurden: Der Wandel sozialer Integrationsprinzipien (insbesondere Arbeit), die Kontingenzsteigerung und die Individualisierung. Die Analyse spezifischer Praxisvollzüge – hier in Form einer sinngenetischen Rekonstruktion der Produktionsmodi von Lebensentwürfen – kann nun nicht nur divergierende Hervorbringungsweisen dieser Wandelaspekte in den Blick nehmen, sie kann auch wesentlich detaillierter etwaige Transformationen der Analysekategorien selbst beleuchten (Arbeit, Kontingenz, Individualität). In der sinngenetischen Analyse von Lebensentwürfen wird also auch die praktische Konstitution jener Analysekategorien rekonstruierbar, die der Herausarbeitung sozialen Wandels zugrunde liegen: Vor allem der Wandel des Integrationsprinzips Arbeit – dies zeigt die Analyse – ist ohne die Berücksichtigung des Wandels der praktischen Konstitution von Arbeit nicht angemessen nachzuvollziehen. Ein Beispiel dafür, wie wesentlich die Beachtung der praktischen Konstitution von Analysekategorien bei der Erforschung sozialen Wandels ist, liefert bereits die implizite praktische Konzeptualisierung des Lebensentwurfs. Die im common sense eingelagerte Idee einer gerichteten, mit Anfang und Ende versehenen Geschichte, bei der in linearer und konsistenter Form ein (Lebens-)Weg beschritten wird, zeigt sich in den rekonstruierten Lebensentwurfstypen in zwei Varianten: Im Rahmen des Typus ›Pfad‹ steht vor allem die Vorstellung der Kontinuität, des stringenten Anschlusses aufeinander folgender Lebensphasen und des Vorankommens im Zentrum, sie wird aber deutlich bedingt durch ein (ökonomistisches) Moment anhaltender Steigerung, Verbesserung und Beschleunigung. Der Typus ›Fügung‹ rekurriert insbesondere auf die Idee der sich (selbstläufig) zu einem bestimmten Ende bringenden Geschichte, in der die Gründerin (als Hindernisse überwindende ›Heldin‹) im Zentrum steht. Die Erzählungen haben daher einerseits – im Gegensatz zum Typus ›Pfad‹ – ein klares Telos und zielen andererseits vor allem auf eine »Ich-Summierung und Ich-Vereinheitlichung« (Bourdieu 1998b: 78). Dies scheint im Rahmen dieses Typus in besonderem Maße geboten, denn der sich zeigende Orientierungsrahmen stellt sich (auch befördert durch soziale Wandelprozesse) als ambivalent heraus und bietet daher durchaus Anlass zu einer gesteigerten Selbstvergewisserungspraxis. Anders stellt sich die Lebensentwurfskonstitution des Typus ›Drift‹ dar: Hier wird das Leben als kontingentes, sich mit dem Sammeln von Erfahrungen in unterschiedliche Richtungen ausdehnendes Gefüge hervorgebracht, das eine eher fluide Konsistenz und vage Stringenz aufweist. Verbindungslinien und logische Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen, internalisierten Wissensensembles und angeeigneten Kompetenzen gelten keineswegs als evident, sondern müssen durch die Akteure aufgefunden oder sogar hergestellt werden. Hierin ließe sich das von Bourdieu bereits angedeutete »Fragwürdigwerden einer Auffassung vom Leben als einer sinnvollen – im doppelten Sinne von Etwas-Bedeuten und Auf-Etwas-gerichtet-Sein – Existenz« vermuten, die sich zwar nicht mit dem common sense trifft, allerdings zusammenfällt mit einer lite-
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rarischen »Abkehr von der linearen Erzählstruktur«12 (Bourdieu 1998b: 76f.). Bereits in der Konstitution des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ bildet sich also ein praktischer Wandel ab, der Fragen hinsichtlich der (verschiedenen) gegenwärtig objektivierten Vorstellungen vom Leben aufwirft.
Integration durch Arbeit Ähnliches lässt sich nun auch für die Analysekategorie ›Arbeit‹ und mithin für die Frage feststellen, inwiefern sich Arbeit in ihrer Funktion als gesellschaftliches Integrationsprinzip wandelt. Insbesondere die Ästhetisierungs- und Singularisierungsdiagnosen weisen bereits auf eine veränderte implizite Konzeptualisierung und vor allem ein verändertes praktisches Verhältnis zu Arbeit hin. Diese Annahmen können durch die sinngenetische Analyse von Lebensentwürfen gestützt werden, in deren Rahmen sich zwei verschiedene implizite Konzepte von Arbeit rekonstruieren lassen: Zum einen dokumentiert sich eine praktische Hervorbringung und Adressierung von Arbeit, die Homologien mit der fordistischen Arbeitslogik aufweist; Arbeit wird hier als formal strukturierte, an bestimmte Zeiten, Orte und Handlungen gebundene, durchaus anstrengende, eher fremdbestimmte und daher auch tendenziell entfremdende Tätigkeit aufgefasst. Zum anderen wird Arbeit als eine Praxis markiert und produziert, die eher dem Arbeitsbegriff der cité par projets entspricht und von Günther Voß (2007) unter dem Stichwort ›Subjektivierung von Arbeit‹ diskutiert wird – in dieser Logik wird Arbeit zu einem sinn- und identitätsstiftenden Moment, das nicht an formalen Kriterien wie Entlohnung, Zeitstrukturen oder organisationalen Bindungen festzumachen ist und daher auch einer Entgrenzung verschiedener Lebensbereiche Vorschub leistet. Im Rahmen des Typus ›Pfad‹ zeigt sich ein deutlicher Rekurs auf die fordistische Arbeitslogik: Das Leben ist in eindeutige Bereiche unterteilbar, von denen einer Arbeit ist. Arbeit folgt formalen Zielen und Regeln und dient nicht in erster Linie dem Vergnügen. Ein Effekt sozialen Wandels ist jedoch meines Erachtens die gesteigerte identitätsstiftende Bedeutung von Arbeit. Diese erfolgt zwar durch Affizierung, wie dies auch bei einer ästhetisierten oder singularisierten Arbeitslogik der Fall ist. Anhand des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ lässt sich jedoch aufzeigen, dass Arbeit als ein Mittel der persönlichen Entwicklung und Verbesserung verstanden wird und der Subjektivierung als selbstunternehmerisches (und im günstigeren Fall erfolgreiches) Individuum dient. Hierin dokumentiert sich eine ökonomistische Aktualisierung der fordistischen Arbeitslogik, die ihren Ausdruck auch in der praktischen Entgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche findet: Zeitliche und räumliche Flexibilisierung von Arbeit zeigt sich hier in einer feingliedrigen Modularisierung von Tätigkeiten, die unterschiedlichen Sphären des Alltagslebens entstammen. Diese werden möglichst effizient und in eng getaktetem Wechsel aneinandergereiht. Allerdings bleibt die Differenzierung der einzelnen Lebensbereiche bestehen, das heißt, die Tätigkeiten sind jederzeit als Arbeit bzw. Nicht-Arbeit zu identifizieren. Entgrenzung bedeutet im Lebensentwurf des Typus
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Der bei Bourdieu anklingende Verweis auf eine nihilistische Grundhaltung lässt sich jedoch im Orientierungsrahmen des Typus ›Drift‹ nicht wiederfinden. In Gegenteil: Die Gründerinnen sind in hohem Maße auf die Ausübung sinnstiftender Tätigkeiten orientiert, deren Bedeutung über die eigene Subjektivität und das individuelle Leben hinausgeht.
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›Pfad‹ also eine formale Entgrenzung und selbstgesteuerte, effiziente (Wieder-)Begrenzung. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ zeigt sich hingegen eine ästhetisierte Auffassung von Arbeit. Diese korrespondiert mit einer spezifischen Entgrenzungspraxis: Die einzelnen Bereiche des Lebens sind sinnhaft nicht nach einer funktionalen Logik im modernistischen Verständnis differenziert, sondern thematisch geordnet, sodass nicht die formale Konstitution einzelner in Bearbeitung befindlicher Projekte im Vordergrund steht. Diese Form praktischer Entgrenzung, bei der nicht festzustellen ist, wo Arbeit im herkömmlichen Sinne anfängt und aufhört, ist ohne diesen grundsätzlichen Wandel des praktischen Verständnisses von Arbeit nicht vorstellbar. Die Analyse des Typus ›Drift‹ verweist dabei jedoch auf ein Problem, dass durch die im Wandel auftretende Überlagerung beider Arbeitslogiken – also durch eine Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen – zustande kommt: Ein Großteil der sozialen Kontexte – insbesondere arbeitspolitische und -organisationale Institutionen – legen nach wie vor einen fordistisch geprägten Arbeitsbegriff nahe und so ist es alltagspraktisch unumgänglich, Tätigkeiten danach zu differenzieren, ob sie bezahlt werden oder nicht, ob sie arbeitsrechtlichen Beschränkungen unterliegen oder nicht, ob es Auftraggeber*innen gibt, die Anspruch auf Termineinhaltung haben oder nicht etc. Dem können sich auch die Gründerinnen, die ›Drift‹-typisch orientiert sind, nicht entziehen. Und so nutzen Sie beide Begriffe, markieren jedoch mit dem fordistisch konstituierten Arbeitsbegriff erstens alte und nicht mehr zeitgemäße Vorstellungen von Arbeit (etwa der Elterngeneration), zweitens Konflikte und Ambivalenzen, die ihnen im Alltag begegnen (und die von jener wandelbedingten Ungleichzeitigkeit herrühren) und drittens Tätigkeiten, die dem ästhetischen Anspruch an Arbeit nicht entsprechen, wie etwa Rechnungen schreiben, Steuererklärung oder Aufträge ohne affektiven Bezug, die der finanziellen Konsolidierung dienen. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ wird ebenfalls auf beide Arbeitslogiken rekurriert – allerdings in gänzlich anderer Form. Ähnlich wie beim Typus ›Pfad‹ bildet ein fordistisches Arbeitsverständnis die Grundlage der Arbeitspraxis. Dabei werden im Typus ›Fügung‹ die formalen, reglementierten, fremdbestimmten und Disziplin erfordernden Aspekte von Arbeit betont – vor allem aber auch ihr Respektabilität erzeugender Charakter hervorgehoben. Allerdings stellt es sich aufgrund des eher heteronom angelegten Orientierungsrahmens des Typus Fügung als Problem heraus, diese Form von Arbeit selbstgesteuert zu produzieren. Hierin unterscheidet er sich vom Typus ›Pfad‹. Stattdessen zeigt sich eine Strategie, die das ästhetisierte Arbeitsverständnis aufgreift und es ermöglicht, weite Teile der Alltagspraxis als Arbeit zu reformulieren. Situationen, in denen Freizeitvergnügung und (potenzieller) Arbeitsnutzen zusammenfallen (Surfen im Internet, der Besuch von Sommerfesten, Erfahrungsaustausch mit anderen selbstständigen Frauen) werden auf diese Weise vollständig als Arbeitszeit markiert und dabei implizit wieder einer fordistischen Arbeitslogik (ernstzunehmende Arbeit und kein Spaß!) zugeführt. Diese Praxis könnte als performative Entgrenzung bezeichnet werden. Wird auf dieser Basis nun die Frage nach dem Stellenwert der Arbeit als gesellschaftliches Integrationsprinzip gestellt, zeigt sich ein differenziertes Bild: Sowohl der Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ als auch der Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zentriert (ganz
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im Sinne eines fordistisch geprägten Gesellschaftsentwurfs) Arbeit als Mittel gesellschaftlicher Integration. Für beide Typen ist sie der Zugang zu einer (respektablen) sozialen Position, wobei im Typus ›Pfad‹ die subjektivierende Wirkung der erfolgreichen Selbstüberbietung durch Arbeit und im Typus ›Fügung‹ die Anzeige des sozialen Status durch Arbeit hervorgehoben wird. Die allgemein gestiegene Anforderung, Arbeit eigenverantwortlich und selbstgesteuert hervorbringen zu können, stellt nun im Orientierungsrahmen ›Pfad‹ keine besondere Schwierigkeit dar, gesellschaftliche Integration gelingt hier also auch unter diesen Bedingungen. Das ökonomisierte Arbeitsverständnis ist in dieser Hinsicht sogar förderlich, auch wenn es zu einem verstärkt internalisierten Leistungsdruck führt. Anders verhält es sich mit dem Orientierungsrahmen des Typus ›Fügung‹: Arbeit wird hier vornehmlich an ihrem Respektabilität bzw. soziale Anerkennung verschaffenden Potenzial gemessen. Kennzeichen für den Typus ›Fügung‹ ist, dass ein bestimmter sozialer Status noch vor Erreichung der entsprechenden Arbeitsposition als angemessen antizipiert wird. Die heteronome Orientiertheit bei der praktischen Hervorbringung von Arbeit konterkariert nun jedoch diese Statusaspiration – insbesondere unter der Bedingung eines gesteigerten gesellschaftlichen Selbststeuerungsimperativs. Daher gestaltet sich die soziale Integration (durch Arbeit) im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ tendenziell prekär. Bemerkenswert ist, dass die Selbstständigkeit vor diesem Hintergrund für die Lebensentwurfstypen jeweils spezifische Bedeutungen und Funktionen erhält: Im Typus ›Pfad‹ bildet sie einen geeigneten Kontext, um flexibel, effizient und eigenverantwortlich die Koordination unterschiedlicher Lebensbereiche zu gestalten sowie die berufliche Laufbahn voranzutreiben und damit nicht nur soziale Integration, sondern auch eine möglichst günstige Positionierung zu erwirken. Im Gegensatz dazu stellt die Selbstständigkeit im Typus ›Fügung‹ die Bedingung für eine performative Entgrenzung von Arbeit dar. Zudem ermöglicht sie aufgrund der Variabilität der Statusbedeutung (von der prekären Solo-Selbstständigkeit bis zum bewunderten Großkonzern) und der damit zusammenhängenden Unschärfe und (begrenzten) Darstellungsabhängigkeit des persönlichen Status eine uneindeutige, in der Schwebe gehaltene soziale Positionierung. Der Lebensentwurfstypus ›Drift‹, der als einziger ein ästhetisiertes Arbeitsverständnis zentriert, gibt schließlich Hinweise auf eine Erosion des Integrationsprinzips Arbeit: Hier wird keine vorrangige Unterscheidung zwischen bezahlten und nichtbezahlten Tätigkeiten getroffen und die Wertigkeit eines Projekts wird nicht in erster Linie über einen ökonomischen Gegenwert bestimmt. Daher verliert die fordistisch geprägte Konzeptualisierung von Arbeit sowie die hieran gekoppelte Idee einer arbeitsbezogenen gesellschaftlichen Integration, d.h. einer Einbindung in eine volksökonomische Produktionsgemeinschaft, in der sich die soziale Position maßgeblich über den produktiven Beitrag und mithin die berufliche Stellung definiert, an Wirkmacht. Soziale Integration geschieht im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ vornehmlich über soziale Netzwerke. In diesen Netzwerken überlagern sich freilich Arbeit und Nicht-Arbeit, berufliche und private Kontakte (im herkömmlichen Sinne). Aus einer Perspektive, die den fordistischen Arbeitsbegriff zugrunde legt, lässt sich für den Typus ›Drift‹ daher eine multimodale gesellschaftliche Integration feststellen. Aus einer Perspektive, die den ästhetisierten (und im Typus praktisch
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zentrierten) Arbeitsbegriff zugrunde legt, muss hingegen auch die Konzeption sozialer Integrationsprinzipien neu gedacht werden. Auch hierin drückt sich sozialer Wandel aus. Die hieraus erwachsenden praktischen Verwerfungen zeigen sich indes in Bedeutung und Funktion, die der Selbstständigkeit im Rahmen des Typus ›Drift‹ zukommen: Für die Gründerinnen erwachsen praktische Konflikte zwischen der von ihnen hervorgebrachten gewandelten Konstitution von Arbeit einerseits und jenen nach wie vor bestehenden arbeitsformalen Institutionen andererseits, die ein eher fordistisch geprägtes Arbeitsverständnis implizieren und die Logik einer sozialen Integration durch Arbeit objektivieren. Die Selbstständigkeit stellt nun eine (im Sinne des Typus nicht optimale) Möglichkeit dar, mit der gewandelten Arbeitspraxis an die (noch) nicht oder in anderer Form gewandelten arbeitsinstitutionellen Strukturen anzuschließen, sich also formal in ein System zu integrieren, von dem sich die Gründerinnen praxislogisch entfernen.
Kontingenz Mit der Diagnose der Kontingenzsteigerung verhält es sich etwas anders als mit der Frage nach dem Wandel der gesellschaftlichen Integration durch Arbeit. Während die Gründerinnen zwar ihr jeweiliges Konzept von Arbeit alltagspraktisch und damit in erster Linie implizit hervorbringen, adressieren sie diese dennoch auch explizit. Bei Arbeit handelt es sich also um eine (Analyse-)Kategorie, die sowohl eine implizite, alltagspraktische als auch eine konsensuale, gesellschaftlich objektivierte und nicht zuletzt eine wissenschaftliche Konstitution aufweist. Mit der Analysekategorie Kontingenz verhält es sich anders, denn hierbei handelt es sich vor allem um ein wissenschaftliches Konstrukt. Dennoch bezeichnet es aus einer praxistheoretischen Perspektive einen bestimmten Aspekt sozialer Praxis, der durch die Gründerinnen in spezifischer Weise mithervorgebracht wird und zu dem sie sich ins Verhältnis setzen, der jedoch implizit bleibt. Während die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen nun insbesondere Bedingungen herausarbeiten, die eine objektivierte Steigerung praktischer Kontingenz evozieren, Prozesse nachzeichnet, über die sich diese Steigerung vollzieht und deren soziale Effekte aufzeigen, ermöglicht die Analyse der Lebensentwürfe von Gründerinnen die Herausarbeitung typspezifischer kontingenzbezogener Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmodi. Für den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ dokumentiert sich etwa eine aktive Gestaltung von Kontingenz: Sowohl das bewusste und strukturierte Formieren bestimmter biografischer Phasen, in denen durch das Möglichwerden unterschiedlicher Pfadanschlüsse systematisch Kontingenz eröffnet wird, als auch die gedankliche Suspendierung vergangener, nicht gewählter Anschlussalternativen, stellen einen praktischen Umgang mit lebensverlaufsbezogenen Unabwägbarkeiten dar. Dabei wird Kontingenz vornehmlich organisiert, also systematisch eröffnet, strukturiert und geschlossen. Zudem produzieren die Gründerinnen einen auf Standardisierung und Konventionalisierung ausgerichteten Weltzugang. Sie nehmen das Leben daher tendenziell nicht so sehr als unübersichtliches, polysemisches und an Singularitäten reichhaltiges, sondern als strukturiertes und bestimmten Kausalitäten folgendes Gebilde wahr; auch dies wirkt kon-
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tingenzeinhegend. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ hingegen spielt Kontingenz eine geradezu konstitutive Rolle: Das Leben entfaltet sich hier als kontingentes Gefüge von Interessen, Erfahrungen und Gelegenheiten. Die Gründerinnen produzieren dabei nicht nur unweigerlich eine möglichst unbestimmte biografische Zukunft, indem sie sich die verschiedensten Anschlussmöglichkeiten offenhalten und bestrebt sind, immer wieder neue Erfahrungen zu machen und unbekannte Themen zu erschließen, sie legen auch einen souveränen Umgang mit der daraus erwachsenden alltagspraktischen Kontingenz an den Tag. Der Typus ›Fügung‹ hingegen zeigt ein zwiespältiges praktisches Verhältnis gegenüber der Kontingenz: Die teleologische Konstitution ihres Lebensentwurfs birgt einerseits eine grundsätzliche Verneinung des Zufälligen – was geschieht, geschieht aus einem bestimmten Grund, auch wenn dieser nicht unmittelbar ersichtlich ist. Andererseits sind sie in ihrem Alltag durchaus mit Kontingenz konfrontiert und dies sogar aufgrund der Vagheit ihrer Zielsetzungen und Zielerreichungsstrategien in einem erheblichen Maße. Für den Typus zeigt sich daher auf der anderen Seite eine Haltung des (zwangsläufigen) Aushaltens bzw. Erduldens von Kontingenz. Einerseits weisen die unterschiedlichen praktischen Kontingenzbezüge auf die diversen Effekte hin, die mit der gesamtgesellschaftlichen Kontingenzsteigerung einhergehen. Während im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ Kontingenz als etwas aufgegriffen wird, dass es aktiv zu steuern gilt, bildet sie für den Typus ›Drift‹ eine konstitutive Grundlage des Lebensentwurfs. Für den Typus ›Fügung‹ stellt Kontingenz hingegen eine Störung dar, die sich nicht schlüssig in die Logik des Lebensentwurfes einfügt und für die nur vage Strategien des Umgangs ausgebildet werden. Insofern zeitigt Kontingenz hier eine nachteilige Wirkung. Auf der anderen Seite gibt der Blick auf die Lebensentwürfe der Gründerinnen Aufschluss hinsichtlich der Art und Weise, wie die transversale Steigerung von Kontingenz praktisch hervorgebracht wird: Sie vollzieht sich keineswegs gleichmäßig und vor allem nicht als vorrangig institutioneller Wandel, bei dem eine alte, kontingenzschließende Form gesellschaftlicher Organisation durch eine neue kontingentere Variante abgelöst würde. Vielmehr zeigt sich, dass mit der Internalisierung und Personalisierung von Steuerungsverantwortlichkeit – also mit dem Umstand, dass Akteure nun in größere Entscheidungsspielräume und -zwänge verstrickt sind – nicht automatisch auch eine (gleichmäßige und gleichförmige) Steigerung der Kontingenz einhergeht. Für den Typus ›Drift‹ zeigt sich tatsächlich die Hervorbringung einer flexiblen, gezielt auf Spontaneität setzenden, an günstigen Gelegenheiten orientierten und günstige Gelegenheiten erzeugenden praktischen Strategie. Sie beteiligen sich an der Produktion jener ästhetisierten und singularisierten Praxis, die in den entsprechenden Diskursen als Ausdruck von und zugleich als souveräner Umgang mit Kontingenzsteigerung markiert wird. Der Typus ›Pfad‹ hingegen internalisiert die kontingenzreduzierende Logik der ›organisierten Moderne‹, aktualisiert sie im Sinne einer ökonomisierten Praxisstrategie und schafft damit einen sozialen Ort, an dem praktische Kontingenzöffnung und -schließung in individualisierter Form (re-)kombiniert werden. Gesteigerte Kontingenz entfaltet auch in diesem Lebensentwurf ihre Wirkung, sie wird praktisch allerdings in einem ganz anderen Modus aufgegriffen als dies im Typus ›Drift‹ der Fall ist. Sich ausdehnende Entscheidungsspielräume werden hier aufgrund des habitualisierten Selbst-
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steuerungsvermögens eigenständig (unter Rückgriff auf Sinnmuster der organisierten Moderne) strukturiert und so in ihrer Kontingenz beschränkt. Die mit der Logik unbegrenzter Steigerung der persönlichen Entwicklung einhergehende Zukunftsoffenheit wird durch klar definierte Etappenziele eingehegt. Werden beide Typen miteinander verglichen ist schwerlich zu behaupten, dass hier sozialer Wandel stattfindet und dort orthodoxe Logiken verteidigt werden. Vielmehr zeigen sich zwei verschiedene, gleichermaßen aktualisierte und gegenwärtige Formen der Produktion von und des Umgangs mit Kontingenz. Die Analyse des Typus ›Fügung‹ schließlich gibt Aufschluss über Passungsprobleme, die zwischen dem (gesteigerten) Imperativ eines eigenständigen Umgangs mit kontingenter werdenden objektivierten Strukturen und einem heteronom ausgerichteten Lebensentwurf entstehen. Der Blick auf den Umgang mit und die Auswirkung von Kontingenz im Rahmen dieses Typus ermöglicht nicht zuletzt eine Einsicht in das Problem der gesellschaftlichen Integration: Der von Bourdieu (2001b: 285) problematisierte Ausschluss aus Arbeit und damit »aus dem objektiven Universum von Anreizen und Hinweisen, die dem Handeln und dadurch dem ganzen gesellschaftlichen Leben eine Richtung vorgeben«, der ihm zufolge »Zeit vernichtet«, entlässt den Akteur in einen Raum, in dem sich Kontingenz praktisch ins Unermessliche weitet und zugleich radikal schließt. Dies trifft wohlgemerkt insbesondere dann zu, wenn die Akteure einen Lebensentwurf hervorbringen, der – wie jener des Typus ›Fügung‹ – eine vor allem heteronome Strukturierung von Zielen und Handlungsstrategien vorsieht. Im Umkehrschluss ist jedoch nicht (nur) das Fehlen einer arbeitsorganisationalen Einbindung, sondern vor allem die damit einhergehende Form praktischer Kontingenz verantwortlich für die prekäre soziale Integration. Die gesteigerte Kontingenz bzw. die erhöhte Anforderung, mit Kontingenz eigenständig umzugehen, bei gleichzeitiger heteronomer Orientiertheit, verringert vielmehr die Chancen einer Integration in den Arbeitsmarkt und verschärft damit das Kontingenzproblem im von Bourdieu aufgezeigten Sinne. Der Typus ›Fügung‹ führt also vor Augen, dass der praktische Umgang mit Kontingenz und das praktische Verhältnis zu Arbeit bei gegenwärtigen Formen gesellschaftlicher Integration eng miteinander verquickt sind.
Individualisierung Hiermit korrespondiert schließlich auch die praktische Hervorbringung von Individualisierung in der von Bauman verwendeten Begriffsbedeutung einer verstärkten Verlagerung sozialer Steuerung- und Organisationsleistungen in die einzelnen Akteure hinein: Sowohl die typusspezifische Hervorbringung von ›Arbeit‹ als auch der Umgang mit Kontingenz stehen mit der habituellen Disponiertheit in Bezug auf Entscheidungs- und Handlungsautonomie in Verbindung. Für den Typus ›Pfad‹ dokumentiert sich eine ausgeprägte Orientierung auf die eigenständige Planung, Entscheidung und Umsetzung von Etappenzielen des Lebensentwurfs. Die persönliche Laufbahn wird hier als individuell gestaltbare und eigenverantwortlich hervorzubringende Leistung verstanden. Eigenständigkeit ist dann ein wesentlicher Schlüssel zu einer (ökonomisierten) praktischen Konzeptualisierung des Lebens, denn Handlungsbeschränkungen durch heteronome Handlungsstrukturen werden gewissermaßen als ›wettbewerbsverzerrend‹ im-
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pliziert. Daher erhält Eigenständigkeit bzw. die Individualisierung von Verantwortung eine positive Konnotation und wird als funktional im Sinne einer erfolgreichen Lebensführung aufgefasst. Zugleich wird die mit der Eigenverantwortlichkeit einhergehende Risikoverlagerung als eine in Kauf zu nehmende Konsequenz und ebenfalls individuell zu bearbeitendes Problem markiert. Im Rahmen des Typus ›Drift‹ sind Eigenverantwortlichkeit und Selbststeuerung hingegen untrennbar verknüpft mit der Erschließung affizierender Themen und Projekte. Eine an Authentizität orientierte Lebensführung bedingt unweigerlich die (zumindest teilweise) Individualisierung von Handlungsstrategien. Allerdings steht die individualisierte Verantwortlichkeit nicht als Eigenwert im Zentrum der Orientierung, sie bildet vielmehr die habitualisierte Ermöglichungsstruktur eines auf persönliche Interessen gerichteten Lebensentwurfs. Anders als dies zum Teil durch die Gegenwartsdiagnosen nahegelegt wird, zeigt sich also sowohl für den Typus ›Pfad‹ als auch für den Typus ›Drift‹, dass Eigenständigkeit und Selbststeuerung nicht für sich als hohes Gut erachtet werden. Vielmehr dokumentieren sich diese Formen der Verantwortungsindividualisierung als Aspekte jener Modi Operandi, in denen zentrale Orientierungen der Lebensentwurfstypen in Praxis gebracht werden. Im Typenvergleich stellen sich diese Modi als divergent heraus: Die Individualisierung von Verantwortlichkeit stellt sowohl eine Form der Effizienzsteigerung und praktischen Ökonomisierung des Lebensentwurfs als auch eine Form der Authentizitätssteigerung und praktischen Ästhetisierung des Lebensentwurfs dar. Anhand der sinngenetischen Analyse lassen sich daher also nicht nur Divergenzen in der praktischen Hervorbringung selbstgesteuerten und eigenverantwortlichen Handelns aufzeigen, sondern auch die Logiken der sozialen (d.h. überindividuellen) Strukturierung individualisierter Praxisensembles herausarbeiten. Dass es gegenwärtig (zumindest in bestimmten Praxisfeldern) offenbar schwierig ist, eine dem Empfinden der Akteure nach angemessene soziale Positionierung durchzusetzen, wenn habituell nicht ein gewisses Maß an Verantwortungsindividualisierung hervorgebracht werden kann, zeigt die Analyse des Typus ›Fügung‹: Eine Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen äußert sich hier in Laufbahnkonflikten, die vom disparaten praktischen Verhältnis der Orientierung an heteronomen Handlungsstrukturen (wie sie in der ›organisierten Moderne‹ üblich war) und einer sich verstärkenden institutionellen Einforderung individualisierter Verantwortungs- und Steuerungsübernahme herrühren. Eigenverantwortliches, autonomes Handeln findet im Orientierungsrahmen des Typus ›Fügung‹ zwar Anerkennung und wird auch teilweise performativ hervorgebracht, es ist jedoch nicht stringent in die praktische Logik dieses Typus eingebunden und wird durch die Grundausrichtung des Lebensentwurfs konterkariert. Die implizite praktische Konstitution von Arbeit, der Umgang mit Kontingenz, aber auch die Individualisierung von Verantwortung und Handlungsstrukturierung ist im Rahmen dieses Lebensentwurfstypus in tendenziell disharmonischer Weise zwischen wirkmächtigen Orientierungsmustern der ›organisierten Moderne‹ und gewandelten transversalen Logiken aufgespannt. Während etwa im Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ alte Orientierungsmuster vor dem Hintergrund neuer Logiken aktualisiert und so an gewandelte objektivierte Strukturen anschlussfähig gehalten werden, erzeugt die Überlagerung im Rahmen des Typus ›Fügung‹ Dissonanzen in Orientierungsrahmen und Lebensentwurf.
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Im Rahmen der Familienfallanalyse soll nun das Augenmerk auf die Soziogenese der Lebensentwürfe und mithin auf die spezifischen praktischen Voraussetzungen der ›Integration‹ gewandelter transversaler Logiken gelegt werden. Zu diesem Zweck interpretiere ich die herausgearbeiteten Orientierungsrahmen – die Lebensentwurfstypen – im Kontext jener konjunktiven Erfahrungsräume, die Bohnsack (2009: 323) als »Erfahrungsräume par excellence« bezeichnet: im Kontext der Herkunftsfamilie. Ausgewählt wurden drei Fälle – Familie Töbelmann, Familie Berg und Familie Wunsch – die insofern exemplarisch für die jeweiligen Lebensentwurfstypen analysiert werden können, als die Gründerinnen, die im Zentrum der jeweiligen Familienfallanalyse stehen, jeweils einen der drei typisierten Formen des Lebensentwurfs in besonders eindeutiger Weise hervorbringt. Der Erfahrungsraum, der bei dieser Hervorbringung eine wesentliche Rolle spielt, soll also im Folgenden näher betrachtet werden. Dabei lässt sich nicht zuletzt auch das Zusammenspiel gesellschaftlich relevanter Differenzierungskategorien bzw. strukturierender Strukturen wie Geschlecht, Herkunft, Generation etc., die bei der praktischen Hervorbringung des Lebensentwurfs mit am Werk sind, am ›Bildungsort Familie‹ in den Blick nehmen.
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Familie Töbelmann
Kurzportrait Die Töbelmanns sind eine vierköpfige Familie, bestehend aus Mutter Ulla (64), Vater Xaver (68), Tochter Romina (42) und Tochter Anna (37), die als Existenzgründerin im Zentrum dieses Familienfalls steht. Ulla Töbelmann hat als Tochter eines Wirtschaftsattachés ihre Kindheit und Jugend in verschiedenen Ländern verbracht, insbesondere in Ostafrika und Vorderasien. Dort besucht sie relativ kleine Schulen für die Kinder der Angestellten im diplomatischen Dienst, lernt innerhalb und außerhalb des Unterrichts verschiedene Sprachen (insbesondere Englisch und Französisch, die sie jeweils fließend beherrscht) und entwickelt eine hohe Sprachaffinität, die sich auch in der Priorisierung neusprachlicher Schulen bei der Ausbildung ihrer eigenen Töchter auswirkt. Mit 17 wird
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sie gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in einem Internat in Deutschland untergebracht, um das Abitur abzulegen. Dort gefällt es Ulla jedoch nicht und sie verlässt das Internat zwei Jahre später mit dem Abschluss der mittleren Reife, um eine Ausbildung als Krankengymnastin zu absolvieren. Als Ausbildungsort wählt sie bewusst eine Großstadt, da ihr das ländliche und kleinstädtische Leben nicht zusagen. Dort lernt sie Xaver kennen, den sie im Jahr ihres Ausbildungsabschlusses heiratet. Im selben Jahr wird auch ihre erste Tochter Romina geboren. Xaver Töbelmann ist als Sohn eines studierten Bankkaufmannes und einer Schneiderin im Sudetengebiet Tschechiens geboren. Im Alter von vier Jahren flieht er mit seiner Mutter nach Ostdeutschland, wo sein Vater, der wenig später aus dem Krieg zurückkehrt, eine Anstellung als leitender kaufmännischer Angestellter findet. In den 1950er Jahren flieht die Familie ein weiteres Mal, diesmal in den Westen Deutschlands, wo Xaver das Abitur macht und später Ingenieurswissenschaften studiert. Noch im Studium heiratet er Ulla und zieht mit ihr, nachdem sie ihre Ausbildung beendet hat, in eine andere Stadt, um das Studium nach seinen Vorstellungen beenden zu können. In Xavers letztem Studienjahr plant das Ehepaar eine gemeinsame Auswanderung, die jedoch daran scheitert, dass nur Ulla im Zielland solide berufliche Aussichten vorfindet, sodass die Emigration beiden zu unsicher erscheint. Stattdessen ziehen Xaver und Ulla nach dem Studienabschluss nach Süddeutschland, wo Xaver eine Anstellung als Ingenieur in einem Großkonzern findet. Er wechselt nach einigen Jahren die Firma, da er – wie sich Tochter Romina erinnert – enttäuscht ist von den Aufstiegsmöglichkeiten im süddeutschen Konzern und findet eine Anstellung in leitender Funktion in einer etwa 400 km entfernten Stadt. Die Familie zieht nicht mit um, sodass er zwischen Wohn- und Arbeitsort pendelt. Bereits kurz nachdem er seine Arbeit aufnimmt, stellt sich heraus, dass das Unternehmen insolvent ist, daher muss sich Xaver – nur wenige Monate, nachdem er die neue Stelle angenommen hat, – wieder nach einer Alternative umsehen. Er findet eine Anstellung in einer süddeutschen Großstadt und zieht mit Ulla und Anna dorthin um. Romina hat zu diesem Zeitpunkt bereits die Realschule und eine Ausbildung zur Physiotherapeutin abgeschlossen und zieht nicht mit um. Anna wechselt aufgrund des Umzugs etwa eineinhalb Jahre vor dem Abitur die Schule, schließt diese wie geplant ab und beginnt vor Ort ein Studium der Wirtschaftspädagogik, wobei sie zunächst weiterhin im Elternhaus wohnt. Nach dem Vordiplom wechselt sie die Universität und zieht in ein anderes Bundesland. Dort lernt sie auch ihren späteren Ehemann kennen. Nachdem sie Ende der 1990er Jahre das Studium als Diplomkauffrau abschließt, nimmt sie eine Anstellung in der Personalabteilung eines Großkonzerns an. Mitte der 2000er Jahre heiratet sie, im selben Jahr wird ihr erster Sohn geboren. Da ihr Mann zu diesem Zeitpunkt in einer Nachbarregion arbeitet und pendelt, beschließen sie einen Umzug. Anna Töbelmann plant nach der Erziehungszeit in einer dem neuen Wohnort näher gelegenen Dependance der sie beschäftigenden Organisation die berufliche Tätigkeit wiederaufzunehmen, da jedoch in dieser Zeit das Unternehmen umstrukturiert wird und sowohl die alte als auch die in Aussicht gestellte Zweigstelle geschlossen werden, beginnt sie, sich nach einer Beschäftigungsalternative umzuschauen. Sie erwägt verschiedene Optionen und entscheidet sich für eine Existenzgründung auf Probe in Kooperation mit einem selbstständigen Personalberater, auf den sie durch eine Zeitungsannonce aufmerksam wurde. Die berufliche Eigenständig-
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keit gefällt ihr, nicht so sehr jedoch die Kooperation und so beschließt sie, sich erneut und ohne Kooperationsvertrag selbständig zu machen. Nach einer weiteren beruflichen Pause aufgrund der Geburt des zweiten Sohns nimmt sie die Arbeit als selbstständige Personalberaterin und Recruiterin auf.
Familiale Dispositionen Arbeit und Respektabilität Arbeit spielt im Leben der Familie Töbelmann eine zentrale Rolle. Sie ist die wesentliche Grundlage einer respektablen Lebensführung und mithin die Basis gesellschaftlicher Einbindung. Sowohl Ulla als auch Xaver finden ihren jeweiligen Beruf interessant, schätzen aber vor allem die große Variabilität und die damit einhergehende Krisensicherheit der Arbeit als Krankengymnastin bzw. Ingenieur. So beschreibt Xaver seinen Beruf als anspruchsvolles, interessantes und auch sehr breites Gebiet, also das kann man schon weiterempfehlen, sag ich mal, von, jetzt bezogen auf Jobmöglichkeiten, die man hat, ist auch heute noch so, ist eine gefragte Fakultät, sag ich mal, ne. Wird auch so bleiben (XT: 19). Die Wahl eines soliden und bodenständigen Berufs ist dem Vater ausgesprochen wichtig, denn sie ermöglicht nicht nur einen angenehmen Lebensstandard, sondern schützt vor allem vor Arbeitslosigkeit. Die Gefahr eines Arbeitsverlusts beschäftigt Xaver auch noch nach seiner Verrentung und er ist rückblickend erleichtert, dass er nie in eine solche prekäre Lage geraten ist (ich war also Gott sei Dank nie, nie arbeitslos!; XT 10). Tatsächlich stehen insbesondere in den Erzählungen des Vaters nicht so sehr die Inhalte des ergriffenen Berufs im Vordergrund, als vielmehr die strukturelle Bedeutsamkeit der Arbeit als unabdingbare Notwendigkeit des (respektablen) Lebens. Dies vermittelt sich auch seinen Kindern: »Also für meinen Papa hat Arbeit, also ich glaub’, für meinen Vater hat AUSBILDUNG und Arbeit einen Riesen-Stellenwert, das ist für den absolut existenziell. Also das, das war für die immer total wich-, also für ihn vor allen Dingen total wichtig, dass wir eine vernünftige Ausbildung bekommen und dass wir uns da auch anstrengen, also das war schon wichtig irgendwie. […] Ich glaub’, wenn jetzt meine Schwester oder ich oder mein Mann oder der Mann meiner Schwester den Job verlieren würde oder irgendwas, das wär’ für meinen Vater eine Katastrophe.« (Anna Töbelmann 21/40-22/14) Den Eltern geht es nicht so sehr um ein erfüllendes, persönlichen Leidenschaften entsprechendes Arbeitsleben, als um den sozialen und ökonomischen Status, den die Arbeit ermöglicht. Auch reines Profitstreben oder Hedonismus liegen Ulla und Xaver fern (ich bin kein Materialist; XT: 32). Lebensstil und Konsumverhalten der Familie sind eher pragmatisch und keineswegs verschwenderisch, auch wenn sie sich verschiedene statusadäquate Hobbys leisten wie Tennis, Kanu- und Skifahren. Die Eltern fahren mit den Kindern einmal im Jahr in den Campingurlaub und gönnen sich von Zeit zu Zeit eine Fernreise zu zweit. Prasssucht oder konsumistische Extravaganzen sind in der Familie jedoch verpönt. Was Xaver Töbelmann aber an einem profit- bzw. konsumbezogenen Lebensstil imponiert, ist die häufig damit einhergehende Zielstrebigkeit: Ich stelle fest, dass die Menschen, die Materialisten, […] sehr oft im Leben erfolgreicher sind deswegen, weil sie einfach einen starken Willen haben, was zu erreichen im Sinne von, eben materiell
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erreichbare Dinge. Und […] das ist eine Erkenntnis, die ich erst sehr spät in meinem Leben hatte (XT: 32). Damit stellt er jene Aspekte heraus, die ihm auch in der eigenen Lebensführung besonders wichtig erscheinen: die Entwicklung von Karriere und Persönlichkeit und respektabler beruflicher Erfolg. Erfolg wird von ihm als »Wertbeweis eigener Leistungen« (Neckel 2004: 67), sowie als Gradmesser gesellschaftlicher Anerkennung und des persönlichen Fortschritts verstanden. Arbeit ermöglicht diese Form des Vorankommens im Leben. In diesem Zusammenhang ist auch der hohe Stellenwert von Bildung und Weiterbildung zu deuten – beides steht im Dienste einer konsequenten beruflichen Weiterentwicklung. Inhaltliche Interessen treten hinter der Orientierung an der konventionellen Karriere im Sinne einer fordistisch geprägten Gesellschaftsordnung zurück. Auf dieser Basis formiert sich eine durchaus zweckrationalistische Arbeitshaltung: »also die Arbeit selber, glaub ich, für meine Eltern immer eher Mittel so zum Zweck. Die haben das gern gemacht, also ich kann mich nie erinnern, dass es so Zeiten gab so, wo jetzt, ähm, wo das, also wo Arbeiten grundsätzlich irgendwie keinen Wert hat. Es gehört einfach dazu, das ist so, mein Vater immer einfach, der hat viel parallel dazu gelesen, sich beschäftigt und studiert, also […] viel Selbststudium betrieben.« (Romina Töbelmann 12/37-44) Die Notwendigkeit einer vernünftigen Ausbildung und die Bereitschaft, Zeit und Mühe in die schulische und berufliche Laufbahn zu investieren, internalisiert Tochter Anna, nach der Wahrnehmung ihres Vaters, als ein gewisses Ehrgefühl […], dass sie sagt, ›ich will nicht mit schlechten Noten leben oder so, ich muss mich da schon zusammenreißen und das ist ja auch mein Leben‹ . Haben wir eigentlich […] da nie irgendwie so mit ihr Schwierigkeiten gehabt, ne (XT: 07). Entsprechend lassen die Eltern ihr in der Gestaltung des Schulalltags relativ große Freiräume und halten sich auch bei der Wahl von Studium und Beruf weitestgehend mit ihren Meinungen zurück. Diesen Anspruch erhebt nicht zuletzt Mutter Ulla, die es nach eigenem Bekunden, immer fürchterlich früher [fand], wenn schon einem gesagt wurde, du musst das machen oder du musst das machen, ne. Und ich hab eigentlich immer gesagt, die sollen selber entscheiden, was die von sich aus machen wollen. Also ich hab da eigentlich, ja, auch nie, wir haben da auch nie Einfluss gehabt, ne (UT: 17). Der Vater hingegen hat durchaus konkrete Vorstellungen von den Laufbahnperspektiven seiner Tochter und wünscht sich, dass sie im Banken- oder Versicherungswesen beruflich Fuß fasst. Hinter diesem Vorschlag verbirgt sich ein Glaube an das Sicherheits- und ›Aufstiegsversprechen‹ des fordistisch ausgerichteten Wirtschaftssystems organisierter Gesellschaftlichkeit im 20. Jahrhundert (Baethge et al. 1995), welches seine Wirkmacht aus der Solidität und karrierebezogenen Feingliedrigkeit hierarchisch tief gestaffelter Großunternehmen, insbesondere der krisenfesten Schlüsselbranchen, bezieht. Gerade die Finanzberufe verfügen über jene Aura der sicheren und zugleich lukrativen Betätigungsfelder, die Xaver Töbelmann anspricht – allerdings stößt er damit bei Anna auf wenig Gegenliebe: »Mein Papa wollte, dass ich zu einer Bank oder zu einer Versicherung gehe . Und eigentlich wollte er, glaub ich, dass ich Steuerberaterin werde, das hat er mir, vor zwei oder drei Jahren hat er mir das mal erzählt, dass er da über meine Reaktion so irritiert war, weil ich so heftig reagiert hab, weil da hat er mir halt vorgeschlagen, ich soll doch Richtung Steuerberatung machen. Und ich war völlig entsetzt, wie mein Papa auf die Idee kommt, dass ich in dem Beruf Steu-
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erberatung glücklich werden könnte. Also der… Klar, die haben schon gesehen, dass ich sowas Betriebswirtschaftliches in mir hab, von daher war das so, dass ich dann WiPäd studiert hab, also Wirtschaftspädagogik, ähm . Glaub ich, war, hat schon Zuspruch gefunden. Ich hab auch lange mit Psychologie geliebäugelt. Ich glaub, da hätten sie wahrscheinlich dann schon nochmal das Gespräch gesucht und, um nochmal nachzufragen, was ich denn damit will und ob ich nicht meine, dass was anderes vielleicht doch noch ein bisschen besser wäre.« (Anna Töbelmann 22/22-34) In der Studienwahl der Tochter zeigt sich also ein impliziter Kompromiss und eine nur leichte und daher für die Eltern vertretbare Abkehr von den Orientierungen des Vaters. Offenbar internalisiert Anna eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit bzw. ein Interesse gegenüber ökonomischen Arbeitsfeldern, sodass sie in ihrer ablehnenden Haltung vor allem den Geschmack ihrer Generation aufgreift: Also BWL hat mich schon interessiert, aber das war mir irgendwie zu ›das macht jeder‹ (AT: 23). Psychologie hingegen, insbesondere die in Deutschland seit den 1980er Jahren vorangetriebene Wirtschaftspsychologie, verkörpert in hohem Maße die Ideen einer innovativen, spätmodernen Unternehmensführung, lässt sie sich doch in Berufsfelder wie Werbung, Marketing, Unternehmensberatung und Change Management, aber eben auch in Personalauswahl und -entwicklung übersetzen. Die Wirtschaftspädagogik vereinbart Annas Interesse an den ›weichen Faktoren‹ einer Unternehmung mit dem soliden Charakter eines Wirtschaftsstudiums (Anna schließt das Studium als Diplom-Betriebswirtin ab), was wiederum den Eltern wichtig ist. Die elterliche Orientierung an einer Lebensführung, die Mitte des 20. Jahrhunderts stark konventionalisiert ist und insofern in hohem Maße Respektabilität symbolisch geltend machen konnte, zeigt sich nicht nur in der Wertschätzung einer soliden Arbeit, sondern auch im besonderen Stellenwert des Eigenheims. Das eigene Haus wird als Mittelpunkt des Familienlebens verstanden und als eine Basis der Familiengründung, die Ulla und Xaver ihren Kindern nicht nur ideell nahebringen, sondern die sie auch finanziell gezielt unterstützen: »wir hatten frühzeitig ein Haus und […] das war schon immer unser Ziel, dann auch zu sagen, dass man für die Familie, äh, dann eben den Kindern was zuschießen kann, ne. Aber nur unter der Prämisse, nicht einfach, hier habt ihr das Geld, verjubelt das, sondern das war nur unter der Bedingung, für ein Haus, […] quasi Verpflichtung für, wenn für Immobilie […] Weil wir gesagt haben, das ist etwas, was dann auch den Kindern wieder zugutekommt, nicht, wenn sie im Haus aufwachsen und dadurch eben freier aufwachsen können, ne.« (Ulla Töbelmann 21/45-22/12) Die generationenübergreifende familiale Tradition des Hauserwerbs wird nicht nur in Richtung der nachfolgenden Generationen erzählt. So sieht Xaver Töbelmann in seiner Familie eine biografisch begründete Disposition zum Wohneigentum gegeben: Mein Vater war so ein Häuslebauer, eben als Sinn, wenn sie Flüchtling sind, ist das anders, glaub ich, das können Andere vielleicht gar nicht so nachvollziehen, das hat sich vielleicht auf mich übertragen, ich bin also auch so eine Art Häuslebauer, sag ich mal, und das war sehr wichtig (XT 33). Zwar führt Xaver die hohe Relevanz des Hauserwerbs auf seine Fluchterfahrung zurück, jedoch drückt sich hierin – wie Bourdieu (Bourdieu 1998a) und seine Mitarbeiter*innen in verschiedenen Studien zum ›Eigentumssinn‹ zeigen – auch eine zentrale Orientierung
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der Mittelklasse/des Kleinbürgertums aus. Jenseits der wahrgenommenen biografisch bedingten Individualität der Vorliebe für Wohneigentum ist »[d]er Wunsch nach dem eigenen Häuschen […] als Resultat des Zusammenspiels der alten Sehnsucht nach privatem Glück und vererbbarem Besitz mit den Auswirkungen eines liberalen Schwenks in der Wohnungsbaupolitik ab Mitte der 70er Jahre« rekonstruierbar (Steinrücke & Schultheis 1998: 8). Tatsächlich verallgemeinert Xaver aus seinem gesellschaftlichen Standpunkt heraus den Erwerb eines Eigenheims: Das einzig Große ist natürlich, äh, oder die größte Investition oder größte Anschaffung in jeder –, im Privatbereich ist ja das Haus oder die Eigentumswohnung, das Appartement, was auch immer (XT: 33). Zudem wird in seinen Erzählungen deutlich, wie sehr die (standardisierten) Wünsche, Laufbahnen und Lebensführungen seines soziohistorischen Milieus ineinandergreifen: Die Realisierung eines eigenen Hauses, die Xaver und Ulla rasch nach Beendigung des Studiums in Angriff nehmen, erfolgt als 100Prozent-Finanzierung, die zwar als mutiger Sprung wahrgenommen wird, der aber in den historischen Bedingungen ihrer Generation kalkulierbar bleibt. Dass die Hausfinanzierung gelingt, liegt (für die Eltern erkennbar) darin begründet, dass damals die Zeiten stabil waren, ich hatte einen sicheren Job und vernünftig verdient und wir waren sehr diszipliniert natürlich auch und sparsam (XT: 33). Der Erwerb von Wohneigentum ohne die notwendigen Mittel ist also möglich, erfordert allerdings eine Zukunft, die hinsichtlich der Einkommenssituation nicht kontingent ist, und zudem eine spezifische Lebensführung: »Da gabs auch kein Problem insofern, dass wir eben gesagt haben, jetzt müssen wir den Gürtel enger schnallen. Aber es hat nicht irgendwo eine Rückwirkung gehabt auf den Alltag oder auf die Kinder, dass man jetzt sagen müsste, ich mein, das Studium stand noch nicht, dass man sagt, dann kannste nicht studieren, weil Haus und solche Sachen war nicht… Aber man hat eben gespart und wir haben Campingurlaube gemacht, solche Dinge […] Da waren wir auch immer, Gott sei Dank, da haben wir an einem Strick gezogen. […] Das waren Gemeinsamkeiten, ganz klar, das hätte ja nicht einer erzwingen können, also das wär Quatsch gewesen. Da ich damals aus Sparsamkeitsgründen, äh . Als wir das Haus gekauft hatten, hatten wir ein Auto, vorher in der Wohnung, und hab ich den Bus benutzt, damit wir nicht ein zweites Auto, weil das teurer gewesen wär, ne, und dann sagen, das stecken wir lieber ins Haus hineinhinein und dadurch hat die Bankgeschäfte, also die Tagesgeschäfte, Geld abheben und so oder Dings da, hat meine Frau alle gemacht, weil das Zeit, da hätte ich wieder vom Büro weg gemusst und solche Sachen wollte ich nicht machen dadurch, aber es war abgestimmt« (Xaver Töbelmann 34/01-34) In der Erzählung wird deutlich, dass Lebensplanung und Lebensführung stark durch den Hauskauf beeinflusst ist, der einerseits eine respektable (klein-)bürgerliche Wohnsituation ermöglicht, andererseits ein durch Sparsamkeit gekennzeichnetes Alltagsleben bedingt, dass auf lange Sicht durchgehalten werden muss. Ein stabiles Einkommen ist von ebenso großer Bedeutung wie das Vermeiden von Fehlinvestitionen. Vor diesem Hintergrund ist die hohe Relevanz zu deuten, die Xaver einem konstanten, krisensicheren Arbeitsverhältnis und einer guten Ausbildung beimisst: Der (Wohneigentum einschließende) Lebensstandard ist ein Familienprojekt, das an die Töchter weitergegeben wird. Zugleich ist er auch insofern ein Familienprojekt, als er von allen Familienmitgliedern gemeinsam erzeugt wird, indem alle ›an einem Strick‹ ziehen.
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Familiale Aufgabendifferenzierung Die gemeinsame Aufrechterhaltung des Lebensstils wird innerfamilial durch eine klare Aufgabenteilung realisiert, die zugleich die geschlechtsspezifische Rollenzuweisung der fordistisch geprägten gesellschaftlichen (Re-)Produktionsverhältnisse widerspiegelt: Vater Xaver sieht sich als Familienoberhaupt und […] Ernährer (XT: 20), dessen Hauptaufgabe in der Gewährleistung eines guten und gesicherten Einkommens besteht. Insofern ist Arbeitslosigkeit für ihn auch eine identitätsbezogene Gefahr – dass er trotz Fusionen und Rationalisierungsmaßnehmen nie arbeitslos war, ist nicht zuletzt ein Zeichen dafür, dass er auch in schwierigen Zeiten Gott sei Dank, gut seinen Mann stehen kann (XT: 10). Mutter Ullas Aufgabenspektrum ist vielfältiger. Sie ist für Kindererziehung und Haushalt zuständig (um beides kümmert sie sich allein: mein Mann hat nix gemacht. Auch im Garten nicht, ne. Das ist alles meins; UT: 22), regelt die finanziellen Belange der Familie (wie Steuererklärung und die Bilanzierung des Haushaltes) und arbeitet zudem – teilweise in vermindertem Umfang – als Krankengymnastin. Mit dem Zuverdienst der Mutter kann die Familie auch Urlaube und Hobbys finanzieren: Mein Vater ist halt der Hauptverdiener und meine Mutter verdient halt Geld dazu und dafür konnten wir uns halt so die ganzen schönen Extras leisten (AT: 22). Die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung ist insbesondere für Xaver Töbelmann ein Grundprinzip, das nicht in Frage gestellt und strikt eingehalten wird – zum Teil auch gegen die von der Familie ansonsten sehr geschätzte Pragmatik. So werden die Zuständigkeiten auch bei Aufgabenkollisionen nicht ausgesetzt: noch zur Studienzeit, da ist sie dann mit unserem Kleinkind irgendwie hingegangen aufs, wie heißt denn das, das Finanzamt und . Weil ich ja studiert habe hart […] und hat mit dem schreienden Kind da dem Finanzamt ein bisschen Aufregung gemacht (XT: 35). Und die von beiden ernsthaft erwogenen Auswanderungspläne werden nicht realisiert, weil nur Ulla Töbelmann Aussicht auf eine Festanstellung erhält: War mir klar, dass ich da drüben, äh, auf dem falschen Weg bin. Da muss meine Frau arbeiten, ich bin arbeitslos, mach dann Haushalt, nicht dass ich das . Ja, ne, ne, das war und wir hatten ja schon ein Kind, ich war ja als Student bereits verheiratet, ne. (XT: 20). Insbesondere die Kindererziehung wird selbstverständlich an die Rolle der Mutter gebunden und ist somit eine weibliche Tätigkeit1 . Zugleich gilt die Hausarbeit und Familienpflege als eine Aufgabe, die in der Wertigkeit hinter der Erwerbsarbeit rangiert und wenig geeignet ist, um auf ihr allein ein erfülltes Leben aufzubauen. Eine Doppelbelastung von Frauen ergibt sich aus dieser Perspektive zwangsläufig. Diese Einstellung wird auch von Ulla Töbelmann geteilt: Dass ihre Töchter trotz Familiengründung ihre Berufstätigkeit nicht aufgeben, findet sie sehr gut, weil das ist einfach auch für sie eine Bestätigung, denn ich mein’, ich hab das ja gesehen auch, denn man wird selber auch ganz schnell unzufrieden, wenn man . Also ich wär’ auch nicht ausgelastet nur zu sagen, ach, ich mach Haus und Garten und Kochen und . Oder, und weiß ich, sich dann von Kaffeeklatsch zu Kaffeeklatsch, äh, da zu hangeln (UT: 11). Insofern ist die Erwerbsarbeit der Mutter mehr als ein reiner Zuverdienst zur Konsolidierung der Haushaltskasse – sie ist ein identitätsstiftendes Moment der
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Rückblickend reflektiert nicht nur Ulla, sondern auch Xaver die strikt geschlechtsspezifische Aufgabenteilung als Ausdruck ihrer Zeit: »Natürlich gabs eine Zeitlang, als sie kleiner waren, dann hat man ihnen vorgelesen und solche Sachen noch […]. Das ist heute sicherlich intensiver. Wenn ich also meine Schwiegersöhne seh, naja, andere Zeiten« (XT: 27).
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Lebensführung, wobei dies weniger von der Möglichkeit einer Beschäftigung mit Themen von persönlichem Interesse, als vielmehr von der (achtbaren) Tatsache herrührt, ein arbeitendes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Zwangsläufigkeit einer geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung, aber auch die Wertschätzung der Erwerbsarbeit, als eigentliche Quelle der Identitätsstiftung und als Zentrum der Lebensführung, wird durch die Eltern an die Töchter weitervermittelt: »weil ich gesagt hab, okay, du musst irgendwie reduzieren, ähm . aufgrund dessen, dass du eben jetzt Familie hast, irgendwie einer muss ja da so ein bisschen auch um diese Dinge kümmern. Ich hab unterstützt, dass sie auch irgendwas tut, also dass sie nicht als Hausfrau jetzt, sagen wir mal, verkümmern würde, wobei das ja negativ ist, denn auch eine Hausfrau hat viel zu tun, ne, also keine Frage, Kinder erziehen . Aber wenn du da etwas tun willst nebenbei, dann ist das sicherlich eine gute Idee, denn in einem Großbetrieb wirst du nicht stundenweise so arbeiten und die Flexibilität, die sie eben hat . Sie sitzt ja jetzt auch abends sehr spät noch immer, wenn die Kinder im Bett sind und macht etwas, Internetrecherche und, und, und, ja. Und das kann man eigentlich nur, wenn man so will, selbstständig machen, mein ich, und ich hab gesagt, okay, du hast dich für die Familie entschieden und wenn du den Mumm hast, zusätzlich noch etwas zu tun für deine, ja, für deine, fürs Portemonnaie, also auch für, für, weil du meinst, du möchtest eben einfach nicht nur als Hausfrau enden sozusagen, dann kannst du das tun. Da war, für uns, haben wir positiv gesehen, wohl gemerkt, ne. Wobei es eine Mehrfachbelastung ist, ist ja klar. Hausfrau selbst schon nicht zu unterschätzen.« (Xaver Töbelmann 04/31-46) In der Art und Weise, wie Xaver hier bestimmte Konsequenzen der Lebensführung aus den seinem Empfinden nach obligatorischen Ordnungsstrukturen des Lebens herleitet, erinnert bereits stark an die Logik eines Lebensentwurfs des Typus ›Pfad‹: Wenn Anna eine Familie gründet, dann ist sie als Frau auch verpflichtet, sich um diese zu kümmern; wenn sie nebenher arbeiten möchte, dann wird dies in einer großen Organisation nicht möglich sein, weil diese nicht die nötige Flexibilität erlaubt, die ein arbeitende Mutter braucht; wenn sie als Selbstständige dennoch zusätzlich Geld verdienen und etwas für ihr Selbstwertgefühl tun möchte, dann muss sie mit Mehrfachbelastung rechnen. Wie noch zu zeigen sein wird, internalisiert Tochter Anna diese für den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ charakteristische Form des standardisierten Erfassens und kausalen Erschließens von Umweltbedingungen und persönlicher Situation. Die Mehrfachbelastung der Existenzgründung geht in den Augen der Eltern insbesondere zulasten von Annas Freizeit. Diese Wahrnehmung rekurriert auf eine weitere wesentliche Orientierung der Familie, die eng verknüpft ist mit der klaren Aufgabenteilung: Die Pflichten der Familienmitglieder sind an bestimmte Zeiten gekoppelt und weitestgehend auf diese begrenzt. Dies gilt einerseits für Vater Xaver, der sich nach der Arbeit nicht an der Kindererziehung beteiligt und auch am Wochenende keinen besonderen Wert auf eine gemeinsame Freizeitgestaltung legt: Als unsere Kinder klein waren, da haben ja die Männer auch abends eigentlich nicht viel gemacht, da war wenn dann, dass sie am Wochenende mal, dass man einen Familienspaziergang oder sowas, das war ja, weil die Männer einfach, ja, das war halt anders, ne (UT: 08). Dies gilt andererseits aber auch für Mutter Ulla, die abends und am Wochenende ebenfalls Freizeit – im Sinne einer kinderfreien Zeit – realisiert: Wenn’s Abend ist, wollten wir auch frei haben. Das heißt, dass wir für uns dann waren und haben dann uns mit Freunden getroffen, ja, bei uns oder auch da weg, also dann die
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Kinder dann auch, die waren dann allein zu Hause, aber jetzt so ich mit der Familie, also jetzt speziell auf die Kinder, gemeinsame, wir haben mal die eine oder andere Wanderung gemacht mit dem Freundeskreis, wo zwei, drei Familien losgingen […] und die Kinder sind mitgegangen (XT: 26). Klare Zeitstrukturen spielen in der Familie eine große Rolle und das bedeutet auch: Privatzeit für die Eltern. Das heißt zudem, dass sich das Privatleben der einzelnen Familienmitglieder nicht als selbstverständliche Familienzeit darstellt und die Kinder nicht den Fluchtpunkt in der Wahrnehmung freizeitlicher Aktivitäten bilden – sie sind teilweise einfach mit dabei. Ulla drückt diese segregierende Orientierung der Familie folgendermaßen aus: Ja, gut, das ist halt, es war halt auch bei uns immer so, dass jeder so sein Ding gemacht hat dann und durch-, versucht hat, durchzuziehen im Sinne der Familie dann irgendwo (UT: 03). Die Familie bildet eine Einheit autonomer Individuen, deren Stärke darin liegt, dass jeder einen eigenständigen Beitrag zur Erreichung der gemeinsamen Ziele leisten kann. Diese Strategie birgt nicht zuletzt auch eine absichernde Dimension, wie Xaver an der Selbstständigkeit seiner Tochter verdeutlicht: Ängste […] haben wir dadurch überhaupt nicht gehabt, weil sie ja im Prinzip, ich sag mal, abgesichert war, weil ihr Mann ja einen Job hat, kann man sagen. Also du versuchst da irgendwas und da kannst du irgendwas versuchen und es darf halt kein Risiko entstehen, dass es euch finanziell beide irgendwo runterreißt. Du musst das abgekapselt machen (XT: 05).
Organisiertheit und Effizienz Diese familiale Alltagspraxis verlangt auch von den Kindern, frühzeitig ihren Beitrag zum reibungslosen Ablauf des Familienlebens zu leisten. Dies bedeutet einerseits, in der Schule angemessene Leistungen zu erbringen, andererseits Freizeitaktivitäten eigenständig zu organisieren. Besonders deutlich zeigt sich Letzteres am Thema Mobilität: Die Familie lebt eher ländlich, sodass für die Kinder größere Entfernungen zu überwinden sind, wenn sie sich mit Freunden treffen oder einen Verein besuchen möchten. Solche Unternehmungen werden von den Eltern zwar finanziell unterstützt, für die Anfahrten müssen die Töchter jedoch auf das Fahrrad zurückgreifen: Das ging trotzdem nicht so weit, dass meine Mutter uns abgeholt hätte oder gefahren hätte, also sie war nicht so der Fahrdienst, die Fahrdienstmama so. Das mussten wir halt dann schon, wenn wir da hin wollten, mussten wir halt selber zusehen, wie wir dahin kommen (AT: 18). Und auch Romina erinnert sich: Sie hat einfach ganz klar gesagt, ich kann, kann nicht hier Chauffeur sein irgendwie, also wir können Termine zusammen organisieren, haben wir beim Tennis dann auch, wo man zusammen gefahren ist oder sowas, aber es war eigentlich dann schon auch, ähm, klar so, okay, wir machen das und dann, dann wird mit dem Fahrrad hingefahren, Schluss, aus, irgendwie (RT: 16). Zeit ist in der Familie eine wesentliche Ressource, die mit Bedacht eingesetzt wird. Mein Papa, der war eigentlich immer beschäftigt. Also das ist auf jeden Fall, also so zum Thema Zeit und Zeit ist ein wertvolles Gut und, äh, das kommt von meinem Papa. Also definitiv. Da ist der schon sehr, ja, wie soll ich sagen, bewusst mit umgegangen (AT: 17). Zeit – hiervon ist insbesondere Vater Xaver überzeugt – muss genutzt und sinnvoll eingeteilt werden, man muss schaffen, muss machen, war natürlich schon auch, waren auch die Dinge sehr ausgewählt (RT: 21). Tätigkeiten, die nicht in den Bereich der jeweiligen personalen Zuständigkeit fallen, die ineffizient oder nicht sinnvoll erscheinen, meidet Xaver. Dieser Praxis steht
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insbesondere Tochter Romina kritisch gegenüber: Wenn jetzt halt hier grad mal Kirchweih irgendwie ist und Freunde von uns, wir treffen uns dann, dann gehen wir halt hin und dann trinken wir halt irgendwie ein Bierchen und die Kinder spielen […]. Ja, das ist jetzt nicht, huh, dieses, ich weiß nicht, moralisch spirituelle Erlebnis irgendwie, es ist halt einfach Kirchweih, Punkt. Und solche Sachen gingen halt irgendwie gar nicht (RT: 21). Allerdings zeigt sich in den Erzählungen aller Familienmitglieder der effiziente Umgang mit Zeit als eine weitreichende und dominante Struktur der familialen Alltagspraxis und so fällt auch Romina eine Distanzierung schwer: sich Zeit nehmen, Zeit lassen, genießen, in Ruhe und das fällt mir nicht immer so ganz einfach. Also das ist ein eher schwieriges Thema (RT: 18). Die familiale Zeitpraxis korrespondiert mit dem hohen Grad an Strukturiertheit bzw. Segregiertheit der verschiedenen Arbeits- und Lebensbereiche bzw. Zuständigkeiten. Die strikte Trennung von Arbeit, Haushalt und Freizeit befördert eine Logik, nach der eine Zeitersparnis in der einen Sphäre ein Guthaben in der anderen bedeutet. Die Eltern achten sehr genau darauf, Zeit nicht zu verschwenden, was auch dadurch ermöglicht wird, dass den Kindern frühzeitig ein eigenes Leben zugesprochen wird, in das sich die Eltern nicht einmischen möchten: Mein Mann, hat erzählt, der hat im Verein Fußball gespielt, und die Eltern, die sind jedes Wochenende mit zu jedem Spiel gefahren und standen da am Rand, so waren meine Eltern nicht (AT: 18). Diesen rationalen Umgang mit Zeitressourcen markiert Romina als familiale Besonderheit: »Weil für mich eigentlich so, also von Zuhause sehr klar so, also meine Mutter so auf der organisatorischen Ebene einfach sinnigerweise Haushaltsarbeiten auf eine gewisse Weise zu komprimieren, ähm . Was sicherlich Sinn macht, weil man dann mehr Zeit hat, irgendwie andere, schöne Dinge zu tun sozusagen oder die übrigbleibende Zeit einfach mit dem anzufüllen, was, was einfach jetzt nochmal mehr Spaß macht oder so. Mein Vater eigentlich eher so… Also das Wort, äh, ich kenn aus keiner anderen Familie so, oder von anderen Menschen, die mir nahestehen, so ›Zeit nutzen‹. Das ist so ein Begriff, den mein Vater sehr oft verwendet hat. Also das war für mich normal.« (Romina Töbelmann 18/33-41) Um private Zeiträume zu generieren, unterzieht die mit verschiedenen Aufgaben und Zuständigkeiten betraute Ulla Töbelmann die gesamte familiale Alltagspraxis einer konsequenten und zugleich flexiblen Organisation. »Ich war immer gut im Organisieren und ich hab immer sehr, ich bin Frühaufsteher, ich hab vieles früh gemacht, das mach ich heute auch noch, dass ich meinen Haushalt, weiß ich, um, von sechs bis acht gemacht und dann auf den Tennisplatz gehe oder […] den Garten mache, zu Zeiten, wo es zack-zack, ja. Also das hab ich schon immer so gemacht, nicht, und das, das ist mir auch nicht schwer gefallen.« (Ulla Töbelmann 22/20-25) In der Schilderung drückt sich ein Koordinationsvermögen aus, dass auf der gekonnten Abstimmung von Aufgabe und Zeit basiert: Ulla ist bemüht, für jede Tätigkeit die geeignete Zeit zu finden und insgesamt die verschiedenen Aufgabenbereiche so aufeinander abzustimmen, dass sie möglichst effizient ineinandergreifen. Dabei plant sie auch Zeit für ihr persönliches Freizeitvergnügen ein. Auch Hobbys werden also nicht auf einen unspezifischen Zeitraum jenseits der Arbeit verwiesen, sondern bewusst in die Tagesplanung einbezogen.
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Die klare Rollendifferenzierung innerhalb der Familie bringt mit sich, dass Xaver verantwortlich ist für eine möglichst komfortable ökonomische Basis des Familienlebens, während Ulla mit allen reproduktiven Aufgaben betraut ist. Während Xaver daher auf das Berufsleben und eine gelingende Karriere fokussiert ist, der Arbeitsalltag in seinem Relevanzsystem also einen sehr hohen Stellenwert einnimmt, ist Ullas Berufstätigkeit von untergeordnetem Interesse, da sie – im Rahmen der familialen Orientierung – lediglich dem Zuverdienst und einer befriedigenden Selbstwahrnehmung dient. Ullas Bestrebungen richten sich daher in erster Linie auf eine effiziente Koordination ihrer unterschiedlichen Zuständigkeiten. Dies bedeutet auch, dass sie die Struktur der einzelnen Aufgabenbereiche entweder dem reibungslosen Gesamtablauf ihrer Alltagspraxis anpasst oder sie inhaltlich sogar in diesem Sinne auswählt. So passt sie etwa ihre berufliche Praxis den jeweiligen Lebensumständen an, indem sie in der frühen Familienphase eine Anstellung wählt, die gut mit der Familiensituation vereinbar ist (hab versucht, meinen Beruf so zum, das so zu regeln, dass ich auch, dass die Kinder nicht, weiß ich, ewig als Schlüsselkinder rumlaufen; UT: 01). Als die Kinder nicht mehr so viel Aufmerksamkeit benötigen und ihre berufliche Tätigkeit beginnt, ihr körperlich zu schaffen zu machen, wechselt sie den Arbeitgeber. Sind die Töchter krank oder aus anderen Gründen nicht in der Schule, greift sie auf die Unterstützung anderer Mütter zurück (wenn Not am Mann ist, oder auch überhaupt, dass man mal, auch mal, dass, weil man selber ja mal einen freien Tag haben wollte oder mal eine, ein paar freie Stunden haben wollte, dass man gesagt hat, gut, ich nehm deine Kinder an einem Tag und du nimmst meine Kinder an einem Tag; UT 09) oder sie nimmt die Kinder mit zur Arbeit und bindet sie dort mit ein: Dann hab ich sie mit einbezogen beim Turnen so mit den Kindern oder so, ne. Also da waren die schon immer mal mit von der Partie oder wenn da so Schulfeste waren oder so, ne. Hab ich sie halt mitgenommen, ne. Denn man hat ja dann doch immer wieder so Aufgaben übertragen gekriegt (UT: 21). Der reibungslose Ablauf, der trotz hohem Arbeitspensum auch die Integration persönlicher Freizeitaktivitäten, wie z.B. des Tennisspielens ermöglicht, ist – wie Ulla Töbelmann es ausdrückt – immer eine Frage der Organisation (UT: 09). Die hohe Effizienz, die sich in Ullas Alltagsgestaltung zeigt, bedingt auch eine pragmatische und auf frühe Eigenständigkeit bauende Form der Erziehung. Die Töchter werden zwar, wenn sich dies ergibt, in Ullas tägliche Aufgaben einbezogen, sie erhalten jedoch keine systematische Funktion in der Haushaltsführung und werden auch nicht aus erzieherischen Erwägungen in die Hausarbeit integriert. Die Vermittlung bzw. Aneignung von Alltagskompetenzen geschieht daher beiläufig und immer im Einklang mit einer effizienten Zeitnutzung. So berichtet Ulla, dass sie auch heute ihre Enkelkinder auf pragmatische Weise in die Hausarbeit einbindet und diese ganz selbstverständlich die nötigen Handgriffe lernen: ich zeig der, der einen Enkeltochter, Paula, guck mal, das Unkraut, das müssen wir jetzt alles raussuchen. Dann ist sie halt eine Stunde beschäftigt Unkraut zupfen (UT: 23). Mit der starken Orientierung auf getrennte Zuständigkeiten und der eher zufälligen Einbindung der Kinder – immer dann, wenn dies die Arbeitsorganisation nicht stört – ergibt sich, wie die Töchter verdeutlichen, eine innerfamiliale Segregation von Wissensbeständen. Sowohl Haushaltsführung als auch der alltägliche Umgang mit Geld sind Themen, die sich Anna und Romina erst spät und weitestgehend selbstständig erschließen:
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»hab ich mit meiner Mutter auch letztens noch drüber gesprochen, nee, die hat das alles so allein gemanagt. Und man hat sie auch nicht klagen hören, also das war jetzt auch nicht so. Ich hab zu ihr nämlich letztens noch gesagt, Mensch, wenn du mal öfter gesagt hättest, wieviel Arbeit so ein Haus ist, hätt’ ich das wenigstens gewusst. Nee, die war, die ist einfach echt gut organisiert und schmeißt das irgendwie, und das fiel nicht so auf, also wir mussten . Ich hab eine Bekannte gehabt, die musste immer einkaufen oder ab-, eine musste abwaschen . Wir mussten das, ehrlich gesagt, nicht.« (Anna Töbelmann 20/13-20) Dass Anna und Romina weder in die Alltagspflichten der Eltern eingebunden sind noch diese überhaupt wahrnehmen, hängt mit der hohen Organisiertheit und Effizienz zusammen, mit der Ulla Haushalt und Finanzen managet. Ein rasches Abarbeiten der täglichen Aufgaben gelingt ihr, indem sie die Arbeit allein und zu Zeiten erledigt, zu denen sie weitestgehend ungestört ist. Die Distanz der Kinder rührt aber auch von einer kommunikativen Abgrenzung der elterlichen Aufgaben her: Ulla und Xaver sprechen wenig über ihren Arbeitsalltag. Auch dies hängt offenbar mit der sowohl zeitlich als auch personal bestimmten Abgrenzung verschiedener praktischer Sphären zusammen – jede Aufgabe hat ihre eigene Zeit und Zuständigkeit. Gemeinsame Mahlzeiten, die in vielen der interviewten Familien genutzt werden, um von den Tagesgeschehnissen aller Familienmitglieder zu berichten, sind Familienzeit und werden daher frei gehalten von beruflichen oder hauswirtschaftlichen Belangen: Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Papa mal zuhause am Abendbrottisch irgendwas vom Tag erzählt hätte groß. Also was der gemacht hat richtig, das hab ich eigentlich erst viel später erfahren, als ich dann mal nachgefragt hab so, was bist du eigentlich, oder was machst du eigentlich (AT: 21). Die ausbleibende Kommunikation weist wohlgemerkt nicht den Charakter einer bewussten Vorenthaltung oder Verheimlichung auf, sondern ergibt sich ganz selbstverständlich im Modus der familialen Alltagspraxis. Etwaige Wissenslücken, die durch die strikte Separierung unterschiedlicher Praxissphären entstehen, fallen den Kindern erst spät oder rückblickend auf: »Also haben meine Schwester und ich auch öfter mal so gesagt, meine Eltern haben über so, so Sachen sehr wenig mit uns gesprochen. Also wir wussten nicht… Wir wussten eigentlich… Die haben da alles, was heißt alles, aber schon viel, glaub ich, auch von uns ferngehalten. Also so mit dem Umzug die ganzen Überlegungen oder das Haus in X. verkaufen, das Neue in Y. kaufen . Ich mein, ich war damals 16. Also ich bin da nicht groß mit einbezogen worden. Wir haben auch keine Vorstellung davon gehabt, was, was, also so für bestimmte Preise, wenn man einkaufen geht oder Haushaltsgeld bekommt oder so, das, das war nicht Thema. Sondern, das hat meine Mama gemacht.« (Anna Töbelmann 27/22-30) Diese partielle Unwissenheit rührt nicht etwa von mangelndem Erziehungsinteresse her, sondern ist ein Effekt der mütterlichen Erziehungsstrategie, die Ulla reflexiv zugänglich ist und in hohem Maße mit der generellen Lebensführung der Eltern korrespondiert: Und ich muss auch sagen, ich war eigentlich immer eine Mutter, die sich da nicht, auch nicht eingemischt hat, ich meine, ich hab schon meine Erziehung und hab gesagt, so, bis hierhin und nicht weiter oder gewisse Dinge, da war ich schon, hab ich eigentlich sehr konsequent die Linie verfolgt (UT: 18). In diesem Erziehungsstil spiegelt sich die grundsätzliche Weltsicht der Eltern wider: Da sich das Alltagsleben eindeutig in verschiedene Bereiche un-
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terteilen lässt, die es jeweils zufriedenstellend, aber letztendlich eigenverantwortlich zu bearbeiten gilt, besteht das Hauptziel der Erziehung darin, Grenzen aufzuzeigen und innerhalb dieser Grenzen eine größtmögliche Selbstständigkeit zu befördern. Dies dient nicht zuletzt auch dem Lernziel, eigene Zuständigkeiten sowie die Reichweite der persönlichen Expertise zu erkennen und anzuerkennen. Die Wahrung der Zuständigkeiten, auch im Sinne der Achtung individueller Wissensbestände und Herangehensweisen ist den Eltern auch in ihrer eigenen Alltagspraxis wichtig. Sie empfinden die ungefragte Einmischung in Praxisbereiche, für die sie nicht verantwortlich zeichnen, als übergriffig: »Wir haben also guten Kontakt und engen Kontakt, aber das Berufliche jetzt auch noch immer so, das muss sie schon selber machen, zumal ICH ihr ja keinen konkreten Rat geben kann in dem Sinne, ich kann nur von außen sprechen, weil ich nicht der Fachmann bin. Und sie dann vielleicht mit meinem ingenieurmäßigen oder mit meinem Erfahrungshintergrund da zu belabern oder ihr, pff, ich hab die Erfahrung nicht, das wär dann also nicht so sinnvoll, mein ich. Wenn sie Fragen hat, jeder Zeit, dann ist klar.« (Xaver Töbelmann 06/02-08) Die auf diese Weise vermittelte Eigenständigkeit wird von Tochter Anna dann auch praktisch hervorgebracht. Die Schule meistert sie zielstrebig, leistungsstark und vor allem weitestgehend autonom: Die war super und die hat das auch abgelehnt und gesagt, Papi, was ich nicht alleine schaffe, wollte nicht, also die hat da richtig gemauert (XT: 26). Auf der anderen Seite sind die Eltern auch nur in begrenztem Maße bereit, die Kinder zu bestimmten Leistungen zu drängen. Sie äußern sich kritisch gegenüber jenem Elternschlag, der seine Kinder zwingt, das Gymnasium zu besuchen und sie auf diese Weise in der Persönlichkeitsentfaltung einschränkt. So nehmen sie ihre Tochter Romina, die im Unterricht größere Schwierigkeiten hat, nach kurzer Zeit und entgegen der Empfehlungen befreundeter Eltern und Lehrer*innen vom Gymnasium, um die Lernumgebung den Bedürfnissen der Tochter anzupassen: Also das, ich glaube, das ist nicht gut, wenn man Kinder oder überhaupt Menschen überfordert. Das ist ein generelles Problem. Und da haben wir gesagt, da ist uns dann, ja, der gestandene Mensch lieber und sie wird das finden, […] und das ist ja auch dann so gelaufen (XT: 14). Hierin zeigt sich die ausgeprägte Konsequenz, aber auch Pragmatik, mit der Ulla und Xaver die Umstände der jeweiligen Situation – genauer: ihrer Wahrnehmung der Situation – angleichen. Zugleich deutet sich in der Strategie auch bereits an, dass für die Handlungsstrategien der Familie Töbelmann praktische Erfahrung eine wesentliche Rolle spielt.
Sicheres Vorankommen Auch die Orientierung auf Erfahrung ist ein wesentlicher Bestandteil der Erziehungsstrategie. Im Rahmen der aufgezeigten Grenzen sollen die Kinder eigene Erfahrungen sammeln, die Eltern folgen also der Grundidee eines ›learning by doing‹. So wachsen die Kinder in einer Umwelt auf, die zwar mit strikten Leitlinien aber nur wenigen Handlungsregeln und -empfehlungen auskommt und dazu anhält, aus Fehlern zu lernen: Das Taschengeld konnten sie ausgeben, wie sie das, wie sie das wollten. Wenn sie das so auf den Kopf gehauen haben, war’s halt weg (UT: 31). Größtmögliche Lerneffekte bietet dabei die eigenständige Lebensführung, die Ulla dann auch aus einem erzieherischen Blickwinkel rekonstruiert:
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»Aber wie sie dann in Z. [zweiter Studienort] war, da hat sie oft genug gesagt, sagt sie, ›Mutti, äh, ich hab nichts da zum Essen heute‹. Dann hab ich gesagt, ›Mensch da musste sie dann halt mal etwas umdenken und vorzeitiger‹ – nicht? Oder sie hatte vergessen, was weiß ich, bei der Berufstätigkeit, noch am Freitag ihren Hosenanzug, den sie am Montagfrüh brauchte, aus der Reinigung zu holen, ne. Das sind halt dann Sachen, das – Aber das passiert dann auch nur einmal, ne. Denke ich mal. […] Und so oft fährt man auch nicht gerne zum Bahnhof und geht einkaufen und bezahlt’s dann teuer, nicht. Wenn der Studentenscheck halt bemessen ist. Ich denke, da ist irgendwie automatisch dann eine Erziehung gegeben, ne?« (Ulla Töbelmann 23/29-41) Eine auf Lebenserfahrung setzende Erziehungsstrategie ermöglicht in den Augen der Eltern Töbelmann eine umfangreiche Charakterbildung. Im Zentrum steht dabei das eigenständige Erkunden und Erschließen unterschiedlicher Kontexte. Annas Wunsch, die Welt auf eigene Faust zu bereisen, sehen sie als positive und förderungswürdige Ambition: Noch vor ihrem 18. Geburtstag ist Anna gemeinsam mit einem Freund »in der Welt rumgetrampt, war in Nepal, war auch in Australien unten, also diese Dinge, die hat sie sich nicht nehmen lassen. Oder auch in Südamerika in den Bergen […]. Wir haben ihr, also von uns aus das soweit auch unterstützt, wo wir gesagt haben, okay, wir vertrauen dir, du hast deinen Willen, was du da uns erzählst, macht für uns auch einen Sinn, mach das, sei, pass auf, du musst sowieso mal ins Leben gehen. Und insofern haben wir vielleicht für die, ich sag mal, für die Selbstständigkeit im, im größeren Sinne eben, was die Charakterbildung, dass man sagt, die sät das Selbstvertrauen und ich pack was an und so, äh, einiges beitragen können.« (Xaver Töbelmann 02/12-24) Nach Ansicht der Eltern zeigt sich die von ihnen geförderte eigenständige und erfahrungsbasierte Form der Lebensführung bereits früh in Annas schulischer und studentischer Praxis. Nachdem sie die Schule ganz ruckzuck durchgezogen hat (UT), ist sie mit der Studienwahl erstmals mit einer bewussten Richtungsentscheidung hinsichtlich ihrer künftigen Laufbahn konfrontiert. Solche Entscheidungen – so erinnert sich der Vater – hat sie generell alle selbst gemacht, mit dem Studium, sie hat erst hier studiert bis zum Vorexamen, hat festgestellt, dass hier in Y. nicht das Ideale ist, da war dann eine Nicht-Besetzung des Lehrstuhls hier, dann hat sie gesagt, ja, eh ich dann weiß, wer daher kommt, ist er gut oder nicht gut, hat sie dann gesagt, ich würde gern nach Z. gehen (XT: 01). Hier zeigt sich auch die von den Eltern geschätzte erfahrungsbasierte und entschlossene Vorgehensweise: Dann hatte sie sich Y. angeguckt und hat sich Z. angeguckt, dann hat sie sich für Z. entschieden und hat dann da eben ihren Abschluss gemacht und hat das ziemlich zügig durchgezogen (UT: 11). Beide Eltern zeigen sich besonders beeindruckt von der Effizienz und Zielstrebigkeit, mit der Anna Schule und Studium absolviert. Sie sind zwar davon überzeugt, dass sie mit den Leistungen – und in der Folge auch mit den Zensuren – hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben ist, äußern hierüber jedoch keine Enttäuschung: »wenn sie, sagen wir mal, ein etwas strebsamerer und stillerer Typ gewesen wär, hätte sie mit mehr ich sag mal, mit mehr Fleiß oder Engagement sicherlich ein Einser-Zeugnis gemacht, ich sag’s mal jetzt so, sie hat ein gutes Zweier-Zeugnis. Aber das war ihr gar nicht wichtig und wir
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haben das auch voll respektiert, nur gesagt haben, also so einen Budenhocker, das ist uns gar nicht so lieb, denn ich hab ja auch die Erfahrung gemacht, Noten allein zählen nicht, wenn also so ein gesunder Menschenverstand da ist und sie packt die Noten, die ja sehr schnell vergessen sind, ist so, wissen wir alle, leider oder was heißt, ist halt so, ist uns das recht, dass wenn sie ein gutes Examen macht, aber ein gesunder Charaktertyp ist, der also auch noch Sport macht und Spaß hat.« (Xaver Töbelmann 07/14-23) Zwar ist Xaver Töbelmann bewusst, dass gute Noten ein wichtiges Mittel zu Realisierung einer beruflichen Karriere darstellen, er relativiert die Bedeutung jedoch, indem er die schulischen Leistungen dem gesunden Menschenverstand unterordnet, der – im Gegensatz zu Zensuren – einen nachhaltigen Vorteil verschafft. Damit wird die Orientierung an einem erfahrungsbasierten Handeln um die Relevanz einer bodenständigen, aktiven Persönlichkeit und um die Bedeutsamkeit praktischen Wissens erweitert. Hierdurch wertet Xaver nicht nur die Tatkraft von Praktiker*innen auf, sondern grenzt sich auch explizit gegen die Verkopftheit von Akademiker*innen ab: ich sag mal, ein gesunder, aufgeweckter Typ ist mir lieber als ein, äh, ja, ein schüchterner Akademiker (XT: 14). Dass diese ablehnende Haltung auch eine symbolische Dimension im Kampf um soziale Verortung aufweist, zeigt die Vehemenz, mit der er sich gegen dieses akademisch Hochnäsige verwahrt wie auch die eindeutige (und gegenüber dem interviewenden Nachwuchswissenschaftler etwas konfrontative) Selbstcharakterisierung als Anti-Akademiker. Es ist ihm also ein Bedürfnis, eine pragmatische, anpackende und selbstbewusste Herangehensweise gegenüber der schieren Gelehrtheit aufzuwerten und an seine Kinder weiterzuvermitteln: »Da hab ich einfach aus der eigenen Erfahrung eben gesehen, es ist wichtig, wenn man, ich sag mal, ein gewisses Know-How hat, Wissen, aber es kommt eher . Mindestens so wichtig ist es, dass man im Leben auch einen Willen hat und Selbstvertrauen und diese Persönlichkeit, das hab ich ja bei mir gesehen, als ich dann, wie gesagt, den Wechsel hatte und bin voll ins kalte Becken gesprungen, da hat mir dann, dass ich da oder da studiert hab, die Formel allein hat mir nichts genützt, da kamen plötzlich ganz andere Dinge auf mich zu, zusätzlich noch, von denen man vorher nichts gehört hat. Und so war eben ja auch unsere Erziehung, ne. Ja.« (Xaver Töbelmann 14/47-15/07) Anna Töbelmann scheint diese Maxime verinnerlicht zu haben und meisterlich auf ihre schulische Laufbahn anzuwenden, wie der Vater mit einigem Stolz berichtet. Insbesondere Zielstrebigkeit und Effizienz, aber auch ein feines Gespür für die Umstände, in denen sie sich befindet, sowie ein ausgezeichnetes Timing (XT: 6) dokumentieren sich in der Rekonstruktion ihrer Lernstrategie: »Ja, sie war in der Schule eigentlich immer gut, wobei… Sie hätte, sagen wir mal, notenmäßig noch besser sein können, aber sie hat da einen sehr gesunden Menschenverstand und eine Einstellung zum Leben, sie sagt, ich muss auch spielen, ich muss auch das machen, sodass sie mit relativ geringem Aufwand so im, sagen wir mal, im ersten Drittel mitlief oder so gut in der Mitte war. Und das haben wir auch so belassen, weil wir eigentlich erkannt haben, dass sie eine Menge drauf hat, sowohl charakterlich als auch so IQ, wenn man das nun sagt, denn wenn’s wieder soweit war, dann hat sie sich mal ein bisschen hingesetzt, wenn mal eine Arbeit richtig
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daneben ging, das war sehr, sehr selten . […] und sie lief dann einfach immer so mit.« (Xaver Töbelmann 06/20-37) Anna Töbelmann geht ihre schulische Laufbahn pragmatisch und überaus ökonomisch an. Sie betreibt nicht mehr Aufwand, als zur Erreichung ihrer Ziele notwendig ist und hat sehr genau im Blick, wann sie mehr Zeit und Ehrgeiz investieren muss: und da kam sie nach Hause, sagt sie, ja, die nächste Klasse, […] dass man das Pensum gut schafft und da muss ich jetzt ein bisschen mehr tun. Und das hat sie auch getan und hat dann diese Klippe, also sehr gut wieder übersprungen, ja. Und auch hier zum Abitur hin, hat man dann gemerkt, dass sie zuletzt, äh, wesentlich mehr getan hat als vorher und sie hatte da immer ein unheimliches Timing, ich hab mich oft gewundert (XT: 06). Voraussetzung für eine gelingende Umsetzung dieser Strategie sind ein klares Zielbewusstsein und eine Zielstrebigkeit – sowohl in abstrakter als auch in konkreter Hinsicht. Sie legt ein Gespür für jene Phasen an den Tag, in denen sie sich mehr anstrengen muss, wobei sie offenbar bereits frühzeitig die Veränderungen in den Leistungsanforderungen erfasst, denn ihre Noten bleiben weitestgehend stabil. Die schulische Laufbahn stellt sich dabei für den Vater – und in seiner Wahrnehmung auch für die Tochter – als Parcours mit verschiedenen erfolgskritischen Klippen dar, die es zu meistern gilt. Die jeweiligen Etappenziele hat sie dabei klar vor Augen und arbeitet die auf dem Weg anfallenden Aufgaben konsequent, diszipliniert und eigenständig ab, wie sich Mutter Ulla erinnert: Sie hat immer das, was sie machen wollte, und die Ziele, die sie sich gesteckt hat, eigentlich ziemlich konsequent durchgezogen […]. An das kann ich mich erinnern, in der Schulzeit, in den Klassen war das sehr, ich mach meine Schulaufgaben gleich, dann hab ich’s hinter mir, dann kann ich meinen Sport machen oder meine Sachen machen. Das Prinzip der raschen Aufgabenbearbeitung bzw. Problemlösung wendet sie auch in anderen Lebensbereichen an: Oder sie hatte sich in Kopf gesetzt, gewisse Dinge mit, äh, im Rahmen, wenn Schüler sich gestritten hatten, das irgendwie glatt zu bügeln, und dann hat sie daran gearbeitet und solche Dinge da gemacht, nicht, also ich denke, das, also da hat, war sie schon immer auch, äh, also sehr zielbewusst, ne. […] Und das, das kam eigentlich auch im Wesentlichen von ihr (UT: 03).
Karrierepfade und Pfadabhängigkeiten Bei Anna Töbelmann zeigt sich also bereits früh eine Ausrichtung auf das persönliche und laufbahnbezogene Vorankommen, das sie pragmatisch, aber auch äußerst planvoll realisiert. Dies entspricht in hohem Maße der Orientierung des Vaters. So erinnert sich Romina, dass dieser immer sehr an Weiterbildungen interessiert war, um auf diesem Wege seine Karriere voranzutreiben: »Das war ihm einfach immer so ein Bedürfnis, also er hat es schon auch hoch gehalten das zu machen und ich denk, insofern war schon das, so das Thema Arbeit oder, also so, für mich so der moralisch übergeordnete Begriff so, es ist so wichtig, was man macht, also die Entscheidung muss früh fallen, weil das ist so wichtig und so, weil ich denk, dass er da nicht immer so unbedingt, ähm, 100 Prozent einfach zufrieden war, trotzdem das gemacht hat, also es war jetzt nie irgendwie die Frage, pff, ich hab jetzt keine Lust oder ich drück mich jetzt irgendwie darum, sondern so den richtigen Platz da irgendwie zu finden, sag ich jetzt mal so.« (Romina Töbelmann 13/02-09)
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Annas Zielstrebigkeit, ihr Eigensinn und starker Wille sind also ganz im Sinne des Vaters, der diese Charaktereigenschaften für wesentliche Faktoren einer gelingenden Karriere identifiziert. Dass eine Weiterentwicklung der beruflichen Laufbahn zentraler Fluchtpunkt des Lernens und Arbeitens ist und einen Wert an sich darstellt, zeigt sich auch in der Wertschätzung, die Xaver der vorbildlichen Organisationskarriere von Tochter Anna entgegenbringt: »Sie hat damals, als sie Festangestellte war, da ist sie recht gut befördert worden. Also da hat sie ihre Erfolge, die haben, sie hatte auch einen vernünftigen Vorgesetzten halt gehabt, da ist das gut gelaufen und sie ist, aus, aus, außerterminlich auch, ich sag mal, befördert worden, hatte dann, war dann noch irgendwie relativ schnell Assistentin beim Chef und hat also auch auf der finanziellen Seite, das hat sie uns natürlich strahlend auch immer berichtet, klar, also… Aber ich glaube, es war für sie immer sehr wichtig erstmal, dass sie anerkannt wurde und dass man sah ihre Leistung. Dass das Geld dann natürlich auch noch, ne, ist klar, aber so würd ich bei ihr das in erster Linie sehen.« (Xaver Töbelmann 37/21-33) Beförderungen und Gehaltserhöhungen werden als Zeichen der Anerkennung für gute Leistungen verstanden. Übertragen auf die gesamte Karriere lässt sich also der berufliche Aufstieg als Merkmal einer Erhöhung des sozialen Status interpretieren – insbesondere unter den Vorzeichen einer meritokratischen Gesellschaftsordnung: Eine gehobene berufliche Position zeichnet nach dieser Logik die Positionsinhaber*innen als Leistungsträger*innen aus und exponiert sie im sozialen Gefüge. Vor diesem Hintergrund sind die laufbahnbezogenen Erfahrungen des Vaters verstörend. Xaver – so erinnert sich seine Tochter – gewinnt den Eindruck, dass er in dem Großunternehmen, in dem er seit 15 Jahren beschäftigt ist, nicht angemessen befördert wird: Persönliche Unzufriedenheiten jetzt so einfach mit seinem Arbeitsfeld, mit den Möglichkeiten, einfach wo er sagte so, ich hab studiert und ich möcht eigentlich mehr machen, möcht was anderes machen (RT: 11). Daher wagt er einen Karriereaufstieg per Unternehmenswechsel und gerät an eine wirtschaftlich desolate Firma: also das Vorstellungsgespräch, war alles noch heil oder Sonnenschein, ein halbes Jahr später, als ich hinkam, war diese Firma am abkratzen, das ist also ein Sprung ins, nicht nur ins kalte Wasser gewesen, sondern ich bin in ein Becken gesprungen, wo überhaupt kein Wasser drin war (XT 09). Im nächsten Unternehmen, zu dem er nach kurzer Frist notgedrungen wechseln muss, wiederholt sich das Szenario. Retrospektiv kann Xaver Umweltbedingungen ausmachen, welche die zwischenzeitlich prekäre Laufbahn bedingen: eine Marktlage, die von einer großen Anzahl an Fusionen gekennzeichnet ist, die Wirtschaftskrisen der 1990er Jahre und die hiermit zusammenhängende Rationalisierungswelle, die auch vor der grundsoliden Ingenieursbranche nicht Halt macht. Möglicherweise tragen diese Erfahrungen dazu bei, dass Anna Töbelmann Karrierestrategien hervorbringt, die maßgeblich auf das prospektive Bewerten von Laufbahnoptionen und das vorsichtige Erproben der jeweiligen Settings setzt. Angesichts der hohen Orientiertheit auf Effizienz und Zielstrebigkeit hinsichtlich der Entwicklung einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn, ist es nicht verwunderlich, dass die Familie berufliche und bildungsbiografische Kontinuität schätzt. Für Xaver ist beispielsweise das Fachgebiet, in dem sich seine Tochter selbstständig macht, insofern konsequent, als es eigentlich eine Fortsetzung ist, was sie vorher gemacht hat. Sie hat ja nach dem Studium . Ja, oder während des Studiums hat sie sich ja, äh, ein bisschen spezialisiert, in dem
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Rahmen (XT: 03) Auch für Ulla Töbelmann ist eine Kontinuierung des beruflichen Werdegangs selbstverständlich: man hat ja nicht studiert und nicht eine Ausbildung gemacht, wenn man es dann nicht, auch nicht anwenden will, ne? (UT: 01). Ulla rekonstruiert die berufliche und bildungsbezogene Laufbahn als eine Investition in die Zukunft, die sich auszahlen sollte. Dies entspricht der ökonomischen Haltung der Familie in Bildung und Arbeit – in beiden Fällen wird der Aufwand dem angestrebten Nutzen angepasst. Der Ertrag der biografischen Investitionen kann dabei sowohl die Form eines beruflichen Fortschritts als auch direkter finanzieller Entlohnung annehmen: Das fänd’ ich einfach, einfach toll, wenn sich die Zeit, die sie investiert hat, dann einfach auch finanziell lohnt. (RT: 06) Im Rahmen dieser familial geteilten Orientierung auf eine effizient gestaltete, erfolgreiche Laufbahn gilt eine zentrale Anstrengung der Vermeidung biografischer Fehlinvestitionen. Daher ist es so wichtig, sich frühzeitig über seine Ziele im Klaren zu sein und diese stringent zu verfolgen. Weiterbildungen und berufliche Wechsel, die sich – wie in der Berufsbiografie des Vaters – als Sackgassen erweisen, sind daher nicht nur beunruhigend und kränkend, sondern auch unter ökonomischen Gesichtspunkten höchst ärgerlich. Die geteilte implizite Strategie der Familie ist daher darauf ausgerichtet, neben der schlüssigen und möglichst geradlinigen Fortsetzung der beruflichen Laufbahnen ›Lock-In-Effekte‹ zu vermeiden. Die Gefahr eines Lock-In – hier bietet das organisationsanalytische Konzept der Pfadabhängigkeit eine brauchbare Heuristik – besteht darin, dass aufgrund bereits getätigter Investitionen ein (Karriere-)Pfad nicht mehr verlassen wird, obwohl er geringe Erfolgsaussichten bietet (Sydow et al. 2009). Der Orientierungsrahmen der Familie Töbelmann birgt nun eine Strategie, um diesem Einschluss entgegenzuwirken: In ihm verschränken sich Stringenz mit Veränderungsoffenheit und effiziente Geradlinigkeit mit Flexibilität. Die Familie schätzt sowohl die Kontinuität einer reibungslos verlaufenden Karriere als auch die Flexibilität, die etwa ein so breites Studiengebiet wie die Ingenieurswissenschaft bietet und die von hohem Nutzen sein wird, sollte die Karriere nicht so reibungslos verlaufen wie geplant. Nicht zuletzt für die Frauen der Familie erhält eine Berufswahl, die ausreichend große Anpassungsspielräume eröffnet, einen besonderen Stellenwert. Zumindest der Logik der Eltern folgend, sind sie spätestens mit der Familiengründung verpflichtet, die Laufbahnorientierung zurückzustellen und die Zuständigkeit für verschiedene andere Lebensbereiche zu übernehmen. »Krankengymnastikausbildung […], was ich für sehr gute Berufsausbildung halte, wenn man dafür geeignet ist, das, da gibts also viele Dinge, die man da eigentlich, ja, erfüllen muss. Und weil es eine sehr hohe Flexibilität ist und sie können in Deutschland […] und überall in der Welt, in jedem kleineren Ort, in jeder Großstadt sofort immer einen Job kriegen. Und das ist eigentlich ideal, was wir vorhin ja sagten, sie ist ja auch verheiratet, hat Kinder, Familie, sie kann auch mal aussetzen, es gibt dort nicht dieses Problem, wenn ein, ich sag mal, Akademiker längere Zeit aus seinem Beruf raus ist, dann gibts die Unterbrechung, wenn man Pech hat, naja, ist das, sieht das nicht so gut im Lebenslauf aus. Und … und von der her, ist das für mich ein ganz idealer Frauenberuf, eben die hohe Flexibilität und man kann auch mal, wie gesagt, zwei Jahre da nicht mitmachen, es gibt dort in diesem Bereich Krankengymnastik ja auch sehr viele Spezialisierungen, die man dann machen kann weiter« (Xaver Töbelmann 08/27-40)
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Aber auch der Berufsweg von Tochter Anna – obschon nicht auf dem Frauenberuf Physiotherapeutin gegründet – weist das Potenzial zur Flexibilisierung auf. Anna erzeugt diese durch die Unternehmensgründung, die thematisch an ihre bisherige Laufbahn anschließt und strukturell mehr Freiheiten hinsichtlich einer eigenständigen Alltagsstrukturierung erlaubt, sodass sie die Aufgabenbereiche Familie, Beruf und Freizeit integrieren kann. Insofern behält sie die Lebensführung der Mutter bei, überführt sie jedoch in neue Strukturen. Dennoch erkennt Mutter Ulla in der Selbstständigkeit ihrer Tochter die eigenen Alltagsstrategien: »Aber im Wesentlichen ist es, könnte ich mir vorstellen, von daher, dass man eben einfach versucht, ein Studium, in das halt auch investiert wurde, äh, versucht, eben anzuwenden, nicht, und zu sagen, gut, ich mach da was draus und schau, wie weit komm ich, nicht, und hat sie, glaub ich, auch schon entsprechend dann immer Weiterbildung schon gemacht gehabt, ne, um das einfach unter einen Hut zu bringen« (Ulla Töbelmann 01/39-43) Zugleich bietet die Gründung jedoch auch eine Basis, um die stärker durch den Vater ausgeprägte Orientierung auf die Entwicklung einer beruflichen Karriere weiterzuverfolgen.
Lebensentwurf und sozialer Wandel Anna Töbelmann vollzieht keine grundsätzliche Abkehr von den familial erworbenen Orientierungsmustern. Sie übernimmt einen Großteil der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen ihrer Eltern, es dokumentieren sich jedoch Verschiebungen und Akzentuierungen, in deren Zusammenhang sich ein Lebensentwurf ausbildet, der die Logik des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ aufweist. Zwar zeigen sich bereits bei den Eltern entsprechende Orientierungen, allerdings weist ihre Praxis nicht in dem Umfang und in der Tiefe eine konsequente, planvolle und gezielte Entwicklung einer Laufbahn auf, wie dies bei Tochter Anna der Fall ist. Einerseits hängt dies damit zusammen, dass sich in Annas Lebensentwurf die zum Teil durchaus divergierenden Orientierungen von Ulla und Xaver überlagern und in ein verändertes Selbstverständnis als Frau überführt werden. Andererseits finden jene transversalen Logiken, die durch die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen herausgearbeitet wurden, Eingang in Annas Denken, Wahrnehmen und Handeln. Auch spielt womöglich eine Rolle, dass sozialer Wandel für Familie Töbelmann in beunruhigender Weise spürbar wird: Xaver Töbelmann, der im Sinne der fordistischen Arbeits- und Laufbahnorganisation keine explizite Karriereplanung vornimmt, sondern ganz selbstverständlich den Regeln der klassischen Organisationskarriere folgt, erfährt die Erosion dieses formalen und durch die Organisation vorgenommenen Laufbahnprinzips am eigenen Leib. Auch dies kann ein Grund für die Internalisierung laufbahnbezogener Ordnungsleistungen durch Anna Töbelmann sein, die im Lebensentwurf des Typus ›Pfad‹ zum Ausdruck kommt. Schließlich zeigen sich aber auch Ambivalenzen, die in der Verschränkung von mütterlichen und väterlichen, herkömmlichen und neu angeeigneten Orientierungen entstehen und eine Entscheidungssituation evozieren, in der sich die Gründerin zum Zeitpunkt des Interviews befindet.
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Karriereentwicklung und Familie Ähnlich wie für ihre Eltern – insbesondere für ihren Vater – stellt sich das Leben für Anna als eine Laufbahn dar, deren Weichen schon frühzeitig gestellt werden müssen. Anders als Xaver, dessen Schulzeit nach eigener Einschätzung von Faulheit und Nachlässigkeit gekennzeichnet war und dem es erst gegen Ende seines Studiums gelingt, aus dem Koma herauszukommen und die Zügel straffer zu ziehen (XT: 17), verfolgt Anna ihre schulischen und beruflichen Ziele daher schon frühzeitig sehr konsequent. Ebenfalls im Unterschied zu ihren Eltern expliziert Anna in ihren Erzählungen dabei die hohe Bedeutung eines planvollen, vorausschauenden Vorgehens, das für den Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ kennzeichnend ist. So unternimmt sie vor Beginn des Studiums zunächst eine sorgfältige Sondierung und Analyse der Lage, bevor sie sich für Studienort und -fach entscheidet. »Und Psychologie fand ich ganz spannend so vor dem Hintergrund, Mensch, das ist, da hast du viel mit Menschen zu tun und… War dann allerdings auch mal in zwei, drei Vorlesungen und das hat mir überhaupt nicht gefallen. […]. Hab ich dann gedacht so, ne, das ist irgendwie überhaupt nichts für mich. Und dann hab ich erstmal, dann hatte ich, genau, ich hätte dann einen Studienplatz für BWL in A. haben können, zum Wintersemester direkt. […] Dann haben meine Eltern ganz klar gesagt, also wenn du in A. studierst, dann bleibst du zuhause wohnen. Dann kannst du pendeln. Also dir eine Wohnung in A. zu bezahlen, das ist Quatsch, das machen wir nicht, ähm, ich war noch nicht ganz sicher, also für mich war’s so, ich musste nicht unbedingt mit Studienbeginn ausziehen, weil wir eben zwei Jahre vorher erst nach B. gezogen waren, und da war auch so mein ganzes soziales Umfeld, also das war jetzt noch nicht so unbedingt, dass ich sagte, ich muss unbedingt raus… Und dann hab ich, dann hab ich eben geguckt, dann haben wir gesagt, gut, dann nimmst du dir jetzt halt noch ein halbes Jahr Zeit, dann fängst du eben erst im Sommersemester an. Und dann hab ich so verschiedenste Vorlesungen besucht und bin dann auf Wirtschaftspädagogik gekommen, hab ich gedacht, das ist super, das ist genau das, das verbindet das für mich. Und, ja, dann war ich nochmal drei Monate im Ausland und bin dann halt wiedergekommen und hab dann angefangen mit dem Studium.« (Anna Töbelmann 23/13-32) Entsprechend der hohen Relevanz erfahrungsbasierten Handelns, die Anna von ihren Eltern übernommen hat und die zugleich wesentliches Element eines Lebensentwurfs des Typus ›Pfad‹ ist, erprobt Anna die sich ihr bietenden Optionen und nimmt sich Zeit, bevor sie eine Entscheidung trifft. Auch bezieht sie in die Überlegungen ihre Lebensumstände mit ein – etwa die Erwartungen ihrer Eltern oder den momentanen Status ihrer sozialen Beziehungen. Retrospektiv nimmt sie die Entscheidungsfindung als Abfolge kleinerer Entscheidungssituationen wahr, die sie – unter Verwendung des Ausschlussprinzips – in einen kausallogischen Ablauf bringt. Dieses Prinzip behält sie im weiteren Studien- und Berufsverlauf bei: »Und hab dann das Grundstudium in B. gemacht und war, weil ich, also ich muss ehrlich sagen, wenn ich Probleme gehabt hätte, jetzt so von, mit den Prüfungen oder wie auch immer, dann hätte ich das Studium abgebrochen, weil ich echt nicht wusste, wofür ich das mache. […] Ich fand’s NETT von den Kommilitonen, es war… Aber so jetzt, so inhaltlich, dass ich gewusst hätte was ich damit machen will, da war ich im Grunde schon echt noch weit von entfernt. Und dann
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hab, das war dann auch die Entscheidung, zu sagen, ich setz’ nochmal aus und mach’ Praktika. Und dann hab ich ein, ja, fast ein Jahr verschiedenste Praktika gemacht und dann hat sich das für mich auch konkretisiert. Und dann hab ich, ähm, in K. weiter studiert. Und… Ja, und dann war, das war dann schon relativ schnell klar, dass es halt in den Personalbereich geht, und dann hab ich das auch als Schwerpunkt gewählt.« (Anna Töbelmann 23/32-45) Es wird deutlich, dass Anna ihre Entscheidungen, auch nachdem sie diese getroffen hat, weiterhin überprüft und deren Angemessenheit in Bezug auf ihre Ziele hinterfragt. Sie kann daher noch während des Studiums Kurskorrekturen vornehmen, die zwar an das bisher Geleistete anschließen, jedoch verhindern, dass sie umfangreiche biografische Fehlinvestitionen tätigt. Damit korrespondiert ihre Praxis mit der Logik neoliberaler Gouvernementalität, die Peter Miller und Nikolas Rose (1995: 455) folgendermaßen zusammenfassen: »Individuals had to be governed in light of the fact that they each sought to conduct their lives as a kind of enterprise of the self, striving to improve the ›quality of life‹ for themselves and their families through the choices that they took within the marketplace of life.« Annas Lebensentwurf stellt sich also als ein eigenverantwortlich organisierter Entwicklungspfad dar, in dem sich Phasen der konzentrierten und zielgerichteten Arbeit mit Entscheidungsmoratorien abwechseln, in denen sie die nächsten Schritte sorgfältig sondiert, prüft und plant, um die beste Wahl für ein ›gutes‹ oder ›gelingendes‹ Leben zu treffen. Hierfür lässt sie sich Zeit. Dies unterstreicht die hohe Bedeutung, die sie den Entscheidungen beimisst, und dokumentiert den festen Willen, nicht die ›falsche‹ Wahl zu treffen. Allerdings bilden die Entscheidungsphasen keine unstrukturierten Zeiträume, wie die Explikation der Gründungsentscheidung verdeutlicht: dann haben wir einen Kooperationsvertrag geschlossen, und ich hab ihm dann aber gesagt, dass ich mich trotzdem weiter umgucken würde. Also, dass ich schon guck’, dass ich mir jetzt eine Zeitschiene setze von drei Monaten, mir das angucke, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob ich der Meinung bin, das kann laufen (AT: 02). Strategie und Praxis eines pfadabhängigen Lebensentwurfs ermöglichen es Anna Töbelmann, eine Laufbahn hervorzubringen, die in hohem Maße den Idealen ihres Vaters entspricht und in der Familie implizit an die Rolle des (männlichen) Familienoberhaupts (XT) geknüpft ist. Anna vollzieht jedoch keine explizite Abkehr von der in ihrer Herkunftsfamilie praktizierten geschlechtsspezifischen Verteilung von Aufgaben und Zuständigkeiten, sie modifiziert diese vielmehr. Für sie ist es naheliegend, dass sie mit der Familiengründung die Rolle der Hausfrau und Mutter übernehmen wird: es war völlig klar, dass, wenn wir Nachwuchs haben, dass wir gesagt haben, also einer wird zuhause bleiben, im Zweifelsfall ich (AT: 01). Anna versteht die Position ihres Ehemanns innerhalb der Familie eindeutig als die des »Haupternährers«, sieht also in der Bedeutsamkeit der jeweiligen Berufstätigkeit eine Asymmetrie, die sie jedoch ganz bewusst mitträgt: »Also ein Studienfreund von mir, da, die, da machen sich beide gerade selbstständig, die haben zwei Kinder und da muss ich sagen, Hut ab, echt Hut ab. Weiß ich nicht, ob ich das wollte. Also ich find’s toll, aber … Ob das was für mich wär’, weiß ich nicht. Kann ich nicht sagen. Ich glaub, ich würde dann eher sagen, gut, wenn das jetzt dein, äh, dein beruflicher Weg ist, dann mach das, aber dann geh ich jetzt in ein Angestelltenverhältnis erstmal, bis das läuft.« (Anna Töbelmann 08/16-22)
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Anna betrachtet ihre Berufstätigkeit also zunächst – ähnlich wie ihre Mutter – als eine flankierende Maßnahme, die sie neben der Hausarbeit ausführen kann und die der Familie einen zusätzlichen finanziellen Spielraum eröffnet. Ebenfalls analog zu Ulla Töbelmann möchte sie sich keinesfalls auf die Haushaltsführung und Kindererziehung beschränken (Hausfrau, das möcht’ ich nicht). Ihr Plan ist es – und hier weicht sie vom Lebensentwurf der Mutter ab –, in dem Unternehmen weiterzuarbeiten, in dem sie bereits vor der Ehe beschäftigt war, einen Filialwechsel zu vollziehen, um gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Zuhause für die Familie aufzubauen, den Stundenumfang ihrer Angestelltentätigkeit für die Zeit der Kindererziehung zu reduzieren und anschließend den Fokus wieder auf ihre Berufslaufbahn zu legen. Insofern entspricht ihre Berufsorientierung eher den Vorstellungen des Vaters – auch wenn dieser den Entwurf eher auf männliche Karrieren bezieht. Die Chancen, einen solchen Berufs- und Lebenspfad zu entwickeln, stehen zunächst auch nicht schlecht: Anna realisiert bereits vor der Geburt ihrer Kinder einen organisationsinternen Aufstieg, arbeitet in verschiedenen Bereichen des Unternehmens und erhält außerterminliche Gehaltserhöhungen – wie der Vater berichtet (XT: 37). Während Anna sich in der Erziehungszeit befindet, wird der Konzern jedoch umstrukturiert und dies ändert die Lage: Eine Rückkehr nach Ablauf der Erziehungszeit wird unwahrscheinlich, da die verbleibenden Unternehmenszweigstellen zu weit entfernt sind von ihrem Wohnort. Also greift Anna auf ihre bewährte Entscheidungsstrategie zurück. »dann war natürlich das eine komplett neue Situation und dann hab ich gedacht, gut, dann bewirbst du dich eben in Region-Z. Hatte dann verschiedenste Bewerbungen geschrieben, im Personalbereich, bin ja Personalerin. Und hatte dann auch Vorstellungsgespräche […], hatte auch mit der Uni Kontakt […] für eine Promotion, also ich hatte so verschiedenste Optionen. Und eine sehr attraktive, das Angebot kam dann von einer Personalberatung. Und der Vorteil für mich damals war eben, zumindest was das Stellenprofil anging, war, a – war es sehr nah an dem, was ich gemacht hatte, und zum anderen war’s home office. Und das ist natürlich jetzt für, für Vereinbarung von Beruf und Familie in den ersten Jahren super. Und dann hab ich mich mit dem Chef dieser Beratung in S. getroffen, und dann hat der mir in dem Gespräch, das ging in der Stellenanzeige nicht hervor, dass das auf freiberuflicher, also quasi als Freelancer tätig zu sein.« (Anna Töbelmann 01/33-43) Auch hier erschließt Anna Töbelmann verschiedene Anschlussoptionen, um ihre berufliche Laufbahn stringent weiterentwickeln zu können. Als wesentliche Rahmenbedingung kommt nun ihre neue Lebenslage als Mutter hinzu, dies führt jedoch nicht zu einer Aufgabe der beruflichen Ambitionen. Vielmehr sucht sie nach einer Möglichkeit, ihre neue Doppelzuständigkeit mit der Weiterentwicklung ihrer beruflichen Laufbahn zu verbinden, daher wählt sie die infrage kommenden Anschlussoptionen nicht nur vor dem Hintergrund der familiären Situation, sondern auch mit Blick auf deren Karrierepotenzial. Auf diese Weise verbindet sie die Orientierungen ihrer Eltern und reformuliert das geschlechtsspezifische Rollenverständnis sogar in gewisser Weise zum Vorteil ihrer beruflichen Entwicklung: »Meine Erwartung war natürlich schon, mir irgendwie eine berufliche Zukunft aufzubauen mit den Vorteilen, die ich einfach gesehen hatte aus dieser, anfangs, aus dieser quasi-
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Selbstständigkeit. Eben die Möglichkeit zu haben, Beruf und Familie vielleicht besser vereinen zu können […]. Und das waren dann schon die Erwartungen, die Hoffnung so halt weiter arbeiten zu können, natürlich auch im Finanziellen eine Perspektive auch zu haben, ganz klar, also es sollte schon so sein, dass ich mich am Ende jetzt nicht unbedingt schlechter stelle als im Angestelltenverhältnis. […] Also wir haben oft gesagt, dass ich schon aus einer sehr komfortablen Situation heraus diesen Schritt gehen kann, also das muss man, seh ich nach wie vor so, und ich glaube, dass das vielleicht auch mit ein Grund ist, warum es dann vielleicht auch gut geklappt hat, weil der Druck eben nicht so da war. Also ich stell mir das schrecklich vor, wenn man jetzt Familienhaupternährer ist und man geht aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit und man weiß irgendwie, Arbeitslosengeld läuft in drei Monaten aus oder so, das stell ich mir schon echt heftig vor. Das hatte ich nicht, also von daher, natürlich schon die Befürchtung oder die persönliche Befürchtung, ähm, schaffst du das alles, wie wird das wohl, kriegst du das unter einen Hut, kann das funktionieren. Klar, das schon, aber jetzt nicht Existenzängste.« (Anna Töbelmann 07/26-08/04) Die selbstverständliche Zuständigkeit für Hausarbeit und Kindererziehung schränkt Anna Töbelmann in ihrer beruflichen Entwicklung zwar ein, der familiale Status als Nebenverdienerin eröffnet ihr aber auf der anderen Seite berufliche Spielräume, die sie andernfalls nicht erschließen würde. Sie begrenzt die Ansprüche an ihre Berufstätigkeit nicht auf den bloßen Gelderwerb, sondern erhofft sich eine berufliche Zukunft, die sie trotz Mehrfachbelastung ausbauen und nach eigenen Vorstellungen weiterentwickeln kann. Mit der Gründung bietet sich zudem die Chance, eigenständig und selbstverantwortlich zu arbeiten, was ihren Präferenzen in hohem Maße entspricht. Im Rahmen ihrer Orientierungen ermöglicht nur die komfortable Situation, nicht Hauptverdienerin der Familie zu sein, diese in ihren Augen attraktive Option der beruflichen Weiterentwicklung. Damit entgeht Anna auch Einschränkungen bzw. erlangt Privilegien, die sich ihrem Ehemann aufgrund der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung nicht bieten: Und eigentlich haben wir auch oft drüber gesprochen, eigentlich ist eher er derjenige, der sich immer mal hat vorstellen können, so in die Selbstständigkeit zu gehen (AT: 04).
Ökonomisches Handeln als Schlüssel zu einer erfolgreichen Pfadentwicklung Die Zielstrebigkeit, mit der Anna Töbelmann die Entwicklung ihres Lebenswegs vorantreibt, wurzelt zwar unverkennbar in den Orientierungen ihrer Herkunftsfamilie, allerdings überflügelt sie ihre Eltern in der Befähigung, die Laufbahn auf lange Sicht planvoll und strukturiert hervorzubringen. Ihre Schwester sieht als eine von Annas Stärken die Fähigkeit, zu planen, was ist alles so, welche Fäden sind sehr lang zu spannen, was ist kurzfristig (RT: 05). Gerade die systematischen Entscheidungsmoratorien unterscheidet Annas Vorgehensweise von der Praxis ihrer Eltern: Während Xaver vor allem Rückblickend die Kontextbedingungen wahrnimmt, die zu einer bestimmten Lebenssituation geführt haben, schafft seine Tochter gezielt einen Zeitraum, in dem sie potenzielle Kontexte erschließt, diese mit ihren Lebensumständen und Zielen abgleicht und auf dieser Basis jene Anschlussoption wählt, die die größten Aussichten auf eine Lebenssituation nach ihren Vorstellungen bietet. Zwar muss Anna sich teilweise in potenziell zukunftsträchtige Settings hineinbegeben, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob ich der Meinung bin, das kann laufen (AT: 02), dies bedeutet jedoch nicht, dass sie Entscheidungen impulsiv trifft.
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Sie reduziert ihre Bedürfnisse und die Merkmale verschiedener Zukunftsoptionen auf den jeweiligen Kern, vergleicht das eine mit dem anderen, bewertet, bildet Rangfolgen und Prioritätenlisten, kurz: sie evaluiert Lage und Möglichkeiten. Damit nutzt Anna Töbelmann eine (neoliberale) Technologie der Effizienzsteigerung (Rose & Miller 1992), die auf der Annahme basiert, dass sich durch die Operationalisierung, systematische Erfassung und rationale Begutachtung von Gegebenheiten eine bestmögliche Entscheidungs- und Handlungsbasis generieren ließe. Gerade »Negativbewertungen fungieren dabei als Optimierungsmotor. Sie signalisieren Anpassungsbedarf und sollen ein flexibles Ansteuern ermöglichen, auf das Angebot und Nachfrage immer besser aufeinander austariert werden.« (Bröckling 2004a: 80f.) Bröckling weist darauf hin, dass dabei die Positionen von Evaluator und Evaluandum wechseln können; dies zeigt sich in Annas Praxis in spezifischer Form, denn nicht nur die möglichen Anschlussoptionen ihrer Laufbahnentwicklung – seien dies nun Studiengänge, Berufszweige oder Beschäftigungsformen – werden evaluiert, sie wendet das Instrument auch auf ihre eigene Lage und Wünsche an und passt auch diese gegebenenfalls an. Bemerkenswert ist dabei die nüchterne Art, mit der sie auf aufgegebene Anliegen zurückblickt: auf den Traum vom Psychologiestudium, den Wunsch, nach der Elternzeit in ihren alten Job zurückzukehren, die Hoffnung ein Anstellungsverhältnis zu finden, in dem sich Beruf und Familie vereinbaren lassen. »Und dann hab ich mich mit dem Chef dieser Beratung in F. getroffen, und dann hat der mir in dem Gespräch, das ging in der Stellenanzeige nicht hervor, dass das auf freiberuflicher, also quasi als Freelancer tätig zu sein. Und das hat er mir dann in dem Gespräch mitgeteilt, hat aber dann gleichzeitig gesagt, dass eigentlich das, was er sucht, sich auch verändert hat. Also sprich, das Aufgabengebiet deutlich weiter ist, und dass er im Grunde einen Partner sucht. Gut, dann bin ich nach Hause gefahren, er hat dann erstmal abgefragt, ob ich mir das denn so vorstellen könnte, dann hab ich erstmal ja gesagt, bin dann nach Hause gefahren und dachte, pff, also eigentlich, also Selbstständigkeit war jetzt nicht unbedingt im Fokus für mich und Akquisetätigkeit gehörte dann eben auch dazu. Hab ich gedacht so, mhh, ob mir das so liegt, ob ich das gern mache. Ja, dann hatte ich mir nochmal Bedenkzeit ausgebeten, und dann waren wir eigentlich so verblieben, dass ich gesagt hab, ich probier das jetzt, ich hab ja nichts zu verlieren, das ist ja kein Arbeitsvertrag, den man unterschreibt, und dann haben wir einen Kooperationsvertrag geschlossen.« (Anna Töbelmann 01/42-02/09) Die unsentimentale, unaufgeregte Reflexion wird unter der Maßgabe möglich, die rational beste Entscheidung treffen zu wollen und getroffen zu haben. Wunschszenarien, die den realen Gegebenheiten zuwiderlaufen, suspendiert Anna Töbelmann konsequent. Sie hält sich an die tatsächlichen Sachverhalte, um eine tragfähige Pfadentwicklung realisieren zu können. Insofern stellen sich für Anna Optionen, die sich (unerwartet) zerschlagen haben, nicht als unerfüllte Sehnsüchte dar, sondern als Sackgassen oder Wege, die in die falsche Richtung führen – sei es, weil sich die Umstände geändert haben (Unternehmensfusion), sei es, weil sich ihre Annahmen nicht bewahrheitet haben (Psychologiestudium). Auf der anderen Seite fordert sie diese strikt rationale Herangehensweise auch von anderen Akteuren ein: Als sie nach den ersten gemeinsamen Terminen mit dem Geschäftspartner zu der Einschätzung gelangt, dass sie die
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Arbeit in besserer Qualität auch allein bewältigen kann, beschließt sie die Kooperation aufzulösen. »Ich hab ihm das halt dann schon nach einem dreiviertel Jahr dann mitgeteilt, dass, dass ich überlegen würde, was Eigenes daraus entstehen zu lassen, auch mit einem noch weiteren Schwerpunkt. Und da er da sehr positiv eigentlich oder sehr offen reagiert hat, jetzt also auch nicht irgendwie verärgert war darüber, hätt’ ja sein können, also er hätt’ ja durchaus auch anders reagieren können. Hat er nicht. Und von daher sind wir eben heute noch in einer Zusammenarbeit, und das ist, glaub ich, für beide Seiten recht, recht gute Ausgangssituation jetzt heute.« (Töbelmann 02/35-42) Soziale Beziehungen werden von Anna Töbelmann – soweit sie die berufliche Sphäre betreffen – also ebenfalls rational und vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Verhalten sich auch die anderen Akteure rational, können ihrer Ansicht nach Win-win-Situationen entstehen. Nicht-rationales Handeln, davon ist sie überzeugt, führt in ökonomischen Kontexten zu unerwünschten und vor allem unwirtschaftlichen Effekten. Hier sieht sie einen großen Vorteil der Selbstständigkeit: »Bestimmte, natürlich auch betriebliche, Restriktionen und organisatorische Reibungsverluste, das hat man einfach, da kann das Team noch so nett sein, da kann . Das tickt halt einfach anders. […] ich hab supergerne bei meinem Arbeitgeber gearbeitet, ich hab ein gutes Verhältnis, ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Chef gehabt immer. Wir hatten eine tolle Abteilung, aber trotzdem, es gibt halt einfach ständig Knatsch wegen irgendwelchen Sachen. Und es gibt Profilierungskämpfe und Machtkämpfe und . Und das ist da einfach nicht. Also das ist halt schon sehr … angenehm.« (Anna Töbelmann 07/30-36) Die Selbstständigkeit ermöglicht also auch deshalb ein effizientes und zielstrebiges Arbeiten, weil sie unabhängig macht von zwischenmenschlichen Störfaktoren. Erfolg und Misserfolg hängen im Wesentlichen von der eigenen Person ab oder zumindest sind sie nicht an die Befindlichkeiten und Motivationen von Kolleg*innen gebunden. Damit lassen sie sich durch ein planvolles Vorgehen und diszipliniertes Arbeiten besser steuern. Zudem können Arbeitszeit und Arbeitsmodus, der Aufwand, der investiert werden kann und soll, sowie die strategische und inhaltliche Ausrichtung der Arbeit in der Selbstständigkeit eigenständig gestaltet und daher besser auf die persönliche Lebensund Bedürfnislage abgestimmt werden, als dies in einem Angestelltenverhältnis der Fall ist. Hier zeigt sich eine weitere Variation der familialen Orientierungen im Sinne einer ökonomischen Logik: Wie ihre Mutter befindet sich Anna Töbelmann in einer doppelten Zuständigkeit – als Hausfrau und Unternehmerin. Um die berufliche Entwicklung erfolgreich vorantreiben und zugleich Haushalts- und Erziehungsverpflichtung in zufriedenstellender Weise erfüllen zu können, dehnt sie das rationale und ökonomische Handlungsprinzip auf alle Lebensbereiche und ihre gesamte Alltagspraxis aus. Ähnlich wie ihre Mutter geht sie organisiert und planvoll vor, arbeitet diszipliniert und schiebt Aufgaben nicht vor sich her. Ihre Mutter nimmt wahr, dass Anna das, was sie sich vornimmt ganz konsequent durchzieht und das auch ruckzuck abarbeitet und nicht sagt, ja das, ich MUSS das machen und auf einen Haufen legen und dann, oder auf einen Zettel schreiben und dann wird die Liste immer länger, ne. Weil das ist ja dann irgendwo wieder ein Berg, ne, den man dann abarbeiten muss, ne. Nicht, also ich denke, das ist dieses Organisationstalent, das erleich-
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tert ihr das schon (UT: 10). Dieses Organisationstalent, da sind sich alle Familienmitglieder einig, hat Anna von ihrer Mutter übernommen. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Ulla nutzt ihr Talent, um neben der alltäglichen Mehrfachbelastung durch Arbeit, Erziehung und Haushalt Zeit für sich zu generieren, in der sie etwa ihren Hobbys nachgehen, sich vergnügen und entspannen kann: »Und meine Mutter ist auch jemand, die schon sagt so mal, jetzt lass uns das doch auch mal genießen und jetzt haben wir doch das erreicht oder jetzt machen wir mal hier oder ich würd’ gern… Also die ist schon eher diejenige, die auch jetzt mal sagt, so, jetzt gönnen wir uns auch mal was und jetzt fahren wir mal weg, oder, ich möchte das und das Land noch sehen« (Anna Töbelmann 22/04-09) Diese Haltung findet Anna Töbelmann grundsätzlich attraktiv, allerdings verhindert die Verschiebung ihrer Orientierungen eine ähnliche Alltagspraxis. Anders als bei ihrer Mutter, die die Arbeit als Krankengymnastin zwar schätzt, aber in erster Linie als (durchaus respektabilitätsstiftenden) Ausgleich zur Hausarbeit und als Einnahmequelle zur Finanzierung kleiner Extras begreift, versteht Anna ihre Berufstätigkeit als Fluchtpunkt der persönlichen Entwicklung. Insofern strebt sie in diesem Bereich kontinuierlich nach einer Steigerung. Um diese Steigerung zu realisieren, ist es nur rational, zur Verfügung stehende Zeitressourcen zu investieren und so dehnt sich die Arbeit insbesondere in undefinierte Zeiträume – in die Freizeit – aus: »Ähm, ja, mit der Freizeit. Ja, ich denk’, könnte mehr sein, klar, also… Wobei, ähm, jetzt so im Sommer, find ich, geht’s, weil, ich hol die Kinder ab und wir sind dann draußen und das ist so, wie gesagt, klar, das ist jetzt kein, jetzt nicht wirklich Freizeit in dem Sinn, aber das ist schon eine schöne Zeit. Das ist auch manchmal anstrengend, […] aber es ist dann schon, ähm, … eine Abwechslung irgendwie auch.… Jetzt echt Freizeit im Sinne von, wir haben überhaupt nichts zu tun oder… Das ist schon, wenn, ja, das ist wenn am Wochenende, dass man dann wirklich was unternehmen kann groß, größer. Ähm. […] Das ist überschaubar« (Anna Töbelmann 16/14-27) Bei der Verdrängung der Freizeit handelt es sich nicht nur um eine faktische Umverteilung der Zeitressourcen, vielmehr findet hier eine gewandelte – ökonomisierte – praktische Logik Ausdruck. Es verändert sich der implizite Anspruch an die Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit dahingehend, dass diese nun so effizient und zielführend wie möglich verwendet werden soll. Zeit – unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet – ist daher immer und in jedem Lebensbereich ein knappes Gut, dessen Einsatz es sorgfältig zu managen gilt. Zeitressourcen können dabei durch das effiziente Abarbeiten der anstehenden Aufgaben generiert werden. Unter diesem Aspekt wird auch die Selbstständigkeit betrachtet: Fahrtzeiten, die wegfallen. Wie gesagt, der ganz Bügelkram […] Ich mach das, wenn ich zum Kunden geh (AT: 14). Damit gibt es jedoch keine fixen Größen, anhand derer Anna Töbelmann einen ›objektiven‹ Standpunkt beziehen und feststellen könnte, dass das Optimum der Zeitnutzung erreicht ist. Vielmehr hat sie das Gefühl, eigentlich in allen Bereichen ihres Lebens mehr Zeit investieren zu müssen und insgesamt nicht genug Zeit (generiert) zu haben: »Also grundsätzlich hab ich jeden Tag das Gefühl, das könnten doppelt so viele Stunden, könnte der Tag haben und wahrscheinlich biste trotzdem, oder bin ich trotzdem noch nicht durch
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irgendwie also das ist schon was, was ein großes Thema ist, klar. Weil das einfach immer zu wenig ist. Also über alle Dimensionen, ob das jetzt Job ist, ob das Familie ist, ob man das selber ist also das ist… Weiß ich jetzt aber nicht, ob das explizit Selbstständigkeit, ob das jetzt die Selbstständigkeit nochmal verschärft… […] Also, ähm, von daher Zeit, ja, klar, ich mein’, ich versuch halt immer das möglichst zu strukturieren und… Aber die Listen sind einfach immer länger.« (Töbelmann 14/10-22). Die unterschiedlichen Lebensbereiche nimmt Anna Töbelmann dabei, wie ihre Eltern, als separate Sphären wahr. Im Sinne einer ökonomisierten Alltagspraxis können dabei die verschiedenen Zuständigkeiten als Betätigungsfelder mit je eigenen Anforderungen und Zielstellungen verstanden werden, die für sich genommen effizient zu gestalten und insgesamt in eine günstige Reihung zu bringen sind. Die Entgrenzung von Arbeit und Nicht-Arbeit auf einer inhaltlichen Ebene, wie sie im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ hervorgebracht wird, wo also Arbeit und Freizeit, öffentliches und privates Handeln bzw. Erwerbstätigkeit und Ehrenamt ineinanderfließen, findet in der Alltagspraxis von Anna Töbelmann nicht statt. Sie nimmt – wie ihre Mutter – eine Modularisierung der anfallenden Tätigkeiten vor. Allerdings berichtet Ulla Töbelmann von groben Aufgabenbündeln und Bearbeitungsphasen (morgens zwei Stunden Hausarbeit, dann zwei Stunden Tennis, dann Erwerbsarbeit, abends Entspannung) und einer überschaubaren Anzahl an Aufgaben, die sie flexibel handhabt (Garten mache ich zu Zeiten, wo es zack-zack geht). Anna hingegen präzisiert, beschleunigt und flexibilisiert das modulare Arbeiten: »sechs Uhr sind wir dann wach, halb sieben stehen wir auf, dann Frühstück und dann bring ich die Kinder in die KiTa, meistens eigentlich zu Fuß, laufen wir da hin. Auf dem Rückweg muss ich sowieso durch das Einkaufszentrum, dann bring ich so die Grundlebensmittel mit […] Und dann, ja, und wie gesagt, mach ich meistens eine Wäsche rein und setzt mich hoch. Und dann sitz ich, seh’ zu, dass ich spätestens um halb zehn am Schreibtisch sitze. Manchmal ist es auch, dann schaff ich neun, manchmal, wenn mein Mann die Kinder in die KiTa bringt, dann bin ich auch schon um halb neun, acht, halb neun dran. Gibt auch Tage, da schaff ich erst zehn. Und dann hängt’s halt davon ab, was ich für Termine habe. Das hängt dann wieder von den Projekten ab. Und wenn, wenn eben Projekte laufen oder wenn Aufträge laufen, dann hab ich in der Regel ein, zwei, drei Gespräche am Tag, manchmal dann eben auch nochmal abends oder am Wochenende. Und dann muss, dann führ’ ich die Gespräche, die dauern eine gute Stunde, dann die Zusammenfassung eine halbe, dreiviertel Stunde. Und da ich die Kinder in der, ja, hol ich in der Regel so um halb vier, vier ab. Also ist das schon relativ begrenzt für mich. […] ich hab schon öfter geguckt, ich mein’, das sind sechs, sechseinhalb Stunden Netto, die ich hab. Davon kann man eine Stunde locker abziehen für mal was essen oder… Das sind fünf Stunden am Tag und das ist nicht viel. Das ist nicht viel, also ich muss schon ziemlich Gas geben eigentlich dann in der Zeit.« (Töbelmann 14/35-15/25) Einerseits dokumentiert sich in der Erzählung durchaus ein Gefühl der Belastung und des beständigen Zwangs, in der knappen verfügbaren Zeit möglichst viel zu schaffen und die einzelnen Aufgaben möglichst ökonomisch ineinander zu schachteln. Auch ist der Eindruck zu gewinnen, dass dieser Druck durch die persönliche Haltung, bzw. den Steigerungsanspruch erzeugt ist, denn der Bezugsrahmen, in dem fünf Stunden am Tag
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nicht viel ist, wird in der Selbstständigkeit – zumal in einer ökonomisch gar nicht notwendigen – selbst gewählt. Insofern kommt in der minutiösen Planung und Berechnung der Zeitkontingente, die immer auch Möglichkeiten birgt, noch unerschlossene Zeitressourcen zu identifizieren und in dem beständigen Gefühl der Zeitknappheit eine Subjektivierung im Sinne des unternehmerischen Selbst zum Ausdruck, welches sich durch ein permanentes Im-Werden-Sein, genauer: durch einen anhaltenden Verbesserungsdruck erzeugenden Imperativ der Selbstökonomisierung auszeichnet (Bröckling 2002, 2007a). Zugleich zeigt sich andererseits aber auch eine hohe Befähigung zu dieser Form der Alltagsstrukturierung: Anna Töbelmann ist der (eigenständig miterzeugten) Ökonomisierung, die ihren Lebensentwurf charakterisiert, keineswegs hilflos ausgeliefert. Trotz aller Belastung ist sie eine souveräne Unternehmerin ihrer selbst, die einen Blick für Aufgaben- und Zeitstrukturen, die Disziplin für ein konsequentes und effizientes Arbeiten und Timing bzw. zur richtigen Zeit den richtigen Riecher hat (Anna Töbelmann 11/32). Diese Könnerschaft wurzelt nicht nur in familial transmittierten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, insbesondere im ausgeprägten Organisationstalent der Mutter, sie ist auch durch die Wertschätzung der Familie (insbesondere des Vaters) getragen, denn eine selbstunternehmerische Orientierung ist nicht zuletzt eine Orientierung am Erfolg.
Zukunftsambivalenz Die Anerkennung von Erfolgen – durch den Vater, aber auch als abstraktes gesellschaftliches Prinzip – ist freilich kein extrinsisches Motivationsmoment. Anna Töbelmanns Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungshorizonte sind erkennbar durch eine Orientierung an (beruflichem) Erfolg strukturiert. Insofern hat auch in dieser Hinsicht eine familiale Transmission und zugleich eine Aktualisierung bzw. Verschärfung im Rahmen gegenwärtiger transversaler Logiken stattgefunden. Erfolg verschafft Anna unmittelbare Befriedigung, zugleich bildet das Erreichte die Ausgangsbasis für weitere Schritte in Sachen Laufbahnentwicklung: »Also ich seh’ ganz klar die Chance, das ausbauen zu können noch weiter, also einfach sich da auch vielleicht ein Team zusammenzustellen oder . Irgendwo träum’ ich halt schon, wenn ich jetzt noch so ein bisschen, wie gesagt, ich muss mich damit noch auseinandersetzen mit meiner Risikobereitschaft, aber, ähm, was ich jetzt aufgebaut hab, ist für mich persönlich was sehr Wertvolles. Ich freu mich darüber und . Aber letztlich ist es ja nur für mich und meine Familie. Also der Wirkungskreis ist ja überschaubar.« (Anna Töbelmann 32/03-09) Die persönliche Wertschätzung des in der Vergangenheit eigenhändig Aufgebauten auf der einen Seite, sowie der Wunsch nach künftiger Ausweitung des Erfolgs durch eine Expansion sowohl der Unternehmensgröße als auch der Reichweite bzw. Sichtbarkeit auf der anderen Seite zeigen, wie sich die familial transmittierte Erfolgsorientierung im Sinne einer Pfadlogik rekonstruieren lässt: Erfolg wird zu einem wesentlichen Movens der Entwicklung des Lebenspfades, der sich entlang erfolgreicher Entscheidungen und Etappensiege in Richtung eines unbestimmten Ziels, aber stets ›nach vorn‹ entfaltet. Es entspricht in hohem Maße gegenwärtigen sozialen Logiken, Erfolg nicht länger – wie noch Xaver Töbelmann – als das erfolgreiche Bestehen in der Welt bzw. als die gelingen-
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de Einnahme einer respektablen Position innerhalb der Gesellschaft zu sehen, sondern diesen als generelles Handlungsprinzip zu verallgemeinern und auf Dauer zu stellen: Erfolg wird in verschiedene Varianten der praxistheoretischen Gegenwartsdiagnostik als wesentliches Element gegenwärtiger Orientierungen verstanden, sei es als Voraussetzung und Ziel von Projektarbeit und Vernetzungspraxis, als Quintessenz des singularisierungsimmanenten ›Winner-takes-all-Prinzips‹ (Reckwitz 2017) oder eben als Basisstreben des Selbstunternehmertums. Die Erzählung von Anna Töbelmann deckt dabei eine Ambivalenz auf, die der Logik des Selbstunternehmertums immanent ist: Die beständige Investition in die eigene Laufbahn und der kontinuierliche Drang bzw. Zwang zur Selbstüberbietung bedeutet, dass auch das Wagnis auf Dauer gestellt ist. Denn »Anerkennung ist gebunden an Erfolg«, insbesondere große Erfolge bedürfen (riskanter) Einsätze, die immer auch Fehlschlagen können, »und jedes Scheitern weckt die Angst vor dem sozialen Tod« (Bröckling 2007a: 289). Für Anna Töbelmann verschärft sich die Zwangslage vor dem Hintergrund ihrer familial transmittierten Orientierungen noch: »Ich bin nicht risikobereit. Ich komm’ auch nicht aus so einer Familie, also es war schon Sicherheit immer ein Riesenthema… Und auch eher so, komm, lieber ein bisschen weniger, als wenn so spekulativ irgendwie, und das muss nicht sein… Also ich glaub’, ich komm da schon aus einer sehr bodenständigen, risikounfreudigen, eher -unfreudigen Familie und ich bin das auch, definitiv.« (Anna Töbelmann 29/25-29) Die grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem Riskanten stellt unter veränderten gesellschaftlichen Logiken nicht nur eine Herausforderung dar, weil das Investitionsimperativ auf Dauer gestellt ist, sondern auch weil die gesteigerte Kontingenz sozialer Verhältnisse die Vermeidung biografischer Fehlinvestitionen verkompliziert, indem sie die Planung und Berechnung künftiger Entwicklungen erschwert. Hinzu kommt der Umstand, dass Erfolg immer stärker auf die Identität der erfolgreichen bzw. scheiternden Akteure zurückgebunden wird. So erkennt Sighard Neckel (2004: 63) in der gegenwärtigen Erfolgslogik die Tendenz, »Handlungshelden zu unterstellen, die ihren Erfolg allein dem bewusst angestrebten, vernünftig geplanten und zielstrebig ins Werk gesetzten eigenen Tun verdanken. […] Freilich wird damit auch das Problem in die Welt gebracht, gesellschaftliche Kontingenz und das Unverfügbare am eigenen Schicksal in das rationale Schema zielverwirklichenden Handelns hineinzwängen zu müssen.« Diese logische Verschiebung lässt sich besonders deutlich im intergenerationalen Vergleich erkennen: Xaver Töbelmann führt den positiven Verlauf seines Lebenswegs zwar bis zu einem gewissen Grad auf seine Leistungsbereitschaft zurück, in seiner Rekonstruktion spielen die Umstände jedoch eine wesentliche Rolle: Insofern haben wir sehr viel Glück gehabt, aber wir haben damit auch gerechnet, wir wussten, dass die Situation so ist und stabil (XT: 13). Die gesellschaftlichen Kontexte – so lässt sich Xavers Äußerung lesen – waren günstig und sie waren zudem transparent und stabil, sodass er bei der Entwicklung seiner Laufbahn mit den glücklichen Umständen buchstäblich rechnen konnte. Anders stellt sich die Situation für Anna dar. Sie ist in doppelter Hinsicht mit sehr viel mehr Kontingenz konfrontiert – einerseits, weil sich die gesellschaftlichen Kontexte
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gewandelt haben, andererseits, weil sie als Selbstständige den Marktkonjunkturen unmittelbarer ausgesetzt ist als ihr festangestellter Vater2 . Dennoch nimmt sie die Entwicklung ihrer Unternehmung nicht als vollständig kontingent wahr, sondern generiert spezifische Erwartungen aus der ›Selbstständigkeit auf Probe‹ im Rahmen der kurzen Kooperation mit dem freiberuflichen Personalberater, der sie (unwissentlich) an die gänzlich eigenständige Gründung heranführt. Da ihr diese erste Selbstständigkeit positive Antworten auf ihre skeptische Selbstbefragung geliefert haben (ob mir das so liegt, ob ich das gern mache?), geht sie von guten Erfolgsaussichten aus. »Natürlich mit dem Vorteil, dass ich das ja auch schon gesehen hab, dass das funktionieren kann und, ähm . also von daher . ist so die Entwicklung jetzt für mich nicht total überraschend. Ich hab, ich mein’, man kann nicht damit rechnen, dass man dann auch, ich hab auch Glück gehabt, keine Frage, aber das gehört halt auch dazu, dass man vielleicht zur richtigen Zeit den richtigen Riecher hat, oder die Zeitung im richtigen Moment aufschlägt oder den richtigen Draht hat zu demjenigen, der da grad am Telefon ist […]. Von der Entwicklung her kann man, glaub ich, viel machen, hab ich auch viel gemacht. Also es ist mir jetzt nicht alles in den Schoß gefallen. Aber ich hatte auch Glück, dass ich einfach da gute Kontakte dann auch geknüpft hab, wo sich dann eben auch Aufträge draus ergeben haben, oder dass das dann Leute waren, die das, die mich weiterempfohlen haben oder so.« (Anna Töbelmann 11/28-40) Auch Anna Töbelmann gibt an, prospektiv mit der Entwicklung, die ihre Laufbahn nimmt, gerechnet zu haben, auch wenn sie dies vorsichtiger formuliert als ihr Vater. Sie empfindet die Situation also ebenfalls nicht als vollständig kontingent, bindet dies jedoch nicht auf die stabilen Umstände zurück, sondern auf die Erkenntnis, dass sie als Selbstständige agieren kann. Ursächlich für die gelingende Unternehmung sieht sie den Umstand, dass sie viel gemacht hat. Sie spricht dem Zufälligen – dem Glück – zwar generell eine Bedeutung zu, dass sie erfolgreich ist, hat sie allerdings in ihrer Wahrnehmung nicht dem Glück, sondern ihrem Engagement zu verdanken: Der Erfolg ist ihr nicht in den Schoß gefallen und war daher auch nicht kontingent. Bemerkenswert ist, dass Anna auch den verbleibenden Rest Unwägbarkeit (Glück) indirekt auf ihre Könnerschaft zurückführt: Glückliche Umstände stellen sich hier keineswegs als Situationen dar, in denen sie ohne eigenes Zutun erfolgreich ist, vielmehr beweist sie bei solchen Gelegenheiten den richtigen Riecher, schlägt im richtigen Moment die Zeitung auf, stellt den richtigen Draht zu ihren Gesprächspartnerinnen her oder greift auf gut geknüpfte Kontakte zurück. Auch das Glück ist also keine reine Glückssache, sondern Ausdruck ihres erfolgreichen (richtigen und guten) Handelns. Das Erfolgsstreben von Anna Töbelmann ist jedoch nicht ungebrochen. Ihre Ambivalenz rührt nach eigenem Bekunden von den Lebensumständen her, die sie als Selbstständige vorfindet. Die veränderte Lebensführung veranlasst sie zu einer Reflexion ihres Erfolgsdenkens:
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Zwar war Xaver Töbelmann gleich zweimal mit der Insolvenz seiner Arbeitgeber konfrontiert, in jeder dieser Phasen wurden jedoch Kündigungsfristen eingehalten, die ausreichten, um eine angemessene Anschlussbeschäftigung zu finden.
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»Für mich ist das schon auch einfach ein Erfolg, also EIN Erfolg ist es, eben diese Zufriedenheit zu haben beruflich. Also so ein Arbeitsumfeld sich geschaffen zu haben, wo ich . Wenn ich das höre, so viele aus dem Freundeskreis, wo ich einfach heute sag, ich hab das viele Jahre gehabt, ich fand das auch gut so. Aus heutiger Sicht möchte ich’s nicht mehr haben. So, das ist für mich echt ein Erfolg irgendwie, ein persönlicher. Für mich ist es aber auch, also ich weiß nicht, ob ich dauerhaft, mir das reichen würde.« (Anna Töbelmann 31/31-37) In der Erzählung deutet sich nicht etwa eine Abkehr vom Erfolgsstreben an, sondern vielmehr ein Umdenken: Anna stellt die Bedeutung von Erfolg zur Disposition und rückt Zufriedenheit in den Fokus ihrer Betrachtungen. Einen negativen Gegenhorizont bildet dabei das fremdbestimmte Arbeitsumfeld in (Groß-)Unternehmen, demgegenüber die Schaffung eines Arbeitskontextes, der den eigenen Bedürfnissen entspricht und eine angenehme Alltagspraxis ermöglicht, wenn nicht als beruflicher, so wenigstens als persönlicher Erfolg zu verbuchen ist. Als problematisch wirkt sich allerdings der Umstand aus, dass Zufriedenheit in Annas Denken wiederum maßgeblich mit (beruflichem) Erfolg verknüpft ist und so zeigt sich das (selbst-)unternehmerische Erfolgsstreben als Generator eines Erfolgsbedürfnisses, das nur sehr mittelbar mit der Außenwahrnehmung bzw. sozialen Positionierung als Erfolgssubjekt zusammenhängt. Es ist so umfänglich internalisiert, dass es als eine innere Rastlosigkeit zum Ausdruck kommt. Dennoch bedingt die Reflexion über die Bedeutung von Erfolg eine Interferenz, die Anna Töbelmann – ganz im Sinne ihres Lebensentwurfs – in eine Entscheidungssituation übersetzt: »Und an dem Punkt werd’ ich mich auch irgendwann entscheiden MÜSSEN, ob ich sage, ich akquiriere jetzt weiter, ich stelle ein und ich wachse, mit allen Vor- und Nachteilen oder, ob ich sag, nee, ich möchte das nicht, dieses, das, was wir dadurch haben, ist völlig ausreichend. Dafür haben wir mehr Freizeit, weniger Stress, ähm, mit den ganzen Vorteilen… Und da bin ich ehrlich gesagt noch nicht so ganz entschlossen, also vom Gefühl her weiß ich schon, wo ich hin möchte, auf der anderen Seite seh’ ich halt auch das Potential und seh’ das schon auch als reizvollen Versuch, das noch weiter auszubauen.« (Töbelmann 31/01-08)
Fazit: Modifikation familialer Geschlechterrollen und Möglichkeitsraumerschließung Der Fall der Familie Töbelmann führt vor Augen, wie eine familiale Orientierung, die auf die Etablierung als erfolgreiches und damit respektables Mitglied einer – anhand konventionalisierter Lebensverläufe und Statuspositionen geordneten – Gesellschaft ausgerichtet ist, die fruchtbare Basis bildet für einen im Modus des Selbstunternehmertums realisierten pfadgenerierenden Lebensentwurf. Dabei zeigt sich, dass Anna Töbelmann zwar durchaus von dem internalisierten Steigerungszwang einer ökonomisierten sozialen Produktionslogik betroffen ist, welche die Governmentality Studies kritisch herausarbeiten, es werden aber auch entlastende Aspekte in ihrer Alltagspraxis deutlich: Einerseits vermitteln die familial geteilten Orientierungen und habituellen Dispositionen die Befähigung zu organisiertem und planvollem Handeln, sodass eine Alltagspraxis, die nach ökonomischen Maßstäben strukturiert und bewertet wird, Anna Töbelmann weder vor unlösbare Herausforderungen stellt noch ihren Vorlieben
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zuwider läuft. Sie ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, eine (relativ) souveräne Unternehmerin ihrer selbst. Auf der anderen Seite ermöglichen ihr die transmittierten, jedoch leicht modifizierten geschlechtsspezifischen Zuständigkeits- und Rollenverständnisse praktische Spielräume: Zwar ist sie durch die tradierten Muster weiblicher Lebensführung auf die Verantwortlichkeit als Hausfrau und maßgeblich erziehendes Elternteil festgelegt. Zudem muss sie aufgrund des Anspruchs, nicht auf diese Rolle ›reduziert‹ zu sein, eine Mehrfachbelastung in Kauf nehmen. Allerdings gewährt ihr die geschlechtsspezifische Verteilung von Zuständigkeiten und Verantwortungen in beruflicher Hinsicht auch einen Entwicklungsraum, der für sie als Hauptverdienerin der Familie nicht denkbar wäre, denn sie kann unternehmerische Risiken eingehen, ohne dabei ihre Existenzgrundlage zu gefährden. Als Nebenverdienerin rückt zwar die traditionelle Organisationskarriere in weitere Ferne, als Hauptverdienerin wäre eine so risikobehaftete und zugleich jedoch mit so hohen Profilierungschancen ausgestattete Karriere wie die der Unternehmerin angesichts des ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses nicht denkbar. Für die Erfolgsgerichtetheit der Selbstunternehmerin ist dies deshalb entlastend, weil die unvermeidlichen Risiken der beständigen Erfolgssteigerung gemildert werden. Dies ist auch insofern der Fall, als die Selbstständigkeit – insbesondere im finanziell abgesicherten Modus – hinsichtlich der Definition des Erfolgs einen größeren Deutungsspielraum zulässt. Dieser Effekt wird durch die Mehrfachzuständigkeit verstärkt, denn Erfolgseinbußen in einem Lebensbereich (Selbstständigkeit) können gegebenenfalls in einer anderen Sphäre (Familie) als Gewinn verbucht werden. Dennoch können auch die individuellen Spielräume und Risikobeschränkungen nicht die Ambivalenz entkräften, die der internalisierten ökonomischen Grundhaltung gegenüber dem eigenen Lebensentwurf immanent ist: Die beständige alltagspraktische Effizienzsteigerung und die entgrenzte Erfolgssteigerung sind Anna Töbelmann ein inneres Bedürfnis und zugleich Quelle ihrer Zufriedenheit und Selbstbestätigung. Zugleich sind sie auch Ursache für eine von ihr verspürte Mehrfachbelastung und einen Leistungsdruck, der die Gefahr birgt, die gewonnene Lebensqualität wieder zu beeinträchtigen. Der Konflikt zwischen einer stressfreien Lebensführung und einer an beständig wachsendem Erfolg orientierten Pfadentwicklung ist von Anna Töbelmann einverleibt. Beide Aspekte tragen zu ihrer Zufriedenheit bei, konterkarieren sich jedoch bis zu einem gewissen Grad wechselseitig. Insofern ist es eine Frage der Entscheidung.
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Familie Berg
Kurzportrait Familie Berg stammt aus Süddeutschland, wo Mutter Gundula (67) und Vater Joseph (67) einige Jahre zusammen eine Landzahnarztpraxis betrieben haben. Die beiden Kinder Sebastian (39) und Jana (36) – sie ist die Gründerin im Zentrum dieses Falls – sind daher in einem relativ kleinen Ort mit etwa 3000 Einwohnern aufgewachsen. Gundula Berg ist, ebenso wie Joseph Berg, Zahnmediziner*in. Sie lebt bereits seit ihrer Kindheit in besagtem Dorf und ihr Vater war vor ihr der örtliche Zahnarzt, sodass sie ihre
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Arbeit als Fortführung des heimischen Betriebs und zugleich als familiale Verpflichtung versteht (GB: 05). Sie besucht im Ort die Grundschule und macht nach einigen Auseinandersetzungen mit dem Vater das Abitur in einem Internat. Ihre Mutter empfindet sie dabei als große Unterstützung: Sie setzt sich für die akademische Ausbildung ihrer Töchter ein, sodass Gundula schließlich Zahnmedizin und ihre Schwester Pharmazie studiert. Im Studium lernt Gundula Joseph kennen. Joseph Berg stammt – anders als Gundula – nicht aus einer Ärztefamilie, allerdings ist sein Vater promoviert und zwei seiner drei Geschwister sind ebenfalls akademisch ausgebildet. Bereits im Studium interessiert sich Joseph für das Reisen. Er absolviert ein Auslandsjahr und erkundigt sich über Möglichkeiten, als Zahnarzt in der Entwicklungszusammenarbeit tätig zu werden. Gundula betont in ihrer Erzählung, dass sie diesen Interessen nicht im Wege stehen wollte, stellt aber heraus, dass sie sich verpflichtet fühlte, ihren Vater in seiner Praxis zu unterstützen. So steht Joseph vor der Wahl, ohne sie zu reisen oder mit ihr aufs Land zu ziehen. Nachdem beide ihre Assistenzzeit in einer Stadt nahe des Studienortes verbringen und in dieser Zeit heiraten, ziehen sie schließlich Ende der 1960er Jahre gemeinsam in Gundulas Heimatdorf, wo noch im selben Jahr Sebastian geboren wird. Zunächst arbeiten Gundula und Joseph in der Praxis von Gundulas Vater, aufgrund einiger Meinungsverschiedenheiten entschließen sie sich jedoch dazu, eine eigene Praxis in der Nähe zu eröffnen und auf diese Weise mit etwas mehr Distanz für die vom Vater gewünschte Entlastung zu sorgen. Anfang der 1970er wird Jana geboren. Sie und ihr Bruder verleben nach übereinstimmender Wahrnehmung aller Familienmitglieder eine typische Dorfkindheit, spielen viel im Freien, sind – ohne feste Verabredungen treffen zu müssen – zumeist mit den Kindern aus der Nachbarschaft unterwegs und besuchen zunächst die örtliche Grundschule, später dann als Fahrschüler das über einen Schulbus angeschlossene Gymnasium der nächstgrößeren Ortschaft (GB: 12). Die Familie unternimmt gemeinsam viele Reisen und obwohl beide Eltern – in unterschiedlichem Umfang – berufstätig sind, legen sie Wert auf gemeinsame Familienzeiten (gemeinsame Mahlzeiten, regelmäßige Spaziergänge und Ausflüge). Ende der 1980er Jahre – Jana schließt gerade die Mittelstufe ab – lassen sich die Eltern scheiden. Sie geben die gemeinsame Praxis auf und Joseph geht im Zuge einer Entwicklungszusammenarbeit nach Südamerika. Sebastian zieht zu dieser Zeit in eine Großstadt, um das Studium der Physik aufzunehmen, später zu promovieren und eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Jana zieht gemeinsam mit der Mutter in eine nahegelegene Stadt, wo die Mutter eine Zahnarztpraxis übernimmt. Da Jana zwar eine sehr gute Schülerin ist, mit ihrer Schullaufbahn jedoch hadert, schlägt die Mutter einen Auslandsaufenthalt an einer deutschen Schule in Südeuropa vor, an der eine ihrer Freundinnen als Lehrerin arbeitet. Nach ihrer Rückkehr macht Jana Anfang der 1990er Jahre das Abitur und beginnt im Anschluss – zunächst vor Ort, später in der Großstadt, in der inzwischen ihr Bruder lebt – verschiedene Studiengänge in diversen Fachrichtungen (u.a. Jura, Geschichte und Informatik). Mitte der 1990er Jahre absolviert sie ein Berufsgrundbildungsjahr und schließt eine Ausbildung in einer Druckerei an. Die Arbeit im Betrieb gefällt ihr, sie wird allerdings nicht übernommen und führt diesen Umstand auf ihr ausgeprägtes politisches und gewerkschaftliches Engagement zurück. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit kommt sie für ein Jahr in leitender Funktion in einer mehrsprachigen Zeitschrift
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unter, die als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Eingliederung arbeitsloser Jugendlicher gegründet wurde. Nachdem die Maßnahme ausläuft, arbeitet Jana freiberuflich als Grafikerin bis sie ein Philosophiestudium aufnimmt und als Stipendiatin gefördert wird. Ende der 2000er Jahre schließt sie das Studium ab und macht sich selbstständig. Zugleich nimmt sie ein berufsbegleitendes Studium im Bereich der angewandten Kunst auf, dass sie zum Zeitpunkt des Interviews aktiv verfolgt.
Familiale Dispositionen Durchsetzungsvermögen, Selbstbestimmtheit und Freiheitsliebe Mutter Gundula Berg vermutet eine weibliche Traditionslinie in ihrer Familie, die sich auf das Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Leben und die Möglichkeit, dieses auch durchzusetzen, bezieht. Daher beginnt sie ihre Erzählung mit einer Zusammenfassung der Lebensgeschichte ihrer eigenen Mutter, die ihr – und mittelbar auch ihrer Tochter Jana – viel Durchsetzungsvermögen mitgegeben hat (GB: 02). Aufgewachsen auf einem Bauernhof in einem sehr kleinen süddeutschen Dorf konnte die Mutter bzw. Großmutter durchgesetzt, dass sie als erstes und einziges Kind der Familie eine höhere Schulbildung absolviert. So besucht sie sechs Jahre ein Klosterinternat und erhält eine Empfehlung für das Abitur. Die Aufnahmeprüfung für die Oberschule besteht sie zwar nicht, da sie aber nicht zurück aufs Land ziehen möchte, siedelt sie in eine nahegelegene Großstadt um und besucht dort eine Wirtschaftsschule. Nach Gundulas Einschätzung hatte die Mutter schon früh den Wunsch, in die weite Welt zu gehen und so reist sie nach London, um dort wiederum ein Internat zu besuchen und Englisch zu lernen (GB: 03). Nach einem Jahr nimmt sie eine Anstellung als Au Pair in Frankreich an, wird jedoch zu Kriegsbeginn ausgewiesen und kehrt zurück nach Deutschland. Über eine Verwandte erhält sie eine Stelle als Auslandskorrespondentin, die sie aufgrund ihres unzureichenden Businessenglischs wieder aufgeben muss. Daraufhin arbeitet sie als Sprechstundenhilfe in der Zahnarztpraxis eines angeheirateten Cousins. Auf Anraten der Cousine beschließt sie schließlich ebenfalls einen Zahnarzt zu heiraten und inseriert in einer Fachzeitschrift. Auf diesem Wege lernt sie schließlich ihren Ehemann, den Vater von Gundula, kennen. Gundula zeigt sich beeindruckt von der Biografie ihrer Mutter: das ist, find ich, schon eine interessante Lebensgeschichte, äh, die viel Durchsetzungskraft fordert, und drum denke ich eben, ähm, dass ich da viel mitbekommen habe, äh, ja das Leben zu bestehen. Und möglicherweise hat Jana auch, das weiß man nicht, welche Anlagen also bisschen Mut oder, ja, was da alles notwendig ist (GB: 03f.) Nicht nur stellt sie die Bewegtheit und Weltoffenheit, das Interessante an der Lebensgeschichte als beachtenswert heraus, sie verweist auch auf die Durchsetzungskraft bzw. auf den hierzu erforderlichen Mut als hilfreiche Eigenschaften, um das Leben zu meistern. Sie interpretiert beides als Anlagen, die sich von der Mutter auf sie und schließlich auf Jana übertragen haben, und gibt ihrerseits Wertschätzung gegenüber der Mutter an ihre Tochter weiter, die sich ebenfalls bewundernd auf ihre Großmutter bezieht: Und ich mochte aber meine, meine Großmutter aus dem Grund sehr, sehr gerne, weil die nicht so süßlich war. […] das war so eine richtig schicke Dame. Und das hat mir irgendwie schon relativ früh hat mir das schon imponiert (JaB im Familiengespräch: 27f.). Jana Berg drückt dabei nicht nur Zuneigung, sondern auch Achtung gegenüber
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der Großmutter aus, die ihr nicht in erster Linie als nette oder gar niedliche (süßliche) ältere Dame, sondern als Frau von Format in Erinnerung ist. Auch Joseph Berg charakterisiert seine Schwiegermutter als herbe und gerechte Frau (JoB im Familiengespräch: 27). Mit der Durchsetzungsfähigkeit wird also in der Familie auch Authentizität bzw. eine Haltung der Selbsttreue bewundert. Die Verwirklichung der eigenen biografischen Vorstellungen – auch gegen Widerstände – ist für Gundula Berg ein wichtiger Aspekt ihrer eigenen Lebensgeschichte: Als sie in der Schule zwischenzeitig so schlechte Noten schreibt, dass das Abitur unwahrscheinlich wird, meldet der Vater sie auf einer Modeschule an und nach den Ferien, äh, hats dann geheißen, ja, du bist aus der Schule abgemeldet. [… ich] hab gesagt, das kommt überhaupt nicht in Frage, und bin einfach wieder hingefahren, und hab mich wieder angemeldet (GB: 04). Als sie im Studium die Anmeldung für einen Laborplatz verpasst und der Vater sich unwillens zeigt, das sich nun verzögernde Studium weiter zu finanzieren, hebt sie rasch ihr verbleibendes Budget von der Bank ab und weigert sich, nach Hause zu kommen. Dabei steht in Gundulas Erzählungen nicht so sehr das Kämpferische im Vordergrund. Vielmehr dokumentiert sich bei Schwierigkeiten eine konsequente Suche nach Auswegen: Not macht erfinderisch (GB: 06). Hürden bleiben nicht unhinterfragt, vielmehr wird nach Möglichkeiten gesucht, die eigenen Interessen und Ziele weiter verfolgen zu können. Dies muss nicht zwingend konfliktiv geschehen: »ich war in Latein sehr schlecht, und dann hab ich mir gedacht, das leg ich ab, dann hab ich eine Sorge weniger. Aber, ich war so schlecht, dass ich eine Fünf hatte. Und mit der Fünf ins Abitur zu gehen, das war ein Vabanque-Spiel. Und dann bin ich zu der Direktorin gegangen und hab gesagt, ich hätt ihr einen Vorschlag zu machen, äh, sie soll mir auf die Prüfung eine Vier geben, und ich akzeptier dafür das kleine Latinum, und die war so perplex, dass sie gesagt hat, ja, ist eine gute Idee. Und ich war die Sorgen fürs Abitur, äh, etwas hat mich nicht mehr so sehr gedrückt, gell? […] also offensichtlich ist das schon so ein, auch so ein Durchsetzungsvermögen, wo ich denke, das ist eine bestimmte Anlage von meiner Mutter, das einem in der Not irgendwas einfällt, gell? Was man dann, wie man sein Ziel erreichen kann. (GB 06/30-44) Das Vertrauen, dass in schwierigen Lagen (unkonventionelle) Möglichkeiten erschlossen werden können, die ein Weiterkommen gewährleisten, wurde bereits als wesentliche Grundlage des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ herausgestellt. Die in der Erzählung hervortretende Unkonventionalität ist dabei äußerst voraussetzungsreich: Sie bedarf nicht nur einer Souveränität und Zwanglosigkeit im Umgang mit Institutionen und – im vorliegenden Fall des Bildungssystems – hochgradig standardisierten Normen, sondern setzt auch den gekonnten Austausch mit Autoritäten voraus. Diese ›institutional literacy‹ (Cushman 1999) zeigt sich auch als Stärke der Tochter Jana. Als sie etwa vor der Berufsausbildung ein Grundbildungsjahr absolvieren möchte, legt sie die formalen Voraussetzungen relativ großzügig aus: »da musst man irgendwie so ne Garantie haben, von nem Arbeitgeber, dass der dich nach diesem Jahr übernimmt, beziehungsweise, dass du praktisch die Grundbildung für diesen Betrieb machst. Da hab ich mir dann einfach irgendeine Bescheinigung von irgendjemanden geholt und hab da angefangen und war dann in der Berufsschule recht gut und dann bin ich einfach vermittelt worden« (Jana Berg 30/46-31/03)
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Auf der anderen Seite setzt die selbstbestimmte Entfaltung des Lebensentwurfs, wie auch der Rückgriff auf unkonventionelle Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen, Wünsche und Ziele ein Gespür für Gelegenheiten und das beherzte Ergreifen von Chancen, d.h. ein gewisses Maß an Mut und Entschlossenheit, voraus. In einem selbstständigen Leben – so fasst es Joseph Berg zusammen – ist das Risiko so hoch wie der Spaß (JoB: 02). Mit dieser spielerischen Leichtigkeit trifft Joseph durchaus weitreichende Entscheidungen. So erzählt er etwa, dass er nach seiner ungeplanten, gesundheitlich bedingten Rückkehr aus Südamerika sich abermals an einem neuen Ort von Grund auf etablieren musste und zufällig, wie die Jungfrau zum Kind, zu seiner aktuellen Niederlassung gekommen ist (JoB: 08): »Ich habe hier unten an der Bank gefragt, wie die Mietpreise hier sind, und dann sagte der Bankbeamte: ›Was sind Sie denn von Beruf ?‹ Dann sage ich: ›Zahnarzt‹. Dann sagt er: ›Ja, wir suchen seit fünf Jahren dringend einen Zahnarzt‹. Dann habe ich gesagt: ›Ja, ich brauche zwei Dinge. Ich brauche ein Praxisgebäude, und brauche ein Wohngebäude‹. Sagt er: ›Ich habe beides da liegen‹. Und in acht Tagen waren wir eingezogen.« (Joseph Berg 08/01-09) In der selbstbewussten, eigenständigen Haltung stimmen Mutter und Vater Berg überein. Selbstständigsein ist etwas, das Joseph ein Leben lang genossen hat und er glaubt, diese Wertschätzung an seine Tochter weitergegeben zu haben: dieser Begriff der Selbstständigkeit, den ich persönlich sehr hoch schätze. Also, … ich denke, dass das mit Sicherheit so immer in den Gesprächen, die wir immer geführt haben, so, ist es natürlich eingeflossen. Und sie hat auch das Beispiel gesehen, dass es eigentlich ganz schön ist auch (JoB: 02). Der Vater nimmt also an, dass Selbstständigkeit nicht nur als expliziter Wert an die Tochter weitergegeben, sondern darüber hinaus auch nach als angenehme, bereichernde Alltagspraxis erfahrbar wurde. Zugleich korrespondiert die Orientierung an Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit mit der Würdigung eines interessengeleiteten und abwechslungsreichen Lebens. Dies dokumentiert sich bereits in Gundulas respektvollem Bezug auf die bewegte Jugend ihrer Mutter und kann auch für Vater Joseph als wesentliches Motiv festgehalten werden. Dieser wollte nach eigenem Bekunden bereits seit dem Studium immer mal wieder weg und immer mal wieder was Anderes machen (JoB: 07). Abwechslung hat bei Joseph Berg also sowohl eine räumliche als auch eine thematische Dimension und zeigt sich nicht zuletzt in der Entscheidung, nach Südamerika auszuwandern. Interessenvielfalt erkennt und schätzt er auch bei seiner Tochter: »Jana hat viele Interessen gehabt. Jana hat gerne Sport gemacht. Jana ist gern geritten. Und Jana hat immer alles mit Power gemacht. Also, Reiten, musste ich jeden Tag fahren. Also da, wenn Sie was gemacht hat, war das also immer so. Und sie war einfach ein wahnsinnig liebes Kind. Und Jana hat gut basteln können, die hat ein gutes Hirn gehabt, die hat einfach . die hat es draufgehabt. Die hat eine nette Art gehabt. Also Jana hat es wirklich einfach draufgehabt. Es ist einem nicht schwergefallen.« (Joseph Berg 08/42-48) Die Interessenvielfalt von Tochter Jana stellt Joseph Berg einer ebenso vielseitigen Befähigung gegenüber. Besondere Betonung findet dabei der Modus, in dem Jana Berg ihre Interessen ausübt: Joseph stellt die Power heraus, d.h. die Kraft, Engagiertheit und Konzentriertheit, mit der sich Jana ihren Vorlieben widmet und verweist zudem auf
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die gewinnende Art, mit der sie der Welt begegnet. Ein selbstbestimmtes, interessengeleitetes Leben setzt in diesem Sinne also eine komplizierte Könnerschaft voraus, die Joseph Berg seiner Tochter zuspricht (die hat es draufgehabt). Vielfältige Interessen reichen dabei nicht aus, vielmehr müssen diese auch konsequent verfolgt und sozialverträglich durchgesetzt werden. Und es bedarf zudem einer spezifischen Priorisierung, die Joseph Berg bei beiden Kindern feststellt: Auf die Frage, ob Sebastian und Jana wohl den Anspruch hätten, möglichst viel Geld zu verdienen, entgegnet der Vater Nein, glaube ich mit Sicherheit nicht. Nein, ich denke, dass sie einfach so eine Eigenverwirklichung beide anstreben (JoB: 15). Gegenüber den Selbstverwirklichungsansprüchen der Kinder stellen die Eltern ihre eigenen Vorstellungen über deren potenzielle Laufbahnen zurück (Als Vater hat man natürlich bei zwei Kindern die Hoffnung, dass einer den gleichen Beruf ergreift, den man so selber hat. Das war es also nicht; JoB:04). Zwar weisen sowohl Gudrun als auch Joseph Berg darauf hin, dass aus ihrer Tochter aufgrund deren Geschicklichkeit und der hohen Sozialkompetenz eine ausgezeichnete Zahnärztin hätte werden können, respektieren jedoch ihre biografischen Entscheidungen. Dabei entfernen sie sich durchaus von den Interessenlagen der Tochter, insofern sie die konkreten Themen und Aufgaben, denen sich Jana Berg mit ihrer Selbstständigkeit widmet, nicht nachvollziehen können: »Also äh, es sind Phasen dabei, wo ich finde, dass sie sich überfordert, weil sie immer mehrgleisig arbeitet. Aber die Ziele, äh, äh, ich könnt nicht sagen, dass mich die nicht interessieren, natürlich interessieren mich’s, äh interess-, aber da hab ich gar keine Meinung dazu. Also zum Beispiel, ob sie jetzt äh, äh, Grafikerin ist oder Druckerin oder Philosophin, äh, mir ist eigentlich nur wichtig, dass einem das gefällt, was man tut. Dass man sich da auch engagiert und einbringt, und mir gefällt das gut, dass sie diese beide, beiden Berufe jetzt eigentlich kombinieren möchte.« (GB 31/43-32/02) Neben der inhaltlichen Indifferenz zeigt Gundula also ein differenziertes Verständnis und sorgende Anteilnahme hinsichtlich der grundsätzliche Form des Lebensentwurfs, wie auch mit Blick auf die Ziele und Wünsche ihrer Tochter: Sie kann nachvollziehen, dass Jana ihre verschiedenen Interessen verbinden will und engagiert ihren Leidenschaften folgt – beides findet Gundulas ausdrücklichen Zuspruch. Besorgt zeigt sie sich jedoch angesichts der Belastungen bzw. Überforderungen, die mit der Lebensform einhergehen. In ähnlicher Weise äußert sich Joseph Berg. Auch er kann nicht mit Bestimmtheit sagen, worum es sich bei der Selbstständigkeit der Tochter eigentlich handelt: »ich bin irgendwie, wenn Sie mich jetzt so konkret fragen, nicht ganz sicher, in welchem Bereich sie sich eigentlich selbstständig gemacht hat. Wir haben zwar jetzt eine Woche zusammen verbracht, aber es sind also verschiedene Projekte angesprochen worden und ich denke, sie ist also äußerst variabel. […] sie ist sehr variabel und ich glaube nicht, dass sie im Augenblick so fixiert ist, traue ich mich jetzt nicht zu sagen. Wenn Sie mich jetzt fragen, was macht die eigentlich, traue ich es mich nicht zu sagen.« (Joseph Berg 02/09-19) Auch der Vater nimmt vor allem den Modus des Lebensentwurfes wahr und nicht so sehr die Inhalte und Ziele, mit denen sich die Tochter beschäftigt. Er beschreibt Jana – so ließe sich mit Boltanski und Chiapello feststellen – als kompetente Projektarbeiterin,
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die sich durch hohe Variabilität und Flexibilität und nur wenige fixierende Verbindlichkeiten und Bindungen auszeichnet. In den Erzählungen der Eltern dokumentiert sich, wie ein Lebensentwurf unter den Vorzeichen der cité par projets auf die Elterngeneration zurückwirkt und innerfamilial intergenerationale Unsicherheiten und Distanzen verursacht. Zudem wird die Kontingenz des Lebensentwurfs der Tochter auch in der Bezugnahme der Eltern sichtbar: wenn Sie mich um ein Zukunftsziel, wo ich sie sehe, fragen, kann ich das nicht nennen, weil ich’s nicht kenn. […] Aber ich könnte dazu, zu dem, was ich gesagt hab, wo ich sie sehe, sagen, ich wünsch ihr, dass sie ihren Traum verwirklichen kann. Aber da seh ich sie nicht, weil, ja. Weil ich nicht weiß, wie das ausschauen soll (GB: 39). Es zeigt sich jedoch auch, dass die Eltern, unbenommen der mangelnden Einschätzungsmöglichkeiten, die Selbstverwirklichung der Tochter erhoffen. Hierin dokumentiert sich nicht nur die hohe Relevanzierung persönlicher (Lebens-)Ziele, sondern auch die vorbehaltlose Unterstützung durch die Eltern, die als Teil der familialen Ermöglichungsstruktur zur Herausbildung und Durchsetzung eines Lebensentwurfs des Typus ›Drift‹ gelesen werden kann.
Integrität und sozialer Zusammenhalt Vertrauensvolle Unterstützung, Loyalität und Integrität sind Aspekte einer zentralen familial geteilten Orientierung auf soziale Beziehungen und Gemeinschaftlichkeit. Die Familie hat einen großen Freundeskreis und unternimmt regelmäßig Reisen, um alte Bekanntschaften aufzufrischen. Auch sind alle Familienmitglieder in die Dorfgemeinschaft integriert, sind in verschiedenen Vereinen aktiv und gestalten die Dorffeste mit. Joseph Berg merkt gleich zu Beginn des Interviews an, dass seine Tochter einen sehr großen und guten Bekanntenkreis hat (JoB: 01). Jana und Sebastian sind bereits in ihrer Jugend politisch aktiv und Jana macht später in ihrem Berufsalltag keinen formalen Unterschied zwischen Projekten, die dem Broterwerb dienen und solchen, die ihrem sozialpolitischen Engagement zuzurechnen sind. Die familial ausgeprägte soziale Orientierung bildet auch die logische Basis, nach der sich Gundula und Joseph trotz Selbstverwirklichungsansprüchen und Reisewunsch und ungeachtet der familialen Konflikte, die sich Gundulas Schul- und Studienzeit kennzeichnen, im Heimatdorf der (Groß-)Eltern niederlassen. »Also das Studium bezahlen, damit die Tochter dann da eben im heimischen Betrieb ange-, und das war für mich, diese Verpflichtung so äh, äh klar, wie ich dann meinen früheren Mann kennen gelernt hab, der hat eine Stelle angeboten bekommen nach dem Staatsexamen […] und ich weiß jetzt gar nicht mehr, ob wir schon verheiratet waren, oder kurz davor, die wollte er gern annehmen, und dann hab ich gesagt, ja, ist okay, ich versteh das, da kannst du hingehen, aber ICH geh nach [Herkunftsdorf]. Also ich hätte alles aufs Spiel gesetzt. Und das ist, ja, das war schon krass damals eigentlich, gell? Dass man sich über alle eigenen Bedürfnisse oder Wünsche äh, äh solchen Bedingungen so unterwirft. Und das war eben auch sehr altmodische Erziehung« (Gundula Berg 05/03-16) Zwar kritisiert sie die Unterordnung persönlicher Lebenspläne aus familialer Verpflichtung als altmodisch und sie selbst (wie auch Joseph) nimmt bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder eine konträre Haltung zur Durchsetzung dynastischer Bestrebungen ein. In der Erzählung dokumentiert sich allerdings der Respekt vor familialen – oder
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allgemeiner – sozialen Pflichten. Auch zeigt sich, dass Gundula diese – mindestens rückblickend – nicht auf ihren Mann ausdehnt. Sie löst den Interessenkonflikt, indem sie Joseph die Entscheidung überlässt und damit nicht nur die Integrität gegenüber ihrer Herkunftsfamilie wahrt, sondern auch den Lebensentwurf ihres Mannes respektiert und im Zweifelsfall auf die Beziehung verzichtet. In der Orientierung der Familie sind also in spezifischer Weise Gemeinschaftsorientierung bzw. soziale Verbindlichkeit mit der Achtung von Individualinteressen und -entscheidungen verknüpft. Dies zeigt sich auch in der Haltung gegenüber den Kindern. So antwortet sie auf die Frage, wie die Selbstständigkeit der Tochter ihrer Wahrnehmung nach anläuft: »Ah, nein, ich mach mir keine Sorgen. Aber das, äh, muss man sich im Laufe der Zeit äh, also finde ich, überhaupt abgewöhnen, weil ein 36jähriger Mensch hat auch das Recht einmal einen Fehler zu machen, ohne dass man meint, dass zu Hause eine heulende Mutter sieht, also, äh, die Abnabelung muss in gewisser Weise schon geschehen. Äh, für mich genügt, als Mutter, das Bewusstsein für die Kinder, wenn irgendwas ist, ich stehe zur Verfügung. Ob das Zeit ist oder finanziell, aber ich möchte nicht, äh, ähm, Ratschläge geben« (Gundula Berg 37/16-23) Auch hier wird die Verbindung aus Respekt vor der Eigenständigkeit der Tochter, welcher auch das Recht auf eigene Fehler einschließt, und einer vorbehaltlosen Zugewandtheit deutlich, die hier den Charakter einer bewussten Entscheidung bzw. Handlungsmaxime erhält: Gundula legt Wert darauf, sich keine Sorgen zu machen und reflektiert, dass mit dem Einräumen von Eigenständigkeit zugleich auch ein Abstandnehmen einhergeht. Ebenso wichtig ist es ihr, bei Problemen für die Kinder da zu sein, wobei in der Erzählung nicht die Unterstützung selbst im Vordergrund steht, sondern das Bewusstsein der Kinder, dass sie sich dieser Unterstützung gewiss sein können. Damit wird die Verlässlichkeit bzw. die Verbindlichkeit des mütterlichen Beistandes betont. Zugleich verweist Gundula entschieden auf die Grenzen ihrer Hilfeleistungen. Sie will keine (unerbetenen) Ratschläge erteilen, wie sie anhand eines Beispiels verdeutlicht: eine Zeit lang haben wir uns über Geldverwaltung, weil sie eben immer sich bei mir beklagt hat, dass sie nicht zurechtkommt […]. Und da hab ich dann so bei manchen Dingen gesagt, wie ich, äh, das mache, aber nie gefragt, hat das bei dir geklappt? Oder da nachgeforscht, ob sie das umsetzt, oder, sondern ich hab’s halt einfach so gesagt, wie ich es mache, das ist eine Möglichkeit (GB 32/30-36). Unterstützung möchte Gundula auf das Erwünschte beschränken und damit sicherstellen, dass sie nicht als übergriffig empfunden wird. Dies zeigt sich auch in der betonten Subjektivität des Rats, den sie nicht als generelle Handlungsanweisung, sondern als persönlichen Erfahrungsbericht erteilt. Mit dem Respekt vor der Eigenständigkeit der Kinder geht zugleich ein ausgeprägtes Vertrauen in deren Fähigkeiten einher. Vertrauen wird dabei nicht nur von Gundula, sondern auch von Joseph Berg durch das explizite Absehen von Nachforschungen oder Überprüfung demonstriert: Jana war immer eine sehr gute Schülerin. Eine ausgesprochen gute Schülerin. Ist zu allem befähigt. […] Und hat dann das Abitur, denke ich, ganz ordentlich, ich habe das Zeugnis nie angeschaut, ganz ordentlich in P. gemacht (JoB: 04). Dabei verlassen sich die Eltern auf die Integrität der Kinder, auf die sie sich mindestens so stolz zeigen, wie auf deren intellektuelle Leistungen. Der Vater spricht beiden Kindern ein hohes Wahrheitsempfinden und ein hohes Gerechtigkeitsempfinden zu: Jana ist ein ausgesprochener Wahrheitsfreak. Es ist ganz interessant. Sie hat noch nie gelogen. Nein, die hat noch-, selbst Scheinlügen.
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Das finde ich toll (JoB: 06). Jenseits der Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage dokumentiert sich in ihr das Prinzip, nach dem das soziale Gefüge der Familie Berg funktioniert: Die Eltern schreiben ihren Kindern offenbar schon zu einem frühen Zeitpunkt die gelungene Internalisierung zentraler sozialer Spielregeln zu. Die Grundlagen der Eigenständigkeit – ein an klaren (Gerechtigkeits-)Maßstäben orientiertes und lauteres Handeln – werden Sebastian und Jana durch die Eltern also frühzeitig zugesprochen und auf diese Weise zugleich eingefordert. Auch nehmen Gundula und Joseph die Meinungen und Einschätzungen ihrer Kinder ernst, was angesichts der in ihren Augen verantwortungsvollen und achtsamen Haltung der beiden nur konsequent ist: ich habe dann einmal von Sebastian eine Information gekriegt. Hat er gesagt: ›Papa, hole doch Jana mal ein bissl frühzeitiger da ab.‹ Sebastian war da immer sehr verständnisvoll, auch für seine Schwester, und wenn er was gesagt hat, war das für mich sehr wichtig. Das war eigentlich so die erste Adresse (JoB: 09). Diese Grundorientierungen sind die Basis für eine familiale Alltagspraxis, die in der Erinnerung der Eltern ohne strenge Regularien und Vorschriften auskommt. So gibt es beispielsweise keine Notwendigkeit, das Einhalten von Vereinbarungen und gemeinsamen Zeitstrukturen zu erzwingen: »die Tagesstrukturierung war eigentlich selbstverständlich, sagen wir mal so. Das war jetzt nicht ein Zwang, aber wo sie, wenn man gesagt hat, man isst um sieben Abendessen, dass die da vorher irgendwie eintrudeln müssen, das war, glaub ich, nicht mit Strafe bedroht, oder keine Pflicht, sondern eher selbstverständlich für ein kleines Kind, gell?« (GB18/23-27) Die Erziehung ist also – in Gundulas Rekonstruktion – nicht auf eine Logik ausgerichtet, die mit negativen Konsequenzen bei Regelverstößen operiert, sondern basiert auf der Vermittlung von Selbstverständlichkeiten, verbindet also die (gemeinsame) Mahlzeit mit der Notwendigkeit, pünktlich zu sein. Auf diese Weise werden Handlungsstrukturierungen frühzeitig in die Verantwortung der Kinder gelegt – sie werden zur Selbststeuerung angehalten. Dies zeigt sich auch hinsichtlich der Aufgabenverteilungen bei der Unterstützung im Haushalt. Da die Familie eine Haushälterin beschäftigt, dient die Übernahme von häuslichen Pflichten durch die Kinder eher erzieherischen Zwecken. Mutter Gundula erinnert sich lediglich daran, dass es ihr wichtig war, dass Rechte und Pflichten gleich verteilt sind. Äh, meine Mutter hat sich zum Beispiel immer aufgeregt, wenn der Sebastian die Spülmaschine ausgeräumt hat. Dann, ja also, für mich war das wichtig. Dass jeder das Gleiche darf oder muss (GB: 18). Die Beteiligung an der Hausarbeit dient in Gundulas Verständnis also nicht der Vermittlung von Pflichtbewusstsein oder Disziplin, sondern – in Abgrenzung zu ihrem eigenen Elternhaus – der Hervorbringung einer gleichberechtigten, von Geschlechterrollen entkoppelten Praxis. Jenseits der emanzipatorischen Dimension sehen die Eltern keinen Anlass, Hausarbeit als explizit erzieherische Maßnahme zu instrumentalisieren. Dies führen sie auch auf das Verhalten der Kinder zurück, die sich ganz selbstverständlich an der Haushaltsführung beteiligen. Feste Aufgabenverteilungen gibt es daher nicht: »das hat sich eigentlich nicht so ergeben, weil die Kinder eigentlich immer hilfsbereit waren. Also, es hat selten was gegeben, wo sie nicht mit zugegriffen haben. Also, das war eigentlich nicht fest strukturiert. Ich denke, so, wenn es einmal für den Garten war, oder irgendwelche
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Sachen die zu erledigen waren, waren die eigentlich immer . hat es eigentlich nie so: ›Will ich nicht, möchte ich nicht, heute nicht‹, oder so. Nein, hat sich eigentlich nicht so ergeben gehabt. Müsste ich einmal so überlegen, ob man gesagt hat, der trocknet ab, der spült ab, das war eigentlich nicht. Eigentlich nicht in dem Ausmaß. Nein.« (Joseph Berg 10/12-19) Joseph Berg verweist in dieser Erzählung auf die Fähigkeit der Kinder, Unterstützungsbedarfe zu erkennen und sich selbstständig einzubringen. Nebensächlich ist dabei, ob eine Aufforderung zur Hilfe ausgesprochen wird oder nicht. Die Kinder werden als hilfsbereit und wenig widerständig wahrgenommen und ein gemeinsames Bearbeiten der alltäglichen Aufgaben, bei dem alle Familienmitglieder mit anpacken, ist in Josephs Erinnerung als selbstverständlicher, unausgesprochener Modus der Alltagspraxis etabliert. Diese Fraglosigkeit der gegenseitigen Unterstützung bei der Hausarbeit wird intergenerational geteilt, wurde also offenbar familial transmittiert: »ich wusste zumindest, wie die Waschmaschine funktioniert, wie der Trockner funktioniert, da kann ich mich erinnert, das heißt, ich hab da wohl denn schon auch Sachen mal rein gesteckt. […] Spülmaschine auch, so abräumen, auftragen und da der Mama im Haushalt helfen. Das war glaub ich insgesamt, weil meine Eltern eigentlich so ne Gleichberechtigungsfragen wirklich SEHR, SEHR ernst genommen haben, auch so von Aufgabenverteilung von meinem Bruder und mir und so was. […] dass die immer extrem stark drauf geachtet haben, dass das nicht so . also nicht ungleichberechtigt ist, beziehungsweise nicht so stark geschlechtsspezifisch. Das heißt, wir haben, glaub ich, BEIDE relativ wenig gemacht« (Jana Berg 23/33-43) Der emanzipatorische Anspruch der Erziehung vermittelt sich der Tochter explizit. Die Selbstverständlichkeit der Unterstützung zeigt sich hingegen eher in der Wahrnehmung, nicht viel zur Hausarbeit beigetragen zu haben. Jana berichtet zwar in Übereinstimmung mit ihrem Bruder davon, dass sie beide beim Eindecken und Abräumen des Tisches geholfen, Spül- und Waschmaschine bedient, ihre Zimmer aufgeräumt und die Haustiere betreut zu haben – hierin unterscheidet sich ihre Narration kaum von den Kindheitserzählungen anderer Gründerinnen. Allerdings gibt es in der Familie keinen Zwang und auch keine formalisierte Verpflichtung zur Hausarbeit. Sie geschieht – ungeachtet des Umfangs – unhinterfragt, beiläufig und unangestrengt. Die hohe Implizitheit von Verhaltensregeln, die frühe Internalisierung der Möglichkeiten angemessenes, integres und gutgeheißenes Handeln zu erkennen, einzuordnen und eigenständig hervorzubringen, die Orientierung auf authentisches, ungezwungenes Handeln, die Beiläufigkeit bzw. Leichtigkeit, mit der die Hervorbringung der Unterstützungspraxis charakterisiert wird und schließlich die Naturalisierung dieser Könnerschaft, indem einerseits die erzieherischen Strategien vage gehalten und andererseits die persönlichen Vorzüge der Kinder hervorgehoben werden erinnern an Bourdieus Analysen des bürgerlichen Habitus. Dieser zeigt sich im »Anspruch auf Ungezwungenheit und Diskretion« und folgt in seiner »Interessenlosigkeit durchaus keinem bewußten Streben nach Auszeichnung« (Bourdieu 1987: 382). Die familial transmittierten Dispositionen bilden insofern die Basis für ein ›souveränes‹ Driften: Die hohe Eigenständigkeit und die damit verbundene Fähigkeit zur Selbstregulierung, die ökonomischen oder karrieristischen Interessen enthobene Orientierung auf persönliche thematische Vorlieben, der gekonnte Umgang mit Institutio-
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nen, die Relevanz sozialer Beziehungen, sowie die Verbindlichkeit und Integrität, mit der diese eingegangen werden, bedingen eine ausgeprägte ›Netzwerkkompetenz‹ und ermöglichen das Verfolgen eines hochindividualisierten Lebensentwurfes im Sinne der cité par projets (Boltanski & Chiapello 2006). Zudem bietet der bürgerliche Familienkontext ökonomische Sicherheit, die bei der Realisierung von Jana Bergs Lebensentwurf eine wesentliche Rolle spielt. »Also erst mal glaub ich, was schon ne große Rolle gespielt hat, selbst wenn ich das nicht will, aber dass ich weiß, dass meine Eltern mir Geld geben, wenn’s nicht klappt. Das spielt sicher ne große Rolle. Also das ist ja dann eher so was, was man nicht richtig . was einem fast peinlich ist, das so bewusst mit einzubeziehen, aber ich glaub vom Sicherheitsgefühl her, was ja dann schon immer ne sehr große Rolle spielt, glaub ich, für so ne Entscheidungen, was mach’n ich eigentlich jetzt für’n Job und dass ich relativ lang mir die Sachen immer offen halte und da tatsächlich auch große Entscheidungsschwierigkeiten hab, welche GEILE Option ich mir jetzt auswähle eigentlich.« (Jana Berg 12/08-16) Jenseits der gewährten finanziellen Unterstützung ermöglicht bereits das Wissen um den familialen Rückhalt das Beschreiten eines unkonventionellen, hochgradig kontingenten und auch prekären Lebenswegs, der insbesondere an persönlichen Interessen und affektiven Themenbezügen orientiert ist. Damit zeigt Jana in Bezug auf ihren eigenen ökonomischen Erfolg jene zweckfreie Haltung einer »negativen ökonomischen Bedingtheit, die über Erleichterungen, über Leichtigkeit und Ungebundenheit die Distanz zur Notwendigkeit erzeugt« (Bourdieu 1987: 103). Zwar hat sie Sorge, dass die Selbstständigkeit ökonomisch scheitert, diese ist jedoch vor allem an die Befürchtung geknüpft, die Großzügigkeit der Eltern tatsächlich in Anspruch nehmen zu müssen. Zudem markiert sie es als moralisches Problem, mit dem familialen finanziellen Rückhalt bereits rein gedanklich zu rechnen. Während Jana die Relevanz der ökonomischen Sicherheit reflektiert und in ihren Lebensentwurf sogar bewusst mit einbezieht, bleiben die familial transmittierten habituellen Ermöglichungsstrukturen – gerade vor dem Hintergrund des (familial geteilten) autonomen Selbstverständnisses – weitestgehend implizit. So bleibt auch unreflektiert, dass der familiale Habitus Beharrungskräfte freisetzt, welche die ungezwungene, durchaus antikonventionellen und häretischen Ansprüchen folgende Biografie sachte in bürgerliche Bahnen lenken: Zwar legt Jana seit ihrer Jugend eine establishmentkritische Haltung an den Tag, engagiert sich in der Antifa, ist zeitweise Punk, zeigt sich gewerkschaftlich sehr aktiv und entscheidet sich darüber hinaus – zur Verblüffung der Eltern – zunächst gegen ein Studium, was sie rückblickend als so’n Abgrenzungsding gegen die Eltern einordnet (Dass ich mir gedacht hab: Uah, voll die Klassenscheiße, immer, mit diesen akademischen Ausbildungen und so; JaB: 32). Allerdings schließt sie später noch ein Philosophiestudium an, wobei sich in der Wahl des Faches wiederum die bürgerliche Interessenlosigkeit hinsichtlich ökonomischer und karrieristischer Belange ausdrückt. Und so verweist Jana darauf, das Studium aus Spaß angefangen zu haben (wollt’s eigentlich gar nicht zu Ende machen und hatte dann das Stipendium und hab mir dann gedacht: Ja, wenn ich es eh finanzieren kann, eigentlich macht es mir total Spaß, dann mach ich es halt fertig; JaB: 06). Der Vater fertigt hingegen eine abweichende Deutung der Entscheidung an: Und, wie es der Papa prophezeit hat, ist das natürlich . hat das irgendwann nicht mehr so genügt
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– nicht, ›nur Setzer zu sein‹, das ist das Wenigste, aber einfach so von den Ansprüchen her (JoB: 04). Beide Erzählungen stimmen jedoch darin überein, dass das Studieren keine Frage des Status, sondern eine Frage der persönlichen Interessen und Orientierungen ist.
Beruf als Lebensform Die in den vorhergehenden Kapiteln aufgezeigten Orientierungen der Familie Berg sind praktisch verwoben mit der spezifischen Lebensform einer sozialen Position, die Sebastian Berg scherzhaft als Landbourgeoisie charakterisiert (SB: 15). In dieser Lebensform verschmelzen dorfgemeinschaftlicher Status, Profession und soziales Verantwortungsbewusstsein zu einer Einheit, die die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben aufhebt und den Beruf als Berufung formiert. Dabei handelt es sich um über Generationen gewachsene soziale Strukturen, die bis in die Generation der Kinder hinein ein Bewusstsein für statusbedingte Rechte und Pflichten, aber auch für die Familiengeschichte etablieren. Beide Elternteile stammen – so berichtet Sebastian Berg – im Grunde aus ähnlichen Verhältnissen, nämlich aus wohlhabenden großbäuerlichen Familien, die zwar in unterschiedlichen Regionen angesiedelt, dort aber jeweils fest etabliert waren. In beiden Familien finden sich über Generationen hinweg Verwandte, die sich – wenn sie nicht den Erbhof übernommen haben – auf andere Weise als respektable Persönlichkeiten hervorgetan haben: Eine Urgroßmutter Sebastians und Janas war etwa Parlamentarierin und hatte entsprechend einen sehr hohen sozialen Status da in der […] Gemeinde (SB: 11), der Großvater väterlicherseits hatte als promovierter Agraringenieur eine gehobene akademische Laufbahn eingeschlagen und der Großvater mütterlicherseits begründet als Zahnarzt die berufliche Familientradition, die Gundula und Joseph vor Ort weitergeführt haben. Dass der Zahnarzt bzw. die Zahnärztin im Dorf eine exponierte und zugleich etablierte Stellung bekleiden, verdeutlicht bereits die übliche Adressierung: mein Vater war der Tegel*, mein Mann war der Zahnarzt, und ich war die Frau Doktor. Das ist also, wenn jemand nur mit dem Familiennamen genannt wird, ist das eigentlich die höchste Stufe, gell? Und, ja der junge Mann, der ist schon, der macht, macht auch was, das ist der Herr Doktor (GB: 08). Mit der beruflichen und sozialen Position der Zahnarztfamilie geht im Dorf eine spezifische Alltagspraxis einher, die nicht vergleichbar ist mit den relativ geregelten Abläufen einer städtischen Niederlassung. So arbeitet Gundula zu der Zeit, als sie wegen der Kindererziehung ihr Arbeitspensum reduziert, vor allem im Winter, weil da auf dem Land die Bauern mehr Zeit haben, zum Arzt zu gehen. Weil, im Sommer müssen sie arbeiten auf dem Feld, da ist man nicht krank (GB: 42). Insbesondere der Großvater, aber auch – in geringerem Umfang – Gundula und Joseph richten sich also mit den Behandlungszeiten nach dem Rhythmus des Landlebens: Und bei meinem Großvater war das auch noch so. Der hat am Sonntag auch gearbeitet, […] nach der Kirche kamen diese ganzen Bauern dann in den, in das Dorf und sind halt zum Zahnarzt gegangen. Und das wollt mein Vater nicht weiterführen [… aber] eigentlich haben das die Leute nie so richtig akzeptiert (SB: 13). Die zeitliche Entgrenzung – genauer: nie etablierte Begrenzung – wird dabei durch eine räumliche Nähe von Beruf und Privatheit, d.h. zwischen den Praxisräumlichkeiten und dem Wohnhaus, gestützt. Wie auch bei anderen Gewerbetreibenden des Ortes (Lebensmittelladen, Bä-
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ckerei etc.) üblich, werden Kund*innen bzw. Patient*innen bei dringenden Angelegenheiten außerhalb der Öffnungszeiten einfach in der Wohnstube vorstellig (wenn vorne geschlossen ist, kann man auch hinten hingehen; SB: 13). So kommt es im Alltag der Familie Berg häufig vor, dass irgendwelche komischen Leute aufgekreuzt sind, die zahnärztliche Hilfe verlangten. Der Beruf der Eltern, so resümiert Sebastian, war schon sehr stark verknüpft mit unserem Lebensalltag (SB: 12f.). Neben der tendenziellen Allverfügbarkeit als Dorfzahnärzt*innen, nehmen die Eltern eine hohe soziale Verpflichtung für die Dorfgemeinschaft war. Dies betrifft einerseits medizinische Belange, die über das Dentale hinausgehen: »das hat für meinen Vater auch ne große Rolle gespielt, den Leuten in irgendwelchen Situationen zu helfen. Also ich kann mich auch oft erinnern, dass der dann ins Krankenhaus gefahren ist, und seine Patienten, wenn die irgendwie verletzt waren, also jetzt nicht an den Zähnen, sondern ähm so, dann nachgefragt hat, was da eigentlich mit denen ist. […] Weils, ähm, früher sind die Leute auf ’m Land oft sehr schlecht behandelt worden. Also grad die, die nicht so viel Geld hatten, ähm, da kann ich mich an mehrere Fälle erinnern, wo mein Vater da einen ziemlichen Aufstand gemacht hat, im Krankenhaus, weil er nicht zufrieden war, wie die behandelt waren.« (Sebastian Berg 14/19-30) Andererseits sind Gundula und Joseph in vielfältiger Weise in das öffentliche Leben eingebunden (Joseph erinnert sich, bei seinem Wegzug 41 Vereinsmitgliedschaften gekündigt zu haben), bringen sich in institutionalisierter und nicht-institutionalisierter Form in die Belange ihres Lebensumfeldes ein und übernehmen auch in nichtmedizinischen Konfliktsituationen eine Anwaltschaft für die Gemeinschaft. So sitzen sie beispielsweise auch im Elternbeirat der Dorfgrundschule und schalten sich umgehend ein, als sie erfahren, dass eine Lehrerin von der einige Jahre zuvor abgeschafften Prügelstrafe nicht Abstand nehmen will: Wo aber auch die Eltern das wiederum normal fanden, das heißt, wo es tatsächlich auch so war, dass das schon ganz sinnvoll war, da immer aufzulaufen und zu sagen: ›Übrigens, das ist verboten und wir holen die Polizei.‹ Und so was. […] Wenn sie irgendwie was mitgekriegt haben, dann standen sie da schon immer auf der Matte (JaB: 27). Der Familie ist dabei bewusst, dass die hohe Einbindung sowohl in die private Problemlösung der Nachbarschaft als auch in die öffentlichen Belange des Dorfes und generell die Möglichkeit, das persönliche soziale Engagement der Familie in Praxis zu bringen, mit dem Status der Eltern zusammenhängt: »In nem kleinen Ort hat man natürlich auch nen total hohen Sozialstatus […], weil das ja so unglaublich traditionell strukturiert ist alles. Also hast da schon in der Öffentlichkeit ne Stimme, nur weil du Zahnarzt bist. Und das aber, wie man damit umgeht und dass das faktisch so ist und so was, da ist schon immer…, da ist relativ viel drüber gesprochen worden. […] Dass das schon klar war, man hat da so ne best…, so ne…, in der Hierarchiestufe ne relativ hohe Position, sozial. Also das, was verbunden ist mit’m Beruf, das hat schon immer ne große Rolle gespielt.« (Jana Berg 27/13-22) Bemerkenswert ist, dass der an die berufliche Position der Eltern geknüpfte soziale Status offenbar als familialer Status praktisch hervorgebracht und durch die Kinder internalisiert wird. Dabei wird die dorfgemeinschaftliche Stellung nicht nur in der Familie diskutiert, sodass die Kinder einen reflexiven Abstand zur symbolischen Aufwertung
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der familialen Positionierung innerhalb der sozialen Ordnung des Dorfes gewinnen (dies zeigt nicht zuletzt die relativ nüchtern gehaltene retrospektive Einordnung der Tochter). Die Eltern besprechen auch den Umgang mit der Position und führen die Kinder damit früh an eine Praxis heran, bei der das offene Sprechen über die Problemlagen und Belange der Dorfbewohner*innen im Familienkreis, an bestimmte Bedingungen, insbesondere an eine sorgfältige Außenkommunikation, geknüpft ist: »dadurch, dass meine Mutter alle Leute kannte, und mein Vater dann alles erfahren hat, ähm, was da so passiert um uns rum, war das natürlich ein großes Thema. Das ist ja auch sehr interessant. Wir haben schon versucht ein bisschen, also sozusagen das ärztliche Geheimnis einigermaßen zu respektieren ähm, das war vielleicht nicht immer so ganz den Buchstaben des Gesetzes folgend, aber im Prinzip schon, also wenn meine Schwester und ich die Leute gut kannten, dann haben die sich da schon zurückgehalten. Aber bei den al-, also die ganzen älteren Leute oder so, da waren, das war ja eigentlich, die haben uns auch angehalten, den, die nicht drauf anzusprechen oder so. Aber ähm, das, und dann hatten sie schon auch ein bisschen ein Gefühl dafür, was da, aber das war total starkes Thema, und vieles war einfach mhm, gar nicht zahnmedizinisch, das ist ja relativ langweilig. Aber überhaupt, was die da immer so gemacht haben, die Leute, das wusste mein Vater immer sehr genau. Auch was seine Helferinnen, und die Leute reden dann natürlich auch viel. Das ist ja wie beim Friseur, beim Zahnarzt.« (Sebastian Berg 14/01-14) Der Sohn spricht davon, dass in der Familie die ärztliche Schweigepflicht gemeinsam (wir) eingehalten und automatisch auch auf die nicht-medizinischen Problemlagen ausgedehnt wurde. Zwar werden beim Zahnarzt – wie beim Friseur – die unterschiedlichen Themen des dörflichen Lebens besprochen, es wird jedoch, darauf achten die Eltern, kein Klatsch verbreitet. Damit internalisieren die Kinder ein Ethos, bei dem sich Interesse und Neugier hinsichtlich sozialer Problemlagen mit der Selbstverständlichkeit verbinden, diese nicht als Quelle für Belustigungen zu missbrauchen. Der Beruf – dies wird in den Erzählungen deutlich – ist für Gundula und Joseph Berg eine Lebensaufgabe, bei der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, aber auch zwischen öffentlichem und privatem Leben in mancherlei Hinsicht verschwimmen, zum Teil aber auch besonders sorgfältig beachtet werden. Zwar ist diese Lebensform anstrengend und erschwert zeitweilig eine erholsame Distanzierung, sie macht den Eltern – davon sind die Kinder überzeugt – jedoch große Freude: »weil das Leben von denen einfach in diese ganze [berufliche] Existenz sehr stark eingegossen war, also äh so, wie ich grad gesagt hab, die konnten sich da auch nicht so richtig leicht davon lösen. Also mein Vater hat auch ne Menge gearbeitet, dadurch war er oft auch sehr erschöpft. Also das ist ja auch ne sehr stark anstrengende Arbeit. Ähm, und dann in Kombination mit diesen ganzen sozialen Dingen, dass man nicht einfach sagen kann, jetzt sind Sie mal ruhig mit Ihren blöden Problemen. Wenn man da teils wirklich solche Geschichten gehört hat, und ähm, das… und dann hat das ne sehr große Rolle gespielt, weil’s beiden sehr großen Spaß gemacht hat.« (Sebastian Berg 14/48-15/08) Auch Jana Berg betont die Begeisterung und das Vergnügen, mit dem ihre Eltern ihren Beruf ausüben bzw. ausgeübt haben, und reflektiert auch die Wirkung, die dieses Vorbild auf ihre eigene Haltung in Bezug auf das Arbeitsleben entfaltet hat:
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»Das heißt, das hat schon insgesamt ne, ja, ne große Rolle gespielt, würd ich sagen. Und überhaupt diese…, also auch die Diskussion, was ich vorher auch von mir gesagt hatte, das was man da macht, das muss einem sinnvoll erscheinen und dass das mit so ner Art sozialem Auftrag passiert und so was. Das hat da schon auch ne sehr große Rolle gespielt, also das meine…, also mein Vater nach wie vor sagt, das macht ihm wahnsinnig Spaß. Also meine Mutter ist ja jetzt pensioniert, aber der hat das auch immer sehr, sehr Spaß gemacht und vor allem unter anderem der sozialarbeiterische Teil da dran.« (Jana Berg 27/06-13) Den hohen Stellenwert einer erfüllenden und bedeutsamen Tätigkeit, der für den Lebensentwurfstypus ›Drift‹ kennzeichnend ist, erkennt Jana bereits in der Haltung der Eltern. Auch die Ausdehnung der Arbeits- und Lebensaufgaben weit über das berufliche Profil hinaus findet sich bereits in den Orientierungen der Eltern. Gundula und Joseph weisen also, ohne einen projektbezogenen Lebensstil zu verfolgen, bereits eine ganze Reihe an Dispositionen und Haltungen auf, die mit den Grundorientierungen des Lebensentwurfs von Tochter Jana übereinstimmen.
Lebensentwurf und sozialer Wandel Der Lebensentwurf von Jana Berg entspricht in hohem Maße dem Typus ›Drift‹: Ihr Handeln ist insbesondere auf persönliche Interessen und zugleich auf eine Sinnhaftigkeit orientiert, die über die eigene Person hinausweist. Dabei ist sie thematisch nicht sonderlich festgelegt, Neuem gegenüber aufgeschlossen und beständig auf der Suche nach erfüllenden Aufgaben. Im Zusammenspiel ihrer vielseitigen Interessen, der intensiven sozialen Vernetztheit, dem hohen Stellenwert einer eigenständigen biografischen Gestaltung und der habituellen Möglichkeiten, eine unkonventionelle und in mancher Hinsicht prekäre Lebensform hervorzubringen (und auszuhalten), entfaltet sich ihr Leben als fluides Gefüge aus Erfahrungen und Ereignissen, wobei sich ihre Aktivitäten mit dem (spontanen) Wahrnehmen von Gelegenheiten in verschiedene Richtungen ausdehnen. Die Selbstständigkeit bietet einen geeigneten institutionellen Rahmen, um ihre Ansprüche und Vorstellungen zu verwirklichen. Dabei handelt es sich um eine spezifische, nämlich ausgesprochen projektbasierte Form der Selbstständigkeit, auch wenn sie von Jana Berg – nicht zuletzt aufgrund ihres sozialen Umfeldes – als übliche Form unternehmerischer Praxis wahrgenommen wird. Dies ist kennzeichnend für einen Lebensentwurf des Typus ›Drift‹, der als Ausdruck einer gewandelten, projektbasierten Rechtfertigungslogik sozialer Praxis rekonstruiert werden konnte. Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, wie Jana Berg diese Form eines projektierten Lebens vor dem Hintergrund der geteilten familialen Orientierungen hervorbringt, wie dabei die spezifische Praxis eines ›doing project‹ entsteht, aber auch welche Ambivalenzen hieraus erwachsen. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf der praktischen Logik liegen, die tatsächlich wesentlich stärker an Authentizität denn an ökonomischen Prämissen ausgerichtet ist und zugleich wesentliche Aspekte der bürgerlichen Herkunft reproduziert.
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Bürgerlicher Habitus und der neue Geist des Kapitalismus Bezeichnend für die geteilten familialen Praxisorientierungen, aber zugleich auch zentrales Merkmal des Lebensentwurfstypus ›Drift‹, ist Jana Bergs Wertschätzung für eine sinnvolle, interessante und angenehm situierte Arbeit. Diese Grundidee bringt auch ihr Bruder zum Ausdruck, der es – angesichts der vielen Zeit, die man auf den Arbeitsalltag verwendet – unerträglich findet, wenn man sich nicht dafür interessiert, und wenn man in einem unangenehmen Arbeitsumfeld arbeitet (SB: 08). Sebastian Berg ist davon überzeugt, dass die Selbstständigkeit seiner Schwester insbesondere durch diese Prämissen motiviert ist. Jana Berg argumentiert tatsächlich in eine ganz ähnliche Richtung, ist jedoch realistisch hinsichtlich des Ausmaßes an thematischer Selbstbestimmtheit, das ihre Selbstständigkeit erlaubt. »Meine Hoffnung ist, dass ich, wo man da ja sehr viel Zeit damit verbringen muss, mit Arbeit und Geld verdienen und so was, dass der Großteil davon Sachen sind, die ich wirklich sinnvoll finde. Das ist eine Hoffnung, die ich insgesamt hab, dass das klappt. Also dass ich nicht mein Lebensunterhalt in son scheiß Werbeagenturen oder so was verdienen muss. Das ist mir…, das find ich total sinnentleert und das glaub ich würd mich auch deprimieren. Und das natürlich insofern hat schon was mit Selbstständigkeit zu tun, weil man zumindest die Möglichkeit hat ja und nein zu sagen. Das ist halt dann ne Frage, wie groß der ökonomische Druck ist, aber potenziell ist das so. Und […] das ist glaub ich der Wunsch wo man so hinkommt, dass ich das Privileg hab, mir Sachen auszusuchen und nein zu irgendwelchen Jobs zu sagen. Momentan kann ich das zum Beispiel nicht, also da bin ich froh um alles was so ein bisschen Geld bringt. Aber es sind auch meistens eigentlich ganz okaye Sachen.« (Jana Berg 08/28-40) Jana stellt hier Selbstbestimmtheit – im Sinne der Möglichkeit, ungeliebte Projekte ablehnen zu können, – als ein Privileg heraus, das nicht automatisch mit der Existenzgründung einhergeht, sondern eher eine erfolgreiche Selbstständigkeit auszeichnet. Damit wird auch deutlich, dass bei dieser Arbeitsform nicht etwa Gewinnmaximierung im Vordergrund steht, sondern eine Geschäftslage, die maximale inhaltliche Freiheit erlaubt. Der Umstand, dass sie sich überwiegend mit Sachen befasst, die in ihren Augen zumindest annehmbar sind, zeigt ihr an, dass sie vorläufig auf dem richtigen Weg ist. Bemerkenswert ist, dass Jana Berg – im Gegensatz zu ihrem Bruder – insbesondere die Sinnhaftigkeit der Arbeitsaufgaben zum Bewertungsmaßstab erhebt. Die bürgerliche Interesselosigkeit zeigt sich bei ihr also nicht als ›l’art pour l’art‹, als reines Interesse an der Form bzw. am Gegenstand um seiner selbst willen, sondern zielt – ebenfalls in Abgrenzung zu ökonomischem Gewinnstreben und vordergründigem Statusdenken – auf eine allgemeinere Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit3 . Jana stellt als zentrale Vorstellung vom eigenen Leben heraus, dass sie den Eindruck hat sinnvolle Dinge [zu tun]. Und der Sinn ist dann schon recht stark bemessen an . also entweder sozial Sinn, politisch Sinn, im Sinne von: sich einsetzen für die Gemeinschaft (JaB: 12). Damit distanziert sie sich zugleich von einer hedonistischen Grundhaltung.
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Dieser Unterschied zwischen den Geschwistern weist meiner Ansicht nach – neben positionale bedingten Divergenzen bei der Inkorporierung familialer Orientierungsmuster – auf eine unterschiedlich gelagerte déformation professionnelle hin, der im Rahmen dieser Analyse jedoch nicht weiter nachgegangen werden kann.
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Gleichzeitig merkt Jana an, dass das Interesse an einem eigenständigen Beitrag zum Gemeinwohl keineswegs altruistisch ist. Wie ihre Eltern weist auch sie also eine hohe Reflexivität hinsichtlich ihrer Praxis und deren sozialer Wirkung auf. »Und das glaub ich wiederum, das hat schon ganz viel mit Vorstellung von Berufstätigkeit und wie man sein Leben so mit Sinn füllt überhaupt zu tun. Und das glaub ich wiederum hat dann schon auch ganz viel mit Sozialisation wieder zu tun. […] So ne Mischung aus bürgerlichem Bildungsideal und sozialpolitischen Vorstellungen. Dass das, also wie gesagt, dass man bei allen möglichen Gelegenheiten immer so ne Sinnfrage stellt und ist das denn gesellschaftlich nützlich oder nicht, oder so ist glaub ich immer son Impetus dahinter, dass man denkt . also dass umgekehrt man natürlich dann auch irgendwie . nicht so austauschbar ist.« (Jana Berg 12/4013/02) Anders als ihre Eltern findet sie persönliche Befriedigung nicht so sehr in der exponierten Stellung in einer sozialen Gemeinschaft, die für Gundula und Joseph gleichermaßen Anstrengung und Vergnügen bedeutet. Sie betont persönliche Einzigartigkeit und Relevanz in einem allgemeineren Sinne. Zwar kann beides ebenso als Effekt des Status der Eltern verstanden werden: Auch Gundula und Joseph können aufgrund ihrer sozialen Position von sich behaupten, der Dorfgemeinschaft einen außergewöhnlichen und in gewissem Maße unersetzlichen Dienst zu erweisen. Sie rekurrieren jedoch in ihren Erzählungen nicht auf diesen Umstand. Dass Jana Berg nun insbesondere das Authentizität und Originalität stiftende Moment des Strebens nach Sinnhaftigkeit in den Fokus rückt, zeigt an, dass sie die familial transmittierten Orientierungen im Rahmen einer neuen sozialen Logik reformuliert: Das hierin dokumentierte Bewertungsschema verweist auf die hohe Wertigkeit der Besonderung. Insofern kann der Fall der Familie Berg aufzeigen, wie sich in der Familie sozial vererbte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen im Kontext gewandelter transversaler Logiken aktualisieren und verändern, das heißt umgekehrt: wie gegenwärtige Wissensordnungen vor dem Hintergrund einer familien- und milieuspezifischen Historie in bestimmter Weise hervorgebracht werden. Auch Reckwitz verweist darauf, dass gerade die souveräne Produktion einer authentischen und singulären Praxis durchaus voraussetzungsreich ist und zu einem wesentlichen Teil auf traditionsreichen klassenspezifischen Strukturen basiert: »Die Überführung dieses Authentizitätsprojekts des Lebens in einen dauerhaften Lebensstil bedurfte freilich anspruchsvoller Kompetenzen eines angemessenen und geschickten Umgangs mit der postindustriellen Sozialwelt. Diese Fähigkeiten bezieht das spätmoderne Subjekt der neuen Mittelklasse nun größtenteils aus dem bürgerlichen Habitus und dessen Knowhow im Umgang mit den Märkten, der Arbeit, der Bildung und den Kulturgütern. […] Die Formel, die das Subjekt der Akademikerklasse zwischen Romantik und Bürgerlichkeit zusammenhält, ist paradox: die erfolgreiche Selbstverwirklichung.« (Reckwitz 2017a: 289, H.i.O.) Tatsächlich tragen die bürgerlichen Dispositionen im Falle Jana Bergs zu einer erfolgreichen Selbstverwirklichung bei: Die Möglichkeit zur Handlungs- und Entscheidungsautonomie, eine Affinität für das Kreative und Unkonventionelle, vor allem aber das Interesse an sinnvollen Themen und Aufgaben, welches – losgelöst von Eigeninteressen, Karrierebestrebungen und Narzissmus – eine besonders authentische Wirkung ent-
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faltet. Umgekehrt ist die Übernahme von Bewertungsschemata, die in erster Linie auf Einzigartigkeit, Authentizität, Liberalität und affizierende Potenziale rekurrieren, vor dem Hintergrund der geteilten Orientierungen der Familie Berg durchaus naheliegend, lassen sich doch die familial transmittierten Wertigkeiten gut in solche Wissensordnungen übertragen und sodann in aktuelle Lebensformen übersetzen. Jana Berg kann also durch eine Konversion der familialen Orientierungen im Sinne gegenwärtiger transversaler Logiken auf einen Zugewinn an Autonomie hoffen, der ganz ihrer Disponiertheit entspricht, denn die Gegenwartsgesellschaft »hat einen grundsätzlich libertären Zug, der soziale Begrenzungen des Möglichen niederreißt, und sie ermöglicht die Selbstentfaltung der Individuen in einer Breite und Intensität, wie sie die klassische Moderne nicht kannte.« (Reckwitz 2017a: 22) Ihre Orientierungen übersetzt Jana Berg in die Praxiskonstellation ›Projekt‹. Die Freiheit, […] Projekte sich auszudenken, ist – so schätzt es ihr Bruder Sebastian ein – die zentrale Antriebsfeder für die Selbstständigkeit und ist etwas, was sich im Laufe des Lebens immer deutlicher als befreiende Struktur herausgebildet hat: Mit zunehmendem Alter kristallisiert sich das dann immer mehr raus, indem man merkt, dass man doch im Leben mit großen Beschränkungen, egal in welcher Art von Arbeit, äh, konfrontiert ist (SB: 02). Dabei ist Janas projektierte Praxis nicht nur auf ihre Selbstständigkeit bezogen. Sie strukturiert sowohl berufliche als auch nicht-berufliche Belange projektartig, das heißt, sie versucht in unterschiedlichen Kontexten verschiedene konkrete Ziele in einem jeweils definierten Zeitrahmen zu erreichen und arbeitet dabei mit je unterschiedlichen Menschen zusammen. Ihre Lebenswelt ist eine vernetzte Welt, in der »das Sozialleben […] aus unzähligen Begegnungen und temporären, aber reaktivierbaren Kontakten mit den unterschiedlichsten Gruppen« besteht, wobei ein Projekt »Anlass für solche Verbindungen bietet« (Boltanski & Chiapello 2006: 149). Da Projekte auf eine begrenzte Zeit angelegt sind, reihen sich in Janas Leben verschiedene Projekte chronologisch aneinander, sie überschneiden sich aber auch: Im Grunde bearbeitet sie immer mehrere (berufliche und nicht-berufliche) Projekte parallel. Zentraler Fluchtpunkt des projektbasierten Arbeitens ist die für den Lebensentwurf ›Drift‹ typische und bei Jana besonders ausgeprägte Interessensvielfalt, sowie das Bedürfnis, die jeweiligen persönlichen Themen nach eigenen Vorstellungen behandeln zu können. »Ja, ich würd mal da anfangen, äh, dass meine Schwester schon . recht früh versucht hat . einerseits, ähm, selbstständig zu arbeiten, das heißt, sich selber eigene Projekte auszudenken, und die dann umzusetzen. Was sich aber nicht unbedingt auf Firmengründung bezogen hat, sondern auf alle möglichen Arten von gesellschaftlichen Aktivitäten, und dort so, aber auch in, in ihrem Berufsleben. Sie hat verschiedene äh Ausbildungen gemacht, die sie immer an ihre jeweiligen äh Lebenssituationen, also was ja wahrscheinlich jeder macht, aber immer auf Projekte bezogen gewählt, und auch stark immer schon mit dem, mit dem Focus, selber dann selbstständig damit akt-, was zu machen.« (Sebastian Berg 01/25-33) Wie Sebastian Berg beobachtet, ist Projektierung weder auf einen bestimmten Bereich noch auf eine Phase in Janas Lebensführung beschränkt. Es handelt sich vielmehr um ein grundlegendes Prinzip, nach dem ihr Leben dauerhaft gestaltet ist. Insofern schließt Jana Berg an jene Logiken einer »projektbasierten Sozialstruktur oder einer projektbasierten, allgemeinen Gesellschaftsordnung« an, die Boltanski und Chiapello
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(2006: 150) rekonstruieren. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Projekte und nicht zuletzt aufgrund der Notwendigkeit des Gelderwerbs, der den Anschluss an institutionalisierte Arbeitsformen voraussetzt, entscheidet sich Jana für eine Selbstständigkeit. Diese erlaubt es, die verschiedenen Interessen, aber auch Erfahrungen und Kompetenzen, teilweise in separaten, teilweise in inkludierenden Projekten, zusammenzuführen und so auch die verschiedenen Aspekte ihres Selbstverständnisses zu integrieren, ohne sich auf ein eindeutiges, dauerhaftes und gleichförmiges Berufsbild festlegen zu müssen. »Hm, bin ich jetzt Graphikerin? Nee, eigentlich bin ich auch Philosophin. Und aber nur Philosophin bin ich auch nicht – und so halt. Und dass ich schon irgendwie so ein bisschen den Ehrgeiz hab, das dann alles wo rein zu packen. Wo dann meine ganzen TOLLEN Seiten so richtig, weißt Du, zusammenfließen und, weiß auch nicht. Und das glaub ich wiederum, das hat schon ganz viel mit Vorstellung von Berufstätigkeit und wie man sein Leben so mit Sinn füllt überhaupt zu tun.« (Berg 12/36-42) Im Rahmen ihrer projektorientierten Praxis betreibt Jana auch eine spezifische Form der Entgrenzung von beruflichem und nicht-beruflichem Leben. Dies erinnert an die Lebensführung der Eltern, tritt bei ihr jedoch in gesteigerter Form zutage. Grundlage ist dabei der Drang, bereits mit der Erwerbtätigkeit einer erfüllenden Tätigkeit nachzugehen: man kann ja auch sagen, man macht einfach nen Job, um Geld zu verdienen und seine Freizeit gestaltet man dann sinnvoll, aber, glaub ich, wär nichts für mich. Sondern das ist schon, dass ich irgendwie […] was Sinnvolles machen will (JaB: 12). Das Bedürfnis, möglichst kontinuierlich Sinnvolles zu tun, wirkt hier also entgrenzend: Das maßgebliche Kriterium, an dem sich die Bearbeitung von Projekten ausrichtet, ist das persönliche Interesse und der Eindruck, etwas sozial oder politisch Bedeutsames zu tun. Ob und in welchem Umfang die jeweilige Projektarbeit auch ökonomisch relevant ist, gerät zur Nebensache. Unter diesen Vorzeichen verschwimmen in Janas Alltag dann berufliches und privates Interesse, ehrenamtliches und kommerzielles Engagement, sowie professionelle und freundschaftliche Beziehungen. Damit besteht jedoch auch die Gefahr, die erfolgreiche Selbstverwirklichung als sich unbegrenzt steigernden Anspruch zu betreiben. Dies erzeugt nicht nur Druck, indem man bei allen möglichen Gelegenheiten immer so ne Sinnfrage stellt (JaB: 12), sondern erschwert auch die Bearbeitung uninspirierender, routinehafter Aufgaben und kann in bestimmten Situationen sogar einen Legitimationszwang hervorrufen. »also ich komm auf jeden Fall jeden Tag hier her. Das ist nicht so, dass ich zu Hause bleibe oder so. Und ja, so was wie ein Ausstellungsprojekt oder so was, das ist ja eigentlich auch arbeitsintensiv und das meint ich dann mit dazwischen quetschen. Dass es oft so ist, wenn ich dann irgendwie auf eine Sache keinen Bock hab, dass ich […] mich mit der anderen beschäftige und dass das aber alles so dann doch relativ fest abgesteckte Projekte sind. Also das ist nicht einfach IRGENDWIE was.« (Jana Berg 16/28-34)
Ambivalenzen einer projektorientierten Lebensführung Der von Jana Berg hervorgebrachte Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ weist eine hohe Kontingenz auf, mit der es umzugehen gilt. Jana beschreibt ihre Biografie als mehr so
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zufällig geworden (JaB: 02) und reflektiert neben den Vorzügen der hohen Interessengeleitetheit und (subjektiven) Bedeutsamkeit ihrer Praxis auch die Probleme, die mit dieser einhergehen. Eine zentrale Schwierigkeit ist dabei die für den Lebensentwurfstypus charakteristische Integrationsleistung: Stellen vor allem Interessen den Kern einer Biografie dar und besteht keine Veranlassung zu selektieren, bildet sich eine Patchworkqualifikation heraus, die in die verschiedensten Richtungen anschlussfähig ist und sich zusehends erweitert, weil alles was sich da dran anschließt und von Interesse ist aufgegriffen wird und man [sich] mit den Projekten so mitprofiliert (JaB: 04). So wirkt sich die biografische Verknüpfung unterschiedlichster Themen und Interessen, die im Sinne der cité par projets als »Zeichen eines hohen Wertigkeitsstatus« gelesen werden kann, da mit ihr eine hohe Flexibilität, sowie »Anpassungsfähigkeit und Polyvalenz« einhergehen (Boltanski & Chiapello 2006: 158), durchaus herausfordernd auf die Hervorbringung einer stringenten Existenz aus. »Also das ist so eine Entscheidung im Werden gewesen, die ganze Zeit, und wenn man dann aber so stark über Berufsbilder nachdenkt oder anfängt so stark da drin zu denken, dann denkt man sich: Mei, wieso hab ich eigentlich nicht Graphik studiert? Zum Beispiel. Das wär doch viel besser gewesen. Was ja quatsch ist, weil jetzt ich es ja schon fertig hab. Also so mein ich mit der rückwärtigen Entwertung.« (Berg 06/08-13) Hier zeigt sich eine Ambivalenz, die in der Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Wertschätzung jeder Erfahrung bzw. jedes qualifikatorischen Elements und den Erfordernissen eines schlüssigen oder sogar harmonischen Ensembles von Wissensbeständen, Kompetenzen und Tätigkeiten besteht. Die Emergenz biografischer Entscheidungen erschwert dabei nicht nur die konsistente Erfassung (und Darstellung) des eigenen Lebens, sondern auch das Selbstverständnis, zumal die hohe affektive Bindung an die erschlossenen Interessen und gemachten Erfahrungen eine Unterordnung oder Ausklammerung als Entwertung erfahrbar macht. Ein konsistenter und stringenter Selbstbezug wird jedoch nicht nur von der »sozialen Welt« nahegelegt, »die gerne Normalität mit Identität gleichsetzt, die sie als das Sich-gleich-Bleiben eines verantwortlichen, das heißt vorhersehbaren oder zumindest – nämlich wie eine gut aufgebaute […] Geschichte – intelligiblen Wesens versteht« und dabei »alle möglichen Institutionen zur Ich-Summierung und Ich-Vereinheitlichung an[-] und auf[bietet]« (Bourdieu 1998b: 78). Sie ist auch wesentliche Herausforderung bei der Realisierung der Selbstständigkeit, welche die Herstellung einer Unternehmung erfordert, die in der Öffentlichkeit als irgendwie vorstellbar ankommt (JaB: 01): »Das ist aber nach wie vor in so einem Prozess, dadurch dass ich so eine-, wie soll man sagen, so eine Ausbildung, oder so Qualifikationen hab, die so in der Schere so weit auseinander gehen, hat das relativ lang gedauert jetzt, bis ich überhaupt-, obwohl ich selbstständig bin, wie der Status halt heißt, mir irgendwas zu suchen, was eine Schnittmenge von dem Ganzen sein könnte. […] Das ist also total-, also grad je mehr Qualifikationen und Interessen man hat, desto schwieriger wird das, weil man alles immer noch so versucht so rein zu packen.« (Jana Berg 01/25-42) Auch wenn Jana Berg die Ambivalenzen einer reflexiven und nach außen gerichteten Herstellung subjektiver, biografischer und unternehmerischer Stringenz durchaus als
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individuelles Problem adressiert, so zeigt sich doch, dass es durch wandelbedingt Konflikte transversal wirkender sozialer Logiken erzeugt wird: Was in der Zwiespältigkeit zum Ausdruck kommt, ist eine Gleichzeitigkeit von einerseits Institutionen, die Konstanz und eindeutige Zuordenbarkeit perpetuieren, welche gerade unter den Bedingungen einer ›organisierten Moderne‹ hochgradig funktional sind, und die von Bourdieu (1998b: 78) als »Institutionen zur Ich-Summierung und Ich-Vereinheitlichung« bezeichnet werden; und andererseits von Institutionen, die einer verstärkten Projektierung sozialer Beziehungen und Prozesse entsprechen. An den alltagspraktischen wie biografischen Herausforderungen Jana Bergs wird deutlich, dass nicht von einer einheitlichen ›projektbasierten Sozialstruktur oder einer projektbasierten, allgemeinen Gesellschaftsordnung‹4 ausgegangen werden kann. Die Gründung erscheint in diesem Zusammenhang als vorläufiges, wenn auch nicht ganz zufriedenstellendes Ergebnis der Suche nach einem institutionellen Rahmen, um den durch die interferierenden Logiken gekennzeichneten Lebensentwurf zu stabilisieren. Geeignet ist die Selbstständigkeit deshalb, weil sie durch den schwachen Institutionalisierungsgrad einen weiten Möglichkeitsraum zur Umsetzung individueller Entwürfe bietet. Weniger geeignet ist sie, weil sie aus ebendiesen Gründen nur wenig Stabilität bietet: Die Offenheit für eine hohe thematische Kontingenz der Projekte, die Janas Leben ausfüllen, machen jede einzelne Entscheidung zu einer biografischen Grundsatzentscheidung. Wenngleich Jana Berg durch ihren familialen Hintergrund prädestiniert ist, verantwortungsvolle und eigenständige Entscheidungen zu treffen, empfindet sie die Dauerhaftigkeit der biografischen Kontingenz, d.h. die beständige Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen, als Belastung: ich glaub das ist halt so ne Verantwortung fürs eigene Leben übernehmen, ist jede Entscheidung eigentlich und das, glaub ich, macht es auch so schwierig, […] also das fällt mir oft schwer glaub ich (JaB: 13). Auch ihr Bruder geht davon aus, dass die Selbstständigkeit für Jana keinen Wert an sich darstellt, sondern zunächst einen Gestaltungsspielraum eröffnet, in dessen Rahmen seine Schwester durchaus an Stabilität interessiert ist, solange dies die autonome Arbeit in sinnstiftenden Projekten nicht zu sehr einschränkt. »Wobei ich, wie gesagt, nicht, nicht glaub, dass sie ähm, jetzt per se auf so ne Freiberuflichkeit so stark aus ist, sondern äh, das hängt davon ab, das äh, glaub ich, bemisst sich für sie sehr stark da dran, wie groß ihr Gestaltungsspielraum ist, äh, in den jeweiligen Projekten. […] Also das ist nicht so, dass sie jetzt unbedingt äh die, das, dass sie da so institutionell vollkommen freischwebend ist, dass das für sie so ein hoher Wert ist, sondern das, was sie machen wollte, lässt sich halt, glaub ich, auf die Weise im Moment am besten für sie realisieren.« (Sebastian Berg 03/15-25) Und tatsächlich stellt auch Jana Berg heraus, dass – obschon sie die Gründung gegenwärtig für diejenige Institutionalisierungsform hält, in der sich ihr Lebensentwurf am besten umsetzen lässt – ihr Traum eine okay-bezahlte 20 Stunden Stelle [wäre]. Das kann sich jetzt total absurd anhören, weil ich vorhin gesagt habe, es ist eine richtige Entscheidung gewesen, 4
Dies behaupten Boltanski und Chiapello auch nicht, wie sich am Verweis auf eine Gleichzeitigkeit verschiedener Rechtfertigungsregime erkennen lässt. Sie gehen vielmehr von einer sich nach wie vor verstärkenden Dominanz der cité par projets aus.
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aber wenn ich jetzt mal so ganz ehrlich bin, dann, glaube ich, fände ich das super (JaB 40). Der Fall Jana Berg zeigt also, dass Lebensentwürfe, die den gegenwärtigen transversalen Logiken und auch durchaus den politischen Programmatiken entsprechen, (noch) nicht die geeigneten institutionellen (Arbeits-)Strukturen vorfinden.
Soziale Verankerung in der Drift Stabilität ist – trotz oder gerade wegen der hohen Kontingenz des Lebensentwurfs – ein wichtiges Thema für Jana. So arbeitet sie explizit Alltagsroutinen aus, mietet – ohne dass dies unbedingt notwendig wäre – ein Büro, geht wochentags zur Arbeit und versucht die Wochenenden weitestgehend frei zu halten für Unternehmungen, die zumindest überwiegend zum Vergnügen sind. Für die Stabilität der Lebensführung besonders relevant sind allerdings soziale Beziehungen: Sie lebt in einer WG mit ihrem Bruder und pflegt einen großen Freundes und Bekanntenkreis, um nicht jetzt an allen möglichen Ecken so ne Individualisierungs-Entscheidungen treffen und so im luftleeren Raum zu sein: ich […] versuche das irgendwie möglichst stabil so zu gestalten, insgesamt meine sozialen Beziehungen (JaB: 10). Hier erkennt sie Ähnlichkeiten zu ihrer Familie. Jana hatte ihrer Erinnerung nach immer relativ viele Freunde und mochte auch gerne mit denen so rumhängen, wobei die Eltern das sehr gut fanden, weil mein Vater auch son Sozialtier ist und so was. Das, glaub ich, hat ihnen dann schon irgendwie gefallen (JaB: 34). Soziale Beziehungen, die – für Jana erkennbar – bereits in der Herkunftsfamilie eine wesentliche Orientierung bilden, werden zu einem zentralen Strukturelement ihrer Lebensführung und ihres Lebensentwurfs. Sie stabilisieren nicht nur die Driftbewegung, sondern sind von konstitutiver Bedeutung: »Es ist insgesamt so, dass ich schon seit 20 Jahren inzwischen mehr oder weniger […] sozialpolitisch aktiv bin und es grade in dem Bereich sehr, sehr viele Leute gibt, die selbstständig arbeiten. Und zwar, weil die . weil’s ganz oft so läuft, […] man setzt sich halt zusammen, man hat ne Idee, entwickelt die und versucht dann über Sponsoring Gelder zu kriegen und wenn’s gut läuft, dann kommt da irgendwie ne halbe Stelle oder so was dabei raus. Und dadurch, dass ich relativ viele Leute in dem Umfeld da so kenne, läuft das meistens so, dass du dann halt entweder dir deine Stelle selber schaffst, ne andere Freundin von mir ist bei einer NGO, die dann ihr Projekt über Drittmittel und damit ihre Stelle dort . sich selber eingeworben hat und so machen das ganz viele Leute. Das heißt, ich kenn schon VIELE die selbstständig sind, oder die es, glaub ich auch, sogar eher nicht als bewusste Entscheidung, so, ab JETZT bin ich selbstständig, sondern wo es einfach so geworden ist, dass man halt immer wieder mal hier was macht und da was macht und mal in so halben Anstellungsverhältnissen und oft aber, weil sie auch nicht so Projektgebunden arbeitet und das macht man ja oft als Selbstständige. Eine ist Cutterin und macht so Filmzeugs, dann einer ist Programmierer, Informatiker, so, also es sind schon so . alle hier.« (Jana Berg 04/10-28) Janas ist in ein soziales Milieu eingebettet, in dem ihr Lebensentwurf besonders verbreitet ist. Ihre Freund*innen und Bekannten leben und arbeiten auf eine ähnliche Weise, haben die gleiche Lebenseinstellung wie sie und schließen sich temporär und themenbezogen zu Projekten zusammen, mit denen sie sich teilweise finanzieren. Die Netzwerke, die Boltanski und Chiapello als wesentliche Infrastruktur einer cité par projets beschreiben, sind also in Jana Bergs Lebenswelt keine Gebilde aus einzelnen (be-
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ruflichen) Kontakten, die bei ihr zusammenlaufen, sondern sie stellen die spezifische, quasi-natürliche Grundstruktur des Milieus dar, in dem sie sich bewegt, wobei die geteilte Lebensform die praktische Basis der Netzwerkstruktur bildet. Dies beschreiben die Autor*innen als Idealzustand in einer retikularen Gesellschaft: »Aktivität [bedeutet] charakteristischer Weise, dass man sich in Netze eingliedert und sie erkundet, um so seine Isolation zu durchbrechen und Chancen zu haben, persönliche Kontakte zu knüpfen bzw. sich mit Gegenstandsbereichen zu befassen, durch deren Verbindung sich ein Projekt anregen lässt. Der Unternehmungsgeist zeigt sich in der Vielzahl der unterschiedlichsten Projekte, die parallel zueinander in Angriff genommen werden können und die – wie anzunehmen ist – nacheinander entwickelt werden müssen. […] Die einander ablösenden Projekte wirken [wiederum, J.E.] netzwerkerweiternd, weil dadurch die Zahl der Kontakte erhöht und immer mehr Verbindungen geknüpft werden.« (Boltanski & Chiapello 2006: 156f., H.i.O.) Insofern kann Jana Berg als besonders souveräne und befähigte Netzwerkerin gelten, denn für sie stellt das Knüpfen von Kontakten, das Erschließen neuer Gegenstandsbereiche und das Entwickeln von Projekten keine bewusste Strategie oder gezielte Anstrengung dar. Es ist der Modus, in dem sie und ihre Bekannten miteinander in Beziehung stehen und gemeinsam Praxis hervorbringen. Und es ist auch der Modus, in dem Jana ihre Selbstständigkeit betreibt: momentan laufen alle meine Jobs über Kontakte, […] ich brauch keine Internetseite, weil die Leute kommen so wie so anders auf mich. Also es guckt niemand im Internet und sucht sich jemanden, das dann ich bin, sondern das, ja wie gesagt, läuft über jahrelange…, irgendwie Freunde, Bekannte, so. Und momentan läuft es auch okay (JaB: 06). Der Fall von Jana Berg zeigt, wie die cité par projets in einem Milieu von Akteuren, die einen Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ hervorbringen, eine selbstverständliche Basis der gemeinsamen Alltagspraxis bildet. Jana unterliegt dabei weniger dem Drang bzw. Zwang einer beständigen Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung: Die Vernetzungen und gemeinsamen Projektaktivitäten werden nicht in erster Linie unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Beziehungen zu und das gemeinschaftliche Arbeiten mit anderen Menschen ist keine lästige Pflicht, sondern bereitet Jana Vergnügen. »ich arbeite total ungern alleine und ich hab einige Projekte, wo ich…, also so…, wo man sagen kann, das läuft wirklich als Projekt, also wo man mit Leuten zusammen arbeitet, so Ideen austauscht und die jeder dort zuarbeitet, aber man so weit in Diskussionen steht, dass man das Gefühl hat: Okay, man wendet sich so gegenseitig aneinander und bei vielen Sachen ist das aber auch nicht so. Und das…, also ich sitz total ungern…, ist auch unkreativ und unproduktiv nen Auftrag zu…, also nen Inhalt zu kriegen und dann das irgendwie graphisch zu verarbeiten. Das mach ich eigentlich nicht so besonders gerne. Also, Vereinzelung, das ist so eine Befürchtung auf jeden Fall, oder das man halt so, na, diese starke Individualisierung« (Jana Berg 07/34-43) Hier zeigt sich, dass Besonderung durch interessengeleitetes, schöpferisches Arbeiten als etwas verstanden wird, das vornehmlich in Zusammenarbeit mit anderen Menschen hervorgebracht wird. In Janas Verständnis steht Vereinzelung der Kreativität entgegen. Mit Blick auf Reckwitz’ Singularisierungsdiagnose weist ihr Fall eine praktische Logik auf, in der Individualisierung der Hervorbringung von Einzigartigem gewissermaßen
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schaden kann. In Janas Milieu muss die ohne Zweifel stakt ausgeprägte Individualisierung der Lebensführung durch Kollektivierung und Vergemeinschaftung ausbalanciert werden, damit eine authentische und originelle Praxis realisiert werden kann. Obwohl der Gelderwerb bei den gemeinsamen Projekten mit Freund*innen und Bekannten nicht im Vordergrund steht, so ist er doch Teil der Logik der gemeinsam hervorgebrachten Praxis. Diese zwangsläufige Ökonomisierung der sozialen Netzwerke stellt in Janas Augen ein Problem dar: das hat auch sehr viel mit dieser Art von Selbstständigkeit zu tun, was ich auch gesagt hab, dass sich diese Netzwerke, die man so hat, die sind ja gleichzeitig soziale Netzwerke. […] Also teilweise arbeite ich mit meinen besten Freunden zusammen und da hab ich schon oft Angst. Also eigentlich Angst um die Freundschaften (JaB: 07). Sie befürchtet, dass durch den nicht herauszulösenden ökonomischen Aspekt der Vernetzung die Beziehungen so instrumentell werden und die Freundschaften kennzeichnende (formale) Hierarchielosigkeit durch ökonomische Abhängigkeiten gefährdet wird (dass du natürlich mit niemandem streitest, der auch dein Arbeitgeber ist; JaB: 08). Auch dies interpretiert sie als Problem mangelnder Institutionalisierung: »Und das ist glaub ich schon ganz oft ein Problem bei so Selbstständigen, dass du, dass das viel mit so sozialökonomischen Netzwerken läuft, also dass man dann auch Jobs von Freunden kriegt, oder die einen empfehlen oder irgendwie so was und man da sehr, sehr, sehr, weiß nicht, sehr bewusst damit umgehen muss, dass das nicht als halt nur ein großes Geschäft wird. Und das find ich total grässlich. Das ist eine Befürchtung, also was einfach was anders ist, in einer, also ich hab ja auch in meiner Lehre ganz normal in einem Anstellungsverhältnis gearbeitet, das war einfach cool, weil da weißt du, wer dein Gegner ist, da kann man, was weiß ich, eine Jugendvertretung gründen, da kann man sich gewerkschaftlich organisieren, dann gibts eine institutionalisierte Form von Interessensaustragung und so weiter und so weiter. Das hat man ja alles als Selbstständige nicht.« (Jana Berg 08/06-21) Institutionalisierte arbeitsbezogene Hierarchien, Verhandlungs- und Kommunikationsstrukturen werden von Jana Berg also nicht ausschließlich als Beschränkungen einer eigenständigen Arbeits- und Lebensform verstanden. Sie gewährleisten im Gegenzug auch die Regulierung ökonomischer Machtrelationen. In der Institutionalisierung hierarchischer Arbeitsstrukturen wird getrennt und aufgedeckt, was durch die Deinstitutionalisierung in Form projektierter Arbeit vermischt und unsichtbar gemacht wird. Werden Arbeitsbeziehungen eindeutig definiert und hierarchisiert (und damit auch umgrenzt), so entstehen auf der anderen Seite – so die Hoffnung – hierarchielose Freiräume, in denen Freundschaften ihren von ökonomischen Interessen unberührten Charakter zurückgewinnen.
Reflexion generationaler Unterschiede Für den Lebensentwurfstypus ›Drift‹ wurde eine typische Abgrenzung des eigenen Lebensentwurfs als Alternative zu anderen, häufig älteren Lebensentwürfen festgestellt. Diese Denkweise zeigt sich auch bei Jana Berg. Darüber hinaus dokumentiert sich bei Betrachtung der gesamten Familie, dass eine Reflexion generationaler Unterschiede und mithin das Nachdenken über sozialen Wandel durchaus auch Sache der Eltern ist:
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»Wissen Sie, die Generationen sind einfach so anders. Ich bin in einer Generation rein geboren, da hast du was studiert, und das bist du geworden, und da bist aufwärts gekommen. Die Situation, […], hat sich einfach, brauche ich Ihnen von der Uni überhaupt nicht zu sagen, die hat sich einfach grundlegend geändert. Wenn Sie heute…, wenn Sie früher habilitiert haben, dann haben sie irgendwo einmal einen Lehrstuhl gekriegt, das ist heute überhaupt nicht gesagt.« (Joseph Berg 03/24-29) Die Reflexion der gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen wirkt sich entlastend auf die Generation der Kinder aus: Familie Berg entgeht auf diese Weise dem von Bourdieu herausgearbeiteten ›Laufbahnkonflikt‹, der sich aus der unreflektierten Antizipation generiert, die familiale soziale Positionierung und Trajektorie setzte sich (unter Einsatz gleichbleibender habitueller Strategien) von Generation zu Generation fort. Durch den Hinweis, dass sich die Zeiten geändert haben, wird eine etwaige positionale Diskrepanz der Umwelt angelastet und zugleich die Stabilität des Maßstabs in Frage gestellt, sodass nicht mehr umstandslos festgestellt werden kann, ob es sich überhaupt um vergleichbare soziale Status handelt. Zusätzlich befreiend wirkt die familiale Präferenz einer selbstbestimmten, interessengeleiteten Lebensführung: »unser Credo war immer, es ist vollkommen wurscht was ihr macht, nur nicht Tagtotschläger. Das war eigentlich so unser Wunsch. Also, ich war sehr froh, wie Jana Setzerin gemacht hat, und wenn der Sebastian Physik, das hat mir also gar keinen Unterschied gemacht, ob das eine akademische Ausbildung . ich wollte nur nicht irgendwelche Rumsitzer haben. Also, die sich zumindest, nicht, geistig mit was beschäftigen. Das war mir, glaube ich, schon . und auch meiner geschiedenen Frau, glaube ich, sehr, sehr wichtig. Natürlich hat man, wenn man so einen eigenen Betrieb hat, so ein Erbhof-Denken. […] Aber, ich könnte mir es bei beiden nicht vorstellen. Und ich bin heute bei beiden froh, dass sie es nicht getan haben.« (Joseph Berg 07/07-20) Joseph Berg stellt also – zumindest dem Anspruch nach – die statusbezogene Wirksamkeit der von den Kindern erlernten Berufe zurück und betont stattdessen die hohe Relevanz moralischer Integrität, beruflicher Erfüllung und Selbsttreue. Hinzu kommt (auch dies ist ein Effekt der wandelbezogenen Reflektiertheit), dass insbesondere Gundula Berg eine hohe Sensibilität für die Wirksamkeit unhinterfragter Wahrheiten zeigt. Sie erkennt die Versuchung, den persönlichen modus operandi als einzig sinnvolle Herangehensweise zu verallgemeinern, als Quelle generationaler Konflikte: ältere Menschen neigen dazu, zu meinen, das, was sie ein Leben lang getan haben, ist der richtige Weg (GB: 07). Sie geht davon aus, dass Eltern versuchen ihr Kinder allerweil so ein bisschen zu erziehen, wie man das halt selbst erlebt hat (GB: 38), was sie nicht grundsätzlich unangemessen findet, dennoch versucht sie für ihre eigene Praxis einen Weg zu finden, offen mit sozialem Wandel und generationalen Unterschieden umzugehen: »Dass sich da im Weltbild, glaub ich, Verschiedenes geändert hat, und bei manchen Dingen hat man das Gefühl, man hat da viel nachzuarbeiten, und bei manchen muss man sagen, das werde ich nicht mehr erreichen. Äh, also dass man sich gedanklich ganz umstellt, das geht einfach nicht. Und das ist auch mein Bild so ein bisschen von der Jugend, dass wir drauf angewiesen sind, die Veränderungen mitgeteilt, äh, zu bekommen, und uns freuen, wenn wir mitgenommen werden. Und das hat man vielleicht, ja auch ein bisschen selber in der Hand, das weiß
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ich nicht, weil, das, wo man sich abgrenzt oder abwertet, dass merkt man ja manchmal selber nicht.« (Gundula Berg 38/23-46) Gundula strebt also nach eigenem Bekunden ein praktikables Verhältnis aus unveränderlichen Grundüberzeugungen, Änderungsbereitschaft und Toleranz gegenüber Meinungsunterschieden an. Sowohl die reflexive Haltung der Mutter als auch die des Vaters überträgt sich auf die Kindergeneration: Jana Berg ist sich sowohl der divergierenden sozialen Umstände bewusst, unter denen ihre eigene Laufbahn im Vergleich zur Laufbahn der Eltern entstanden ist, als auch der resultierenden Verschiebungen hinsichtlich der Denkweisen und Weltzugänge. »die sind ja beide Zahnärzte und meine Mutter war angestellt, mein Vater hatte eine eigene Praxis, aber, dass die eh immer gesagt haben: ›Hey, wie das bei euch jetzt ist mit dieser Arbeit und nichts Festes und so was. Das ist für uns total unnachvollziehbar‹. Weil, es war auch so in dieser Nachkriegsgeneration, wenn du da eine gute Ausbildung hattest dann und dich entschieden hast nen akademischen Werdegang einzuschlagen, dann war das überhaupt . also dann bist du da angekommen, wo du wolltest, mehr oder weniger. Und die finden das immer alles eigentlich interessant, SCHWIERIG, haben das dann auch, so wie mein Studienabschluss oder so was dann auch finanziell unterstützt, aber […] so von der Entscheidungsfindung her, glaub ich, ist schon eher mein engeres soziales Umfeld gewesen, die da so Einfluss drauf genommen haben.« (Jana Berg 05/14-29) Jana berücksichtigt also – implizit – den Wunsch ihrer Mutter, indem sie mit ihren Eltern offenbar über die Andersartigkeit ihrer eigenen Biografie spricht und sie so teilweise einbezieht und mitnimmt. Sie reflektiert aber auch die Grenzen der Nachvollziehbarkeit und respektiert ihrerseits die soziohistorische Seinsgebundenheit im Denken der Eltern. Sie weiht Joseph und Gundula zwar in ihre Pläne ein, nimmt sie jedoch von Entscheidungsprozessen aus und verkleinert somit nicht nur das intergenerationale Konfliktpotenzial, sondern minimiert auch die schwierige Konfrontation der Eltern mit deren Abweichungen vom Zeitgeist. Der familial transmittierte reflexive Umgang mit generationalen Unterschieden und sozialen Wandelprozessen bildet schließlich auch einen Fluchtpunkt der Selbstreflexion von Jana Berg. Sie interpretiert ihre persönliche Haltung und ihren Lebensentwurf vor dem Hintergrund generationenspezifischer Wissensordnungen, die mit veränderten Realitäten kollidieren: »also dadurch, dass ich ja so in den 90erJahren mit diesen ganzen Startups und so was dann doch groß geworden bin, ist das schon so, dass auch viele in meinem Alter und was ja dann jetzt auch so ein Gewöhnungsprozess ist, dass das nicht mehr so läuft, aber ganz, ganz viele so ne Idee hatten, dass ihr Leben so verlaufen könnte. […] ich glaube, dass ganz viele schon gedacht haben: Mh, vielleicht kann ich ja irgendwann mal groß rauskommen. Also groß im Sinne von: Mit dem, was mir Spaß macht, gut Geld verdienen. Wo ich sagen würde, das hat eigentlich bei niemandem geklappt. Aber das war […] schon irgendwie so, man sah mal so alle möglichen Kompetenzen an und dann baut man sich so was zurecht, wo man dann irgendwann davon leben kann und das . also schon so ein bisschen mit der Gewissheit: Das klappt auch. Das spielt insgesamt, glaub ich, eine relativ große Rolle. Und das ist natürlich jetzt, ich mein, das ist ja jetzt . die ganze Diskussion hat sich ja in den 2000ern total gewandelt. Auch die dementspre-
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chenden Sozialprogramme haben sich da ja gewandelt und dann gabs diese ganzen Computerfirmen, die dann wieder dicht gemacht haben und so weiter und so weiter. Es ist einfach . das sich so ein bisschen in Luft aufgelöst hat, diese ganze ›So, man muss nur alleine anpacken und dann kommt man irgendwann groß raus!‹-Perspektive. Aber ich glaub, dass da schon einiges . also so in meiner Generation glaub ich einiges kleben geblieben ist. So dass man sich denkt: Hm, wenn ich da so eine kleine Marktlücke entdecke, vielleicht . So halt. Und ich glaub, das ist jetzt halt insgesamt, also merk ich auch, wenn ich mich jetzt so mit Leuten unterhalte, die jünger sind, dass das bei denen schon anders ist. Also dass es viel mehr auf Sicherheit ist« (Jana Berg 4/32-05/13) Die 1990er werden von Jana Berg als Jahrzehnt eines positiven Kontingenzempfindens charakterisiert, in dem alles möglich ist: Eine interessengeleitete, individuelle und kreative Gestaltung der persönlichen Biografie und ein erfüllendes Berufsleben, dass zugleich der Schlüssel zu beachtlichem ökonomischem Erfolg ist. Dies – so stellt sie fest – entpuppt sich als eine Illusion. Allerdings ist Jana Bergs Erzählung nicht in erster Linie eine Enttäuschungserzählung. Ihre Aussage zielt auf einen anderen Aspekt, nämlich, dass diese generationstypischen Erwartungen und Vorstellungen vom Leben bzw. von der Zukunft eine spezifische Haltung erzeugt hat, die sie in der nachkommenden Generation schon nicht mehr zu erkennen glaubt. Geblieben ist vom Start-up-Esprit der 1990er Jahre in Janas Augen Zuversicht und Zutrauen in künftige Entwicklungen – etwas, das jüngeren Akteuren in ihrem Umfeld fehlt. Insofern stellt Jana Berg gewissermaßen fest (ohne freilich die Rolle ihrer sozialen Herkunft in diesem Zusammenhang zu reflektieren), dass ihre Generation historisch prädestiniert ist für einen Lebensentwurf des Typus ›Drift‹: In anderen Generationen kollidiere – um mit Boltanski und Chiapello (2006: 53, H.i.O.) zu sprechen – »die Autonomieerwartungen […] mit einem anderen Bedürfnis, das einer Sicherheitserwartung entspricht«. Jana führt also die Bedingungen ihres Lebensstils auf eine generationsspezifische Furchtlosigkeit zurück, die dazu befähigt, Kontingenz, Prekarität und ökonomische Unbeständigkeit in auszuhalten. Ungeachtet der tatsächlich objektivierbaren generationalen und sozialstrukturellen Verschiebungen in den Sicherheitsorientierungen, verdeutlicht die Erzählung die bewusste Inkaufnahme prekärer Lebensumstände als Investition in eine berufliche Laufbahn, die beides verspricht: Selbstverwirklichung und ökonomischen Erfolg. Damit lässt sich der Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ nicht zuletzt auch als spezifische Variante des Selbstunternehmertums verstehen, also als Orientierungsrahmen in dem das Risiko, dass die eingeschlagene berufliche Laufbahn bzw. Kompetenzaneignungsstrategie nicht den erhofften Lebensstandard ermöglicht, individualisiert wird.
Fazit: Bürgerlicher Habitus und gekonntes Driften Der Fall der Familie Berg verdeutlicht, wie familial transmittierte Orientierungen eines bürgerlichen Habitus die Grundlage für ein gekonntes ›Driften‹ und eine souveräne Praxis unter den Vorzeichen einer praktischen Logik der Vernetzung und Projektierung ermöglicht. Die hohe Relevanz einer selbstbestimmten und interessengeleiteten Lebensführung aber auch die Befähigung zu eigenstrukturiertem Handeln und
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nicht zuletzt der hohe Stellenwert sozialer Beziehungen, der mit ausgeprägten sozialen Kompetenzen einhergeht, ermöglichen einen Lebensentwurf, der sich relativ kontingent entlang der aktuellen persönlichen Interessenlage und auf Basis der gesammelten Erfahrungen entfaltet. Praktisch wird die derart individualisierte und flexibilisierte Laufbahn von Jana Berg auf der Grundlage von Projekten organisiert. Auf diese Weise aktualisieren sich die Orientierungen der Familie im Kontext gegenwärtiger sozialer Logiken und Arbeitsstrukturen. Den Kern der Projekte bilden Themen, die von persönlichem Interesse sind und als sinnstiftende bzw. erfüllende Aufgaben empfunden werden. Jana lebt in einem großstädtischen Milieu, dessen Kultur in hohem Maße ihrem Lebensentwurf entspricht. Es bildet auch die Basisstruktur für jenes Netzwerk, in dessen Rahmen Projekte geplant und realisiert werden können: Interessenvielfalt, das Streben nach der sozialen Bedeutsamkeit des eigenen Schaffens, die Freude am Neuen, aber auch ökonomische Notwendigkeit verschränken sich im Zusammenhang des weitläufigen Netzwerks von Gleichgesinnten zu einer hochgradig projektierten Alltagspraxis, in der synchron und sukzessive verschiedene Projekte unterschiedlicher thematischer Ausrichtung hervorgebracht werden. Wie Boltanski und Chiapello (2006: 155) dies für die projektorientierte Logik eines ›Retikularuniversums‹ als typisch erachten, werden im Rahmen der Projekte, an denen sich Jana Berg beteiligt, »die Oppositionsbildungen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen einem stabilen und einem instabilen Arbeitsverhältnis, […] zwischen finanzieller Beteiligung und ehrenamtlicher Tätigkeit«, aber auch »zwischen dem, was sich in Begriffen der Produktivität übersetzen lässt, und dem, was sich jeder bezifferbaren Bewertung entzieht« aufgehoben. Dieser Entgrenzung steht Jana jedoch ambivalent gegenüber: Einerseits ist sie mit Leichtigkeit in der Lage, eine entsprechende Praxis zu (re)produzieren und sie schätzt die persönlichen Freiheiten, die mit diesem Lebens- und Arbeitsstil verbunden sind, andererseits betrachtet sie die Aufhebung vormals institutionalisierter Grenzen kritisch. Insbesondere die auf Dauer gestellte Notwendigkeit, weitreichende Entscheidungen zu treffen, die ökonomische Prekarität, die sie zwingt, ihr Sicherheitsbewusstsein aus dem familialen finanziellen Rückhalt zu beziehen und die Gefahr der Zersetzung freundschaftlicher Beziehungen im Zuge einer Überlagerung durch ökonomische Logiken beunruhigen sie. Die Fallanalyse zeigt nun, dass diese habitualisierte Ambivalenz mit den Orientierungen der Herkunftsfamilie korrespondieren: Sowohl die Möglichkeit, sich souverän in der Welt der Netzwerke und Projekte zu bewegen, als auch die kritische Distanz gegenüber verschiedenen Effekten, die aus dieser Form gegenwärtiger Gesellschaftlichkeit erwachsen, stehen in Beziehung zu frühzeitig internalisiertem (praktischem) Wissen. Dabei zeigt sich auch, dass sich Affirmation und Kritik nicht entlang unterschiedlicher familial transmittierter Wissensbestände strukturieren, sondern vielmehr die Spezifik der in der Kindheit angeeigneten habituellen Dispositionen bereits beide Aspekte birgt: So ermöglicht die ausgeprägte Orientierung auf soziale Beziehungen und die hohe Integrität und Verbindlichkeit, die durch die Eltern vermittelt wurde, einerseits eine gekonnte Vernetzung, die ob ihrer ökonomischen bzw. karrierebezogenen Interessenlosigkeit besonders erfolgreich sein dürfte, andererseits evoziert gerade diese Form der sozialen Orientiertheit eine kritische Haltung hinsichtlich der ökonomischen Nutzbarmachung freundschaftlicher Kontakte.
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Der Fall der Familie Berg zeigt zudem, dass bürgerliche Kapitalstrukturen und volumina auch unter den Vorzeichen einer projektorientierten bzw. singularisierten sozialen Logik einen beachtlichen Vorteil verschaffen. Nicht nur weist Jana Berg eine große Bandbreite internalisierten Wissens und Könnens auf, das ihr in ihrer Alltagspraxis von Nutzen ist, sie ist auch – bei allen Nöten, die ihre prekäre Lebensform mit sich bringt, – weit davon entfernt, um ihre gesellschaftliche Teilhabe fürchten zu müssen, was einerseits auf die feste Etabliertheit in ihrem sozialen Milieu, andererseits auf den familial gewährten ökonomischen Rückhalt zurückzuführen ist. Als Besonderheit fällt dabei die hohe Reflexivität der Familie Berg ins Auge, die den Lebensentwurf der Tochter befördert, indem sie ein Verständnis für soziale Wandelprozesse, generationale Unterschiede und wandelbedingte biografische Veränderungen ermöglicht und auf diese Weise Laufbahnkonflikte entschärft. Obwohl die Eltern ihrerseits jeweils eine geradlinige Laufbahn realisiert haben und Janas Lebensentwurf des Typus ›Drift‹ hiervon entschieden abweicht, ermöglicht die Basis geteilter Orientierungen, wie auch die Reflexion der veränderten sozialen Umstände, ein wechselseitiges Verständnis. Jana Berg trägt mit ihrer Praxis zu einer sozialen Logik bei, welche die Singularisierung und Projektorientierung der Gesellschaft forciert, sie bezieht sich jedoch kritisch auf viele Effekte der entsprechenden Wissensordnungen. Ihre Ambivalenz bringt das Verlangen nach einer Gesellschaftsordnung zum Ausdruck, die persönliche Freiheit, interessenbasiertes, sinnstiftendes Arbeiten und inhaltliche wie arbeitsstrukturelle Flexibilität vereinbar macht mit institutionell gewährleisteten Sicherheiten und Arbeitsbeziehungen. Die hohe Institutionen-Affinität ist nicht zuletzt auf Janas soziale Herkunft und die damit einhergehende ausgeprägte institutional literacy zurückzuführen, die ihr einen souveränen Umgang mit Institutionen ermöglicht. Ihre Gründung ist insofern eine Verlegenheitsgründung, als diese für ihr Empfinden zu wenig Struktur und Sicherheit bietet, andererseits stellt die Selbstständigkeit eine der wenigen arbeitsbezogenen Institutionalisierungsformen dar, in denen sie ihren Lebensentwurf realisieren kann. Die Forderung nach mehr Institutionalisierung mag im Lichte des ausgeprägten Freiheits- und Eigenständigkeitsdrangs zunächst kontraproduktiv wirken. Dies gilt aber nur im Rahmen der beschriebenen, gegenwärtig transversal wirksamen praktischen Logiken. Der Fall zeigt also auch, dass diese nicht widerspruchsfrei (re-)produziert werden.
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Familie Wunsch
Kurzportrait der Familie Wunsch Familie Wunsch – bestehend aus Mutter Roswitha (60), Vater Hans (62) und den beiden Töchtern Marion (38) und Sinabell (33) – lebt in der Nähe einer süddeutschen Großstadt. Familiengeschichte und familiale Alltagsgestaltung sind eng verknüpft mit der beruflichen Karriere des inzwischen verrenteten Vaters: Nach der Volksschule macht Hans Wunsch eine Ausbildung zum technischen Zeichner und wechselt im Anschluss an den Wehrersatzdienst in eines der größten Ingenieursbüros der Stadt. Dort durchläuft er die innerbetriebliche Karriere vom technischen Zeichner zum Abteilungsleiter und ab-
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solviert zudem ein nebenberufliches Fachhochschulstudium der Maschinenbautechnik. In seinem achtzehnten Betriebsjahr bietet ihm ein Kollege an, gemeinsam mit einem dritten Kollegen eine GmbH zu gründen und fortan in der eigenen Firma als Ingenieur tätig zu sein. Hans Wunsch willigt nach langer und reiflicher Überlegung ein (HW: 18) und arbeitet bis zu seiner Verrentung 2008 in und an der gemeinsamen Firma, die zeitweise fast hundert Mitarbeiter beschäftigt. Diese beachtliche Laufbahn, die schließlich auch ein verhältnismäßig hohes Einkommen sichert, wird durch Ehefrau Roswitha aktiv mit vorangetrieben. Hans und Roswitha heiraten 1969. Während Hans sich intensiv seiner beruflichen Karriere widmet, kümmert sich Roswitha insbesondere um den Haushalt und um die Kindererziehung. Als ihr Mann Mitte der 1980er Jahre die Firma gründet, unterstützt sie ihn nicht nur im Entscheidungs- und Gründungsprozess. Sobald die Kinder im Jugendalter sind, übernimmt Roswitha die Buchhaltung der GmbH, übt also – entsprechend ihrer kaufmännischen Ausbildung – ihren erlernten Beruf in der Firma ihres Mannes aus. Sie arbeitet gerne und schätzt Veränderungen, wechselt in ihrem Berufsleben immer wieder Arbeitgeber und Branche und handelt dabei stets bessere Konditionen aus. Ende der 2000er Jahre wechselt sie dann das Arbeitsgebiet und macht sich mit Hypnoseund Klangbehandlungen im eigens hierfür umgebauten Dachgeschoss des Eigenheims selbstständig. Berufstätigkeit ist ihr sehr wichtig und sie unterbricht diese auch immer nur zeitweise, um sich auf die Kindererziehung zu konzentrieren. 1971 kommt Marion Wunsch zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt lebt die Familie noch in der Großstadt, wo Tochter Marion auch die ersten Klassen der Grundschule besucht. Mit dem Umzug ins Umland wechselt sie an eine Grundschule vor Ort und später an das Gymnasium einer benachbarten Kleinstadt. Nach dem Abitur will Marion zunächst Kunst studieren, wird jedoch nicht zugelassen. Alternativ absolviert sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau, macht eine Weiterbildung im Bereich Webdesign und spezialisiert sich schließlich auf EDV. 1996 heiratet sie und zieht sich ein Jahr später aus ihrem Beruf zurück, um sich um die Erziehung der beiden Söhne zu kümmern. Im Jahr 2000 macht sie sich als Webdesignerin und Leiterin verschiedener Mal- und Zeichenkurse selbstständig. Die im Zentrum der folgenden Ausführungen stehende Gründerin Sinabell Wunsch ist die jüngere Tochter der Familie. Im Jahre 1976 geboren, besucht sie von Beginn an die Grundschule auf dem Land, wechselt später ebenfalls auf das nahegelegene Gymnasium und schließt 1995 an das Abitur eine Banklehre an. Nach Abschluss der Ausbildung wird Sinabell von der Bank übernommen und 1999 im Rahmen eines bankinternen TraineeProgramms in eine rheinische Großstadt entsendet, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernt. Zurück in Süddeutschland arbeitet sie zwei Jahre als Assistentin im Firmenkundengeschäft, kündigt aber dann aufgrund der – ihrer Wahrnehmung nach – schlechten Aufstiegschancen für Frauen ohne Studienabschluss. 2001 heiratet Sinabell Wunsch Alexander Dobermann. Im selben Jahr nimmt sie das Studium der BWL an einer renommierten Universität auf, wechselt jedoch 2003 als Teilzeitstudentin an eine Fernuniversität, wo sie auch zum Zeitpunkt des Interviews noch studiert. Neben dem Studium jobbt sie in einer Steuerkanzlei, bis sie sich 2007 als Coach insbesondere für Frauen in beruflichen Umbruchsituationen selbstständig macht.
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Familiale Dispositionen Leistungsorientierung und Aufstiegsaspiration Mit der erfolgreichen Akkumulation ökonomischen und institutionalisierten kulturellen Kapitals im Rahmen der väterlichen Karriere gelingt Familie Wunsch ein sozialer Aufstieg durch Investitionsgüter, die unter Rekurs auf die Sozialraumanalysen Pierre Bourdieus als typische Aufstiegsressourcen der organisierten Moderne zu identifizieren sind: Ein sozialräumlicher ›Ortswechsel‹ ist im von Bourdieu (1985a: 13) untersuchten sozialen Gefüge »um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben«. Dieser Einsatz prägt auch den Alltag der Familie Wunsch: »ob jetzt am Abend oder am Wochenende, wars eigentlich dann schon oder Frühstück, dass wir zusammen gesessen sind und mein Mann da nicht wirklich abschalten hat können. Und ihm so viel im Kopf durch ist und das dann auch, dann natürlich auch drüber gesprochen worden ist. […] Bis sie dann eines Tages mal beide gesagt haben, äh, wir haben nur noch das Geschäft im Kopf und wir reden nur noch vom Geschäft. Und dann ist uns das bewusst geworden, dass wir das, dass es tatsächlich so ist […] Und das war dann, da haben wir dann gesagt, das darf nicht sein, also wir müssen uns zurück halten und zumindestens beim Essen nicht mehr über das Geschäft reden. Und dann war, wars aber dann schon so, dass wir dann gesessen sind und mein Mann oder mir schon wieder was auf der Zunge gebrennt hat, wo wir gedacht haben, hoffentlich stehen die bald auf und gehen, dass wir das jetzt besprechen können, weil wir wolltens dann nicht mehr vor den Kindern ausdiskutieren. Aber gut, wir waren da auch jung und, und um die 30 und das war halt einfach wichtig für uns. Es war eine Existenz, es war, von dem Ganzen war das abhängig das Haus hier zu finanzieren, die Urlaube, das Auto, alles. Die Ausbildung der Kinder, Versicherungen, alles, was so drum rum hängt. Hätte mein Mann die Arbeit nicht so gehabt, hätte er um einiges weniger verdient und dann wär halt auch einiges nicht möglich gewesen, so, das ist einfach so.« (Roswitha Wunsch 25/28-47) Die Selbstständigkeit des Vaters bzw. der Eltern nimmt also einen wesentlichen Teil des Alltagslebens in Anspruch und wird – trotz Bemühung um Zurückhaltung – in das Familienleben hineingetragen. Begründet wird die Priorisierung geschäftlicher Belange mit dem Streben nach einem bestimmten Lebensstandard bzw. den Statusinsignien einer respektablen Lebensführung nach fordistischem Ideal (Haus, Urlaub, Auto, Ausbildung der Kinder, abgesichertes Leben). Dabei wird deutlich, dass alle Familienmitglieder ihren Beitrag zum Gelingen des sozialen Aufstiegsprojekts leisten: Die Kinder müssen nicht nur auf Familienzeit verzichten, sie müssen sich auch den Sparzwängen fügen, die der Aufstieg zeitweilig erfordert: »Ich mein, wenn man sich Haus baut, dann verschuldet man sich ganz automatisch und teilweise bis zum geht nicht mehr, ja. […] Man hat immer am Anfang noch Vorstellungen, was das kostet und das wird dann doch immer mehr. Und dann muss man mehr oder weniger ja doch sparen, ja oder sparsam sein, ja. Ja und wir sind damals mit unserem Hausbau in so eine ungünstige Zinsphase rein geraten […] Und da muss man dann schon sparen, ja. […] Und das hat dann schon auch ein bissl geprägt, ja. Und auch die Kinder, die haben das natürlich auch mitgekriegt« (Hans Wunsch 18/21-32)
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Mit Sparsamkeit und hohen Zeitinvestitionen arbeiten Roswitha und Hans Wunsch beharrlich an ihrer beruflichen Zukunft und denken vor allem auch an die Zukunft der Kinder. Beide Eltern möchten den Töchtern vermitteln, dass es wichtig ist, eine gute Schulausbildung und eine vernünftige Ausbildung zu haben. Hans Wunsch schätzt in diesem Zusammenhang auch die lehrreiche Wirkung praktischer Erfahrungen: Also die haben wirklich in der Fabrik gearbeitet schon, ein paar Wochen mal. Und da haben sie schon mitbekommen, dass es wichtig ist, irgendwas zu tun in der Schule (HW: 12). Die große Bedeutung des sozialen Aufstiegs und der Vermittlung der Einsicht, wie wichtig eine gute (Schul-)Ausbildung bzw. wie hart ein Leben als Arbeiter*in ist, zeigt sich mit Blick auf die soziale Herkunft der Eltern. Sowohl Roswitha als auch Hans stammen ursprünglich aus bescheidenen Verhältnissen: Roswithas Mutter ist alleinerziehend und arbeitet als Kantinenhilfe – eine Situation, die Roswitha als sehr prekär in Erinnerung geblieben ist (Meine Mutter war eine sehr einfache Frau, Arbeiterin und alleinerziehend, da wars auch schon schwierig; RW: 24). Vater Hans Wunsch stammt hingegen aus einer großen Arbeiter- und Handwerkerfamilie. Sein Vater, ein gelernter KFZ-Mechaniker, arbeitet als Kraftfahrer für die städtischen Betriebe seiner Heimatstadt, bis er schließlich in den Betriebsrat gewählt wird. Auch Hans’ Bruder wechselt, nach einer technischen Ausbildung, als Hausmeister in den öffentlichen Dienst, die Schwester ist Verkäuferin. Der Vater nimmt in seiner Erzählung keinen Bezug auf seine Herkunftsfamilie, Tochter Sinabell beschreibt die väterliche Verwandtschaft jedoch als Negativbeispiel: »UND ich glaub’ wirklich, auch so diese Geschichten mit, mit meinen Onkeln und, und Tanten, dass ich da so diese Negativ-, für mich damals Negativbeispiele hatte. Des war so ein bisschen ja . eher so proletenmäßig so, ja, so. Ja, war aber auch ein ganz anderes Klientel, also die sind, sind beide Hausmeister, und das war irgendwo so. Ja, und da hab ich irgendwo in meinem Kopf diese Verknüpfung, ja, das sind halt so, ps, ps, ich sag’s jetzt mal: Das einfache Volk, ja, und die sind so, ja, wir sind doch die Arbeiter und mhh. Und dann eben da so meine Eltern, mein Vater der souveräne Geschäftsmann.« (Sinabell Wunsch 07/33-40) Diese Haltung – geringschätzig auf der einen, reflektiert auf der anderen Seite – zeugt von der lebensweltlichen Distanz, die Familie Wunsch durch ihren sozialen Aufstieg zum Herkunftsmilieu entwickelt hat. Auch zeigt sich in der Vehemenz der Ablehnung die ausgeprägte Distinktion des aufstiegsorientierten Kleinbürgertums und die »mittlere Kultur«, die sich »als Gegensatz zum Vulgären« versteht und abzugrenzen sucht (Bourdieu 1987: 511). Darunter leiden nicht zuletzt auch – wie Bourdieu herausstellt – Solidarität und Sympathie gegenüber den Lebensstilen der beherrschten Klasse. Mit wachsendem ökonomischem Kapital und sich veränderndem beruflichem Status wandelt sich auch der Lebensstil von Familie Wunsch. Nach sparsamen Jahren des beruflichen Aufbaus leistet sich die Familie Urlaubsreisen, ein Eigenheim und eine Haushaltshilfe, die Kinder nehmen Ballett- und Musikunterricht. Im Ruhestand kauft Ehepaar Wunsch ein Wohnmobil. Die Familie eignet sich also den ›typischen‹ Lebensstil der gehobenen Mittelschicht an, wobei sich in dieser positionsgemäßen Aneignung die für diese Zeit kennzeichnende »Standardisierung und Normalisierung menschlicher Tätigkeiten und Erwartungen« ausdrückt (Wagner 1995b: 154): Einkommen, beruflicher Status und Lebensstil werden tendenziell zu sozialen Arrangements zusam-
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mengeschlossen, die soziale Positionen konventionalisieren und formal organisieren, indem sie für die Gesellschaftsmitglieder als stringente Lebensform erkennbar werden und zugleich eine Blaupause für eine angemessene Lebensführung darstellen.
Konventionen und Meritokratie Der soziale Aufstieg ist – trotz Formalisierung sozialer Positionen – voraussetzungsreich und nur dank begünstigender, familial geteilter Orientierungsmuster zu bewältigen. Zwar räumt Familie Wunsch den sozialen und biologischen Bedingungen implizit einigen Einfluss bei der Herstellung sozialer Ordnungen ein, wenn etwa Mutter Roswitha darauf verweist, dass Kinder so zusammen[kommen], wie sie vom Intellekt auch zusammen […] sich fühlen (RW: 24). Als entscheidend wird jedoch die Umwandlung persönlicher Qualitäten, wie etwa Intelligenz und Disziplin, in Leistungen betrachtet. Familie Wunsch glaubt an ein meritokratisches Ordnungsprinzip, das eine leistungsgerechte Verteilung gesellschaftlicher Positionen gewährleistet. Auf dieser Basis verbinden sich das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ein hohes Arbeitsethos zu einer erfolgversprechenden Aufstiegsstrategie, die auch in Hans Wunschs Lebensphilosophie zum Ausdruck kommt: Wenn man was erreichen will, was haben will, muss man was tun. Und man muss sich das erarbeiten. Man kann nicht darauf warten, dass man irgendwo was geschenkt kriegt. (HW: 17) Die aspirierte Position, die man erreichen bzw. haben will, ist in dieser Maxime kausal an Arbeit – genauer: an ein proaktives Erarbeiten – geknüpft. Diese Vorstellung wird hier in Form einer Gesetzmäßigkeit vorgetragenen. Eine passive, abwartende Haltung führt hingegen nicht zum erwünschten Ziel. Dabei zeichnet sich diese Orientierung durch eine narrative Reduktion auf das Wesentliche aus: Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Arbeit, in der Anstrengung selbst, es werden keine genaueren Hinweise auf die Inhalte der Arbeit gegeben. In der Logik der organisierten Moderne ist dies auch nicht notwendig, weil die Standardisierung von Lebenswegen, Arbeitsprofilen und sozialen Rollen die Ziele definiert und die Leistungen normiert, auf welche sich alle Anstrengungen richten sollen. Ein sozialer Aufstieg ist also durch disziplinierte Pflichterfüllung bzw. Übererfüllung zu bewerkstelligen. Zwar verbindet sich mit Hans Wunschs beruflichem Werdegang nicht nur die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg, sondern auch ein erhebliches unternehmerisches Risiko, da Familie Wunsch über keinerlei ökonomisches Kapital verfügt, auf das sie im Notfall zurückgreifen kann. Weil sie jedoch von der Wirksamkeit des Leistungsprinzips überzeugt ist, kann sie die Unternehmensgründung wagen – sie verlässt sich auf das Aufstiegsversprechen und Zukunftsgewissheit der organisierten Moderne. Die weitreichenden sozialen Konventionalisierungen, die den Kontext ihres Aufstiegsprojekts bilden, wirken dabei als eine Versicherung: Das Leisten guter Arbeit bzw. die disziplinierte Orientierung am zu erreichenden Soll wird gesellschaftlich belohnt. Neben dem Vertrauen auf die Entlohnung guter Arbeit legt Familie Wunsch jedoch Wert auf ein planvolles Vorgehen. Vater Hans erinnert sich an einen gewissen Überlegungsprozess bzw. ein sehr langes und reifliches Durchdenken im Vorfeld der Gründung (HW: 18f). Die mit der Rechtsform einer GmbH einhergehende Möglichkeit, im eigenen Unternehmen den Status eines regulären Angestellten haben zu können, beruhigt
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ihn und erleichtert die Entscheidung ebenso wie die Tatsache, dass er nicht auf sich allein gestellt ist: alleine hätt ichs nicht gemacht, das ist sicher. […] sobald man größere Aufträge übernehmen will, dann braucht man natürlich auch Angestellte. Und dann wird das Risiko natürlich immer größer, ja, wenn irgendwelche Angestellte da sind. Und das allein zu schultern, hätt ich mich also nicht getraut (HW: 19). Hans Wunsch begegnet den Unabwägbarkeiten der Gründung also einerseits mit Risikoverteilung und andererseits mit Sicherheitsvorkehrungen in Form einer strengen rechtlichen bzw. vertraglichen Reglementierung. Damit setzt er auf vertragliche Gerechtigkeit, die sich auf den Glauben stützt, dass derartig formalisierte Ordnungen auch Risiko und Kontingenz einzuschränken vermögen (Ewald 1991). Umgekehrt ist jedoch die konsequente Einhaltung der Regeln geboten. Das disziplinierte, an formalen Regeln orientierte Handeln bildet einen wesentlichen Bezugspunkt der familialen Alltagspraxis der Wunschs. Den Kindern wird frühzeitig verdeutlicht, dass es Verpflichtungen gibt, die nicht zur Diskussion stehen. Roswitha Wunsch erinnert sich an den frühzeitigen und bewussten Einbezug ihrer Töchter in die Hausarbeit. Das war aber jetzt nicht, um mir die Arbeit zu erleichtern, sondern ich fand’s einfach wichtig, dass sie eine Regelmäßigkeit im Leben finden oder lernen, dass man was tun muss (RW: 27). Hier zeigt sich eine generationale Transmissionsstrategie, die auf die Weitergabe der bereits im Motto des Vaters anklingenden Grundhaltung gerichtet ist. Die Beteiligung an häuslichen Pflichten wird zur pädagogischen Maßnahme, in der das familiale Arbeitsethos, die Notwendigkeit einer strukturierten Lebensführung sowie ein generelles Pflichtbewusstsein vermittelt werden: das war dann, meines Erachtens, einfach auch dieser Lernprozess […] das mach ich jetzt nicht bloß, weil’s mir Spaß macht, sondern DAS ist was, wo sein MUSS (RW: 28). Entsprechend wird Roswitha Wunsch von ihrer Tochter Sinabell auch als streng und sehr konsequent beschrieben: Also es lief bei uns sehr diszipliniert ab zu Hause (SW: 18). Allerdings geht es bei der vermittelten Diszipliniertheit nicht um blinde Folgsamkeit, sondern vielmehr um die konsequente Befolgung von Regeln, die sinnvoll aufeinander bezogen sind und ein handlungsleitendes Ordnungssysteme bilden. »Also ich hab auch nicht groß Verbote gemacht, ich hab immer erklärt warum. Also nach der Schule heim, nicht irgendwo rumstrawanzen. Und ich hab eben nicht als Gebot, ›ihr müssts Heim‹, sondern ich hab ihnen erklärt warum. Aus versicherungstechnischen Gründen oder, dass, wenn sie nicht rechtzeitig da sind, dass ich mir halt Gedanken mach und eventuell nachschau. Und drum sind sie immer zuerst heim und haben gesagt, du, ich geh noch da vorne Schlitten fahren […], haben ihren Schulranzen hier rein und dann ›geh, ich mach derzeit’s Essen fertig‹. Kamen die in ner viertel Stunde wieder. Also das waren so diese, diese Sachen, wo für mich wichtig war.« (Roswitha Wunsch 34/43-35/04) Obwohl Roswitha Wunsch ihre Erziehung nicht als ein Gefüge von Verboten und Geboten verstanden wissen will, zeigt sich in der narrativen Rekonstruktion doch eine Alltagspraxis, die über die Explikation von Handlungsgesetzen organisiert ist. Allerdings betont Roswitha, dass es sich dabei eben nicht um willkürliche Gebote, sondern um das Einfordern eines Verhaltens handelt, welches allgemeine Kausalitäten berücksichtigt. Mit dem Vorrang, den Roswitha versicherungstechnischen Gründen gegenüber ihren persönlichen Befindlichkeiten einräumt, verweist sie auf übergeordnete, gesellschaftliche Gebotsebenen, die weit in die Strukturierung des Alltags hineinreichen, die Handlungs-
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regeln legitimieren und zugleich deren zentrale Produktionsinstanzen bilden. Institutionen, soziale Richtlinien und Normen werden von ihr ernst genommen und geachtet. Roswitha Wunsch beansprucht keineswegs, die Schöpferin geltender Regelsysteme zu sein; darauf deutet auch die verallgemeinernde Formulierung hin, mit der auf Handlungsverpflichtungen hingewiesen wird (lernen, dass man was tun muss). Durch diese Generalisierung erhalten Regeln und Pflichten einen moralischen Charakter, der auch jenseits der persönlichen Erwartungen von Roswitha Wunsch seine Wirkung entfaltet. Auf dieser Basis besteht Roswithas erzieherische Aufgabe nun in der Vermittlung gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien. Als Mutter legt sie Wert auf die logische Erschließung von Regeln und Folgen der Zuwiderhandlung, was den resultierenden Leitlinien nicht zuletzt einen zwingenden Charakter verleiht. Und sie unterwirft auch das eigene Handeln einer strikten Regelbefolgung, was sich in der wiederholten Charakterisierung als enorm konsequente Person durch Tochter Sinabell dokumentiert: Sowohl Grundsätze als auch analoge Handlungsabläufe weisen in Roswithas Rekonstruktion ein hohes Maß logischer, geradezu zwingender Kausalbeziehungen auf und greifen dabei reibungslos ineinander. So fügen sich Heimweg, Kinderfreizeit und Essenszubereitung wie eine eng getaktete, aber harmonische Gesamtkomposition unter Wahrung der rechtlichen Konformität. Freizeitaktivitäten sind für die Töchter bis zu einem gewissen Grad zwar frei wählbar, müssen aber mit der Mutter abgestimmt werden und unterliegen damit ihrer Koordination und Kontrolle. Insbesondere die Einpassung in den Tagesablauf wird durch Roswitha vorgegeben und überwacht. Dass ihr dies als Strenge ausgelegt wird, ist ihr dabei durchaus bewusst, ändert aber nichts an ihrer Überzeugung, dass die Vermittlung bestimmter Grundregeln objektiv notwendig ist: Also sie haben es bestimmt so rüber gekriegt, dass ich streng war. Also mit Sicherheit. […] Aber es waren so ein paar so Grundsachen, wo ich schon Wert darauf gelegt hab, dass die… Weils einfach wichtig sind (RW: 35).
Disziplin und Ehrgeiz Entsprechend der mütterlichen Überzeugungen und der familialen Alltagspraxis zeichnet sich Sinabell Wunschs Kindheit durch ein hohes Maß an Verpflichtungen aus: Nach eigenem Bekunden lernt sie viel für die Schule und arbeitet in ihrer Freizeit, um das Taschengeld aufzubessern. Außerdem übt sie Querflöte, spielt Tischtennis und geht ihrer großen Leidenschaft, dem Balletttanz, nach. Diese Aktivitäten gliedern die wöchentlich zur Verfügung stehende Zeit, es bleibt wenig Raum für spontane und ungeplante Aktivitäten. Hinzu kommen Pflichten im Haushalt: »Also das war schon so: Heimkommen, essen, Hausaufgaben machen. Und erst wenn Hausaufgaben fertig waren, dann durften wir raus. Also da gab’s schon, und wir hatten auch unsere Aufgaben im Haushalt zu erledigen, meine Schwester und ich. Wir hatten damals schon einen Hund, auch da gab’s natürlich die, äh, Regeln und Zeiten, einfach wer geht wann mit dem Hund raus. […] Also es war absolut durchstrukturiert.« (Sinabell Wunsch 18/14-25) Die starke Alltagsstrukturierung zeigt sich einerseits im großen Gesamtkatalog definierter Schul- und Freizeitaktivitäten, andererseits aber auch auf Ebene einzelner Abläufe und Praktiken, etwa im ritualisierten Heimkommen, essen, Hausaufgaben machen und im klaren System von Regeln und Zeiten, Zuständigkeiten und Pflichten. Der Duktus ein-
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deutiger Gesetzmäßigkeiten, der bereits die Erzählungen der Mutter kennzeichnet, findet sich auch in Sinabells Rekonstruktionen des familialen Alltags wieder. Allerdings dokumentiert sich auch ein hierarchisches Verhältnis, in dem neben der allgemeinen Durchstrukturiertheit des Alltags die Eltern als regelgebende Instanz in Erscheinung treten. Zwar entwickelt die Tochter ein Verständnis für Kausalbeziehungen und Handlungskonsequenzen, die sie auch zur Beschreibung der familialen Alltagspraxis nutzt (wenn Hausaufgaben fertig waren, dann durften wir raus). Entgegen den explizierten Erziehungszielen der Mutter bezieht sie diese jedoch nicht ungebrochen auf gesellschaftlich generalisierte Ordnungsprinzipien, sondern identifiziert die Eltern als Autoritäten, die den Alltag strukturieren und die Einhaltung der Ordnung überprüfen und sanktionieren (dann durften wir raus). Die hochgradige externe Strukturierung der Kindheit und Jugend wird von Sinabell dabei in spezifischer Form internalisiert und bringt eine Haltung hervor, die zwar die Zufriedenstellung der Eltern gewährleistet, von deren Grundüberzeugung jedoch leicht abweicht: »Also meine Eltern hamm da nie was sagen müssen. […] Ich war immer so die perfekte Tochter. Also ich hab immer . meine Eltern haben sich eigentlich nie um mich Gedanken machen brauchen. […] Ich hab immer mein Zimmer schon vorher aufgeräumt, bevor meine Mutter [lachend] was sagen konnte. Ich hab schon immer gelernt, damit auch keiner was sagen konnte. Also ich hab das immer vorweggenommen. Und meine Schwester war da ganz anders, da war das eben genau das Gegenteil, äh, und, also da hatten meine Eltern schon sehr, sehr viele . sehr viel zu kämpfen mit meiner Schwester, die ja älter ist als ich. Und ich war halt immer so, ich war der Sonnenschein und so . Und um mich hat man sich halt nie Gedanken machen brauchen. Ich war so die . War natürlich dann auch schwierig für meine Schwester immer, weil ich dann immer so die Vorzeigetochter war. So, ja, schau doch mal, Sinabell macht das doch, warum kannst das nicht oder warum machst du das nicht. Das war natürlich schon sehr schwierig auch und, ähm, also ich denk, bei mir war’s einfach Taktik. Also ich war einfach damals schon so gewieft und hab halt dann für mich immer so schon abgecheckt, naja, was ist jetzt besser, gleich Zimmer aufräumen und keinen Anschiss kriegen« (Sinabell Wunsch 18/31-47) Der hier beschriebene vorauseilende Gehorsam ermöglicht den reibungslosen Ablauf in eng gefügten Alltagsstrukturen: Er äußert sich in einer exakten Pflichterfüllung bevor eine Regel oder Erwartung (erneut) expliziert oder deren Einhaltung eingefordert werden muss. Dies erfordert ein ausgeprägtes Gespür und Verständnis für Regeln, birgt aber auch ein heteronomes Selbstverhältnis. Das gelungene Antizipieren und Erfüllen von Erwartungen rekonstruiert Sinabell jedoch als gewiefte Strategie und proaktives Verhalten. Die erfolgreiche Rollenentsprechung ist ein wesentlicher Fluchtpunkt der Selbstwahrnehmung, insbesondere definiert sich Sinabell jedoch einerseits über die Abgrenzung gegenüber der Schwester, die das, was sie selbst leistet, nicht kann. Andererseits definiert sie sich über die Anerkennung, die ihr dabei zuteilwird: als perfekte Tochter bzw. Vorzeigetochter und Sonnenschein, aber auch als tolle Schülerin, die mit Lobeshymnen überschüttet wird (SW: 32), als Beste in der Ballettschule, die ihre Soli hat (SW: 21), oder eine der zwanzig Besten ihres Ausbildungsjahrgangs (SW: 30), die für ein Traineeprogramm vorgeschlagen wird. Nach eigener Einschätzung war sie immer irgendwo bei den Besten und sehr elitär (SW: 30; 21).
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Ihre Exzellenz führt sie auf ein hohes Maß an Disziplin zurück und auf ihren – wie sie sagt – verbissenen Ehrgeiz fast schon (SW: 09). Die (im Wortsinn) ›Gier nach Ehre‹ ist zentrales Motiv für das erfolgreiche (Re-)Agieren im Rahmen vorgegebener Strukturen: Anerkennung und Insignien der Anerkennung bilden den Fluchtpunkt, auf den sich Sinabells Handeln ausrichtet. Dabei treten andere Motive wie etwa das Interesse an bestimmten Themen oder die Freude an einer Aktivität in den Hintergrund – sie lernt, damit keiner was sagen kann und verweist damit auf eine Pflichttreue, die über jeden Zweifel erhaben ist. Hierin lässt sich wiederum ein von Bourdieu herausgearbeitetes Merkmal des aufstiegsorientierten Kleinbürgertums wiederfinden, denn dessen Akteure »lassen sich paradoxerweise nur im Hinblick auf ihre objektiven Chancen definieren, über die sie wiederum nicht verfügten, hätten sie nicht auch den entsprechenden Ehrgeiz und fügten sie nicht ihrem ökonomischen und kulturellen Kapital ›moralische‹ Ressourcen hinzu« (Bourdieu 1987: 520, H.i.O.). Dies drückt Sinabell nicht nur in der Betonung ihres Pflichtbewusstseins und ihrer exzellenten Leistung, sondern auch in der dargestellten Überlegenheit gegenüber der unfolgsamen Schwester aus.
Bildungsaspiration und Fortschreibung des familialen Aufstiegsprojekts Im Sinne einer Fortsetzung des elterlichen sozialen Aufstiegs spräche einiges dafür, dass die Töchter Sinabell und Marion eine Laufbahn einschlagen, die ein Hochschulstudium beinhaltet. Hans Wunschs Karriere bringt einen beruflichen und sozialen Status mit sich, der in der Generation seiner Töchter ohne Hochschulstudium kaum zu halten ist. Dies trifft sich auch mit Sinabells Wahrnehmung und sie moniert, dass ihr im Berufsleben immer wieder Leute vor die Nase gesetzt werden, die ein Hochschulstudium haben (SW: 01). Die im Zuge politischer Bildungsoffensiven einsetzende Inflation von Bildungsabschlüssen setzt Sinabell und Marion Wunsch also unter erhöhten Ausbildungsdruck: Zur Verstetigung der familialen sozialräumlichen Positionierung ist das Hochschulstudium ein konsequenter und geradezu notwendiger Schritt. Dies verdeutlicht auch ein Blick auf die ›soziale Nachbarschaft‹ der Familie, also auf die Freundinnen der Töchter und die Bekannten der Eltern, die als Vergleichshorizont in Sachen Lebensführung herangezogen werden. Tatsächlich schildert Roswitha Wunsch das Hochschulstudium als typisches biografisches Element der Folgegeneration: »Ich muss auch zugeben, wir habens in unserem, in unserem Bekanntenkreis, also von in unserem Alter her, wo die Kinder dann auch studiert haben teilweise, da haben, teilweise zwei-drei Jahre älter waren, da haben wir das dann so mitgekriegt, wie die das alles so immer erzählen und stolz wie Bolle waren auf ihre Kinder, und wir dann halt da nicht so mitreden konnten.« (Roswitha Wunsch 22/32-36) Deutlich wird, dass das Studium der Kinder als sozial integrativ, als Möglichkeit des Mitredens und Statussymbol zu verstehen ist. Zum einen dokumentiert sich in der Erzählung Roswithas soziales Gespür: Sie nimmt die Normen ihres sozialen Milieus – hier in Form von Ausbildungsstandards der Kinder – sehr genau wahr, versteht die höhere Bildung als Prestige steigerndes, Stolz erzeugendes Moment und impliziert den Bildungsstand ihrer Töchter als einen defizitären, in bestimmter Hinsicht Ausschluss verursachenden Aspekt. Zum anderen zeigt sich hier also auch der soziale Druck, der durch die Assemblierung ökonomischer, berufsstatusbezogener und lebensstilistischer
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Aspekte zu spezifischen Statuskonventionen erzeugt wird. Der Bildungsaufstieg wird für Sinabell Wunsch daher nicht nur zu einer Frage der Beibehaltung ökonomischer Standards, sondern auch zu einer Frage der Respektabilität. Der Vergleich mit Bekannten und das Identifizieren ›normaler‹ biografischer Verläufe bildet in den Erzählungen der Wunschs den vorrangigen Zugang zum Feld der Hochschulbildung. Vor dem Hintergrund des sozialen Aufstiegs der Eltern besteht eine Distanz zur universitären Bildung, die insbesondere seitens der Mutter mit einer biografischen Kränkung verknüpft ist. Höhere Bildung war den Eltern ungerechterweise – wie Roswitha betont – aufgrund ihrer sozialen Herkunft (zunächst5 ) verwehrt. »das ist dann was, wo ich, wo ich dann lang zu kämpfen hatte. Meine Mutter war eine sehr einfache Frau, Arbeiterin und alleinerziehend, da war’s auch schon schwierig. Und die Lehrerin hat meine Mutter in die Schule kommen lassen und das weiß ich, das war also sehr prägend für mich . Ich hab die Aufnahmeprüfung geschafft und wir haben uns gefreut, meine Freunde, dass wir in die Oberschule kommen. Und dann musste meine Mutter zur Klassenleiterin und die hat dann meiner Mama erklärt, sie möchte davon Abstand nehmen, mich ins, in die Oberschule zu geben, weil das mit sehr viel Kosten verbunden ist und man da eben WÖRTLICH, wörtlich [lacht], immer sehr gut gekleidet sein muss. Und ich war, ich war halt . Ich war sauber, mein Gewand war sauber, aber ich war halt ärmlich gekleidet […]. Und dann hat man da eben dann, ja, mich nicht in die Oberschule. Und das hat mir dann schon sehr, sehr weh getan.« (Roswitha Wunsch 24/09-21) Orientiert am Leistungsprinzip, fühlt sich Roswitha Wunsch durch die Vereitlung einer gymnasialen Schullaufbahn, wie sie ihre Freundinnen einschlagen, ungerecht behandelt und gekränkt. Leistung und Intelligenz stellen sie nicht nur mit den Spitzenschülerinnen der Klasse gleich, für Roswitha steht fest, dass sie sich überhaupt erst auf Basis des gemeinsamen Intellekts zusammengefunden haben. Das Herauslösen aus dem Freundeskreis und damit aus der ›natürlichen‹ Ordnung führt ihr eine Ungleichheit vor Augen, die nicht durch den einzig legitimen Maßstab – ein Leistungsgefälle – rechtfertigt ist. Sie identifiziert nicht nur ökonomischen Mangel als Grund für ihre Abwertung, sondern auch das hieraus folgende Fehlen symbolischen Kapitals, wie der Hinweis auf ihre formal korrekte (sauber), aber nicht hinreichende reputable (ärmliche) Kleidung zeigt. So lernt sie Bildung sehr früh als gesellschaftlich umkämpftes und ungerecht verteiltes Gut, aber auch als Mittel der Distinktion kennen. Diese Erfahrung führt aber keineswegs dazu, dass Roswitha ihren Bildungswunsch aufgibt, vielmehr wird Bildung für sie zu einem zentralen Motiv: Das war aber so mein Traum, ich wollt immer dann mehr wissen (RW: 44f). Die Wissbegierde bezieht sich einerseits auf pragmatische, berufsbezogene Wissensbestände, die sie in ihrer beruflichen Laufbahn effektiv in ökonomisches Kapital umzuwandeln weiß. Vor allem bezieht sie sich aber auch auf Wissen, das nicht an einen unmittelbar ökonomischen Verwendungszweck gebunden ist, sondern symbolischen Wert besitzt und im (hoch-)kulturellen Bereich anzusiedeln ist. Dies beeinflusst auch die Erziehung der Töchter, die neben 5
Alle Familienmitglieder unterschlagen in den Interviews, dass Vater Hans berufsbegleitend studiert hat bzw. ignorieren, dass der Fachhochschulabschluss einen akademischen Grad darstellt. Dies unterstreicht die starke Idealisierung der (klassischen) ›höheren Bildung‹.
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einer guten Schulbildung auch Zugang zu klassischen bürgerlichen Bildungsgütern erhalten und sich beim Balletttanz und Musizieren ästhetisch bilden sollen. Sinabell und Marion bemerken durchaus, dass ihre Hobbys insbesondere auch mit den Leidenschaften ihrer Mutter verbunden sind: das ist einfach menschlich, dass einem das, was einem persönlich gefällt dann auch wichtig ist. Denk jetzt mal Musik und Tanz war meiner Mutter schon wichtig […]. Hätt ihr persönlich auch immer gut gefallen und dann war das natürlich auch wichtig (MW: 14). Bei aller Wertschätzung kultureller Insignien und universitärer Bildung bleibt Roswitha der Besuch von Gymnasium und Hochschule verwehrt, sodass sie akademische Bildung alltagspraktisch nicht kennenlernen kann. Das Zusammenspiel dieser Umstände bildet die Basis für eine Verklärung und Idealisierung höherer Bildung. »Weil man dann ja doch irgendwo geprägt ist, von dem was man von anderen hört. Zumal, ich muss dazu sagen, wir ja jetzt von unserer Seite, weder von meinem Mann, noch von mir, niemand studiert hat. In unserer Familie. Und somit waren die Zusammenhänge mit Studium, wie geht das, was bedeutet das, also natürlich was es bedeutet schon, aber jetzt nicht, wie das alles dann läuft, also . Aber, wenn man dann so gehört hat von anderen, wie gesagt, von der Freundin von der Marion, die Psychologie studiert hat und deren Schwester Medizin und von unserem Bekannten der Sohn Medizin studiert . Wie man das dann so mitgekriegt hat, hab ich gedacht, mhh, ja, das wär, das tät mir jetzt auch gefallen. Zu sagen, meine Tochter studiert Medizin und jetzt promoviert sie da oder jetzt ist sie in Boston und, ja, so diese ganze Dinge. Das hätt mir gefallen, dennoch sind wir beide jetzt nicht, das hätt mir so, ja, innerlich gefallen. Aber ich weiß auch, ich hätt da nicht groß das so raushängen lassen. Also das war jetzt nicht so, dass ich das, ich hab halt gemerkt, das hätt mir gefallen.« (Roswitha Wunsch 23/03-14) Während Roswitha Wunsch problematisiert, dass weder sie noch ihr Mann die alltagspraktischen Zusammenhänge eines Studiums kennen, stellt sie heraus, dass ihr durchaus bewusst ist, was ein Studium bedeutet. Dabei stellt sie insbesondere auf eine spezifisch statusbezogene Bedeutung ab: Das Reizvolle an einem Studium der Töchter ist für Roswitha die symbolische Wirkung und sie skizziert sehr konkret die Darstellungssituation, das Mitreden und (diskrete) Vergleichen im sozialen Umfeld. Dabei eskaliert sie im Verlauf der Erzählung die erträumten Bildungsinsignien, angefangen bei dem hoch respektablen, beliebten und daher auch mit stärksten formalen Zutrittsbeschränkungen belegten Fach Medizin, über den höchsten formalen Bildungsgrad Promotion bis hin zu einem Auslandaufenthalt in Boston, einem Studienort, der mit den im Großraum der Stadt angesiedelten Eliteuniversitäten assoziiert ist. Neben der affektiven Betonung der symbolischen Wirksamkeit bleiben inhaltliches Interesse, berufliche Neigung und Freude an einer bestimmten Arbeitspraxis in diesem Zusammenhang unthematisiert. Zwar hebt Roswitha an anderer Stelle hervor, dass ihr vor allem wichtig ist, dass ihre Töchter glücklich werden (RW: 21). Dennoch trauert sie dem verschenkten Potenzial nach, weil sie wirklich, wirklich, ja, intelligent waren und ich sagte ja schon, die hätten alles offen gehabt. Und das hätte uns gefallen, aber nicht um den Preis, dass wir unsere Kinder dazu gezwungen hätten (RW: 22). Die Art der Bezugnahme auf Bildung verweist auf den von Bourdieu und Passeron (2007: 31) herausgearbeiteten Umstand, dass das »kleinbürgerliche Milieu« dazu tendiert, insbesondere die Hochachtung vor und »den guten Willen zur Bildung« an
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die nachfolgende Generation weiterzugeben. Dieses soziale Erbe ist für die Töchter in doppelter Hinsicht prekär: Die Diskrepanz zwischen dem vorhandenen Wissen um die symbolische Wirksamkeit von Bildung bzw. um Bildungsinsignien, die höchste soziale Anerkennung versprechen, und dem mangelnden (impliziten) Wissen um Strategien zu deren Erreichung stellt einerseits eine große praktische Herausforderung dar, denn sie verwandelt sich in einen (verdeckten) Aufstiegsauftrag ohne Bereitstellung der notwendigen Mittel. Auch besteht die Gefahr, dass sich in der familialen Alltagspraxis nicht in erster Linie ein Bildungsinteresse, sondern insbesondere die Orientierung auf prestigereiche, statusanzeigende Kapitalien vermittelt. Andererseits birgt die ererbte Form der Bildungsaspiration das Risiko, mit der Überhöhung des klassischen akademischen Bildungsverlaufs (Abitur – Studium – evtl. Promotion) alternative Bildungswege zu verkennen und damit nicht nur eigenen Leistungen die Wertschätzung zu entziehen, sondern solche Bildungsverläufe darüber hinaus auch zu untergraben: Während Roswitha Wunsch ihre und ihres Mannes Bildungsverhinderung beklagt und die verpasste Chance bedauert, sich als Mutter einer promovierten Medizinerin profilieren zu können, gerät aus dem Blick, dass Hans Wunsch über ein abgeschlossenes Fachhochschulstudium verfügt und Sinabell Wunsch nach einigen Jahren beruflicher Erfahrung ebenfalls ein Studium aufgenommen hat. Pragmatisch angelegte Bildungsstrategien werden dadurch tendenziell entwertet und erschwert.
Lebensentwurf und sozialer Wandel Mit Blick auf sozialen Wandel zeigt sich der Fall der Familie Wunsch als besonders komplexe Gemengelage aus habituellen Ambivalenzen, die aus den teils disparaten Orientierungen der Eltern abgeleitet werden können, und Transformationen, die aus dem Aufeinandertreffen von Habitus und (veränderten) sozialen Kontexten erwachsen. Dabei lassen sich einige Aspekte jener Konstellationen rekonstruieren, die bereits von Bourdieu, aber auch in Forschungsarbeiten im Anschluss an Bourdieu als spezifische Herausforderungen bzw. Risiken des aufstiegsorientierten Kleinbürgertums herausgearbeitet wurden. Hierzu zählen einerseits ambivalente Orientierungsmuster hinsichtlich höherer Bildung und das Überwinden der praktischen Distanz zum universitären Feld und andererseits Laufbahnkonflikte, also durch sozialen Wandel verursachte, jedoch unvorhergesehene und habitusstrategisch nicht aufgegriffene Verlagerungen der Trajektorien. Zugleich zeigen sich im Fall der Familie zwei weitere Aspekte, die auf eine veränderte soziale Praxis im Wechselspiel familialer Transmissionsprozesse und gewandelter Kontexte hinweisen: Einerseits findet bei Sinabell Wunsch eine Veränderung der Haltung gegenüber dem familialen Aufstiegsprojekt statt, andererseits erzeugt die bereits bei den Eltern feststellbare Vagheit der Zielerreichungsstrategien im Rahmen neuer sozialer Kontexte, aber auch vor dem Hintergrund veränderter transversaler Logiken, Verlagerungen in Sachen Lebensführung und Arbeitsstrukturierung. Entlang dieser vier Fluchtpunkte sollen im Folgenden die im Fall der Familie zutage tretenden Aspekte praktischen Wandels nachvollzogen werden. Zudem zeigt sich bei Sinabell Wunsch als Effekt der multiplen habituellen und kontextuellen Verschiebungen ein Lebensentwurf, der von Spannungen durchzogen ist, sowie ein zwiespältiges Verhältnis gegenüber der eige-
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nen Biografie. Das kritische Moment, in dem sich die praktischen Ambivalenzen und Konflikte brechen, stellt der von Sinabell angestrebte Bildungsaufstieg dar.
Internalisierte Ambivalenzen und Habitus-Feld-Diskordanzen Obwohl Sinabell Wunsch sich erinnert, eine sehr gute Schülerin gewesen und von den Eltern bereits als potenzielle Jura- oder Medizinstudentin betrachtet worden zu sein (SW: 28), macht sie zunächst eine Bankausbildung. Hier entfaltet eine auf Sicherheit bezogene Orientierung ihre Wirkung und konterkariert die Bildungsaspiration: Also das war halt damals irgendwo […] so: ›Kind geh zur Bank, lern was Gescheites, und da hast einen sicheren Job‹ (SW: 28). Zwar informiert sie sich sowohl nach dem Abitur als auch nach Abschluss der Banklehre über mögliche Studiengänge, beginnt jedoch erst nach einiger Berufserfahrung im Alter von 25 Jahren ein BWL-Studium. Dieses stellt sie allerdings vor unerwartete Herausforderungen: Die guten Leistungen, die sie in Schule und Ausbildung gezeigt hat, kann sie an der Universität nicht erbringen. Sie ist zudem frustriert, weil sie keinen Zugang zu der akademischen Form jenes Wissensgebiets findet, mit dem sie sich berufspraktisch schon viele Jahre beschäftigt. Und schließlich fällt es ihr schwer, die Disziplin, die in der Vergangenheit ihre Bildungspraxis auszeichnete, im Rahmen des Studiums aufrechtzuhalten. Sinabell versteht das Studium einerseits – wie vor allem ihr Vater – als praktische und formale Qualifikation, die einen direkten Bezug zum Berufsleben aufweist, andererseits – wie ihre Mutter – als Quelle kulturellen Kapitals mit eigenem symbolischem Wert. Die symbolische Dimension der Bildung ist von besonderer Relevanz, denn sie korrespondiert mit Sinabells ausgeprägter Statusorientierung: Nicht nur nimmt sie sehr genau wahr, dass in der Bank Kolleg*innen mit Studienabschluss bei Beförderungen bevorzugt werden. Sie versteht den Bildungsaufstieg auch als Fortführung des familialen Aufstiegsprojekts: »Von meiner Mutter wie von meinem Vater gibt’s in der ganzen Generation keine Akademiker. Und, ähm, ja, da . also da hab ich einfach für mich den Schluss draus gezogen, dass es mir deswegen offenbar SCHWERER fällt, dieses . diese Familienchronik zu durchbrechen . Aus diesem einfachen Arbeiter, und es kommen, wie gesagt, mein, äh, aus, von Großeltern, von den Seiten sind also wirklich alles ARBEITERschicht. Ja. Also die wirklich, wie gesagt, Hausmeister, Kraftfahrer, Müllabfuhr, Reinigungskraft . mein Opa mütterlicherseits ist, ist Zirkusartist gewesen. Also wirklich, wirklich ARBEITERschicht, also . ja . Und ich denke schon, dass da eben mein, meine Eltern ja schon irgendwo einen Schritt weit rausgebrochen sind, eben durch diese Selbstständigkeit. Also ich denke einfach da . das ist bahnbrechend, was meine Eltern da geleistet haben, dass die DAS überwunden haben, und ich bin jetzt halt die Nächste, die noch das Akademiker-Thema überwinden darf.« (Sinabell Wunsch 08/17-29) Der soziale Aufstieg ist für Sinabell Wunsch weit mehr als nur ein ökonomisches Projekt, ihr geht es um eine Verbesserung des sozialen Status und um eine Ausweitung sozialer Anerkennung. Zwar haben sich die Eltern durch die Selbstständigkeit von jenem geringen sozialen Status der Arbeiterschicht befreit, der Sinabell – wie sich in der zögerlichen Erzählweise dokumentiert – in Verlegenheit bringt. Sie markiert dies jedoch als (nur) einen Schritt, auf den nun in der Konsequenz die Überwindung des AkademikerThemas folgen muss. Auffällig ist dabei die Nutzung von Berufsbildern zur Darstellung
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prestigereicher und weniger prestigereicher sozialer Positionen: Zur Verdeutlichung des geringen Sozialstatus stellt Sinabell die Familienmitglieder als Verrichter*innen besonders körperlicher, schmutziger und unsolider Arbeit dar und sieht dabei von den handwerklichen Ausbildungen der Familienmitglieder ebenso ab, wie von deren sozialpolitischem Engagement. Auch wird der soziale Aufstieg der Eltern hier weniger am akkumulierten ökonomischen Kapital als vielmehr am Berufsstatus des Vaters als selbstständiger Unternehmer festgemacht. Als logischer, aber auch zwingender nächster Schritt verbleibt der Wechsel in den (beruflichen) Status einer Akademikerin. Damit orientiert sie sich implizit an jenen Positionen im sozialen Raum, die der Bildung neben ihrer unmittelbaren beruflichen Verwertbarkeit eine eigene, dem ökonomischen Nutzen enthobene Wertigkeit zusprechen und hieraus Distinktionsmacht beziehen. Sie möchte studieren, um Kulturkapital zu akkumulieren und so ihren sozialen Status nicht allein aus dem ökonomischen Gegenwert des Erlernten beziehen. Damit geht jedoch nicht nur eine Veränderung im Kapitalvolumen, sondern auch der Kapitalstruktur einher. Dies stellt Sinabell vor eine große Herausforderung, denn das angestrebte Kapital ist ihr fremd und sie findet keinen geeigneten Zugang zu dessen Akkumulation. Ihre Vorstellung von universitärer Bildung bleibt abstrakt. Vorrangiger Bezugspunkt ist die symbolische Wirksamkeit, die durch Mutter Roswitha – angesichts der eigenen Bildungsferne – in idealisierter, d.h. zugleich: in wenig nuancierter Form, vermittelt wurde. So verweist Sinabell stolz auf das Renommee der von ihr gewählten Universität, die – wie auch die Mutter anmerkt – nicht irgend so ein Pippifax-Ding ist (RW: 20), sondern eine traditionsreiche und namhafte Bildungseinrichtung. Entsprechend erstaunt ist Roswitha, dass sie dann doch zu dem Fernstudium rüber ist. Weil das kann ja wirklich dann, auf Umwegen, jeder machen, der das möchte und bietet daher kaum Möglichkeiten, sich zu profilieren (RW: 20). Auch ist Sinabell das Studium eines intellektuell anspruchsvollen Fachs wichtig, sodass BWL als total easy und Firlefanz-Fach zunächst ausscheidet (SW: 31). Auch Roswitha ist der Meinung: BWL kann jeder studieren (RW: 14). Sinabells spezifischer, familial transmittierter Bildungsanspruch geht also mit einem Distinktionswunsch einher: Mit Bildung hofft sie sich exponieren zu können. Im Gegensatz zum Vater betrachtet Sinabell Wissen generell als ein hohes Gut, das seinen symbolischen Wert nicht erst mittelbar durch den Tausch in ökonomisches Kapital erhält. Sie charakterisiert sich selbst als Bücherwurm, der den ganzen Tag liest: Ich hab da einen wahnsinnigen Drang, mein Wissen und mein Spektrum zu erweitern (SW:16). Hierin bestehen Parallelen zu Mutter Roswitha, die ebenfalls darauf verweist, dass Wissensaneignung und der damit verbundene Ausbruch aus Routinen in ihrer Biografie eine wesentliche Rolle gespielt habe (RW: 45). Allerdings fällt es Sinabell schwer, den Drang nach Wissen und die allgemeine Hochachtung kulturellen Kapitals mit konkreten Inhalten zu füllen: Weder Medizin noch Jura – die Präferenzen ihrer Eltern – interessieren sie thematisch. Auch das Lehramt findet sie nicht weiter beachtenswert, obwohl Roswitha hier ein Talent ihrer Tochter vermutet. Sogar Balletttänzerin – in der Rekon-
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struktion beider Eltern der Traumberuf der Tochter – wird von Sinabell eher als Traum ihrer Mutter rekonstruiert6 . Bildungswünsche als reines Interesse am Inhalt zu hegen oder sich aus Genuss mit Themen zu beschäftigen, wie es den »bildungsvermittelten Distinktionsmächtigen« (Bittlingmayer 2002: 239) entspricht, liegt Sinabell Wunsch eher fern. Ihre hohe Bildungsaffinität speist sich vor allem aus der antizipierten Anerkennung. Insofern übernimmt sie die Vorstellung ihrer Mutter, die ihrerseits die Bildung ihrer Töchter als impliziten Maßstab für soziales Prestige, Status und Respektabilität versteht – insbesondere im Vergleich mit anderen Eltern ihres sozialen Milieus. Die Orientierung am symbolischen Wert der Bildung wird jedoch durch die ebenfalls familial transmittierte Sicherheitsliebe und Bodenständigkeit konterkariert. Durch die Einverleibung der disparaten Bildungsorientierungen bringt Sinabell Wunsch ein ambivalentes Verhältnis zum Studium hervor, das einerseits den persönlichen Zugang systematisch erschwert und andererseits die Inkongruenz zwischen ihren praktischen Strategien und den Erwartungen bzw. Anforderungen des universitären Feldes verschärft. »Wahrscheinlich wär’s mir an der FH anders gegangen. Ähm, bin also dann von den wissenschaftlichen Methoden völlig überrumpelt worden, hatte natürlich auch das Problem, dass dann da einfach Professoren vorne stehen und Kommilitonen, die um Jahre, also, mhh, um Jahre jünger sind. Und Professoren, die meines Erachtens zu dem Zeitpunkt dann auch Dinge erzählt hatten, wo ich mir dachte, das funktioniert in der Praxis so nicht. Also da war dann, da kam dann schon auch so eine gewisse Frustration, zu sehen, ähm, das ist Methodik, das ist Wissenschaft, und in der Praxis läuft’s ganz anders, weil ich ja eben die sieben Jahre Berufstätigkeit hinter mir hatte. Und dann diese ganzen ehrgeizigen Neunzehnjährigen, die direkt aus dem Abitur kamen. Und ich dacht’ mir auch immer nur so: Uah, irgendwie bin ich hier auch falsch, also ist das auch nicht so ganz wirklich richtig.« (Sinabell Wunsch 01/41-02/04) Zwar dokumentiert sich in der Erzählung durchaus Respekt vor der wissenschaftlichen Methode, allerdings verleiht Sinabell auch ihrer Frustration über die empfundene Distanz zum Kontext sowie über die Entwertung und Verkennung ihres Praxiswissens Ausdruck. Sie reagiert darauf mit einem Gegenangriff, indem sie das wissenschaftliche Wissen als dysfunktional und weltfremd markiert, sich auf diese Weise als Kennerin der Wirklichkeit produziert und über den Studienalltag zu erheben versucht. Hierin liegt nach Einschätzung Bourdieus ein strukturell evoziertes Merkmal des Kleinbürgertums, das – insbesondere, wenn es sich spürbar vom sozialen Herkunftsort entfernt – »pausenlos Ermahnungen, Ablehnungen und Zurückweisungen ausgesetzt« ist und daher »nicht abgeneigt« ist, »Gelehrigkeit in Aggressivität umschlagen zu lassen« (Bourdieu 1987: 539). Dies wirkt zwar entlastend, ist aber insofern kontraproduktiv, als es einerseits Unterstützungsleistungen und mithin die Positionierungschancen im Feld schmälert und andererseits die Gefahr birgt, die Distanz zum Feld eher noch zu vergrößern.
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Nur Wirtschaftspsychologie wird von Sinabell als konkreter Berufswunsch geäußert. Damit greift sie (wie Anna Töbelmann) einen Trend ihrer Generation auf. Allerdings bleiben auch hier die inhaltlichen Vorstellungen vage. Sie hat vor allem damals schon diese Idee im Kopf eben, in Firmen zu gehen und da in den Unternehmen was zu tun (SW: 29), was mehr auf die performative, Expertise symbolisierende Dimension des Berufsbildes verweist.
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Tatsächlich verortet sich Sinabell im Rahmen der Erzählung als Außenseiterin und gelangt angesichts der wahrgenommenen Passungsprobleme zu der Einschätzung, dass ein anwendungsorientiertes Studium in der Art, wie es bereits der Vater absolviert hat, möglicherweise anschlussfähiger wäre, sie folgert also aus ihrer Erfahrung, dass sie sich nicht im ›richtigen‹ Kontext bewegt. Dabei zeigt sich in der Erzählpassage zwar einerseits eine gewisse Desillusionierung in Bezug auf die von ihr hoch geachtete Bildungsinstitution, zugleich verrät die Kritik am akademischen Wissen, dass damit weniger die Legitimität ihrer persönlichen Leistungen in Frage gestellt wird, sondern vielmehr die Gesetzmäßigkeiten auf Irritation stoßen, nach denen soziale Anerkennung dort verliehen wird. Die hohe Resonanzsensibilität kann mit Bourdieu dabei als Klassenmerkmal verstanden werden: als durch die Aufstiegsbestrebung evozierte Notwendigkeit, »ständig aufmerksam, empfänglich, ja überempfänglich auf das geringste Echo ihrer Vorstellungen und Selbstdarbietungen zu reagieren« (Bourdieu 1987: 539). Die von Sinabell gezeigt Resilienz hinsichtlich sozialer Kränkungen, die es ihr ermöglicht, Verkennung (auch) als Fehler im System (um-)zudeuten und damit den Glauben an die Rechtmäßigkeit des von ihr beanspruchten sozialen Status zu wahren, tritt wiederum als spezifisches Merkmal des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ hervor. Allerdings wird deutlich, dass die Schwierigkeiten im Studium eine erhebliche Verunsicherung hervorrufen: Die Selbstwahrnehmung als herausragende Schülerin und Auszubildende, aber auch der ambitionierte, auf höchste symbolische Wirksamkeit zielende Bildungsanspruch der Mutter sind nicht vereinbar mit den im Studienalltag durchlebten Rückschlägen: Während Sinabell in ihrer ganzen Schullaufbahn keine Fünfer und Sechser geschrieben hat (SW: 31), fällt sie nun bei Prüfungen durch. Die Einsicht, dass das Studium nicht souverän und mit spielerischer Leichtigkeit bewältigt werden kann, brüskiert und ernüchtert sie. Vermutet sie hinter in der BWL zunächst ein leicht zu bewältigendes Firlefanz-Fach, wird sie im Studium schnell eines Besseren belehrt. Es hat mich schon sehr angestrengt. Also ich hab mich . Hm, also wirklich wohl hab ich mich an der Uni da nicht gefühlt (SW: 31). Das Studium zeigt Sinabell also Grenzen auf, die sie sich nur schwer erklären kann. Der familial vermittelte Glaube an eindeutige Kausalitäten, nach denen auf Grundlage persönlicher Qualitäten wie Intelligenz und Disziplin spezifische Leistungen erbracht werden können, mit denen wiederum sozialen Positionen (automatisch) verknüpft sind, verursachen in Kombination mit den Studienproblemen eine Orientierungskrise. Diese drückt sich in narrativen Inkonsistenzen aus: Nicht nur nimmt Sinabells Selbsteinschätzung zwischen Überlegenheit (also ich war dann auch immer irgendwo bei den Besten; SW: 30/ich war da schon auch immer sehr, sehr elitär irgendwo; SW: 21) und minikleinem Selbstwertgefühl (ich kann ja eh nix; SW: 10) verschiedene Ausprägungen an; auch schwanken die Erzählungen über den Studienbeginn zwischen der Erinnerung, das Studium mit einer hohen Erwartungshaltung an sich selbst aufgenommen zu haben (SW: 31), und der Erinnerung, kein Zutrauen in die eigene Studierfähigkeit gehabt zu haben (Also ich dachte immer: Ohh, kann ich nicht. Also ich und studieren, das geht ja mal gar nicht; SW: 30). Bei diesen disparaten Selbstbezügen handelt es sich nicht etwa um die Nacherzählung eines Wandelprozesses in der Selbstwahrnehmung, sondern um konkurrierende Selbstdeutungen. Die Inkonsistenz verweist auf habitualisierte Ambivalenzen – Bourdieu (2001b) spricht von einem gespaltenen Habitus –, die auf Diskordanzen
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zwischen Habitus und Kontextstrukturen zurückzuführen sind. Sie können aber auch – wie der Fall zeigt – durch konkurrierende familial transmittierte Deutungsmuster evoziert sein, denn diese legen Sinabell sowohl eine Orientierung am Symbolwert von Bildung als auch eine pragmatische, inhaltsbezogene Interessen unterordnende Haltung nahe.
Laufbahnkonflikte und die Konkurrenz von Innen- und Außenorientierung In vorgegebene hochstrukturierte Strukturen findet sich Sinabell Wunsch – wie bereits beschrieben – problemlos ein und entspricht diszipliniert den ihr übertragenen Aufgaben: Die Eltern müssen sie nicht auf ihre Haushaltspflichten hinweisen, in der Schule gibt sie den Lehrer*innen keinen Grund zur Beanstandung und auch in der Ausbildung tut sich Sinabell nach eigenem Bekunden als ausgesprochen arbeitgeberfreundlich hervor (SW: 06). In vielen Lebensbereichen gelingen ihr – dank sorgfältiger Pflichterfüllung – beachtliche Erfolge und ihr wird entsprechende Anerkennung zuteil. Erfolg bzw. Anerkennung bilden dabei zentrale Handlungsmotive: Sinabell beschreibt sich als Mensch, der an Erfolg glaubt und, und in Richtung Erfolg denkt (SW: 14). Inhaltliche Interessen werden dem Erfolgsstreben untergeordnet und Sinabell begründet biografische Entscheidungen zumeist mit ihrer Begabung und den daraus erwachsenden Erfolgschancen (Hab dann in der Bank weitergearbeitet, weil ich da sehr gut war, wurde da also auch sehr gefördert; SW: 01). Sinabells praktische Strategien weisen also eine starke Orientierung an der sozialen Umwelt auf: Sie ist sensibel für strukturelle Anforderungen und formale Regeln, bemüht, diesen zu entsprechen und konsequent im Überprüfen und Vergleichen ihrer Leistungen. Dies stellt sich vor allem in hoch strukturierten und vordefinierten Tätigkeitsbereichen (Schule, Bankausbildung, Ballett) als Stärke heraus und entspricht in hohem Maße den Ordnungslogiken der ›organisierten Moderne‹, wo allgemeinen Rollendefinitionen und klar strukturierte Aufgabenprofile zentrale Prinzipien der Ressourcenverteilung und sozialen Positionierung bilden (Wagner 1995b). In solchermaßen strukturierten Kontexten führen das Erlernen und genaue Wiedergeben definierten Wissens und Könnens zum Erfolg. Tätigkeitsfelder, in denen Sinabell reüssieren kann, weisen gute Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Aspirant*innen und obligatorische Leistungsüberprüfungen auf. Auch ermöglichen sie regelmäßige und jederzeit einforderbare Rückmeldungen durch Autoritätspersonen. Erfolge werden – formal, aber auch informell – durch Noten, Rückmeldungen und Ranglisten von außen bestätigt. Formaler Erfolg legitimiert in Sinabells Verständnis ganz unmittelbar bestimmte Statusansprüche. Daher ist sie bemüht, die eigenen Qualitäten durch objektiviertes Kulturkapital, also durch Noten und Abschlüsse, aber auch durch Leistungsprivilegien und Aussagen Dritter zu belegen. So gibt sie etwa ihren genauen Notendurchschnitt in der elften Klasse an, erklärt, dass sie in der Schule so gut war, dass sie für den MedizinerTest in Frage kam (SW: 28), verweist darauf, dass sie im Ballett so herausragend getanzt hat, dass sie als Solistin ausgewählt wurde (SW: 21), berichtet, dass ein ehemaliger Mitschüler auf der Suche nach neuen Mitarbeiter*innen bei ihr nicht locker gelassen hat (der wollte halt unbedingt mich haben als Mitarbeiter; SW: 03), dass Freunde ihre energiegeladene und positive Ausstrahlung bewunderten (SW: 10) und sie in der Bank aufgrund
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ihrer Leistungen protegiert und sehr gefördert wurde (SW: 01). Auch schildert sie die Bewerbungsphase im Vorfeld der Ausbildung als ein interessantes Erlebnis, weil ich AUCH DA SCHON sehr gut ankam und von sämtlichen Banken Zusagen bekommen hab (SW: 28). Diese Aussagen und Erfahrungen verdichten sich zu der Einsicht immer irgendwo bei den Besten gewesen zu sein (SW: 30). Ganz im Sinne des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ leitet Sinabell Wunsch aus der positiven Resonanz ihrer Umwelt nicht nur das Selbstbild einer Leistungsträgerin, sondern auch einen bestimmten (hohen) sozialen Status ab, der ihr als Konsequenz der verbrieften persönlichen Qualitäten zusteht. Allerdings stellt diese Verkopplung auch eine Quelle der Frustration dar, etwa weil ihr in der Bank die geplante innerorganisationale Karriere verwehrt bleibt: ich wurde da schon auch protegiert, und es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht. Mhm, hab aber dann irgendwann gemerkt, […] dass mir immer wieder Leute vor die Nase gesetzt werden, die ein Hochschulstudium haben. Das heißt, da kam dann eine gewisse Frustration (SW: 01). Vor allem aber stellt die logische Verknüpfung spezifischer Leistungen und sozialer Positionierungen, sowie das Streben nach Anerkennung, die präsumtiv mit einem bestimmten Status verbunden wird, eine durchaus riskante implizite Strategie dar. Denn die praktische Orientierung spannt sich zwischen einer spezifischen Statusambition einerseits und einer eng gefassten Vorstellung der hierfür zu erbringenden Leistung andererseits und ist darauf angewiesen, dass beides zueinander passt. Hierin liegt das von Bourdieu (1997b) beschriebene Verhängnis jener internalisierten Laufbahnen, deren antizipierte Verlaufskurve durch sozialen Wandel konterkariert wird. Die Verkopplung disziplinierter, Standards und Vorgaben erfüllender Arbeit mit gesteigerten Statusansprüchen führt in der Elterngeneration zu einem erfolgreichen sozialen Aufstieg. Unter gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerät die Handlungsstrategie aber an ihre Grenzen: Zunächst muss Sinabell Wunsch erfahren, dass für eine höhere, ihren Vorstellungen entsprechende Berufsposition ein Studium erforderlich ist. Dann stellt sich die Universität als eher schwach strukturiertes Praxisfeld heraus. Sinabells Angewiesenheit auf äußere Strukturen, Autoritäten und die formale Bestätigung ihrer Leistung wird damit zu einer Handlungserschwernis, denn sowohl ihre impliziten Strategien als auch die Form ihrer Erfolgsbemessung sind an externen Faktoren ausgerichtet. Dies funktioniert gut, solange sich Sinabell Wunsch in (Arbeits-)Verhältnissen befindet, in denen klare Richtlinien zu befolgen sind. Fehlen solche Strukturen ihrer Wahrnehmung nach oder ist sie gezwungen, diese selbst zu erzeugen, gerät sie in Handlungsschwierigkeiten: ich hatte am meisten Angst davor, dass eben das, das nicht strukturiert ist. Also so dieses Schule, ja, und da musste lernen und da das. Und ich war mir so sicher, wenn ich plötzlich selber entscheiden kann, gehste hin oder nicht, welchen Kurs belegste, wie machste das? […], dass ich’s eben nicht auf die Reihe krieg (SW 30). Auch in ihrem Arbeitsalltag als Selbstständige, den sie weitestgehend autonom strukturieren muss, fällt es ihr schwer, Regelmäßigkeit und Ordnung herzustellen. Wenn sie keine festen Termine hat, kommt es vor, dass sie die Zeit gemütlich vertrödelt und Freizeit und Arbeitszeit verschwimmen: ich arbeite halt sehr, sehr viel am PC, äh, und da sitze ich dann halt. Da vergehen halt dann die Stunden. Also das ist wirklich, ähm, da ist jetzt wieder mehr Disziplin nötig (SW: 16). Diszipliniertes Arbeiten ist jedoch in Sinabells Handlungslogik an klare Regel geknüpft und bedarf konkreter Zielvorgaben.
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Eine eigenständige Gestaltung des Tagesablaufs wird von ihr zwar sehr geschätzt, sie stellt jedoch auch eine Herausforderung dar. Daher nutzt sie Umweltbedingungen als Strukturierungshilfen, beispielsweise dient ihr das allmorgendliche Hundeausführen als verbindlicher Start in den Tag: Also schwer fällt mir an Tagen, an denen ich keine Termine hab, das Aufstehen. Wobei das, äh, ist zum Glück ja, durch den Hund hält sich das in Grenzen, weil, der muss einfach raus in der Früh (SW: 15). Die Handlungsschwierigkeiten, die Sinabell aus dem Zusammenspiel von familial transmittierten Dispositionen und spezifischen Kontexten (universitäres Feld, berufliche Selbstständigkeit) erwachsen, lassen sich – wie im vorhergehenden Kapitel – als Folge der Bildungsaspiration begreifen, d.h. als typische Problemlage »einer sozialen Klasse, die versucht, zu werden, was sie noch nicht ist, und daher durch Antizipation ein gegebenes Modell zu imitieren«, ohne die zugrundeliegenden Logiken internalisiert zu haben (Bourdieu 2001d: 19). Sie entspringen jedoch auch den gewandelten gesellschaftlichen Ordnungslogiken: Nicht nur erweisen sich Sinabells Annahmen über den Zusammenhang von zu erbringender Leistung und sozialer Position vor dem Hintergrund einer allgemeinen Entwertung von Bildungsabschlüssen als weitestgehend überkommen, auch schafft die maßgebliche Orientierung an heteronomen Handlungsstrukturen in einer Gesellschaft, die vor allem die Selbststeuerung der Akteure positiv sanktioniert, ungünstige Ausgangsbedingungen im Kampf um soziale Positionierung. Zwar ist die gesellschaftliche Ordnung der ›organisierten Moderne‹ mit ihren stark institutionalisierten sozialen Positionen, standardisierten Laufbahnen und konventionalisierten Lebensführungen bereits seit Jahrzehnten im Wandel begriffen, die familial transmittierten Orientierungen der Familie Wunsch erweisen sich jedoch – vielleicht vor dem Hintergrund der elterlichen Erfolge – als überaus hysteretisch. Die im Zuge sozialen Wandels erhöhte Kontingenz sozialer Positionierung eröffnet zwar Möglichkeitsräume. Am Fall der Familie Wunsch zeigt sich jedoch, dass deren Nutzung durchaus voraussetzungsreich ist.
Einlösung des Aufstiegsversprechens Der Ehrgeiz und die Disziplin, mit denen Sinabell Wunsch Aufgaben bewältigt, werden von einer ausgeprägten Effizienzorientierung begleitet, die zunächst in Kontrast zum Anerkennungsstreben zu stehen scheint. So sinken etwa nach erfolgreicher Bewerbung die schulischen Leistungen rapide ab (Und es war mir EGAL, weil ich wusste ja, ich fang zum Arbeiten an; SW: 28). Auch Sinabells Haushaltspraxis wirkt vor dem Hintergrund der ausgeprägten Diszipliniertheit dissonant: Da waren dann schon oft mal so ganze Berge unten im Bügelzimmer zum bügeln. […] Und dann hat sie halt oft schnell in der Früh: schau die, die und die Bluse, uhh, die ist noch beim Bügeln unten. Schnell runter, schnell die Bluse gebügelt, angezogen und weg. (RW: 28) Das am Notwendigen orientierte Handeln unterminiert jedoch nur scheinbar die familial bedeutsame Diszipliniertheit. Da sich Disziplin, als Ordnung herstellende Folgsamkeit, jeweils auf bestimmte Ordnungsgefüge und Ziele richtet, sind Handlungen, die über die relevante Ordnungsstruktur hinausweisen, nicht notwendig. Sie können sich im Gegenteil sogar störend auswirken, da sie Unsicherheit schaffen und Ressourcen verschwenden. Das rigorose Zurückweisen unnötiger Tätigkeiten unterstützt also das zielorientierte Handeln in vorgegebenen Rahmen.
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Allerdings umgrenzt diese Logik Sinabells Handlungsmotivationen drastisch: »Und da ist dann was Interessantes passiert, an dem Tag, als ich dann den Vertrag unterschrieben hatte, den Lehrvertrag, da war, das war dann ja quasi im Jahr vor dem Abitur, ähm, hab ich aufgehört, was für die Schule zu machen. Also da ist dann irgendwo . Und da dacht ich mir: Pff, NC brauchste keinen, weil studieren tuste ja danach nicht, Lehrstelle haste schon.« (SW: 28) Das Lernen tritt hier als reines Mittel zum Zweck in Erscheinung, ihre Bemühungen sind auf konkrete formale Anforderungen ausgerichtet. Darüber hinaus dokumentiert sich weder ein Interesse an bestimmten Lerninhalten, noch der Wunsch, die eigene Leistung ohne konkretes Ziel zu steigern und sich weiterzuentwickeln, wie dies im Rahmen der Lebensentwurfstypen ›Drift‹ bzw. ›Pfad‹ der Fall ist. Es zeigt sich in dieser Haltung jedoch nicht nur eine Distanz zu den anderen Lebensentwurfstypen, sondern auch eine Differenz zu den Orientierungen der Eltern, denn in der Erzählung dokumentiert sich eine Abkehr vom (oder zumindest eine Umdeutung des) familialen Arbeitsethos. Erkennbar wird ein praktisches Minimalprinzip, nach dem – bei festgelegtem Ziel – die Zielerreichung möglichst effizient und mit geringstem Aufwand umgesetzt wird. Diese Abweichung von den familial transmittierten Dispositionen scheint Sinabell Wunsch retrospektiv selbst zu erstaunen, denn sie kennzeichnet die Situation als bemerkenswertes, wenn auch nicht ganz greifbares Ereignis (da ist dann was Interessantes passiert). Die Effekte sozialen Wandels sind also nicht ausschließlich als Diskrepanz zwischen familial transmittierten habituellen Strategien und gewandelten sozialen Kontexten zu verstehen. Es kommt offenbar zu Veränderungen im Rahmen der Transmissionsprozesse, die in Sinabells Lebensentwurf ihren Ausdruck finden. Das für den Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ zentrale Telos eines spezifischen sozialen Status ist in Sinabells Erzählungen weitestgehend von konkreter Arbeit entkoppelt. Zwar dokumentiert sich bereits für die Elterngeneration hinsichtlich der Aufstiegsstrategien eine gewisse Vagheit, Hans und Roswitha stellen jedoch eine kausale Verbindung zwischen kontinuierlicher und disziplinierter Arbeit und ihrem sozialen Aufstieg her. In Sinabells Handlungslogik zeigt sich dahingehend eine Verschiebung: Sie verkoppelt vor allem Insignien ihrer persönlichen Qualitäten mit einem legitimen Statusanspruch. Die Insignien können Ausdruck disziplinierten Arbeitens sein, zeigen aber unter Umständen auch ererbte Qualitäten an. Sozialer Status wird daher nicht in erster Linie – wie bei den Eltern – auf das Geleistete, sondern auf die Besonderheit ihrer Person zurückgeführt. Soziale Anerkennung und Leistungsinsignien dienen eher der Bestätigung bzw. Legitimation des Anspruchs auf eine bestimmte soziale Position. Diese Umkehrung der Positionierungslogik deutet sich bereits in den Erzählungen der Mutter an: Roswitha Wunsch schließt auf der Grundlage eines Vergleichs mit anderen Familien ihres Milieus von ihrer sozialen Position auf den angemessenen (Bildungs-)Status ihrer Töchter. In Sinabells Lebensentwurf entfaltet diese Logik dann ihre volle Wirkung. Deutlich wird dies in der Bezugnahme auf die Familie des Vaters, mit der sie ihr Selbstverständnis und ihre Statusansprüche distinktiv verdeutlicht. Dabei verortet sie sich und ihre Familie sozialräumlich auf der Arbeitgeber-Seite und adressiert damit weit mehr als den Berufsstatus der Eltern. Ihren Vater charakterisiert sie als Chef, der immer so souverän diskutiert und immer so entspannt ist, seine Geschwister hingegen als immer so aufgeregt diskutierende und politisierende Vertreter*innen des einfachen Volks (SW: 06f.). Die Unterscheidung wird also nicht vornehmlich im Abgleich von Besitztümern oder
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Berufsstatus getroffen, sondern zielt auf eine Divergenz der sozialen Praxis: hier die in ihrer Empörung Unterlegenheit demonstrierende Verwandtschaft, dort der souveräne Vater. Dabei führt Sinabell die Überlegenheit des Vaters auf dessen Arbeitgeber-Denken zurück, also nicht auf dessen Leistungen als Unternehmer, sondern wesentlich grundlegender auf dessen Haltung, die sie auch an sich selbst entdeckt (ich denke wie ein Arbeitgeber; SW: 07). Auf dieser Basis – und nicht so sehr aufgrund persönlicher Leistungen, die ihre Qualitäten vor allem bestätigen – fühlt sie sich einer statusüberlegenen Gruppe zugehörig und unternimmt eine explizite symbolische Abgrenzung gegenüber den Arbeiter*innen in ihrer Verwandtschaft, die sie als proletenmäßig und damit ganz anderes Klientel beschreibt (SW: 07). Die Entkopplung von disziplinierter Arbeit und Statusanspruch bzw. dessen Neuverkopplung mit Insignien der persönlichen Qualität birgt eine enorme Sprengkraft mit Blick auf die familialen Orientierungen. Sie bedeutet nicht weniger als die Absage an jene Aufstiegsstrategie, die den Eltern (und auch den Töchtern) ihre soziale Position ermöglicht hat, die jedoch mit enormen Entbehrungen verbunden sind: »Die gesamte Existenz des aufsteigenden Kleinbürgers ist Vorgriff auf eine Zukunft, die er meist nur in Gestalt seiner Kinder wird erleben können, auf die er wie man so sagt, ›seine ganze Hoffnung setzt‹. Eine Art imaginärer Verlängerung seines eigenen Werdegangs, die Zukunft, ›die er für seinen Sohn erträumt‹, […] zehrt seine Gegenwart auf. Auf Strategien verwiesen, die mehrere Generationen umspannen, weil der Abstand zwischen Start und Ziel ein Menschenleben übergreift, verschiebt dieser Kleinbürger Freude und Gegenwart auf später, […]. Und das heißt oft genug: wenn es zu spät sein wird, wenn man sein Leben als Kredit verwirtschaftet und keine Zeit mehr haben wird, den Ertrag einzustreichen […].« (Bourdieu 1987: 553) Diese Haltung lehnt Sinabell ab – wohlgemerkt nicht unter Verzicht auf die Statusansprüche. Sie fordert vielmehr die Einlösung des Statusversprechens, dass mit den Aufstiegsbemühungen verbunden ist, denn sie gehört zu der Kindergeneration, die es – so das Narrativ – ›besser haben soll‹ und sie kann aus ihrer Sicht legitime Insignien ihrer Statusberechtigung vorweisen. Und schließlich geht sie davon aus, dass sie mit der disziplinierten Erarbeitung formaler Bestätigungen ihrer Könnerschaft ihren Beitrag für eine angemessene soziale Positionierung bereits geleistet hat: Ich glaub, das hängt damit zusammen, dass ich meine ganze Kindheit und Jugend so in, oder 20 Jahre so ENORM diszipliniert war. Dass dann irgendwann, hatte ich, glaub ich, das Gefühl, das reicht für mein ganzes Leben. Diese Disziplin, die ich da gezeigt hab (SW: 30). Dies zeigt einen tiefgreifenden Wandel in der Logik der Aufstiegsorientierung an. Das auf Dauer gestellte harte Arbeiten an einem höheren sozialen Status der Eltern wird durch Sinabell aufgekündigt und in ein Minimalprinzip umgewandelt, nach dem bestimmte Insignien der persönlichen Qualität zwar diszipliniert, aber zugleich auch mit effizientem Ressourceneinsatz erarbeitet und unmittelbar in Statusansprüche umgewandelt werden. Diese Verschiebung ist aus dem Aufstiegsversprechen der Elterngeneration ableitbar, korrespondiert jedoch auch mit dem Wandel transversaler Logiken, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll.
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Ziel-Strategie-Diskrepanz als Effekt sozialen Wandels Die Abkehr von der familialen Aufstiegslogik zeigt sich auch eindrücklich in Sinabell Wunschs Zukunftsentwurf: »Ich bin grad dabei, alte Glaubenssätze abzubauen. Die, eben, die ich glaube, die in dem Bereich bremsen können. Eben so von wegen: Von nix kommt nix. Ja, oder: Man muss eben hart arbeiten für sein Geld. Also da bin ich grad dabei, diese Glaubenssätze abzubauen. Um eben zu sagen: Nee, nee. Ich will viel Geld für wenig Arbeit. Also es, es soll leicht gehen. Das ist so irgendwo meine Maxime. Ja, also es soll, es soll leicht gehen und es soll eben, vielleicht auch geprägt durch meine Eltern, es soll eben nicht bedeuten, dass ich SO viel arbeiten muss. […] Also das ist schon, wo ich mir denk: Nee, das, das muss leichter gehen. Also es gibt ja auch Menschen, die wirklich vom Nix-Tun fliegen die, fliegt denen einfach das Geld zu. Und sowas will ich auch. Also, dass es einfach LEICHT geht. […] Also irgendwo ist es, glaub ich, schon mein Ziel, irgendwann das so gut aufgebaut zu haben, dass dann andere für mich arbeiten. Also, dass es dann wirklich . Also da träum ich schon irgendwo so, keine Ahnung, von, von, von der Insel, wo ich dann vielleicht noch mit dem Laptop sitze und ein bisschen das Ganze manage, aber wo ich einfach noch viel, viel mehr Freizeit dann hab. Und eben reisen kann, ähm, ich tauche zum Beispiel auch, ähh, also solche Dinge dann, ja, ausleben. Motorradfahren, ein schickes Auto haben. Solche Dinge. Und das dann auch genießen und zu leben. Und dann quasi das . Und natürlich schon irgendwo so das Unternehmen am Laufen halten, aber das darf dann . Eben das, was meine Eltern eigentlich nicht gehabt haben, weil, die haben sich, glaub ich, also für meinen Geschmack, echt abgerackert die ganzen Jahre. Obwohl’s ihnen auch gut geht, und die sind glücklich heut und die sind zufrieden mit dem, was sie haben, und ich glaub, die hätten’s auch gar nicht anders gewollt. Aber so will’s ich nicht.« (Sinabell Wunsch 40/28-41/11) Der Vorstellung, dass Erfolg vor allem durch andauernde harte Arbeit zu erlangen sei, erteilt Sinabell hier eine Absage. Dass auch andere Wege zum Erfolg möglich und legitim sind, folgert sie aus einem Vergleich: Sinabell stellt fest, dass anderen Akteuren das Geld vom Nix-Tun zufliegt und nimmt dies auch für sich in Anspruch. Damit greift sie zur Konturierung des eigenen Lebensentwurfs auf die Strategie des ausdrücklichen sozialen Abgleichs zurück, die sich bereits in der Erzählung der Mutter dokumentiert: Auch Roswitha bezieht aus der Betrachtung anderer Lebensentwürfe ihre Vorstellung von einer respektablen und für ihre Kreise angemessenen Lebensführung. Zugleich wird also in der Erzählung auch deutlich, welchen Lebensstil Sinabell als legitim erachtet: Von den erfolgreichen Akteuren unterscheidet Sinabell nichts, außer der Erfolg selbst, den es also mit aller Konsequenz einzufordern gilt (Ich will viel Geld für wenig Arbeit. Also es, es soll leicht gehen). Erneut dokumentiert sich die Selbstverständlichkeit, mit der Sinabell die soziale Position der ›Arbeitgeberin‹ beansprucht (mein Ziel, irgendwann das so gut aufgebaut zu haben, dass dann andere für mich arbeiten). Im Zukunftsentwurf zeigt sich eine Aktualisierung der Insignien sozialen Prestiges: Zwar rekurriert Sinabell durchaus auf Statussymbole, die bereits ihre Eltern angestrebt haben (Auto, Geld, Reisen). Zugleich weist die Beschreibung eine Orientierung an Lebensstilen jener Milieus auf, die Bourdieu (1987) als ›neue Bourgeoisie‹, Boltanski und Chiapello (2006) als ›Wertigkeitsträger in einer projektbasierten Polis‹ und Reckwitz (2017a) als ›neue Mittelklasse‹ beschreiben: Sie dokumentiert die Wertschätzung einer kosmopolitischen, flexiblen, autonomen sowie aktiven, erlebnis- und lustbetonten Le-
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bensführung. Aus den (idealisierten) Beispielentwürfen von Menschen, die mit spielerischer Leichtigkeit und geringem Arbeitsaufwand hochgradig erfolgreich sind, leitet Sinabell ab, dass die Strategien der Eltern alt, möglicherweise auch veraltet sind und sie im ungünstigsten Fall sogar bremsen können. Mit dem narrativen Sprung in die Zeit nach der erfolgreichen Etablierung wird jedoch eine strategische Leerstelle hinsichtlich des Auf- und Ausbaus der Unternehmung deutlich: In der Ablehnung der familialen Logik, welche die Zielerreichung mit anhaltender disziplinierter Arbeit verkoppelt, löst sie eine (aus ihrer Sicht überkommene) Handlungsstrategie auf, ohne diese jedoch durch eine neue ersetzen zu können. Sie beschreibt lediglich einen Modus und formuliert die ungerichtete Forderung, dass sich der Erfolg in dieser Form einstellen möge (es soll leicht gehen) – hier wird das im Lebensentwurf eingelagerte Element der Fügung deutlich: Die Verhältnisse sollten den legitimen Statusansprüchen von Sinabell Wunsch nun entsprechen, denn was hierzu zu leisten ist, wurde von ihr bereits (erwiesenermaßen) geleistet. Hinzu kommt eine weitere Verkreuzung familial transmittierter Dispositionen und gewandelter transversaler Logiken: Im Selbstentwurf als erfolgreiche Unternehmerin, die ihre Geschäfte von einer Insel aus mit dem Laptop managt und ansonsten taucht und Motorrad fährt, drückt sich zwar die Wertschätzung einer individualisierten und ästhetisierten Praxis aus. Allerdings erhält diese Orientierung bei Sinabell Wunsch eine spezifische Konnotation. Insbesondere Arbeit wird von Sinabell in einer Weise begriffen, die sich von den gegenwärtigen (ökonomisierten und ästhetisierten) Logiken unterscheidet: Während die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnosen auf ein gewandeltes Arbeitsverhältnis verweisen, unter dessen Bedingungen Arbeit zunehmend als Privileg und umkämpftes Gut, als Mittel der Selbstoptimierung bzw. als Medium von Selbstverwirklichung und Kreativität verstanden wird, schließt Sinabell implizit eher an das Arbeitsverständnis der Eltern an. Diese verstehen Arbeit – entsprechend der fordistisch geprägten Teilung zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit – als Mittel zum Zweck, als etwas, das Disziplin und Anstrengung erfordert und im Gegenzug ein gutes und respektables Leben ermöglicht. Eine affektive Bezugnahme auf das Arbeitsleben findet daher in ihren Erzählungen nicht statt. Arbeit ist Pflichterfüllung. Und sie ist Regeln unterworfen, die den persönlichen Befindlichkeiten durchaus entgegenstehen können. Dieses Arbeitsverständnis bildet nicht zuletzt auch einen wesentlichen Fluchtpunkt der Erziehung: »Aber das war dann, meines Erachtens, einfach auch dieser Lernprozess, […] dass das was ist, das mach ich jetzt nicht bloß, weil’s mir Spaß macht, sondern DAS ist was, wo sein MUSS. Und grad dann die Sinabell, wie die dann in der Bank war, die musste . Da war ja grad dieser Kleiderzwang. Und dass da eben nicht mit bloß, äh, Bluse waschen und schnell irgendwo aus dem Haufen unten rausziehen und anziehen, sondern die gehört halt dann gebügelt.« (Roswitha Wunsch 28/22-27) Dass Sinabell dieses Wissen über Arbeit teilt, zeigt sich nun gerade im Bestreben, Arbeit zu reduzieren: Arbeit wird nicht als Möglichkeit verstanden, dem Leben einen besonderen Sinn zu geben, kreative Potenziale zu entfalten oder persönliche Interessen zu verfolgen, sondern sie wird als jener Aspekt der Lebensführung markiert, der dem Leben Schwere verleiht. Leichter Erfolg zeichnet sich nicht durch inspirierende, kreative oder
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sonst in irgendeiner Weise besondere Arbeit, sondern nur durch wenig Arbeit aus. Ein gutes Leben birgt vor allem noch viel, viel mehr Freizeit. Sinabell differenziert damit deutlich zwischen Arbeit und Freizeit und beteiligt sich somit nicht an der Hervorbringung jener Entgrenzung, wie sie etwa für eine Ästhetisierung der Praxis bezeichnend ist. Während im Rahmen des ›authentischen‹ oder ›selbstbestimmten‹ Arbeitens die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit verschwimmen und dies – wie die praxistheoretischen Gegenwartsdiagnostiker*innen mit Blick auf prekarisierende und (selbst-)ausbeuterische Effekte kritisch anmerken – tendenziell zugunsten der Arbeit geschieht, erhält Sinabell die Trennung aufrecht. Sie teilt zwar die gegenwärtige Wertschätzung der Wahl- und Handlungsfreiheiten, deutet diese jedoch als Möglichkeit, sich von ermüdenden Arbeitsstrukturen befreien und Freizeit ausweiten zu können. Die Beibehaltung des familial transmittierten Arbeitsverständnisses bei gleichzeitigem Aufgreifen einiger Aspekte gewandelter transversaler Praxislogiken, führt bei Sinabell Wunsch zu mitunter eigensinnigen praktischen Hybridisierungen. So zeigt sich etwa eine durchaus ökonomisierte Logik der aktiven Gestaltung des sozialen Umfelds: »und äh hab dann da auch… ja, einige Coaching-Sitzungen gemacht, auch dann in Gruppen, also da war ich sehr aktiv. Also ich hab mir dann wirklich… ähm… das war auch der Spruch damals von ihr, ähm, wenn du erfolgreich sein willst, dann such dir Menschen, die erfolgreich sind. Und das hab ich dann auch getan. Also ich hab mich dann wirklich auch, ähm, von einigen Menschen getrennt im Freundeskreis, auch davor schon, und hab dann wirklich angefangen, mich mit solchen Menschen zu umgeben. Also ich hab dann wirklich auch jetzt da, ich bin sehr, sehr aktiv am netzwerken, ich hab ganz tolle Frauen in meinem Bekanntenkreis, die eben selbstständig sind.« (Sinabell Wunsch 08/43-09/04) Das Abbrechen sozialer Kontakte wird von Sinabell als rationale Strategie auf dem Weg zum Erfolg adressiert. Zwar markiert Bourdieu (1987: 528f.) diesen Rigorismus durchaus als Strategie des Kleinbürgertums, das »[i]m Streben, seine Kräfte zu konzentrieren und seine Ausgaben zu mindern, […] mit Beziehungen selbst zur Familie [bricht], die seinem individuellen Aufstieg im Wege stehen.« Allerdings dokumentieren sich in der Form der Thematisierung mit Begriffen wie aktiv, erfolgreich, netzwerken (deren substantivischen Entsprechungen im ›Glossar der Gegenwart‹ verzeichnet sind, vgl. Bröckling et al. 2004), aber auch im skizzierten Setting (Coaching) deutliche Muster selbstunternehmerischer Handlungsstrategien. Auch lässt sich die Erzählung als Rekurs auf die cité par projets deuten, weist aber neben einigen Ähnlichkeiten auch Unterschiede auf: Ein erfolgreicher Netzwerkakteur »nutzt optimal seine kostbarste Ressource Zeit, indem er seine Kontaktpersonen bewusst auswählt und indem er es vor allem vermeidet, mit Personen Verbindungen zu knüpfen, die ähnliche Positionen bekleiden wie er und ihm deswegen nur redundante Informationen und Beziehungen liefern würden« (Boltanski & Chiapello 2006: 159). Zunächst zeigen sich hier Parallelen zu der radikalen, kriterienbasierten Selektion, der Sinabell ihren Bekannten- und Freundeskreis unterwirft. Allerdings scheinen die Kriterien, nach denen sie Kontakte aufnimmt bzw. unterbricht, nicht auf die Aneignung von Informationen oder Beziehungsknotenpunkten ausgerichtet. Vielmehr strebt Sinabell Wunsch danach, ein fertiles Milieu zu schaffen, einen Kreis vielversprechender Persönlichkeiten, der allerdings nicht so sehr auf konkrete Kooperationen abzielt, sondern
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eine Erfolgsumgebung darstellt. Die tollen Frauen des Bekanntenkreises werden dabei nicht als strategische Partnerinnen, sondern als Statusinsignien adressiert. Zugleich stellt Sinabell damit implizit auf eine Homogenisierung und elitaristische Schließung ab, wodurch eher die Figur einer distinkten (und distinktiven) Gruppe als eines Netzwerkes entsteht. Beides – Homogenisierung und Schließung – konterkariert die Logik der cité par projets, entspricht aber dem aktiven Streben nach Zugehörigkeit zu einer respektablen Statusgruppe, welches hier ungewöhnliche Wege geht.
Fazit: Berufliche Selbstständigkeit als biografisches Moratorium Am Beispiel von Familie Wunsch zeigt sich, wie sich die generationsübergreifende Logik sozialer Aufstiegsprojekte in gegenwärtige Lebensentwürfe einlagern kann und dabei in ein Interferenzfeld (divergierender) familial transmittierter Orientierungen und (gewandelter) transversaler Wissensordnungen gerät. Familie Wunsch weist geteilte aufstiegsermöglichende Habitusdispositionen auf, gleichzeitig zeigen sich hinsichtlich der Orientierungsrahmen von Mutter und Vater Wunsch leichte Unterschiede, was sich wiederum auf die Orientierungen der Tochter auswirkt: Sinabells biografische und sozialräumliche Laufbahn – so ließe sich mit Bourdieu deuten – ist unter anderem deshalb prekär, weil die angestrebte Position im sozialen Raum zwischen dem kulturbetonten und dem ökonomiebetonten Pol oszilliert. In dieser Unentschiedenheit bildet sich die Verschränkung der mütterlichen Bildungsidealisierung und der pragmatischen, auf ökonomischen Erfolg zielenden Haltung des Vaters ab. Sie wurde von Sinabell Wunsch internalisiert und schlägt sich in habituellen Ambivalenzen nieder, welche die Realisierung des antizipierten Bildungsaufstiegs erschweren. Ihre hohen Bildungs- und Statusansprüche erzeugen zudem einen ausgeprägten Erfolgsdruck, der durch die Familiengeschichte wie auch durch die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen sozialer Positionierung verstärkt werden: Bereits der Erhalt des von den Eltern erarbeiten sozialen Status stellt in Anbetracht des hohen ökonomischen Niveaus und unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Herausforderung dar. Somit weist der Familienfall gleich in mehrfacher Hinsicht jene Laufbahnkonflikte auf, die Bourdieu als einen Effekt sozialen Wandels beschreibt. Diese wirken intergenerational, insofern nicht nur Sinabell selbst, sondern auch ihre Eltern eine andere Bildungslaufbahn erwartet haben, was die Belastung der Tochter zusätzlich vergrößert. Dass die Eltern den Bildungsaufstieg ihrer Töchter nicht gegen deren Willen einfordern möchten, mildert den impliziten Auftrag keineswegs. Tendenziell verschärft es Sinabells Situation sogar, weil die Eltern durch die wohlmeinende Wahlfreiheit explizite Erwartungsformulierungen unterlassen, die der Tochter als Orientierung dienen könnten. So internalisiert Sinabell vor allem Position und Ansprüche der Eltern und antizipiert eine Trajektorie, die insbesondere im Kontext gewandelter sozialer Ordnungsbzw. Allokationsprinzipien mit den familial angeeigneten praktischen Strategien nur schwerlich einzulösen ist. Der veränderte Wert von Bildungsabschlüssen wirkt dabei ebenso verhindernd wie die gesteigerte gesellschaftliche Einforderung einer eigenverantwortlichen Gestaltung von Karriere und Biografie. Als zusätzliche Erschwernis internalisiert Sinabell nicht nur Aufstiegsaspirationen der Eltern, was sich in einem ambitionierten Statusziel niederschlägt, sie modifiziert die Aufstiegsorientierung auch,
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insofern sie sich in der Position wähnt, die Meriten der eigenen Anstrengungen und der Anstrengungen ihrer Eltern nun einfordern zu können. Bourdieu gelingt es, Laufbahnkonflikte als kollektives Schicksal jener sozialen Milieus herauszuarbeiten, die im Vertrauen auf gesellschaftliche Institutionen – insbesondere auf das Bildungssystem – eine generationale Fortsetzung des sozialen Aufstiegsprojekts erwarten und in ihren Bestrebungen von gewandelten gesellschaftlichen Ordnungslogiken behindert werden, die sich nicht auf den ersten Blick offenbaren. Der Fall der Familie Wunsch zeigt zudem, dass die Dispositionen und Orientierungen, die in der Elterngeneration noch besonders aufstiegsförderlich gewirkt haben, in der Tochtergeneration auf eine Weise mit gewandelten praktischen Logiken und Wissensordnungen interferieren, die in den angestrebten sozialen Kontexten nicht sehr anschlussfähig ist: Die Vorstellung eines durch bestimmte (in der Vergangenheit erarbeitete) Insignien der persönlichen Qualität legitimierten sozialen Status, der sich weitestgehend selbsttätig einstellen soll sowie die hierin zum Ausdruck kommende Vagheit konkreter biografischer Strategien, die für die Orientierung des Lebensentwurfstypus Fügung kennzeichnend ist, konfligieren mit den Praxisformen der akademisch ausgebildeten, in prestigeträchtigen Positionen arbeitenden und gut verdienenden Milieus, die gegenwärtig im Aufschwung begriffen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint nun Sinabell Wunschs Selbstständigkeit in einem besonderen Licht: Ihre Gründungsneigung ist nicht an thematische Interessen und nur mittelbar an die Arbeitsform als Selbstständige gekoppelt. Zentral ist vor allem das Statuspotenzial, welches mit der Gründung einhergeht: Eine Selbstständigkeit kann zwischen Einkünften unterhalb des Existenzminimums und exorbitanten Spitzenverdiensten jeden Grad der Kapitalakkumulation umfassen. Auch ist das Berufsfeld der Beratung als wissensbasierte Dienstleistungen akademisch konnotiert, ohne an konkrete Bildungsabschlüsse geknüpft zu sein. Der Status als selbstständige Beraterin ist also höchst unscharf und ermöglicht Sinabell die Bemäntelung ihrer prekären Trajektorie: Die Gründung erlaubt es ihr, sich ohne Kapital als Kapitalistin, ohne Angestellte als Arbeitgeberin und ohne Universitätsabschluss als Akademikerin zu verstehen. Die Attraktivität der Selbstständigkeit ist jedoch nur zum Teil auf ihr veruneindeutigendes Potenzial hinsichtlich des sozialen Status zurückzuführen. Mindestens ebenso bedeutsam ist der Möglichkeitsraum, der sich mit einer Unternehmensgründung eröffnet. Sinabell greift mit der Selbstständigkeit auf eine (implizite) Strategie zurück, die Bourdieu als durchaus charakteristisch für »unterbrochene Laufbahnen« beschreibt: »Es zeigt sich sofort, daß – eben wegen ihrer aktuellen und potentiellen Unwägbarkeiten – Positionen, die keine Garantie geben, aber auch keine verlangen, die keine Eintrittsgebühr (vor allem nicht im Sinne einer bestimmten Ausbildung) erheben, aber den höchsten Ertrag auf nicht beglaubigtes kulturelles Kapital erwarten lassen, die nicht – wie die wohletablierten Berufe – eine sichere Zukunft gewährleisten, aber dafür auch keine, und sei’s die ambitionierteste, Hoffnung auf berufliche Zukunft ausschließen, von vornherein zu den […] Dispositionen von Aufsteigern [passen], die sich nicht so viel Bildungskapital angeeignet haben wie notwendig ist, um den eingeengtesten Durchschnittsposten zu entgehen« (Bourdieu 1987, S. 561-562).
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Die Gründung stellt also ein Moratorium dar, in dem Sinabells Wünsche und Ansprüche zwar nicht eingelöst sind, jedoch auch noch nicht als gescheitert verworfen werden müssen. Sie bietet vielfältige Entwicklungspotenziale sowie Raum für ambitionierte Pläne und Zukunftsentwürfe. Zudem markiert sie einen Neuanfang, der es Sinabell erlaubt, biografische Misserfolge als abgeschlossene Lebensphasen zu deuten und sich auf die nun beginnende, als erfolgreich antizipierte Zukunft zu konzentrieren. Selbstständigkeit gewährt in diesem Fall also einen biografischen Aufschub: Die Bildungsaspiration ebenso wie der fortgeführte soziale Aufstieg sind weiterhin prekär – aber zumindest im Bereich des Möglichen.
18.4
Fallvergleich: Soziogenese gewandelter Lebensentwürfe und transversaler Logiken
Die soziogenetische Interpretation in Form der Familienfallanalysen zielte auf die Herausarbeitung der sozialen Bedingtheit unterschiedlicher Lebensentwürfe und mithin auf die hierin zum Ausdruck kommende sozialräumliche Spezifik sozialen Wandels: 1) So konnte bei einem intrafamilialen Vergleich der praktischen Lebensentwürfe vor dem Hintergrund des konjunktiven Erfahrungsraums Familie die Soziogenese des jeweiligen Lebensentwurfs der Gründerinnen rekonstruiert (standortbedingte familiale Gemeinsamkeiten) und zugleich die Veränderungen im Lebensentwurf zwischen den Generationen herausgestellt werden (Unterschiede in den Gemeinsamkeiten). 2) Die intergenerationalen Unterschiede konnten mit den gegenwartsdiagnostisch herausgearbeiteten gewandelten transversalen Logiken in Verbindung gebracht werden. So ließ sich aufzeigen, wie sich Lebensentwürfe an bestimmten sozialen Orten vor dem Hintergrund weitreichender sozialer Wandlungsprozesse transformieren. 3) Umgekehrt ließ sich mit Rekurs auf den jeweiligen konjunktiven Erfahrungsraum Familie die Spezifik verdeutlichen, mit der gewandelte transversale Logiken in Praxis gebracht werden. Auf diese Weise wird nicht nur ersichtlich, in welch vielfältiger Form ›Ökonomisierung‹, ›Prekarisierung‹, ›Ästhetisierung‹ oder ›Singularisierung‹ praktisch produziert werden, sondern auch welche Interferenzen im Aufeinandertreffen divergierender Logiken entstehen und welche Wirkungen sie für die Akteure entfalten. Während im Rahmen der sinngenetischen Analyse also die praktische Konstitution jener Analysekategorien herausgearbeitet wurde, die zur Rekonstruktion sozialer Wandelprozesse herangezogen werden, zielt die soziogenetische (Familienfall-)Interpretation auf die Rekonstruktion der (sozialräumlichen) Situierung dieser Kategorien.
Soziogenese von Lebensentwürfen Die Familienfallanalyse ermöglicht durch die Fokussierung des konjunktiven Erfahrungsraums Familie eine detaillierte und soziale Wirkzusammenhänge erfassende Herausarbeitung soziogenetischer Prozesse. Bei einer oberflächlichen Betrachtung sozialstruktureller Differenzkategorien ähneln sich die drei im Zentrum der Analyse stehenden Fälle: Anna Töbelmann, Jana Berg und Sinabell Wunsch sind in den 1970er Jahren geboren und zum Zeitpunkt der Gründung in ihren 30ern. Die drei Familien stammen aus Süddeutschland und die Gründerinnen sind auf dem Land groß geworden. Die drei
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Frauen (auch dies eine Gemeinsamkeit) sind jeweils die jüngere Schwester von zwei Geschwistern. Sie haben studiert (oder befinden sich gegenwärtig noch im Studium) und mindestens der Vater der jeweiligen Familien ist ebenfalls akademisch ausgebildet. Alle Mütter sind bzw. waren berufstätig. Vor diesem Hintergrund wirken die sehr eindeutigen Unterschiede in Bezug auf die jeweiligen Lebensentwürfe der Gründerinnen zunächst erstaunlich: Anna Töbelmann bringt in ihrer Alltagspraxis einen ausgesprochen rationalen und strukturierten, auf berufliche und persönliche Weiterentwicklung orientierten Lebensentwurf hervor (›Pfad‹), während Jana Berg sich im ›Entwerfen‹ ihres Lebens als außerordentlich themen- und sinnhaftigkeitsorientierte Netzwerkerin und Projektarbeiterin erweist, deren Biografie mehr selbsttätig zu emergieren scheint, als dass sie von ihr planvoll in bestimmte Bahnen gelenkt würde (›Drift‹). Sinabell Wunsch hingegen konzentriert sich auf das disziplinierte Erarbeiten offizieller Beglaubigungen und informeller Insignien ihrer persönlichen Qualität und beansprucht, über diese Nachweise einen bestimmten sozialen Status zu erhalten, dessen konkrete Realisierung jedoch nicht in ihren Kompetenzbereich fällt, weshalb zur statusbezogenen Zielerreichung auch keine genaueren Strategien entwickelt werden (können) (›Fügung‹). Die auffälligen Unterschiede hinsichtlich des Lebensentwurfs können trotz der vielen sozialstrukturellen Parallelen zwischen den Familien auf soziogenetische Divergenzen zurückgeführt werden. Mehr noch: An den Familienfällen lässt sich zeigen, wie Ungleichheiten in einzelnen sozialen Differenzkategorien (z.B. soziale Herkunft) mit einer divergenten praktischen Hervorbringung anderer Kategorien einhergeht (z.B. Geschlecht), wie feine Unterschiede also eine große (sozialstrukturelle wie praktische) Wirkung entfalten. Allerdings kann dabei nicht von einer Primärkategorie ausgegangenen werden, die die anderen dominiert (als wären etwa geschlechtsspezifische Unterschiede herkunftsspezifischen Unterschieden nachgeordnet und von ihnen abhängig). Vielmehr lassen sich die Orientierungen der Gründerinnen auf das im konjunktiven Erfahrungsraum der Familie spezifische Zusammenwirken unterschiedlicher Differenzkategorien zurückführen. Dies möchte ich an den Fällen noch einmal verdeutlichen. Jana Berg kommt – im Gegensatz zu Anna Töbelmann und Sinabell Wunsch – aus einer bürgerlichen, arrivierten Familie. Die familialen Orientierungen weisen daher keine Merkmale einer sozialen Aufstiegsbewegung auf, wie dies bei den Töbelmanns und Wunschs der Fall ist. Die spezifische bürgerliche Konstellation, aus der sich der intensive Bezug auf soziale Verantwortung und gemeinschaftsbezogene Anwaltschaft verstehen lässt, ist jedoch diejenige der ›Landbourgeoisie‹ – wie Sebastian Berg treffend formuliert. Die Eltern sind als Zahnärzte mit Blick auf ihre (ökonomische wie kulturelle) Kapitalausstattung zweifellos an gehobener relativer Position im sozialen Raum zu verorten. Diese Positionierung ist jedoch im regional begrenzteren Rahmen des Dorfes, d.h. in Relation zu den tatsächlichen Nachbar*innen, zu den Akteuren, denen die Bergs täglich begegnen, wesentlich exponierter als dies in der Stadt der Fall wäre. Da auf dem Land die sozialräumliche Segregation nicht so ausgeprägt ist wie in der Stadt, werden soziale Unterschiede in anderer Form adressiert und auf direktere Weise spürbar. Familie Berg nimmt also die soziale Position (dörflicher) Honoratior*innen ein, was sich in ihrer Alltagspraxis und in ihren Lebensentwürfen niederschlägt.
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Bei Familie Töbelmann und Familie Wunsch handelt es sich im Gegensatz dazu um Fälle, in denen eine soziale Aufstiegsbewegung eingelagert ist. Beide Familien lassen sich der aufstiegsorientierten Mittelschicht zuordnen und weisen darüber hinaus weitere Ähnlichkeiten auf: So sind sowohl Xaver Töbelmann als auch Hans Wunsch studierte Ingenieure, Ulla Töbelmann und Roswitha Wunsch haben jeweils eine Ausbildung absolviert. Beide Familien wohnen ländlich, anders als bei Familie Berg lässt sich die Wohnsituation jedoch eher als suburban charakterisieren: Insbesondere bei Familie Töbelmann ist der Bezug zur Großstadt ausgeprägt, denn Vater Xaver arbeitet hier und Tochter Anna geht im Randgebiet zur Schule. Wird die Wohnlage vergleichend betrachtet, zeigt sich, dass die Gründerinnen in ihrer Kindheit zwar ähnliche Erfahrungen gesammelt haben (z.B. weite Distanzen, die es zu überwinden galt, wenn sie zur Schule, in Vereine, zu Freund*innen gelangen wollten). Allerdings entfaltet der Sozialraum ›Dorf‹ im Fall Jana Bergs in Kombination mit der sozialen Herkunft einen ganz spezifischen Einfluss (soziales Verantwortungsbewusstsein), der sich im Lebensentwurf dokumentiert. Im Fall der Familie Töbelmann wirkt hingegen eine besondere Interferenz zwischen sozialer Herkunft und Geschlecht bedeutsam auf den Orientierungsrahmen ein: Die Spezifik von Annas Lebensentwurf – das entwicklungsorientierte Arbeiten an der eigenen Karriere in enger Verknüpfung mit den Verantwortlichkeiten als Hausfrau und Mutter – lässt sich nur mit Blick auf die Verschränkung der (väterlichen) aufstiegsbezogenen Karriereorientierung und der (mütterlichen) geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung als Hausfrau, Mutter und Zuverdienerin verstehen. Beides – aufstiegsbezogene Karriereorientierung und geschlechtsspezifische Rollenzuschreibung – weist eine deutliche Milieuspezifik auf, wird von Anna Töbelmann in besonderer Weise rekombiniert und bedingt die Form ihres Lebensentwurfs entscheidend. Zwar zeigt sich ›Geschlecht‹ selbstverständlich auch in den beiden anderen Fällen als relevante Kategorie. Bei Familie Berg wird beispielsweise alltagspraktisch (hierauf achtet die Mutter) ein explizites ›Undoing Gender‹ betrieben (Hirschauer 2013) und Jana stellt in ihrer Erzählung einige feministische Bezüge her. Diese Gleichberechtigungsorientierung korrespondiert mit der bürgerlichen Herkunft der Familie und findet möglicherweise in der relativ ähnlichen Orientierung von Jana und Sebastian ihren Ausdruck, denn auch Sebastian weist Merkmale eines Lebensentwurfs des Typus ›Drift‹ auf. Auch spielen Familienstand und Paarbeziehungen in der Erzählung von Jana keine Rolle und somit bleibt diese Form der genderkonstitutiven Relationierung aus. So bleibt festzustellen, dass sich für die besondere Konstitution von Janas Lebensentwurf Geschlecht als nicht in dem Maße bedeutsam zeigt, wie dies bei Anna Töbelmann der Fall ist – was freilich nicht bedeutet, dass hier im Alltag keine geschlechtsspezifische Praxis hervorgebracht würde oder Geschlechterungleichheit wirkungslos wäre. Die Relevanz der Kategorie Geschlecht im Rahmen des Lebensentwurfs von Sinabell Wunsch ist bemerkenswerterweise ebenfalls etwas anders gelagert als im Fall der sozialräumlich benachbarten Familie Töbelmann. Auch für Familie Wunsch dokumentiert sich – in Entsprechung zum sozialen Milieu – eine aufstiegsorientierte Praxis und geschlechtsspezifische Aufgabenteilung. Letzteres spielt in der Alltagspraxis Sinabells eine etwas andere Rolle als bei Anna, die Mutter zweier Kinder ist, zeigt sich jedoch in den Hinweisen, dass sie sich als Ehefrau für den Haushalt und die Hunde verant-
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wortlich fühlt. Die besondere Konstitution des Lebensentwurfs korrespondiert jedoch im Falle Sinabell Wunschs mit einer sozialräumlichen Interferenz, die in den beiden anderen Fällen keine relevante Rolle spielt: In Sinabells Orientierung konkurriert eine sinnhafte Ausrichtung auf den ›ökonomischen Pol‹ mit einer Ausrichtung auf den ›kulturellen Pol‹ des sozialen Raums. Während in den Familien Berg und Töbelmann die familial geteilten Sinnstrukturen in dieser Hinsicht relativ homolog sind, zeigen sich bei Familie Wunsch Ambivalenzen, die sich seitens der Tochter in Schwierigkeiten mit einer konkreten Zielgenerierung sowie in einer Vagheit der biografischen Strategien ausdrücken. Hinsichtlich der Kategorie Geschlecht lässt sich feststellen, dass die beiden Gründerinnen der aufstiegsorientierten Mittelschicht sich sowohl an der Mutter als auch am Vater ausrichten. Hierin zeigt sich ein Aspekt sozialen Wandels. Die Doppelorientierung erzeugt im Fall von Sinabell Wunsch das Problem der habituellen Ambivalenz. Vorstellbar wäre, dass ein Sohn sich eindeutiger auf den Vater orientieren würde. So kann die These aufgestellt werden, dass ein Wandel der Praxis doppelter Vergesellschaftung, die ihre Orientierung nicht mehr ausschließlich matrilinear herstellt, einerseits neue Handlungsspielräume und Selbstverständnisse eröffnen kann (Töbelmann), andererseits aber auch – im Falle größerer Diskrepanzen der elterlichen Habitus – besondere Erschwernisse mit sich bringt (Wunsch).
Transformation von Lebensentwürfen Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich nun innerfamilial zwischen den Lebensentwürfen der Eltern und der Töchter, inwiefern lassen sich diese Divergenzen auf gewandelte transversale Logiken zurückführen und welche Rolle spielen die familialen Orientierungen und Transformationsstrategien bei den Veränderungen? Im Fall der Familie Töbelmann zeigt sich eine Verquickung und damit einhergehende Veränderung der jeweiligen Orientierungen der Eltern. Während Xaver Töbelmann sich als Familienernährer und damit als Hauptverantwortlicher bei der Durchsetzung des familialen Aufstiegsprojekts versteht und Ulla Töbelmann alltagspraktisch vor allem auf Strategien ausgerichtet ist, die eine möglichst effiziente und gelingende Integration ihrer unterschiedlichen Aufgabenbereiche ermöglicht, kombiniert Anna Töbelmann diese Orientierungen, indem sie sowohl die Verantwortung für verschiedene Lebensbereiche übernimmt und diese erfolgreich zu organisieren sucht als auch an der Entwicklung einer eigenen beruflichen Karriere arbeitet. Hierin kommt eine veränderte (ökonomisierte) soziale Logik zum Ausdruck: Anna entgrenzt die bei ihren Eltern tendenziell angelegte (fordistische) Logik einer disziplinierten und angemessenen Aufgabenerfüllung in Richtung einer unbeschränkten Steigerungslogik. Die von den Governmentality Studies analysierten Technologien der Selbststeuerung erweisen sich dabei in der Alltagspraxis von Anna Töbelmann als geeignete Instrumente der Effizienzsteigerung. Der intergenerationale Wandel des Lebensentwurfs wird schließlich von den Eltern und der Gründerin selbst nur marginal wahrgenommen. Alle Familienmitglieder erkennen insbesondere die Orientierungen der Mutter im Handeln der Tochter wieder, so dass der Lebensentwurf als relativ stringente Fortführung familialer Traditionen wahrgenommen wird.
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Familie Wunsch ähnelt in einigen Punkten der Familie Töbelmann: Auch Hans Wunsch versteht sich als Haupternährer und maßgeblicher Motor des familialen sozialen Aufstiegs und Roswitha Wunsch fasst sowohl die Hausarbeit als auch Kindererziehung und Zuverdienst als ihre Pflichten auf. Zusätzlich zeigt sie jedoch eine sehr hohe Bildungsaffinität bei gleichzeitiger Bildungsferne, sodass sie eine idealisierte Vorstellung und symbolische Überhöhung von (bürgerlicher) Bildung in die familialen Orientierungen einbringt. Hierin unterscheidet sie sich von Ulla Töbelmann, die bildungsnäher und kosmopolitischer aufgewachsen ist und sich in ihrer Jugend relativ bewusst gegen eine akademische Laufbahn entschieden hat. Anders als bei Familie Töbelmann entstehen mit der idealisierenden Orientierung auf Bildung seitens Roswitha Wunschs praxislogische Konflikte, denn diese konterkariert die pragmatische, disziplinierte Aufstiegsorientierung, die von Hans, aber eben auch von Roswitha selbst, hervorgebracht wird. Sinabell tritt daher ein schwieriges Erbe an: Die von ihr internalisierten ambivalenten Orientierungen führen nicht nur zu Uneindeutigkeiten in Wünschen und Handlungsmodi, sondern generieren einen Lebensentwurf, bei dem eine hohe Bestimmtheit hinsichtlich des angemessenen und legitimen Status einer weitreichenden Vagheit hinsichtlich der Zielerreichungsstrategien gegenübergestellt ist, sodass Sinabell auf den Glauben und die Hoffnung verwiesen bleibt, das Leben müsse sich nach ihren Vorstellungen fügen. Erschwert wird diese Problemlage noch zusätzlich durch gewandelte transversale Logiken, nach denen – insbesondere für die Erreichung des gehobenen sozialen Status, den Sinabell (und auch ihre Eltern) als angemessen erachten – eine sehr viel stärkere Eigenverantwortlichkeit und Selbststeuerungskompetenz eingefordert wird als dies von Sinabell internalisiert wurde. Auf der anderen Seite scheinen Ästhetisierungs- und Singularisierungsdiskurse eine Ablehnung disziplinierten formalisierten Arbeitens zu verstärken, das im Rahmen der entsprechenden symbolischen Ordnungen massiv abgewertet wird und so nicht mehr zum von Sinabell beanspruchten sozialen Status passt. Ein entsprechend gewandeltes und aufgewertetes Verständnis von (›authentischer‹) Arbeit vermag sie jedoch nur oberflächlich aufzugreifen. Insofern ist der Lebensentwurf von Sinabell Wunsch prekär, denn er beinhaltet eine ambitionierte Vorstellung sozialer Integration, ermöglicht jedoch nur unzureichend deren Realisierung und führt daher zu persönlicher Frustration und Kränkung. Diese Effekte erfahren zusätzliche Verstärkung durch die Reflexionen der Eltern: Für Hans und Roswitha stellt sich die Situation der Tochter als nicht nachvollziehbares Zurückbleiben hinter den – angesichts der in ihren Augen ausgeprägten Begabungen – weitreichenden Möglichkeiten dar. Der Fall der Familie Berg weist eine größere sozialräumliche Distanz zu den anderen beiden Fällen auf, was sich auch im Transmissionsgeschehen sowie im praktischen Aufgreifen gewandelter transversaler Logiken widerspiegelt. Während Anna Töbelmann die Lebensentwürfe ihrer Eltern gewissermaßen kombiniert und im Kontext sozialen Wandels aktualisiert und sich bei Sinabell Wunsch eine ähnliche Bewegung abzeichnet, bei der sich allerdings – aufgrund der familial transmittierten ambivalenten Orientierungen – die Aktualisierung des Lebensentwurfs als weniger anschlussfähig an die sie umgebenden sozialen Kontexte erweist, zeigt sich bei Jana Berg eine völlige Umgestaltung des Lebensentwurfs, die allerdings gerade auf Basis der relativ stabilen Transmission familialer Orientierungen gelingt. Jana Berg übernimmt von ihren Eltern eine ho-
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he Relevanzierung sinnerfüllten Arbeitens, selbstständigen Handelns und eigenverantwortlichen Entscheidens sowie sozialer Beziehungen und Integrität. Die Eltern setzen diese Orientierungen innerhalb der Laufbahnstrukturen der ›organisierten Moderne‹ um, dehnen deren Grenzen jedoch bereits aus, indem die Mutter beispielsweise eine kritische Haltung gegenüber der von ihr noch weitestgehend praktisch mitgetragenen geschlechtsspezifischen Rollenbilder einnimmt und diese an die Kinder weitergibt. Auf Basis der familial transmittierten Orientierungen formiert Jana nun einen gegenwartsspezifischen Lebensentwurf, der in hohem Maße gewandelte transversale Logiken aufgreift. Sie praktiziert eine stark ästhetisierte und singularisierte Lebensform die projekt- bzw. netzwerkartig strukturiert ist. Dabei werden nicht nur zentrale familiale Orientierungsmuster aktualisiert, Jana kann gerade vor dem Hintergrund des bürgerlichen Elternhauses, welches ihr nicht nur ökonomische Sicherheit, sondern auch Souveränität im Umgang mit Institutionen, anderen Akteuren oder unbekannten Situationen ermöglicht, ihren relativ neuartigen, hochgradig kontingenten Lebensentwurf hervorbringen. Zugleich unterscheidet sich dieser massiv vom Lebensentwurf der Eltern. Da Familie Berg jedoch über ein ausgeprägtes soziales Reflexionsvermögen verfügt, dass es den Eltern ermöglicht, soziale Wandlungsprozesse in Rechnung zu stellen und sich für Gundula und Joseph zudem ein hohes Zutrauen in die Fähigkeiten der Kinder dokumentiert, wird Jana umfassend von einem möglichen Eigenverschulden bei etwaigen Abweichungen von einer antizipierten soziale Positionierung entlastet.
Logische Interferenzen Bei den drei Gründerinnen zeigen sich vielfältige praktische Hervorbringungsbeteiligungen an den gegenwartsdiagnostisch herausgearbeiteten gewandelten transversalen Logiken. Auch wenn die Praxis der Gründerinnen sich oft besonders schlüssig im Rahmen bestimmter Logiken rekonstruieren lässt – Anna Töbelmann beispielsweise in hohem Maße Muster einer selbstunternehmerischen Subjektivierungsform hervorbringt und Jana Berg in ihrer Handlungspraxis implizit einer netzwerkbasierten Cité folgt – zeigen sich durchaus Charakteristika unterschiedlicher transversaler Logiken in den jeweiligen Lebensentwürfen. Vor allem aber wird deutlich, dass die durch die Gegenwartsdiagnosen oftmals als abstrakte Wirkzusammenhänge herausgearbeiteten Logiken im Rahmen der konkreten Alltagspraxis der Gründerinnen oftmals eine Spezifik erhalten, die der Abstraktionsgrad der gegenwartsdiagnostischen Darstellungsweise nicht zu erfassen vermag. Am Fall Jana Berg lässt sich beispielsweise das Zusammenspiel einer affirmativen Hervorbringung des neuen Geists des Kapitalismus mit einer gleichzeitig kritischen Distanzierung gegenüber ebendieser Logik aufzeigen. Der Fall Anna Töbelmann führt vor Augen, wie die Ökonomisierung und entgrenzte Steigerung von Weiterentwicklung und Erfolgsgenerierung mit entlastenden Praktiken verschränkt werden können, ohne in einen praxislogischen Konflikt zu geraten. Und im Falle Sinabell Wunschs zeigt sich die praktische Entkopplung der symbolischen Wirksamkeit singularisierter und ästhetisierter Praxis von der hiermit (im Sinne der transversalen Logik eigentlich verbundenen) gewandelten Konstitution von Arbeit. Sowohl bei Anna Töbelmann als auch bei Jana Berg und Sinabell Wunsch zeigen sich dabei durchaus alltagspraktische Schwierigkeiten bzw. Herausforderung bei der prakti-
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schen Hervorbringung des jeweiligen Lebensentwurfs, die unter anderem auf sozialen Wandel zurückzuführen sind. Und bei jeder der drei Gründerinnen stellt die Selbstständigkeit eine Form des Umgangs mit diesen Schwierigkeiten dar. An der Art und Weise, wie sie die Gründung adressieren und praktisch hervorbringen, zeigen sich also praktische Ambivalenzen, Herausforderungen und Effekte sozialen Wandels. Anna Töbelmann stellt die in ökonomisierter Logik gesteigerte Orientierung auf Erfolg vor die Herausforderung, die ohnehin bereits familial transmittierte, in ihren Lebensentwurf eingelagerte Mehrfachbelastung (Haushalt, Kindererziehung, Karriere) unter verschärften Bedingungen – noch effizienter, noch ergiebiger und mit noch überzeugenderen Ergebnissen – zu bewältigen. Die berufliche Selbstständigkeit ermöglicht es ihr nun, in mehrfacher Hinsicht den Anforderungen gerecht zu werden: Erstens gestattet es ihr die Gründung, Technologien der praktischen Ökonomisierung individualisiert und weitestgehend unbehelligt von organisationalen Strukturen, die sie etwa im Falle eines Anstellungsverhältnisses in ihrer Eigenstrukturierung begrenzen würden, zur Anwendung zu bringen. Hier zeigt sich Annas spezifische ökonomisierte Praxis als feingliedrige Modularisierung und möglichst effizientes Ineinanderfügen ihrer verschiedenen Zuständigkeiten. Zweitens ermöglicht es ihr die familiale Position als Zuverdienerin, mit der Selbstständigkeit größere Risiken einzugehen, als dies ihrem Ehemann als Hauptverdiener gestattet wäre. Dadurch erlangt sie einen relativ großen Spielraum hinsichtlich erfolgversprechender, aber riskanter Strategien der Karriereentwicklung. Drittens gewährt die Unschärfe der Gründung, die durch die Mehrfachzuständigkeit noch verstärkt wird, eine Entlastung von übermäßigem Erfolgsdruck in allen Lebensbereichen, denn ein Kürzertreten oder nicht vollständiges Ausschöpfen der Möglichkeiten in einem Bereich kann als Zugewinn oder Ressourcenverbesserung in einem anderen Bereich gedeutet werden. Zugleich zeigt sich jedoch, dass die Selbstständigkeit gerade aufgrund ihrer schwachen formalen Strukturiertheit und schier grenzenlosen Potenzialität einer verstärkten Steigerungslogik Vorschub leistet und Anna Töbelmann, die durchaus mehr Entspanntheit und Genuss in ihrem Leben begrüßen würde, nicht zur Ruhe kommen lässt. Jana Berg nutzt die Selbstständigkeit, um einer zentralen Herausforderung der cité par projets zu begegnen: Ihr Lebensentwurf entspricht in hohem Maße der im Rahmen der Netzwerklogik hochgeschätzten Polyvalenz, Fluidität und vielfältigen Interessiertheit, Jana stellt jedoch fest, dass das konsequente Verfolgen dieser unterschiedlichen Interessenlagen zu einer Berufsbiografie und Arbeitspraxis führt, die sich in herkömmliche Unternehmens- und Beschäftigungsformen nur schwer integrieren lässt. Zudem deckt sich ihre Vorstellung von Arbeit mit der entgrenzten Reformulierung im Rahmen der cité par projet (Auflösung der Grenzen zwischen ehrenamtlicher und bezahlter Beschäftigung, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Kolleg*innen und Freund*innen etc.). Die dabei entstehende projektbasierte Arbeitsform lässt sich vor allem in Form einer Selbstständigkeit realisieren. Insgesamt ist Jana mit der Situation jedoch nicht vollständig zufrieden, weshalb sie die Gründung als pragmatische und eher notgedrungene Lösung adressiert: Erstens stellt die Selbstständigkeit das Problem einer konsistenten Kommunikation und anschlussfähigen Darstellung des Leistungsportfolios auf Dauer und legt es vollständig in ihre persönliche Zuständigkeit. Zweitens bietet die Selbstständigkeit nur sehr unzureichende Sicherheiten, das heißt, die Risiken des projektbasier-
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ten Arbeitens werden zum überwiegenden Teil von Jana getragen, während Auftraggeber*innen durchaus von Flexibilität der Gründerin profitieren. Und schließlich kritisiert sie drittens vehement die zersetzende Wirkung einer Ökonomisierung freundschaftlicher sozialer Beziehungen, die im Rahmen der von ihr praktizierten Arbeitsund Lebensweise (unweigerlich) eintritt. Insofern verdeutlicht die Selbstständigkeit die mit einer ästhetisierenden Ökonomisierung einhergehenden Gefahren für den sozialen Zusammenhalt. Jana Berg erhofft sich jedenfalls andere Institutionalisierungsweisen von Arbeit, welche deren projektbasierte Form in zumutbare Bahnen lenken. Sinabell Wunsch schließlich findet in der Selbstständigkeit eine Möglichkeit, die Einlösung ihrer Aufstiegsaspiration im Bereich des Möglichen zu halten. Da sozialer Wandel bei ihr eine Diskrepanz zwischen Statusansprüchen und Realisierungsstrategien verstärkt, bietet ihr die Gründung einen schwach strukturierten Raum, in dem ihr sozialer Status formal relativ unscharf bleibt. Der Status (der einen zentralen Fluchtpunkt ihrer Orientierung bildet) ist bis zu einem gewissen Grad nach außen, insbesondere aber nach innen (d.h. in Bezug auf Sinabells Selbstwahrnehmung) der eigenen Darstellungs- und Deutungspraxis unterworfen. Und so betreibt sie ein detailliertes Reframing ihrer Lage, wobei sie Sinnmuster ästhetisierter und singularisierter transversaler Logiken aufgreift. Die Gründung bietet Schutz vor den Effekten eines in ihrem Fall besonders schwerwiegenden Laufbahnkonflikts: Die familial antizipierte Trajektorie, die sich im Zusammenspiel der transmittierten Orientierungsmuster und gewandelter sozialer Bedingungen nicht umstandslos realisieren lässt, wird in der Schwebe gehalten und muss so weder für die Eltern noch für Sinabell selbst als gescheitert gelten. Allerdings befindet sich die Laufbahn in einer prekären Schwebe, die Gründung kann wahrscheinlich nicht mehr als ein Moratorium formieren. Als Problem stellt sich dabei die weite Potenzialität der Selbstständigkeit heraus, denn diese entgrenzt offenbar – vor dem Hintergrund sich überbietender Erfolgserzählungen in Ökonomisierungs-, Ästhetisierungs- und Singularisierungsdiskursen – Sinabells Statusansprüche.
Soziale Reproduktion durch sozialen Wandel? Abschließend lohnt im Rahmen der Familienfallanalyse ein Blick auf die von Bourdieu herausgearbeitete Feststellung, dass ein erfolgreicher intergenerationaler Statuserhalt nur durch die Anpassung an aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten gelingen kann, dass also soziale Reproduktion maßgeblich auf Basis sozialen Wandels geschieht (Bourdieu 1987). Diese These scheint sich insbesondere im Fall der Familie Töbelmann zu bewahrheiten: Anna Töbelmann internalisiert die sozialen Orientierungen und mithin die Aufstiegsaspiration der Familie und modifiziert diese vor dem Hintergrund gewandelter transversaler Logiken. Bei Sinabell Wunsch hingegen scheint die Reproduktion durch Wandel fehlzuschlagen. Dabei liegen die Schwierigkeiten sowohl auf Seiten der familialen Transmission ambivalenter Orientierungen als auch in einer ungünstigen Aktualisierung der Orientierungen vor dem Hintergrund gewandelter sozialer Bedingungen. Besonders bemerkenswert ist dabei die Divergenz in der Transmission der Aufstiegsbestrebungen bei Familie Töbelmann und Familie Wunsch: Während bei Anna Töbelmann die Aufstiegsorientierung internalisiert und handlungspraktisch auf Dauer gestellt wird – ein Prozess, den Bourdieu als übliche Transmissionsbewegung im auf-
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stiegsorientierten Kleinbürgertum markiert (Bourdieu 1997b) – geschieht im Fall der Familie Wunsch etwas Ungewöhnliches: Sinabell fordert die Einlösung des Aufstiegsversprechens und wendet sich damit ab von der familialen Orientierung. Dies kann nicht zuletzt als Effekt sozialen Wandels gedeutet werden, denn Sinabell verweist bei ihrer Umorientierung explizit auf Vergleichsentwürfe, die Muster gewandelter Logiken bergen. Bei Jana Berg gestaltet sich die Beantwortung der Frage nach einer gelungenen Reproduktion durch Wandel wesentlich komplizierter: Gemessen am Kapitalvolumen bleibt sie hinter der sozialräumlichen Positionierung der Eltern zurück. Aus verschiedenen Gründen scheint diese Rekonstruktion die Situation von Jana Berg jedoch nicht gänzlich zu erfassen. Erstens ist es schwer, die Zusammensetzungen und vor allem Wertigkeiten der Kapitalsorten von Gudula bzw. Joseph und Jana miteinander zu vergleichen. Das Kapital von Jana Berg lässt sich zum gegebenen Zeitpunkt zwar nicht annährend in jenem Umfang in ökonomisches Kapital umwandeln wie dies noch bei den Eltern der Fall war, jedoch besitzt sie genau jenes kulturelle und soziale Kapital, dass im Rahmen der cité par projet, nach der sie ihr Leben ausrichtet, besonders hohe Wertigkeit aufweist. Ein Vergleich fällt also zweitens auch deshalb schwer, weil der Lebensentwurf von Jana Berg sich sehr viel radikaler vom Entwurf der Eltern entfernt als dies in den anderen beiden Familien der Fall ist. Anna Töbelmann und Sinabell Wunsch reproduzieren mit ihren Lebensentwürfen eine aktualisierte, aber nicht gänzlich gewandelte Version der Entwürfe ihrer Eltern und lassen sich damit habituell und auf Basis ihrer Lebensführungen nach wie vor in ihrem Herkunftsmilieu verorten. Jana Berg hingegen wandelt ihren Lebensentwurf im Vergleich zu den Entwürfen der Eltern grundlegend und verlässt mithin auch ihr Herkunftsmilieu – ihre Lebensführung und Alltagspraxis entspricht nicht jener der Landbourgeoisie. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Milieuumsiedelung, noch dazu in ein Milieu, das sich in der Lebensspanne der Eltern erst allmählich herausgebildet hat, fällt ein Vergleich also ebenfalls schwer. Schließlich muss daher drittens danach gefragt werden, inwiefern mit der Positionierung in einem neuen Milieu nicht auch neue Positionierungslogiken verbunden sind, die möglicherweise über dessen Grenzen hinausweisen. Reckwitz (2017a) vermutet, dass mit der von ihm beschriebenen Formierung einer ›neuen Mittelklasse‹ auch eine Verschiebung der Kapitalwertigkeiten, nämlich eine Aufwertung spezifischer Kulturkapitalien gegenüber ökonomischem Kapital einhergeht. Zwar stellt er die Relevanz ökonomischen Kapitals nicht in Abrede, er geht jedoch davon aus, dass (in einigen Gesellschaftsbereichen) kulturelles Kapital bei der Generierung von sozialer Anerkennung und Teilhabechancen eine gesteigerte Rolle spielt. Tatsächlich dokumentiert sich in Jana Bergs Orientierung eine deutliche Betonung nicht-materieller Werte und sie leitet soziale Bedeutsamkeit vor allem aus der Beschäftigung mit sinnstiftenden Themen ab. Auch wurde bereits darauf verwiesen, dass sich für den Typus ›Drift‹ veränderte Prinzipien sozialer Integration andeuten. Wandeln sich jedoch die Positionierungslogiken innerhalb des sozialen Raums stellt sich insgesamt die Frage, ob nicht auch jene Analyseperspektive, die soziale Reproduktion durch sozialen Wandel in den Blick nimmt, erweitert und in Teilen reformuliert werden muss. Insofern verweist die Familienfall nicht zuletzt auf die Bedeutsamkeit einer beständigen Überprüfung der Analysekate-
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gorien hin – gerade, wenn sie auf einen so dynamischen Gegenstand wie den Wandel sozialer Praxis gerichtet sind.
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Abschließend möchte ich die herausgearbeiteten Aspekte einer praxistheoretischen Soziologie sozialen Wandels noch einmal entlang der eingangs angeführten forschungsleitenden Fragestellungen resümieren. Gefragt wurde danach, wie sozialer Wandel praxistheoretisch rekonstruiert wird, wie praxistheoretische Forschung bei der empirischen Erforschung sozialen Wandels vorgeht und was durch einen praxeologischen Zugang der Wandelforschung ins Blickfeld rückt. Um diesen Fragen abschließend noch einmal nachzugehen, wende ich mich zunächst der letzten Frage zu und fasse die Erkenntnisse der empirischen Analyse sozialen Wandel in der Lebensentwurfspraxis von Existenzgründerinnen zusammen. Danach resümiere ich die Vorgehensweise einer praxeologischen Wandelforschung, um hieran noch einmal die Eigenheiten einer praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels herauszustellen. Abschließend möchte ich aufzeigen, welche analytischen Anschlussmöglichkeiten die Erforschung sozialen Wandels als Wandel sozialer Praxis eröffnet.
Die Erkenntnismöglichkeiten der Erforschung sozialen Wandels in konkreten Praxisvollzügen: Ökonomisierung, Prekarisierung, Ästhetisierung und Singularisierung der Lebensentwurfspraxis von Existenzgründerinnen Anhand der Ökonomisierungs-, Prekarisierungs-, Ästhetisierungs- und Singularisierungsdiagnosen von Bourdieu, Foucault, Boltanski und Chiapello, Reckwitz und anderen habe ich auf das wandelforscherische Potenzial praxistheoretisch orientierter Gegenwartsanalysen verwiesen (Teil III). Diese sind analytisch auf unterschiedliche, jeweils weitreichende Praxismuster bezogen, das heißt, sie fokussieren veränderte, an Wirkmacht gewinnende Rationalitäten der Hervorbringung sozialer Praxis und mithin feld- bzw. milieuübergreifenden Wandel im Zusammenleben, in gesellschaftlichen Institutionen, bei Bewertungsschemata und Alltagshandlungen. Wenngleich aus gegenwartsdiagnostischem Interesse die Forschungsarbeiten um jeweils eine transversale Logik zentriert sind, ermöglicht (und befördert) ein praxeologischer Zugang deren Relationierung: So verweist Bourdieu (1997) in ›Das Elend der Welt‹ auf das Zusammenwirken von Ökonomisierung und Prekarisierung, Boltanski und Chiapello (2006) zeigen in ›Der neue Geist des Kapitalismus‹, dass durch Ästhetisierung der Arbeitswelt
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prekäre Laufbahnstrategien und Lebensformen zur Basis einer neuen, radikaleren Form der Ökonomisierung werden und Reckwitz (2017) arbeitet in ›Die Gesellschaft der Singularitäten‹ heraus, dass sich die Logik des (ästhetisch) Einzigartigen an bestimmten Punkten mit Praxismustern der Ökonomisierung verschränkt. Der Hinweis auf solche Interferenzen deutet bereits auf die hohe Relevanz der spezifischen Hervorbringung ökonomisierter, prekarisierter, ästhetisierter und singularisierter Praxis für die Erforschung sozialen Wandels hin: Wird sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis rekonstruiert, kommt er also nicht als die Ökonomisierung, die Prekarisierung oder die Ästhetisierung der Gesellschaft in den Blick, sondern zeigt sich als polysemischer, unscharfer Prozess, der verschiedenen, einander zum Teil durchkreuzenden Logiken folgt und zudem praktisch in vielfältiger Form, ungleichzeitig und mit ungleicher Wirkung hervorgebracht wird. Geht es in der Analyse jedoch in erster Linie um die gegenwartsdiagnostische Herausarbeitung transversaler Praxismuster, so muss zwangsläufig von der Polysemie konkreter Praxisvollzüge abstrahiert werden. Hierin liegt eine antinomische Spannung, denn die prinzipiell uneindeutige soziale Praxis bildet zwar die konstitutive Grundlage transversaler Logiken, deren Rekonstruktion kann jedoch nur unter Ausklammerung der Unschärfe ihrer praktischen Produktion gelingen. Für eine praxeologische Wandelforschung schlage ich daher die Arbeit mit komplementären Analysezugängen vor, das heißt, die gegenwartsdiagnostische Erforschung weitreichender Wandellogiken muss um die Analyse des konkreten Wandelgeschehens vervollständigt werden, sonst handelt es sich um eine halbierte Rekonstruktion des Wandels sozialer Praxis. Wird das wandelanalytische Interesse auf spezifische Praxisvollzüge verlagert, so zeigt sich, wie voraussetzungsvoll und folgenreich, aber auch wie erkenntnisförderlich eine praxistheoretische Rekonstruktion sozialen Wandels gerade auch in der ›Nahaufnahme‹ ist. Im empirischen Teil (IV) der vorliegenden Forschungsarbeit wurde dies anhand der Hervorbringung sozialen Wandels in der Lebensentwurfspraxis von Existenzgründerinnen nachvollzogen. Sowohl hinsichtlich gegenwärtiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse als auch in Bezug auf generelle Rekonstruktionsmöglichkeiten praktischen Wandels lassen sich dabei verschiedene Aspekte extrapolieren, die ich zusammenfassend noch einmal hervorheben möchte: Erstens können im Praxisvollzug – hier: des Lebensentwurfs – die Interferenzen verschiedener gewandelter transversaler Logiken rekonstruiert werden, ohne dabei die Analyse praktischer Überlagerungen durch das Interesse an einer bestimmten Logik zu präformieren. Im Rahmen einer sinngenetischen Typisierung der Lebensentwurfspraxis der Gründerinnen dokumentieren sich sehr unterschiedliche Muster der Ökonomisierung, Prekarisierung, Ästhetisierung und Singularisierung, die nicht zuletzt durch Interferenzen erzeugt werden. Je nach Typus entfalten einige transversale Logiken dabei besonders große, andere keine oder eine lediglich marginale Relevanz. Im Typus ›Pfad‹ spielen ökonomisierte Rationalitäten eine zentrale Rolle: Erst in einem Sinngefüge gesteigerten Verbesserungs- und Erfolgsstrebens und vor dem Hintergrund einer effizienten und individualisierten Selbststeuerung lässt sich das Leben in der empirisch herausgearbeiteten Form einer planvollen und effizient organisierten Pfadentwicklung hervorbringen. Zwar scheinen auch Muster der Ästhetisierung und Singularisierung auf, wenn etwa persönliche Präferenzen der Lebensführung nicht der Arbeit bzw. dem
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Erfolg untergeordnet, sondern als eigener Wert aufgefasst werden. Diese Wertigkeit wird jedoch ökonomistisch gerahmt und beispielsweise bilanzierend in Entscheidungsfindungsprozesse einbezogen. In den Lebensentwürfen des Typus ›Drift‹ entfalten vornehmlich Muster der Ästhetisierung ihre Wirkung: Das Leben ist auf sinnstiftende, affizierende und authentische Praktiken ausgerichtet. Die Gründerinnen gestalten ihre Lebensführung projektförmig und sind in verschiedene soziale und ökonomische Netzwerke eingebunden, in denen die Grenzen freundschaftlicher und beruflicher Beziehungen verschwimmen. Diese Ästhetisierungspraxis, die in vielerlei Hinsicht an die von Boltanski und Chiapello (2006) herausgearbeitete ideologische Spielart eines radikalisierten Kapitalismus erinnert, ist jedoch nur in geringem Maße von Effizienz- oder Erfolgssteigerungsprinzipien berührt. Ökonomisierungsaspekte, die in die Alltagspraxis der Gründerinnen Eingang finden (z.B. Ökonomisierung sozialer Beziehungen) werden vielmehr als Problem empfunden, gegen das sich die Gründerinnen jedoch nur begrenzt zur Wehr setzen können. Die Interferenz von Ökonomisierung und Ästhetisierung bildet hier also keinen Gleichklang, sondern führt zu praktischen, teils internalisierten Ambivalenzen. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Fügung‹ zeigen sich schließlich insbesondere problematische Effekte prekär werdender sozialer Sinn- und Ordnungsgefüge: Das Festhalten an Bewertungsmustern und Handlungsstrategien, die aufgrund der Erosion ehemals stabiler sozialer Ordnungsstrukturen immer weniger greifen, sowie das Unvermögen, neue Rationalitäten und Technologien (etwa der Selbststeuerung) in gesellschaftlich anschlussfähiger Weise zu internalisieren, trägt entscheidend zur Prekarisierung der Lebenssituation bei. Hinzu kommen sozial ›ungünstig‹ interferierende Ökonomisierungs-, Ästhetisierungs- und Singularisierungslogiken, die zwar performativ aufgegriffen, jedoch in heterologer, konfligierender Form internalisiert werden und auf diese Weise habituelle Ambivalenzen erzeugen. So mündet etwa die spezifische Verkopplung familial ererbter Aufstiegsorientierungen mit der ökonomistisch geprägten Erwartung potenziell grenzenloser (unternehmerischer) Erfolgssteigerung und mit einem Anspruch auf in erster Linie affizierende Arbeit (uneingeschränkt erfreulich, kreativ, authentisch) in Karrierezielen, zu deren Realisierung es an expliziten, aber auch habituellen Strategien mangelt. Die Praktiken der Gründerinnen lassen sich nicht unterscheiden in solche, die ästhetisiert, solche, die prekarisiert, und solche, die ökonomisiert sind; Ökonomisierung, Ästhetisierung etc. sind in ihrer praktischen Hervorbringung ungeschieden, sie ereignen sich zugleich in sowohl ästhetisierten als auch ökonomisierten Praxisvollzügen, sind also wechselseitig durchdrungen und können einander daher verändern und zwar in jeweils kontextspezifischer Form. Wenngleich sich die Lebensentwurfspraktiken der Gründerinnen zum Teil nah an der von Reckwitz (2012) herausgearbeiteten ästhetisierten Selbstvermarktung bzw. optimierten Authentizität bewegen, so sind die typspezifischen Interferenzen transversaler Logiken damit noch nicht ausreichend charakterisiert. Im Rahmen des Typus ›Pfad‹ differenzieren die Gründerinnen zwischen objektivierbaren (Karriere-)Erfolgen und nicht objektivierbarer affektiver Wertigkeit, was den zweifellos auffindbaren Optimierungs- und Steigerungsimperativ eher mildert: Die Differenzierung schafft Freiräume für Entscheidungen, die sich zumindest teilweise der Notwendigkeit einer rational-ökonomischen Legitimation entziehen. Für
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den Typus ›Drift‹ dokumentiert sich hingegen eine kritische Reflexivität hinsichtlich der Ambivalenzen zugleich ästhetisierter und ökonomisierter Lebensentwurfspraktiken. Zwar zeigen sich auch hier Muster einer wechselseitigen Verstärkung von Ökonomisierung und Ästhetisierung, zugleich versuchen die Gründerinnen jedoch, durch gezielte Entflechtung Handlungsspielräume zu gewinnen. Die Interferenzen gewandelter transversaler Logiken unterscheiden sich also entsprechend ihrer Hervorbringungskontexte, sodass die wechselseitigen Brechungen ökonomisierter, prekarisierter, ästhetisierter und singularisierter Rationalitäten nur eingeschränkt auf abstrakter Ebene abgeleitet werden können. Die kontextual divergierenden Interferenzen verweisen bereits darauf, dass zweitens transversale Logiken im Rahmen der jeweiligen Lebensentwurfspraxis je spezifische Formen der Hervorbringung zeigen: Im Rahmen des Typus ›Pfad‹ zeichnet sich Ökonomisierung nicht so sehr durch Konkurrenzorientierung und Selbstvermarktung aus, bedeutet aber eine deutliche Ausrichtung auf die Optimierung alltäglicher Handlungsabläufe und auf Selbstüberbietung. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Drift‹ dokumentiert sie sich hingegen in Form einer (als notwendig empfundenen) Selbstvermarktung sowie in der Funktionalisierung freundschaftlicher Beziehungen – eine Orientierung auf Optimierung der Alltagspraxis zeigt sich hingegen nicht. Hier wird wiederum die komplementäre Ausrichtung einer Erforschung sozialen Wandels im konkreten Praxisvollzug im Gegensatz zur gegenwartsdiagnostischen Rekonstruktion transversaler Praxismuster deutlich: Letztere arbeitet die jeweilige analytisch zentrierte Logik notwendigerweise kontrastreich und mit scharfen Konturen heraus. Auf diese Weise kann sie nicht zuletzt auch grundlegende Kritik an der Wirkungsweise transversaler Logiken üben, kann also den zwingenden Charakter des Selbstoptimierungs- oder Kreativitätsimperativs aufdecken, die Verkennung des Nicht-Innovativen, Nicht-Einzigartigen, Nicht-Optimierten rekonstruieren und logikimmanente Beschränkungen von Möglichkeitsräumen anmahnen. Während gegenwartsdiagnostische Ansätze also aufgrund ihres Forschungsinteresses gewissermaßen darauf angewiesen sind, ›Grenzfälle‹ ökonomisierter, prekarisierter, ästhetisierter oder singularisierter Praxis zu präsentieren – hier ›High Performer‹, die der jeweiligen Logik in Reinform entsprechen, dort Akteure, die jeglicher Teilhabeund Kritikmöglichkeit beraubt sind –, ist die Analyse von Praxisvollzügen auf die Rekonstruktion der Alltagspraxis orientiert, die sich zumeist zwischen den Extremen ereignet. Dabei wird die Vielfalt der Hervorbringungsformen rekonstruierbar und auch wenn die im Zusammenhang gewandelter transversaler Logiken erzeugten Begrenzungen und Verkennungen im konkreten Praxisvollzug (auf den ersten Blick) vielleicht weniger alarmierend erscheinen, so wird doch die Variationsbreite der zu problematisierenden Effekte sichtbar. Darüber hinaus gibt der Zugang aber vor allem den Blick frei auf implizite Strategien, die geeignet sind, repressiven Effekten (zumindest partiell) zu entgehen bzw. zu widerstehen. Das heißt, mit der Analyse konkreter Praxisvollzüge werden zwischen erschöpften Ordnungsinstanzen und konkurrierenden Deutungsangeboten Möglichkeitsräume rekonstruierbar, in denen unerwartbare Praxis emergiert, die sich nicht (mehr) umstandslos auf ökonomisierte, prekarisierte, ästhetisierte bzw. singularisierte Logiken reduzieren lässt. Es zeigen sich also (potenzielle) Räume für Neues, die insbesondere für die Erforschung sozialen Wandels virulent sind, und zwar
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sowohl hinsichtlich ihrer Verortungen und Expansionsmöglichkeiten als auch hinsichtlich ihrer sinnhaften Konstitution. Drittens ermöglicht es die Analyse konkreter Praxisvollzüge, die Historizität der Hervorbringung gewandelter transversaler Logiken und mithin sozialen Wandels in den Blick zu nehmen. Sie eröffnet also einen retrospektiven analytischen Zugang auf vergangene Wandelprozesse. Im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchung von Lebensentwürfen wurde dies durch eine soziogenetische Interpretation realisiert, welche auf die Rekonstruktion der Seinsgebundenheit von Handlungsorientierung und Lebensentwurf zielt: So wird etwa deutlich, wie die schwach ökonomisierte, sozialkritische Form einer ästhetisierten Alltagspraxis des Typus ›Drift‹ mit bürgerlichen Habitusdispositionen korrespondiert, wie die planvolle, auf Effizienzsteigerung ausgerichtete Form der Alltagsökonomisierung des Typus ›Pfad‹ durch die arbeitsteilige Gestaltung eines familialen Aufstiegsprojekts angeregt wird oder wie der prekäre Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ mit familial transmittierten habituellen Ambivalenzen zusammenhängt, die sich ebenfalls aus einer elterlichen Aufstiegsorientierung ergeben können. Sowohl der gesellschaftlich anschlussfähige Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ als auch der prekäre Lebensentwurf des Typus ›Fügung‹ beziehen wesentliche Aspekte ihrer jeweiligen Orientierungen aus den Sinngefügen aufstiegsorientierter Milieus. Während jedoch im Rahmen des Pfad-Typus offenbar eine pragmatische Leistungsbezogenheit transmittiert und in ökonomistische Effizienzsteigerung überführt wird, dokumentiert sich in den Praktiken des Typus ›Fügung‹ eine ambivalente Verschränkung der pragmatischen Leistungsbezogenheit mit einer starken Orientierung auf die symbolische Wirkung ›hochkultureller‹ Praxis. Dies führt zu einem Auseinanderdriften von Statusanspruch und dessen Durchsetzungsstrategie, die auch in einer (gesellschaftlich wenig anschlussfähigen) heterologen Verknüpfung ökonomisierter, ästhetisierter und singularisierter Handlungslogiken zum Ausdruck kommt. Die Analyse konkreter Praxisvollzüge zeigt also auch, dass die spezifische Hervorbringung sozialen Wandels nicht umstandslos entlang einzelner sozialstruktureller Merkmale verallgemeinerbar ist. Vielmehr können schon kleine Unterschiede in den historischen Bedingungen einer Lebensentwurfspraxis höchst unterschiedliche Wirkungen entfalten. Für die Erforschung sozialen Wandels ist die Betrachtung von Entstehungskontexten konkreter Praxisvollzüge also erkenntnisreich, denn auf diese Weise lassen sich Differenzen in den Hervorbringungsmodi, Interferenzen und praktischen Effekten transversaler Logiken detailliert auf ihre historischen Bedingungen hin untersuchen. Die Einsicht, dass in ähnlichen sozialen Herkünften sehr unterschiedliche Lebensentwurfspraktiken – und mithin divergente Hervorbringungsmodi transversaler Logiken – entstehen, verweist zudem in einem allgemeineren Sinne auch auf die Konstitution gegenwärtiger gesellschaftlicher Wandelgeschehnisse: Das Analyseergebnis kann auch als ein Ausdruck erweiterter praktischer Möglichkeitsräume und erhöhter Kontingenz gelesen werden, d.h. als Hinweis auf eine Form gesellschaftlichen Wandels in den Blick kommen, die beispielsweise in stark segregierten oder hoch konventionalisierten historischen Gesellschaftskontexten weniger wahrscheinlich wäre. Viertens wird im Rahmen der Analyse konkreter Praxisvollzüge die Variationsbreite sozial ungleicher Wirkungen deutlich, welche mit der praktischen Hervorbringung gewan-
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delter transversaler Logiken einhergeht. Dies ermöglicht auch eine Präzision der gegenwartsdiagnostischen Kritik, was sich ebenfalls am Beispiel der Entwicklung unterschiedlicher Lebensentwürfen vor dem gemeinsamen Hintergrund aufstiegsorientierter Herkunftsmilieus verdeutlichen lässt: Die ungleiche Wirkung der Lebensentwurfspraxis der Typen ›Pfad‹ und ›Fügung‹ zeigt, dass die von Bourdieu (1997) im Zuge seiner Studien zur Ökonomisierung und Prekarisierung der französischen Gesellschaft problematisierten Laufbahnkonflikte (überkommene Aufstiegsstrategien konfligieren mit gewandelten gesellschaftlichen Kontexten) nur unter bestimmten Bedingungen entstehen. Während Gründerinnen, die einen Lebensentwurf des Typus ›Pfad‹ hervorbringen, die sozial ererbte Aufstiegsorientierung in vornehmlich ökonomisierte Handlungslogiken übersetzen können, führt die durchaus milieutypische Doppelorientierung sowohl auf Arbeits- als auch auf Kulturbeflissenheit im Fall des Typus ›Fügung‹ zu einer heterologen Internalisierung ererbter und gewandelter Handlungslogiken. Hieraus folgen Verunsicherungen und Vagheit der Handlungsstrategien, Verkennungserfahrungen aber auch soziale Marginalisierung und Exklusion. Im Rahmen des Lebensentwurfstypus ›Pfad‹ gelingt hingegen eine gesellschaftlich anschlussfähige Transmission der Aufstiegsorientierung unter den Vorzeichen veränderter transversaler Logiken. Allerdings gibt die Analyse Anlass zu der Vermutung, dass gerade die mit der Aufstiegsaspiration einhergehende Leistungsorientierung die Vulnerabilität mit Blick auf den ökonomistischen Selbstüberbietungsimperativ erhöht. Trotz ähnlicher sozialer Entstehungskontexte zeigen sich also divergente Wirkungsweisen und Risiken sozialen Wandels. Schließlich verdeutlicht die Analyse konkreter Praxisvollzüge, fünftens, Ungleichzeitigkeiten im Wandel sozialer Praxis bzw. eine gleichzeitige Hervorbringung von Kontinuität und Diskontinuität. Dies gilt einerseits für Ungleichzeitigkeit zwischen Akteuren, Diskursen und institutionellen Settings, wenn etwa – wie im Rahmen des Typus ›Drift‹ – habituelles Vermögen und institutionelle Ermöglichung hinsichtlich einer projektierten Praxis Inkongruenzen aufweisen. So erfahren die Gründerinnen zwar soziale Anerkennung für ihre ästhetisierten Lebensentwürfe, im Arbeitsalltag stoßen sie jedoch regelmäßig an Grenzen, denn ihre institutionellen Kontexte sind nicht hinreichend auf eine Koproduktion dieser Lebensform ausgerichtet. Die Gründerinnen wünschen sich beispielsweise mehr Anstellungsverhältnisse, in denen die anerkannte Flexibilisierung, Projektierung und Ästhetisierung des Arbeitsalltags ermöglicht wird oder eine gleichmäßigere gesellschaftliche Verteilung arbeitsmarktbezogener Risiken. Ungleichzeitigkeiten zeigen sich aber auch innerhalb der Lebensentwürfe: In den Handlungsorientierungen der Gründerinnen dokumentiert sich immer auch die Kontinuierung familial transmittierter Sinnstrukturen, die sie jedoch in je spezifischer Weise aktualisieren. Der Wandel sozialer Praxis – dies zeigt die Analyse – vollzieht sich entlang verschiedener transversal wirksamer Logiken, die je nach Kontext in unterschiedlicher Form praktisch hervorgebracht werden und auf verschiedene Weise interferieren. Weder die Hervorbringungsmodi noch die Interferenzen folgen einem allgemeinen Wandelprinzip und keine der gegenwartsdiagnostisch herausgearbeiteten transversalen Logiken erweist sich als typübergreifend dominant. Andererseits sind ihre konkreten praktischen Formen auch nicht willkürlich, sondern weisen Spezifika der jeweiligen Situiertheit auf, d.h. des sozialen Ortes ihrer Produktion. Von dieser Situiertheit ist die
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Form sozialen Wandels abhängig, denn aus ihr heraus entfaltet sich der praktische Möglichkeitsraum, in den neue Rationalitäten Eingang finden, bilden sich neue habituelle Strategien und transformieren sich institutionelle Kontexte. Die interviewten Existenzgründerinnen – überwiegend Soloselbständige, die in Bildungs-, Beratungsoder Medienbranche tätig sind – lassen sich theoretisch im Schnittfeld gegenwärtiger Ökonomisierungs-, Prekarisierungs-, Ästhetisierungs- und Singularisierungsdynamiken verorten: Sie gelten als exponierte Adressatinnen des Selbstvermarktungsimperativ, als prekarisierungsgefährdet, als kreativitätsaffin. Empirisch lässt sich für die Lebensentwürfe der Gründerinnen jedoch zeigen, dass sie weniger ökonomisiert sind als es die politische Programmatik vermuten lässt, dass sie ihre tendenziell prekäre Situation – je nach Typus – beherrschen, bewusst wählen oder erdulden müssen. Sowohl Ästhetisierung als auch Singularisierung sind als zentrale Praxislogiken (bislang) nur in einem der drei Lebensentwurfstypen aufzufinden. Zwar weisen alle Typen Spuren der Ästhetisierung und Singularisierung auf, insbesondere bei Akteuren aus aufstiegsorientierten Milieus scheinen jedoch gerade die in Auflösung befindlichen sozialen Ordnungen und Bedeutungsgefüge nach wie vor wirkmächtig, wenngleich diese vor dem Hintergrund gewandelter transversaler Logiken aktualisiert und modifiziert werden. Die Stärke einer gegenwartsanalytischen Rekonstruktion bestimmter transversaler Praxismuster liegt gerade in der Möglichkeit, die weitreichende, ganz verschiedene Praxisarrangements verbindende Logik herauszuarbeiten, in der sich soziale Praxis (neu) ausrichtet. Während ihr Potenzial in der Reduktion bzw. Konzentration auf die entsprechende Logik zur vollen Geltung kommt, bezieht die Rekonstruktion konkreter Praxisvollzüge ihre wandelanalytische Stärke aus der entgegengesetzten Richtung: Wenn soziale Praxis ungewichtet auf die in ihr wirksam werdenden Wandellogiken untersucht wird, zeigen sich kontextspezifische Hervorbringungsweisen und Verschränkungen der gegenwartsanalytisch separat rekonstruierten Praxismuster. Es stellt sich auch heraus, dass die Dominanzbehauptungen, die in den jeweiligen Gegenwartsdiagnosen (zugangsbedingt) mitschwingen, relativiert bzw. durch die Rückbindung an spezifische Praxisarrangements, Milieus, Lebensformen etc. spezifiziert werden können. Die Analyse der Lebensentwürfe legt die Vermutung nahe, dass sich das gegenwärtige gesellschaftliche Wandelgeschehen nicht ausschließlich im Rahmen einer einzigen transversal wirksamen Logik verstehen lässt. Vor allem beleuchtet sie jedoch auch Besonderheiten in den Hervorbringungsmodi transversaler Logiken, unerwartete Interferenzen, neue Hilflosigkeiten aber auch neue Strategien der Nutzung oder Widersetzung angesichts gewandelter institutioneller Strukturen und nicht zuletzt: Praxiskonstellationen, in denen alte Ordnungsgefüge erschöpft und neue (noch) nicht eindeutig etabliert sind, die sich also durch Suchbewegungen und den Widerstreit um definitorische Gewalt auszeichnen. Die Ausführungen verdeutlichen das komplementäre Verhältnis der gegenwartsanalytischen Erforschung gewandelter transversaler Logiken und der auf Praxisvollzüge fokussierenden Analyse sozialen Wandels: Während gegenwartsanalytische Arbeiten über praktische Homologien divergenter Kontexte übergreifende Wandellogiken herausarbeiten können, die andernfalls in der Unschärfe und Polysemie sozialer Praxis latent bleiben würden, kann die Erforschung des Wandels in spezifischen Praxisvollzügen die Vielfalt, Situiertheit, Ungleichzeitigkeit und Wirkungsungleichheit des Wandelgeschehens beleuchten.
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Die Methodik einer praxistheoretischen Erforschung sozialen Wandels Die Komplementarität der Zugänge meint jedoch auch, dass gesellschaftlicher Wandel aus keiner der beiden Perspektiven vollständig rekonstruiert werden kann. Sie müssen analytisch aufeinander verwiesen sein und dies geschieht auch bereits dort, wo Gegenwartsanalysen auf konkrete Praxisvollzüge Bezug nehmen oder Wandelanalysen in bestimmten Praxisarrangements auf transversale Logiken rekurrieren. Möglich wird dies auf der Basis gemeinsamer methodologischer Prämissen, die sich von der Methodologie modernisierungstheoretischer Wandelforschung unterscheiden und die ich hier noch einmal zusammenfassend explizieren möchte: Erstens zeichnet sich das Vorgehen praxistheoretischer Wandelrekonstruktionen durch eine grundsätzliche Differenzlogik aus, welche die Situiertheit und Kontingenz sozialen Wandels betont. Dies gilt sowohl für die die Erforschung konkreter Praxisvollzüge als auch – in einem weiter gefassten raumzeitlichen Kontext – für die Analyse transversaler Logiken. Die Differenzlogik drückt sich in der Abkehr von der Suche nach einer universalen Wandellogik sowie in der Annahme einer praktisch strukturierten – und das heißt: einer umkämpften und in beständigen Reproduktions- und Wandelgeschehnissen befindlichen – Gesellschaftlichkeit aus. Eine Konsequenz ist die Orts-, Zeit- und zumeist auch Aspektgebundenheit der Erforschung sozialen Wandels, denn da sowohl die Vorstellung universeller sozialer Strukturen als auch die Annahme verallgemeinerbarer Gesetzmäßigkeiten verworfen werden, ist die Rekonstruktion an das empirische Ereignen sozialer Praxis gebunden und zugleich auf die analytische Fokussierung bestimmter Muster verwiesen, die sich in unterschiedlichen Formen und Feldern zeigen. Praxistheoretische Wandelforschung ist also notwendigerweise empirische Forschung. Zweitens ist das praxeologische Vorgehen durch eine rekonstruktive Forschungslogik gekennzeichnet: Weil praxiszentrierende Wandelforschung auf Empirie verwiesen ist und gleichzeitig universelle Wandelprinzipien verneint, muss das Analyseinstrumentarium flexibel gehalten werden, um dem Forschungsinteresse angemessen zu sein. Dies kommt bereits in den analyseleitenden Begriffskonzepten zum Ausdruck: Praxistheorien entwerfen ihre zentralen Analysekategorien als Forschungsinstrumente, die der Rekonstruktion sozialer Praxis dienen sollen. Ohne konkreten Gegenstandsbezug ist ihr Aussagegehalt gering. Bei der Erforschung des Wandels sozialer Praxis dienen Analysekategorien also als begriffliche Werkzeuge, die bei der Re-Konstruktion praktischer Konstruktionen helfen und daher je nach Analysesetting ausgewählt, zusammengestellt und gegebenenfalls modifiziert oder auch neu entwickelt werden müssen. Dies schließt die Nutzung standardisierter oder deskriptiver Zugänge aus und erklärt zugleich die große Bandbreite praxistheoretischer Forschungsdesigns, die bei der Rekonstruktion sozialen Wandels zum Einsatz kommen. So erschließen Boltanski und Chiapello die Ästhetisierung des Kapitalismus anhand von Rechtfertigungsregimen, während Reckwitz mit dem Dispositivkonzept arbeitet, Foucault Gouvernementalität und Subjektivierungsformen fokussiert und Bourdieu habituelle Dispositionen, Trajektorien und Feldstrukturen betrachtet. Gleiches gilt auch für den Einsatz empirischer Forschungsmethoden: Bisweilen kombiniert praxeologische (Wandel-)Forschung eine Vielzahl methodischer Zugänge und passt das Methodeninventar dabei dem Forschungsinteresse
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an. Damit wendet sich die praxistheoretische Perspektive auch gegen einen ›one and best way‹ empirischer Forschung. Drittens weist sich das praxistheoretische Vorgehen bei der Erforschung sozialen Wandels als kritische Analyse aus: Wandelprozesse werden nicht lediglich rekonstruiert, sondern zugleich im Gefüge ungleichheiterzeugender Machtrelationen verortet. Dies ist schon allein deshalb notwendig, weil Macht und Ungleichheitsstrukturen als praxiskonstituierende Aspekte verstanden werden. Dabei finden – wie die vorliegende Analyse zeigt – im Wechsel der Analysefluchtpunkte auch Verlagerungen in der kritischen Perspektive statt: Im Rahmen der Gegenwartsanalysen konzentriert sich die Kritik zumeist auf Antinomien, die den herausgearbeiteten transversalen Logiken immanent sind, auf systematische Belastungen, die bestimmte Gesellschaftsbereiche in besonderem Maße betreffen, und auf strukturelle Teilhabeerschwernisse, die bestimmte Milieus unter den Vorzeichen gewandelter Ordnungsmuster marginalisieren. Die Analyse konkreter Praxisvollzügen hat hingegen die Möglichkeit, auch Unterschiede innerhalb sozialer Milieus in den Blick zu nehmen, die mitunter außerordentlich ungleiche Wirkungen entfalten. Dies ist gerade hinsichtlich sozialer Auf- und Abstiegsbewegungen erkenntnisreich, die zwar auf systematisch differenzierbare Verhältnisse zwischen insgesamt im Wandel befindlichen internalisierten und institutionalisierten Praxismustern zurückgeführt werden können, gegenwärtig aber offenbar quer durch manche Milieus verlaufen. Zudem kann im Rahmen der Erforschung konkreter Praxisvollzüge die kritisch-reflexive Perspektive um die Reflexion sich öffnender Möglichkeitsräume erweitert werden. Schließlich ist viertens der praxistheoretische Forschungszugang zur Rekonstruktion sozialen Wandels als vernetztes Forschen zu verstehen. Aufgrund der Zurückweisung einer universalisierenden, nach einem zentralen Analyseschema operierenden und im Sinne einer generellen Wandeltheorie deduzierenden Vorgehensweise ist ein praxeologischer Ansatz sehr viel stärker auf Austausch und wechselseitige Anregung verschiedener Forschungsarbeiten angewiesen. Erkenntnisfortschritt wird also nicht nur von den einzelnen Beiträgen, sondern auch im Dazwischen dezentral hervorgebracht. Auch gilt es zu betonen, dass zwischen den beiden Analysefluchtpunkten der transversalen Logiken einerseits und der konkreten Praxisvollzüge andererseits keine strikte Trennung herrscht. Die Übergänge zwischen beiden Perspektiven sind fließend. Dies zeigt nicht zuletzt die Forschungsarbeit ›Das Elend der Welt‹, in der Bourdieu (1997) und seine Mitarbeiter*innen sowohl gewandelte, transversal wirksame Rationalitäten als auch sehr spezifische Praxisvollzüge herausgearbeitet haben. Das flexible Aufgreifen, Vernetzen und Verschieben von Interessenschwerpunkten ist dem multimodalen, ungleichzeitigen und kontingenten Wandel sozialer Praxis angemessen.
Praxistheoretische Konzeptualisierung sozialen Wandels Nach wie vor dominieren modernisierungstheoretische Zugänge die soziologische Auseinandersetzung mit sozialem Wandel. Während Modernisierungstheorien in der Vergangenheit sozialen Wandel plausibel konzeptualisieren konnten, stoßen sie gegenwärtig an die Grenzen ihrer Erklärungskraft. Es scheint, als würden sie durch ihren eigenen Gegenstand eingeholt: Moderne Basisinstitutionen wie Markt, Demokratie,
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Rechtsstaat etc. zeigten in den westlichen Gesellschaften des vergangenen Jahrhunderts eine so weitreichende und homologe Strukturierungsmacht, dass andere Formen sozialer Ordnung, widerstreitende Bedeutungsgefüge und alternative Transformationsprozesse aus dem Blick gerieten. Die historischen Bedingungen der eigenen Grundannahmen bilden also einen blinden Fleck modernisierungstheoretischer Wandelforschung: Sie transzendiert zeitlich und räumlich spezifische Wandelprinzipien zu universell gültigen Gesetzmäßigkeiten und behauptet essenzielle Merkmale sozialer Strukturen und Dynamiken, die angesichts der massiven Wandelgeschehnisse der letzten Jahrzehnte in Zweifel gezogen werden müssen. Die praxistheoretische Rekonstruktion sozialen Wandels schafft hingegen auf der Grundlage ihrer relationalen sozialtheoretischen Prämissen einen analytischen Rahmen, um Wandel als historisch und (sozial-)räumlich spezifisches Geschehen zu verstehen. Erstens basiert eine praxistheoretische Konzeptualisierung sozialen Wandels auf dem Primat sozialer Praxis. Dies bedeutet, dass Wandel als praktisches Geschehen bzw. praktisch hervorgebrachtes Phänomen verstanden werden muss. Soziale Praxis strukturiert sich nach unscharfen praktischen Logiken. Insofern ist sie sowohl polysemisch als auch polythetisch, bleibt also einerseits für unterschiedliche habituellen Dispositionen, Sinnstrukturen und Bedeutungsmuster anschlussoffen und kann andererseits in divergenten Kontexten relativ stringent reproduziert werden. Zugleich wird soziale Praxis nie identisch hervorgebracht, unterliegt also ständigen situativen Veränderungen. Mit dem Begriff ›sozialer Wandel‹ kann daher nicht jedes ›Anderstun‹ bzw. jede Differenz im praktischen Ereignen benannt werden. Vielmehr ist mit ›sozialem Wandel‹ ein regelmäßiger, relativ dauerhafter und weitreichender, d.h. transversal wirksamer Unterschied in Praxismustern und entsprechend in der Logik deren Hervorbringung bezeichnet. Worin dieser Unterschied liegt, der Wandel bedeutet, kann nicht allgemein festgelegt, sondern muss jeweils empirisch herausgearbeitet und begründet werden. Aus einer praxistheoretischen Perspektive muss daher Kritik am modernisierungstheoretischen Primat der Struktur geübt werden: Die analytische Beschränkung auf Gesellschaftsstrukturen – etwa auf moderne Basisinstitutionen – und die damit einhergehende Makulatur kultureller Eigenheiten und praktischer Vielfalt verkennt den Ort, an dem sozialer Wandel praktisch entsteht und Form annimmt. Zweitens ist der Wandel sozialer Praxis von multiplen Rationalitäten bestimmt: Er ist nicht an einer generellen Rationalität oder allgemeinen Wandellogik orientiert, die es herauszuarbeiten gilt, sondern folgt unterschiedlichen, interferierenden, teilweise ambivalenten und konkurrierenden Logiken. Bei einer praxeologischen Wandelanalyse geht es nicht darum, »die Dinge an etwas Absolutem zu messen, sodass sie als mehr oder weniger perfekte Formen der Rationalität bewertet werden können, sondern darum, zu untersuchen, wie Rationalitätsformen sich selbst in Praktiken oder Systemen von Praktiken einschreiben und welche Rolle sie in ihnen spielen« (Foucault 1994, zit.n. Lemke et al. 2000, S. 20, Übersetzung: T.L.). Aus praxistheoretischer Perspektive muss also Kritik an der modernisierungstheoretischen Prämisse einer allgemeinen, sozialen Wandel präformierenden Rationalität, geäußert werden, denn die Suche nach universellen Gesetzmäßigkeiten sozialen Wandels bedingt eine einschränkende Verortung gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Dynamiken des Fortschritts, der linearen Entwicklung und der Evolution moderner Gesellschaftsstrukturen. Jene Logiken, die sozialen
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Prozessen ihre Stringenz und soziale Anschlussfähigkeit verleihen, werden jedoch in historisch und (sozial-)räumlich spezifischer Form praktisch hervorgebracht. Rationalitäten müssen also als kontingente Praxismuster in den Blick genommen werden, die nicht selten im Spannungsfeld unterschiedlicher praktischer Logiken (re-)produziert werden. Wird sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis rekonstruiert, wird also danach gefragt, wie sich soziale Logiken verändern und wie sie sich – je nach Kontext – miteinander verschränken und dabei wechselseitig brechen. Diese Interferenzen bilden den wesentlichen Ansatzpunkt der Erforschung sozialen Wandels – nicht nur, weil sie eine weitreichende Transformation von Praxismustern bedeuten können, sondern weil dort, wo unterschiedliche Rationalitäten konkurrieren und einander zur Disposition stellen, Unbestimmtheitszonen entstehen können, die Raum für Neues schaffen. Drittens bedeutet dies, dass der Wandel sozialer Praxis als nicht-lineares, dezentrales Geschehen begriffen ist. In ihm ereignen sich Kontinuität und Diskontinuität zugleich. Auch der radikalste Wandel bezieht die Bedingungen seiner Möglichkeit aus dem Vergangenen, das auch in der rigorosesten Innovation immer nachwirkt. Umgekehrt führen beispielsweise Bourdieus Analysen vor Augen, dass auch die beharrlichste Reproduktion sozialer Ungleichheiten nur durch den Wandel ihrer praktischen Hervorbringungsmodi aufrechterhalten werden kann. Ob sich eine bestimmte soziale Praxis kontinuiert oder aber wandelt, liegt also nicht zuletzt im Auge der Betrachter*innen bzw. am Fokus der Analyse: Ob die praktische Transformation aufstiegsorientierten Denkens und Handelns in erster Linie als Veränderung der Praxismodi oder vor allem als Kontinuierung der Aufstiegsorientierung rekonstruiert wird, hängt mit dem Forschungsinteresse zusammen. Ein wesentlicher Fluchtpunkt der Rekonstruktion praktischen Wandels besteht also in der Verhältnisbestimmung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten bzw. von Reproduktion und Wandel. Dieses Verhältnis variiert von Kontext zu Kontext, wie die Lebensentwurfsanalyse verdeutlicht: Es zeigen sich Lebensentwurfspraktiken, die die elterliche Aufstiegsorientierung ökonomistisch reformieren, um den familialen Sozialstatus zu kontinuieren, Lebensentwurfspraktiken, die auf Basis ererbten kulturellen und ökonomischen Kapitals eine radikale Neuorientierung und soziale Neupositionierung vornehmen, und Lebensentwurfspraktiken, in denen erodierende Ordnungslogiken in einer Weise nachwirken, dass an neue Bedeutungsgefüge nur in sozial ungünstiger Form angeschlossen werden kann. Hierin kommt die Dezentralität sozialen Wandels zum Ausdruck. Um gesellschaftliche Transformationen analytisch nachvollziehen zu können, müssen nicht nur die kontextspezifischen praktischen Relationen von Kontinuität und Wandel rekonstruiert werden, letztlich gilt es auch, die jeweiligen Relationen zueinander ins Verhältnis zu setzen. Daher übt eine praxistheoretische Wandelforschung Kritik an der modernisierungstheoretischen Grundidee einer einheitlichen kontinuierlichen Steigerungsdynamik moderner Gesellschaften, die von radikalen Diskontinuitäten beim Eintritt in eine grundlegend neue Gesellschaftsordnung unterbrochen wird (z.B. zwischen Moderne und zweiter bzw. Postmoderne). Viertens ist der Wandel sozialer Praxis kontingent. Dies hat zunächst allgemeine konzeptionelle Konsequenzen, insofern sozialer Wandel nicht als etwas entworfen wird, das sich auf einen bestimmten Fluchtpunkt zubewegt, sondern prinzipiell offen ist. Eine praxistheoretische Soziologie sozialen Wandels äußert daher Kritik an der modernisie-
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rungstheoretischen Fortschrittslogik, die im Grunde eine lineare und teleologische Entwicklungsdynamik sozialer Wandelprozesse impliziert. Für die Hervorbringung gewandelter Praxis gilt es jedoch auch, die praktische Konstitution von Kontingenz zu beachten. Das heißt, soziale Praxis kann in unterschiedlichem Maße kontingenzschließend oder -öffnend wirken. Dieser Aspekt ist für die Erforschung des Wandels sozialer Praxis relevant, denn wie die Analyse zeigt, folgen einige Gründerinnen einer kontingenzstrukturierenden und -einhegenden habituellen Strategie, die den Möglichkeitsraum ihrer Lebensentwurfspraxis empirisch begrenzt, während sich bei anderen Gründerinnen Kontingenz als habitusstrategisches Grundprinzip erweist, was den Möglichkeitsraum ihrer Lebensentwürfe freilich ebenfalls definiert, wenn auch gerade hinsichtlich des Neuen in anderer Form. Eine praxistheoretische Wandelanalyse muss also zwischen theoretischkonzeptioneller Kontingenz und praktischer Kontingenz unterscheiden und dabei die Wechselwirkung zwischen sozialem Wandelgeschehen und Praktiken der Kontingenzschließung bzw. -öffnung berücksichtigen und herausarbeiten. Während die modernisierungstheoretische Perspektive aufgrund ihrer strukturalistischen, rationalistischen, universalistischen und fortschrittsbezogenen Ausrichtung eine theoriegeleitete, deduktive und zentralistische Wandelforschung impliziert, ist das Forschungsvorgehen der praxistheoretischen Rekonstruktion sozialen Wandels als ein lose strukturiertes, flexibel konzeptualisiertes, Theorie und Empirie verschränkendes sowie dezentrales Unterfangen zu verstehen. Damit trägt es der praktischen Konstitution sozialen Wandels Rechnung und mithin der Vielfalt, Konflikthaftigkeit, Ungleichzeitigkeit und sozial ungleichen Wirkung des Wandelgeschehens. Eine praxistheoretische Konzeptualisierung sozialen Wandels birgt verschiedene Potenziale: Sie ermöglicht gerade in unübersichtlichen gesellschaftlichen Lagen, verschiedene transversal wirksame soziale Logiken herauszuarbeiten, ohne diese analytisch in eine Konvergenzdynamik zu zwingen. Sie kann disparate, konfligierende Wandelprozesse benennen und hierfür Gründe aufzeigen. Sie ermöglicht gezielte Kritik an wandelbedingten, aber auch im Wandel reproduzierten (und damit erst wiederzuentdeckenden) sozialen Ungleichheiten und institutionalisierten Verkennungen. Und sie kann Unbestimmtheitszonen und Möglichkeitsräume aufzeigen, in denen sich Neues ereignet. Bezogen auf soziologische Forschung kann eine explizite praxistheoretische Formulierung sozialen Wandels zudem die systematische Reflexion wandelbedingter Dynamiken von Analysekonzepten wie Bildung, Arbeit, Familie oder Organisation anleiten. Praxistheoretische Wandelforschung bedeutet einen Abschied von der Suche nach universellen Wandelprinzipien und schließt Wandel als multimodales, kontingentes und dezentrales Geschehen auf, welches der Soziologie eine Daueraufgabe vernetzten Forschens zukommen lässt.
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