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German Pages 330 [334] Year 2018
Nurhak Polat Umkämpfte Wege der Reproduktion
VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung | Band 24
Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das – inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; – den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; – zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Beirat: Prof. Dr. Thomas Lemke, Prof. Dr. Paul Martin, Prof. Dr. Brigitte Nerlich, Prof. Dr. John Law, Prof. Dr. Regine Kollek, Prof. Dr. Allan Young
Nurhak Polat (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Nach ihrem Studium am Institut für Sozialanthropologie der Universität Istanbul magistrierte sie am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen der Medizinanthropologie, Wissenschafts- und Technikforschung sowie der Internet- und Türkeiforschung.
Nurhak Polat
Umkämpfte Wege der Reproduktion Kinderwunschökonomien, Aktivismus und sozialer Wandel in der Türkei
Dissertation an der Humboldt Universität zu Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Katrin Kelp Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4324-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4324-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Für Stefan Beck und jene Wissenschaftler*innen, die irgendwo in der Welt für Freiheit und Frieden kämpfen.
Inhalt
Einleitung | 11 1
Kontextualisierung des Wandels: Reproduktionstechnologien, Akteur*innen, Wissen | 25
1.1 1.2 1.3 1.4 2
Choreografierte Verschränkungen: Klinik, Alltag und Politik | 75
2.1 2.2 2.3
3
Labor-Passagen in in vitro gezeugte Welten | 76 Kontextuelle Shifts: Moralitäten und Islam | 85 „Wo Feuer hinfällt, nur da brennt es“: Herausforderungen heteronormativer Ordnungen und Ambivalenzen mit Drittspende | 95
Kinderwunschwege: Von Tabu-Biografien zu biosozialer Normalisierung | 109
3.1 3.2 3.3 3.4
4
Globale Technologien – lokale Situierungen: Reproduktionstechnologien im türkischen Kontext | 26 Forschungsdesiderate: Blinde Flecken – empirische Lücken | 40 Ethnografie der Schnittfelder: Perspektiven, Bezüge, Umstände | 46 Feldsites und Methoden: Online- und Offline-Zugänge | 59
„In einer fertilen Gesellschaft“: Biografien, Körper und Wissensmanagement | 110 Kultur der Mit-Teilung: Von der Transparenz zu neuen Schweigsamkeiten | 116 In(vitro)Fertilität, die vernetzt: Erfahrungspolitiken | 133 Von Selbsthilfe zur Erfahrungsgemeinschaft: eine Problemkonstellation | 141
Technologien des Geschlechts: Situierte Aushandlungen und Männlichkeiten | 157
4.1 4.2 4.3
Alte Rollen in neuem Gewand? – oder pronatalistische Verschiebung in tradierten Geschlechterordnungen | 158 „Ein Mann zu sein, hängt nicht von einer Samenzelle ab“: Männlichkeiten und Infertilität | 167 Männlichkeiten im weiblich konstituierten Terrain: Selbsthilfe und Aktivismus | 181
5
Communities mitgeteilter Erfahrungen: Online-Offline-Welten | 197
5.1 5.2 5.3 5.4 6
In-Formation | 199 „Hey Mädels, ich hatte diesen Monat einen Eisprung“: Reproduktionsbiografien im Netz | 208 Auf der Suche nach anonymen Räumen: Bedeutungen netzbasierter Communities | 219 Vernetzte On- und Offline-Welten: ein lokales Beispiel | 231
Verschiebungen und Symbiosen: Aktivismus, Staat und Märkte | 247
6.1 6.2
„Recht auf Fortpflanzung“: Reproduktionspolitiken, Staat und IVF-Lobby in der Türkei | 248 Globales Wissen – (g)lokaler Aktivismus: Engagement mit Globalem – Machen im Nationalen | 272
Schluss | 289 Abbildungsverzeichnis | 300 Literatur | 301
DANKSAGUNG Als ich dieses Buch schrieb, hat sich die soziale und politische Ordnung in der Türkei rasant geändert. Die repressiven Politiken nehmen weiter zu. Die politische Willkür prägt alle Bereiche des Alltags. Die Prognosen für die nähere Zukunft des Landes fallen mal hoffnungsvoll, mal düster aus. Es gibt jedoch Widerstand. Dieser ist jeder Person zu verdanken, die gegen den Krieg, die Repression und gegen die Diskreditierung der Forderung für eine selbstbestimmte, friedliche und freie Gegenwart und Zukunft kämpft. Dafür möchte ich allen danken. Dieses Buch ist all jenen und Stefan Beck gewidmet. Stefan Beck war einer der Betreuer*innen dieser Arbeit. Zu seinen Lebzeiten lehrte er stets die Relevanz des wissenschaftlichen, kritischen und neugierigen Denkens. Stefan verstarb während der Schreibphase. Dies ist ein sehr großer Verlust, unter dem nicht nur meine Arbeit enorm litt. Seine unschätzbar scharfsinnige Perspektive auf die Dinge hätte auch im Endspurt zur Qualität dieser Schrift viel beigetragen. Sein Fehlen hat Michi Knecht durch ihre unermüdliche Unterstützung und unschätzbar wichtige Freundschaft erträglicher gemacht. In vielen Momenten und an vielen Schritten der Arbeit habe ich von ihrem intellektuellen Ansporn und ihrer Energie profitiert. Großer Dank gebührt auch Beate Binder, die nach dem Tod von Stefan sehr freundschaftlich und mit großem Interesse zur Fertigstellung der Arbeit beitrug. Eine ethnografische Arbeit wäre ohne die Mitarbeit der Menschen, die ich während meiner Forschung getroffen habe, nicht möglich. Stets teilten sie freundlich und großzügig ihre persönlichen Erfahrungen und Gedanken mit mir. Dafür möchte ich an dieser Stelle allen ganz besonders danken. Meine Perspektive auf die reproduktiven Erfahrungen hat sich durch eine Reihe von Diskussionen mit ihnen und mit vielen Kolleg*innen verändert und geprägt. Diese Auseinandersetzungen halfen mir, den rasanten und höchst dynamischen Wandel besser zu verstehen. Meine Forschung wurde im Projekt „Verwandtschaft als Repräsentation sozialer Ordnung und soziale Praxis: Kulturen der Zusammengehörigkeit im Kontext sozialer und reproduktionsmedizinischer Transformationsprozesse“ an der Humboldt Universität zu Berlin und am von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereich (SFB 640) „Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel“ durchgeführt. Bei den Mitwirkenden möchte ich mich hier für die produktive Zusammenarbeit bedanken. Trotz all dieser unermesslichen Unterstützung ist die Arbeit an diesem Buch geprägt durch viele akademische wie persönliche Schwankungen. Dabei standen mir meine Familienangehörigen, viele Freund*innen und Kolleg*innen zur Seite. Maren Heibges hat mich nicht nur durch ihr intellektuelles Engagement un-
terstützt, sondern auch durch ihre Freundschaft. Feray Halil und Franziska Wegener haben mich durch ihre Mitarbeit im Projekt und als Freundinnen stark unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Feray für ihre Hilfe bei den sprachlichen Überarbeitungen des ersten Entwurfs. Zur Lesbarkeit meiner Dissertation hat sie viel beigetragen. Ich kann Ulrike Flader nicht genug danken, die mich im Endspurt dieser Publikation mit viel Geduld und Sorgfalt unterstützt hat. Darüber hinaus möchte ich folgenden Personen vielfach für die Lektüre, hilfreichen Kommentare oder andere Arten von freundschaftlicher Unterstützung danken: Jörg Niewöhner, Sarah Jurkiewicz, Katrin Amelang, Martina Klausner, Ferhunde Özbay, Pawel Lewicki, Sven Bergmann, Gabriela Fernandes, Levent Soysal, Sulamith Hamra, Alper Demirtaş, Aşkın Doğan, Çetin Gürer, Marianthi Anastasiadou, Nurgül Koca, Sibel Sağlam, Thorsten Engel, Mustafa Akçınar, Hamide Koyukan und Johannes Reinke. Auch allen Mitwirkenden im „Labor: Sozialanthropologische Wissenschafts- und Technikforschung“ und den Mitarbeiter*innen des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin sowie des Instituts für Ethnologie und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen, möchte ich danken. Katrin Kelp danke ich besonders herzlich, mit ihrem Lektorat sorgte sie für sprachlich-stilistische Genauigkeit. Von ganzem Herzen möchte ich mich bei meiner Familie für die Unterstützung bedanken, meiner Mutter Güler Ataş, meinem Bruder Ferruh Danacı und unserem vierbeinigen Familienangehörigen Patik. Dieses Buch wäre ohne meine liebste Schwester Emine Danacı-Batur und Sertan Batur nicht geschrieben worden. Herzlichen Dank dafür.
Einleitung
Reproduktionstechnologien gehören zu den konstitutiven Bestandteilen der techno-wissenschaftlichen Gegenwart der Türkei. Tüp Bebek, so umgangssprachlich für das Reagenzglas-Baby1, avancierte seit der Geburt des ersten IVF-Kindes im Jahr 1989 in dem Universitätskrankenhaus in Izmir zu einem Routine-Verfahren bei unerfülltem Kinderwunsch. Seither versuchten jährlich tausende Paare auf diese Weise Kinder zu bekommen. Die nun als konventionell geltenden In-VitroVerfahren prägten verschiedenste und teilweise öffentlich kontrovers ausgetragene Diskurse über Politiken der Reproduktion, über den Umgang mit biomedizinischem Wissen und den dazugehörigen Märkten. Nach wie vor gilt die ‚assistierte Zeugung‘, trotz der weitgehenden sozialen Akzeptanz, als ein umkämpftes Feld. Sie stellt einen Schauplatz dar, auf dem – sowohl historisch wie auch gegenwärtig – durch Staatsräson fundierte Biopolitiken auf säkulare wie religiöse Moralitäten und Regulationspolitiken treffen und diese mit individuell-familiären Reproduktionsbiografien verknüpfen. In den vergangenen zehn Jahren, seit dem Beginn meiner Forschung im Jahr 2008, zeigten sich rasante Veränderungen an genau diesem Schnittpunkt. Die Anzahl der Behandlungszyklen hat sich vervielfacht.2 Auch die öffentliche Präsenz der In-Vitro-Technologien dargestellt 1
2
Unter Tüp Bebek wird die ganze Bandbreite unterschiedlicher Behandlungsmethoden der Reproduktionstechnologien gefasst, wie z. B. IVF (In-Vitro-Fertilisation) und ICSI (Intrazytoplastische Spermieninjektion), die eine Befruchtung der Eizelle außerhalb des Frauenkörpers vollziehen und diese in den Uterus transferieren. Im Alltag ersetzt dieser Begriff den medizinischen Fachausdruck „assistierte Reproduktion“ und auch Bezeichnungen wie „künstliche Befruchtung“. Letzteres hat sich im türkischen Diskursraum nicht im gängigen Sprachgebrauch etabliert. Zum Zeitpunkt meiner Forschung waren es landesweit 120 IVF-Kliniken, die sich größtenteils in den Großstädten Istanbul, Izmir und Ankara befanden sowie vereinzelt auch in ländlich geprägten Kleinstädten. Schätzungen zufolge wurden jährlich 40. 000 Behandlungen durchgeführt. Bis ins Jahr 2016 stieg die Anzahl lizensierter Fertilitätszentren auf 148 an; davon befanden sich 46 in Istanbul und 20 in Ankara (siehe http://www.tsrm.org.tr, Zugriff 10.03.2018).
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als „Waffen gegen Infertilität“ (Görgülü 2007) nahm zu. Als ein „whole way of life“ (Franklin 1997), eine ganze Lebensweise, haben sie den Umgang mit dem als existentiell empfundenen Kinderwunsch verändert. Sie greifen in die intimsten Bereiche des Lebens ein und beeinflussen die körperlichen, sexuellen und psycho-sozialen Erfahrungen der Frauen und Paare. Zudem wirken sie unterschiedlich auf die Praktiken und Vorstellungen von reproduktiven Körpern, auf Normen der moralisch vertretbaren, legitimen „Herstellung“ von Kindern und Elternschaft (Thompson 2005). Sie ermöglichen daher, den Zusammenhang zwischen sozio-technischem Wandel, Reproduktionsbiografien und Wissenswegen sozial- und kulturanthropologisch zu erkunden. Dieses Buch bewegt sich in den Strukturen und Konturen dieses Feldes in der Türkei. Es erkundet Veränderungsprozesse, die mit den Reproduktionstechnologien einhergehen und auch, wie in diesem wissenschafts- und gesellschaftsverbindenden Terrain gegenwärtig unterschiedliche Akteur*innen, Wissensformen, Technologien, Politiken und Belange aufeinandertreffen. Mein Interesse gilt jenen Praktiken, die dezidiert den biomedizinischen Kontext mit dem Alltag verbinden. Umkämpfte Wege der Reproduktion „Die Dinge, die du erlebst, sind nicht normal. Es ist ein hochsensibles Thema. Es sind Hormone, Emotionen am Werk, Familien und Gesellschaft beteiligt... du kannst das nicht einfach runter reduzieren. Du erlebst viel Umfassenderes, als den individuellen Kinderwunsch. Auf Vieles musst du achten, wissen, organisieren, denken und so weiter.“
Beschreibungen wie diese sind nicht selten, wenn Menschen über ihren Weg zum ersehnten Kind mit Hilfe von Reproduktionstechnologien berichten. Sie schildern sozio-medizinische Zumutungen beim Umgang mit den für viele als existentiell erlebten Erfahrungen ungewollter Kinderlosigkeit. Diese umfassen Herausforderungen auf sozio-kultureller, medizinischer, moralischer und ökonomischer Ebene und gestalten einen Prozess mit vielen Irritationen und Lernmomenten. Sie manifestieren besonders, wie Frauen und Paare ihren Weg im „sozio-technischen Arrangement“ (Knecht et al. 2011: 23) navigieren. Dieses Buch erkundet die umkämpften Wege der Reproduktion in der gegenwärtigen Türkei. Es untersucht, wie diese zu einer Sache des Wissens- und Informationsmanagements werden. Reproduktionswege bedeuten viel Arbeit: an Körpern, in psycho-sozialen Lebens- und Erfahrungswelten und in Gesellschaften. Sie erfordern nicht nur das Management der medizinischen Behandlungen oder ein simples Haushalten der psycho-sozialen und emotionalen Herausforderungen. Vielmehr, es geht es darum, wie es die 38-jährige Aynur im obigen Zitat beschreibt,
Einleitung | 13
die Komplexität der auf Fortpflanzung und ungewollte Kinderlosigkeit bezogenen Praktiken, Vorstellungen und Erwartungen zu managen. Es werden dabei unterschiedliche Werkzeuge und Medien verwendet, wie ich in diesem Buch zeige, um mit sozialen, medizinischen und ökonomischen Aspekten und Herausforderungen der Infertilität und der Inanspruchnahme von Reproduktionstechnologien bestmöglich umzugehen. Frauen und Männer, Paare mit unerfülltem Kinderwusch, agieren dabei als aktive Macher*innen ihrer reproduktiven Biografisierung (Knecht/Hess 2008). Ihre Praktiken sind in die global verflochtenen und hochgradig moralisierten „Kinderwunsch-Ökonomien“ (Schultz 2015) eingebettet. Sie changieren zwischen Normalisierung, Kommerzialisierung und biopolitischer Regierung (Thompson 2005, Adams et al. 2009, de Jong 2009). Sie befördern zudem ein biosoziales Engagement, welches sich als Form neoliberaler „Selbststeuerung“ (Rose 2007b) und „Technologien des Selbst“ (Foucault 1988) erweist. Manifestiert haben sich diese in den Imperativen von reproduktiven Wahl- und Sorgelogiken, Selbstaktivierung und auch konsumeristisch-kalkulativen Orientierungen seitens der Frauen und Männer (Polat 2012). Diese gehen Hand in Hand mit den patriarchal-pronatalistischen Ideologien, Regulationen und Staatspolitiken (Gürtin 2016, Faircloth/Gürtin 2017). In meiner Forschung von Ende 2008 bis 2013 habe ich ihre Wissenspraktiken als eine Linse genutzt, welche mir ermöglichte, die Transformationsprozesse der letzten Jahre des hochgradig dynamischen Kontexts der Türkei in den Blick zu nehmen. Im Zentrum meiner Analyse stand dabei, wie sich die Menschen in dem umkämpften Feld der Reproduktionsmedizin bewegen und dieses zum Teil mitgestalten, indem sie sich als biosoziale Subjekte neu orientieren. Reproduktionsmedizin wird gewöhnlich als „helfende Hand“ (Franklin 1997) zu der als „normal“ konstituierten Fähigkeit zur Fortpflanzung gerahmt. Sozialund kulturanthropologisch diente sie bereits als Ausgangspunkt zur Erforschung der Medikalisierung des Kinderwunsches sowie der „gegenseitig konstitutiven“ Verhältnisse von Gesellschaft, Medizin und Technologie (Ong/Collier 2005b, Inhorn/Birenbaum-Carmeli 2008). Die globale Forschungsliteratur hat bereits unterschiedlichste Facetten ihrer Nutzung und die damit einhergehenden soziokulturellen und gesellschaftlichen Implikationen aufgezeichnet. Der Prozess der „Herstellung von legitimen Kindern und Eltern“ (Thompson 2005) wurde in der klinischen Praxis und anhand von Wissens- und Bewältigungsstrategien der Paare, der aktuellen Nutzer*innen/Patient*innen und der (werdenden) Mütter und Väter analysiert. Dabei geht es vielfach um die Effekte reproduktionsmedizinischer Praxis auf die jeweiligen Vorstellungen darüber, wie biologische Bindungen innerhalb von Familie (Strathern 1992a, Franklin/Ragoné 1998) und Verwandtschaft (Beck et al. 2007a) hergestellt werden sowie auf die Konzepte von
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Natur und Kultur (Franklin et al. 2000). In den letzten Jahren wird die Reproduktionsmedizin en gros auch global ethnografisch als eine „interaktive Sache des Tuns“ (Hörning/Reuter 2004: 10, vgl. Knecht et al. 2011) neu gerahmt. Bereits zuvor sind IVF-Technologien als „lokal moralische Welten“ (in Anlehnung an Kleinman 1992, Inhorn 2003) beschrieben worden, in denen globale und lokale Politiken, Moralitäten, Wissenswege und techno-wissenschaftliche Subjektivitäten aufeinandertreffen. Diesen neuen global ethnografischen Perspektiven folgend, erfasse ich die türkische IVF-Welt als eine lokal situierte biopolitische „Assemblage“3 (Ong/Collier 2005b) von Menschen, Dingen, Technologien und sozio-materiellen Infrastrukturen, Wissensformen, Politiken und Märkten (Knoll 2005, Knecht et al. 2012). Meine Forschung zielt darauf ab, die verschiedenen Dimensionen diesen Schnittfeldes der Reproduktionsmedizin besonders mit Fokus auf die neuartigen Wissenspraktiken und Sozialbeziehungen zu beleuchten. Sozio-technische, patriarchale Paradoxie? Im Umgang mit Reproduktionstechnologien wird das Zusammenspiel bzw. das Ineinandergreifen von globalem Wissen, neoliberalen und patriarchal-neokonservativen Politiken und techno-wissenschaftlichem Pragmatismus wirksam. Wie anderswo sind diese auch hier direkt oder indirekt „intimately tied to national biopolitical projects ever since“ (Georges 2008: 13). Sie sind – historisch wie gegenwärtig – eng an nationalstaatliche Projekte geknüpft, die die Macht in der Herstellung von selbst- und gesellschaftsverantwortlichen Bürger*innen beanspruchen. Die „reproduktive Governance“ (Morgan/Roberts 2012) gestaltet sich nicht nur durch Normen, Rechten und Pflichten. Entscheidend im türkischen Kontext waren und sind noch immer die patriarchal-selektiven Pronatalismen, die zunehmend mit einem islamisch informierten Konservatismus verknüpft sind. Bis vor kurzem war die Türkei ein säkular orientiertes, darum aber nicht weniger religiöses, sunnitisch-muslimisch geprägtes Land. Die neoliberalen und neokonservativen Politiken der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die seit 2002 ununterbrochen an der Macht ist, haben eine repressive – für einen Teil der Bevölkerung strittige – politische Wende hervorgebracht. Gerade der islamische Neokonservatismus wirkt auf gesundheits-, reproduktions- und fami3
Der Begriff „Assemblage“ bietet eine Alternative zu den Kategorien des Lokalen und Globalen „which serve to cast the global as abstraction, and the local in terms of specificity“ (Collier 2006: 400). Er unterstreicht auch die Komplexität der Prozesse und (lokal-globalen) Verknüpfungen (Marcus/Saka 2006). Assemblagen sind Resultate von heterogenen, partiellen, instabilen und divergenten Interaktionen von diversen unterschiedlich situierten Akteur*innen und Praktiken, die fähig sind, neue Konfigurationen zu (ko-)produzieren, so Ong und Collier.
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lienpolitische Bereiche und überlappt sich mit den seit den 1980ern fortschreitenden Globalisierungstendenzen. Die Regulationsprinzipien werden restriktiver, wodurch nationalstaatliche Überwachungsmechanismen gestärkt werden. Diese betreffen sowohl klinische als auch individuelle Praktiken und sie wirken sich auf die öffentlichen Diskurse bezüglich sozio-moralischen Kontroversen aus. Anhand meiner Forschung diskutiere ich unterschiedliche Dimensionen eines Kontextes, welcher politisch wie gesellschaftlich stark polarisiert. Ich frage besonders danach, wie bzw. welche Akteur*innen, Rechte, Wahrheits- und Deutungsansprüche und Belange in dem spezifischen Kontext der Reproduktionsmedizin interagieren. Zu betonen ist, dass die politischen Veränderungen ab circa 2005 kontinuierlich einen neokonservativen Familialismus hervorbrachten, der in das Sozial- und Politikleben dringt (vgl. Korkman 2016). Signifikant sind auch, die weiter fortschreitenden, ideologisch orientierten Eingriffe in die intimsten und privatesten Lebens-, Sinn- und Entscheidungsbereiche der Menschen und damit in die Strukturen der heterogenen und pluralen Gesellschaft. Die kritischen und feministischen Sozialwissenschaftler*innen beschreiben eine Neu-Formung des „reproductive citizenship“ und der „Politiken des Intimen“ (Acar/Altunok 2013). Die Themen, die Geschlecht, Sexualität, Körper und Familie betreffen, drängen in einer enorm ambivalenten Weise in die Öffentlichkeit. Jeden Tag beobachten wir die Sexualisierung unterschiedlicher Anliegen in der Öffentlichkeit. Auffällig ist hierbei, die häufig gelingende Strategie, Diskurse nach pro-islamistisch-nationalistischen Moralvorstellungen umzuformen. Immer autoritärer werdende Biopolitiken sind eine Folge davon. Diese forcieren das Heteronormative als Maßstab der sozial-moralisch akzeptablen Nutzung der Reproduktionstechnologien. Historisch basieren diese Biopolitiken auf der starken Staatsräson und den ausgeprägten Wegen der Beziehungsherstellung zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen (Alexander 2002, Navaro-Yashin 2002, Özyürek 2006). Im Bereich der Reproduktionsmedizin prägen unterschiedliche Akteur*innen, Wissensformen, Rechts- und Mitspracheansprüche die lokal situierten Verständnisse von In-Vitro-Technologien, aber auch die Verhältnisse von Staat, Gesellschaft, Medizin und Märkten (Silva/Machado 2011). Hinzu kommen kommerzielle und nicht-kommerzielle Allianzen zwischen Pharmaindustrie, Klinikbetreiber*innen und IVF/ ICSI-Nutzer*innen, auch die Interessengruppen der Betroffenen sowie der Mediziner*innen (wie TSRM, Türkische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin). Zu ihnen gehören nun die spezifischen Formen der „concerned groups“ (Callon/Rabeharisoa 2007), die mit unterschiedlichen Akteur*innen alliieren, vielschichtigen Interessen dienen und die Grenzen und Grenzverhältnisse zwischen Zivilgesellschaft und Staat, Expert*innen und Laien, Medizin und Politik verändern und zum Teil erodieren.
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Ethnografie der Schnittfelder: Empirische Zugriffe – konzeptuelle Bezüge Ethnografien nahmen bislang nahezu immer klinische und aktuelle Behandlungssettings, individuell-familiäre Biografien und Narrative als Ausgangspunkt. Erstere sind die üblichen Forschungsorte, an denen ‚technisch assistierte‘ Zeugung in ihren (kulturellen) „Choreografien“ (Thompson 2005) untersucht wurden. Letztere stellen die konventionellen Forschungszusammenhänge dar, wodurch die Ethnografie Zugang zu individuell-familiären Praktiken und Behandlungsalltagen fand. Es werden zwar situierte Praktiken der Nutzer*innen und medizinischer Expert*innen in den Blick genommen und in ihrer Dichte beschrieben. Eine empirische Konsequenz bleibt jedoch unberührt: nämlich, dass dadurch ausschließlich die institutionell und habituell geprägten Settings und Situationen der Interaktionen und Begegnungen untersucht werden können. Das empirische Blickfeld bleibt dem medizinischen Setting verhaftet, in dem unterschiedliche Akteur*innen und ihre Wissenswege sich in einer vorbestimmten Weise begegnen und in dem habituell eingegrenzten Rahmen miteinander interagieren. Das umkämpfte Feld der Reproduktion wird damit, im Großen und Ganzen, auf die zeitlich-räumlich begrenzten (Ausnahme-)Situationen der Behandlung eingegrenzt. Auch die lang- und kurzfristigen Effekte auf die Wissenswege, Deutungen und Handlungen werden damit auf formalistische Kontexte medizinischer Expertise reduziert (Knecht et al. 2011). Empirisch kommt daher oft zu kurz, welchen Beitrag die aktuellen und langjährigen Erfahrungen der Individuen bei der Mit-Konstruktion der komplexen Behandlungs- und Reproduktionsregime leisten. Im Kontrast dazu schlug ich einen anderen Weg ein und untersuchte Praktiken – in den Worten von Monica Konrad – in einer „‚affective geography‘ of infertility consciousness“ (2005: 38) jenseits eines klinischen, institutionellen und biomedizinischen Kontexts. Meine Studie rückt daher dezidiert die Praktiken der Protagonist*innen im Umfeld der Reproduktionsmedizin ins Blickfeld. Ich untersuchte, was jenseits der institutionellen, klinischen und biografischen Behandlungssettings und zeitlich begrenzten Ausnahmesituationen passiert und praktiziert wird. Ich bewegte mich zwischen den klinisch-medizinischen, biografisch-familiären und proaktivistischen Settings und konzentrierte mich auf die Verflechtungen zwischen ihnen. Ich erkundete die teils netzbasierten Sozial- und Wissensräume, in denen neue Formen von Wissen, Moralität und Selbst sowie „lokale Biologien“ (Lock 2002), Körperpolitiken und „pragmatische“ Subjektivität (Lock/Kaufert 1998, Lock/Kaufert 2001) entstehen und ausgehandelt werden. Mein Interesse gilt den neuen Wissens- und Erfahrungspolitiken im heterogenen, aber historisch und kontextuell situierten Reproduktionsregime in der Türkei. Im Fokus stehen die
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gelebten Schnittfelder zwischen Alltag und Biomedizin. Denn, wie Cambrosio, Young und Lock generell für Biotechnologien behaupten, „the subjects of technologies are themselves situated at intersections“ (2000: 11). Damit wird eine doppelte Forschungslücke adressiert. Zum einen werden die bio-subpolitischen Verschiebungen im Feld von Reproduktionsmedizin in der heterogenen, sich zunehmend globalisierten Türkei untersucht. Zum anderen setzt die Studie die wenig erforschten Verknüpfungen zwischen Biografien, Aktivismus und Wissenspraktiken im globalen Forschungsfeld der Reproduktionstechnologien auf die Agenda. Methodisch bediene ich mich dabei eines fragmentarischen Sets von Forschungspraktiken. Inspiriert war ich von den Ansätzen, die klassische Forschungsmethoden der Vor-Ort-Ethnografie mit der sogenannten Internet-Ethnografie verbinden (Hine 2000, Miller/Slater 2000a, Budka 2008, Coleman 2010), um auch netzbasierte Erfahrungsgemeinschaften in hybriden on- und offline Welten erfassen zu können. Ich bewegte mich zwischen unterschiedlichen Orten: Kliniken (vor allem in Istanbul), Online- und Offline-Plattformen von Selbsthilfegruppen und Familienalltagen. Die Ethnografie verbindet Medizinanthropologie und Wissenschafts- und Technikforschung (STS) mit der Erforschung sozialer Bewegungen, die sich um Themen wie Infertilität, ungewollte Kinderlosigkeit und Reproduktionsmedizin kümmern. In regelmäßigen Abständen über mehrere Monate hinweg hospitierte ich in einem Verein in Istanbul und folgte den Mitstreiter*innen durch verschiedene Städte zu ihren öffentlichen Informationsveranstaltungen über Reproduktionsmedizin – beispielsweise in die urbane Marmara- sowie in die ländlich geprägte Schwarzmeerregion. Ich nahm sowohl an den internationalen Veranstaltungen als auch an den lokalen Gruppierungen für Selbsthilfe, in Online- und Offline-Räumen teil. Die rekurrierend, zeitlich versetzt durchgeführten Interviews und Hospitationen in den Kliniken ergänzten die multilokale und -temporale, ‚longue durée‘ Perspektive des Forschungsvorhabens.4 Ich habe Frauen, Männer und Paare interviewt, die ungewollt kinderlos 4
Das Dissertationsvorhaben und die dazugehörige Feldforschung wurden im Rahmen des Projektes „Verwandtschaft als soziale Praxis und Repräsentation im Kontext gesellschaftlicher und reproduktionsmedizinischer Transformationen“ durchgeführt. Dieses war Teil des Sonderforschungsbereiches SFB 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Intertemporale und interkulturelle Vergleiche“, der von 2004 bis 2013 an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt war und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde. Das SFB-Teilprojekt zu Verwandtschaft begleitete mittels serieller Ethnografie und rekurrierender Interviews Familien und Verwandtschaftsnetzwerke, die für die Gründung oder Erweiterung ihrer Familien auf die Nutzung assistierender Reproduktionstechnologien und/oder Adoption in Deutschland, der Türkei, Großbritannien sowie in transnationalen Räumen zurückgegriffen hatten.
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waren, ebenso wie Eltern, die ein oder mehrere Kinder nach einer In-VitroBehandlung bekamen. Viele gehören zur städtischen Mittelschicht, die in Metropolen wie Istanbul leben. Ich traf sie online und während der Veranstaltungen in Groß- und Kleinstädten sowie in ländlichen Regionen, in denen Kinderlosigkeit stärker stigmatisiert wird als in den anonymen Großstadtstrukturen und die Zugangsmöglichkeiten zu den medizinischen Behandlungen viel eingeschränkter sind. Aktivismus im Netz und darüberhinaus Die Studie folgte also den sozio-technischen Wegen zur Erfüllung des Kinderwunsches nicht nur an individuellen Biografien. Ich bewegte mich auch in den netzbasierten und darüber hinausgehenden Räumen, in denen sich meine Gesprächspartner*innen engagierten. ÇİDER (Çocuk İstiyorum Dayanışma Derneği, zu Deutsch „Ich möchte ein Kind e. V.“) bot sich als ein Fallbeispiel an. Die Organisation ist seit dem Jahr 2000 mit Hauptsitz in Istanbul landesweit aktiv und agiert als Wissensvermittlerin, Lobby- und Bildungsakteurin sowie als Sprachrohr für ungewollt Kinderlose. Sie ist die erste Selbsthilfegruppe, die sich zunächst online gebildet und später zum einzigen, selbsterklärten Patient*innenverein im Umfeld der Reproduktionsmedizin avancierte. Als solche zählt sie zu den frühesten Akteuren innerhalb der aktuell stark wachsenden Sozialbewegungen im Land. Sie übernimmt seit Jahren eine Schlüsselposition als Onlineund Offline-Anlaufstelle, in der sich fachliche Informationen und Wissen, Patient*innen, Inhalte und Politiken der Befürwortung und Intervention bewegen. Somit spielt ÇİDER eine kontroverse Doppel-Rolle. Sie ist zugleich Wissens- als auch Vertragsvermittlerin in neoliberalen und umkämpften Behandlungs- und Reproduktionsregimen und Märkten. Sie beschreibt sich selbst als eine „Brücke“, zwischen den potenziellen und aktuellen Betroffenen auf der einen Seite und der Medizin, dem Staat und dem Markt auf der anderen Seite. ÇİDER besteht zum Teil aus einer losen, netzbasierten Gemeinschaft, teils aus einer NGO (Nichtregierungsorganisation) und aktiven Mitstreiter*innen einer globalen Aktivist*innen-Szene, die sich um die Themen ungewollter Kinderlosigkeit und Reproduktionstechnologien kümmern. Die spezifische Mischung von Selbsthilfe- und Lobbygruppen ist ein nicht nur für die Türkei neues Phänomen. Ihre sozialen, regulativen, wissensproduzierenden und -vermittelnden Funktionen stehen im Fokus dieser Forschung. Untersucht wird also, wie sie zur MitKonstruktion von Reproduktions- und Behandlungsregimen beisteuern. Solche Gruppen erheben demnach den Anspruch, in die individuellen Reproduktionswege einzugreifen, indem sie Sichtweisen auf und Diskurse von Infertilität und IVF/ICSI-Technologien prägen, in vielfältiger Weise auf die Vor-
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stellungen von Körpern, auf reproduktive Normen und psycho-soziale Erfahrungswelten in der weitgehend pronatalistisch-patriarchalen Gesellschaft wirken. Für ungewollt Kinderlose und als infertil diagnostizierte Frauen und Männer werden Räume für gegenseitige Unterstützung und Erfahrungsaustausch angeboten. Auf ihren Wegen zum Kind greifen viele Frauen und in deutlich geringerem Maße auch Männer, überwiegend aus der städtischen Mittelschicht, täglich darauf zurück. Sie durchforsten die Kinderwunschplattform www.cocukistiyorum. com nach Informationen, bringen sich dort ein und tauschen sich mit den anderen Betroffenen über ihre psycho-sozialen, medizinischen und körperlichen Erfahrungen, Brüche und Krisen aus. Die Plattform ermöglicht einen Sozial- und Wissensraum für ihre Belange in einer Gesellschaft, die von vielen Kinderlosen, mit denen ich ausführlich darüber sprach, als „doğurgan toplum (fertile Gesellschaft)“ bezeichnet wird (siehe Kapitel 3.1). In ihr werden IVF und ICSI als mögliche Pfade in einer heteronormativen Gesellschaft betrachtet. Für viele gehört „Kinder-Haben“ wie selbstverständlich zum Leben dazu und zur Realisierung der gewünschten Biografie. „Klappt es nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt“ oder „trotz der bestmöglichen Behandlungen“, löst dies nicht nur Irritationen aus, sondern wächst in den patriarchal-pronatalistischen Strukturen auch der Sozialdruck. Die scheinbar schichtübergreifende Normalisierung von InVitro-Verfahren brachte einen Tabu-Bruch mit sich und im Idealfall auch eine Entstigmatisierung. Dennoch wirkt sie sich vielfältig auf die Frauen und Männer aus, die ihre ungewollte Kinderlosigkeit an den Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem managen müssen. Meine Gesprächspartner*innen beklagen sich über das „Einmischen“ in ihre individuell-familiären und intimsten Anliegen der Reproduktion. Die Klagen kommen in einer sozio-politisch wie regional heterogenen Gesellschaft aus unterschiedlichen sozialen Schichten: „Hat das Paar kein Kind, so ist es das Problem von allen... Schwiegermutter, Schwiegervater, Schwägerinnen, Schwager... so wächst der Zirkel, und am Ende wird es das Problem des Verkäufers und des Metzgers. Es gibt auch noch zahlreiche ‚Frau Meinung und Herr Meinung (fikriye hanım ile fikri bey)‘, die ihre Meinungen ohne Wissen äußern, und ohne gefragt zu werden. Das ist eine Realität in der Türkei, die nicht zu leugnen ist.“
Zugespitzt formuliert hier eine Mitgründerin von ÇİDER, dass die eigene Reproduktionsbiografie zu einem öffentlichen Informations- und Wissensmanagement wird. Um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, aus dem Zirkel herauszutreten, stehen die online und offline Räume des Vereins zur Verfügung. Dort kommen die landesweit verstreuten Nutzer*innen und ‚Mit-Leidenden‘ zusammen. Sie formieren sich, so mein Argument, zu einer biosozialen Erfah-
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rungsgemeinschaft, in der reproduktionsbiografische Partikularitäten, körperbezogenes und erfahrungsbasiertes Wissen sowie auch subjektive Sichtweisen auf Medizin zirkulieren. Diese werden für neue Formen der Sozialität und des Aktivismus „produktiv“ (Comaroff 2007: 203) gemacht, wobei „private Anliegen in öffentliche Themen“ (Callon 2005: 308) umgewandelt werden. Ich betrachte diese als Symbol für einen veränderten Nexus zwischen Biomedizin, Markt, Öffentlichkeit, Staat und Individuum in der Türkei. Im Fokus steht dabei das Engagement auf Seiten der Patient*innen/Betroffenen im Schnittfeld von Reproduktions- und Familienpolitiken, der Medikalisierung und der Ökonomisierung des Kinderwunsches sowie auch Politiken der Un-Sichtbarmachungen. Dort werden neue Akteurs- und Subjektpositionen erprobt, Allianzen zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Akteure wie Interessenlagen etabliert und schließlich Wissensformen, Rechte und Ansprüche formuliert, welche die Körper, Biografien und subjektive Erfahrungen betreffen (Taussig et al. 2003, Heath et al. 2008, Rabeharisoa 2008a, Wehling 2011). Damit schließt das Buch an ein seit den 1980er-Jahren wachsendes Forschungsfeld an, welches sich mit Selbsthilfeund Aktivismusformen der Betroffenen (Epstein 1996, Landzelius 2006, für einen Überblick zum Forschungsstand siehe Epstein 2008) und mit körper- und erfahrungsbezogenen („embodied“) Sozialbewegungen befasst (Brown et al. 2004). Gelebte Verflechtungen: Komplexität in den Blick nehmen Reproduktionstechnologien formen in praktischem Umgang – im Alltag, in der Medizin, im Recht und in den Medien – subpolitische Prozesse. Sie agieren immer dann so, wenn sie die Themen Infertilität und Kinderhaben in politischen Verhandlungsbereichen anders markieren als bisher. Mit der Verschränkung von klinischen Settings, ethisch-regulativen Aushandlungen und Reproduktionsbiografien gehen „bio-subpolitische“ (Beck 2011) Subjektivierungsprozesse und Verschiebungen einher.5 Dadurch werden zum einen kulturelle Verständnisse und Praktiken über Selbst, Körper, Reproduktion, Gesellschaftsgestaltung in Bewegung gesetzt. Das heißt, sie beeinflussen lokal (kulturell) ganz unter5
Dies geht auf den Begriff „Subpolitik“ von Ulrich Beck (1993) zurück. Beck betont die Entstehung neuer Interessens- und Problembereiche in den spätmodernen Risikogesellschaften und wie sich dort das Politische ändert (siehe Kapitel 1.3). Zahlreiche Diskussionen im Rahmen des Forschungsprojekts (siehe Fußnote 4) haben zu diesem Punkt viel beigetragen. In dessen Verlauf entwickelten wir Ideen zum Begriff der BioSubpolitik und zum methodischen Zugriff auf solche Veränderungen in den Alltagen der Menschen in unterschiedlichen biopolitischen Kontexten der Türkei und Deutschlands. Ich bedanke mich bei meinen Kolleg*innen Michi Knecht, Maren Heibges und Stefan Beck dafür, dass ich mich hier auf die gemeinsam verfassten, nicht veröffentlichten Texte, Präsentationsmaterialien etc. beziehen darf.
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schiedlich die Wissenswege der betroffenen Personen. Zum anderen entstehen im Umgang mit ihnen neue Sozialbeziehungen und heterogene Netzwerke. Am Beispiel von Selbsthilfegruppen argumentiere ich, dass diese auf die Mobilisierung von subjektiven und körperbezogenen Leid- und Erfolgsnarrativen sowie auf Praktiken der Selbstoffenbarungen basieren, während sie diese gleichzeitig erzeugen. In meiner Forschung mache ich die flüchtigen Interaktionen und Reibungen sichtbar, wie in diesem Feld das Globale auf das Lokale, Macht auf Wissen und Interesse auf Ökonomie treffen und neue Sozialbeziehungen sowie Allianzen entstehen – meist mit ungewissem Ausgang. Präziser geht es darum, wie „the lived entanglement – of local biologies, social relations, politics, and culture“ (Lock/Nguyen 2006: 2) konstituiert und partiell neu gestaltet wird (Jasanoff 2004, Liebsch/Manz 2010). Bislang ist dieses Zusammenspiel im türkischen Kontext nur ansatzweise untersucht. Die existierenden Forschungen fokussieren auf die individuellen Reproduktionsbiografien – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in den individuellen Narrativen. Häufig stützten diese sich, empirisch wie analytisch, auf die vorherrschenden machttheoretischen Perspektiven in der Analyse der Technologie, Wissenschaft und Medizin (Mardin 2003, Dole 2004, Güvenç-Salgırlı 2009, Akşit/Akşit 2010, Dole 2012). Seit der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 wird dem Medizin-Gesellschaft-Verhältnis ein besonderer Stellenwert beigemessen. Adressiert wurde zweierlei. Erstens, die ordnende Rolle des repressiven türkischen Staates im Leben der Bürger*innen. Dass dadurch die (biopolitische) Macht und Ideologien der Regierungen auf die intimsten Lebensund Sinnbereiche eingreifen und eine über ihr „Bewusstsein“, d.h. Deutungsund Handlungsweisen zu verfügen beanspruchen, wurde bereits betont. Zweitens wurden außerdem die damit einhergehenden Dichotomien und Widersprüche hervorgehoben.6 Sozial- und kulturanthropologisch gilt es die Komplexität und Vielschichtigkeit sozialen, gesellschaftlichen und biopolitischen Wandels zu erkunden. Im Kontext der Reproduktionsmedizin sind die Wechselwirkungen aus empirischer Sicht noch offene Fragen. Die bisherigen Analysen haben zum größten Teil auf grundsätzlich dichotome Spannungen verwiesen (Demircioğlu 2010, Mutlu 2011, Gürtin 2012b, Polat 2012, Demircioğlu 2015). In ihren Publikatio6
Häufig wird auf eine als exzeptionell konzipierte Zerrissenheit der Türkei zwischen dem Westen und dem Osten verwiesen (Silverstein 2003, Özyürek 2006, Ataç et al. 2008, Ahiska 2010, Azak 2010). Deniz Kandiyoti kritisiert mit Recht, dass auch in der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion die gesellschaftlichen Komplexitäten in eine „konzeptuelle Zwangsjacke“ der Tradition und Modernität gesteckt worden sind (2001: 2). Sozialanthropologin Yael Navaro-Yashin plädiert für komplexisierende Forschungsperspektiven gegen die orientalististisch-eurozentristische Konstruktion einer scheinbar homogenen „türkischen Kultur“ (2002: 12), quasi „gegen Kultur Schreiben“ (Abu-Lughod 1996).
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nen konstatiert Zeynep Gürtin beispielsweise, die Türkei sei ein Land, das „westliche Techno-Wissenschaft fetischisiert“ (2012a: 91) und „Paradoxen und Hybride“ (2012b: 286) in sich vereine. In-Vitro-Technologien stellen „einen hybriden Kontext“ dar, in dem sich säkulare Gesetze und eine modernistische Perspektive auf die Medizin mit sunni-muslimistischer Kultur und neo-konservativen Regierungspolitiken überschneiden (Gürtin 2016: 45). Auf diese Weise weist Gürtin der Türkei eine partikulare Position im Mittleren Osten zu, in dem Sozial- und Kulturanthropolog*innen bislang lokale IVF-Welten untersucht haben (Kahn 2000, Inhorn 2003, Inhorn/Bharadwaj 2007, Abbasi-Shavazi et al. 2008, Clarke 2008). Inhorn beschreibt kritisch dichotome Kategorien als „theoretische und ethnografische Fußfesseln“ (2012: 5) der Forschung. Um die soziotechnisch veränderten Alltage der nicht euro-amerikanischen und nichtwestlichen Welt zu erfassen, sollte man die Vorstellung einer Dichotomie hinter sich lassen. So sei es möglich, die scheinbar universal geltenden Selbstverständlichkeiten eines biotechnologischen Eurozentrismus zu hinterfragen (Inhorn/Birenbaum-Carmeli 2008). Meine Untersuchung ermöglicht jedoch zu zeigen, dass – in den klinischen und selbsthelferischen Settings – die Alltage weitaus komplexer sind; die kulturellen sowie politischen Verhältnisse hochgradig dynamisch. Sie zeigt situative Reproduktionsstrategien und komplexe Interaktionen zwischen den persönlichen und ehelichen, lokalen sowie viel breiteren nationalen und globalen Prozessen (Browner/Sargent 2011, siehe auch Beck 2007). Viele Aushandlungen und politische Veränderungen untersucht sie durch die alltäglichen Situationen und „Fragmente“ (Kandiyoti 2001, Stokes 2001) in einer heterogenen Gesellschaft wie die Türkei. Dies ermöglicht scheinbar kulturelle Eindeutigkeiten zu überwinden und die Komplexitäten aufzuzeigen. Dadurch überwindet diese Arbeit über die geopolitische binäre Klassifikation und die damit inhärente kulturelle Zuordnung des Landes – als Teil des west-europäischen Raumes oder Teil des Mittleren Ostens der islamischen Länder und Nationen. Auch die gegenwärtig islamisch-konservativen und neoliberalen Tendenzen sind weder auf eine Harmonie oder auf kulturellen Machtkampf zu reduzieren. Einflussreich sind hierbei die Effekte der seit den 2000er Jahren tendenziell vielschichtigen, brüchigen und manchmal widersprüchlichen Prozessen im Zuge der Globalisierung (vgl. Özyeğin 2011, Özbay et al. 2016). Dadurch bietet meine Ethnografie nicht nur einen Beitrag zu den neueren Ethnografien der Türkei, die die gegenwärtige soziale Ordnung nicht einseitig, sondern in ihrer Vielfalt und Komplexität untersu-
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chen.7 Sie leistet auch einen Beitrag zu den globalen Ethnografien reproduktiver Technologien und zum Verständnis der gelebten Verflechtungen von medizinischem Wissen, globalen Märkten, Staatlichkeit und sozio-moralischer Ordnung. Aufbau der Arbeit Das Buch ist in sechs Hauptkapitel untergliedert. Kapitel 1 erläutert das Forschungsdesign näher und skizziert den methodischen Ansatz der Ethnografie der Schnittfelder. Es verortet die Reproduktionstechnologien sowohl als Ausdrucksweisen von als auch als Triebkräfte für neuartige Selbst- und Sozialtechnologien. Es arbeitet die blinden Flecken im globalen Forschungsfeld der Reproduktionstechnologien heraus und fragt danach, wie das umkämpfte Feld der Reproduktion ausgehend von den sich neu herausbildenden Sozialbeziehungen und Kontaktzonen erforscht werden kann. In Anlehnung an bereits existierende Forschungen sowie ihre Leerstellen wird das Verhältnis zwischen Biomedizin, Sozialität, Individualität und Selbst, Bürgerschaft und Staatlichkeit sowie Macht und Märkte diskutiert und hinterfragt. Es präzisiert dadurch die ethnografische Perspektive auf dieses Feld der Reproduktionsmedizin, in dem die biosozialen und techno-wissenschaftlichen Identitäten produziert, ausgehandelt und neu definiert werden. In Kapitel 2, dem ersten empirischen Kapitel, erkunde ich die widersprüchlichen Praktiken, durch die Unfruchtbarkeit als ein medizinisch zu lösendes Problem im türkischen Kontext gerahmt und normalisiert wird. Im Fokus stehen das wechselseitige Ineinandergreifen und die Verschränkungen von sozio-technischen und gesellschaftlichen Normalitäten und Normativitäten, etwa im Labor, in den klinisch-medizinischen Deutungs- und Handlungssettings und im Alltag der Protagonist*innen und wie diese problematisiert, verhandelt und geändert werden. Kapitel 3 befasst sich mit der spezifischen Wissensarbeit der bereits dargestellten, kontrovers situierten Selbsthilfe- und Lobbygruppen. Diese leisten „Beihilfe“ (Becker 2000) zur Medikalisierung der Gesellschaft und steuern zu einer Art flexibler Selbst-Normalisierung via die IVF/ICSI-Nutzung bei (Thompson 2005, Schaad 2009, Knecht et al. 2011). Eine entstehende Kultur der Mit-Teilung wird analysiert und wie diese in Wechselwirkung mit Selbsthilfe, Kinderwunschökonomien und (Un-)Sichtbarkeitsregimen steht bzw. diese selbst 7
Hiermit bedanke ich mich bei den Teilnehmer*innen der Workshopreihe „Ordering the Social – Producing Change: New Ethnografies of Turkey in Transformation“ an der Boğaziçi Universität, Institut für Soziologie (24.-25. Juni 2011) und „Re-Ordering the Social and Producing Change: Contemporary Ethnografies of Turkey in an Interconnected World“ an der Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Europäische Ethnologie (25.-28. Oktober 2012), die ich mit Stefan Beck (†), Michi Knecht und Levent Soysal (sowie mit freundlicher Unterstützung von Ferhunde Özbay (†) und Maren Heibges) ko-organisiert habe, für die Diskussionen über neue Perspektiven auf die Türkei.
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erzeugt. Kapitel 4 diskutiert die Frage, wie In-Vitro-Technologien als Pfade in die normative Gesellschaft tatsächlich zum Einsatz kommen. Ich konzentriere mich dabei auf die vergeschlechtlichten Aushandlungen von Kinderwunsch und Reproduktionstechnologien. Ich zeige, auf welche Art und Weise Bilder und Praktiken von Weiblichkeit(en) und Männlichkeit(en) im Selbsthilfekontext rekonstituiert und zum Teil verändert werden. Dabei werden die Männlichkeitspraktiken in diesem spezifischen, als weiblich konstituierten Terrain detailliert analysiert. Diese deuten auf noch tentative Verschiebungen in den Geschlechterarrangements im Umgang mit reproduktiver Gesundheit und Sorge hin. In Kapitel 5 und 6 stehen spezifische Wissenspraktiken, Erfahrungspolitiken und Subjektivierungsprozesse im Mittelpunkt der Analyse. Hier werden neue Politiken der Erfahrung erkundet. Kapitel 5 befasst sich mit den netzbasierten biosozialen Erfahrungsgemeinschaften in hybriden online-offline Welten. Geschildert wird unter anderem die Funktion von anonymen Internetforen als Werkzeug und als Raum für Bewältigungs- und Wissensstrategien jenseits zeitlicher und räumlicher Grenzen. Kapitel 6 arbeitet weitere Re-Konfigurationen in Behandlungsregimen heraus. Neben den Veränderungen in der Wissensvermittlung und -produktion werden auch die sich re-konfigurierenden Verhältnisse und Lobbyallianzen skizziert – global, national wie lokal. Die Betroffenenmobilisierung wirkt an der Mitgestaltung dieses komplexen und kompetitiven Handlungsfeldes. Das Kapitel adressiert zudem die globalen Netzwerke der ungewollt Kinderlosen und zeichnet die über das National(staatlich)e und Lokale hinausgehenden Verbindungen. Das Schlusskapitel stellt die Fallstudie in makropolitische, globale und nationalstaatliche Bezüge zu Politiken der Kinderwunschökonomien. Dabei stelle ich heraus, wie der partikulare Beitrag derartiger Betroffenenmobilisierung als bio-subpolitischer Wandel in der Türkei – und darüber hinaus – zu verstehen ist. Schließlich wird dort über die wissenspolitischen Funktionen im hochgradig moralisierten Nexus von Normalisierung, Aktivismus und Wissenspolitiken im Feld der Reproduktionsmedizin resümiert. Das Mobilisieren von unterschiedlichen Erfahrungen und Moralvorstellungen führt zwar zu einer Pluralisierung der Wissenswege und Diversifizierung von Akteure, dennoch bleiben paternalistische und patriarchale Bedingungen nach wie vor einflussreich.
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Kontextualisierung des Wandels Reproduktionstechnologien, Akteur*innen, Wissen
Die vorliegende Studie ist innerhalb der ethnografischen Praxis sozialanthropologischer Forschungen angesiedelt, die nicht Kulturen als Ganzes zum Gegenstand haben, sondern Menschen und ihre Erfahrungswelten „im Kontext“ untersuchen (Gay y Blasco/Wardle 2007). Kontexte sind keine vorgefundenen soziokulturellen Forschungsfelder, sondern Resultate interaktiver Kontextualisierungspraktiken. Die Forscher*in und die Forschungssubjekte setzen sich zueinander in Beziehung (Strathern 1995, Dilley 1999). Reproduktionstechnologien, die viele Menschen beim Umgang mit Infertilität für ihre Mutterschafts- und Vaterschaftsprojekte einsetzen, stellen sozio-technische Kontexte für die sozialund kulturanthropologischen Forschungen dar, in denen soziale Ordnungen (spät-) moderner Gesellschaften im Wandel erforscht werden. Im Rückgriff auf die einschlägige Literatur werde ich in diesem Kapitel die lokale Situiertheit ‚assistierter‘ Reproduktion in der Türkei und den Kontext meiner Ethnografie darstellen. Ich erläutere das Forschungsdesign und skizziere meinen Ansatz einer Ethnografie der Schnittfelder. Ich verorte die Reproduktionstechnologien als Ausdrucksweisen neuartiger Selbst- und Sozialtechnologien, zugleich auch als deren Triebkräfte. Die Frage ist, inwiefern diese an den sich neu herausbildenden Wissenspraktiken, Aktivismusformen und Sozialbeziehungen untersuchbar werden. Dabei arbeite ich blinde Flecken im globalen Forschungsfeld der Reproduktionstechnologien heraus und nutze Forschungsdesiderate, um die impliziten theoretischen Vorannahmen und empirischen Herangehensweisen (sowohl im Westen wie auch in nicht primär westlich geprägten Kontexten) zu hinterfragen und ihre Leerstellen aufzuzeigen. In Anlehnung an bereits existierende Forschungen nehme ich das Verhältnis zwischen Biomedizin, Sozialität, Individualität und Selbst, zwischen Bür-
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ger*innenschaft und Staatlichkeit sowie Macht und Märkte in den Blick. Meine Herangehensweise, die Ethnografie der Schnittfelder, soll eine prozessuale und praxisorientierte Perspektive auf Medizin als Handlungsfeld werfen und neue Zusammenhänge sowie globale Verflechtungen sichtbar machen.
1.1 GLOBALE TECHNOLOGIEN – LOKALE SITUIERUNGEN: REPRODUKTIONSTECHNOLOGIEN IM TÜRKISCHEN KONTEXT Reproduktionstechnologien rahmen Infertilität als ein medizinisch zu lösendes Problem. Sie legitimieren sich in Medien, in öffentlichen Diskursen und in Regulationen, auf Grundlage dessen, was sie bislang „lieferten“ (Franklin 2012: 39), nämlich technologisch ‚assistierte‘ gesunde Kinder. Zugleich gelten sie als lebendiger Beweis reproduktionswissenschaftlicher Leistung (Franklin 1997). Seit der Geburt von Louise Brown, die im Jahr 1978 nach einer In-vitro-Fertilisationsbehandlung ihrer Mutter durch Robert Edwards zur Welt kam, sind weltweit circa fünf Millionen Kinder mit Hilfe dieses Verfahrens geboren worden. Eine Vielzahl von Ethnografien konnten bereits zeigen, wie diese Technologien lokal höchst unterschiedlich „verkörpert“ (Franklin 2002), eingesetzt und legitimiert werden. Sowohl in den säkular als auch in den religiös geprägten Kontexten des Westens (Strathern 1992b, Franklin et al. 2000, Thompson 2006, Culley et al. 2009, Jennings 2010) sowie in den sogenannten nicht-westlichen Kontexten wie Ägypten, Indien, Israel, China, Vietnam und Ecuador (Kahn 2000, Bharadwaj 2002, Handwerker 2002, Inhorn 2003, Bharadwaj 2006, Roberts 2006, Pashigian 2009) wurde untersucht, wie Infertilität und unerfüllter Kinderwunsch zu einer biomedizinischen Problemlage umgedeutet werden. Diese Technologien bilden „a triumphant coupling of social will to scientific potency in the service of creating new families“. Genau so werden sie auch in den öffentlichen Diskursen gerahmt. Ihre Nutzung zeichnet eine Landschaft globaler Infertilität, die schätzungsweise 15% aller Frauen und Männer im reproduktiven Alter weltweit erfasst. Gleichzeitig markiert sie die bereits modifizierten, dynamischen Verhältnisse zwischen globaler Technologie und lokalen Ordnungen. Im Umgang mit ihnen werden die existierenden Praktiken und Verständnisse der Reproduktionsbiografien umgeformt. Zugleich entstehen neue Repertoires von Wissenspolitiken und -wegen über biomedikalisierte Körper, hinsichtlich Zeugung und Sexualität sowie über Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse. Auch wurden Formen der „reproduktiven Biografisierung“ (Hess 2007) und Beziehungspraktiken von hetero- wie homosexuellen Paaren, Frauen und Män-
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nern aufgezeichnet, die dabei unterschiedlich(st)e Wege einschlagen (Beck et al. 2007b) und ihre Vorstellungen von und Praktiken der Familien- und Verwandtschaftsbildung ändern (Strathern 1992a, Franklin/Ragoné 1998, Edwards et al. 1999). Im Umgang mit ihnen entstehen demnach neue Wissens-, Deutungs-, und Körperpraktiken der Akteur*innen. Neue Wege zum gewünschten Kind werden möglich, diese deuten auf tiefgehende kulturelle und sozio-technische Transformationen über die Vorstellung von Zeugung, Familie und Elternschaft hin. So lassen sie sich sozial- und kulturanthropologisch in einen breiteren Kontext von Belangen über soziale und biopolitische Transformationen stellen. Die kulturellen Ambivalenzen und Rahmungen wurden in der Konstruktion von lokal moralischen IVF-Welten analysiert. Dabei wurden aber auch die global mobilen und wirksamen Diskurse sowie die Ähnlichkeiten körperlicher und soziopsychologischer Erfahrungen von Frauen und Männern in unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufgezeigt. Von den Menschen wird Wissens- und Körperarbeit im Umgang mit den spezifischen Behandlungen abverlangt. Darüberhinausgehend werde ich zeigen, dass die Protagonist*innen in meiner Arbeit zusätzliche Wissenspraktiken entwickeln. Bisher wurde sozial- und kulturanthropologisch angenommen, dass die Reproduktionstechnologien die kulturgebundenen Verständnisse der westlichen Medizin und Techno-Wissenschaft in andere sozio-moralische Kontexte transferieren. Somit lag der Fokus darauf zu untersuchen, was diese Technologien in den lokalen Verhältnissen machen und wie sie diese verändern. Unterschiedliche Kontexte erscheinen dabei als Orte der Problematisierung und der Herstellung von Normalisierung. In Anlehnung an globalanthropologische Ansätze argumentieren beispielsweise Inhorn und Birenbaum-Carmeli, Reproduktionstechnologien seien „deeply culturally embedded, intimately linked with power relations, and eventually accepted by professionals and potential recipients only when perceived as reasonable in the context of existing social relations, cultural norms, and knowledge systems. [...] By situating technologies within networks of power/knowledge, as well as the surrounding cultural and social order, we can begin to unpack the multifaceted repercussions and cultural transformations currently being induced by ARTs [...].“ (2008: 178)
Obgleich „in ähnlicher Weise wissenschaftlich formiert und somatisch erfahren“ (Birenbaum-Carmeli/Inhorn 2009: 8), ist die Nutzung dieser Technologien also unmittelbar in den kulturell und historisch unterschiedlich geprägten Situationen und biopolitischen Regimen der Reproduktion verankert. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, können anhand der Reproduktionstechnologien, die gegenseitig konstitutiven Verhältnisse von Medizin, Biotechnologien und Gesellschaft un-
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tersucht werden. Was Gordon generell für die Biomedizin hervorhebt, gilt auch in der Reproduktionsmedizin: „both constitutes and is constituted by society“ (1988: 19). Weil Reproduktionstechnologien stets in spezifischen Situationen artikuliert und ausgehandelt werden, erzeugen sie nicht überall die gleichen biosozialen und biopolitischen Veränderungen. Auch die damit einhergehenden Problemlagen variieren. Ihre Analyse setzt also immer eine sozio-kulturelle, rechtlich-moralische und epistemologische Kontextualisierung voraus. Sie erfordert eine lokal verankerte und ethnografisch situierte Perspektive. In den letzten Jahren haben die Sozial- und Kulturanthropolog*innen eine ausnehmend prozessuale und praxisorientierte Sicht auf die Anwendungs- und Deutungswelten etabliert. Hierbei wurden die lokal unterschiedlich geprägten Macht- und Deutungskonstellationen zwischen Staat, Gesellschaft, Medizin und Biotechnologien untersucht, ohne dabei die situativ dynamischen und variablen Praktiken außer Acht zu lassen. Im Fokus standen unter anderem die Normalisierungsprozesse von Reproduktionstechnologien (Cussins [Thompson] 1998, Schreiber 2007, de Jong 2009). In Anlehnung an Michel Foucaults’ Perspektive auf Normalisierung – auch auf die feministischen und STS-orientierten Erweiterungen – wurden in den klinischen und alltäglichen Praxen je unterschiedliche Situationen der Normalitätserzeugung untersucht. Normalisierung wird dynamisch zwischen Pathologischem und Normalem sowie zwischen Normalem und Normativem begriffen. Diese inkludiert für Thompson „the ways in which the grid of what is already there is produced, recognized, reproduced, and changed over time“ (2005: 80). Am Beispiel der US-amerikanischen Kliniken entzifferte Thompson die choreografierten Ordnungen, die Normalisierung nicht nur einmal sondern immer wieder neu erzeugen und begründen. Sie beschrieb die Prozesshaftigkeit der strategischen Naturalisierung in den Kliniken sowie der Sozialisierung in den Erfahrungswelten der Individuen. Normalisierung wird daher als Prozess verstehbar, bei denen individuelle Lebenssituationen, Handlungslogiken, biomedizinische Optionen und Wissenswege sowie die staatlichen und gesellschaftlichen Rationalitäten und Moralitäten miteinander interagieren. Gesellschaftlich stelle die Zeugung im Reagenzglas nun „eine helfende Hand der Natur“ dar. So wird sie oft als eine leichte Abweichung von normalen und natürlichen Praktiken des Kindermachens gedacht und legitimierbar gemacht (Strathern 1992b, Franklin et al. 2000). Dennoch, ihre Nutzung wirft die nach wie vor kontrovers betrachteten Fragen auf das Leben und auf die Erzeugung von Leben auf. Gilt die Normalisierung als eine simple Antwort darauf, so wird diese „pragmatisch als reflexive Um- und Neuordnung sozialer Handlungs- und Interaktionsmuster, kultureller Repräsentationen, sowie institutioneller Arrangements“ (Knecht et al. 2011: 28)
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erzeugt, ausgehandelt und immer wieder unter Beweis gestellt. Diese deutet auf eine erforderliche und teils zusätzliche Wissensarbeit im Alltag der Einzelnen und beim Umgang mit den komplexen und zum Teil als risikohaft empfundenen Behandlungsabläufen hin (Knecht/Hess 2008). Die Normalisierung bedeutet also keine bloße Anpassung an die kulturell gelebten Alltage. Sie beruht eher auf der Wechselseitigkeit zwischen höchst dynamischen Praktiken und gesellschaftspolitischen Implikationen – dem mikroweltlichen Alltag und dem gesellschaftlichen Makrokontext. Mehr noch: Sie demonstriert Verschiebungen von und Verflechtungen zwischen den Grenzen von Gesellschaft, (Bio-)Politik, Ökonomie, Macht und Wissen. Für Hampshire und Simpson (2015) ist dies die „dritte Phase“ der Normalisierung, die mit der Ausbreitung der Technologien, Expertisen und auch der Märkte einherging und sich durchaus weltweit vollzieht. Sozial- und kulturanthropologisch stellt sich die Frage, wie Beziehungen zwischen dem mikroweltlichen Handeln und den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen hergestellt werden. Die „konstitutiven Links“ (Cussins [Thompson] 1998: 67) gilt es zu erkunden, die beim Umgang mit diesen Technologien zwischen kulturell-sozialen, rechtlich-moralischen, institutionellen und politischen Praktiken und Regulationslogiken hergestellt werden. In der Praxis werden diese von den Kliniken und Laboren mit den alltäglichen Wünschen, Belangen und Interessen verbunden. Eine weitere Forschungsrichtung fokussierte sich auf die Konstellationen von globalen Märkten, Privatsphäre und Öffentlichkeit (Knoll 2005, Spar 2006). Diese zeigten, dass kommerzielle, soziale und moralische Aspekte in der Praxis kaum voneinander zu trennen sind. Das Wissen über und der Umgang mit Körpern, Zellen und Substanzen ändern sich, aber auch wie diese reguliert, kommerzialisiert und als Biomaterie vermarktet werden. Thompson konstatiert einen „biomedizinischen Modus“ und zeigt, dass dieser sich in der Hoffnung auf einen Hype einen Wechsel von Kapital zu Versprechungen und Verheißungen erfährt („promissory capital“). Dieser umfasst die Prozesse des Antizipierens und auch der Investition in die Optimierung der reproduktiven Körper, der zukünftigen Embryonen und schließlich der (gesunden) Kinder. Aus einer globalanthropologischen Perspektive sind diese Technologien „globale Formen“ (Ong/Collier 2005a, Knecht et al. 2012), die verbinden und trennen. Sie mobilisieren Menschen, Technologien und sozio-materielle Infrastrukturen, Märkte, Wissensformen und Politiken. In ihrer Anpassung und lokalen Regulierung beeinflussen sie die biopolitischen Prozesse – neue und alte Muster der Regulierung und Regierung. In dieser Hinsicht entstehen lokal situierte biopolitische Assemblagen von Akteur*innen, Körpern und Wissensformen, die nationalstaatliche Stile der Regulierung und der reproduktiven Regie-
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rung zulassen (Knecht et al. 2012, Morgan/Roberts 2012). Ong und Collier zufolge haben die Pragmatismen und die reflexiven Praktiken der Individuen – und auch der Kollektive – eine regulierende, intervenierende Rolle in der Politikgestaltung globaler Formen wie der IVF-Technologien. Welche gesellschaftlichen, individuell-familiären, moralischen und rechtlich-regulativen Fragen diese aufwerfen, ist durch eine „heterogene Matrix der Kultur“ (Martin 1998: 30) geprägt. Die sozio-kulturellen Komplexitäten und globalen Verflechtungen können dabei simultan wirksame Prozesse auslösen. Diese (trans-)formieren sowohl die lokal situierten Welten als auch die diesen Technologien eingeschriebenen Eigenschaften – und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund bieten sie tiefe Einblicke in die „specific national and economic priorities, moral and civic values, and technoscientific institutional cultures“ (Franklin 2005: 61). Sie ermöglichen zum einen die Analyse der globalen Verflechtungen in den Alltag der Akteur*innen und zum anderen die Wechselwirkungen zwischen den Praktiken, Gesellschaften und Technologien. Diese werden in den individuellen Entscheidungs- und Handlungswegen und gesellschaftlichen Diskursen untersuchtbar. Die Reproduktionstechnologien können transformierende Effekte auf die gesellschaftlichen Normen, die kulturellen Kodes und Moralitäten haben, ähnlich wie sie sowohl Widerstände als auch Beständigkeit befördern können. Doch diese, so mein Argument, sind nicht in den Technologien selbst enthalten, sondern in ihren Nutzungspraktiken (Polat 2010). Zu untersuchen gelten m.E. die Verhältnisse zwischen Politiken, Staat, Kultur und Reproduktionsbiografien, die dort auf eigene Weise aufeinandertreffen und neue Aushandlungsprozesse hervorrufen. Aus meiner Perspektive sind jegliche Prozesse der Lokalisierung und der Normalisierung unmittelbar mit der Frage der Kontextualisierung verwoben. Denn es hängt damit zusammen, wie Akteur*innen sich selbst positionieren, auf welche Ressourcen sie zurückgreifen und wie sie mit den Verflechtungen zwischen globalen Technologien und lokalen Umständen agieren. Dieser Kontextualisierungsfrage spürt dieses Buch nach, und zwar mit dem Fokus auf die Wissenspraktiken der Protagonist*innen und auf einer partikularen Aktivist*innen-Szene wie ÇİDER. In diesem Sinne geht es mir nicht um den türkischen IVF-Kontext per se, sondern eher darum, was Menschen mit und im Kontext globaler IVF-Technologien tun. Der Kontext ist nicht, wie Latour uns erinnert, „the spirit of the times which would penetrate all things equally. Every context is composed of individuals who do or do not decide to connect“ (1996: 137). Mit Hinblick auf die reproduktionsmedizinischen Kontexte der Gegenwart stechen m.E. die gelebten Schnittfelder zwischen TechnoWissenschaft, Medizin, Kulturen und Politiken hervor (Casper/Koenig 1996). Wie bereits in der Einleitung erläutert, situieren und bewegen sich die IVF/ICSI-
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Nutzer*innen an den Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Behandlungssettings, den Deutungs- und Handlungswelten sowie Wissensformen. Folgend werde ich meinen analytischen Zugriff darauf präzisieren. Davor möchte ich aber anhand meiner ethnografischen Daten die national(staatlich)e und lokal variable Politikgestaltung näher beschreiben. In ihrer dritten Phase fördern diese Technologien auch in der Türkei durchaus situierte Kämpfe zwischen Staatsräson, Säkularismus, neoliberaler und neokonservativer Politiken und selektivem Pronatalismus. Umkämpfte Felder der Biomedizin: zum Beispiel Türkei „Damals haben die Menschen mich wie einen Außerirdischen betrachtet“, so das in der Türkei erste IVF-Baby Dilek Katrancı im biografischen Rückblick. IVFTechnologien waren „für die Menschen eine Gleichung mit multiplen Unbekannten (çok bilinmeyenli bir denklemdi)“.1 Was einst vollkommen außergewöhnlich war, avancierte zu „Routine-Lösungs-Technologien“ gegen das biosoziale Problem der Infertilität und Kinderlosigkeit und ist längst weitgehend sozial akzeptiert. Allmählich erwachsen sie zum Teil der individuellen Selbsttechnologien im Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit und werden gezielt in der individuell-familiären Biografisierung eingesetzt. Der „Tüp Bebek-Wahnsinn“, der lange die mediale Darstellung ausmachte, sei nun, so mein Interviewpartner Veli Kalem, „wie Essen und Trinken geworden (yemek içmek gibi oldu)“ (Knecht et al. 2011: 30).2 Er formuliert es wie viele in meinem Feld: „Daran ist nichts Absurdes. Es wird von einem Samen und einer Eizelle hervorgebracht, genauso wie ein Kind, das unter normalen Umständen geboren wird. Es besteht auch aus einem Samen und einer Eizelle. Es gibt keinen Unterschied. Nur die Weise, wie man es bekommt, ist ein wenig anders.“
Gemeint sind nicht die oft langwierigen und strapazierenden Behandlungen, die doppelt so oft versagen wie sie zum gewünschten Kind führen. Trotzdem hat ihre oft sofortige Inanspruchnahme sich in den letzten Jahren rasant erhöht. Die De-Kontextualisierung der Zeugung vom Körper ins Labor habe sich demnach „vollkommen normalisiert“. Wie auch in anderen Bereichen handelt es sich um 1 2
Aus dem Interview mit Journalistin Esra Tüzün (siehe: http://arsiv.sabah.com.tr/2007/ 02/05/gny/sag101-20070205-200.html, Zugriff am 20.01.2016). Zusammen mit Michi Knecht, Maren Heibges und Stefan Beck haben wir in diesem Artikel die Normalisierungprozesse analysiert und vergleichend zwischen der Türkei und Deutschland unterschiedliche Dimensionen diskutiert. In diesem Kapitel greife ich auf diesen Artikel zurück und bedanke mich bei den Ko-Autor*innen für die Diskussionen während der Zusammenarbeit.
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den „angemessenen Weg der Realisierung von Natur“ (Paxson 2004: 216, [Herv. i. O.]). Im türkischen Kontext variieren die moralischen Maßstäbe und auch die kontrovers diskutierten Themen, die diesen Weg betreffen, gesellschaftlich und individuell von Zeit zu Zeit. Durch sie wird Normalität verhandelt und konstruiert. In den Diskursen über çağdaş bakış, also über die moderne und zeitgemäße Sichtweise, äußert sich in der Türkei das moderne Paradox der Trennung und Hybridisierung – via Reinigungs- und Vermittlungsprozesse (à la Latour 1993). Diese subsumieren nämlich die Aushandlungen über die gesellschaftspolitischen Grenzziehungen zwischen Natürlichem und Technologischem, Gesellschaft und Wissenschaft. Eine moderne Sichtweise auf Medizin trug von Beginn an zur Entproblematisierung bei und half mit, dass diese Technologien nicht mehr gänzlich als ein moralisch problematischer Eingriff in die Natur verstanden werden. Hier spielt unter anderem der sich sehr rasch etablierte und nun global orientierte IVF-Markt eine Schlüsselrolle. Von einer „Wunder-“ hin zu einer Routinetechnologie, hängt ihre lokale Situierung auch mit der historisch partikularen Position der Medizin im Modernisierungsprozess des Landes zusammen. Das, was als Nicht-Modern gilt, so behauptet Christopher Dole beispielsweise in seiner Ethnografie, wurde auch später im Aufbau des modernen, nationalen Gesundheitsregime systematisch exkludiert (Dole 2012). Ziel war es, eine Gesellschaft zu erzeugen, die nach den europäisch und westlich orientierten Wissenschafts- und Technologiepolitiken rational, säkular und progressiv agiert: „a society free from, by implication, unscientific, and irrational religio-political authority“ (Dole 2004: 258). Medizin war also Teil „in a larger political endeavor to rationally engineer a new social order and [...] consolidate the state’s subjects as a nationalized body“ (ebd.). In dieser Hinsicht ist das Gesundheitsregime stets ein ambivalentes Terrain für die Aushandlungen zwischen den säkular-rational und religiös-traditionellen Spannungen. Männer und Frauen verkörperten dabei in der gänzlich vergeschlechtlichten Natur die neue Sozialordnung (Delaney 1995, Özbay 1999). Die Veralltäglichung der modern-westlichen Medizin wurde in diesem Sinne konstitutiv für die Mit-Konstruktion der idealisierten Gesellschaft. Umgekehrt forcierte sie unter den kulturell ausgeprägten Aushandlungen mit Moderne und Wissenschaft situative Rationalitäten, mitunter – wie in der sozialwissenschaftlichen Literatur mehrfach betont – Religiosität. Im Gesundheitsregime, welches es nach den modernistischen Paradigmen noch aufzubauen galt, trafen damals eine religiös/islamische Deutungswelt, sowie ein traditionelles Medizin- und Wissenschaftsverständnis auf eine progressive Wissenschaftspolitik. Im Kontext der IVF-Forschung in der Türkei diente dies zur Analyse der als partikular konzipierten Position der Türkei. Meine Kollegin Zeynep Gürtin (2012b: 286) argu-
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mentierte, dass im Umgang mit Reproduktionsmedizin eine „Harmonie zwischen säkularen Legislationen und religiösen Sichten“ herrscht. In der Praxis vereinbaren diese Technologien die westlich geprägten Ethikwerte, wie Säkularismus, mit den kulturellen und religiösen Sensibilitäten im Land. Allerdings, möchte ich in Anlehnung an den Sozialanthropologen Dole (2004) behaupten, dass Religiosität und Säkularität nicht zwangsläufig als gegenseitig exklusive Kategorien angesehen werden können. Sie markieren m.E. weder einen Gegensatz noch eine Synthese zwischen Westen und Osten oder säkularen und religiösen Deutungswelten. Die soziale Akzeptanz beruht weiterhin auf dem Doppelboden von säkularen und sunnitisch-muslimischen Sichtweisen. Das moderne Wissen über Medizin und Biotechnologie wird manchmal in der Spannung und in der besagten Harmonie zwischen den beiden moralisiert. Im rekurrierenden Diskurs von makul, der sogenannten angemessenen Praxis handelt es sich im Grunde um Politikgestaltung über die Intimitäten (Sexualität, Körperlichkeit, Sozialität) und die techno-wissenschaftlichen Subjektivitäten. Von Beginn an verhalten sich soziokulturelle Gegebenheit harmonisch zu den als universal geltenden Kodes und Kanons der Biomedizin. Makul akzentuiert dabei die legitimen und legitimierbaren Nutzungspraktiken im Einklang mit den verbreiteten Normalitätsmustern. Diese beruht nicht zwangsläufig auf Gegensätzen zwischen Natürlichem oder Nicht-Natürlichem. Vielmehr geht es um eine moralische Norm(alis)ierung des biomedizinischen Einsatzes, um den Kinderwunsch zu erfüllen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Türkei kaum von vielen sunni-muslimisch geprägten Ländern, in denen sich die Debatten und Diskurse über „defamiliarizing the natural“ (Clarke 2009) auf die genetischen Familien- und Verwandtschaftsbindungen, Ehe und Koran beziehen (Clarke 2008, Inhorn/Tremayne 2012, Gürtin et al. 2015). Die Antwort auf die Frage „was ist makul (akzeptabel) und normal?“, variiert manchmal auch in ein und demselben Narrativ – ob staatlich-regulativ, gesellschaftlich oder individuell. In der Praxis tendieren viele meiner Gesprächspartner*innen, ob religiös oder säkular orientiert, dazu, ihre eigenen Handlungen individuell wie gesellschaftlich zu begründen. Auch hier gilt, was Clarke am Beispiel des Libanons behauptete, Menschen „value the room to manoeuvre that is afforded by respect for – or a certain generosity regarding – a realm of private concerns away from public image, rather than a collapse of the distinction“ (2009: 208) zwischen den weltlichen oder religiösen Verständnissen über die technischen Machbarkeiten und darüber, was als legitimierbar gilt. In all den Debatten, die ich im Feld geführt oder beobachtet habe, drehte es sich um die simple Auseinandersetzung damit: „Wofür ist eine Gesellschaft wie die türkische bereit und wofür nicht?“ Die Menschen in meinen Gesprächen hat-
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ten unterschiedlich gewichtete kulturelle Ansichten. Ihre Handlungen und Deutungen sind zwar durch und durch im lokal moralischen Wertehorizont verankert, doch ganz wenige mögen sich als moralische Ordnungshüter*innen positionieren. Die Sichtweisen auf Medizin seien modern und zeitgenössisch (çağdaş), so wurde immer im von mir untersuchten Feld argumentiert. Die Heterogenität und Gegensätze sind durchaus in den diskursiven und regulativen Aushandlungen darüber relevant und bestimmen, was im Umgang mit diesen Technologien als sozial-moralisch akzeptabel gilt. Die Priorität liege allerdings bei der Aufrechterhaltung der „moralischen Ordnung der Gesellschaft“. In der Rezeptionspolitik blieb die Türkei seit der Einführung der IVF konsequent. Die reproduktionstechnologische Praxis wird durch Richtlinien reguliert. Seit der Inkraftsetzung der ersten Richtlinie im Jahr 1987 bis heute definiert diese „die potentiellen Patienten“ und sprechen nach mehrmaligen Modifikationen von „Elternkandidaten“. Reproduktionstechnologien werden demnach als therapeutische Maßnahmen definiert, welche jedoch nur für heterosexuelle, amtlich verheiratete Paare zugänglich sind. Diese regulative Rahmung basiert und steuerte selbst dazu bei, dass In/Fertilität als eine „Krankheit“ und als ein medizinisch behandelbarer Zustand von heterosexuellen Paaren gilt. Reproduktion wird somit auch als ein „natürlicher Wunsch“ der Frauen und Männer gerahmt. In der Richtlinie ist verankert, dass nur Zellen von der Ehefrau mit denen des Ehemannes extrakorporal befruchtet und dann in den Uterus der werdenden Mutter transferiert werden dürfen. Vom rechtlich-regulativen Standpunkt aus betrachtet gilt also Heteronormativität als vorrangig. Jegliche Nutzung der IVF-Technologien von unehelichen, verschieden- oder gleichgeschlechtlichen Partner*innenschaften und Singles ist strikt untersagt.3 Die Richtlinien werden vom Gesundheitsministerium erlassen und setzten bis zum Jahr 2010 nur begrenzt bioethische Normen beim Umgang mit Reproduktionszellen. Eine gewisse Flexibilität für die klinische Praxis und Entscheidungsmacht wurde den Ärzt*innen gewährt. So waren bis zur letzten Modifikation keine eindeutigen Eingrenzungen in der Richtlinie verankert, welche geregelt hätten, wie viele Eizellen entnommen, befruchtet und schließlich in den Uterus transferiert werden dürfen. Frau Dr. Pekel, Leiterin des Embryologie-Labors einer Istanbuler Klinik, die sich in Deutschland zur IVF-Ärztin ausbilden ließ, merkt an: „So etwas wie ein Embryonenschutzgesetz (Original im Deutschen) so streng wie es in Deutschland existiert, gibt es in der Türkei nicht.“ Für sie bot
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Hierzu „Richtlinie für In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer“ des türkischen Gesundheitsministeriums: (T.C. Sağlık Bakanlığı: „Invitro Fertilizasyon ve Embriyo Transferi Yönetmeliği“, 21.08.1987, Resmi Gazete (Gesetzesblatt) Nr. 19551). Diese wurde mehrmals modifiziert.
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dies in der Türkei einen ausgesprochen flexiblen Spielraum beim Umgang mit den befruchteten Eizellen, Embryonen und überzähligen Substanzen. Auch beinhaltete die Richtlinie keinerlei Vorschriften beispielsweise zu Behandlungs- und Befruchtungsverfahren, Medikamentendosierung und zum Embryotransfer. Darüber hinaus wurden kaum die klinischen Verfahren der Produktion, Aufbewahrung und Vernichtung der Zellen und Gameten unter dem Aspekt der bioethischen Regulation diskutiert. Dies gilt sowohl für die Selektionsverfahren als auch für die Prä-Implantations-Diagnostik (PID). Diese ist erlaubt und wird auch häufig in den Istanbuler Kliniken als behandlungsoptimierende Maßnahme eingesetzt. Während meiner Feldforschung wurde die Richtlinie nach langen, teilweise öffentlich kontrovers geführten Diskussionen und Regulationsverfahren modifiziert. Trotz der großen Beteiligung von Mediziner*innen unterschiedlicher Teilbereiche und Patient*innen und deren Vertreter*innen setzte sich schließlich die Staatsräson durch bzw. die Entscheidungen des Gesundheitsministeriums wurden einseitig in Kraft gesetzt. Die neue Richtlinie begrenzte den Embryotransfer auf höchstens drei Embryonen, wobei diese Anzahl in der ersten Behandlung im Alter von unter 38 Jahren nur auf einen Embryo einzuschränken ist. Die Verbote blieben unverändert, die die Embryo-, Samen- und Eizelldonation sowie die Leihmutterschaft betreffen. Die Türkei setzte mit der neuen Richtlinie – womöglich als das erste Land überhaupt – ein „symbolisches“ Zeichen gegen das Kinderhaben per Drittspende (vgl. Gürtin-Broadbent 2011) und erklärte diese per Gesetz für strafbar. Die globale Mobilität von Menschen, Substanzen, Dingen und Märkten wird als ein allmählich unvermeidbarer Verstoß gegen die nationalstaatlichen Regulationen und besonders gegen die islamische Moralordnung konstituiert. Wie ich in Kapitel 2.3 empirisch im Detail beschreiben werde, sind Eizell- und Samenspende konstitutiv und stellen eine immer stärkere Herausforderung für den nationalen IVF-Markt dar. Bezüglich der ethisch-moralischen Fragen wird auf „die gesellschaftlichen Sensibilitäten“ verwiesen. Sensibel über den moralischen Streitpunkt markiert Dr. Yaman beispielsweise in einem Interview, dass die Praxis „gesellschaftlich vorprogrammiert“ sein soll: „Die Arbeit, die wir leisten, fordert wirklich sehr große Disziplin und ein sehr gutes System für die Qualitätskontrolle, aber die Werte, die wir in Erwägung ziehen, also die Werte, die wir als Ethik bezeichnen, sind sehr wandelbar. Man muss also diesen Beruf so gut wie möglich im Einvernehmen mit der Gesellschaft und den Gesetzen ausüben.“
Es sind die lokalen, kulturellen Bedingungen, Normen und Sichtweisen, die in der Türkei um den Diskurs von makul Praxis abgewogen werden. Technisch ge-
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sehen sei alles möglich und machbar, doch häufig folgt ein „Aber“, das unterschiedliche kulturelle, individuelle und ethisch-moralische Begründungen und Legitimationszwänge subsumiert. Spätestens an den folgenden Fragen macht sich die Irritation fest: „Wie weit soll man/frau für ein Kind gehen?“, „Wo ist die Grenze?“ und „Was ist noch normal?“. Erst ab Mitte der 2000er-Jahre rücken die sozio-kulturellen Effekte dieser Technologien stärker als regulative Probleme in der gesellschaftlichen und staatlichen Agenda in den Vordergrund. In den bioethischen Debatten schlägt sich dennoch, obgleich in einem noch relativ schwachem Ausmaß, eine Vielstimmigkeit nieder. Diese bezieht sich oftmals auf die lokalen Prägungen und expliziten Kalkulationen von Effizienz in der staatlichen (Un-)Kontrollierbarkeit über die techno-medizinischen Praxen. Zugleich sind mangelhafte bzw. auf Verbot ausgerichtete Regulationsprinzipien entscheidend. Diese sind bislang säkular, aber auch sunnitisch-muslimisch orientiert und setzen eindeutig die Staatsräson über die individuell-familiäre Selbstbestimmung und deren Rechte und Wünsche. Diese Debatten priorisieren heterosexuelle und patriarchale Werte, sie konstruieren, was als sozial legitim (meşru) und somit als Norm(alität) gilt. Nach wie vor ist die Reproduktionsmedizin im Schnittfeld von Frauen-, Familien- und Gesundheitspolitik angesiedelt. Die Regulierung fällt in die Zuständigkeitsbereiche des Gesundheitsministeriums und des Ministeriums für Familien- und Frauenangelegenheiten, der Sektion AÇSAP (Amt für Mutter-KindGesundheit und Familienplanung).4 Die Reproduktionsmedizin ist verwoben mit einer neuen Welle der Familisierung (Yazıcı 2012), und besonders unter der islamisch orientierten regierenden AKP, mit einer Zunahme des Konservatismus. Unter dieser Regierung wurde die Infertilität als ein reproduktionsgesundheitliches Thema in die Gesundheits- und Familienpolitik eingeführt. Der ehemalige Gesundheitsminister Recep Akdağ sagte dazu beispielsweise: „[...] desire to form and institutionalize family is essential and it needs to be done even if it requires the destruction of natural barriers“ (zitiert und übersetzt von Görgülü 2007: 50). Derartige Statements bereiteten den Weg zur Normalisierung der IVF-Technologien und förderten dabei die vorherrschenden selektiven Pronatalismen. Es ist also kein Zufall, dass die Lobbyarbeit der Allianz von Mediziner*innen, Kliniken, Patient*innen und der Selbsthilfegruppe ÇİDER für eine 4
Seit den Anfängen ist der „Wissenschaftsrat für In-vitro-Fertilisation und Embryo Transfer (IVF-ET)“ zuständig. Vertreten sind staatliche und professionelle Akteur*innen, die bei der Etablierung der Richtlinien unterschiedliche Informations- und Wissensquellen zur Verfügung stellen. Dies sind unter anderem internationale Leitlinien, Gutachten diverser Institutionen (wie Diyanet İşleri Başkanlığı: Amt für Religiöse Angelegenheiten) oder Verbände (wie der Türkische Bioethik-Verein oder Türk Tabipler Birliği) oder ministerialbürokratische Gutachten zur Implementierung.
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staatliche Kostenübernahme für bis zu zwei Behandlungen gleich zum Beginn der Regierungszeit, Erfolg erzielte.5 Dabei war eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen den patriarchalen Politiken und der neoliberal-neokonservativen Allianz wirksam (Coşar/Yeğenoğlu 2009, 2011). Der sogenannte „Drei Kinder“Diskurs, wie ihn Recep Tayyip Erdoğan wiederholt ‚empfiehlt‘6, überschneidet sich mit den heteronormativen Verbotslogiken. Dieser wird ganz strategisch von der Regierung genutzt, um die vorherrschenden Logiken und Spannungen zwischen den patriarchal-selektiven Pronatalismen, Familienpolitiken und Moralitäten zu managen (Gürtin-Broadbent 2011, Altıok 2013, Unal/Cindoglu 2013, Gürtin 2016). Dieser adressiert primär bestimmte Bevölkerungsgruppen und heterosexuelle Familien. Ausgeschlossen werden nicht nur die nicht-heterosexuellen Partner*innenschaften und Singles, sondern auch Kurd*innen, NichtMuslime und andere. Die pro- und antinatalistischen Politiken changieren zwischen den ethnisch gemachten Konflikten sowie den nationalistischen und patriarchalen Politiken.7 Während meiner Feldforschung avancierten beispielsweise die Restriktionen bezüglich Abtreibung, Kaiserschnitt und auch Eizell- und Samenspende im Ausland sprunghaft zu öffentlich kontrovers diskutierten Themen. So rückten die reproduktionsbezogenen Fragen in die öffentliche Politikgestaltung und die konservativen und muslimischen Ideale wurden als moralische Maßstäbe deklariert. Heute ist die Öffentlichkeit der Betroffenen kleiner und stiller geworden. Die damals relativ lauten Protestaktionen der Feminist*innen sind eingebrochen und die Gruppen bestehen nur noch brüchig, während die Verbotslogiken sich im 5
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Seit 2005 werden zwei Zyklen durch SGK gefördert, unter den Voraussetzungen: Bescheinigung der Gesundheitskommissionen der anerkannten staatlichen Krankenhäuser; amtlich verheiratete Personen, die seit fünf Jahren gesetzlich versichert sind und keine leiblichen Kinder haben; Frauen zwischen dem 23. und 39. Lebensjahr. Die Paare müssen beim ersten Zyklus 30 % und beim zweiten Zyklus 25 % der Behandlungskosten als „Beitragsgebühr“ selbst bezahlen (SGK, Sozialversicherungsinstitut, 2005, 5510, Ziffer 63 Regulation der staatlichen Förderung von IVF-Behandlungen). In einer Rede in Uşak sprach Erdoğan die Frauen an und sagte ihnen „Kinder sind ein Segen (bereket)“ und plädierte für „mindestens drei Kinder pro Familie“. Seither hat sich ein Diskurs darüber etabliert, der sich auf einen hypothetischen Geburtenrückgang und die Degeneration der Familie als kultureller Wert bezieht (http://arsiv.ntvms nbc.com/news, 10.03.2008, Zugriff 13.04.2011). In diesem Punkt hat die „Roundtable-Diskussion“ mit Nilay Erten, Şafak Kılıçtepe, Burcu Mutlu, Neslihan Şen und Seda Saluk geholfen zu verstehen, wie beliebig dieser Diskurs eingesetzt wird (siehe „Cinsellik, Üreme/Doğurganlık ve Sağlık Politikaları Üzerine Bir Sohbet“, Feminist Yaklaşımlar, 2018, in Druck). In den kurdischen Gebieten des Landes herrschten kontinuierlich antinatalistische Politiken des türkischen Staates. Hier spielen nach wie vor die Diskurse von Fertilität und übermäßigen Kinderzahlen von kurdischen Frauen und Familien eine signifikante Rolle. Auch bei Ulrike Flader möchte ich mich für ihre hilfreichen Kommentare bedanken.
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Alltag fest verankert haben. Selbst wenn dies nicht offiziell ist, die konservativislamistischen Politiken der AKP herrschen in den Kliniken und Krankenhäusern und auch zwangsläufig in den Alltagen der Bürger*innen. Diese markieren die endgültig islamistisch-patriarchale Wende in der pronatalistischen Regulation von reproduktiven Körpern und Intimitäten. Das reproduktionsmedizinische Feld, wofür ich mich in diesem Buch interessiere, ist ein essentieller Teil davon. Bei den Regulationsprinzipien ist „the uneasy mix of ethics and politics“ (Isikoglu et al. 2005) einflussreich. In den letzten Jahren erstarkte dieser Mix als problematischer Teil einer sich ausbreitenden und polarisierenden Neuorientierung im Land. Als ich im Jahr 2009 ein Vorstandsmitglied des türkischen Bioethikvereins und einen Vertreter des Ethikrates in Diyanet İşleri Başkanlığı (Amt für Religiöse Angelegenheiten, abgekürzt mit Diyanet) nacheinander interviewte, teilten sie ähnliche Ansichten über die ethisch-moralischen Prinzipien zur Regulierung der Reproduktionstechnologien und Biomedizin. Eine Vertreterin im Bioethikverein, deren Namen ich nun hier anonymisieren möchte konstatierte: „Unser Säkularismus (sekülerismimiz) ist hierbei von großer Bedeutung.“ Sie schreibt und hält weltweit Vorträge über eine Türkei, die „ihr Gesicht schon von Anfang an nach Westen gerichtet“ habe. Im Interview wirkte sie beunruhigt über die damals anfänglichen islamistischen Tendenzen in der Gesellschaft und in der Politik. Sie behauptete, dass die kemalistischen Grundwerte eine säkulare Wissenschafts- und Medizinpolitik hervorgebracht hätten, die „zeitgenössisch“ orientiert ist und auf individueller, medizinischer und wissenschaftlicher Autonomie basiert. Verglichen mit dem christlichen Westen und dem muslimisch geprägten Mittleren Osten wäre die Türkei „einzigartig“ als demokratisch-säkularer und moderner Staat: „Wir regulieren unabhängig von unseren religiösen Glaubenssystemen (yani biz inanç sistemlerinden bağımsız bir yasal düzenlemeler yapıyoruz).“ Auch mein Interviewpartner Dr. Tavmergen, der damals die IVF-Technologie von Deutschland in die Türkei transferierte, argumentiert ähnlich. Für ihn ist die Regulation durch die Religion nicht unbedingt beeinträchtigt. Die sunnitisch-muslimische Sichtweise von Diyanet herrscht nach wie vor, diese wäre aber „wenig restriktiv“, sagt er. Weiter konstatiert er: „Die stärkste und konsequente Restriktion ist, dass die Zellen den amtlich verheirateten Paaren gehören sollen. Ansonsten können wir so alles wie wir es wollen hier in der Türkei praktizieren.“ Dr. Muhlis Akar, der damalige Vertreter des Ethikrates in Diyanet, spricht auch von einer „globalen Betrachtungsweise“ des türkisch-sunnitischen Islams. Vorausgesetzt wird die Vereinbarkeit jeglicher Praxen mit den religiösen Prinzipien. Diyanet hat keine regulative Befugnis und auch – zumindest zum Zeitpunkt des Interviews – keinen direkten Sitz in den Wissenschafts- und Ethi-
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kräten. Doch die religiöse Autorität gilt generell in Form von Fatwas8 und einer Rechtsauffassung, die die religiöse Handhabe der Problemlagen schildert, welche im Koran nicht geregelt sind. Dazu gehören insbesondere Themen der Biomedizin und der Bioethik. Aus einem religiösen Blickwinkel erklärt Dr. Akar: „Kinderlosigkeit ist ein Ermessen Gottes. Auf Behandlungsmethoden zurückzugreifen und dadurch Kinder zu bekommen, wird wie die Behandlung einer normalen Krankheit beurteilt. Hier ist in religiöser Hinsicht kein Problem vorhanden. Wir betrachten es global. Wir bleiben offen gegenüber wissenschaftlichen Entwicklungen. Aber wie unterschiedlich die Entwicklungen auch sind, werden die Angelegenheiten aus der Perspektive der allgemeinen Prinzipien des Islams betrachtet. Die Antworten, die wir geben, sind allerdings nicht bindend, sie hängen von der Entscheidung der Individuen ab – wir beantworten die religiösen Fragen, die uns gestellt werden. Ob sie es praktizieren oder nicht praktizieren, entscheiden die Individuen oder Institutionen.“
Nach den islamischen Prinzipien gehe es bei diesen Behandlungsmöglichkeiten darum, den „legitimen (meşru) Wegen“ der Zeugung und Familiengründung zu folgen. Solange Blutsverwandtschaft „neshep und soy bağı geschützt werden“, wird sogar eine gezielte medizinische Behandlung nahegelegt. Diverse andere Optionen seien „nicht nur haram [islamrechtlich verboten], sondern eine soziale Katastrophe“. Die moralischen Streitigkeiten liegen genau darin und laufen entlang einer fiktiven Angst vor einer „Degeneration“ der Familie und des neshep, dem Verlust der Abstammung und der verwandtschaftlichen Bindung. Dabei wird Kindesbindung nach § 285 des türkischen Zivilrechtes gesetzlich durch die Ehe gesichert. Hier heißt es, dass, wenn ein Kind in ehelichen Verhältnissen auf die Welt kommt, die Ehepartner*innen als Mutter und Vater anzuerkennen sind. Dieses Gesetz priorisiert also weder die genetische Abstammung noch die Blutsbindungen (Kırkbeşoğlu 2006). Vor diesem Hintergrund verbirgt sich in der kulturell erklärten Angemessenheit die bio-subpolitische Tragweite dieser Technologien. Es ist ein umkämpftes Feld von vielen Komponenten. Besonders wirksam sind die flüchtigen Vermittlungen zwischen klinisch-medizinischen Settings, den Mikro-Welten des Alltags und des Aktivismus. Die betroffenen Individuen erbringen die Kontextualisierungsarbeit an ihren gewünschten Reproduktionsbiografien. Dabei entstehen 8
Eine Fatwa ist eine auf Anfrage erteilte Rechtsauskunft des Amtes bzw. der islamischen Gelehrten. Diese klären in der Regel ein religiöses oder rechtliches Problem aus der Sicht des Islams. In einer Form von ‚Der Islam bzw. der Koran sagt‘ werden die religiös-moralischen Normen erklärt und den Gläubigen Verhaltensmuster nahegelegt. Diese fußen auf den lokalen Interpretationen des Islams (für eine Diskussion unterschiedlicher Interpretationen siehe Inhorn 2006).
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neue Problem- und Handlungsfelder, die noch zu erforschen sind. Diese zeigen, wie die Nutzer*innen und Patient*innen sich selbst und ihr Wissen wiederum in die Politiken, Regulationen, Beziehungen und Verständnisse zurückspeisen und diese gegebenenfalls auf eine neue Art und Weise miteinander verflechten. Das reproduktionsmedizinische Feld ist also durchaus von bio-subpolitischer Wissensarbeit aufseiten der betroffenen Individuen und Gruppen geprägt. Hier zeigt sich eine Forschungslücke, global wie lokal, in kulturell wie politisch heterogenen Gesellschaften – wie der Türkei. Warum und worin die Forschungslücke und empirische Auslassung besteht, in die ich vorstoßen möchte, stellt die folgende Bestandsaufnahme dar.
1.2 FORSCHUNGSDESIDERATE: BLINDE FLECKEN – EMPIRISCHE LÜCKEN Reproduktionstechnologien sind laut Stefan Beck eine „Versuchsanordnung“ (2012: 363), die neue Subjektivitäten, Moralitäten, soziale Obligationen und Beziehungen außerhalb der klinisch-medizinischen Settings erzeugt. Für die folgende Diskussion ist diese Versuchsanordnung auf zweierlei Arten signifikant. Erstens können diese Anordnungen als Folge einer Tendenz angesehen werden, wobei die Grenzen zwischen dem Inneren der Biomedizin und der politisch-moralisch heterogenen, unordentlichen Außenwelt durchdringbar wurden (Berg/ Mol 1998, Georges 2008, Dilger/Hadolt 2010). Zweitens, stehen sie dafür, dass sich die räumlichen und biopolitischen Arrangements zwischen Staatsmacht, neoliberalen Märkten und individuellen Strategien im Kontext der Reproduktion verschoben haben. Es sind Formationen, die jenseits der klinisch-medizinischen und staatlichen Handlungs- und Machtfelder entstehen und die, absichtlich oder nicht, sich über die altbekannten, staatszentrierten Biopolitiken und biomedizinischen Mächte hinwegsetzen mögen. Die zivilgesellschaftliche Landschaft zählt schlichtweg zu dieser Versuchsanordnung. Trotz der bislang weit aufgefächerten Studien blieb die Rolle des Aktivismus und des Engagements auf seitens der betroffenen Individuen untererforscht. Wir verfügen bislang weltweit über begrenztes Wissen darüber, wie die Gruppen entstehen und kontextuell unterschiedlich agieren und auch wie sie auf die Gesellschaften einwirken, in denen sie aktiv sind. Weiterhin bestehen kaum ethnografisch fundierte Daten, wie sie damit biopolitische und biosoziale Veränderungen vorantreiben. Im Folgenden werde ich die blinden Flecken markieren und versuchen, empirische Auslassungen zu deuten. Ich werde diskutieren, inwieweit diese Forschungslücke von sozial- und kulturanthropologischer Bedeutung ist. In
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einer der frühesten IVF-Forschungen stellt die Medizinanthropologin Gay Becker ein grundsätzliches Unbehagen fest: „Social scientists then believed, and still believe, that self-help groups [und Aktivismus, NP] develop and reflect a particular perspective, one that is not necessarily shared by everyone who shares the problem [...] to study one may lead to an exclusive focus“ (Becker 2000: 103). Es existieren daher innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie nur relativ wenige Informationen zu Formen und Funktionen der Selbsthilfegruppen und aktivistischen Gruppen, da dieses Unbehagen auch Einfluss auf die Forschungsinteressen hat. Diese wurden zwar als quasi Mit-Gestalter eines kollektiven Bewusstseins anerkannt, ihre Rolle wurde jedoch häufig auf die gegenseitige Hilfe für emotionelle und psycho-soziale Probleme reduziert. Die vielfältigen Funktionen und Effekte wurden bislang kaum breit, differenziert und in ethnografischer Dichte analysiert. Ein derartiges Unbehagen war auch im Laufe meiner Forschung relevant. Bereits im Vorfeld des Feldeinstiegs stellte es sich als ein Problem der Partikularität bzw. der Ein- und Abgrenzung dar. In unterschiedlichen Phasen der Forschung, später auch beim Writing-Up, habe ich es in die Analyse mit einbezogen. Ich nutzte den exklusiven Fokus allerdings für einen Perspektivenwechsel auf das umkämpfte Feld der Reproduktionsmedizin. Die bereits existierenden Studien boten einen Zugriff darauf an, wenngleich in relativ kleinen Umfängen, wie die Selbsthilfegruppen und der exzessive Aktivismus in diesem Bereich als ein Anzeichen sozialer und biopolitischer Transformationen in den von der Technologie und Reproduktionsmedizin durchdrungenen Gesellschaften zu verstehen sind. Relativ früh analysierten beispielsweise Gay Becker und später Charis Thompson solche Transformationen im US-amerikanischen Kontext. Sie untersuchten den Aufstieg des biomedizinischen Aktivismus, der seit der zweiten Hälfte der 70er-Jahre aufstieg am Beispiel der weltweit ersten Selbsthilfegruppe, der US-amerikanischen RESOLVE. Ihre Perspektiven helfen, dieses gewisse Unbehagen der Ethnografien mit solchen partikularistischen Kontexten umzudrehen. Sie holen, je unterschiedlich, die aktivistischen und selbsthelferischen Gruppen aus der Position eines Sonderfalls heraus. Becker plädiert dafür, solche Formationen und Selbsthilfekontexte in der Analyse der gesellschaftlichen Transformation ernst zu nehmen. Sie zeigte, dass diese bereits sehr früh mehr als ein emotional befähigendes Umfeld für die reproduktionsbiografischen Offenbarungen darstellten. Sie reiben sich eher an den Normalitätsvorstellungen und an der heteronormativen und moralischen Gesellschaftsordnung. Und sie setzen sich mit den individuellen und gesellschaftlichen Belangen auseinander. Indem sie bislang quasi unsichtbare reproduktive Problemlagen, Erfahrungen und Kör-
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per sichtbar machen, üben sie eine grundsätzliche Kritik daran. Sie fokussieren auf und stehen für eine bestimmte, konsumeristische Perspektive auf das Feld der Reproduktionsmedizin. Sofern sind sie politisch, weil sie Strategien des „taking action“ (Becker 2000) gestalten, individuelle Wissenspraktiken beeinflussen und viel breiter in die Reproduktionspolitiken, Behandlungs- und Reproduktionsregime eingreifen. Derartiger Aktivismus avancierte relativ früh in den euro-amerikanischen Kontexten als ‚Verbündete‘ einer heterogenen Allianz zwischen IVF- und Pharmaindustrie, Infertilitätsnetzwerken und Mediziner*innen und Fachverbänden. Seither leistet dieser Aktivismus quasi eine Beihilfe zur Medikalisierung der Reproduktion und hilft dadurch die Reproduktionsmedizin marktförmig zu machen. Er adressiert zudem viel breitere politische Themen wie Gesundheit und Sorge, Familienbildung, reproduktive Wahl und die damit zusammenhängenden Rechte (Franklin 1999, Strathern 1999). Gerade deshalb seien die Selbsthilfegruppen Teil der zunehmend bedeutsamen Sozialbewegungen, die zu sozialen Wandlungsprozessen beisteuern. Einige Jahre nach Beckers Studie beschrieb Charis Thompson (2005) den „ART-Aktivismus“. Thompson zeigte das Involvement dieser partikularen Aktivist*innen-Szene in der Etablierung diskursiver, regulativ-praktischer und ethischer Rahmung dieser Technologien. Diese Szene hatte bei ihren Aktionsformen und ihrem Umfang deutliche Ähnlichkeiten mit dem damals in den USA starken „biomedizinischen Aktivismus“, der sich um die Themen der Biomedizin, Technologien und Wissenschaft kümmerte. Thompson stellt viele deutliche Ähnlichkeiten, vor allem mit der damaligen AIDS-Bewegung, fest, die von Steven Epstein untersucht wurde. Der Aktivismus im Bereich von Reproduktionstechnologien habe die Medikalisierung der Reproduktion mit „motherly activism“ verbunden und kolonisierte auch gemeinsam mit unterschiedlichen Akteure die damalige Wissenslücke (ebd.: 239). Im Kontrast zu damals feministischen Frauenbewegungen und Theorien verhielt sich diese Art des Aktivismus der Medikalisierung gegenüber kaum antagonistisch. Eher im Gegenteil. So ging bzw. geht immer noch die Politisierung der Mutterschaft und der Reproduktionsbiografien mit dem medizinischen Monopol der IVF-Industrie Hand in Hand. In den USA wie anderswo trug und trägt noch der Aktivismus zu einer lokal anpassbaren und sozial akzeptablen Normalisierung dieser Technologien bei. Er verhilft auch zu ihrer Marktförmigkeit. Thompson argumentiert daher mit Recht, „political action needed to be embedded within a greater level of context specificity“ (ebd.: 72). Ich fokussierte mich darauf, wie und inwiefern die individuell-familiären Themen und Belange politisiert werden. Welche historischen, biopolitischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse werden hierfür vorausgesetzt und bewegt? Empirisch noch offene Fragen sind etwa, unter welchen Bedingungen Ansprüche
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an die Staaten für biosoziale Problemlagen wie Infertilität gestellt werden und wie Menschen sich als eine Gruppe von Betroffenen definieren sowie schließlich nach Anerkennung streben? Worauf basieren derartige Tendenzen, insbesondere in nicht-euro-amerikanischen und patriarchal anders geprägten Kontexten, und wodurch werden sie eingeschränkt? Unter Rückgriff auf diverse Forschungsansätze und den aktuellen Forschungsstand werde ich im Folgenden einige Aspekte diskutieren. Reproduktionsregime: von Körpern, Technologien und Wissenspraktiken Frauen und Männer sind weder bloß Diagnoseträger*innen biomedizinischer Kategorien noch agieren sie als passiv medikalisierte Subjekte. Sie orientieren sich neu in den als Schlagwort geltenden Medikalisierungsprozessen (Conrad 2007), weil sie aufgefordert werden, sich als ausreichend selbstreflexive, verantwortliche und ermächtigte Subjekte in die Behandlungsregime zur Erfüllung des eigenen Kinderwunsches einzubringen. Die feministische Sozial- und Kulturanthropologie sowie Wissenschaft- und Technologieforschung (STS) betonten bereits die pionierhaften, flexiblen und pragmatischen Umgangs- und Wissenspraktiken der Frauen im Bereich der Biomedizin (Franklin 1997, Lock/Kaufert 1998, Rapp 1999). Gegen klassische Paradigmen der Medikalisierung erwogen diese die individuell-moralischen und sozio-kulturellen Dilemmata, ebenso wie eine reflexive „Willfährigkeit“ (Abel/Browner 1998) im Umgang mit der Medizin. Ohne die macht- und genderpolitischen Effekte der Medikalisierung auszublenden, wurden die moralisch-kulturellen Komplexitäten der Subjektpositionen, der Handlungs- und Deutungspraktiken und unterschiedliche Dimensionen der „Stratifikation“ theoretisiert. 9 Gezeigt wurde besonders, wie unterschiedlich Menschen sich in komplexen Reproduktionsregimen bewegen und sich als bewusste und selbstverantwortliche (Wissens-)Akteur*innen positionieren. Knecht und Hess (2008) argumentierten beispielsweise mit Recht, dass Frauen nicht „von der Medizin bevormundete Leidensfiguren“ sind. Ihre Perspektive auf die Medikalisierungskritik der feministischen Studien richtete sich auch auf die simplen machttheoretischen Reduktionismen sozialwissenschaftlicher Analysen. Die beiden Autorinnen zeigten empirisch, wie Frauen und Männer „ganz unterschiedliche Projekte der Reproduktion, der Biografisierung und der Beziehungsarbeit verfolgen“ und als „aktive, wissende, resolute“ Individuen agieren kön-
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Für eine ausführliche Diskussion zu den feministischen Positionen siehe: „Verkörperte Technik – entkörperte Frau“ von Sigrid Graumann und Ingrid Schneider (2003) sowie auch „Fertile Grounds: Feminists Theorize Infertility“ von Charis Thompson (2002).
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nen. Sie sind, so Thompson, „intimately connected with, critical of, informed about, and committed to the technologies“ (2005: 16). Ihr Mit-Machen ist dennoch durch vielfältige und auch ambivalente Prozesse, Praktiken und Rationalitäten mit der Nutzung der Reproduktionstechnologien verbunden. Sie setzen sich mit den moralisch hochgradig komplexen – auch umstrittenen – Fragen der techno-wissenschaftlichen Interventionen auseinander. Meist sind sie tagtäglich – neben individuellen Verwirrungen und Unsicherheiten – auch mit gesellschaftlichen Legitimations- und Begründungszwängen konfrontiert. Diese sind hochgradig mit den lokal situierten Antworten auf die reproduktionsmedizinischen Technologien verwoben. Viele übernehmen die Position der „moral pioneers“, wie Rayna Rapp (1987) in ihrer Ethnografie zu Reproduktionstechnologien und pränataler Diagnostik (Amniozentese) darstellte. Das Private bzw. was als privat gilt, transformiert sich und wird zum moralischen Wegweiser im Zusammenhang mit Entscheidungszwängen und gesellschaftlichen Irritationen, die Reproduktionsmedizin hervorbringen (Rapp 1999). Ihre privaten Entscheidungen und Erfahrungen verwandeln sich in die kontrovers diskutierten Themen und adressieren Ideologien der kulturell-sozialen und politisch-moralischen Ordnungen der (Ab-)Normalität (Lock 2000). Oft geht das über ihre individuellen, mehr oder weniger heroischen und einzelgängerischen Kämpfe hinaus. Frauen und Männer positionieren sich, wie ich in dieser Studie zu zeigen hoffe, als Träger*innen und Pionier*innen sozialen Wandels, der durch einen Übergang von Medikalisierung zur Moralisierung des gesundheitsbezogenen Handelns gekennzeichnet ist. Intendiert oder unintendiert agieren sie als Mitstreiter*innen. In diesem Feld entsteht eine partikulare Beziehung zwischen subjektiven, populär-medialen und professionellen Diskursen, Logiken und Imperativen, die die Erfahrungen von Frauen und Männern prägen. Auch ein Zusammenwirken, von medizinisch, sozial-kulturell, individuell-privat umkämpften Deutungen von Natürlichkeit, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von Normalität und Regulierung von Privatheit, wird sichtbar gemacht. Um ihre Biografie- und Wissensarbeit zu navigieren, verhalten Frauen und Männer sich reflexiv partizipatorisch und antizipatorisch gegenüber der versprechenden und monopolistischen Kultur und Ökonomie der Reproduktion (Thompson 2005, Adams et al. 2009). Die Grenzen der bislang dichotom aufgefassten Grenzverhältnisse zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Natur und Kultur sowie zwischen Lokalität und Globalität verwischen. Dadurch werden die Linien von Körpern, Wissen, Politiken und Ontologien erodiert, also nicht nur permanent geschwächt, sondern zugleich neu ausgehandelt. Dies erzeugt kontextualisierte Verständnisse von Reproduktion, Familie und Privatheit, aber auch verkörperlichte und biografiebezogene Praktiken vom Selbst, von Handlungs- und Deu-
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tungsfähigkeit und Subjektivität. Frauen und Männer schlagen, wie die Protagonist*innen in meiner Studie, neue Umgangs- und Wissenswege ein. Erforderlich ist also eine stärker relationale und prozessuale Sicht auf das Handlungsfeld Medizin und Biotechnologie. Hier verändern sich die Verhältnisse nicht ‚von oben‘ herab. Sie entstehen eher in der Produktion von neuen sozialen Formen, die bestimmte Grenzen permanent erodieren bzw. Verhältnisse rekonfigurieren. Hinzu kommen gesellschaftliche Differenzierungen und komplexe Machtverhältnisse, die um die Wissens- und Identitätspolitiken herum wirksam sind. Letztere adressieren besonders in den feministischen STS-Studien unmittelbar die Wege der (situierten) Wissensproduktion, die von den gelebten Erfahrungen, situierten Subjektpositionen und Wissen sowie auch jenseits kulturell tradierter Identitätspolitiken herrühren (Haraway 1988). Um mit Medizinsoziologin Adele Clarke und Ko-Autorinnen zu argumentieren, es entstehen: „new forms of agency, empowerment, confusion, resistance, responsibility, docility, subjugation, citizenship, subjectivity, and morality [...] new sites of negotiation, percolations of power, alleviations as well as instigations of suffering, and the emergence of heretofore subjugated knowledges and new social and cultural forms.“ (2010: 85)
Aktivismus und Selbsthilfegruppen sind derweil die Schlüsselakteure. Im Feld der Reproduktionsmedizin beteiligen sie sich als Mitgestalter von Behandlungsregimen. Neben den „institutionellen Eliten“10 (beispielsweise Mediziner*innen, Bioethiker*innen, Regulator*innen der Pharmaindustrie und Kliniken) treten sie also auch in dieses umkämpfte Feld ein. Ob sie zu den ‚Grassroots‘-Formationen zählen, ist höchst fraglich. Doch sie können als ‚periphere‘ Wissensakteure verstanden werden. In den globalen „scapes“11 der Reproduktionsmedizin werden sie einflussreich, da sie über die nationalen Relationen hinweggehen und neue Formationen stiften (siehe Kapitel 6.2). Diese sind von Wissens-MachtVerhältnissen durchdrungen und hochgradig stratifiziert. Hinzu kommen gesellschaftliche Differenzierungen und komplexe Machtverhältnisse, die um die Wis10 Dieser Begriff wird hier in Anlehnung an Vololona Rabeharisoa (2008b) verwendet. 11 Scapes, im Sinne von Arjun Appadurai, akzentuieren globale Flüsse von Akteur*innen, Technologien, Ideen, Gruppen, Muster und Formen. Für ihn sind diese „deeply perspectival constructs, inflected by the historical, linguistic, and political situatedness of different sorts of actors [...] [they] are eventually navigated by agents who both experience and constitute larger formations, in part form their own sense of what these landscapes offer“ (1996: 33). Im Zeitalter transnationaler Vernetzung umfassen „scapes“ also all jene Praktiken von Akteur*innen und Gruppen, die simultan grenzüberschreitende Formationen bilden, über Differenzen hinweg und Ähnlichkeiten entlang soziale Beziehungen und (biosoziale) Allianzen kreieren und diese permanent aus(ver)handeln.
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sens- und Identitätspolitiken herum wirksam sind. Letztere adressieren besonders in den feministischen STS-Studien unmittelbar die Wege der (situierten) Wissensproduktion, die von den gelebten Erfahrungen, situierten Subjektpositionen und deren Wissen sowie auch jenseits kulturell tradierter Identitätspolitiken herrühren (Haraway 1988). Es sind die identitätsstiftenden Praktiken und Beziehungen im biomedizinischen und alltagsweltlichen Handlungs- und Erfahrungsfeld. Im Folgenden werde ich die Perspektiven auf die neu entstehenden, teils auch identitätsstiftenden Praktiken und Beziehungen im biomedizinischen und alltagsweltlichen Handlungs- und Erfahrungsfeld diskutieren.
1.3 ETHNOGRAFIE DER SCHNITTFELDER: PERSPEKTIVEN, BEZÜGE, UMSTÄNDE Der Wandel in den spätmodernen Gesellschaften ist der gegenseitigen Durchdringung wissenschaftlicher und sozialer Praxen geschuldet (Beck 1993, S. Beck 2003), denn der Umgang mit Wissenschaft und Technologien ändert sich rasant (Gibbons et al. 1994, Nowotny et al. 2001). Das Engagement auf Seiten der Laien hat bereits gewisse ko-produktive Folgen (Jasanoff 2004). Das Feld der Reproduktionsmedizin gehört längst zu den Feldern, in denen „society speaks back“ gilt. Eine Society, die also ihr Wissen, ihre Perspektiven und Erfahrungen zurück speist (Nowotny 2005: 3, Strathern 2005).12 Nachdem ich den ethnografischen Kontext in Kapitel 1.1 darstellte, widme ich mich hier dieser Wechselwirkungen. Ziel ist es, analytische Perspektiven auf die (Trans-)Formationen im Schnittfeld der Reproduktionsmedizin mit dem Alltag zu präzisieren. Mit Zugriff auf die bereits existierenden Ansätze diskutiere ich, wie in diesem Wissenschaft und Gesellschaft verbindenden Terrain gegenwärtig unterschiedliche Akteur*innen, Wissensformen, Technologien, Politiken und Belange aufeinandertreffen.
12 Unter dem Begriff „Public Understanding of Science“ haben Michel Gibbons, Peter Scott und Helga Nowotny eine radikale Transformation und neue Paradigmen der Wissensproduktion in gegenwärtigen Gesellschaften diagnostiziert. Diese beschreiben sie in zwei Modi. Modus I definiert die traditionelle Gesellschaft, in der sich die Wissenschaft „external“ und die wissenschaftliche Expertise autoritär positionierte. Im Modus II sind die techno-wissenschaftlichen Erkenntnisse sozial „embedded“ und es lassen sich neue hybride Formen der Interaktionen zwischen wissenschaftlichen und sozialen Akteur*innen beobachten.
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Aktivismus als Entanglements: Selbst, Selbsthilfe, Befürwortung Aktivismus wird unter den von Michel Foucault geprägten Begriffen der Biopolitik und Biomacht aufgegriffen. Die sich selbst aktivierenden Praktiken der Bürger*innen und Patient*innen zeigen unter diesem Gesichtspunkt die Wahrheits-, Deutungs- und Handlungsansprüche auf die Selbstverständnisse, Körper und Sozialitätsformen. Wie im Begriff „aktiver Bürgerschaft“ (vgl. Petryna 2004, Rose/Novas 2005, Rose 2007b) implizit, handelt es sich um den Akt über sich Selbst, Körper und Wissen. Im Sinne von Foucault (1988) öffnen sich Machtund Möglichkeitsfelder für „ein Handeln auf Handlungen“ (Engelmann 1999: 193). Eng verknüpft sind diese also mit den Mutationen in den gegenwärtigen Aktivismuskulturen und den „regimes of the self“ (Rose 1999: 213), die neue „Biopolitiken“13 (Rabinow/Rose 2006) hervorbringen. Darunter wird eine Reihe von (Trans-)Formationen subsumiert. Zum einen geht es um biopolitische Grenzüberschreitungen (Wehling et al. 2007), zum anderen um die Herausbildung von biomedizinischen Identitäten und Sozialitäten. Neue Studien erweitern die Foucault’schen Werkzeugkisten und diskutieren Biopolitiken im Spannungsfeld von Normalisierung, (Bio-)Medikalisierung und Aktivismus. Der Selbsthilfekontext zählt in dieser Hinsicht zu den „neuen Apparaten“, um individuelle Praktiken in den Nexus zwischen Biomacht, Medikalisierung und Governementalität zu integrieren. Unter unterschiedlichen Begriffen wurde die Art der Selbstaktivierung als „agentive modes of being biosocial“ (Gibbon/Novas 2008: 7) definiert. Analysiert wurde, wie neue Formen und Konstellationen sozialer Beziehungen, Identitätspolitiken, Vergemeinschaftungsformen und Repräsentationsmodi auf der Grundlage biomedizinischen Wissens und der Praxis entstehen. Bei Rabinow (2004) war es eine handlungs-, identitätsund sozialitätsformende Funktion des biomedizinischen Wissens und der damit einhergehenden Klassifikationen. Vor diesem Hintergrund beschrieb er den Be-
13 Der Begriff Biopolitik von Michel Foucault bezeichnet die „auf das Leben gerichteten Machttechnologien“, deren logische Folge die „Normalisierungsgesellschaft“ ist. Neue Studien erweitern die beiden Konzepte und diskutieren Biopolitik im Spannungsfeld von Normalisierung, (Bio-)Medikalisierung und Aktivismus. Mit Hardt und Negri (1997) argumentiert, ist dies eine Machtform, „die das soziale Leben von innen heraus Regeln unterwirft, es verfolgt, interpretiert, absorbiert, und schließlich neu artikuliert“ (Lemke 2002: 38).
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griff „Biosozialität“14, den er später revidierte. Auch „biocitizenship“ (Rose 2007b)15 gehört zu den zentralen, häufig rezipierten Konzepten bei der Analyse dieses spezifischen Modus des Handelns im Schnittfeld von Medizin, Staat und Gesellschaft (Lemke 2015). Die beiden Konzepte verweisen auf neue Konfigurationen zwischen Wissen, Macht und Subjektivität (Rabinow/Rose 2006: 213). Ausgehend von der früheren Prognose des Kulturanthropologen Rabinow identifizierten Kultur- und Sozialanthropolog*innen hierbei die neuartigen und über das Soziale hinausgehenden Bindungs- und Solidaritätsvorstellungen und analysierten, was die neuen Konfigurationen in der wissenschaftlichen und alltäglichen Praxis hervorrufen. Ursprünglich stellt dieser Terminus die herkömmlichen und konventionellen Grenzen der Natur und Kultur infrage, prophezeit aber zugleich eine soziale Neuordnung. Zum einen wurden die Rückkopplungsschleifen, die Ian Hacking (2000) als „looping effects“ bezeichnete, der medizinischen Klassifikationen auf die Handlungs- und Deutungspraktiken hervorgehoben. Zum anderen wurde analysiert, wie „ein Bezug auf gemeinsame biologische Merkmale konstitutiv ist“ (Lemke 2013: 26), den unterschiedlichste Formationen rund um und infolge von biomedikalisierten Subjektivitäten und Identitäten (Gibbon/Novas 2008) hervorbringen. Diese analytische Perspektive läuft Gefahr, biomedizinisches und techno-wissenschaftliches Wissen als „Klebstoff“ für jegliche entstehende Solidaritätsbeziehungen von medizinischen Rezipienten zu identifizieren und diese dann in ihrer sozio-kulturellen Reichweite einzuschränken und zu „provinzialisieren“ (Roberts 2008: 94, [Herv. i. O.]). Stefan Beck kritisiert mit Recht, dass diese Perspektive, eine „simple Dreiecks-Konstellation: 14 Ursprünglich wurde der Begriff „Biosozialität“ in Bezug auf die potenziellen Implikationen von Biotechnologien und genetischem Wissen, besonders der „Human Genome Initiative“, genutzt. Er wurde mehrfach unter dem Aspekt der Handelnden rezipiert, der auf der Basis seiner*ihrer mikrobiologischen Merkmale auf sich Selbst und auch auf die Gesellschaftsordnung reagiert und daraus neue Formen der Subjektivierung und der Identifizierung ableitet. Nicht zwangsläufig doch, so prophezeite etwa Rabinow, werden neue Anforderungen nach mehr Diversifizierung auf den mikrobiologischen Klassifikationen und Codes entstehen und sich daher neue Gruppen bilden. Auch nach der Revidierung wird der Begriff in den neueren Studien mit Verweis auf die technowissenschaftlichen und biopolitischen Wandelprozesse genutzt. 15 Die an Rabinow und später Rose anschließende Literatur fokussierte sich auf neue Formen der Sozialität, Bürger*innenmodelle, Identitätspolitiken und auf biomedikale Modi des politischen Aktivismus der Selbsthilfe- und advokatorischen Patient*innengruppen. Es entstanden Begriffe wie „biological citizenship“ (Petryna 2004, Rose/ Novas 2005), „genetic citizenship“ (Heath et al. 2008), „therapeutic citizenship“ (Nguyen 2010) und „biopolitical citizenship“ (Epstein 2007), die analysierten, wie das Wissen soziale, biopolitische und moralische Prozesse herbeiführt und neue Beziehungen zum Selbst und zu anderen Betroffenen wie auch gegenüber dem Staat erzeugt und via Ausverhandlungen mit geteilten Erfahrungen neue Sozialitäts-, Kollektivitätsund Aktivismus-Formen entstehen.
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neues biomedizinisches Wissen erzeugt neue Identitäten und diese wiederum neue Formen von Solidarität“ (2011: 61), voraussetzt. Eine Ausdehnung einer (absolut erscheinenden) Biomacht wird hier oft als gegeben angenommen (Raman/Tutton 2010), die die Alltagsakteur*innen kaum fähig scheinen zu durchbrechen. Biomacht und -politiken als „allumfassende“ Begriffe laufen Gefahr, dass sie „am Ende die Komplexität des Sozialen einebnen“, anstatt sie zu analysieren (Illouz 2009: 14). Die Forscher*innen anderer kultureller Kontexte plädierten bereits für eine ethnografisch geleitete und viel differenziertere Perspektive darauf, wie sich die damit assoziierten Eigenschaften als Modell für die neoliberale Bürger*innenschaft etablierten – oder nicht. Mit anderen Worten stellen sich die Fragen: welche Dynamiken sollen für eine derartige Politisierung lokaler Biologien und der bislang stigmatisierten Reproduktionsbiografien zusammenkommen? Sind diese etwa von Kontext zu Kontext übertragbar? Inwieweit variieren diese innerhalb der gleichen nationalstaatlichen Grenzen und zeitlich? Zu guter Letzt: Entstehen die Ansprüche durch die Globalisierung bestimmter Wissensinhalte und Diskurse automatisch? Veena Das (2001) verneint die letzte Frage. Nicht die Übertragbarkeit der Konzepte vom Selbst, sondern die simplifizierenden Perspektiven auf die Umstände stellt sie zur Diskussion. Ihre Kritik richtet sich an die simplen Universalismen, die ein Subjekt voraussetzen, das in den historischen und kontextuellen Bedingungen eingebettet sei. Zugespitzt behauptet sie, dass das Individuum als ein „subject of a liberal political regime“ nicht universal sei. Sie plädiert für eine – postkoloniale und nicht-westliche – Perspektive auf das Individuum, die Konzepte wie Biosozialität (im Sinne von Rabinow’s Konzept geprägten Analysen) in ihrem Fundament und ihrer Manifestation zur Diskussion stellen. Sie hebt beispielsweise ein ausgeprägtes Fehlen von Sozialkapital „to engage with state and science“ und „for dealing with biological conditions“ hervor (Das 2001: 2, siehe auch Roberts 2008). Die stigmatisierten biosozialen Zustände gelten als Angelegenheiten von „connected body-selves“ (Das 2001). Sie bleiben in der familiären und verwandtschaftlichen Sphäre. Gerade diese Art von Konnektivität ist es, welche das Biosoziale in diesen Kontexten ausmacht. Selbsthilfe und biosoziale Gruppierungen würden eine völlig andere und biomoralische Form vom vernetzten Körper-Selbst voraussetzen. Darauf aufbauend wurde das Fehlen solcher Gruppenformationen in der Forschungsliteratur als signifikantes Merkmal angesehen. Diese hat allerdings, im Westen wie im Nicht-Westen, kulturell begründete Widerstände, klassenspezifische Differenzen und global-lokale Stratifikationen gekennzeichnet (vgl. u.a. Ginsburg/Rapp 1995, Inhorn 2007, Rapp 2011). Zu beachten ist auch, wie sich die Differenzen in Selbst- und Bemächtigungspraktiken mit den substanziell lo-
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kal gebundenen Effekten der patriarchalen und pronatalistischen Gesellschaftsund paternalistischen Medizinstrukturen überschneiden.16 Die Sozialanthropologin Marcia C. Inhorn (2003) behauptete, dass es in Ägypten aufgrund der Stigmatisierung der Infertilität unmöglich oder höchstens begrenzt denkbar sei, in Selbsthilfegruppen Hilfe zu suchen. Dies würde nämlich bedeuten, mit solch intimsten Anliegen bzw. Stigma in die Öffentlichkeit zu gehen. Für sie, wie auch für einige andere Ethnograf*innen, sind Selbsthilfe und Aktivismus westliche (und nicht unbedingt globale) Phänomene. Sowohl Aditya Bharadwaj (2008) mit seiner Studie in Indien als auch Elizabeth Roberts (2008) im ecuadorianischen IVF-Kontext merken diese „Absenz“ als eine Evidenz an. In Anlehnung an Veena Das geht es den beiden Autor*innen um die Unterschiede zwischen den postkolonialen Kontexten und den durchindividualisierten Industrieländern des neoliberalen Westens. Besonders die Verständnisse vom Selbst und von der Sozialität liegen hier zugrunde, wie auf Infertilität und Reproduktionsschwierigkeiten bezogene Wissenspraktiken und Identitäten geformt bzw. privat und – wenn überhaupt – öffentlich ausgelebt werden können. In diesen Kontexten bestehe keine Suche nach biosozialer Identifizierung auf der Grundlage der gemeinsamen Gesundheitszustände, wie einst das Rabinowische Konzept der Biosozialität konstatierte. Dafür seien nämlich gewisse historisch wie gesellschaftlich ausgeprägte Notionen über das Selbst, als autonom handelndes Individuum in den entsprechenden Sozialbeziehungen vorauszusetzen, die eine derartige Suche erst ermöglichen. Ebenfalls sei eine Staatlichkeit erforderlich, die eine eigenständige Zivilgesellschaft zulässt und im Idealfall fördert, bürgerliche Autonomie garantiert und individuell-familiäre Selbstbestimmung im Falle der Reproduktion unterstützt. Zu zeigen sind die konstitutiven Reibungen zwischen biomedizinischer und biosozialer Normalisierung, steigendem Individualismus und neuer auf einer Mischung von auf Biologischem und Sozialem basierenden Relationen. Die individuellen Ambitionen und sozio-politischen Ursachen bei der Suche nach sozio-körperlich geteilten Erfahrungen mit Biomedizin und -technologien sind vielfältig. Die daraus resultierenden Gruppen stellen analytische und empirische Fälle für die Analyse der vielschichtigen Verschiebungen in den sich re-konfigurierten und neoliberalen Gesellschaften dar. 16 Einen umfassenden Überblickstext zu den angelsächsischen und europäischen Selbsthilfe- und Patient*innengruppen gibt es nicht. In den USA wurde RESOLVE als weltweit erste Organisation im Jahr 1974 und zwei Jahre später CHILD in Großbritannien gegründet. Nach der relativ raschen Proliferation von reproduktiven Technologien wurden die lokalen und nationalen Selbsthilfe- und advokatorischen Organisationen relativ zeitnah gegründet, beispielsweise in den Niederlanden (1985), Kanada (1987), Australien (1987), Frankreich (1988), Neuseeland (1989) und in der ersten Hälfte der 90er-Jahre in Deutschland (1995), Italien (1995), Irland (1996) und Israel (1998) (vgl. Inhorn 2003).
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Der türkische Kontext befindet sich hier in einem Zwiespalt. Historisch sind Staats-Gesellschafts-Verhältnisse durch eine autoritäre Staatsräson geprägt. Dieses initiierte, wie oft in der sozialwissenschaftlichen Literatur erläutert, einen Aufbau der modernen Gesellschaft ‚von oben‘ nach dem westlich-säkularen, modernistischen und progressiven Modell. Das Motto: „The citizen precedes the individual“ (Kadıoğlu 2005: 106) sei auch im Medizin- und Gesundheitsbereich einflussreich. Bis hin zur Gegenwart hat dieses Vorgehen für die Herausbildung der Zivilgesellschaft viele ausschlaggebende und schleierhafte Auswirkungen. Dieses prägte die Verständnisse vom individuellen Körper, dem Selbst und der Familie zugunsten des Staates. Individuen wurden also als Bürger*innen konstituiert, die sich selbst rational, wissenschaftlich fundiert und bewusst als Teil einer modernen Gesellschaft verhalten sollen. Dabei spielte unter anderem das Projekt der säkularen Modernität eine zentrale Rolle, das in die unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsbereiche der Bürger*innen einwirkte. Die in diesem Sinne guten Bürger*innen wurden also als Kompliz*innen der staatlichen Autorität konstituiert, d.h. sie sollten souverän, bewusst und willig als moderne Subjekte handeln. Sozialwissenschaftlich wurde dies der späten Modernisierung der Türkei zugeschrieben, die staatlich veranlasst und nach den Idealen von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk maßgeblich vorangetrieben worden war (Ahmad 1993, Bozdoğan/Kasaba 1997). Medizin war und ist nach wie vor eine Steuergröße sozialer Ordnung. Medizin agiert als Mediator in der Artikulation situativer Verhältnisse zwischen Individuen und Gesellschaft, Bürger*innen und Nation, sowie viel wichtiger „of how people were to relate to one another and themselves“ (Dole 2004: 273). Das modernistische Projekt organisierte das Sensible, ordnete soziale Relationen und regulierte die Konstellationen zwischen Vergangenheit und Zukunft, ebenso wie die Grenzen und Möglichkeiten im moralischen Leben der Bürger*innen (Dole 2012: 10). Die Mediziner*innen verpflichteten sich auch als Akteur*innen der gesellschaftspolitischen Veränderungen mitzuwirken (Güvenç-Salgırlı 2009, Sanal 2011, Terzioğlu 2011). Das Gesundheitsregime war Ort für staatsbasierte, nationale Interessen- und Identitätspolitiken – angefangen in den 1920ern, zunehmend in den 1960ern und schließlich bis hin zu den neoliberalen Wandlungen ab den 1980er Jahren. Dabei galt die Gesundheit als individuelle und kollektive Pflicht jeder*s einzelnen Bürgers*in gegenüber der Nation und des Staates. Der Begriff der modernen Bürger*innenschaft entfaltet sich durch die Exklusion der liberal individualistischen Dimensionen. Die neoliberale Globalisierung löste auch im Land tief greifende Transformationen aus. Ab den 1980ern änderte sich der Nexus zwischen Staat, Gesellschaft, Medizin und Märkten grundsätzlich. Folglich entstanden mit den Ge-
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sundheitsreformen und der Privatisierung der Medizin neue Imperative und individualisierte Bürger*innenverständnisse. Zugleich bildeten sich neue Formen von Subjektivitäten (Üstündağ/Yoltar 2007, Özbay et al. 2011a). Dadurch wurde die autoritäre Macht der Medizin und der medizinischen Expert*innen geschwächt bzw. änderte ihre Form. Nun treten auch unerwartete Akteur*innen in die Bewusstseinsbildung- und Befürwortung-Szene ein, die dezidiert mehr Teilhabe, Selbstbestimmung und Rechte einfordern. Der private Markt führte insbesondere ab den 1990ern zu vielschichtigen Rekonfigurationen im Gesundheitsbereich. Hierzu gehört das damals nicht nur in der Türkei neue konsumeristische Modell, in welchem Patient*innen auch als Konsument*innen angesehen werden. Daran hatte der reproduktionsmedizinische Markt bereits einen Anteil, obwohl er erst ein Jahrzehnt später seinen Boom erlebte. Dies förderte das Leitbild der informierten Patient*innen, deckungsgleich im Türkischen bilinçli hasta, hin zur Entwicklung von neoliberalen, unternehmerischen und selbstexpertisierten Patient*innen/Konsument*innen. Dieses Vokabular, das sich seit der Modernisierungsphase im Alltag eingenistet hat, gewinnt also neue gesellschaftspolitische Konturen. Es ist stärker an den neoliberalen Idealen gekoppelt und wird auch als ein Resultat neuer Wissenspraktiken kodiert (siehe auch 3.4, 5 und 6). Das Medizinfeld, welches einst als Schauplatz für paternalistische Bewusstseins- und Bildungsprojekte konstituiert war, lässt allmählich auch neue Mobilisierungs- und Partizipationsformen zu. Mehr als das, die neoliberalen Medizin- und Marktstrukturen forcieren eine konsumeristische Neu-Orientierung der*des Patient*in. Wie überall setzt sich der neoliberale Imperativ der Selbstaktivierung durch. Aus der Sorge wird individuelle Obligation und aus dem gesundheitlichen Handeln etwa Lebensstil. Das Merkmal der türkischen Moderne, welche die Mitbürger*innen in die guten bewusste*n Bürger*innen/Patient*innen und die ignoranten Anderen trennte, wird damit weiter verschärft bzw. ändert seine Ecken und Kanten. Der einflussreiche Staat-Medizin-Nexus forciert weiterhin neue Formen neoliberaler Responsibilitäten und Governementalität (Aykan/Güvenç-Salgırlı 2015). Von neuen Gesundheitsverständnissen werden individuelle wie kollektive Selbst- und Körpertechnologien und damit auch neue Identitätsentwürfe abgeleitet. Mit der Zunahme der Internetnutzung ab den 2000ern bedienen sich Menschen unterschiedlicher Mittel und greifen auf neue bedürfnis- und problemorientierte Wissensquellen zurück. Damit gehen neuartige Sozialbeziehungen im Gesundheitsbereich einher, die sich am körperlichen und psychosozialen Leiden vereinen und zu neuen Solidaritätsformen führen. Das vielleicht augenfälligste Phänomen ist die Entstehung biosozialer Communities, besonders in den losen, netzbasierten Austausch- und Lernräumen, wie ich in dieser Arbeit analysiere.
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Diese entstehende zivilgesellschaftliche Landschaft, selbst noch wenig einflussreich, inkludiert einen neuen Typus sozialer Bewegungen, die aus einer Mediation- und Übersetzungsarbeit privater Problemlagen, ebenso auch der bislang marginalisierten und stigmatisierten Erfahrungen und Lebenswelten, in die Öffentlichkeit geht. Auch hierzu liegen nur spärliche Analysen zur Verfügung, ähnlich wie bei den Patient*innenvereinen und den bewusstseinsbildenden Allianzen zwischen Mediziner*innen und Betroffenen. Auch hierzu liegen nur spärliche Analysen zur Verfügung, ähnlich wie bei den Patient*innenvereinen und den bewusstseinsbildenden Allianzen zwischen Mediziner*innen und Betroffenen (Ekinci 2011, Terzioğlu 2011). Die neuen netzbasierten Gemeinschaften zählen m.E. zu den neuartigen Akteuren und Mediatoren im bio- und gesundheitspolitischen Raum. Ihre Entstehung macht die defizitären, ja miserablen Bedingungen im neoliberalen Gesundheitsmarkt sichtbar und zugleich die fehlenden Strukturen für mehr Teilhabe, Mitsprache und Selbstbestimmung deutlich. Nicht allein die Verhältnisse zwischen Patient*innen und Medizinexpert*innen ändern sich, sondern auch die Beziehungen der Patient*innen zu sich selbst und zueinander. Es zeigen sich hier Neu-Konfigurationen zwischen Märkten, biosozialen Obligationen, Aktivismus, Wissen und Expertisen. Ihre Erforschung macht, so mein Argument, Transformationen im Handlungsfeld Medizin in der Türkei sichtbar. Folglich möchte ich im Zugriff auf die analytischen Perspektiven diese Gruppen sozial- und kulturanthropologisch situieren. Sozial- und kulturanthropologische Situierung von „concerned“ Gruppen In der sozial- und kulturanthropologischen Literatur wurden in den letzten Jahrzehnten neue Grenz(be)ziehungen im Umfeld der Medizin analysiert. Den aktivistischen und selbsthelferischen Patient*innen- und Betroffenengruppen wird dabei eine Grenzgänger-Funktion zugeschrieben. Diese stehen nämlich als Symbol für Fortbestand und Erodierung. Mit dem Terminus der STS-Studien kann diese als eine „boundary work“ (Gieryn 1983) aufgefasst werden. Eine Grenzund Wissensarbeit, die für jedwede Transformationen beim Umgang mit Wissen und Medizin in den (spät-)modernen Gesellschaften konstitutiv zu sein scheint. Gemeint sind die Grenzen und Grenzverhältnisse, die zwischen Zivilgesellschaft und Staat, Expert*innen und Laien, Medizin und Politik bestehen und erodieren. Diese umfassen primär bislang dichotom aufgefasste sich auflösende Pole zwischen Verantwortlichkeiten und Obligation zwischen Repräsentation und Politik. Zugleich steht die Gewordenheit neuer Gruppen für ein Unscharf-Werden der gegensätzlich gedachten, privaten und öffentlichen Sphären. Sie praktizieren neue Wissens-, Erfahrungs- und Expertiseformen, indem sie beanspruchen, die
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epistemischen und sozio-politischen Ungleichheiten und Asymmetrien als solche zu markieren. Durch eine derartige Grenzarbeit werden private Belange und biosoziale Problemlagen in neue sozio-politische Ressourcen (trans-)formiert. In Anlehnung an Strathern betont Callon (2005) eine „proliferation of the social“, die mit heterogenen Ansprüchen zur Selbstbeschreibung und -behauptung einhergehe. Was daraus folgt, beschreibt Vololona Rabeharisoa als Wissensarbeit folgendermaßen: „transcends established boundaries between the state and civil society, experts and lay persons, science and politics, and is carried out both within and outside the walls of state organizations and scientific institutions“ (2008a: 228). Es sind neue (Bio-)Politiken heterogener und komplexer Allianzen im Entstehen, die auf die Alltagspraktiken, Sinn- und Handlungsspielräume der Menschen einwirken, diese erweitern, ergänzen oder in einer bestimmten Art und Weise formieren (Epstein 1996, Rabeharisoa 2008a). Neue Beziehungsformen werden nicht nur zwischen den Betroffenen, sondern zwischen diversen Akteur*innen, Allianzen und Wissensformen gestiftet. Außerdem ändern sich dadurch die paternalistisch und hierarchisch geprägten Wissenschafts- und Gesundheitssektoren und neue Wissenspolitiken werden kreiert (Whelan 2007, Langstrup 2010). In der einschlägigen Literatur wurde dies als fundamentaler Paradigmenwechsel von Identitäts- und Anerkennungspolitiken diskutiert (Polletta/Jasper 2001, Bernstein 2005, Polletta 2006). Auf der Grundlage der biologisch bedingten Betroffenheit und Belange werden neuartig geteilte Interessen, Emotionen und Erfahrungen identifiziert. Biopolitiken inkludieren die Identitätskonstruktionen in kollektiven Zusammenhängen. Dadurch wird der Körper in die Sozialbewegungen und in die Öffentlichkeit – wie im Falle von „embodied health movements“ (Brown et al. 2004) eingeführt. Anders gesagt, die verleiblichten, körperlichen und biosozialen Erfahrungen werden ins Zentrum biopolitischer Aushandlungen gestellt, zugleich Gesundheit wie Krankheit als biosoziale Konditionen neu bewertet (Brown et al. 2004, Landzelius 2006). Diese werden als Triebkraft der sozialen Transformation in Bewegung gesetzt. Die intimsten und privatesten Aspekte bestimmter Erfahrungen werden aus den lebensweltlichen Kontexten (im Sinne von Habermas 1982) in die Öffentlichkeit übersetzt und als Grundlage für Politisierungs- und Subjektivierungsprozesse umgedeutet. Die Öffentlichkeit wird transformiert, in der einst nur ‚manche‘ Erfahrungen, Biografien und auch Körper sichtbar gemacht wurden, während andere unsichtbar blieben (Casper/Moore 2009). Ein Ruf nach mehr Transparenz, Sichtbarkeit und Anerkennung, welcher in den letzten Jahren so sehr oppositionell und politisch ambivalent diskutierten Tendenzen der Sozialbewegungen im Feld der biomedizinischen Technologien mit sich brachte. Allein ihr ‚Einritt‘ in
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die öffentliche Sphäre wird meist als Aushandlungsprozess kodiert (d.h. als Resultat kollektiver Aushandlungen mit den Gestaltungsansprüchen gesellschaftlicher Ordnung). Die Sichtbarkeit und das Engagement sind hier eng miteinander verbunden. Ob und inwiefern hiermit die vorherrschenden Deutungs- und Machtverhältnisse außer Kraft gesetzt werden, ist zwar zu bestreiten, dennoch ist unleugbar, dass neuartige Wissensakteur*innen aufkommen und ihre Ansprüche geltend machen. Sie beteiligen sich an der Konstruktion von biosozialen und technowissenschaftlichen Identitäten. Doch diese sind nicht fix, sondern als „performative struggle over the meanings of experience“ (Langellier 2001: 3) zu betrachten. Identitätspolitiken markieren daher die biopolitischen und -sozialen Kämpfe darüber, was als geteilte biosoziale Erfahrung gilt. Wie Susan Whyte (2009) mit Recht kritisch anmerkt, kann ein starker Fokus auf Identitätspolitiken, dazu führen, Differenz zu fetischisieren, Staffelung zu fördern, Ungleichheiten und Asymmetrien zu untermauern sowie die anderen biosozialen Relationen außer Acht zu lassen. Identitäten in Bezug auf medizinische Diagnosen und Zustände sind ethnografisch weder vorauszusetzen noch von anderen für die Identität relevanten Alltagsprozessen abzugrenzen.17 Sie sind also „part of the politics of the self“ (ebd.: 13) und stehen in Relation zu unterschiedlichen Alltags- und Sinnbereichen, zu denen auch das (Bio-)Medizinische gehört. Inwiefern mit dem Aktivismus auch biomedizinische oder biosoziale Identitäten einhergehen, hat unmittelbar damit zu tun, wie Menschen sich zu Wissen und Kategorien der Biomedizin verhalten. In unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten wirken sie sich auf den hochgradig ausdifferenzierten (bio)sozialen Alltag, auf Erfahrungen und Biologien anders aus. Deshalb hängen sie von kontextuell variierenden biosozialen und politischen Entwicklungen, Interessen, Konflikten und Situationen um bestimmte Problemlagen ab. Sie interagieren mit historisch tief verwurzelten Prägungen und kontextueller und lokaler Situiertheit in der Nutzung von biomedizinischen Technologien, ebenso, wie bereits ausgeführt, wie mit der Konstruktion von gegenseitig konstitutiven Verhältnissen zwischen Individuum, Gesellschaft, Staat und Medizin. Die techno-wissenschaftlichen und biosozialen Identitäten und auch die damit einhergehenden neuartigen Bürger*innenschaften sind nicht als eine ‚Sache‘ staatlichen Belangs oder als Status 17 Whyte weißt darauf hin: „Moreover, focusing narrowly on relations among people with the same health condition excludes all the other relations and domains of sociality that actually fill most of their daily lives. In fact, those other relations may strongly influence the ways that health comes to shape their identities and subjectivities. By defining research problems based on identifications like diabetic, Down syndrome, HIV+, we essentialize, fragment, and decontextualize what is really only part of a life.“ (Ebd: 13)
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zu definieren. Sie basieren zwar auf geteilten biologischen und biosozialen Problemlagen medizinischer und techno-wissenschaftlicher Kategorien, wie im Falle von Infertilität, sind jedoch Resultate von Praktiken, Aushandlungen und Strategien im Umgang mit Biomedizin und -technologien, die in ihren heterogenen Umfeldern entstehen. Ausschlaggebend für solche Transformationen, so argumentiert die Soziologin Vololona Rabeharisoa (2008b) in ihrer Forschung zu französischen Patient*innengruppen, sind neue „Politiken der Gründe“. Die Patient*innengruppen steuern zur Restrukturierung gegenwärtiger Gesundheitssysteme bei, indem sie die vorherrschenden und paternalistischen „matters of concerns“ herausfordern und den noch relativ diffusen, aber dennoch bedürfnis- und erfahrungsbasierten Politiken neuer kollektiver Gründe entgegenwirken. Zugrunde liegt also eine Markierung dessen, welche Belange zählen und welche Gründe geltend gemacht werden können. Diese manifestiert nämlich die asymmetrischen Machtverhältnisse in der Wissensproduktion und -verteilung zwischen Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en), aber auch neuartiger und unerwarteter Ansprüche und emergierender Kollektive (Callon/Rabeharisoa 2003). Den Patient*innengruppen geht es mehr als nur um das seelische und körperliche Leid. Als „groups of concerned people“ beanspruchen diese eher die Navigation der „Pfade“ zur Partizipation (Rabeharisoa 2006). Diese Gruppen verhandeln denn auch über die vorherrschenden Politiken der Belange und Gründe im biopolitischen Feld der Biomedizin und Techno-Wissenschaft und definieren „experiences-in-common“ (Whelan 2007: 960), die vorher als individuell und singulär erschienen. Sie üben demnach eine viel komplexere Wissensarbeit an Politiken, Subjektivitäten und Identitäten aus, als klassische Selbsthilfe es jemals vermochte (Rabeharisoa 2008c, Moreira 2012). Im weitesten Sinne handelt es sich hierbei um Wissensund Erfahrungspolitiken im Wandel. Derartige Gruppen zwingen uns unsere Perspektive auf die Grenzverhältnisse auszuweiten. Viel wichtiger scheint es, neue Allianzen und Konstellationen unterschiedlicher Akteur*innen, Wissensund Aktionsformen zu analysieren, die von solchen Gruppen vorangetrieben werden. Es sind spezifische Mischungen von Selbsthilfe, Aktivismus und Lobbyaktivitäten. Von ihrer durchaus höchst flexiblen Situierung leiten sie außerdem eine Selbstlegitimierung ab, als Vermittler für bestimmte Körperlichkeiten, Erfahrungen und Subjektpositionen zu fungieren. Wie im Falle der von mir untersuchten Gruppe wird den Menschen ermöglicht, als aktive Mit-Gestalter*innen ihrer biografischen und biosozialen Problemlagen zu agieren und an der Um-Deutung von biosozial „Mit-Geteiltem“ subjektiv und individuell mitzuwirken. Dies geschieht in den netzbasierten Sozial- und Wissensräumen (Kapitel 5) und auch in der Atmosphäre von „symbiotischen Beziehungen“ zwi-
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schen Medizin, Staat, Zivilgesellschaft und Märkten – wie ein Interviewpartner zugespitzt sagte (Kapitel 6). Welche Bilder, Diskurse und Repertoires sie generieren und mobilisieren, ist zu hinterfragen. Was als politische Forderung postuliert wird, hängt oft mit dem von patriarchalen und paternalistischen Strukturen geprägtes und Machthierarchien durchzogenes Verhältnis zwischen Lebenswelten, Handlungskontexten und Öffentlichkeit zusammen. Bio-Subpolitisch: ein Orientierungsproblem? Derartige Prozesse deuten für die Analytiker*innen der reflexiven (Spät-)Moderne auf Veränderungen des Politischen hin (Giddens 1991, Beck et al. 1994, Giddens 1994). Ein neues Vokabular prägte Ulrich Beck: „Subpolitik“ (Beck 1997). Aus seiner Perspektive würden derartige Gruppierungen eine „Gesellschaftsgestaltung von unten“ symbolisieren. In der Durchdringung der lebenspolitischen und privatesten Anliegen und Belange in die politischen Auseinandersetzungen sah Beck eine Subpolitisierung. Sie umfasse einen substanziellen Wandlungsprozess, der alle Lebensbereiche außerhalb und innerhalb politischer Handlungs- und Entscheidungsapparate – wie staatlicher Biopolitiken und Governementalität – beeinflusst. Er geht mit einer Auflösung der Grenze zwischen Politik und Nicht-Politik einher. Die privatesten und biografisch orientierten Wissensinhalte wandern in die politische Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Kräfte, Machtpositionen, Deutungs- und Wissensinhalte um die Gestaltungsmacht konkurrieren. Infolgedessen entstehen neuartige Räume, Formen und Foren innerhalb und jenseits der (bio-) politischen Regime, die vormals kaum als politisch deklariert worden waren (Beck 1993, Holzer/Sørensen 2003). Es ist eine paradoxe Dynamik der Individualisierung, die den Individuen zur „Selbstherstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung, nicht nur ihrer eigenen Biografie“ verhilft, sondern auch der des Sozialen in seinen moralischen, sozialen und politischen Bedingungen (Beck 1993). Ihre Praktiken und alltagsweltlichen Kämpfe produzieren Streitfelder und dadurch entstehen neue Nischen für Aktivismus und Engagement des individuellen und kollektiven Sorgens, wie im Falle von Sozial- und Selbsthilfebewegungen. Die Themen werden nicht nur anders bewertet und mit dem wachsenden Einfluss von Sozialbewegungen in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz anders markiert. Es entstehen auch völlig neue Problemfelder und Lebenslagen der Aushandlungen, die subpolitisch wirken bzw. die Gesellschaft subpolitisieren. Für Beck beschreibt die selbstgesteuerte Organisation und Mobilisierung von Alltagsakteur*innen selbst eine reflexive Subpolitisierung der Gesellschaft. Was vormalig im „Windschatten des Politischen“ lag, beispielsweise der Konsum, die Wissenschaft und das Privatleben, trat auf die Bühne des alltäglichen Aktivismus
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und ist „jetzt in die Stürme der politischen Auseinandersetzungen geraten“ (Beck/Schrenk 2007). Das, was im herkömmlichen Sinne als politisch definiert wird, ändert also seinen Inhalt, Stil und Effekt. Besonders die individuellen und persönlichen Lebenslagen und -welten, Sorgen und Handlungen gewinnen eine politisch transformative Relevanz und Funktion. Gerade diese treiben die Effekte reflexiver Modernisierung (d. h. die Effekte von Technologie, Wissen und Wissenschaft, aber auch die alle Lebensbereiche durchdringende Individualisierung) voran, während sie die altbekannten Grenzen erodiert. Biomedizin ist demnach ein Experimentierfeld sozial- und kulturanthropologischer Forschungen entlang dieser Grenzen und Kontaktzonen. In seinen Überlegungen zum Subpolitischen stellte Stefan Beck (2011) die Re-Konfigurationen vom Sozialen und BioPolitischen im Schnittfeld von Globalisierung, Biomacht, Gouvernementalität und Aktivismus dar. Er erweiterte den Begriff in „Bio-Subpolitisch“. Dies zeigt insbesondere, dass die komplexen, wissens-intensiven Belange und Themen außerhalb der offiziell politischen Institutionen und Arenen ausgehandelt und bewältigt werden. Damit wird gegen das Verständnis gesteuert, dass es sich beim Subpolitischen um eine einfache Durchdringung des Privaten in die Öffentlichkeit handelt.18 In je unterschiedlicher Akzentuierung arbeiteten Latour (2007) und de Vries (2007) weitere Erscheinungen der Subpolitiken heraus. Diese verstehen sie als „politics by other means“ (à la Latour), die biosoziale, biopolitische und techno-wissenschaftliche Faktoren aufeinander beziehen. Neue Wissenspolitiken und Kontroversen entstehen, die sowohl neue Akteur*innen (wie partikulare Expert*innen- und Laien-Communities) als auch Formationen (wie den biomedizinischen Aktivismus) prägen. Im biomedikalisierten und techno-wissenschaftlichen Feld der Reproduktion lassen sich neue Herausforderungen mit dem Politischen als solche beobachten. Die normativen, traditionellen und patriarchalen Werte einerseits und ihre Herausforderungen andererseits gewinnen ein politisches Gehalt, indem sie unmittelbar in das Bio-Subpolitische zurückgespeist werden. Auch reproduktive Körper und Substanzen, Sexualität, Beziehungs- und Familienkonstellationen fungieren transformativ, also bio-subpolitisch. In diesem Sinne befördern die biosozialen Erfahrungen, auch Problemlagen wie Infertilität, einen „Subaktivismus“ (Bakardjieva 2009). Das Alltägliche und die subjektiven Erfahrungen gewinnen an politischer und ethischer Bedeutung. Das Internet spielt hier eine fundamentale Rolle. Subaktivismus findet im Privaten statt: „It blends ethics and politics, or oscillates around that fuzzy boundary where one merges into the other. It is 18 Subpolitisch meint mehr als eine Schöpfung des Politischen aus privaten Problemlagen, wie in der feministischen Parole „das Persönliche ist das Politische“ (Hanisch 1970 [2006]).
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rooted in the subject but necessarily involves collective identities often in an imagined form [...]“ (ebd.: 96). In meinem Forschungsfeld sind die Selbsthilfe- und Patient*innenkontexte beispielhaft dafür. Sie zeigen, wie die betroffenen Individuen und Paare mit techno-wissenschaftlichen und biosozialen Themen an der Schnittstelle von ihren privaten und öffentlichen Lebens- und Erfahrungswelten umgehen. Die Aktivist*innen-Szene mobilisiert und bringt die gelebten Erfahrungen und medizinisch öffentlich gemachten Lebens- und Sinnbereiche in die politischen, regulativen und moralischen Herausforderungen ein. Die biosozialen und medizinischen Problemlagen der Infertilität und Kinderlosigkeit vermischen sich dadurch mit der Moralität der Reproduktionsmedizin und -technologien. Die unterschiedlichsten Aspekte individueller und kollektiver Reproduktionsbiografien werden bio-subpolitisch. Denn es handelt sich nicht bloß um ihre öffentliche Sichtbarmachung der körperlichen und psychosozialen Erfahrungen. Das politische und epistemische Geschehnis lässt sich weder auf eine reine Repräsentationsfrage noch auf eine Deutungsmacht im Kontext der Reproduktionstechnologien reduzieren. Aushandlungsprozesse lassen sich eher dort feststellen, wo gerade die Wissens- und Erfahrungspolitiken, Akteur*innen und Interessen im umkämpften Feld der Reproduktionsmedizin aufeinander treffen. In Frage steht, in welchen Zusammenhängen und vor allem wie die bio-subpolitischen Effekte untersuchtbar werden. Im Folgenden werde ich darauf eingehen. Ich werde meine methodischen Herangehensweisen darlegen, über die Datenerhebung und deren Analyse berichten und dabei systematischer auf die fragmentierten, aber relationalen Feldsites eingehen.
1.4 FELDSITES UND METHODEN: ONLINE- UND OFFLINE-ZUGÄNGE Wie zu Beginn dieses Kapitels angedeutet, stellen Kontexte sich immer als eine ethnografische Problematik des In-Beziehung-Setzens dar. Ethnografie erfasst aktives Kontextualisieren und damit auch simultanes Differenzieren des und innerhalb des ethnografischen Gegenstandes. In früheren Ethnografien waren sie an die Orte gebunden und stellten kulturelle Zusammenhänge dar, die sich lokal bildeten. Lange Zeit adressierten sie das ‚Feld da draußen‘, in dem soziale Ordnung als gegeben und vorgefunden betrachtet wurde. Spätestens seit der „Writing Culture“ (Clifford/Marcus 1986) Debatte und die darauf folgende Kritik an der ethnografischen Wissensproduktion hat sich die Sichtweise – ähnlich wie Ort und Feld – auf ethnografische Kontexte destabilisiert (Marcus 1995, Gupta/
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Ferguson 1997, Coleman/Collins 2006, Faubion/Marcus 2009). Heute reden wir von Kontext(ualis)ierung, eine performative und relationale In-Beziehung-Setzung von sozialen, technologischen und materiell-semiotischen Praktiken (Asdal/Moser 2012). Merklich schließt diese unmittelbar die nicht-menschlichen Akteure und nicht-sozialen Hybride mit ein (Latour 2005, Belliger/Krieger 2006, Kneer 2008). Kontext bzw. kontextuell adressiert ‚niemals nur sozial‘, sondern eine Anordnung von Diversem. In meiner Forschung ging es darum, die Erfahrungs- und Lebenswelten der Protagonist*innen nicht in einem ethnografisch vordefinierten kulturellen Kontext zu beschreiben. Wie bereits angedeutet, verstand ich diese eher als einen performativen und aktiven Prozess der Kontext(ualis)ierung praktischer und kultureller Wissenspraktiken. Ich war demnach an den Praktiken interessiert, wie Frauen und Männer ihre ‚technisch assistierten‘ Reproduktionswege navigieren und ihre Wissens- und Informationsstrategien im Kontext einer pronatalistischen Gesellschaft managen. Bisher diskutierte ich das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen globalen wie lokalen Effekten und stellte verschiedene Perspektiven zur Diskussion. Bevor ich konkreter über die Methoden und Analyseverfahren berichte, ist hier zunächst eine Reflexion zur Forschungspraxis angebracht. Diese begründet wie die Fäden der Studie in einer partikularen Gruppe wie ÇİDER zusammenliefen. Empirisch ging es mir darum, wie bereits erläutert, den Fokus auf die bislang unerforschten Zusammenhänge zwischen Techno-Wissenschaft, Medizin und Gesellschaft zu richten. Der Forschungsprozess war eher „opportunistisch“ (Coleman/Collins 2011: 3), um die Fäden zwischen dem zu untersuchenden Phänomen und den es umspannenden Beziehungen und Konstellationen zusammenzubringen. Ende 2008 begann ich mit meiner Forschung im Rahmen eines Projektes, mit dem Kurznamen „Verwandtschafts-Kulturen“, das sich für die Verwandtschaft als soziale Praxis im reproduktionsmedizinischen Kontext interessierte. Vergleichend zwischen Deutschland und der Türkei erforschten wir langfristig beobachtbare Wandlungsprozesse im Schnittfeld von globaler Biomedizin und dem Familie- wie Verwandtschaftsmachen (Beck et al. 2007a, Beck et al. 2007b). Es ging um ethnografische Begleitung der Frauen und Paare mit einer multilokalen und multitemporalen longue-durée-Perspektive. Mit Fokus auf die Normalisierungsprozesse wurden Transformationen in den institutionellen, familiären und öffentlichen Deutungs- und Handlungskontexten und historisch unterschiedlich geprägten biopolitischen Regimen der Türkei und Deutschlands untersucht (für eine erweiterte Diskussion zur methodischen-analytischen Ansätzen siehe
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Knecht et al. 2011).19 Ich selbst war nicht nur Pendlerin zwischen zwei Ländern, auch ähnlich wie meine Kolleg*innen bewegte ich mich zwischen Medizin und Alltag. Ich forschte in unterschiedlichen Settings: Kliniken (vor allem in Istanbul), in Online- und Offline-Selbsthilfekontexten und im Alltag von Familien. In meinen mehrmonatigen Forschungsaufenthalten von 2008 bis 2013 absolvierte ich episodisch angelegte mehrtägige Hospitationen in drei Istanbuler Privatkliniken. Ich führte periodisch wiederholte Interviews mit Ärzt*innen, medizinischen Expert*innen und auch mit Paaren, die mithilfe von IVF/ICSI Behandlungen versuchten, ein Kind zu bekommen oder bereits eins hatten. Zudem war ich an mehreren medizinischen Fachkonferenzen und auch an den von ÇİDER in Zusammenarbeit mit diversen Kliniken organisierten Informationsveranstaltungen für aktuelle und potenzielle Nutzer*innen beteiligt. Um mir ausreichend reproduktionsmedizinisches Wissen anzueignen und die sozio-technischen Aspekte der klinischen Praxis zu verstehen, war ich an der Durchführung unterschiedlichster Schritte der IVF und ICSI-Behandlungen in den Istanbuler Privatkliniken beteiligt. Währenddessen durfte ich bei den Beratungsgesprächen dabei sein und die Ärzt*innen und das Klinikpersonal bei ihrer Arbeit begleiten und beobachten. Die Forschung in den Kliniken war oft mit den paternalistischen und konsumeristischen Verhältnissen zwischen den Klient*innen und den Kliniken verwoben. Der Zugang zu und mein Umgang mit den Frauen und Männern wurde daher immer wieder und situationsabhängig ausgehandelt. Ich wurde in den klinischen Alltag integriert, wo immer es möglich war, so gewährten sie mir auch in drei Kliniken Zugang in die Embryologieund Andrologielabore. Meine Rolle als Forscherin wurde allerdings eher beliebig gehandhabt, wobei meine Forschungsaufenthalte in unterschiedlichen Bereichen der Kliniken oft streng vom Personal bestimmt und überwacht waren. Die Kliniken haben ein Eigenleben. Sie sind durch hygienische Vorschriften und einem streng getakteten Zeitmanagement reguliert. Vom Alltag in den halböffentlichen Bereichen der Kliniken zu den Laboren gab es in der Regel keinen leichten Übergang. Der Zutritt war erst nach der Durchsetzung der fest etablierten 19 Das Projekt „Verwandtschaft als soziale Praxis und Repräsentation im Kontext gesellschaftlicher und reproduktionsmedizinischer Transformationen“ stellte sozusagen eine Basis für meinen methodischen und analytischen Zugriff auf das Feld bereit. Neben dem multilokalen Zugang nahm es eine multitemporale Perspektive an, die sich an Max Gluckmans „extended case method“ (Burawoy 1998, Evens/Handelman 2006, Burawoy 2009) anschloss. Das Forschungsdesign setzte die klinisch-medizinischen Settings und privat-familiären Alltage in Verbindung. Ich hatte das Privileg, auf den gemeinsamen Datenpool des Projektes, die seit 2005 erhobenen Datensätze, zugreifen zu können. Ich bedanke mich hierfür herzlich bei meinen Kolleginnen Nevim Çil und Asiye Kaya, die zwischen 2005 und 2008 am Aufbau des empirischen Datenpools beteiligt waren.
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Privatsphäre- und Hygieneregelungen möglich, wobei diese von Klinik zu Klinik voneinander leicht abweichen. Zwischen Klinikalltag und Laboren herrschte eine Harmonie, die darauf ausgerichtet war, Patient*innen, ihre Körper, Reproduktionszellen und Privatsphäre möglichst geschickt und sensibel zu managen. In allen drei Kliniken waren allerdings die Bereiche, wo die Zellen und Substanzen generiert und für die Durchführung der Befruchtung bearbeitet wurden, sorgfältig von den anderen Bereichen getrennt. Die Räume für die Samenproben befanden sich beispielsweise in der Andrologie. Um die Privatsphäre der Männer zu schützen, war eine „Samen-Durchreiche“ mit Doppeltüren zwischen dem Samenproberaum und dem Labor eingebaut. Der Zutritt in die Embryologie wurde ausschließlich den Frauen gewährt. Die Ehemänner wurden nur in den seltensten Fällen zugelassen. Sie durften ihre Ehefrauen allerdings in die Aufwachräume begleiten. Die Labore waren von Vornherein als Frauen-Räume konstituiert, die nicht nur auf den Schutz der Privatsphäre ausgerichtet waren, sondern vielmehr darauf, „den weiblichen Körper möglichst naturnah nachzuahmen“, wie mir von mehreren Ärzt*innen berichtet wurde (siehe Kapitel 2). Meine Anwesenheit im Klinik- und Laboralltag war eine wiederkehrende Aushandlungssache. Manchmal ging dies problemlos und ich wurde spontan in den Alltag dort integriert. Dennoch musste ich lernen, meine eigene Rolle als Forscherin immer wieder und je nach Situation unterschiedlich auszuhandeln und sogar zu definieren. Jedes Mal wurde ich beispielsweise „laborgeeignet verwandelt“, das heißt ich wurde quasi durch ethnografischen rite de passage (à la Van Gennep) „sozionaturalisiert“20. Im Laborkittel, mit Mundschutzmaske, Haube und Praxisschuhen ausgestattet, begleitete und beobachtete ich die Labor- und Behandlungssituationen. In den Augen meiner Interviewpartner*innen war ich in das „Herz“ des High-tech-Kinder-Machens eingedrungen, in dem „Leben erzeugt wird“. Ab und an fühlte ich mich doch in meiner Haut wie ein Fremdkörper, der das Geschehene beobachtet, in Notizen und Fotos festhält und Fragen stellt, was an sich den geordneten und kontrollierten Alltag des Managements von privater und öffentlicher Sphäre durcheinander brachte. Oft mit einem Aufnahmegerät und Notizheft in der Hand lief ich den Ärzt*innen oder Assistent*innen hinterher, nahm an den Beratungs- und Nach-OP-Gesprächen teil und verbrachte unzählige Stunden in den Wartezimmern der Kliniken. Die teilnehmende Beobachtung, sowohl in den klinischen Settings als auch bei den außerklinischen Situationen, forderte von mir eine ständige Reflexion darüber, wie situativ um die Arrangements zwischen Privatem und Öffentlichem zu feilschen war. Hierbei war der professionelle marktförmige Paternalismus un20 Der weiße Kittel, so beschreibt etwa Charis Thompson in ihrer Forschung in USamerikanischen Kliniken, „socionaturalized me up“ (1998: 70).
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ter dem Motto „Schutz unserer Patient*innen“ wirksam und zugleich die kulturell begründeten Sensibilitäten ausschlaggebend – wenn nicht bestimmend. Vorab waren unterschiedlichste Situationen als kulturell sensibel (hassas) oder sozio-psychisch zu strapazierend klassifiziert worden. Dies bedeutete, dass ich aufgefordert war, mit den medizinischen Leiter*innen und dem verantwortlichen Medizinpersonal vorher darüber zu sprechen. Meine durchaus sozio-naturalisierte Anwesenheit war in diesem Sinne den mir zugewiesenen Part im Feld untergeordnet (vgl. Welz 1991, Hastrup 1995). Ich bewegte mich also zwischen sozio-technischen Arrangements in den Kliniken und Laboren, den privaten Alltagen und kollektiven Erfahrungszusammenhängen. Ich erfuhr dabei wie meine „epistemic passage“ (Sanal 2011: 180), die Grenzen des Außen wie Innen der Reproduktionsmedizin (und umgekehrt) neu verbindet und meinen ethnografischen Wissensweg an diesen sozio-technischen Verflechtungen gekoppelt hat. Meine Interviewpartner*innen berichteten mir, wie ihre Wahrnehmungen sich über das Leben und darüber, was als „natürlich“ gilt wie auch ihr Blick auf die Gesellschaft, in der sie leben, durch die medizinischen, körperlichen und psycho-sozialen Erfahrungen radikal änderten. Nicht nur der Umgang mit ihren Körpern und ihre Emotionalität haben sich geändert, auch ihr Vokabular und ihre Denkweisen haben stärker „die Dinge und Sachen“ integriert, so eine Interviewpartnerin, „von denen man vorher nie wusste oder sich erträumen konnte“. Mir begegneten sie allerdings eher als Expert*innen ihrer eigenen Biografien. Ich betrachtete sie als quasi „(Laien-)Ethnograf*innen“ (Mol/Law 2004), die eigenständig ihre Erfahrungen und die der vielen Betroffenen referierten. Zudem, sind sich Frauen und Männer bewusst darüber, dass ihre Reproduktionswege in den ganz spezifischen lokalen Verhältnissen eingebettet sind. Dabei haben sie das Subjektive in das Kollektive übersetzt. Es ging um die gesellschaftlichen Umstände und paternalistischen Behandlungsregime, über die sie hochgradig reflexiv mit mir diskutierten. Sie stellten ihre intimsten und privatesten Lebens- und Sinnbereiche, nicht nur mir, sondern auch via halb-öffentliche netzbasierte Sozial- und Austauschräume und in den öffentlichen Veranstaltungen einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung. In diversen Beziehungen und öffentlichen Situationen teilten sie sich selbst und ihre biosozialen Erfahrungen mit. Ich sah sie als Wissensmediator*innen zwischen mir und dem biosozialen Kontext ihrer Erfahrungs- und Lebenswelt. Als „Langzeit-Patient*innen“, „Ehemalige“ und „Erfahrene“ beanspruchten die Mitstreiter*innen über die soziale Ordnung über differenziertes Wissen zu verfügen. In längeren Gesprächen, die in der Regel mehr als zwei Stunden dauerten, teilten sie ihre Meinungen, Ideen und Kritiken mit mir und reflektierten, wie „dieses Problem in einer Gesellschaft wie der Türkei erlebt wird“, „wie hier die Dinge
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funktionieren“ und wie sie in ihrer advokatorischen Arbeit den Tabuzonen der konservativen und patriarchalen Gesellschaft und den asymmetrischen Machtund Wissensverhältnissen im heterogenen Reproduktionsregime entgegenzuwirken versuchen. Viele reflektierten über den Weg in das sozio-technische Arrangement der Reproduktionstechnologien. Sie situierten sich mir gegenüber als „Sprachrohr“ bzw. „Übersetzer*innen (tercüman)“ der privatesten und intimsten Lebens- und Sinnbereiche einer „oft stimmlosen Patient*innengruppe“. Häufig machten sie von den lokal moralischen Maßstäben des Islams, der „türkischen Kultur“ oder der „moralischen Ordnung der Türkei“ Gebrauch. Zugleich suchen sie genau an den gleichen Stellen Unterstützung für die Legitimierung ihrer womöglich widerspenstigen Praktiken und Überzeugungen. Hier lernte ich viel darüber, unter welchen Umständen Menschen über ihre intimsten Erfahrungen denken und wie sie diese (aus)handeln. Ihre heroischen Kämpfe und Erzählungen davon, stellten den Zugang zu gesellschaftlichen, biomedizinischen und sozio-technischen Erfahrungswelten dar. Hierdurch hat sich auch meine Perspektive auf die sozio-politischen Prozesse in der Türkei – und darüber hinaus – geändert. Um der Wissensarbeit bei den Reproduktionswegen auf die Spur zu kommen, waren die materiell-semiotischen Praktiken, Dinge, Körper und Alltagsrealitäten wichtig, die die In-Vitro-Fertilisation zusammenflickt. Meine eigene biografische Situiertheit steuerte zur Wissensproduktion bei und brachte unterschiedliche Dimensionen der politisch-moralischen Fragen zum Vorschein (McLean/Leibing 2008). Meine Fallstudie kann quasi als eine Sozialanthropologie „at home“ (Peirano 1998) gelten. Mit einem Zitat von Paul Rabinow behauptet Marilyn Strathern (1992b: xvii), dass sich in dem Forschungsprozess der Sozialanthropolog*innen zu Hause, die in den ihnen bekannten sozialen Kontexten forschen, immer eine gewisse und produktive (Selbst-)Verzweiflung einschleicht: „while the whole may seem too complex, the parts may seem too simple“ (Rabinow 1989: 14). Denn die sozio-kulturelle Darstellung stellt sich selbst als problematisch dar. Sie wird brüchig, fraglich und fragmentiert. Bei meinem Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei, wo ich geboren und aufgewachsen bin, wurde mein Herkunftsland zu einem Forschungsland. So war Feld-zu-Hause für mich weniger da-heim als am ehesten dort-heim. Obgleich meine Ethnografie dem sogenannten „methodologischen Nationalismus“ (GlickSchiller 2002) nicht entgehen kann, stütze ich mich auf die postkoloniale Kritik am essentialistischen und kulturalistischen Blickwinkel auf nicht-euro-amerikanische Erfahrungswelten. Im Feld war ich in vielen Situationen eine ambivalente Figur, weder Insider noch Außenseiterin, mit kultureller Nähe und Vertrautheit und zugleich mit einer sozio-biologisch begründeten Familiarität und einer erfahrungsfernen Distanz.
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Diese Situationen waren sozusagen von einer doppelten Ferne und doppelten Nähe geprägt, auch im Sinne politischer und ethischer Ambivalenzen. Als eine Frau im ‚gebärfähigen Alter ohne Kinder‘, dennoch ohne erklärten Kinderwunsch, erzeugte meine Anwesenheit eine gewisse Unruhe bzw. wurde dies oftmals zum Thema gemacht. Denn ich stellte für viele eine Person dar, der trotz des ausreichenden professionellen Wissens über IVF-Technologien das körperliche und psycho-soziale Erfahrungswissen fehlt. In dieser privilegierten Forscherin-Rolle wurde mir ein häufig reibungsloser Zugang in die Kliniken und Labore gewährt. In der Regel war meine Rolle durch asymmetrische Beziehungen zu den Behandelten geprägt, welche sich gerade auf Grund der habituellen und paternalistischen Verhältnisse auch in die außerklinischen Settings ausweitete. Als eine Frau und auch quasi eine Insiderin-im-Außen war mir eine gewisse Manövrierfähigkeit im Feld möglich, besonders dann, wenn es sich in den Augen meiner Interviewpartner*innen um Themen handelte, die meist mit kulturellen Sensibilitäten und Intimitäten verbunden oder für eine Fach- und Erfahrungsfremde zu intim waren. Ein Rückzug auf die sozial „frei schwebende“ Professionelle (Welz 1991: 80, mit Verweis auf Kutzschenbach) war also kaum möglich. Besonders dann, wurden auch meine biografische Position, mein Körper und meine private Sichtweise auf Infertilität und Kinderwunsch in Frage gestellt, indem Menschen mir die intimsten und sensibelsten Aspekte ihrer Lebens- und Erfahrungswelt mitteilten. All dies ermöglichte mir einen tiefen Einblick in die feldspezifischen Zuordnungen und Kategorien bezüglich Öffentlichkeit und Privatheit, Individuellem und Kollektivität, Anonymität und Transparenz etc. Methoden und Reflexionen Methodologisch eignete sich eine akteurs- und fallzentrierte Feldkonstruktion. Am Beispiel von ÇİDER fokussierte ich mich auf die Wissenspraktiken der ungewollt Kinderlosen und auf die Entstehung neuer Sozialbeziehungen im Umfeld der Reproduktionsmedizin in der Türkei. Die Prozesse der „Selbstkontextualisierung“21 auf seitens der IVF/ICSI-Nutzer*innen in der Türkei standen in Frage. ÇİDER ist ein gutes Beispiel für die NGOs wie Lobby- und Interessengruppen, die körper- und erfahrungsbezogene Wissensarbeit leisten. Sie entstammen aus den sogenannten „Grassroots“-Initiativen und Netzwerken. Ihre Analyse fordert die Stabilität methodischer Grenzverhältnisse sozial- und kulturanthropologischer Forschung heraus. Denn sie sind „part movements, part networks, part or21 Ich beziehe mich auf den Begriff, der laut Thomas Schulz auf „einen selbstgesteuerten Prozess der Verortung des Subjektes“ in den Behandlungsregimen und auch in den „Bedingungsgefügen von Selbststeuerung im Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel, sozialer Wissensproduktion und biographischer Orientierung“ (2001: 123) hinweist.
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ganisations“, so Arjun Appadurai im Kontext von transnationalen advokatorischen Sozialbewegungen, wofür die Forschungsmethode „has yet to be developed“ (2000: 15). Ihm geht es insbesondere um ihre Vielgestaltigkeit in unserer global verflochtenen und vernetzten Gegenwart. Als Sozial- und Kulturanthropolog*innen brauchen wir also Werkzeuge und Zugänge, um die unterschiedlichen Verflechtungen, Wissenstransfers und Aktionsräume zu untersuchen. Formationen wie ÇİDER sind flexibel und dynamisch, da sie als hybride und selbstorganisierte Formen der Sozialbewegung konstituiert sind. Zudem entschärfen sie die Grenzen unterschiedlicher Modelle von Mobilisierung und Engagement seitens der Patient*innen (wie etwa Selbsthilfegruppen, Aktivist*innen- und Lobbyvereinigungen sowie die sehr heterogen strukturierten Interessengruppen) (Akrich et al. 2013). Im Kontext von Reproduktionstechnologien spielen sie nun eine wichtige, jedoch auch kontrovers diskutierte Rolle. Es stellt sich die Frage, wie diese die Bewältigungs- und Managementstrategien meiner Gesprächspartner*innen beeinflussen und die umkämpften Felder der Reproduktion mit konstituieren. Um die sozialen, regulativen, wissensproduzierenden und -vermittelnden Funktionen von ÇİDER zu analysieren, bewegte ich mich zwischen unterschiedlichen Feldsites. Darüber hinaus ging es um die Untersuchung der vielfältigen und vielschichtigen Kontaktzonen im hoch dynamischen Feld der Reproduktionstechnologien. Ich folgte einem fragmentarischen Set von Forschungspraktiken, quasi einem „polymorphous engagement“ (Gusterson 1997, siehe auch Hannerz 2003). Hierbei war ich durchaus manchmal auch etwas „opportunistisch“, wie Coleman und Collins (2011: 3) unterstreichen, um Wissens-, Erfahrungs- und Handlungsräume oftmals diffuser, hybrider und flexibler Vernetzungen ethnografisch greifbar zu machen. Dies komplementierte quasi die klassisch sozial- und kulturanthropologische Wissensmethode, die „auf Dimensionen der Interaktion, Relation und Intervention im Modus der Begegnung“ beruht und sich gerade auf diverse Begegnungsmomente einlässt (in Bezug auf Bornemann, Knecht 2009: 148). Es geht darum, die Komplexität der ethnografischen Forschungsgegenstände und -felder greifbar zu machen. Sie besteht aus den fragmentierten und pragmatischen Praktiken der Subjekte in einer gegenwärtig „zersplitterten“ (Geerzt 2000: 221) und vernetzten Welt und fordert uns heraus die ineinandergreifenden Zusammenschlüsse und Reibungen als konstitutive Unordnungsmacher des Alltags ethnografisch mit einzubeziehen (Tsing 2005, Biehl/ McKay 2012). Hierfür ist Tsing’s empirische Perspektive hilfreich. In ihrer Forschung zum Raubbau im indonesichen Regenwald appelliert sie dafür, den Fokus auf die unordentlichen Ansammlungen, sowie die entstehenden Prozesse und die flüchtigen Momente wie auch auf die Ergebnisse zu richten (2005). Hierbei
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geht es nicht um die Zonen, in denen Gegensätze – wie zwischen global und lokal oder Professionalität und Laienhaftigkeit – als solche funktionieren, sondern darum, beim Aufeinandertreffen der selbigen etwas Neues entstehen zu lassen. Sie plädiert dafür, die „Reibungen“ aufzuzeigen, diverse aufeinanderprallende Interessen, flüchtige Interaktionen, Wissensformen und -pfade, Handlungsorientierungen und Beziehungsformen, meist mit Macht durchdrungen und mit ungewissem Ausgang anzuerkennen. Eine fragmentarische Ethnografie, die sich gerade mit ihrem methodischen Ansatz vom „patchwork and haphazard“ bedient und der „awkwardness“ dieser Felder anpasst (ebd.: xi), eignet sich die globalisierten Regime der Reproduktionstechnologien an. Damit können einerseits entlang der Reibungen die Globalisierung der (neoliberalen und spät-modernen) Imperative untersucht und andererseits gezeigt werden, dass sie „interrupt stories of a unified and successful regime of global self-management“ (ebd.: 271) sind. Somit sind die kulturell kontextuellen Realitäten nicht vorgegeben, sondern werden als Teil von Kontext(ualis)ierungsprozessen verstanden. In dieser Hinsicht stellen Kontopodis, Niewöhner und Beck (2011) mit Recht eine „fourth movement“ an der Schnittstelle zwischen STS- und medizinanthropologischen Forschungen fest, welche sie durchaus befürworten. Dies kann als ein Plädoyer aus praxeografischer Perspektive für einen stärkeren Einbezug der neu entstehenden Handlungs- und Deutungsfelder in unsere Forschungspraxis und Denkweisen der Grenzverhältnisse verstanden werden. Kurzum ist die Rede hier von Engagementzonen, „where different rationalities rub against each other, compete, and become entangled in different ways. Science [...] is instead woven into the fabric of everyday life struggling for authority against competing interests. These zones of awkward engagement are difficult to access. They are not always the powerful, self-confident sites of scientific knowledge production that will not be disturbed by STS researchers. Zones of awkward engagement are often more fragile in many ways, slow-moving, often seemingly trivial, extending into everyday lives. This requires attentive, careful research; research that has the time to hangout and forge relationships. Ethnography may once again prove a fruitful mode of involvement with these zones [...].“ (Ebd.: 609)
Daran schließt sich meine Forschung an. Sie wagt den ethnografischen Move in die heterogenen, unstabilen und losen Nischen. Am Beispiel der Türkei und ihres vernetzten globalen Reproduktionsregimes rückt sie eben die bislang wenig erforschten Wissensräume und aktivistischen Nischen ins Blickfeld, die Verhältnisse zwischen Biomedizin, Märkten, Politik, Staat und Gesellschaft (re-)konfigurieren. Ein ständiges Pendeln zwischen den medizinisch-klinischen Settings
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der Behandlung, aktivistischen Räumen und Alltagen der Frauen und Paare war dabei zentral. Bei der Feldkonstruktion und Rahmung der Fallstudie ÇİDER nutzte ich zudem Forschungsansätze, die klassische Forschungsmethoden der vor Ort stationären Ethnografie mit der sogenannten Internet-Ethnografie verbinden (Hine 2000, Miller/Slater 2000a, Budka 2008, Coleman 2010). Dies erforderte eine empirische und analytische Erweiterung kanonischer Forschungsmethoden, die zunehmend „virtuelle“ und hybride Online- und Offlinewelten miteinander verknüpfen. Die Reproduktionsbiografien sind „mediated“ (Beaulieu 2004) und nun an der Schnittstelle von Medialisierung und Medikalisierung miteinander vernetzt (Liebsch 2010). Um beides ging es mir in meiner Forschung, die Wissenspraktiken der Einzelnen und die sich herausbildenden Communities auf der Grundlage der geteilten biosozialen Zustände. Ich generierte mein Material aus multiplen Sites und bewegte mich in unterschiedlichen Räumen. Ich führte Interviews und machte teilnehmende Beobachtungen vor Ort, im Verein und nutzte auch die Begegnungs- und Beobachtungssituationen, die sich aus meinem permanenten Mitgehen ergaben. Um die lokale Positionierung der Selbsthilfe zu verstehen, führte ich auch Gespräche mit Mediziner*innen, Beraterinnen und Psychologinnen (alle ausschließlich weiblich) in mehreren IVF-Kliniken und während der Öffentlichkeitsaktivitäten ÇİDERs. Beide Personengruppen wurden hierbei berücksichtigt, die, die in Aktivitäten des ÇİDER involviert waren, und die, die sich prinzipiell davon distanzierten. Die öffentlichen Veranstaltungen waren Orte, an denen ich beobachtete, wie Reproduktionsmedizin und Infertilität von einem heterogenen Publikum be- und ausgehandelt werden. Insgesamt waren es sieben Informationsveranstaltungen, an denen ich teilnahm, davon fanden drei in unterschiedlichen Stadtteilen von Istanbul statt und die anderen in den Städten İzmit und Çorlu in der Marmararegion und Giresun und Ordu in der Schwarzmeerregion. Zudem gelang es mir im Laufe der Forschung beim jährlichen Treffen des internationalen Netzwerkes International Consumer Support for Infertility (iCSi) dabei zu sein. Hier zeigten sich auch internationale Verflechtungen im Patient*innenkontext (siehe 6.2). Die Methodenvielfalt ermöglichte es vielgestaltige Selbsthilfekontexte zu untersuchen und zu erforschen wie diese sich im Handlungsfeld der Medizin positionieren. Ein besonderer Gewinn war, den Praktiken nachzuspüren, die jenseits klinisch-medizinischer und aktueller Behandlungssettings, in hybrid vernetzten Online- und Offlinealltagen staatfinden. Das Internet bietet einen Sozialraum, in dem die Menschen wie an keinem anderen sozialen Ort ihre Probleme, Erfahrungen und Selbstverständnisse preisgeben und sich als selbst-offenbarende Subjekte in einem interaktiven Umfeld engagieren. Für mich war das Internet
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zugleich ein Werkzeug und eine zentrale Feldsite meiner Forschung, worauf ich folgend eingehen möchte. Forschung im Netz und darüber hinaus Gab ich, bereits im Vorfeld meiner Forschung, in die Suchmaschinen die Stichwörter Kinderwunsch oder Tüp Bebek ein, erschien unmittelbar die Webseite www.cocukistiyorum.com. Mein Erstkontakt erfolgte also mit dem einschlägigen Feld online. Von Beginn an war ich an den netzbasierten Interaktionen und ihren Effekten auf den Umgang mit stigmatisierten Problemlagen der Infertilität und unerwünschter Kinderlosigkeit interessiert. Die Webseite des Vereins ÇİDER und ihre Foren, als eine zentrale Anlaufstelle für die betroffenen Personen und ihre Angehörigen, wurden daher unvermeidlich Orte der Forschung. Neben meinen stationären Forschungsaufenthalten forschte ich circa zwei Jahre lang in Abständen auf dieser Online-Plattform und in ihren thematisch vielfältigen Internetforen. Ähnlich wie die Protagonist*innen dieser Studie bewegte ich mich in unterschiedlichen Austauschforen und Chaträumen und setzte diese auch für meine ethnografische Wissens- und Beziehungsarbeit ein. Das Feld „per Mausklick“ (Greschke 2007) erweitert schlicht die Forschungskontexte (Markham 2004). Das heißt, die netzbasierten und die Gesicht-zu-Gesicht-Kontexte werden miteinander verbunden und die Prozesse untersucht, wie diese sich wechselseitig erweitern. Ähnlich wie viele Gleichgesinnte anderswo trennen die Protagonist*innen nicht den digitalen Raum von ihrer Nahwelt. Im Gegenteil. Der digitale Raum stellt einen wesentlichen Teil ihres Alltags und ihrer Behandlungen dar, wobei sie intensive Körper- und Wissensarbeit, komplexe medizinische Eingriffe und Abläufe managen müssen – meist unter einem enormen Zeitdruck und finanzieller Last. Ich untersuchte, wie das Internet als eine sozio-technische Infrastruktur integriert wird. Dadurch wird sowohl eine Online-Offline-Dichotomie vermieden (Markham 2004, Orgad 2005, Illingworth 2006) als auch eine kontextuell situierte Einbettung der Online-Räume und digitaler Praxen herausgearbeitet (Miller/Slater 2000b, Bräuchler/Postill 2010).22 Die offenen und anonymen Strukturen helfen dabei die losen und verstreuten Nutzer*innen und 22 Das Soziale in einer reibungslosen Digital-Analog-Teilung als kontextuelles Denken zu betrachten, so Stefan Beck (2015) in seinem Vortragstext „Von Praxistheorie 1.0 zu 3.0“, erwies sich bereits als ethnografisch „dysfunktional“. Ein sozial- und anthropologisches Verständnis und eine solche Forschungsperspektive sollte stattdessen „relationiert“ und praxeologisch erkunden, „wie das Soziale durch die massenhafte Verwendung digitaler Prozesse und Optionen neu gestaltet wird“. Sein Plädoyer ist es also, diverse Formen der digitalen „Einbettung in technologisch veränderte Sozialitäten“ zu erforschen. Vor diesem Hintergrund untersucht meine Ethnografie diverse situationelle Kontexte relational zueinander, die Prozesse in „Einbettung in technologisch veränderte Sozialitäten“ zeigen.
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„Mit-Leidenden“ zusammenzubringen und sie zu einer biosozialen OnlineCommunity zu transformieren (siehe 5). Meine Interviewpartner*innen bezeichnen die online-Welt als erweiterte Wissens- und Sozialräume im Umgang mit Infertilität in einer „fertilen Gesellschaft“. Die Grenze zwischen Online und Offline verschwimmt, wobei auch die Aushandlungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit als erdachter Dichotomie – im Internet wie darüber hinaus – sich ändern. So ist die Anonymität des Netzes eine Chance und Bürde zugleich. Denn der Zugang zu den halböffentlichen Informationen ist möglich, zugleich gehen damit forschungsethische Fragen einher (Markham/Baym 2009). Erst einmal war ich als Lurkerin auf der Webseite beteiligt, ich verfolgte quasi unangekündigt die Online-Interaktionen. Ich konnte mich in die Welt der Kinderlosigkeit im Netz ‚einleben‘ und Vertrautheit mit der netzbasierten Kommunikationskultur und Sprache gewinnen. Später legte ich meine Identität als Forscherin offen und loggte mich wöchentlich mehrmals ein. Ziel war, an dem Geschehen simultan teilzunehmen, wobei dies sich häufig als eine Herausforderung darstellte. Ab dem Jahr 2009 habe ich regelmäßig die Foren besucht, was mir einen Überblick verschaffte über die netzbasierten Normen, die Sprache und Praktiken. Anfänglich war diese Welt schwer zugänglich, aufgrund von sehr dichten Interaktionen, aber auch die unterschiedlichsten Emoticons, Symbole und Bilder mussten neben der medizinischen Fachsprache bzw. den Kürzeln erst entschlüsselt werden. Allein die Pseudonyme der Nutzer*innen sind für deren Schreibkultur signifikant – beispielsweise „Hoffnung79 (umut79)“, „wirhätteneinetochterbekommen (kizimizolacakti)“. Ich sammelte selektiv thematische Daten und versuchte über die relativ dichte und diffuse Web- und Kommunikationsstruktur mein Wissen zu vertiefen. Ich verfolgte mehrere Foren mit bestimmten Themen, wobei ich die Auswahl stichprobenartig traf. Gezielt habe ich einige Foren beobachtet und analysiert, weil sie an kontroversen Themen ausgerichtet waren bzw. selbst in den Diskussionen eine Kontroverse behandelt haben. Darunter waren besonders Diskussionsforen zu den Schwerpunkten Regulationen sowie praktischen und medizinischen Informationen. Ich beobachtete die Praktiken, wie Frauen und Männer sich in den Foren gegenseitig unterstützten, bezüglich der Bewältigung der Behandlungen, im Inland oder im Ausland und wie sie sich gegenseitig praktische Informationen zur Verfügung stellten. Dazu führte ich ein Notizheft, um festzuhalten, wie was und von wem gepostet wird, in welcher Dichte Informationen ausgetauscht werden bzw. Themen und Belange diskutiert werden. Die Foren stellen ein als weiblich konnotiertes Terrain dar, d.h. die Männer sind mit ihren eigenen Problemlagen und Belangen weniger vertreten. Die Foren sind dennoch sozioökonomisch und medizinisch höchst heterogen und auch stellvertretende und flankierende Belange werden dort bear-
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beitet. Während meiner Forschung waren in der Regel 300 Personen gleichzeitig online, einige davon aus dem Ausland. Es gab hunderte Diskussions- und Austauschforen, die thematisch variierten. Täglich wurden neue thematische Rubriken eröffnet. Ich traf dort auch meine Interviewpartner*innen, die ich später persönlich kennenlernen durfte. Der Kontakt erfolgte, da die aktiven Nutzer*innen auf meine Anfrage im Internet nach einem persönlichen Gespräch geantwortet haben. So besuchte ich einige von ihnen beispielsweise an deren Arbeitsplätzen, zu Hause oder nahm an den lokalen Treffen der kleinen Selbsthilfegruppen von Frauen teil. Aufgrund sozialer, örtlicher und zeitlicher Einschränkungen waren meine Besuche für einige Wenige nicht möglich. Deshalb führte ich mit denjenigen Interviews entweder per Skype oder per Telefon. Ich bevorzugte es dennoch, Menschen möglichst jenseits der netzbasierten Räume zu begegnen. So konnte ich die situationsspezifischen bzw. netzspezifischen Einflüsse mit einkalkulieren. Im Internet war es möglich, die Praktiken der Betroffenenarbeit und der Selbsthilfe im Prozess, d. h. über einen längeren Zeitraum, zu beobachten. Ich kam zudem in Kontakt mit einer lokalen Frauenselbsthilfegruppe in Salcak (anonym), einer Stadt in der Nähe Istanbuls, die sich monatlich vor Ort trifft und sich zusätzlich in den Internetforen austauscht. Von 2010 bis 2012 nahm ich viermal an ihren Treffen teil und führte Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit Gruppenmitgliedern (siehe 5.4). Der Verein nahm, trotz der offenen Strukturen der Foren, quasi eine ‚Gate-Keeper‘-Rolle ein. Er kontrollierte meinen Feldzugang, aber ermöglichte ihn auch. Die Forschung in den zunehmend hybriden Online- und Offlinewelten ermöglichte die grundlegenden Selbsthilfepraktiken und Betroffenenmobilisierung zu untersuchen. Viele sind durchaus ausschließlich im Internet – wie sonst nirgendwo – ethnografisch zugänglich. Denn diese Selbsthilfepraktiken verlagern sich gerade in die netzbasierten Räume bzw. prägen sich erst dort aus. Es sind gerade die anonymen und offenen Strukturen im Web 2.0, die die Herausbildung neuer Beziehungen, Engagement- und Wissensmodi der Patient*innen ermöglichen, welche zuvor unmöglich gewesen wären. Denn diese fördern vielschichtige, meist flüchtige, fragmentierte und inhaltlich schwer kontrollierbare Zirkulationen von Informationen und Wissen und bringen neue (In-)Visibilitäten hervor. In den kulturellen und lokalen Prägungen eingebettet, wie Anthropolog*innen mehrfach betonten (Hine 2000, Miller/Slater 2000a), setzen sie sicherlich neue, global zirkulierende Diskurse und digitale Wissensmodi in Bewegung. Material und Analyse Ich habe ein buntes und heterogenes Material in meine Analyse einbezogen, wie etwa Einzel- und Paarinterviews, die ich im Vereinsbüro von ÇİDER auf öffent-
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lichen Informationsveranstaltungen oder bei den Familienbesuchen in deren Zuhause geführt habe. Insgesamt wurden mehr als 100 Interviews in unterschiedlicher Länge und inhaltlicher Intensität durchgeführt. Jedes Interview umfasste allerdings eine Dauer von mindestens einer Stunde. Viele dauerten bis zu zwei Stunden. Ich interviewte 12 Personen per Skype und Telefon, wobei ich sehr detaillierte, bis wortgetreue Mitschriften verfasste. Zehn Mitstreiter*innen wurden in das Langzeit-Sample aufgenommen, fünf von ihnen waren Mitarbeiter*innen ÇİDERs die anderen fünf waren IVF-Ärzt*innen. Mit ihnen habe ich in regelmäßigen Abständen Folgeinterviews geführt. Ich nutzte zwei unterschiedliche halbstrukturierte Leitfäden für die Interviews; einen für das Erstinterview und den anderen für die Folgeinterviews. Das erste Interview war stets akteurs- und fallzentriert zugleich. Hier registrierte ich individuell-familiäre reproduktionsbiografische Verläufe und Details, wobei ihre jeweilige Wissensarbeit und ihre Informationspraktiken im Zentrum standen. Es handelte sich um reproduktionsbiografische Erfahrungen, Verständnisse und Wissenswege im Kontext von Reproduktionstechnologien. Der Fokus lag dabei auf der spezifischen Rolle des Engagements in der Selbsthilfegruppe und der advokatorischen Gruppe ÇİDER. Gefragt wurde, wie meine Gesprächspartner*innen diverse Angebote solcher Gruppen und Gemeinschaften in ihr reproduktionsbiografisches Wissens- und Informationsmanagement einbeziehen und welche individuellen und kollektiven Prozesse sozio-kulturellen Wandels sie selbst wie deuten. Die Folgeinterviews dienten wiederum zur thematischen Vertiefung. Es wurden sowohl die bereits angesprochenen Themen wieder aufgegriffen als auch neue bzw. später nach der Erst- und Zwischenanalyse und der Kodierung auftauchende Aspekte mit eingeschlossen. So konnte ich auch die langfristigen Veränderungen der Erfahrungen, Deutungs- und Handlungsweisen und Selbstbilder der Protagonist*innen dokumentieren. Die Interviews wurden später transkribiert und anonymisiert. Zum größten Teil erfolgte eine deutsche Übersetzung, bevor sie in das Datensample auf Atlas.ti gespeichert wurden. Viele nicht-übersetzte Interviews analysierte ich jedoch direkt aus dem Türkischen. So verlief der Forschungs- und Analyseprozess zweisprachig. Zu jedem einzelnen Interview führte ich ein detailliertes Protokoll mit allen Eckdaten, welches ich später durch systematisch geführte Memos ergänzte. Diese dienten unmittelbar zur Konstruktion der Fallstudie. Die systematisch geführten Gedächtnisprotokolle ergänzten zugleich das Feldforschungstagebuch, in dem ich Interview- und Beobachtungssituationen, Besonderheiten und relevante Überlegungen festgehalten habe. Während der teilnehmenden Beobachtung führte ich Feldnotizen und protokollierte wichtige Aspekte – z.B. während der Veranstaltungen. Dabei habe ich Videoaufnahmen und Fotos gemacht, als quasi „observational record“ (Pink 2001: 79)
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wurden diese später in die thematisch fokussierte Analyse mit einbezogen. Auch die Datengenerierung aus dem Netz erfolgte zum Teil thematisch selektiv. Ich bezog die Daten in die Analyse ein, die auf der Webseite und den diversen Foren für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich sind. Anderenfalls nutzte ich Daten nach direkter Absprache und im Kontakt mit den Personen. Abbildung 1: Mapping eines Schnittfeldes
Quelle: Feldforschungsmaterial
Um mit der mehrdimensionalen und vielseitigen Datenmenge und Dichte umzugehen, orientierte ich mich am theoretischen Sampling (Strauss/Corbin 1996 [1990], Flick 2007). Die Analyse erfolgte mithilfe des Analyseprogramms Atlas.ti. Der erste Analyseabschnitt umfasste die Kodierung der geführten Interviews. Die Vorgehensweise lehnte sich an die Grounded Theory, ein gegenstandsbezogenes Theoriebildungsinstrumentarium, das von den Soziologen Glaser und Strauss (2005 [1998]) entwickelt wurde. Da diese Herangehensweise sich auf den gesamten Forschungsprozess erstreckt und nicht nur auf die Auswertung der gesammelten Daten beschränkt bleibt, fand ich sie kompatibel mit dem ethnografischen Modus meiner Forschung. Durch diese Methode verläuft die Datenerhebung in einem zirkulären, erweiterten Prozess, in dem Daten parallel erhoben, kodiert und analysiert werden. Nach der Analyse der schriftlichen und visuellen Daten tauchten etwa neue Fragen auf, die ich dann bei der nächsten Forschungsphase einbeziehen konnte. Zu den Kodierungen fertigte ich also auch systematisch thematische Memos an. Hier wurden alle wichtigen Aspekte, Dimensionen und auftauchenden Fragen unter Stichpunkten gesammelt und sortiert. Zudem nutzte ich die Situationsanalyse, darunter auch das Mapping, die von Adele Clarke im Rahmen der Grounded Theory entwickelt wurde. Dies diente vor allem dazu, relevante Feldsites, Akteure, Praktiken und Dimensionen
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zu identifizieren, wie in Abbildung 1 dargestellt und zugleich die „Darstellung auch auf andere Grenzlagen auszuweiten“ (Tsing 1993: 219, zitiert und übersetzt von Clarke 2011). Solch eine Herangehensweise ist für eine Ethnografie relevant, die sich für die Schnittfelder im Handlungsfeld der Medizin interessiert. Sie ermöglicht beim Partikularen zu beginnen und sich in die Engagementzonen zu bewegen, in denen unterschiedliche soziale, diskursive, politische und institutionelle Positionen miteinander interagieren. Dabei werden, um mit Clarke weiter zu argumentieren: „[b]estimmte Aspekte der Situiertheit, Verschiedenheit(en) und Variation erforscht. Heterogene Positionen und Beziehungen können explizit aufgespürt, verfolgt, analysiert und diskutiert [...]“ werden, auch „die chaotische Komplexität der dichten Verflechtungen und Permutationen“ von Situiertheiten (ebd.: 209) wird visuell und analytisch dargestellt. Mit dem Mapping porträtierte ich etwa die Aktivist*innen-Szene wie ÇİDER und ihre vielfältigen Verbindungen und Beziehungen im reproduktionsmedizinischen Feld. Die Kodes und Kategorien, die ich mit Hilfe von Atlas.ti erstellte, erweiterte ich durch visuelle Darstellung der Verbindungen und Verflechtungen. Die Schlüsselpositionen, Akteur*innen und Allianzen wurden somit sichtbar gemacht, auch wie diese sich zeitlich und situativ ändern. Welche Dimensionen an welchen Positionen angeknüpft sind, sieht man etwa in beiden Abbildungen deutlich. Zusätzlich werden die „implicated actors“ berücksichtigt, also solche, die in bestimmten Situationen und Konstellationen „stille“ und „absente“ Parts sind, diskursiv konstituiert oder durch die andere „targeted“ und „silenced/ignored/made invisible“ werden (Clarke/Star 2008: 119). Dies führte schlussendlich zu einem analytischen und empirischen Ertasten der Praktiken und Neu-Formationen im Umfeld der Reproduktionsmedizin.
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Choreografierte Verschränkungen Klinik, Alltag und Politik
Unter Tüp Bebek wird die extrakorporale Befruchtung nach hormoneller Vorbehandlung und der anschließende Embryotransfer in den Uterus der Frau verstanden. Von der Erstberatung bis hin zum Schwangerschaftstest wird alles nach dem weiblichen Zyklus und ihrem körperlichen Rhythmus ausgerichtet. Es geht um ein Eintakten der Hormone, Operationen und Labore. Reproduktionstechnologien erzeugen eine „hybrid culturing“ (Thompson 2005: 115). Diese umfasst eine „strategische Naturalisierung“, wie Thompson dies gemeinsam mit deren Wirkung auf die komplexen Grenzziehungen von Natürlichem und Technologischem in einer kalifornischen Klinik demonstrierte. Die Zeugung im Reagenzglas erzeugt also einen sozio-technischen Komplex, bei dem das Soziale vom Technischen, das Körperliche vom Materiellen, das Natürliche vom Künstlichen getrennt, aber auch erneut verbunden werden. In diesem Kapitel analysiere ich diesen Prozess innerhalb der Istanbuler Privatkliniken, in denen ich mit zeitlichen Abständen hospitieren durfte. Ich zeige, wie dieser Komplex, der Herstellung von Normalisierung, „flexibel gemanagt wird“ (Thompson 2001: 198), nähere mich aber zugleich den negoziierten Komplexitäten im Umfeld der „Fortpflanzungsmedizin“ in der Türkei an. Ich beginne damit, darzulegen, was in den Kliniken passiert und wie dort quasi die komplexen Übergänge zwischen klinischen Alltagen, Laboren, intimsten Lebens- und Problemlagen der Infertilität gesteuert werden. Alle drei Kliniken liegen in den wohlhabenderen Stadtteilen der Metropole Istanbul. Bei zwei handelt es sich um Fertilitätsstationen in Privatkrankenhäusern und eine gehört zu den eigenständigen Fertilitätszentren des Landes, in denen ausschließlich Kinderwunschbehandlungen durchgeführt werden. Sie bedienen nicht nur die finanziell besser gestellte Istanbuler Mittelschicht, sondern auch die weniger wohlhabenden oder ökonomisch benachteiligten Frauen und Paare, die meist mit der Hoffnung auf die bestmöglichen Behandlungsoptionen aus unterschiedlichsten Städten des Landes kommen. Sie le-
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gen Wert auf eine Selbstdarstellung, dass sie dem „Welt-Standard“ entsprechen. So schilderten sie auch mir im Laufe meiner Forschung den modernsten Stand der neuesten Technologien. Sie sprechen genau die Klientel an, die sich die effektivste Medizin erhofft, die möglichst effizient und schnell zur gewünschten und erhofften Schwangerschaft führt. Zudem folgen sie einer Praxisphilosophie, die sich „fast wie eine Selbsthilfe-Atmosphäre“ anfühlen soll, so mein Interviewpartner Dr. Kaplan der folglich seiner in Deutschland erworbenen Spezialisierung auf In-Vitro-Behandlungen in deutscher Sprache über seine Praxis berichtete. Bei Infertilität gehe es „um das Soziale, das damit verwoben ist. Du kannst nämlich eine Kinderlose nicht mit einer Schwangeren in einen Raum bringen. Hier sind alle Frauen und Männer, die Ähnliches erleben“. Bereits vor meinem ersten Besuch stechen mir auf der Straße die Plakate mit aufgedruckten Baby-Bildern zu seinem Fertilitätszentrum ins Auge. Auch in anderen Kliniken sind die Warteräume mit Dutzenden von diesen Plakaten, mit vielen Ultraschallbildern und Dankesbriefen der werdenden Mütter und Väter geschmückt. In allen Räumen hängen tausendfach vergrößerte Bilder von Eizellen im Befruchtungsmoment neben Embryonen. Auf den Werbeplakaten sind Familien abgebildet oder Neugeborene mit dem Spruch: „nicht aufschieben (ertelemeyin)“. In diesen Räumen ‚hing ich herum‘. Mein hanging around in der Klinik und im Labor wurde stets zu einer stillen Verhandlungssache. In allen drei Kliniken wurde meine Rolle jeweils unterschiedlich und situationsabhängig gehandhabt. Die Ärzt*innen und die Klinikleitungen, deren Beratungsgespräche und Tätigkeiten ich begleitete und mit denen Interviews durchführte, agierten als Gatekeeper. Sie überwachten oft paternalistisch und klientelistisch die Intimitätsgrenzen. Es ging nicht nur um den Schutz der Privatsphäre der Menschen oder um die „Sensibilität des Themas“, sondern auch darum, wie es eine IVF-Koordinatorin erklärte: als Privatklinik für das Wohlbefinden zu sorgen sowie auch moralische Sensibilitäten zu respektieren. Ich konnte die Übergänge zwischen Alltag und Labor beobachten, die den unterschiedlichen rituellen, habituellen und praktischen Regeln und Verhaltensvorschriften unterliegen.
2.1 LABOR-PASSAGEN IN IN-VITRO GEZEUGTE WELTEN In den frühen Morgenstunden ist stets Hochbetrieb in der Klinik. Auf jedem Stockwerk treffe ich Frauen und auch einige Männer, manchmal in Begleitung von anderen, wahrscheinlich verwandten Frauen. Manche haben Beratungstermine, andere warten auf die operativen Eingriffe der Eizellentnahme oder aufge-
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regt auf den Embryotransfer. Diesmal bin ich aufgeregt. Nach mehrtägiger Hospitation begleite ich heute nun Dr. Kaplan, den Leiter der Klinik, bei den Operationen und zum ersten Mal gehe ich in das Labor, „ins Herz“ der Klinik, wo eben ‚alles passiert‘, wo täglich Kinder erzeugt werden. Kaplan führt mich zu zwei Laborassistentinnen, die mir bei meinem rite de passage in die Medizinwelt helfen und mich mit einem grünen Laborkittel, dazu Mundschutzmaske, Haube und Praxisschuhen ausstatten. Ich fühle mich ‚sozio-naturalisiert‘, da ich quasi zum Teil der Szene gemacht werde, wie Thompson es beschreibt. Ein ganz anderer Hochbetrieb herrscht hier. Lächelnd begleitet mich die Embryologin hinein. Das Labor besteht aus zwei nebeneinander liegenden Räumen. In einem werden operative Eingriffe, die Eizellentnahme und der Embryotransfer durchgeführt. Der andere Raum gilt auch als „Küche der ganzen Sache“, wo die entnommenen Zellen gereinigt, selektiert, manipuliert und später im Reagenzglas befruchtet werden. Einen, sich über mehrere Tage erstreckenden, Prozess verfolge ich selbst: Beginnend mit der ersten Eizellentnahme bis zum abschließenden Transfer der befruchteten Eizellen in den Uterus der Frau. In Gesprächen und Abläufen fällt mir auf, wie das Labor in vielerlei Hinsicht feminisiert wird. Zutritt wird ausschließlich den behandelten Frauen gewährt. Um ein Spermiogramm oder eine Befruchtung durchzuführen, kommen allein Spermien hinein. Der gesamte reproduktionsmedizinische Prozess richtet sich allein nach den körperlichen und biologischen Rhythmen der Frauen. Doch auch das Labor solle „möglichst zur Atmosphäre im Körper der Frau passend“ sein. So fügt der Arzt hinzu: „Sie müssen dort eine künstliche Gebärmutter herstellen.“ Die Räume würden permanent auf einer bestimmten Temperatur gehalten, nur ein schwaches Licht leuchtet, höchst sensible Filter reinigen die Luft und es werden strikte hygienische Maßnahmen befolgt. Mit den „neuesten Technologien“ ist das Labor ausgestattet, um „naturnahe Bedingungen bei der Befruchtung herzustellen“. Es geht außerdem um eine gut koordinierte Harmonie „vom Körper ins Labor und wieder vom Labor in den Körper“. Der reproduktive Prozess wird zu einer Mischung von Körpersubstanzen via „the grafting of parts and the calibrating of time“ (Thompson 2005: 9). Das heißt, die reproduktiven Abfolgen werden re-organisiert, wobei die Klinikarbeit auch „nach den biologischen Zeiten der Zellen“ geregelt wird. „Synchronizität ist wichtig“ betont die Embryologin Pekel. Die Eizellen werden „frisch“ entnommen und bearbeitet, während der Mann „frische Spermien abgibt“ – in einem für diesen Vorgang eingerichteten Zimmer mit diversen Materialien, TV und einer Dusche. Diese werden häufig diskret in einem Behälter durch ein Fenster, eine Art Durchreiche, gereicht. Die Eizellenentnahme geschieht durch einen invasiven Eingriff, bei dem die Frauen leicht betäubt werden, so dass sie im Moment
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noch ansprechbar sind, aber im Nachhinein keinerlei Erinnerungen haben. Abgesehen von einer Klinik begleitet stets eine Psychologin (immer Frauen) die jeweilige Patientin. An meinem ersten Tag erstaunte mich die folgende Situation: Eine Psychologin saß neben der halbbetäubten Frau und erklärte ihr, indem sie ihr ins Ohr flüsterte, wie der Eingriff verläuft. Sie beruhigte sie immer wieder mit Sätzen wie „du machst das gut“, „bloß keine Aufregung, es ist alles gut“. Sie versuchte sie emotional zu ermutigen. In diesem Moment erläuterte mir Dr. Kaplan, dass es bei In-Vitro auf „extreme Gewissenhaftigkeit“ ankommt. Diese soll mit „höchster Sensibilität“ vollzogen werden, nicht nur bezüglich der Patientinnen, sondern auch der Keimzellen und später bei der Erzeugung der Embryonen. Charakteristisch hierfür ist, dass der ganze labortechnische Prozess der Erzeugung naturnah konzipiert wird. Dabei werden alle Schritte technisch vollzogen und in dem materiellen Umfeld der Medizin ritualisiert. Ein komplexes Ensemble findet statt, eine im Sinne von Latour (1993) „Reinigungs- und Übersetzungsarbeit“, in der die durch die neue Technologie praktizierte Vermischung von Sozialem und Natürlichem, von Kultur und Natur hergestellt und erneut getrennt wird.1 Es umfasst die Grenzziehungen, wodurch eine ontologische Choreografie der Zeugung hergestellt wird: „The term ontological choreography refers to the dynamic coordination of the technical, scientific, kinship, gender, emotional, legal, political, and financial aspects of ART clinics. What might appear to be an undifferentiated hybrid mess is actually a deftly balanced coming together of things that are generally considered parts of different ontological orders (part of nature, part of the self, part of society). These elements have to be coordinated in highly staged ways so as to get on with the task at hand: producing parents, children, and everything that is needed for their recognition as such. Thus, for example, at specific moments a body part and surgical instruments must stand in a specific relationship, at other times a legal decision can disambiguate kinship in countless subsequent procedures, and at other times a bureaucratic accounting form can protect the sanctity of the human embryo or allow certain embryos to be discarded. Although this kind of choreography between different kinds of things goes on to some extent in all spheres of human activity, it is especially striking in ART clinics. They are intensely technical and intensely personal and political.“ (2005: 8)
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Diese ist im Sinne von Latour typisch für die Moderne. Die nicht-menschlichen Dinge werden von den menschlichen Dingen getrennt, die Natur von der Kultur, das Körperliche vom Sozialen. Mögliche Vermischungen führen oftmals zu Irritationen und die eigentlich vorliegenden Hybriden [Mischwesen] werden auf das Soziale oder das Technische, auf die Kultur oder die Natur reduziert.
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Ich erkenne nach einiger Zeit, wie In-Vitro in den türkischen Kliniken inszeniert wird. Diese lässt viel Alltag und lokale Sensibilitäten zu. Das Technische geht Hand in Hand mit dem Sozialen, aber auch das Rationale mit dem Emotionalen. Dies zeigt sich beim Umgang mit den Ei- und Samenzellen und auch dabei, welche Bedeutungen die befruchteten Eizellen haben, die sich, wie erhofft, in vier bis fünf Tagen in „Deponierboxen“ allmählich in Zellen teilen und sich aus circa 100 Zellen zu einem Embryo entwickeln. Die Kliniken folgen, je unterschiedlich in allen drei Kliniken, sorgfältigen Registrierungsregeln. Diese umfassen besonders mehrfache, schriftliche und verbale Kontrollen und Checks. Noch während der Entnahme wird jede Eizelle sofort gereinigt und durchläuft den ersten Check. Die Embryologin verkündet dem Team jedes Mal laut die Anzahl der Eizellen und wie viele „gut“ oder „verwendbar“ aussehen. An die Tafeln oder in den Laborheften werden die exakten Informationen dazu eingetragen: der Name der Patientin, die Anzahl der entnommenen Eizellen und das dazugehörige Datum. Für die zeitliche Abfolge wird außerdem ein farbiges Kartensystem geführt. Jeden Tag werden Karten in je unterschiedlichen Farben auf die Deponierkästen geklebt, so orientieren sich die Mitarbeiter*innen nach Temporalitäten, „denn man darf das biologische Material keinesfalls vertauschen“ berichtet Frau Pekel. Bei einer IVF-Behandlung findet die Befruchtung in einer Petrischale „spontan“ statt, was dem „natürlichen Vorgang“ nahekomme. Alle Verfahren, die ich beobachtete, wurden allerdings per ICSI durchgeführt, bei der die Embryologin durch „geschickte Handfertigkeit“ ein einziges Spermium in die Eizelle „einspritzt“. Bis zur Einnistung in die Gebärmutter durchläuft „die Reise der Embryonen“ mehrere Stationen im Labor. Während meiner Forschung hatte die Klinik sich ein „Embryoscope“ angeschafft. Mit diesem überwachen sie die Embryonen rund um die Uhr. Sie beobachten, ob und wie die Zellen sich teilen und wie zügig der Wachstum erfolgt. Dabei werden die Zellen nicht den äußeren, womöglich kontaminierenden Effekten ausgesetzt. Nun können die Wunscheltern ihre Embryos auf einer CD mit nach Hause nehmen. In der Regel basieren die Analyse und die folgende Selektion auf der Erfahrung der Embryolog*innen. „Nach Auge“ wird entschieden, erklärt es mir die Embryologin Peker. Die „guten“ bzw. „bestmöglich für die Einnistung im Uterus geeigneten“ werden ausgewählt und diese unter vielen selektiert. Von Beginn an ist jede Behandlung darauf ausgerichtet, möglichst viele, „verwendbare (kullanılabilecek)“ Substanzen zu gewinnen und diese zu befruchten. Ärzt*innen wie Paare freuten sich stets über die Vielzahl der Gameten und Embryonen. Hier herrschen ganz flexible und zweckorientierte Logiken von beiden Seiten, allen geht es darum, „das gewünschte Resultat zu erreichen“. Dafür reiche „ein einziges Spermium“ und „eine einzige Ei-
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zelle, ein Gold-Ei (altın yumurta)“, sagen viele. Trotzdem werden diese oftmals als „Material“ und „Substanz“ bezeichnet, manchmal aber auch als „Vorstufe des Lebensschaffens“ betrachtet. Je nachdem werden sie bewertet und weiter genutzt oder als „überzählige Abfälle einfach im Müll landen“. Die relativ flexiblen Richtlinien beim Umgang mit Körper- und Reproduktionssubstanzen ermöglichen dies. Der Embryotransfer stellt den wichtigsten Schritt einer Behandlung dar und ist auch dementsprechend streng ritualisiert. Wenn dieser nicht „gut genug“ oder „professionell“ durchgeführt wird, „mit viel Erfahrung, Handfertigkeit und Einfühlsamkeit“, seien die vorangegangenen Abläufe relativ irrelevant. Der Prozess ist „schwarz-weiß“. Wiederholt sagen viele: „Entweder erfolgt die Schwangerschaft oder nicht.“ In allen drei Kliniken wurden gewöhnlich zwei bis drei Embryonen „bei den normalen Fällen“ und bei den „schwierigen, wiederholt erfolglosen Versuchen“ eher drei bis fünf Embryonen transferiert – bis die Regulation bezüglich des Embryotransfers geändert wurde.2 Die Anzahl der transferierbaren und zu transferierenden Embryonen pro Zyklus war stets eine zentrale Frage. In der Regel wurde immer versucht, möglichst viele Eizellen und Embryonen zu erzeugen und mehr als zwei oder drei auf einmal zu transferieren, damit die Chance auf die Schwangerschaft höher ist. Die Entscheidungen wurden nach diversen Kriterien getroffen: die „Behandlungsvorgeschichte“, die „Qualität“ von Ei- und Samenzellen sowie von Embryonen, „der Zustand der Patientin und der Gebärmutter“ etc. Auch hier überlappte sich die Sprache über das Labor als künstliche Gebärmutter eindeutig mit den kulturellen Deutungen von „Uterus [rahim]“ und Spermium, worüber ich im Kapitel 4 näher eingehe. Zu betonen ist: Im Prozess der Herstellung der Normalisierung werden die Vorstellungen von Frauen- und Männerkörpern und Geschlechtlichkeit stets aktualisiert. Das Labor ist der „Ort der ‚Verdichtung‘ von Gesellschaft“ (Knorr 1988), dort stellen unmittelbare Übergänge zwischen gesellschaftlichem Leben und den Laborprozessen die Normalisierung her. Die Ärzt*innen sehen sich in einer moralischen Verpflichtung, „die Beste aller besten Behandlungen“ durchzuführen. „In unserem Beruf gibt es kein Grau, entweder wirst du schwanger oder nicht“, konstatiert Dr. Kaplan und setzt fort, dass man „die höchste Schwangerschaftsrate und die beste Dienstleistung“ anbieten müsse: „Diese Menschen müssen in kürzester Zeit mit der erfolgreichsten Methode behandelt werden.“ Die gesellschaftlichen Umstände stünden primär im Vordergrund. „Die soziale Seite 2
Während meiner Forschung wurde die bestehende Richtlinie geändert. Eine „EinEmbryo-Politik“ wurde durchgesetzt, d.h. bei Frauen unter 35 Jahren wurde sich für die ersten zwei Behandlungen auf einen Embryo beschränkt. Ab 35 Jahren und der dritten Behandlung können drei Embryonen transferiert werden. Bis zur Gesetzesänderung gab es in den Kliniken unterschiedliche Praktiken, wobei sich eine Praxis von bis zu drei Embryonen etablierte.
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des Ganzen“ mische sich gerade in der Türkei in die klinische Praxis ein. Doch für viele gehört es zum Berufsethos und zu den sozio-moralischen Verantwortungen im Gesundheitsbereich, dass gerade beim Kinderwunsch die gesellschaftlichen und medizinischen Aspekte einer Behandlung nicht trennbar wären: „In Gesellschaften wie in der Türkei ist Kinderlosigkeit ein großes Problem“, höre ich wiederholt in den Kliniken. Die soziale Seite, wie der extreme soziale Druck und die psychischen Belastungen, besonders der Frauen, werden an die Ärzt*innen herangetragen. Paare sind „auf das Beste, was auf dem Markt zur Verfügung steht, fokussiert“ und Kliniken im hoch kompetitiven Markt zielen auf die „höchste baby-take-home-Rate“ ab, so Dr. Erdem, der leitende Embryologe einer Klinik auf der asiatischen Seite Istanbuls. Man möchte „die Hoffnungen der Menschen nicht aufs Spiel setzen“. Daher werden häufig zwei Dynamiken gegenüber gestellt, welche wir in einem gemeinsamen Artikel „als eskalierenden und als direkt-maximalen Behandlungsverlauf“ bezeichneten (Knecht et al. 2011: 36, [Herv. i. O.]). Der Letztere, ein direkt-maximaler Behandlungsverlauf, wird in den Kliniken, in denen ich forschte, bevorzugt. „Sofort Tüp Bebek“ heißt es in vielen Fällen, wobei damit oftmals das ICSI-Verfahren gemeint ist. Hierfür bringen viele meiner Gesprächspartner*innen (ob Ärzt*innen oder die behandelten Frauen/Paare) unterschiedliche Begründungen ein. Wie „strapazierend“ es für ihre Paare sei, argumentieren Ärzt*innen, „zu nichts führende Inseminationen“ über sich ergehen lassen zu müssen. „Nach-EisprungSex“ strapaziere und traumatisiere das Sexualleben der Paare und die erfolglosen Versuche belasten sie finanziell. Hinzu kommt, dass sie nicht nur den Sozialdruck sondern auch den „auf den Kopf gestellten Alltag“ managen müssen, z.B. in Familien- und Paarbeziehungen, im sozialen Umfeld oder am Arbeitsplatz. „Technisch gesehen ist meiner Meinung nach das andere [In-Vitro-Verfahren] sinnvoller; man nimmt es [die befruchtete Eizelle] und platziert es in die Gebärmutter“, argumentiert Erdem. Am Ende komme man dann doch zu In-VitroVerfahren, dabei hat das Paar [zuvor] viel Zeit, Kraft und Nerven vergeudet. Hier vermischen sich auch die moralisch-ethischen Fragen des Berufsethos‘, gewissermaßen: „wie viel man den Frauen und den Paaren körperlich, psychisch und finanziell zumuten kann“, ergänzt er. Wirksam ist hierbei ein ausgeprägtes Zusammenspiel aus pronatalistischpatriarchalen und neokonservativen Politiken, dem neoliberalen, millionenschweren „Geschäft“ mit dem Kinderwunsch und einer entproblematisierten (Bio-)Medikalisierung der Reproduktion. Wie ich bereits erläuterte, treffen bei der Inanspruchnahme dieser Technologien die progressiven Medizinverständnisse auf die konsumeristischen Logiken. Als „modern (çağdaş)“ wird die Nutzung der invasivsten Technologien gerahmt. Dennoch, nicht um des Modern-Sein-
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Willens, sondern gerade auch, „um den Weg zum Wunschkind zu verkürzen, das Leid und viele körperliche, seelische und finanzielle Belastungen zu ersparen“ seien für viele „das Neueste auch oft der kürzeste Weg (en yenisi en kestirmesi demek)“. In den Beratungsgesprächen beobachtete ich demnach auch eine „Erfolgs- und Zielorientiertheit“. Oft fragen Frauen und Männer, wie effektiv die Behandlung, die Methode und die Medikamentendosierung sei, die sie bekommen und ob „man diese erhöhen kann“. Um den Kinderwunsch zu realisieren, wären viele Familien bereit „vieles in Kauf zu nehmen“. Oft hieß es, „den Schritt zu Tüp Bebek zu wagen“ gelte „nach wie vor als etwas sehr Außergewöhnliches“. Wenn man ihn gemacht hat, gehe es darum, „nichts unversucht zu lassen, um an das Ziel zu kommen“. „Schwangerschaft ist an sich ein Wunder“, ist das Paar Tekin sich einig. Dass es „überhaupt auf dem natürlichen Wege klappt“ sei „verwunderlich“. Sie sind eines von vielen Paaren aus der Istanbuler Mittelschicht, für die der Kinderwunsch mit Anfang oder Mitte 30 zum Thema wurde. Tekins mussten aufgrund der Hodenkrebserkrankung alle Schritte bezüglich ihres Kinderwunsches vorausplanen. Vor der Strahlentherapie gab Herr Tekin Samen ab und ließ diese einfrieren. Danach standen sie vor der Wahl: „direkt Tüp Bebek [gemeint ist ICSI] oder Insemination?“ Herr Tekin erinnert sich weiter: „Da guckt man sich eben um, wo man sich die beste Behandlung herholt.“ Wie viele andere argumentierten sie ausschließlich über ihre Zweckorientiertheit und missbilligten jeglichen moralisch begründeten Zweifel: „Wir haben uns die Quoten bei Inseminationen angeguckt und mir kamen sie sehr niedrig vor. Also, statt es drei- bis fünfmal auszuprobieren, wollte ich direkt zu dem [der Methode] übergehen, was mehr Chancen bietet. Vielleicht war es nicht etwas, das uns finanziell belastet hätte, aber auf alle Fälle hätte es uns physisch, mental und in Form irgendwelcher Grübeleien mehr Kraft gekostet.“
Tekins zufolge werde „Natürlichkeit“ überbewertet. Sie reden darüber, ob es „etwas Besonderes“ oder „Normales“ ist. Das Paar kann sich nicht wirklich einigen. Einig sind sie sich allein darüber, dass am Ende das Resultat zählt, eben die Kinder, „die nicht anders als die normalen Kinder sind“. Die Vorgeschichte ist vielleicht anfänglich ungewöhnlich, doch „in diesen Behandlungen wird genau das gemacht, was die Natur tut“. „Die Natur sortiert ja eh schon aus“, begründet etwa Herr Tekin, dies sei „natürliche Selektion“. Würde man die schlechten Embryonen während den Behandlungen nicht selektieren, würden sie während der Schwangerschaft durch Fehlgeburt selektiert, so die Argumentation. Für die IVF-Ärztin Dr. Uyanık wird höchstens bei der „Zeugung etwas nachgeholfen“.
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Wenn ich über die Details der Selektion und Logiken der Behandlungen nachfrage, fühlen die Ärzt*innen sich zur Rechenschaft gezogen. Beinahe defensiv setzt die erfahrene Medizinerin fort: „Wir verstoßen nicht gegen die Natur. Es ist keine vollkommen künstliche Begebenheit, schließlich sind es die eigenen Eizellen und Embryonen, die wir verwenden.“ Es finden „shadow dialogues“ (Strathern 1999: 13) statt, über die gesellschaftlichen Irritationen im Labor wie in der klinischen Praxis. Diese beruhen darauf: „Sie produzieren außerhalb des Körpers etwas und geben es dem Körper zurück (Vücut dışında bir şey üretiyorsunuz ve vücuda geri veriyorsunuz).“ Das Spezifische an reproduktionsmedizinischen Behandlungen liege darin, dass man Substanzen von zwei verschiedenen Menschen entnimmt, im Labor zusammenführt, um ein anderes Leben zu erzeugen. Folgend begründet es Erdem: „In anderen Bereichen der Medizin entnimmt man Blut und wirft es dann weg. Man entnimmt Urin und wirft ihn weg. Ich gebe immer diese Beispiele... Hier ist es ganz anderes. Zum Beispiel entnimmt man einen Teil [des Körpers] und fügt es wieder als etwas anderes hinzu [Eizelle wird zum Embryo]. Deshalb muss man erklären, wie hier was gemacht wird... wie es durchgeführt wird, was für Möglichkeiten es gibt.“
Mir erklärt er in der Mittagspause, dass „es um Leben schaffen geht“ und damit gehen moralische und ethnische Fragen einher. Er entscheide selbst nicht, ob und unter welchen Umständen Menschen Kinder bekommen sollen. Auch greife er nicht in das Leben ein, darüber gebe es „in jedem Land eine andere Ansicht. Beginnt das Leben, wenn die Eizelle und das Spermium miteinander verschmelzen oder erst wirklich dann, wenn es anfängt, sich zu einem Individuum zu entwickeln?“ Viele, die sich mit einem unerfüllten Kinderwunsch an seine Klinik wenden, sehen Tüp Bebek als eine technologische Lösung für ihr Problem. Sie sehen es nicht als eine Intervention in die Natur bzw. in das, was als „normal“ gilt, eher als „eine leichte Optimierung der Chancen auf die erhoffte Schwangerschaft und Geburt“. Unterschiedliche behandlungsoptimierende Maßnahmen werden für Zellen- und Embryoselektion eingesetzt. Dazu gehört auch die Präimplantationsdiagnostik (PID), erzählt Erdem, und zwar nicht nur bei den Fällen der genetisch bedingten Risiken, sondern auch bei „Alters-Fällen“ und „bei mehrmaligen Versuchen ohne Erfolg“. Für manche gilt einfach den „fortschrittlichsten Lösungsweg anzusetzen“ und für andere legitimiert sich die Entscheidung durch die Tatsache, dass „Menschen oft nur Schießpulver für einen einzigen Schuss haben“. Muko, die Mitstreiterin von ÇİDER, betonte, es kommt auf die sozialen, körperlichen und finanziellen Knappheiten und Bürden der Menschen an. Ähnlich argumentieren auch die Ärzt*innen, die ich bei ihrer Ar-
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beit begleitete. Wenn Dr. Erdem mir sagt: „Wir erschaffen hier keine Herrscherrasse“, nimmt er Bezug auf unterschiedlichste Debatten aus der globalen Landschaft der In-Vitro und Medizinethik.3 „Natürlich werden wir den besten Embryo aussuchen, der uns zur Verfügung steht. Zu Bedenken ist, dass während dieser Periode bei der Frau eh nur eine Eizelle entstanden wäre. Vielleicht war es auch diese eine Eizelle, die die beste Performance hingelegt hat, die ich nun aus zehn bis 15 Embryonen auswähle. Die anderen habe ich, um meine Chancen zu erhöhen. Also, wie die anderen werden oder nicht, das kann ich ja nicht wissen. Ich kann es der Natur nicht beweisen. Aber man versucht ja auch mit dieser Behandlung eine Schwangerschaft zu erzielen und deswegen muss man versuchen, das Beste zu machen. Aber nur weil ich den besten Embryo ausgesucht habe, heißt es nicht, dass es das beste Baby wird.“
In der Klinik und im Labor geht es um die Choreografie der Zeugung vom „Normalen“. Diese umfasst eine sozial akzeptable, aber dennoch zweckmäßige Durchführung in allen Schritten, so dass die Behandlungen zur gewünschten Schwangerschaft führen. Die Zeugung im Labor bzw. außerhalb des Körpers erfährt eine Entproblematisierung. Diese drückt sich in Sprache jedoch kaum als etwas „(Un-)Natürliches“ aus. Dr. Yaman sagt beispielsweise: „Es ist ein Schneiderhandwerk“. „Wir sind Menschen, die Reproduktion zu einem Ende führen.“ Er betrachte die Reproduktion „als ein mathematisches Modell“: „Eine mathematische Rechnung, ein Verfahren, das auf Wahrscheinlichkeiten basiert. Wir spielen mit den Wahrscheinlichkeiten. [...] Unsere Arbeit hat nichts mit Wundern usw. zu tun. Wenn man es aus dieser Sicht betrachtet, habe ich nicht das Gefühl, als würde ich etwas von neuem erschaffen oder so. So was gibt es nicht. Ich verändere nur die Wahrscheinlichkeiten.“
Die Spielregeln, wie man im Labor mit den Wahrscheinlichkeiten spielt, sind nicht in den Technologien selbst eingeschrieben. Die regulativen Einschränkungen und auch die moralischen Rahmungen, die ich im vorherigen Kapitel darge-
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Meine Gesprächspartner*innen, mit denen ich in den Kliniken zu tun hatte, verglichen die kulturell unterschiedlichen Sichtweisen und gesetzlichen Rahmenbedingungen der IVF/ICSI-Nutzung miteinander. Legitimität wird dabei unterschiedlich erzeugt. In dem gleichen Gespräch geht beispielsweise Erdem auf „Deutschlands dunklen Fleck, ja die Projekte und Forschungen während der Nazizeit, um eine Herrenrasse zu produzieren“ ein und auch auf den „Vatikan und die katholische Kirche“, die mit Blick aus der Türkei immer als sehr verhalten gegenüber die biomedizinischen, reproduktiven Eingriffen eingeschätzt wurde.
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stellt habe, sind relevant für die Praxis. Während meiner Forschung im Laborund Klinikalltag lag die Betonung stets auf dem technischen und medizinischen Vorgang der Befruchtung. Die Paare und Ärzt*innen, mit denen ich sprach, haben unterschiedliche Auffassungen und teils völlig unterschiedliche Verständnisse von Befruchtung – im Allgemeinen, im Labor oder im Reagenzglas. In den folgenden Kapiteln analysiere ich, wie Menschen über die Zeugung außerhalb des Körpers reden, welche kulturellen Be-Deutungen sie dabei heranziehen und weglassen. Bei der Legimitierung der Nutzung wird oft auf die kontextuell und kulturell geltende Normalität und die sozial „legitimen (meşru)“ Kinder, Eltern und Familien Bezug genommen. Es geht primär darum, ob die Legitimierungsstrategien zu den (hetero-)normativen „kulturellen Vorstellungen des KinderMachens passen“. In meinem Feld wird daher nicht selten über „makul (akzeptable und legitime)“ Nutzungsweisen debattiert – und nicht darüber, was „(un)natürlich“ ist. Reproduktion wird also als ein medizinisch-technowissenschaftliches Problem konfiguriert, bei dem es um die Zeugung von „normalen“ und „leiblichen Kindern“ geht. Damit gehen allerdings choreografierte Komplexitäten der legitimierbaren Zeugung einher. Im Folgenden gehe ich zunächst darauf ein, wie Menschen ihre Wege zum Kind durch unterschiedliche, religiös/ sunni-muslimische und säkulare Moralitäten navigieren. Danach analysiere ich die Rolle der „Dritt-Spende (donasyon)“, die oft als Umwege zu einem Kind erlebt und als ein solcher gemanagt werden muss, bei der Konstruktion türkischer IVF-Landschaft.
2.2 KONTEXTUELLE SHIFTS: MORALITÄTEN UND ISLAM In krisenhaft empfundenen Situationen der Reproduktion rufen Menschen unterschiedlichste Wissens- und Deutungsressourcen ab. Religion ist eine davon. Nach der Analyse im vorherigen Kapitel möchte ich nun auf die Rolle der Religion in den sich veränderten und dynamischen Behandlungsregimen eingehen. In unterschiedlichen Zusammenhängen hörte ich im Feld: „Erschafft Gott ein Problem, so stellt er auch Lösungen zur Verfügung.“ Religion und Religiosität, wie dieser Satz schildert, werden im Umgang mit Reproduktionstechnologien herangezogen. Im Grunde geht es dabei um die moralischen Begründungen und auch deren Auslegung. Als Rhetorik erzeugt Religion Normalität der Infertilität und zugleich der Kinderlosigkeit im Alltag der betroffenen Individuen (Demircioğlu 2010: 55). Sie prägt auch die Sichtweise auf Technowissenschaft und Biomedizin mit, die durchaus generalisierbare Tendenzen in den islamisch
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geprägten Ländern aufweisen (Inhorn 2006, Hamdy 2009, Inhorn/Tremayne 2012). Wie bereits geschildert, stellt der Sunni-Islam, als eine offiziell anerkannte Staatsreligion, in der Türkei, regulative und moralische Urteile für biopolitische und -ethische Entscheidungsfindungen zur Verfügung. Er übt daher eine regulierende Macht aus, obgleich er sich selbst kaum in Konflikt mit den säkularen Verständnissen und Moralitäten in der Türkei positioniert. Ähnlich wie im gesamten muslimischen Nahen Osten erfolgt diese Macht über Fatwas, religiöse Stellungnahmen, durch das Amt für Religiöse Angelegenheiten. Diese sind im Grunde moralische Maßstäbe für religiöse Handlungen. Diese implizieren eine subtile Regulationsfunktion im Alltag der Betroffenen. In manchen Fällen lassen sich Menschen direkt beim Amt zu religiösen Stellungnahmen zu bestimmten Problemlagen beraten. In anderen Fragen ist die religiöse Stellung klar, so dass es eine Frage der Orientierung ist, ob diesen individuell zu folgen ist oder nicht. Der Koran und die Sunna (d.h. die überlieferten Lebenspraxen der Propheten) sind zwei Quellen, woran sich die praktizierenden Muslim*innen in meinem Feld orientieren. Wie dabei unterschiedliche Perspektiven und Ambivalenzen als individuelle Begründungsmotive genutzt werden, behandelt dieses Gesamtkapitel. Zugrunde liegen die Vielfalt an Meinungen und Haltungen innerhalb der islamischen Welt zur Biomedizin und Reproduktionstechnologien (Eich 2005, Moazam 2006) – einschließlich die Differenzen und Ähnlichkeiten in Sunni und Shi’a Haltungen, die unmittelbar Einflüsse in der islamischen Welt darauf haben, wie Biotechnologien in die klinischen und familiären Settings integriert werden (Inhorn 2006, Gürtin et al. 2015). Wie meine Kollegin Zeynep Gürtin zutreffend schrieb, sind viele Menschen „über die muslimische Moralität und Kultur informiert, aber sie kümmern sich nicht immer darum oder folgen dieser, oder sie verfügen überhaupt über kein akkurates Wissen von religiöser“ (Gürtin-Broadbent 2011: 559) Vorschrift bzw. Perspektive. Dies betrifft gerade die bioethischen Fragen, die sich in der Konfrontation mit Bio- und Reproduktionstechnologien stellen könnten. Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle eins: auch die religiös motivierten Menschen begründen manchmal die religiös strittigen Handlungen mannigfaltig, divergent und situativ, obgleich diese Ambivalenzen mit hervorrufen. Meine analytische Perspektive setzt keine homogene und totalitäre Rolle des Islams voraus, wobei diese nach der Verfassung dieses Buches besonders stark in den letzten Jahren einen dramatischen Charakter im Land einnimmt. Doch wie Talal Asad (1986) warnt, ist dieses ein Konzept historischer Ordnungsnarrative und „nicht der Name von einem in sich geschlossenen kollektiven Agenten“. Als „eine diskursive Tradition“ ist der Islam in politischen Ökonomien eingebettet. Diese verbindet „the formation of moral selves, the manipulation of populations (or re-
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sistance to it), and the production of appropriate knowledges“ (ebd.: 7). In einer historisch säkular orientierten Türkei ist diese Tradition unvermeidlich von dem politischen Wert der religiösen Praxis und Sinngebung geprägt. In meinen Interviews äußerten sich die Religiosität und Säkularität vielgestaltig. Für Gläubige ist der Islam eine dominante und übergreifende Ressource im Verständnis von Wissenschaft und Moralordnung in der Gesellschaft. Die kulturellen Spannungen scheinen für sie situativ ausdehnbar zu sein. Ärzt*innen und Paare halten an komplexen und divergenten Auffassungen fest, welche ethisch-moralische Debatten der Biotechnologien betreffen. Pragmatisch greifen viele auf den (sunnitisch-)muslimisch und säkular geprägten Diskursraum zurück, in dem eben diese Technologien als minimale technische Manipulation für eine legitime Zeugung und Familienbildung konstituiert sind. So gelten Reproduktionstechnologien für praktizierende Muslima*e als „God’s helping hand“ (Thompson 2006: 559) – ähnlich wie in vielen anderen muslimischen (Roberts 2006, Traina et al. 2008) und nicht-muslimischen Welten (Kahn 2000, Bharadwaj 2006). Dementsprechend ist diese Hand – trotz der säkularen Dominanz – auch manchmal im Labor aktiv. Auch für die*den Nicht-Gläubige*n und NichtPraktizierende*n ist der Islam nicht allzu unbedeutend. Er determiniert die Verständnisse von angemessener Nutzung und von Biologie, Genetik, Sozialität vielleicht nicht ausschließlich bzw. nicht für alle gleichermaßen. Dennoch sind alle Beteiligten stets mit den religiösen Sichtweisen auf Praktiken, Regulationen und Diskurse konfrontiert. Die weltlichen und religiösen, wissenschaftlichen und sakralen Weltordnungen greifen ineinander (Lotfalian 1999), ebenso die unterschiedlichsten, scheinbar widersprüchlichen traditionell-modernen, heilig-weltlichen, rational-religiös/spirituellen etc. Sphären. Diese Beziehungen sind in der Türkei durchaus durch einen Pragmatismus geprägt. Die Sunnit*innen sind die größte Glaubensrichtung, gefolgt von den Alewit*innen, die allerdings zur muslimischen Minderheit zählen. Es gibt außerdem christlich-religiöse und kulturelle Minderheiten verschiedener Konfessionen, u.a. griechische, armenische und syrisch-orthodoxe. Ihre Standpunkte sind nicht in den bioethischen und moralischen Debatten vertreten, auch in meiner Forschung wurden diese kaum dezidiert thematisiert. In den Kliniken und in den Selbsthilfegruppen begegnete ich Menschen, die sich sowohl als praktizierende Muslima*e verstehen als auch solchen, die sich als nicht praktizierende Gläubige oder als nicht religiös beschrieben. Individuell werden allerdings oft zwei moralische Pole der säkular und muslimisch-religiös geprägten Verständnisse von Medizin und Techno-Wissenschaft miteinander in Einklang gebracht.
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Während meiner Forschung verglichen viele meiner Gesprächspartner*innen – explizit oder implizit – die katholisch-christliche Moralwelt mit dem in der Türkei praktizierten und amtlich vertretenen Sunni-Islam und argumentierten, dass die sunni-islamische Sichtweise auf diese Technologien eher durch eine offene Haltung geprägt sei. Die Rolle der Religion und des Islams wurde entweder generell als regulierende Kraft oder als handlungsweisende und -relevante Steuerungsgröße im Umgang mit Familien- und Verwandtschaftsverständnissen, mit dem Körper und der Sexualität erwähnt. Für viele meiner gläubigen Gesprächspartner*innen bestimmt das islamische Doppelprinzip über „Allahs’ Wille“ ihre Umgangsweisen mit den Reproduktionstechnologien. Die Zeugung von Kindern ist eine solche, von Allah vorgesehene, Aufgabe, aber auch eine „Gabe“; und so wird Infertilität als „Allahs Prüfung (sınama)“ und „göttliches Ermessen (takdiri ilahi)“ angesehen. Sie ist also Teil der natürlich-göttlichen Ordnung, die von Allah vorbestimmt ist. Veli Kalem, der in einer religiös-konservativen Familie in einem Istanbuler Stadtteil aufgewachsen und nun ein religiös orientiertes Leben führt, nahm die Diagnose Infertilität als sein „Schicksal“ hin und sah alles, was er durchlief, als die Prüfung Allahs. Auch die reproduktiven Behandlungen sieht er als göttlichen Segen, weil diese „für Menschen (kullar) von Allah gegeben sind“. Die Praxis ist daher auch an die Vorbestimmung gebunden, so erzählt er: „Na ja, es ist, wenn Allah es nicht will, nicht möglich einen Menschen zu erschaffen, auch wenn alle Wissenschaftler, alle Mediziner der Welt zusammenkämen. Es ist absolut unmöglich. Schauen sie, ich sage ihnen dies mit absoluter Gewissheit. Es gibt so viele Menschen, die sich einer Behandlung unterziehen, wenn sie aber Allah verleugnen... es klappt, wenn Allah es will, und es klappt nicht, wenn er es nicht will.“
Ähnlich wie Veli argumentieren viele von mir interviewten gläubigen Frauen und Männer. Die 38-jährige Belma, die seit circa 20 Jahren ungewollt kinderlos ist und hofft, sich mit Hilfe der Medizin bei der göttlichen Prüfung „durchzuschlagen“ sagt: „So hat es Allah wohl vorgesehen, nasip kısmet, so denken wir immer. Das heißt aber nicht, dass wir einfach so aufgeben.“ Sie ergänzt unverzüglich, „der Allmächtige gibt auch die Heilung, aber nur wenn man sie zu nutzen weiß“. Diese Sichtweise ist durchaus typisch. Das Schicksalsverständnis, das meine Interviewpartner*innen heranziehen, hilft ihnen dabei, die weltlichen und sakralen Dinge zu erklären und auch ihre Erfahrungen zu bewältigen. Indem sie Infertilität „als einen Schicksalsschlag“ hinnehmen und als göttliche Vorbestimmung (um)deuten, können sie sich mit den körperlichen und biografischen Problemlagen leichter abfinden. In mehreren Interviews kam beispielsweise der Be-
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griff tevekkül4 vor, der religiös-fatalistisch motivierte Akzeptanz, Selbsthingabe (fedakarlık) und Geduld impliziert. Im ersten Gespräch beschreibt Muko dies wie folgt: „Ich bin ein tevekküllü Mensch [...] schau dir die Natur an. Nicht jeder Ast hat Früchte (meyve). Dann bin ich eben auch ein solcher Baum. Aber ich habe gesagt: ‚Denk darüber nach, du schaust, und zwischen einem Stein kommt ein Grashalm raus. Verliere deine Hoffnung nicht, aber mach dir auch nicht zu viele Hoffnungen.‘ Vielleicht bleibe ich so. Ich bin in einer Wartezeit.“
Dies stärkt ihr Durchhaltevermögen, gibt Trost, aber auch Halt in der Konfrontation mit der komplizierten und oft als verunsichernd empfundenen Technisierung der Kindererzeugung. Eine passive Haltung geht allerdings damit, wie aus diesem Zitat entnommen werden kann, nicht einher. Der religiöse Fatalismus im Islam fungiert zuweilen als eine kulturelle Resistenz gegen die Wahrheitsansprüche moderner, westlich verwurzelter Techno-Wissenschaft und Medizin. In bestimmten Situationen gibt er allerdings den Menschen moralische Motive, die in den alltags- und behandlungsrelevanten Entscheidungszwängen das Einverständnis stiften. Sherine Hamdy behauptet beispielsweise in ihrer Analyse in Ägypten (2009), dass die islamisch orientierten Praktiken der Menschen keineswegs gegen die moderne Techno-Wissenschaft und Medizin seien. Sie plädiert dafür, genauer zu schauen, ob, wann und wie die religiösen und fatalistischen Selbst- und Weltdeutungen als eine Unterwerfung unter Gottes Willen oder als proaktive Motive eingesetzt werden. Gezeigt werden soll, wie Wissenswege, Akzeptanz und Resistenz in den islamischen Ländern der Gegenwart organisiert und pragmatisch wie situativ eingesetzt werden. Die Ideen von tevekkül und sabır/sebat und kısmet prägen die religiösen Be-Deutungen und steuern zu technowissenschaftlichen Identitäten und Subjektivitäten bei (Lotfalian 1999). Der Fatalismus beispielsweise kollidiert kaum mit den Imperativen einer „culture of perseverance“ (Simonstein/Balabanova 2009: 60), die in den Kinderwunschökonomien verwurzelt ist. Das folgende Zitat drückt eine ganz spezifische Funktion der religiös motivierten Handlungen im Umgang mit medizinischer Praxis aus: „Es gibt zwei Instanzen, denen man den Erfolg oder den Misserfolg zuweisen kann: Sie können es Allah zuweisen. Menschen sagen: ‚Es passiert, was Allah befiehlt.‘ Da wir ein
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Tevekkül gehört besonders im Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit und Infertilität zur rhetorischen Strategie. Merve Demircioğlu (2010) analysiert in ihrem Artikel, wie dies für ihre Interviewpartner*innen in zwei türkischen Dörfern für eine individuelle wie gesellschaftliche Akzeptanz und Normalisierung eingesetzt wird.
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fatalistisches und genügsames Land sind, sind wir als Ärzte, oder die Personen, die so eine Behandlung durchmachen, ziemlich locker. Denn im Endeffekt kann das der genügsame Patient auch akzeptieren – egal wie sehr wir ihm auch wissenschaftlich erklären, wie hoch die Schwangerschaftschance ist und wie viel Prozent es sind. Die zweite Sache ist, viele unsere Patienten gehen von der Vorannahme aus, es läge an der fehlenden Bildung oder an Fehlinformationen, dass es erst beim zweiten oder dritten Tüp-Bebek-Versuch mit der erwünschten Schwangerschaft klappt. Natürlich erleben sie eine Enttäuschung, wenn die Schwangerschaft beim ersten Mal nicht eintrifft. Aber sie können es sich erklären.“5
Dr. Yaman beschreibt damit, wie die Religion von seiner Klientel in die Behandlungslogiken der wohl säkular gestrickten Märkte interagiert wird bzw. diese reibungslos komplementiert. Mit einer „fatalistischen (kaderci)“ Orientierung sei es einfacher, so behauptet auch Ceyda, die zum Zeitpunkt unserer Interviews bereits wiederholte Fehlschläge bei der Erfüllung ihres Kinderwunschs erleiden musste, an „Allah’s Plan für sie im Leben festzuhalten“. Ob mit oder ohne Behandlung, es könne nur dann „klappen, wenn Allah es so will“. So hoffte sie immer, dass die erwünschte Schwangerschaft „einfach so nebenbei klappt“, so hätte es Allah bestimmt vorgesehen. Allerdings musste sie sich immer wieder mit den Gefühlen auseinandersetzen, als „verrate“ sie ihren Wunsch, wenn sie für die Erfüllung des Kinderwunsches nichts täte. Nasip kısmet ist auch ihr Motto, so glaubt sie daran, „dass nichts ohne Grund geschieht (her şeyde bir hayır vardır)“. Sie sagte mir, als würde sie meine Zustimmung erwarten, man solle „sowieso sein Glück und sein Schicksal nicht erzwingen“. Wenn es mit der Realisierung des Kinderwunschs nicht so geklappt hat, wie es vorgesehen ist, solle das auch eine „Wohltat Allahs“ für sie und ihren Mann sein. „Planbar ist ja im Leben doch nicht alles“, konstatierte sie und das so sehr ersehnte Kind „hätte ja auch – Allah bewahre – mit einer Behinderung oder nicht gesund auf die Welt kommen können“. Ihre derartigen Reaktionen schienen mir zunächst als eine Art Sinnkonflikt zwischen ihrem religiösen Fatalismus und den Zwängen fürs Weitermachen und „immer Dranbleiben“. Wiederholt sagte sie, dass sie ab und an bedauere, bislang „etwas locker gelassen zu haben“ und sie frage sich, ob sie für die Erfüllung des Kinderwunsches „selbst etwas mehr [hätte] tun“ müssen. In all meinen Gesprächen mit ihr ging es um „einen Schwellenzustand“ und eine Art „paralysiert sein“. In ihrem Umfeld muss sie sich immer wieder erklären und aus der Frauengruppe, mit der sie seit mehr als fünf Jahren ihre langatmige Kinderlosigkeit teilt, kommen klare Anweisungen, was sie tun muss. Alle sind irgend5
Dieses Zitat wurde einem Interview entnommen, das von meiner Kollegin Zeynep Gürtin am 19.12.2008 in Ankara durchgeführt wurde. Ich bedanke mich bei ihr für den Zugang zu diesem Interview.
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wie fatalistisch und wagen nicht an dem Plan Allahs zu zweifeln, aber dennoch sind sie der Meinung, dass man doch „die Dinge erst selbst in die Hand nehmen muss“. Im Islam gäbe es keine religiösen Vorbehalte, Medizin und Technologien in Anspruch zu nehmen, um ein derartiges gesundheitliches Problem zu lösen. Eher, werde dies nahegelegt, argumentieren die Frauen, und dass es legitim ist, die medizinischen Angebote dafür zu nutzen. Im Dialog mit den Frauen aus der Gruppe wurde ihr allmählich klar, dass sie verantwortungsbewusst und, trotz des Glaubens an das vorbestimmte Schicksal, selbst aktiv sein und nicht in passiver Resignation verharren sollte. Die damals 40-jährige Hausfrau sagte selbstanklagend in einem Gruppentreffen, wo ich sie kennen lernte, sie hätte mit einer „bewussteren Haltung“ herangehen können. Schließlich werde einer*m „nichts einfach so in den Schoß fallen“ (siehe auch 5.4). Das von mir mehrmals interviewte Paar Durmaz, ein wohlhabendes und berufstätiges Paar aus Istanbul, unterzog sich in über zwölf Ehejahren neun IVF/ICSI-Behandlungen mit einem „Vorlauf“ von zahlreichen intrauterinen Inseminationen (aşılama)6, die alle erfolglos blieben. Rückblickend reflektierten sie kritisch auch über eine derartige „Medizin-Kultur“, die damals unmerklich nach und nach auf sie „manipulativ“ wirkte. Nach den ersten fünf Behandlungen sei der Behandlungsprozess nun quasi zu einem „Erfolgs-Kampf“ geworden. Statt den eigenen Wunsch zu verfolgen, wurde es zu einem „Weg“, wie Herr Durmaz metaphorisch darstellt, auf dem sie dachten, dass „alles ausprobiert werden soll“, um ein „leibliches Kind zu bekommen“. Sie haben alles versucht, was sie als für machbar hielten, einschließlich einer Behandlung mit Eizellenspende auf Zypern, die genauso erfolglos blieb. Am Ende hat das Paar sich für eine Adoption entschieden. Sie verstand es als ihr persönliches „Scheitern“. Nahm es aber auch als ein Scheitern der Technologien wahr, wobei sie erklärt, „das ist auch ein wenig die Frage von kısmet, wie es endet“: „Also, mein Schicksal war so bestimmt, ich bin glücklich oder unglücklich, darauf möchte ich nicht mehr eingehen. Es wurde erlebt. Ich bin ein wenig ein Schicksalsmensch (kaderci). Ich bin jemand, der an Allah glaubt. Vielleicht hätte ich mein Eigenes [Kind] bekommen, aber es wäre behindert gewesen, vielleicht eine Fehlgeburt, hätte ich es verloren, vielleicht hätte es geklappt, aber ich hätte etwas anderes erlebt, aber ich habe damit [mit der Adoption] das Glück gefunden. Deswegen meinte ich ja, jetzt ist für mich die jetzige Bindung wichtig. Alles andere ist halt egal.“
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Diese zählt auch zur technisch assistierten und medikamentös durchgeführten Zeugung, wobei die Samenzellen mittels eines Katheters in die Gebärmutterhöhle eingespritzt werden. Die Eizellreifung und der Eisprung werden hormonell stimuliert und zusätzlich medikamentös herbeigeführt.
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Ob religiös fatalistische oder säkular begründete Impulse, sie stellte sich keine moralischen Fragen, wie weit sie noch gehen würde. Nach jeder Behandlung spürte sie umso mehr den Drang, „alles Mögliche einzusetzen“, „immer einen Schritt weiterzugehen“, um den Wunsch nach einem leiblichen Kind zu realisieren. Die Grenze des „Machbaren“ schien für das Paar „unbegrenzt“; je näher man ihr jedoch kommt, desto mehr drängen sich Entscheidungszwänge auf. Im Umgang mit den Angeboten der Reproduktionsmedizin wurden auch ihre eigenen moralischen Grenzen dehnbarer. In keinem Interview haben Durmazs offen über die religiös eingefärbten Irritationen gesprochen. Auch im Gespräch über ihre Auslandsreise für „IVF-mit-Eizellspende“ tauchte kaum eine religiöse Frage auf. Eher redeten beide vom „bewusst (bilinçli)“ und „modern Sein“ und kritisierten, dass die Gesellschaft eher Acht auf „moralisch Zulässiges (mubah)“, „religiös Erlaubtes (caiz)“ oder gar „religiös Verbotenes (haram)“ gebe. Das Paar sann auch über die „sozial unangemessenen Wege des Kinder-Machens“ nach, und darüber, was „als legitim (meşru)“ gilt. Als Durmazs zum ersten Mal von der Möglichkeit einer Eizellspende im Ausland hörten, waren sie empört. Sie taten viel für ein leibliches Kind und waren auch bereit, weiterhin vieles in Kauf zu nehmen. Ihr behandelnder Arzt in Istanbul legte ihnen aber nahe, nach Belgien zu fahren und sich dort mit der Eizelle einer anderen Frau und eigenem Sperma behandeln zu lassen. Dies würde eventuell kostspieliger, aber dennoch weniger aufwändig und könnte sogar schneller zur erhofften Geburt führen als sich den wiederkehrenden Behandlungen „mit schlechten Eizellen“ zu unterziehen. „Schlag dich doch nicht damit herum“ hätte der Arzt gesagt. Es war im Jahr 1999, wo „kaum einer von Donation (donasyon) wusste, höchstens Samenspende (sperm bağışı)“: „Aber ich habe von 99 bis schließlich 2007 daran festgehalten [ein genetisch-verwandtes Kind zu bekommen]. Ich war über die Jahre so beharrlich, um bloß nicht eine Donation vornehmen zu müssen. Du kannst es halt nicht so einfach akzeptieren; du willst, dass es aus deinen Genen, aus deinem ‚was weiß ich was‘ stammt“. Schließlich, „nach mehreren Fehlschlägen, einem investierten Vermögen und kaputten Nerven“ blieb nur der „aller letzte Versuch“: ein Versuch mit einer Eizellenspende einer anderen Frau, die die genetische Mutter wäre, wenn es überhaupt klappt. Ein erheblicher Schritt für beide. Aber gerade für Pelin Durmaz, denn sie musste sich mit der Möglichkeit anfreunden, „das Kind einer anderen Frau auf die Welt zu bringen“. Ihr Mann wäre immerhin genetisch mit dem Kind verwandt. Finanziell ist die Familie bereits belastet. Die Kosten insgesamt belaufen sich auf 5.000 bis 10.000 Euro in nord-zypriotischen Kliniken. Die Reise und die Behandlungsschritte werden von der Klinik geplant, auch die Spenderin wird ausgesucht. Pelin konstatiert die Beziehung zu der Spenderin fast nur als einen
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Austausch-Akt: „Die Frau, deren Eizellen ich kaufe oder nutzen werde.“ Pelin wusste zum Zeitpunkt unseres Interviews nicht mehr, wie sich die Aussicht für sie damals angefühlt hat, ein genetisch nicht verwandtes Kind zu haben. Sie war aber schon entschlossen, es als „ein leibliches Kind [zu betrachten], weil ich es ja selbst auf die Welt bringe“. Sie hatte „trotzdem Ängste vor Befremdung“. Serkan hat anfänglich alle Behandlungen „ihr zuliebe mitgemacht“: „Für mich wäre auch Eizellspende ok, ich wäre ja dann quasi der echte Vater, aber sie würde die Tatsache immer in sich tragen, nicht verwandt mit dem Kind zu sein.“ Ein Statement, das nichtsdestoweniger die geschlechtsspezifischen Aushandlungen inkludiert, die ich später in Kapitel 4 detailliert analysiere. Männer und Frauen sind nicht nur beim Umgang mit IVF/ICSI und unerfülltem Kinderwunsch unterschiedlich involviert. Auch ihre Kalkulationen zu biologischen Bindungen und die Begründungsweisen hiervon sind manchmal weit voneinander entfernt. Der ganze, strapazierende Weg zum Wunschkind, den das Paar durchlief, hinterließ viele körperliche wie seelische Schäden und „Traumata“, die sie augenscheinlich noch verarbeiteten. Dabei kam vieles durcheinander, erzählt mir das Paar, gerade ihre Betrachtungsweise von der Gesellschaft und das in ihr dominante „Beharren“ auf Genetik, Verwandtschaft und Blutsbindung: „Blutsverwandtschaft (kan bağı)... ist es denn so wichtig? Wer bist du denn, bist du denn Pharao oder was, dass du die Blutsverwandtschaft für so wichtig hältst...?“, so kommentiert Serkan Durmaz. Demonstrativ sagte er zu mir: „Ich kann dir tausend Sachen über die illegalen Wege [bei der Erfüllung des Kinderwunsches] erzählen, wenn du mehr hören willst. Einiges wird durch die Kliniken in der Türkei praktiziert. Wenn dies jemand bestreitet, kommt es mir als Geflunker vor (bana sakal traşı geliyor). Was die Illegalität betrifft, ich bin ein Experte dafür geworden, weil wir bis zur Adoption von Gökce [dem Adoptivsohn] von der Spende, Leihmutterschaft bis zur Adoption aus dem Ausland alles in Betracht gezogen haben. Wir gingen risikobewertend vor (risk ölçerek gittik yani). Zwei Dinge sind in der Türkei riskant, erstens die Tatsache, dass das Justizsystem in der Türkei auf Zeugensystem basiert, d.h. mit zwei Zeugen kann einer dir Ärger aufhalsen (başına birisi tebelleş olur). Zweitens, weil die Genetikwissenschaft vorangeschritten ist, einer kann ‚das sind meine Gene und mein Sohn‘ sagen.“
Als ich das Paar zum letzten Mal bei sich zu Hause traf, hatte sich ihr adoptierter 3-jähriger Sohn bereits in die Familie eingelebt. Auch die offiziellen Adoptionsverfahren waren abgeschlossen, die sie kurz vor unserem Kennenlernen starteten. Nun sei das Kind „ein glückliches Produkt eines langatmigen Leidens“. Dieses hätten sie sich selbst zugefügt, sagen sie, auf Grund eines „sinnlosen Beharren für das Eigene“. Wenn sie es vorher gewusst hätten, welche Bindung da ent-
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steht und ihre Ängste früh genug überwunden hätten, wäre „das Bild von einer glücklichen Familie bereits [früher] vervollständigt“. Durmazs verschweigen weder die „Donationsgeschichte“ noch die Adoption in ihrem Umfeld. Pelin ist in ÇİDER aktiv und hilft Menschen gelegentlich online bei Spenden- und Adoptionsfragen. Bei unserem allerletzten Treffen sagte sie: „Ob mit Donation oder Adoption, was zählt, sind nicht die Gene. Es ist die Erziehung und die Tatsache, dass es ja in unsere Kultur hineinwachsen wird. Wir werden ihn aufziehen, solange wir es richtig tun, alles andere ist nebensächlich.“ Die individuellen Sichtweisen darauf variieren, ob religiös oder moralisch, manchmal auch innerhalb desselben Interviews. „Wie man Tüp Bebek tatsächlich nutzt, ist eine individuelle Sache“, so argumentierten viele meiner Gesprächspartner*innen. Wenn sich solche Fragen stellen, geht es oft auch um die kulturellen und individuellen Verständnisse von sozialen Beziehungen, Rechten und Pflichten und um die Beziehungsherstellung zwischen Mutter, Eltern und dem Kind. Wie bereits in Kapitel 1.1 kurz angerissen, gelten die In-Vitro-Technologien als eine Methode der Beziehungsherstellung staatlicher und kulturell-religiöser Deutungen wie Regulationsprinzipien über die normativen Familien- und Beziehungsmodelle. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wurde darauf verwiesen, dass Reproduktionstechnologien zu einer Privilegierung biogenetischer Bindung („biogenetic relatedness“) geführt hätten. Auch die neuartigen Bindungsvorstellungen bauen, so behauptete Marilyn Strathern (1992a), sich auf ‚alten‘ aber vorherrschenden Bindungs- und Naturkonzepten auf (Strathern 1992b, Nash 2005, Edwards/ Salazar 2009). Diese Perspektive wurde als eurozentristisch kritisiert und betont, dass die ‚assistierte Zeugung‘ mithilfe unterschiedlicher Technologien in unterschiedlichen Kontexten durchaus völlig neue Verwandtschaftsmodelle und -konzepte befördert hätten – wie beispielsweise in Israel (Kahn 2000). Mit Blick auf die unterschiedlichen Verständnisse im Islam behauptet Inhorn: „Certainly in the Sunni Muslim world, Strathern’s argument takes on perhaps its strongest form. There, the pre-existing Islamic imperatives regarding ‚pure‘ lineage, coupled with Islamic prohibitions against adoption, not only privilege but, in fact, mandate biological as opposed to social construction of families. [...] biogenetic relatedness – glossed as nasab, [im Türkischen nesep] or blood relations – is an absolute imperative.“ (Inhorn 2003: 120, [Herv. i. O.], vgl. Clarke 2008)
Dies beeinflusst die Aushandlungen mit den reproduktionsbiografischen Entscheidungen vieler gläubiger Interviewpartner*innen, selbst wenn sie damit nicht streng umgehen. Nesep wird biogenetisch begründet, aber dennoch sind die Vorstellungen von Familienbildung hochgradig heterogen. Morgan Clarke (2009)
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zitiert in ihrer Studie zu libanesischen Reproduktionstechnologien Munawar Anees (1984: 116): „Islam, therefore, does not endorse parenthood as two distinct entities: biological and social – Muslim parenthood is biosocial.“ Für viele in meinem Feld, die sich als Gläubige bezeichnen, trifft dies zu. Statt biogenetischer Verwandtschaft – mithilfe von Reproduktionstechnologien, DI oder nicht – wird die biosoziale Responsibilität für Elternschaft und Verwandtschaft mehr problematisiert. Hinzu kommt, dass Kinderhaben keine individuell-familiäre Privatsache ist. Doch bezüglich der kontrovers diskutierten Methoden wie der „Dritt-Spende“ werden ähnliche Argumente herangezogen. „Solange man mit dem eigenen Gewissen im Reinen ist, kann man ja alles machen. Das ist zwischen Allah und dem Individuum allein“ lauten oft religiös eingefärbte Kommentare. Für viele hört jedoch das: „Wie weit man selbst für ein Kind geht“ dort auf, wo die Methode mit den religiösen Vorschriften nicht mehr vereinbar ist. Für andere ist es hingegen eine individuell-moralische Frage, was für sie selbst und für das soziale Umfeld, in dem sie leben, als begründbar und akzeptabel gilt. In der Hinsicht sind die öffentlichen Diskurse über die „unliebsamen Folgen“ der Techniknutzung wirksam. Sie wirken sich darauf aus, wie Menschen sich im türkischen IVF-Markt bewegen, der sich im Grunde auf einer funktionellen, symbolischen Reinigung und Trennung des nationalen Raumes von „uygunsuz (unangebrachten) Dritten“ (Mutlu 2011) aufgebaut hat. Die Nutzungspraktiken, die außerhalb der normativen Rahmen der moralischen Wertvorstellungen liegen, sind gegenwärtig Schattenseiten der türkischen Reproduktionsmedizin. Unmittelbar sind diese mit Verheimlichungs- und Wissenspolitiken verwoben, die nicht nur auf psycho-soziale Ambivalenzen, sondern auch auf real regulative Ängste zurückzuführen sind. Im Folgenden geht es nun darum.
2.3 „WO FEUER HINFÄLLT, NUR DA BRENNT ES“: HERAUSFORDERUNGEN HETERONORMATIVER ORDNUNGEN UND AMBIVALENZEN MIT DRITTSPENDE „Würden wir hier Donation anbieten, käme kein Mensch mehr durch die Tür unserer Klinik.“ So argumentierten viele der von mir interviewten Ärzt*innen. Das Verbot der Drittspende ist nicht nur bestimmend sondern auch konstitutiv bei der Mitgestaltung des Behandlungsregimes in der Türkei. Während die Paare eine Normalität anstreben, kursieren in der Öffentlichkeit Diskurse von Degeneration der Normen und des Wertes der Familien bis hin zu einer moralischen Erosion. Daher wird möglichst versucht, den diskursiven und praktischen Raum zwischen
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konventioneller und unkonventioneller IVF zu trennen. Das heißt nicht, dass diese Drittspenden nicht durchgeführt werden. Sie werden in den letzten Jahren schätzungsgemäß sogar häufiger in Anspruch genommen als vor zehn Jahren. Auf Grund diverser Faktoren wie dem Sozialdruck, die Verbotspolitik und der gesetzlichen Priorisierung der genetischen Verwandtschaftsbeziehungen, werden diese jedoch verschwiegen (bzw. müssen verschwiegen werden). Die Meinungen zu individuellen und moralischen Grenzen sind hochgradig komplex und heterogen. Die wenigen klinischen Studien, die zum Thema Gametenspende existieren, zeigen eine steigende Offenheit und Sichtbarkeit, auch bezüglich der damit zusammenhängenden Aushandlungen (Isikoglu et al. 2005, Baykal 2008, Akyüz et al. 2014). Sie variieren situativ. Die Individuen beziehen sich häufig auf das gesellschaftliche Bild und nehmen Zukunftsszenarien vorweg. Im Laufe meiner Feldforschung habe ich viele Menschen getroffen, die unterschiedlichste, auch nicht immer in sich konsistente Meinungen innerhalb eines Interviews äußerten. Sie drücken meist die „ambivalente“ und „strittige Natur des Themas“ aus, zugleich auch eine Moralisierung des Kinderwunsches. Wo die Meinungen auseinandergehen, ist kaum am sozio-ökonomischen und politischen Hintergrund zu fixieren. Bei vielen Interviews lässt sich eine Moralisierung feststellen. Es ist darauf zurückzuführen, dass meine Interviewpartner*innen fast ausschließlich aus ihrer Eigenerfahrung heraus reden, entweder als Selbstbetroffene mit unerfülltem Kinderwunsch oder Expert*innen. Die legitimierende Moralisierung drückt sich am Besten in dem Satz aus: „ateş düştüğü yeri yakar.“ Dies bedeutet so etwas wie, „wo Feuer hinfällt, nur da brennt es“. Feuer symbolisiert das Leid. Es entsteht durch einen unerfüllten Kinderwunsch, nimmt durch das wiederkehrende Scheitern der Behandlungen zu und macht dann auch unterschiedlichste, zum gewünschten Kind führenden Wege nachvollziehbar. Auf der einen Seite sind es die Methoden der Nutzenmaximierung bzw. Optimierung der Zeugung per IVF/ICSI. Auf der anderen Seite tauchte diese Redewendung auch immer dann auf, wenn es um die Entscheidungsmomente für die Eizell- oder Samenspende ging. Die Drittspende ist eine „allerletzte Alternative“ beim Kinderwusch, um ein leibliches, wenngleich nicht genetisch verwandtes Kind zu haben. Sie gilt als „letzte Station“, meist vor der Adoption, die mit noch stärkeren Verunsicherungen – individuell wie gesetzlich – in Verbindung gebracht wird. „Der Schritt zur Donation wird gewagt“, falls eine genetische Bindung für einen Teil des Ehepaares gesichert ist, meist in den Fällen, in denen die väterliche Bindung genetisch und die mütterliche Bindung biologisch via die Schwangerschaft garantiert wird. Die Familien und die Kinder, die mithilfe von donogener Insemination entstanden sind, so ist die Annahme, können nur so als legitim am Sozialleben teilhaben. Der Weg in eine normale und sozial akzeptier-
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te Familie und Elternschaft führt nur über die Verdrängung und Vermeidung des Themas und der Geheimhaltung der Vorgeschichte der Erzeugung. Die umgebende Kultur der (öffentlichen) Schweigsamkeit trägt ein Zusammenspiel in sich. Dieses besteht aus einem enorm einflussreichen Legitimationszwang, „Normalitätserleben“ und moralischen Ambivalenzen. Diese prägen unmittelbar die Informations- und Wissenspolitiken, Ansprüche und Interessen(konflikte) von Individuen/Paaren, IVF-Markt und Staat und auch der Ungeborenen und der sogenannten „Donationskinder“. Die Inanspruchnahme einer Behandlung via Spende wird jedoch neben dem moralischen Sozialdruck auch durch die restriktive Gesetzgebung erschwert. Die türkischen Kliniken betreiben auf Zypern ihre Behandlungs- und Donationszentren. Sie stellen quasi „Umgehung(en) gesetzlicher Einschränkungen“ (Knoll 2008) dar. In meinen Interviews wurde oft auf eine rechtlich-moralische „Grauzone“ hingewiesen. Darin bewegen sich Paare, Kliniken und Spender*innen, wobei über das Ausmaß keinerlei Informationen verfügbar sind (Urman/Yakın 2010). Schätzungen zufolge, schlagen jährlich 5.000 Paare die „Ausweichrouten“, wie mein Kollege Sven Bergmann sie in seiner Ethnografie (2014) nennt, für Eizell- und Samenspende ins nähere Ausland, oft Zypern, ein. Die konsequent verschärfte Verbotspolitik bezüglich der Gametenspende innerhalb der Landesgrenzen steuert dazu bei. Zwischen 2009 und 2010 verfolgte ich auf den unterschiedlichen Plattformen und Events die regulativen Verhandlungen. Daraus folgte schließlich die Neuregelung der bestehenden Richtlinie.7 In den Fachkreisen wurde durchaus kontrovers über die Praktiken, Gefahren und Unsicherheiten in diesem verflochtenen, transnationalen Raum für Reproduktion diskutiert. Diese wurden teilweise, obgleich relativ schwach, auch in die Öffentlichkeit getragen. Wiederholt wiesen meine Gesprächspartner*innen damals auf die vielschichtigen Schwierigkeiten dieses IVF-Geschäfts hin. Sowohl kulturell-moralische als auch rechtliche Probleme wurden hervorgehoben. Dieses Geschäft ruft auch in der Türkei neuartige Problem- und Aushandlungszonen hervor, bei denen die Beziehung sowie die Macht- und Wissenskonstellationen zwischen der nationalstaatlichen Biopolitik, der Gesellschaft und der Individuen sich verschieben (Knecht 2011, Beck 2012). Welche Themen, Biografien und Familienmodelle damit in die Öffentlichkeit gehen, macht nach wie vor ein komplexes und polarisiertes Aushandlungsfeld sichtbar. Mir ermöglichte die Diskussion um die Gesetzes- und Regulationsänderung, die moralischen Spannungen und die Mei-
7
Siehe: „Üremeye Yardımcı Tedavi Uygulamaları ve Üremeye Yardımcı Tedavi Merkezleri Hakkında Yönetmelik“ (Richtlinie für assistierte Reproduktionsbehandlungen und für Zentren für assistierte Reproduktionsbehandlungen), Gesetzblatt, 27513: 06.03.2010).
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nungsvielfalt zu erfassen. Ich schnitt das Thema in meinen Interviews an. Einige versuchten, es abzuwiegeln und weigerten sich, darüber zu sprechen. Andere vertraten die Meinung, bei der verstärkten Verbotslogik gehe es nur darum, „die Praxis innerhalb der nationalen Grenzen möglichst sauber zu halten“. In der Regel verlagert sich das, was im Land verboten ist bzw. als kontrovers gilt, auf das Ausland, im spezifischen Fall besonders auf den geteilten Inselstaat Zypern. Auf dessen türkischer Seite gelten flexible Regulationen für diverse reproduktionsmedizinische Angebote. Besonders für donogene Insemination gilt die Insel als ein bereits seit vielen Jahren existierender „Hinter-Garten“ zur Umgehung nationaler Gesetze. Dr. Baysal merkt kritisch über die techno-wissenschaftliche und medizinische Kolonie Zypern an: „Dort ist der Hinter-Garten, im Hinter-Garten kannst du machen, was du willst, im Vorgarten [in der Türkei] sollen die Dinge ordentlich sein.“ Gerade im Falle von Eizellen- und Samenspende, ebenso wie für viele andere im Land untersagte Techniken wie Geschlechtsselektion, ist dieser Ort leicht zugänglich. Die AKP-Regierung und das Gesundheitsministerium adressierten bereits mehrmals öffentliche Drohungen an die Paare und die Kliniken und warfen ihnen vor, „den nationalstaatlichen Gesetzen zu entgehen und diese zu verletzen“. Der sogenannte „Reproduktionstourismus“ verletze, wie der damalige Vertreter des Gesundheitsministeriums, İrfan Şencan, in mehreren Presseerklärungen äußerte, die gesellschaftliche Ordnung (düzen). Damit würden zudem die „Familienwerte“ und „soy bağı (genetische Bindung, Blutsverwandtschaft und Abstammung)“ degeneriert. Er lancierte seine Darstellung als eine „feine Fixierung (ince ayar)“ des IVF-Sektors, der „aus dem Ruder geraten“ wäre. So wurden auch die donogenen Behandlungen, die außerhalb des Landes stattfinden, per Richtlinie untersagt und auch jegliche Kooperationen unter staatlicher Aufsicht beendet. Dies stellte ein symbolisches Zeichen (vgl. GürtinBroadbent 2011) gegen „moral pluralism“ (Pennings 2002) dar. Adressiert wurden nicht unbedingt die realen Praktiken, sondern die nationale „Furcht“ (Beck 2007: 129) davor. Außerdem sollte die damals stärker sichtbar werdende Meinungsvielfalt zur donogenen Behandlungsmethode (Akyuz et al. 2014) eingeschränkt bzw. gestoppt werden. Viele in meinem Feld werteten dies als „absurd“ und auch als „politisch motiviert“. Einige kritisieren das „Wegsehen vom Problem“ durch den Staat und die Gesellschaft. Andere hingegen betrachten kritisch und mit Sorge „einen staatlichen Übergriff in die Privatsphäre der Menschen“ und kritisieren eine patriarchale Allmacht des Staates über die Selbstbestimmung der Bürger*innen. Einige konstatierten ein Voranschreiten der Entsäkularisierung bzw. einen wachsenden Einzug der Islamisierung in regulative Prinzipien.
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Dr. Yaman, damaliger Vorsitzender des Vereins für private In-Vitro-Fertilisations-Zentren und Mitglied der Wissenschaftskommission des Gesundheitsministeriums, schildert dies wie folgt: „In der türkischen Realität werden Sachen anders diskutiert. Gut, Spenden werden in der Türkei verboten. Aber dieses Donationsverbot verhindert nicht, dass Menschen in Kliniken und privaten Zentren Inseminationen, Donationsbehandlungen usw. in Anspruch nehmen. Aber der Staat sagt dann: ‚Ich habe es verboten, also nehme ich das gar nicht wahr.‘ Das ist die Sichtweise des Staates. ‚Wenn der Bürger etwas macht, was ich verboten habe und ich es nicht sehe, geht es mich nichts an.‘ Aber dabei sollten sie ja gerade einiges bedenken: ‚Auch wenn ich das verbiete, wird es 22 oder 23 Jahre alte Mädchen geben, die an frühzeitiger Ovarienreduktion leiden oder einen 20 Jahre alten Mann, der an Azoospermie leidet. Die werden trotzdem Kinder haben wollen; trotz der Gesellschaft.‘ Dann dürfen die eigentlich nicht so tun, als ob es das alles nicht gibt. Und wenn man das alles nicht übersieht, dann ist das als Staat eure Pflicht, dieses Problem zu lösen. Aber in der Türkei gibt es da nicht so ein Verständnis.“
Davon sei das Land „noch sehr weit entfernt“. Als Begründung für individuelle und gesellschaftliche Ambivalenzen werden eher kulturelle Gegebenheiten, Kindeswohl und Familienverhältnisse herangezogen. Die „strittige Natur des Themas“ ist oft an der Religion und an der Fixierung auf Genetik festgemacht. Ein Arzt drückt es provokativ aus: „Was hier passiert, ist, dass dieses Thema ihre Religion verletzt.“ Auch Dr. Ünal, ein überzeugter Verteidiger der modernwestlichen und säkularen Türkei, argumentiert, nicht nach der „Meinung der islamischen Gelehrten gefragt zu haben [...] in so einem demokratischen Land, in der Türkei Atatürks“. Die Regulationsprinzipien sollen sich an die bürgerliche Autonomie und an das Recht-auf-Reproduktion halten. Die Familiengründung per Drittspende gehört für ihn dazu. Seiner Meinung nach, sei die türkische Gesellschaft jedoch noch „nicht bereit dafür“. Ünal: „Fremdspende ist in der Türkei meiner Meinung nach immer noch keine leichte Sache. Viele Kollegen mögen anders darüber denken. Offen gesagt glaube ich, dass wenn Fremdspende in diesem Zentrum durchgeführt wird, andere Patienten sich unwohler fühlen werden, wenn sie dann zu uns kommen.“ Nurhak: „Meinen Sie, dass es eine Auswirkung auf die Nachfrage von Tüp-Bebek-Patienten haben wird?“ Ünal: „Klar. Es heißt nicht, dass automatisch die Zahl der Patienten abnehmen wird. Aber ich glaube, dass die Patienten dann mit einer anderen Einstellung zu uns kommen werden. Sie werden dann denken, dass man hier das [Fremdspende] auch macht. Meiner Meinung
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nach ist die Türkei nicht gerade bereit dafür. Ich finde, die [medialen] Ausstrahlungen über Zypern waren ein gutes Beispiel, den Bypass sichtbar zu machen: ‚Schau, da wird es zum ersten Mal gemacht, es ist offiziell und Gesetz‘ [...].“
Bei diesem Thema herrscht durchaus eine Doppelmoral. Die „Donationskinder und -familien“, wie sie oftmals bezeichnet werden, stellen quasi die „public secrets“ dar (Taussig 1999). Sie sind, was öffentlich gewusst aber nicht gesagt wird bzw. werden darf. Aus Sicht vieler Gesprächspartner*innen geht es hierbei um eine einflussreiche „Kultur der Geheimhaltung“. Dr. Baysal, der seine Klient*innen über eine „Donationsmöglichkeit“, als „zweitbeste Lösung“ vor einer Adoption, informiert, nennt die Meinungen der Familien heterogen. Seiner Meinung nach hängen diese mit „deren gesellschaftlicher Verortung und dem Bildungsstatus“ zusammen. Folgend schildert er seine Erfahrungen mit Paaren, die eine Behandlung haben durchführen lassen: „Die meisten Familien reden innerhalb der Familie nicht, diskutieren das nicht, und halten es geheim, soweit es geht. Beinahe 100% sind bemüht, es geheim zu halten, aber ich weiß nicht, wie viel Erfolg sie damit haben. Aber sie bewahren das Geheimnis oder es bleibt intim [mahrem], das heißt, es wird nicht über dieses Thema gesprochen. Wenn man darüber sprechen würde, würde man natürlich absurde, sinnlose Dinge hören. Religiöse Einstellungen [dini saptamalar], oder halt soziale Einstellungen, die aus Unterentwicklung und Bildungsmangel [kültürsüzlük] entstehen. Eine Menge Dinge würden natürlich passieren. Die Zahl der Familien, die sagen würden, ‚das ist eure medizinische Entscheidung, alles Gute bei der Erziehung eures Kindes‘, ist gering. Man wird Fragen ausgesetzt sein wie, ‚war das erlaubt, war es dies, war es jenes, für wie viel hast du dieses Kind gemacht, waren die Mutter oder der Vater von dem Kind ‚ein Schwarz und so was‘.“
Die IVF-Koordinatorin einer Istanbuler Klinik, zu der eine Schwesterklinik auf Zypern gehört, berät mich regelrecht, nachdem ich ihr eine Frage zum Thema stellte: „Du hast Dir ein Thema ausgewählt, was heutzutage nicht behandelt werden kann. Vielleicht in 20 Jahren, auch daran glaube ich eigentlich nicht.“ Es sei ein Tabu-Thema, verbunden mit diversen Problemlagen. Kliniken würden „mit dem Thema nicht in Verbindung gebracht werden wollen“, denn der „Ruf der Klinik“ würde darunter leiden, wenn sie zusammen „mit diesem Thema erwähnt wird“. Sie sagte, „wir verschweigen das [...] natürlich weiß es jeder, aber trotzdem sagen wir es nicht laut. Wir wollen auch nicht, dass unser Name mit ‚Donation‘ (donasyon) erwähnt wird“. Wie viele andere, erzählte sie, dass die Donation „auch Paare gezielt verheimlichen. Vor allem im sozialen Umfeld; vor ihren Eltern, Nachbarn, Freunden. Denkst Du dass sie darüber mit Dir reden und die-
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ses Risiko eingehen? Sie tauchen völlig unter, sie verschwinden, wenn sie ein Kind haben“. Dieses Verschweigen geht für sie über die regulativen Restriktionen hinaus und hat immer auch moralische und kulturelle Komponenten. Ähnlich dem Ausgangspunkt der restriktiven Re-Regulierung transnationaler Mobilität sieht sie in einer moralischen Tendenz: „den Weg für die Donation nicht eigenhändig frei zu machen; sie wollen keine Brücke sein, die solche Praktiken ermöglicht. Sie wollen weder sich selbst zum günahkâr (Sünder) machen, noch die anderen Menschen.“ Dies entspricht insbesondere der moralischen Motivation der gegenwärtigen Regierungsmacht, die sich in der Verantwortung sehe, „Menschen vor ihren eigenen Wünschen zu schützen“. In solch einem Klima, so setzt sie fort, müssen: „natürlich sie [die Familien] untertauchen, was sollen sie sonst machen. In solch einer Gesellschaft können sie ja so was nicht sagen. Es ist sowieso religiös nicht erlaubt (caiz). Wie wollen sie in einem muslimischen Land äußern, dass sie etwas gemacht haben, das nicht caiz ist. Sie können ja sich nicht selbst als günahkâr outen, oder?“ Erfolgt die Behandlung wie erwünscht, bleibt die Vorgeschichte meistens geheim. Nur das Paar selbst weiß davon. Auch in den netzbasierten Räumen, die bis zu einem gewissen Grad Anonymität garantieren, verhalten sich Menschen sehr vorsichtig mit selbstoffenbarenden Mit-Teilungen. Ähnlich verhält es sich in den Kliniken. Dr. Demir erläutert: „Wenn man das Thema selbst nicht anschneidet, und ich tue es nicht, ich sage nicht, dass es da noch diese Möglichkeit [mit Drittspende] gibt. Ich sage, dass es [mit der Schwangerschaft] leider nicht klappt und die Medizin auch ihre Grenzen hat.“ In seinem Berufsleben habe er viele Menschen getroffen, die, wenn es um die Erfüllung des Kinderwunschs geht, ihre religiös-kulturellen und individuellen Ambivalenzen durchaus überwinden konnten: „Wo Feuer hinfällt, da brennt es auch. Also, man macht eine Spermabiopsie, aber erhält keine Spermien. Man hat da ein blutjunges Paar vor sich und der arme Mann ist dann völlig am Boden zerstört.“ Ähnlich argumentiert Dr. Üstün: „Natürlich gibt es ethische Fragen, natürlich ist es aus religiöser Sicht nicht erlaubt. Aber niemand kann einer Frau etwas von religiösen Problemen erzählen, die auf die schiefe Bahn geraten ist. Oder einem Mann, der von seiner Familie unterdrückt wird. Es könnte das Leid verhindern, welches die Patienten durchleben. Natürlich, dessen bin ich mir bewusst, was ethisch gesehen alles passieren kann. Von einer Frau können Eizellen an mehrere Personen weitergegeben werden. Und die daraus entstehenden Kinder können sich später treffen, sodass die Kinder derselben Mutter gemeinsam Kinder zeugen. Oder sie können einander heiraten.“
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Durch die nationalstaatlichen Restriktionen würde weder die Nachfrage minimiert noch das Problem gelöst: „Da kommt der Bürger zu einem und sagt, dass er das will. Er will sogar, dass man das Sperma seines Bruders nimmt und bietet Geld an. Und der Arzt macht es.“ „In unserer Erziehung“, so erklärt Taşlıçukur, die Mitarbeiterin im Patient*innenverein ist, „im Islam gibt es eben bestimmte Einschränkungen [...] so sage ich halt, dass es nicht erlaubt sein soll, und dass dies auch richtig ist“. Sie ergänzt dennoch sofort: „Da ich im Verein arbeite und weiß, was für Schwierigkeiten diese Menschen haben, sage ich, dass Donation, also Samenspende, Eizellspende, gemacht werden kann. Aber wenn ich persönlich, außerhalb von hier darüber nachdenke, entstehen negative Dinge in meinem Kopf, wie ordentlich das Ganze kontrolliert werden kann. Hier in der Türkei, wie ordentlich kann es das Gesundheitsministerium machen? Und dann sage ich, gut, diejenigen, die eine bestimmte Kraft haben, sollen ins Ausland gehen und dort Donation machen.“
Für viele andere, die in den Selbsthilfekontexten aktiv sind, ist es eine moralische Frage, aber nicht unbedingt eine staatliche sondern eine individuelle. Es stellt „eine Alternative“ für sie dar, die man auf jeden Fall in Betracht ziehen kann und außerdem einer Adoption vorziehen soll. In meinem ersten Interview mit Emel İpekçi, einer Mitstreiterin bei ÇİDER, schildert sie ihre Sichtweise: „Es ist eine Wahl. Ich würde es nicht machen.“ Emel: „Wenn Menschen einen starken Kinderwunsch haben und Donation dafür der letzte Ausweg ist, wieso denn nicht. [...] Es ist ja im Grunde ein leibliches Kind. Wenn es Eizellenspende ist, hat man ja das Spermium des Ehemannes verwendet. Die Spermien eines anderen zu nehmen, na ja, das ist ein völlig anderes Thema.“ Nurhak: „Inwiefern?“ Emel: „Weil, wie soll ich sagen, vieles kommt ja vom Vater. So wird wenigstens gedacht, das genetische Erbe, DNA etc. Nicht jeder Mann wäre daher bereit, dies zu akzeptieren. Wenigstens in der Türkei ist es schwer akzeptabel, Kinder zu haben mit dem Spermium eines Dritten.“
Die moralische Kompliziertheit beruht auf pronatalistischem Sozialdruck, legislativen Eingrenzungen und Untersagungen, auf religiösen Verboten, ökonomischen Zugangsschwierigkeiten und Legitimations- und Begründungszwängen diverser Art. Das erschwert die individuelle und familiäre Auseinandersetzung mit dem Thema. Es werden primär biologisch fundierte Rechtfertigungsgründe herangezogen. Diese folgen kulturell wie individuell anders gelagerten Wertvorstellungen, je nachdem, ob es sich um eine Eizellen- oder um eine Samenspende
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handelt. „Durch die Eizellenspende gibt man der Frau die Weiblichkeit zurück“, so argumentiert Dr. Erdem, während durch Samenspende der Mann als „der Männlichkeit beraubt“ betrachtet wird. Kader Şimşek kann eine derartige Aussage nachvollziehen. Anfänglich dachte sie selbst: „Wenn, dann soll es unbedingt mein eigenes Kind sein.“ Über ihren seit mehr als 15 Jahren unerfüllten Kinderwunsch sagt sie verzweifelt: „Eigentlich sollte ich es abgehakt haben“, doch dann ergänzt sie: „Da ist eine Methode, die manchmal in meinem Kopf ein Licht aufgehen lässt: Donation.“ In jedem Interview mit ihr, äußerte sie ihre Skepsis anders. „Mal entscheide ich mich dafür, mal dagegen“, sagt sie, wenn es um ihr Kinder-Haben mit Eizellenspende geht. Kaders Ehemann war durchaus offen für Eizellenspende, während er allerdings auf keinen Fall eine Samenspende in Erwägung ziehen würde. Kader fühlt sich deswegen „innerlich verletzt“ und „gekränkt“ und fragt rhetorisch: „Warum Ja zur Eizelle und Nein zum Sperma?“ Sofort fällt die Antwort: „Die türkische Gesellschaft ist eine patriarchale Gesellschaft.“ „Naja, halt das Sperma eines anderen Mannes zu nehmen und dann ein Kind zu bekommen... Mein Mann ist eigentlich kein ungebildeter Mensch. Er hat studiert, er ist ODTÜAbsolvent [Technische Universität des Nahen Ostens]. Er ist zwar Elektroingenieur, aber er kann trotzdem so eine Sichtweise an den Tag legen. Na ja, im Endeffekt ist er ein Mann. Vielleicht denken 80 bis 90 % aller Männer so. Also, 80 % aller Männer, bei deren Ehefrauen das Problem liegt, werden wohl Samenspenden nicht akzeptieren. Ich rede jetzt über unsere Gesellschaft.“
Bezüglich einer Samenspende vertritt ihr Mann eine klare Gegenmeinung. Sie teilt diese Meinung. Auch wenn sie immer wieder über eine Eizellenspende offen nachdachte, hat sie „eigene Zweifel“. Nach jeder gescheiterten Behandlung spielte sie immer mehr mit dem Gedanken eine Eizellenspende in Anspruch zu nehmen. Viele „Wenn und Aber“ gibt es in ihren ambivalenten Überlegungen, die sie offenherzig in unseren Interviews enthüllt. Kulturell sei Eizellenspende „etwas leichter zu akzeptieren als Samenspende“. Dennoch gilt auch für sie, ein Kind, das mithilfe einer Eizellenspende erzeugt wird, wäre eines „von meinem Mann und von X, also der Spenderin“. Sie hilft seit Jahren innerhalb ÇİDERs Menschen über Donation Wunschkinder zu bekommen und Familien zu gründen. Aus ihrer advokatorisch-moralischen Position heraus ist sie „zweifellos für DI“. Sie führt jedoch aus, dass sich immer wieder „ein Aber in die Überlegungen einschleicht“. Allein wegen des Austragens entstehe ohnehin eine biologische Bindung zwischen Mutter und Kind, so sei dies die „weniger problematische“ Variante:
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„Im Endeffekt wird es in unserer Kultur aufwachsen. Ich werde es erziehen. Das ist eigentlich Mutterschaft. Eigentlich ist die Erziehende die Mutter und nicht die Gebärende [...] Ich werde es tragen, mit meinem Blut nähren, es entbinden und stillen. Also, im Endeffekt werde ich seine Mutter sein. Aber ich werde diese Person X nie sehen oder kennenlernen. Es wird meine Blutgruppe haben. Wird meinem Typ... Die Spenderin wird so ausgewählt. Sie [die Eizelle] wird von einer gesunden Frau entnommen, mit dem Sperma meines Mannes zusammengeführt und dann mir weitergegeben. Das ist das Verfahren. Also, das zu akzeptieren... Ich quäle mich eh seit Jahren damit.“
Bei derartigen Abwägungen konfligieren die individuell-familiären und gesellschaftlichen „Bekümmernisse“ deutlich miteinander. Besonders dann, wenn die genetische und leibliche Bindung eher patriarchal vordefiniert wird. In Reflexionen vieler Männer wird dies so geäußert: „Ich habe ja dann keine Bindung zum Kind“, argumentierte Herr Yıldız, und weiter: „Für uns, in unserer Kultur, ist es schwierig das zu akzeptieren. Ein Kind eines anderen Mannes, diese Vorstellung ist eben schwierig für viele Männer.“ Herr Kılıçoğlu beschreibt es folgendermaßen: „Wenn ich es von der sozialen und religiösen Seite bedenke, ist es nicht leicht. Dann würde die Ehe (evlilik müessesesi) keine Bedeutung mehr haben. Dann würde sogar alles verkehrt sein. Das kommt mir nicht vernünftig vor. Religiös ist es auch nicht vernünftig. Was ist dann Mutter und Vater, was ist Ehe? Wir haben ja nicht nur die legale Eheschließung. Wir werden ja auch religiös verbunden, die Christen werden von einem Pfarrer verbunden. Das wird uns auf natürliche Weise gegeben. Deshalb ist das nichts Akzeptables.“8
Andere hingegen sehen das völlig anders. Für Männer wie Pomak ist Donation normal. Ihn traf ich während einer Informationsveranstaltung von ÇİDER. Er nahm daran teil, weil er sich als eine „allerletzte Möglichkeit“ im Kinderwunschprozess über eine „Auslandreise zur Eizellenspende“ informieren wollte. Herr Pomak lebt in einem kleinen Dorf in der Schwarzmeerregion, wo er und seine Frau die patriarchalen und konservativen Gesellschaftsstrukturen tagtäglich spüren. Nach mehrmaligen Fehlschlägen und zwischenzeitlichen Pausen aufgrund der finanziellen Belastung kam bei dem Paar noch das Alter als weiteres Problem dazu. „Unfruchtbar zu sein“ sei „eine Sache des Schicksals“, eine Krankheit, wie Magenschmerzen oder Gastritis, wofür es eine Lösung gibt. Für
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Diese Aussage wurde aus einem Interview entnommen, das im Jahr 2005 von Asiye Kaya in Izmir im Rahmen des SFB-Projektes (siehe Einleitung, Fußnote 4) durchgeführt wurde.
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ihn stellt die Donation „keinen Ehebruch“ dar, sagt er, „man nimmt das Sperma, transferiert es. Es ist gänzlich eine technische Sache“. Damals „waren wir Vorreiter“, erzählt er lachend, „als wir mit Tüp Bebek angefangen haben. Die Dorfbewohner können etwas ‚mürrisch‘ sein, weil sie nicht ‚aufgeklärt‘ [wörtlich çağdaş, sinngemäß nicht zeitgenössisch, gebildet, modern] sind“. Selbst sehe er das als ganz „normal“ und gehe auch so damit um. Als wesentliches Problem sehen er und seine Frau es, kinderlos in einem konservativen und kinderzentrierten Umfeld zu leben, gerade dann, wenn die Schwangerschaft trotz der Behandlungen nicht klappt. Obgleich es anfangs äußerst schwierig war, entschied sich das Paar, eine Behandlung mithilfe von Drittspenden vorzunehmen. Es hat zwar nicht zu den ursprünglichen reproduktionsbiografischen Vorstellungen gepasst, doch es war die „letzte Alternative“. In unserem Gespräch legitimiert er seine Entscheidung, mir und der Gesellschaft gegenüber damit, „dass es überhaupt keinen Unterschied zwischen dem hier und einer normalen Geburt gibt“: „Also die Erfahrung ist etwas anderes, das zu erleben. Natürlich ist es auch etwas anderes für die Familie, kein Kind zu bekommen. Deswegen ist es ziemlich normal, kann es also sein. Warum nicht. Schließlich, du ziehst sie groß, man ist zufrieden, also wenn man es hat. So ist es. Aber das kannst du dem Umfeld nicht erklären.“ Er macht einen grundlegenden Einstellungswandel zur Ambivalenz gegenüber der Donation deutlich. Bei Frau Beler, zum Zeitpunkt unseres Interviews ein neues Mitglied bei ÇİDER, bleibt die Schwangerschaft aufgrund einer „Doppelfehlbildung der Gebärmutter“ und „Beweglichkeitsproblemen“ des Spermas ihres Mannes aus. Sie ist „nicht dagegen“ und sagt, „wer will, kann es machen. Ich könnte es nicht in Erwägung ziehen, von meiner religiösen Sicht her“. Auf meine Nachfrage erläutert sie: „Es wird schließlich die Gene eines/r anderen haben. Ich weiß nicht, diese Themen sind schwierig. Nach dem Islam ist es ja verboten. Ich bin im Grunde dagegen, wenn Leute es bei Samenbanken machen. [Ich denke] du kannst ja mit irgendjemandem zusammen sein, dann weißt du auch, von wem das ist. Ich kann das nicht. Ich meine, Allah soll einen nicht in die Lage bringen. Fühlt man sich ausweglos, würde man natürlich alles machen.“
Şebnem Koç brachte eine nicht genetische Bindungsvorstellung zur Sprache. Eine Freundin von ihr bekam eine Tochter mithilfe der Eizellenspende im Ausland. Şebnem und ihr Mann sind „die einzigen Personen, die davon wissen und miterleben, was es bedeutet, ein Donationskind großzuziehen“. Meine Bitte, mit dem Paar über sie Kontakt aufzunehmen, lehnte sie sofort ab. Sie wollen selbst die Geschichte vergessen, sagte sie, sie würden auf keinen Fall „an die genetische
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Nicht-Bindung (genetik bağ olmaması)“ erinnert werden wollen. Stattdessen würden andere Aspekte in den Familien- und Verwandtschaftsbindungen relevant sein. In einem deutlich kritischen Ton gegenüber den dominanten Weltanschauungen, die „Donation“ als Normverletzendes und „Degenerierendes“, „Abscheuliches“ und „Abartiges“ klassifizieren, betonte sie: „Es ist doch gar nicht wichtig (Yok canım öyle şeylerin hiçbir önemi yok yani). Was hat das denn mit Genetik zu tun, es ist etwas Kulturelles. Wie kann ein englisches Sperma sich von dem türkischen Sperma unterscheiden? Natürlich nicht. Es hat mit deinen Vorstellungen von Familie zu tun, natürlich auch mit der Gesellschaft und ihre Vorstellungen von nationaler Identität. Wichtig ist vielleicht daher, dass das Kind nicht schwarz (zenci) wird, nicht [lachend]. Du sagst ja schließlich ‚das ist mein Kind‘.“
Die Meinungen zur Keimzellenspende, darunter also zur Anonymität, Geheimhaltung und Offenlegung, zeigen schließlich kontextuell komplexe Pfade von „what people think about connectedness and relatedness in general“ (Speirs 2015: 87). Ähnlich wie bei Pomak geht es für viele weniger um genetische Bindung, nicht um kan bağı, Blutsverwandtschaft und Blutbindung. Nesep, die genetische Abstammung, die staatlich adressiert wird, ist für sie nicht vordergründig. Die Bindung ist vielmehr eine bio-soziale. Viele in meinem Sample, die eine Drittspende bereits in Anspruch genommen haben oder das planen, sehen die Bindung über die Schwangerschaft hergestellt: „Du trägst das Baby ja neun Monate. Das ist dann dein eigenes.“ Muko, ein Gründungsmitglied von ÇİDER, die sich während damaliger Debatten eindeutig für die Transparenz aussprach, begründet: „Sie werden mir vielleicht Rassismus oder Nationalismus vorwerfen, aber ich bevorzuge es, dass Eizellen und Spermien aus meinem eigenen Land benutzt werden, anstatt aus dem Ausland, damit die Rasse nicht verdorben wird. Jetzt gehen sie zum Beispiel nach Antalya, der Mann kommt aus einer ländlichen Gegend, er hat eine Bauernhose, auf dem Kopf eine Mütze, und neben ihm ein Kind, das seinem Profil entspricht, aber mit grünen Augen und blond, er sagt ‚Buba‘ [‚Papa‘ in diversen türkischen Dialekten] und du merkst, es ist ein Spender aus Belgien. Und das ist ihm eigentlich sehr zuwider. Wenn es stattdessen in der Türkei ordentlich gemacht werden würde, mit einer Verwaltung, mit einem Gesetz in einen Rahmen gesetzt werden würde [...].“
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„Mahalle baskısı“ (wörtlich „Nachbarschaftsdruck“) spiele allerdings eine große Rolle, betonen einige, der gesellschaftliche Druck auf die Familien. 9 Sibel Tuzcu, die Gründerin, erklärt in unserem letzten Interview: „Wir leben in einem Land, in dem ein Spenderkind immer noch als Bastard [piç] betrachtet wird. Mir geht es darum, nicht mit dem Leben von diesem Kind zu spielen. [...] Das hat mit der Beschaffenheit der türkischen Menschen zu tun. Das ist nichts Einfaches, überhaupt nicht. Und in so einer Sache das Kind in den Vordergrund zu stellen und Vorreiter zu sein ist schwieriger.“
Auch die Gesetzänderung, die im Jahr 2010 die Drittspende untersagte, bewertet eine Interviewpartner*in als ein „Manöver, um die potentiellen Patienten einzuschüchtern“: „Die Leute werden weiterhin locker Kinder machen. Sie werden die Donation durchführen. Sie werden sowohl Eizellen kaufen, als auch Spermien. Ich meine... setzt sich eine Person das in den Kopf, dann... [İnsanlar çatır çatır çocuk da yapacak, donasyon da yapıcak, yumurta da alıcak, sperm de alıcak yani. Ben... yeter ki bir insan karar vermesin]. Also, es ist ihre eigene Entscheidung... Wieso werden denn solche Sachen unter Druck gesetzt? Das hat natürlich auch ein wenig mit unserem Staat zu tun.“
Wie die Lebens- und reproduktionsbiografischen Läufe in diesem Kapitel zeigen, ist der Kinderwunschweg durch vielfältige Kalkulationen und Zwänge gekennzeichnet. Menschen greifen oft relativ flexible und pragmatisch auf Diskurse zurück, welche individuelle und gesellschaftliche Irritationen mit Reproduktionstechnologien relativieren. Es geht nämlich darum, für sie bestmögliches Selbst, Wissens- und Hoffnungsmanagement zu realisieren. Auch die individuell wie gesellschaftlich ambivalent empfundenen Formen der Technologienutzung und auch der Familiengründung sind davon nicht ausgenommen. Selbst wenn bestimmte Wege und Familienkonstellationen in einer mehrheitlich sunnitischmuslimischen und konservativ geprägten Gesellschaft wie der Türkei weitgehend diskreditiert werden, unter gesellschaftlicher und staatlicher Überwachung stehen, ist hier auch eine pluralisierende Wirkung festzustellen. Im Umgang damit stellen die Familienstrategien sich der historisch und kulturell ausgeprägten 9
Mahalle baskısı ist ein Konzept, das vom Soziologen Şerif Mardin zum ersten Mal während eines TV-Interviews verwendet wurde. Es fand sehr rasch seinen Weg in die Öffentlichkeit und wird mittlerweile im Alltag für alle möglichen Formen des AlltagsKonservatismus und politisch-konservativer Machtausübung genutzt. Es verweist aber vor allem auf die gesellschaftliche Einflussnahme in die Privatsphäre (siehe Toprak et al. 2009).
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„Rechtfertigungsregime“ (Boltanski/Thévenot 2014) gegenüber – manchmal wiederholt, denn es handelt sich um Aushandlungen sozial akzeptierter Wege der Fortpflanzung. Dabei werden manche reproduktionsbiografischen Erfahrungen, Ansprüche und auch Familienverhältnisse zugunsten der Normalisierungsherstellung unsichtbar und unbeweglich gemacht.
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Kinderwunschwege Von Tabu-Biografien zu biosozialer Normalisierung
„Infertilität war ein Wort, das sich nicht ziemte“, so beschrieb es einmal Sibel Tuzcu, die Gründerin von ÇİDER (2007). Diese Aussage impliziert einen Wandel, für dessen Vorantreiben die Gruppe ÇİDER seit dem Jahr 2000 eine unmittelbare Mitgestalter-Rolle beansprucht. Dieser Wandel habe die biografischen Brüche, die einst als mahrem (intim), in der Privatsphäre der Paarbeziehung, dem paternalistischen Medizinkontext und auch in den Tabuzonen der Gesellschaft gefangen waren, ans Tageslicht gebracht. Ein Tabubruch um die Infertilität. Das, was einst als „beschämend“ und „nicht sagbar“ galt und worüber „in der Gesellschaft geschwiegen wurde“, löste sich aus der Sphäre des Intimen. Dieses Kapitel analysiert die Praktiken des Prozesses von einer Geheimhaltungskultur hin zu einer biosozialen Normalisierung, für welchen sich viele meiner Interviewpartner*innen und die Mitstreiter*innen der Gruppe ÇİDER einsetzen. Ihre diskursiven und narrativen Praktiken steuern dazu bei, dass der Tabubruch zu neuartigen Narrativen der Reproduktionsbiografien und Erfolgsdiskursen der Reproduktionsmedizin führt. Ich beschreibe zunächst, wie die infertilen und oft als krisenhaft empfundenen Reproduktionsbiografien in einer pronatalistischen und kinderzentrierten Gesellschaft erfahren werden. Im Anschluss analysiere ich eine relativ neue und kontroverse Kultur der reproduktionsbiografischen MitTeilung. Diese Kultur demonstriert ein Zusammenspiel aus heroisch dargestellten Kinderwunschkarrieren, Pronatalismen und Normalisierung.
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3.1 „IN EINER FERTILEN GESELLSCHAFT“: BIOGRAFIEN, KÖRPER UND WISSENSMANAGEMENT Frauen und Männer, mit denen ich umfassend über ihre intimsten Erfahrungen sprach, meistern ihre Reproduktionsbiografie in einer Gesellschaft, die sie als „doğurgan toplum (eine fertile Gesellschaft)“ empfinden. In ihr gilt Unfruchtbarkeit als Stigma und als eine Abweichung davon, was als Normalbiografie und „normal funktionierender“ reproduktiver Körper konstituiert wird. Als Makel wird Unfruchtbarkeit und auch die mit ihnen einhergehenden Erfahrungen diskreditiert. Nach wie vor erleben viele, trotz der häufig artikulierten Normalisierung von In-Vitro-Technologien, dass diese in der pronatalistischen Gesellschaft als exzeptionell wahrgenommen werden. Die damals 35-jährige Semra verfügt diesbezüglich über einen kritischen Scharfsinn. Bei unserer ersten Begegnung benennt sie, was die Betroffenen durchlaufen, mit dem sozialwissenschaftlich fundierten Schlagwort: „ötekileştirme (ver-andern bzw. Anders Machen)“: „Weil wenn die Menschen zum ersten Mal hören, dass du kein Kind bekommst, es ist dann so, als ob du, Gott möge das nicht erleben lassen, Krebs hättest, als ob anders… Man redet in letzter Zeit ja viel von ötekileştirme, also als wärest du die Andere: wem kannst du überhaupt davon erzählen, wen kannst du was fragen, es ist ja doch ein sensibles Thema in der Türkei, sodass du es nicht jedem sagen kannst.“
Sie gehört zu jenen Betroffenen, die beim Umgang mit solch empfundener Stigmatisierung in ihrem pronatalistischen Umfeld eigenständige Gegenstrategien des Stigma-Managements entwickeln. Vor circa zehn Jahren rief sie gemeinsam mit anderen Betroffenen eine online-organisierte Gruppe für und von Frauen aus der Region ins Leben. Später entstanden hieraus auch regelmäßige Vor-Ort-Treffen. Bei mehreren dieser Treffen, an denen ich teilnahm, thematisierten die Frauen dieses Anderssein und, wie und unter welchen Umständen die Infertilität als ein biologisch bedingter Zustand tabuisiert, verschwiegen oder öffentlich ausgehandelt wird. Derartige Gruppen helfen bei der Umsetzung eines passablen Stigma-Managements. In Kapitel 5.4 wird die dabei sich entwickelnde spezifische Wissensarbeit der Frauen analysiert. Im Goffmanschen Sinne zwingt Infertilität zu einer „sozialen Identität“, die oft unerwünschte Aufmerksamkeit mit sich bringt und durch die spezifisch negativen Zuschreibungen zu alltäglichen Abwendungen führt. Goffman ([1963] 1967) entsprechend entsteht ein Stigma nicht als Folge einer Eigenschaft, sondern erst durch die Sozialbeziehungen, in denen über das „Normale“ und „von der Norm Abweichende“ entschieden wird.
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Demnach ist Infertilität eine soziale Information, die im Alltag der Menschen Situationen generiert, bei denen sie sich dazu stigmatisiert sehen, bestmögliches Informations- und Wissensmanagement zu leisten. Ihre Körper werden als „mangelhaft“ und „defizitär“ diffamiert, die in der „Gebärfähigkeit versagen“, die das sozial und biologisch Normale nicht erfüllen können, so die wiederholten Argumente. Tuzcu beschreibt diese Diffamierungen bezogen auf die türkische Gesellschaft wie folgt: „Wir sind eine Gesellschaft, in der Kinder hoch gewichtet werden. Und sozialer Druck ist hier sehr stark. Wir sind eine Gesellschaft, in der man nicht für sich selbst, sondern für die Verwandten und Nachbarn lebt. Wir befinden uns immer in der Verpflichtung, uns gegenüber anderen zu rechtfertigen. Also obwohl sie selbst es nicht wollen, um nicht als ungenügend abgestempelt zu werden, um ehrlich zu sein. Also ich meine damit, dass ihr Umfeld es will, dass die Frau zwar alles hat, aber kein Kind. Und das wird in der Gesellschaft als ein Defizit gesehen.“
Als solche führe die türkische Gesellschaft für die Betroffenen oft zu krisenhaft empfundenen Aushandlungen mit dem Selbst sowie mit den herrschenden pronatalistischen Normen. Diese wirken sich auf vielfältige Weise auf die Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität und Körper aus. So stellt die Unfruchtbarkeit eine biosoziale Problemlage dar. Im Alltag wird sie kısırlık genannt. Gerade die Sichtbarkeit der medizinischen Lösungsangebote führen für Frauen und auch für Männer zu neuen Herausforderungen im Management der Reproduktionsbiografie. Ötekileştirme, wovon Semra sprach, fühlt sich für meine Interviewpartner*innen und andere Betroffene, die ich in den online Selbsthilfegruppen traf, demnach so an, als ob ihnen die Teilnahme an der „normalen, d.h. gebärfähigen Gesellschaft“ abgesprochen werde. Es scheint paradox, denn dieser Ausschluss impliziert simultan sowohl eine subtile Schweigsamkeit über das Problem als auch eine Sichtbarmachung. Betroffene empfinden, dass sie „mit dem sensibelsten und intimsten Thema ihres Lebens unter dem Scheinwerfer“ stehen. Semra ergänzt: „Als wäre es nicht dein Privates: Als gäbe es kein anderes Thema, über das man mit dir sprechen kann. Als würdest du nichts Anderes kennen im Leben. Es dreht sich immer um [Fragen wie] ‚Gehst du zum Arzt? Was machst du fürs Kinderkriegen?‘“ Während meiner Forschung kam die Bezeichnung ötekileştirme, also der Prozess des Ausschlusses, nie wieder in dieser Form zugespitzt zur Sprache. Doch viele meiner Gesprächspartner*innen erläuterten ähnliche Stigmatisierungsprozesse, mit vergleichbar wirkenden psycho-sozialen Folgen im Management der eigenen Reproduktionsbiografie. Wenn Paare zum gewünschten oder
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gesellschaftlich erwarteten Zeitpunkt kein Kind bekommen, werde dies häufig als „anormal abgestempelt“, beklagt sich Aynur. Das Problem wird schnell zur „jedermanns Sache, außer der von Frau und Mann“, behauptet sie – und weiter: „Im gebärfähigen Alter ohne Kind bist du ein Problem, zu dem sich jeder beliebig äußern kann“. „Macht doch endlich ein Baby“, hört Aynur immer wieder. Als ich sie während einer Informationsveranstaltung von ÇİDER in einem weniger wohlhabenden Stadtteil der Millionenmetropole Istanbul kennenlernte war sie bereits seit 7 Jahren an Endometriose erkrankt. Dies ist eine hormonell bedingte, häufig entzündliche Krankheit im Bauchraum. Alle Behandlungsversuche scheiterten. Die damals 38-Jährige habe relativ spät geheiratet, sie gehört zur wohlhabenden Istanbuler Mittelschicht und mit dem Kinderkriegen hatte sie es nicht eilig. Sie wollte den Zeitpunkt für ihre Familienplanung selbst bestimmen. Obwohl viele andere sich das Mitspracherecht „ungefragt nehmen“, wusste sie Widerstand zu leisten und untersagte den anderen darüber zu bestimmen. „Es gibt einen ständigen Übergriff in deine Privatsphäre,“ beklagt sie während der Rückfahrt von der Veranstaltung, als wir im Zug relativ unbeschwert über ihre intimsten Erlebnisse, welche sie mit ihrer Familie, im sozialen Umfeld und auch in den Kliniken macht, sprachen. Die Frauen würden dem Gefühl ausgesetzt, „kein Kind gebären zu können, sei ein Mangel“. Unfruchtbarkeit löse noch gesellschaftliche Irritationen aus. „Eine Frau, die nicht gebären kann. Eine Horrorvorstellung in dieser Gesellschaft“, spitzt sie verbittert lachend zu und wirkt dabei leicht genervt. In einem scharfsinnig kritischen Ton beschrieb sie in den folgenden Interviews wiederholt „die Position der Frauen, die nicht gebären können“ in der pronatalistischen Gesellschaft, in der man von den „Gebärfähigen“ und Familien umgeben ist. „Ein Mutterformat“ sei, „was dir die Gesellschaft, auch die Religion, aufzwingt“: „Gebäre... du hast die Gebärfähigkeit und musst das machen. Wenn du nicht gebärst, dann lebst du mit einem Gefühl, als wärst du mangelhaft. Dir wird keine Welt angeboten, in der Nicht-Wollen eine Option ist. Da sind Menschen, die sich nicht ins Leben einmischen dürfen, sie kommen aber zwischen dich und deinen Mann. Es gibt immer eine Einmischung. Unter diesen Umständen wäre es doch anormal [über Kinder] nicht nachzudenken.“
So ist kısır immer „mit viel Schlechtem und Negativem verwoben“ und „trifft kaum auf das zu, was das Problem ist“. Unfruchtbarkeit als Begriff werde oftmals mit Sterilität gleichgesetzt. „Endgültiger Mangel des Reproduktionspotenzials“ und eine „Nicht-Reproduktionsfähigkeit“ wird den Menschen unterstellt. Aynur bevorzugt – wie viele andere – den medizinischen Fachausdruck „inferti-
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lite“ – Infertilität – denn dieser sei aus ihrer Sicht vom gesellschaftlichen Diskurs entkoppelt und von den damit einhergehenden negativ empfundenen Fremdbildern, unmittelbaren Schuldzuweisungen und Abwertungen, die mit dem Begriff kısır „wachgerufen“ werden. Infertilität empfinden sie demnach als sozial weniger aufgeladen, was die biologische und körperliche Lage im medizinischen Sinn für die Betroffenen schlichtweg relativiert. Es ist also keine simple rhetorische Frage, sondern eher eine lebensweltliche, die sich täglich stellt und beeinflusst, wie Fruchtbarkeit, Reproduktionsschwierigkeiten und das Leben der Betroffenen in der Gesellschaft definiert, gerahmt und wahrgenommen werden. Beim ersten Treffen der Frauengruppe, zu der auch Semra gehört, brachte eine andere Beteiligte, Feride, die in den letzten sieben Ehejahren mithilfe von IVF versucht, ein Kind zu bekommen, den Perspektivenwechsel deutlich zur Sprache: „Bei kısırlık sind viele Bedeutungen dabei, die ich schon von meiner Kindheit an kenne. Ich kenne das Wort. Ich habe das nicht zum ersten Mal gehört und ich weiß, dass dieses gar nicht positiv ist, sogar eher negativ, abwertend. Bei ‚Infertilität‘ aber ist das anders. Vielleicht ist es das Gleiche, also bedeutet das Gleiche, aber trotzdem habe ich das Wort erst während der Behandlungen kennengelernt. Ich habe das Wort zum ersten Mal da gehört, als ich von meinem Problem erfahren habe. Deshalb kommt mir dieses Wort nicht vor wie kısırlık oder kısır. Ich will nicht, dass mich jemand kısır nennt.“
Die anderen Frauen nickten zustimmend und sagten leise, dass sie die gleiche Meinung vertreten. Auch sie assoziieren damit einen negativ aufgeladenen Diskurs über Reproduktionsschwierigkeiten und kinderlose Familien. Hiervon möchten sie sich deutlich durch ihre eigenen reproduktionsmedizinischen Hintergründe und „Kämpfe“ distanzieren. Im Umgang mit Reproduktionstechnologien änderten sich ihre reproduktionsbiografischen Selbstbilder und ihre Wahrnehmungen von Infertilität. Als Normalbiografien gelten ihre Biografien kaum, denn Kinder-Haben gehöre zu einem erwachsenen Leben dazu: „Du heiratest und machst Kinder.“ Die Betroffenen sind diversen Erklärungs- und Begründungszwängen ausgesetzt. So wird ihnen immer wieder abverlangt zu erklären, „wieso man noch kein Kind hat“. Der damit einhergehende Sozialdruck schlägt sich auch in den Umgangsweisen mit Selbstoffenbarungen nieder, in der Entscheidung, ob die Betroffenen darüber reden oder nicht. Es gilt: Was tabuisiert wird, darüber wird am meisten gelästert. Darüber beklagen sich viele, die ich in unterschiedlichen Kliniken, Städten und Plattformen traf und interviewte. Andererseits erläuterten sie durchaus gelungene Normalisierungsprozesse in der breiteren Gesellschaft und argumentierten, dass Unfruchtbarkeit als „äußerst normal
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[anzusehen wäre, dass es] also sowieso eine Krankheit“ sei. Für die*den praktizierende*n Muslim*a ist es „Allahs Ermessen [takdir-i Allah und takdir-i ilahi]“ (siehe Kapitel 2.2), wofür jedoch durchaus irdische Lösungsangebote bestehen. „Kein Kind zu bekommen“, so beklagt sich Herr Tıknaz, „wird immer noch ein wenig als Schande verstanden, [gilt] immer noch nicht als ein medizinisch zu lösendes Problem, sogar bei Familien mit hohem Bildungsniveau“. Er weiß wovon er redet. Vor der Adoption ihres Sohnes, durchlief das Paar mehrere Behandlun-gen. Auf Grund einer doppelten Diagnose blieb das Paar bis dahin kinderlos. Bei seiner Frau wurden polyzystische Ovarien diagnostiziert und bei ihm „vermin-derte Samenqualität“ und Varikozele, eine Krampfaderbildung, die zu Frucht-barkeitsstörungen führen kann: „Also diese Probleme kommen ein wenig von unserer allgemeinen kulturellen Beschaffenheit. Also wir betrachten das immer noch als keine Krankheit. Unfruchtbarkeit ist ein sehr abstoßendes Wort. ‚Kein Kind zu bekommen‘ ist es vielleicht nicht so sehr. [...] ich verwende dieses Wort nicht so einfach.“ Nurhak: „Was würden sie sagen? ‚Kinderlos‘ oder ‚infertil‘?“ „Eher ‚infertil‘. Denjenigen, die es verstehen, sage ich ‚infertil‘, danach, wenn sie das nicht verstanden haben, sage ich‚ ‚die, die keine Kinder bekommen‘. Also ich erkläre ‚infertil‘, ich führe es aus. Aber es ist sehr abstoßend, ich weiß nicht, mir kommt es abstoßend vor. Besser gesagt, [es kommt darauf an] welche Bedeutung es hat... ich kann den Inhalt füllen. Aber unsere Gesellschaft kann das nicht. Oder sie füllen es anders, sie bekommen ein anderes Verständnis.“
„Frau Meinung und Herr Meinung“ Ob und wie viel individuell-familiäre Autonomie vorhanden ist, wird von den Betroffenen sowie den Fachleuten kritisch bewertet. Denn durch die Infertilität fühlen sich nicht nur die Individuen selbst, sondern auch deren Familien und Verwandte betroffen. Die individuelle und eheliche Privatsphäre und deren Autonomie werden verletzt. Die Psychologin Aybak, die seit über zehn Jahren in einer Istanbuler Privatklinik Frauen und Paare bei der Behandlung betreut, erklärte mir, dass die Gesellschaft nach der Heirat eines Paares „in ihr Schlafzimmer“ in die „Privatsphäre bis in mein Bett“ eindringe. Folglich hätten „Menschen, die nicht Mutter oder Vater werden können, so ein Gefühl der Unzulänglichkeit“, sagt sie. Wenn sie sich daraufhin behandeln lassen, gehe es auch darum, sich vor der Gesellschaft zu rechtfertigen, als nur darum, einen rein individuellen Wunsch zu erfüllen, „ein Baby zu bekommen“. „Menschen geraten in einen solchen Teufelskreis“, beobachtet die Psychologin in ihren Beratungen mit Betroffenen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten. Wie ich bereits in der Ein-
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leitung ausgeführt habe, berichtet auch Muko von einem „Zirkel, der wächst“. Von dieser Metapher erzählt die seit der Geburt ihrer IVF-Zwillinge aktive Mitstreiterin immer wieder in den Veranstaltungen der Organisation ÇİDER. Oft sehr rasch schließe dieser Zirkel auch völlig fremde Menschen und Unbeteiligte mit ein. Humorvoll macht sie den gesellschaftlichen Druck an den zwei imaginären Figuren fest: „Frau Meinung und Herr Meinung (fikriye hanım ile fikri bey)“. In den städtischen wie auch in den ländlichen Regionen gebe es in diesem Zirkel „Einmischerein“ und „blöde Kommentare“, womit viele konfrontiert werden. Muko erzählt mir eine Anekdote aus dem Jahr 2006, als sie eine Veranstaltungsreihe in der Schwarzmeerregion moderierte. An einem Tag sitzen im Saal circa „400 Personen und es ist voll, keine leeren Stühlen“, aber mit dem Altersdurchschnitt im Publikum stimme etwas nicht. Sie fragte sich und andere Mitstreiterinnen „haben denn so viele im mittleren Alter ein Problem?“ Zu ihrem Erstaunen habe sie festgestellt, erzählt sie lachend, „meine Güte es waren ihre Schwiegermütter! Ich habe dann gesagt: ‚Nun liebe Mütter, liebe Schwiegermütter, liebe Schwestern ‚was haben sie hier zu suchen? Also, eure Schwiegertöchter hätten mit euren Söhnen zusammen kommen sollen‘.“ Dieser Umstand wurde im Feld oft humorvoll als „Schwiegermutter-Faktor“ bezeichnet, um die sozialen und familiären Problemverständnisse und -bewältigungen zu veranschaulichen. Auch ich konnte bei den Veranstaltungen und in meinen Interviews immer wieder feststellen, dass Infertilität als ein biosoziales Problem von der ganzen Familie erlebt wird. Die bisher beschriebene Situation um die Infertilität herum basiert zum einen auf der Suche nach den medizinischen Lösungen und auf der Popularisierung der In-Vitro-Technologien. Zum anderen geht diese Situation auf das Streben danach zurück, dass die betroffenen Frauen und Männer diese Technologien vielfältig für eine „soziale“ und „biografische Normalisierung“, wie Zora Schaad es nannte (2009: 115), einsetzen. Ich werde analysieren, wie sie neue Pfade und Räume aufsuchen, wo sie das unter diesen Umständen abverlangten Informations- und Wissensmanagement bestmöglich gestalten und vollziehen können. Infertilität „as discursive contradiction“, wie von der Sozialanthropologin Jill Allison (2011) in ihrer Analyse der Betroffenengruppen in Irland zu Recht bezeichnet, stellt nämlich auch in der Türkei das Paradoxon von Geheimhaltung und Transparenz immer wieder erneut her. Dabei ist ein Zusammenspiel von pronatalistischen Imperativen und der Normalisierung der Technologienutzung äußerst wirksam. Das herrschende Schweigen wird in Politiken des Transparentmachens überführt. Für viele Frauen und Männer, denen ich in meiner Forschung begegnet bin, bedeutet dieser Prozess allerdings eine weitere Herausforderung. Zusätzlich muss eine sozial verträgliche Balance zwischen Geheimhaltung und Trans-
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parenz erarbeitet werden. Für viele steigt der Sozialdruck, während die Reproduktionstechnologien für andere einen Ausweg aus dem stigmatisierten und tabuisierten Zustand ermöglichen. Um noch einmal mit Goffman zu argumentieren, das entscheidende Problem ist nicht die Bewältigung der Situation, sondern die „Informationskontrolle“ bzw. die Information über den individuellen Zustand „zu steuern: Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; rauslassen oder nicht rauslassen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo“ ([1963] 1967: 56). Viele Umstände erlauben keine vollständige Anonymität und Verheimlichung, sondern nur situativ ausgehandeltes Informationsund Wissensmanagement.
3.2 KULTUR DER MIT-TEILUNG: VON DER TRANSPARENZ ZU NEUEN SCHWEIGSAMKEITEN Biotechnologien und -medizin haben uns, so Strathern (2005), zu Menschen gemacht, die nicht erstaunt sind, wenn private, intime und medizinische Problemlagen öffentlich werden und als techno-wissenschaftliche Belange diskutiert werden. Während private Inhalte und Problemlagen immer mehr und stärker in die Öffentlichkeit gelangen, zeigen sie Veränderungen in den historisch und kontextuell ausgeprägten Verständnissen vom Privaten-im-Öffentlichen und vom Öffentlichen-im-Privaten (Plummer 1995, Berlant 2000). Die privaten Lebens- und Sinnbereiche der Menschen werden durch die oszillierenden und ohnehin unhaltbaren Grenzen zwischen öffentlich und privat geprägt. In der Analyse dieser Gegensätze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit hat die sozialwissenschaftliche Literatur eine spezifische Geheimhaltungskultur für die islamisch geprägte Welt der sogenannten nicht-westlichen Länder beschrieben. Diese erzeuge, so beispielsweise Nilüfer Göle, Eigendynamiken über die Nicht-Veröffentlichung davon, was als mahrem gilt. Die öffentliche Sphäre war demnach durch eine „culture of secrecy“ (Göle 1996: 52) des Privaten geprägt (Sehlikoglu 2015), die nun im Zeitalter der rasanten Veränderungen neue Manifestationen annimmt (Özyürek 2006). Die Kultur der Schweigsamkeit wird aufgebrochen, die bisher vieles im Verborgenen verschleierte. Dazu gehören Themen und Anliegen, die besonders Sexualität, Intimität der Reproduktion und Vorstellungen von Körper und Geschlecht betreffen. „Mahrem, das Pendant zur westlichen Privatsphäre“ (Wedel 1997: 286) verweise unmittelbar auf die kulturellen Vorstellungen vom Sagbaren und Nicht-Sagbaren, eine „nonverbalization of the affairs taking place
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in the mahrem sphere“ (Göle 1996: 52).1 In diesem Sinne ist das Verschwiegene ein konstitutiver Bestandteil der moralischen Öffentlichkeit in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern wie der Türkei. Die Biomedizin im Generellen und die Reproduktionsmedizin im Besonderen gehören heutzutage zu den meist medial dargestellten Themen der Intimität. Während meiner Forschung wurden täglich unzählige Berichte über IVF/ICSI publiziert, viele höchst dramatisch dargestellte Kinderlosigkeits- und Kampfgeschichten um das Kinderhaben ausgestrahlt und Frauen wie Paare als Erfolgsstories oder individuelle ‚Kämpfer*innen‘ dargestellt. Die bislang stigmatisierten und in den Bereichen des Privaten, der Familie und der Paarbeziehung ausgehandelten Erfahrungen werden somit öffentlich und transparent gemacht. Dabei entstehen Erzählkonventionen, die auf den Folgen eines auch in der Türkei dominanten „Medien-Medizin-Nexus“ (Bharadwaj 2002) basieren. Diese komplementieren den öffentlichen IVF-Diskurs und ordnen die individuellen Geschichten der medizinischen, sozio-technischen Welt der IVF/ICSI-Technologien zu. Im Zuge der neoliberalen Umstrukturierungen haben sich bereits die kulturellen Codes und Praktiken bezüglich der Intimitäten (mahremiyet), der privaten Erfahrungen und auch Körper verschoben (Erol 2009, Özbay et al. 2011b). Diese folgen neuen Deutungs- und Aushandlungszonen, wie die Kultur der Verheimlichung und Offenlegung des Privaten, die mir signifikant erscheinen. In meiner Datenanalyse war das Kategorienpaar ‚Transparenz und Geheimhaltung‘ mit der Kategorie Narrative unmittelbar verlinkt. Das Stigma-Management, wie ich oben darstellte, geht in eine Politik der Mit-Teilung über. Die öffentliche Vertrautheit mit den IVF- und ICSI-Technologien und die weitgehende Sozialakzeptanz dieser wirken zwar entstigmatisierend, wie bereits dargestellt, dennoch gehen damit meist zusätzlicher Druck und Legitimationszwänge einher. Viele, die den größten Teil ihres reproduktionsbiografischen Kampfes mithilfe von „Gleichgesinnten“ geführt haben, setzen sich damit auseinander, sich „immer wieder erzählen und begründen zu müssen“. Eine von ihnen ist Fatma, sie konstatiert: „Eine fertile Gesellschaft, die dich umgibt und einfach nicht versteht und auch nicht bereit ist, dich und das, was du durchmachst, zu verstehen.“
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Die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem entspreche im türkischen Sprachgebrauch die der zwischen mahrem und namahrem (İlyasoğlu 1994). Nilüfer Göle führt diese begrifflichen Gegensätze als eine kulturell begründete Konzeption von Privatheit und Öffentlichkeit an. Der türkische Originaltitel des hier zitierten Buches „Forbidden Modern“ lautet Modern Mahrem. Die neueren Studien beschreiben unter den Begrifflichkeiten „mahrem“ und „mahremiyet“ (Privatheit) viel umfassendere Transformationsprozesse, als in der Konnotation von „secrecy“, Transparenz, Offenbarung (ifşa/ifşaat) und Verborgenheit (gizlilik) verstanden wird.
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Was in meinem Forschungsfeld als „normal“, „sagbar“ und als „nicht zu verheimlichen“ gilt, passiert aus ganz pragmatischen Gründen und ist Teil des Informations- und Wissensmanagements. Was Menschen offenbaren und geheim halten, ist situationell eingebettet. Viele Interviewpartner*innen äußerten, dass sie ständig neu abwägen „wem gegenüber, wie und in welchem Ausmaß man etwas erzählt“ oder „wie offen man darüber reden kann“. Das „Darüber Reden“ erleben viele ohnehin schwierig. So auch Fatma. In ihren Alltagen, ob in den Kliniken, Familien-, Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen, drängt sich ein „Zwang“ auf, „angemessene“ und effektive Umgangsweisen bezüglich der strategischen Verheimlichung und Offenbarung zu entwickeln. In manchen Fällen ist die Enthüllung strategisch, d.h. dass das Öffentlichmachen, dass „man sich behandeln lässt,“ von Vorteil ist. Denn „das Nicht-Versuchen Kinder zu bekommen“, ist mittlerweile weniger akzeptiert, als ungewollt kinderlos und unfruchtbar zu bleiben. Dies bedeutet, was mit „Scham“ belegt ist, umzukehren, und klar zu stellen: „Ja ich hab zwar ein Problem, aber ich bin ein bewusster Mensch, statt mich zu schämen, gehe ich offen damit um.“ In den erzählten, geschriebenen und oft auf heroische Art und Weise dargestellten Kämpfen um den Kinderwunsch, herrscht also ein Versuch, sich innerhalb der sozialen und biografischen Normen zu positionieren. Viele suchen Orientierungshilfe in Gruppen wie ÇİDER (besonders in netzbasierten Foren) und integrieren die dort angebotenen Inhalte, Sinn- und Deutungsangebote in ihre individuell-familiären und alltäglichen Strategien zur Entstigmatisierung. Um „soweit es geht normal zu leben“, so schildern viele, schlagen sie neue und proaktive Wissenspfade im Bezug auf ihre reproduktionsbiografischen Schicksale, Körper-, Deutungs- und Selbstpraktiken ein. Ceyda äußert es so: „In dieser fertilen Gesellschaft gibt es keinen Platz für Menschen wie uns, die Nicht-Gebärfähigen (doğuramayanlar, lachend) und IVF-ler. Gerade diese Menschen brauchen es aber. Denn es fehlt denen einfach an Vorbildern, Erfahrungen und Erzählungen von anderen Frauen und Männern, an denen sie sich orientieren können [...] [ÇİDER] gibt uns einen Ort, eine Möglichkeit für Frauen und Männer mit unerfülltem Kinderwunsch, wie sie in so einer Gesellschaft leben und sich selbst erfahren oder eben diese Gesellschaft ändern können.“
Ceyda ist eine von vielen, die sich der Stigmatisierung mit Hilfe von psycho-biosozialen Effekten des Mit-Teilens und auch des Miteinander-Seins entgegenstellt. Frauen wie sie verlagern die als exzeptionell erlebten Erfahrungen in einen völlig neuen Erfahrungs- und Wissenskontext der Selbsthilfe. Wie ich später
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analysiere, werden die Selbsthilfekontexte oft als ein „Platz“ beschrieben, an dem die als stigmatisiert und existenziell erlebte Kinderlosigkeit und Infertilität offenbart werden kann, ohne dabei als von gesellschaftlichen Normen abweichend abgestempelt zu werden. Sie verlagern ihr Wissens- und Informationsmanagement in die neuen online und offline Räume der gegenseitigen Unterstützung (siehe Kapitel 5). Dort offenbaren sie die bislang verschwiegenen und teilweise noch stillschweigend erlebten Narrative der Reproduktion. Sie erzählen ihre Geschichte in den semi-öffentlichen Räumen und teilen viele Details im Internet mit. Diejenigen, die dies tun, messen zugleich ihren individuellen Erfahrungsgeschichten eine besondere Bedeutung für andere und für die breitere Gesellschaft bei. Allerdings, ist nicht jede*r gleichermaßen daran interessiert, das verabredete Stillschweigen und die kulturell erlernte Geheimhaltung dessen, was im Privaten passiert, aufzubrechen. Eine Mehrzahl meiner Interviewpartner*innen spricht sich zwar eindeutig für eine Enttabuisierung und Normalisierung der IVF- und ähnlicher Technologien aus, dennoch ist es für einige nicht attraktiv, hierfür ihre intimen und privaten Erfahrungen offenzulegen und preiszugeben oder sich in den einschlägigen Gruppen und solidarischen Netzwerken darüber auszutauschen. Für die Engagierten gehören hingegen die Narrative individueller Kinderwunschkämpfe und -wege zu den zentralen Werkzeugen, mit denen sie die politischen, sozialen und moralischen Kategorien herausfordern und am Vorantreiben gesellschaftlicher und individueller Transformation teilhaben können. Ihre individuell-familiären Erfahrungen und Reproduktionsbiografien deuten sie damit um und verankern diese in der diskursiven Matrix der Normativität über Reproduktion, Mutterschaft und Vaterschaft, Familie und Gender. Die Mitstreiter*innen, mit denen ich mehrere Interviews geführt und deren advokatorische Tätigkeit ich verfolgt habe, sehen ihre Arbeit als einen „Funken“ in Richtung Normalisierung. „Aufgrund des Namens [Çocuk İstiyorum, Ich möchte ein Kind] beging die Organisation einen Tabubruch“, schrieb Tuzcu in ihrem bereits erwähnten Aufsatz. Diese Meinung teilten viele meiner Interviewpartner*innen. Çocuk İstiyorum! – Ich möchte ein Kind! war damals ein Aufschrei, der Verwirrung stiftete und sich „durch Zivilcourage“ auszeichnete. Das galt damals und gilt noch heute. ÇİDERs Motto war und ist: „Brecht euer Schweigen!“ Muko, der erst spät bewusst wurde, wie stark Infertilität beschämt und verschwiegen wird, gibt an: „Ich sage das immer wieder: Diese Gesellschaft muss darüber reden. Dieses Thema muss ‚geoutet‘ werden. Je mehr darüber geredet werden kann, je annehmbarer dieses Wort für das Ohr klingt, umso mehr wird es sich normalisieren.“
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Nach dem Motto „Erzählen Sie sich selbst“ und „Teilen Sie ihre Erfahrungen“ werden Menschen beispielsweise bei ÇİDER ermutigt, sich gezielt eine nicht-verheimlichende Umgangsstrategie anzueignen. Es werden quasi ‚authentische‘ Werkzeuge für eine Normalisierungsarbeit zur Verfügung gestellt. Viele, die sich in Selbsthilfekontexten engagieren, folgen diesem Aufruf zu einer moralischen Haltung altruistischen „bewussten Nicht-Verheimlichens“. Dies wird als Antidote gegen die Strukturen der „konservativen und verschlossenen Gesellschaft (muhafazakar ve kapalı toplum)“ kategorisiert. Im Idealfall geht damit ein neues reproduktives Bewusstsein einher und so auch eine Neuorientierung im Kinderwunsch- und Behandlungsprozess. In ihren öffentlich im Netz zugänglichen Narrativen und in meinen Interviews berichten viele von mehr oder weniger radikalen Selbsttransformationen. Geübt wird, das Eigene durch die Erfahrungsnarrative der Anderen umzudeuten. Einerseits wird ein offener und offensiver Umgang mit der ‚Etikettierung‘ des Nicht-Schwanger-Werden-Könnens als „fehlerhaft“ eingeübt. Andererseits erfahren viele dadurch „ein Gewahrwerden geteilter Schicksale“. Gruppen wie ÇİDER wirken auf die bereits einflussreiche Kultur der Transparenz und der Selbst-Mit-Teilung ein. Hier lässt sich eine moralisierte Praxis der Selbstoffenbarung beobachten. Die narrativen und diskursiven Praktiken leisten einen zentralen Beitrag und zeigen zugleich die reflexiven Wege des Informations- und Wissensmanagements im reproduktionsbiografischen Kontext auf. Sie manifestieren die scheinbar widersprüchlichen Transformationen in dichotom aufgefassten Verhältnissen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Im Fokus stehen Narrative, die einen heterogenen Korpus von individuell-familiären und kollektiven Kampfnarrativen generieren. Sie berichten öffentlich von ihren privatesten und intimsten Erfahrungen, Lebens- und Sinnbereichen. Einige werden zu mobilen Narrativen, die in der Öffentlichkeit und in den Selbsthilfekontexten agieren. Diese liefern die subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen und deuten diese zugleich als Wissensressource um. Viele meiner Gesprächspartner*innen greifen auf die öffentlichen Narrative anderer zurück, wenn sie ihre eigene, sozial akzeptable und erzählbare Erfahrungsgeschichte kreieren. Wie in anderen sozialen Kontexten, symbolisieren die reproduktionsbiografischen Narrative in der Türkei ein in den letzten Jahren viel stärkeres Durchdringen der privaten Angelegenheiten und inhärentes Überführen in die Öffentlichkeit. Darüber Reden und Schweigen sind zwei Seiten einer Medaille. Ich betrachte beides als „aktives doing“ (Hörning/Reuter 2004). Neben dem Erzählten ist auch das Verschwiegene von großer Bedeutung. Im Hinblick auf den irischen Kontext schreibt beispielsweise die Sozialanthropologin Allison dem Akt des Verschweigens, eine Identität erzeugende Wirkung zu:
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„[...] silence is itself productive and reproductive of social values, idealisms, and norms as well as social identities that inadvertently subvert a discursive redefinition of the significance of fertility as a social and biological norm. [...] silence operates within networks of social support to consolidate infertility as an identity that lies beyond the norm and outside of social discourse, in need of its own vocabulary and space for dialogue.“ (2011: 11)
In meinem Feld wird besonders deutlich, wie Themen, die das Private und die Infertilitätserfahrungen betreffen, zu öffentlichen Narrativen umgewandelt werden und dadurch neue Relationen hervorrufen. Im Anschluss nehme ich die Reproduktions- und Infertilitätsnarrative unter die Lupe, um solche Transformationen zu untersuchen. Das Narrativ vom Kampf um ein Kind Kinderwunschnarrative stellen ein distinktives Genre reproduktionsbiografischer Selbst-Offenbarung und Mit-Teilung dar. Sozial- und kulturanthropologisch dienen sie als analytisches Fenster in die intimsten und privatesten Lebens- und Sinnbereiche der Individuen. Im Sinne von Gay Becker (1997) sind Narrative performative Praktiken im Umgang mit biografischen Diskontinuitäten (wie etwa bei Infertilität), die Menschen als ermächtigend empfinden. Mit dem Erzählen suchen Menschen Kohärenz, Vollkommenheit und Zusammenhalt in ihren „zerrissenen Leben“ bzw. stellen sie diese wieder her. Daher stellen Narrative oft Bezüge zu dem her, was als normal gilt. Im Falle von Infertilität umfassen sie auch eine Aushandlung mit normativen Ordnungen der Reproduktion. Für Throsby (2002) ist das Erzählen selbst transformativ, ein Weg für „negotiating normativity“. Dadurch werden die dominanten Narrative der Normalbiografien ebenso wie die öffentlichen Erfolgsnarrative der Reproduktionsmedizin infrage gestellt (McNeil 2004, Throsby 2004). Die individuellen Narrative ergänzen ihren mächtigen „Triumph“ (McNeil 2000) in der Öffentlichkeit wie überall auch in der Türkei. Obgleich sie die moralischen Komplexitäten und körperlichen wie sozio-psychischen Herausforderungen markieren, agieren sie unmittelbar als konstitutive Teile eines auf Erfolg fokussierten Diskursraums. Sie gehören zu den Erzählkonventionen, die eine Art pronatalistische Normalisierung erzeugen und das öffentliche Wissen lenken. Nicht bloß die intimsten Lebens- und Sinnbereiche der Individuen und Paare werden offenbart, sondern auch eine Intimität sozio-technischen Arrangements der Medizin, d.h. was in den Laboren passiert. Die Geschichten, die ich analysierte, enthalten eine fundamentale Spannung zwischen dem Wunsch, ein „normaler“ und anerkannter Teil der normativen Gesellschaftsordnung zu sein und der Erkenntnis, dies „nicht sein zu können“. Es sind höchst detaillierte, oft reflexive Darstellungen von krisenhaft empfundenen
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Brüchen und Kämpfen. Sie erzählen die offensichtlich vergeschlechtlichten Erfahrungen mit den IVF/ICSI-Technologien, welche Männer und Frauen unterschiedlich durchlaufen (siehe auch 4.1). Im Behandlungsprozess erleben viele das Management der eigenen Privatsphäre als eine Herausforderung. Sie oszillieren zwischen dem Sagen und dem Nicht-Sagen, der Diskretion und der Offenbarung, dem Erzählen und dem Schweigen. Es entstehen Fragen, wie „wem gegenüber was und wie?“ erzählt werden kann. Oft geht es um eine strategische und durchaus schwer durchsetzbare Balance. Durch die eigenständige Offenbarung werden reproduktionsbiografische Erfahrungen und das Leiden nach außen getragen. So erscheint es für Frauen und Männer, mit denen ich in den Selbsthilfekontexten zu tun hatte, als eine Option, ihre Erfahrungen öffentlich und sozial akzeptabel auszuleben. Zugleich üben die in meiner Studie analysierten und öffentlich erzählten Geschichten eine diskursive Arbeit aus. Diese bezieht sich auf die gesellschaftlichen Vorstellungen und Gegebenheiten, die das Kinder-Haben und Gebären als Normalität definieren. Eine renommierte Geschichte ist die von Sibel Tuzcu. Sie war die erste Frau in der Türkei, die ihren Kinderwunschweg nach der Geburt ihrer Tochter öffentlich machte und diese seither als ihren „Kampf um ein leibliches Kind“ als Erfolgsgesichte erzählt. Diese Geschichte beschreibt einen 20-jährigen Behandlungsprozess, der nach wiederkehrenden Enttäuschungen, Zweifeln und Brüchen zum gewünschten Kind führte. Seit ihrer ersten Veröffentlichung im Internet zirkuliert diese als „Vorbild“ und wird sehr stark von den Betroffenen im Selbsthilfekontext rezipiert. Aus dieser Erzählung etablierte sich im Laufe der Jahre, eine „Wissens- und Inspirationsquelle“, an die auch die Geschichten anderer anschließen. Meine Erfahrung stehe dafür, „dass man es schaffen kann“, kommentiert Sibel immer wieder in der Öffentlichkeit. Ihre Geschichte endete nicht mit der Geburt ihrer IVF-Tochter „mit zwanzig Jahren Verspätung“, erst danach fing sie an. Sibels’ Kinderwunschweg und -karriere liegt der Gründung der Organisation ÇİDER zugrunde. Sie wandelte dadurch quasi ihre sozio-psychischen und körperlichen Erfahrungen in ein öffentlich tragbares und konsumierbares Narrativ. Das, was einst als Defizit (kusur) unsagbar war, wurde in eine heroisch dargestellte „Kampfgeschichte um das gewünschte Kind“ eingebettet. Rückblickend deutet Sibel selbst: „Was die Menschen hier am meisten interessierte, waren mein Kampf und mein Glaube an mich, während alle Ärzte ,Nein‘ sagten. Ich werde diese Angelegenheit allein bewältigen, ich finde mich niemals damit ab, irgendwo wartet mit Sicherheit ein Kind auf mich. Das zeigte den Menschen auch einen Weg. Und die Internetseite wurde zu einer Seite, die von allen, die Kinder möchten, besucht wird, auf der sie sich schreiben, auf der sie bestärkt
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von mir mit der Behandlung beginnen, Eltern werden und dann selbst ihre Texte veröffentlichen. Es ist zu so einem Solidaritätsding geworden.“
Tuzcu inszeniert sich als heroische Kämpferin und Pionierin eines kollektiven Kampfnarrativs ums Kinderhaben. Dieses beinhaltet zwar das „Leid vieler Enttäuschungen und Fehlschläge in der Behandlung mit Hilfe von Tüp Bebek“, aber auch Impulse. Viele meiner Gesprächspartner*innen sehen ihre Geschichte als Solidaritätsstifter. Sie gäbe den Menschen ein Motiv fürs Mitteilen eigener Erfahrungen. Dabei wurde ein narratives Management konstituiert welches beim Übergang vom Individuellen zum Kollektiven sowie vom Pathologischen zum Normalisierten hilft. Ihre und die später in ähnlicher Weise öffentlich erzählten Geschichten implizieren durchaus einen typischen Erzählkanon. Dieser weist starke Ähnlichkeiten mit den narrativen Eigenschaften der Geschichten auf, die von der Anthropologin Maureen McNeil (2004) im britischen Kontext analysiert wurden. Sie zeigte durchaus typische Muster der Infertilitätsnarrative im euroamerikanischen Kontext, bei denen die individuellen und populären Erzähltopoi aufeinandertreffen. Diese beinhalten die Konfrontation, das Leiden und schließlich die techno-medizinische (Nicht-)Lösung. Nicht selten werden darin die Impulse der Hoffnung, des Beharrens bzw. „Versuchen Müssens“ (Franklin 2002) eingebaut. Das Scheitern, das unter den Bedingungen triumphaler Normalisierung kaum erträglich wirkt, erscheint gewöhnlich als individuelles Versagen. Auch in dem von mir erforschten Bereich enthalten diese Geschichten oft den dramatischen „Schockmoment der Diagnose“, der als ein „Bruch“ oder als ein „Trauma“ im Leben empfunden wird. Mit der Verarbeitung der Diagnose, dass es mit dem Kinderkriegen doch „nicht auf normalem Wege klappen wird“, tritt die Realisierung der Lage und die Akzeptanz der medizinischen Hilfeleistung ein. Einen relativ wichtigen Platz nehmen bei diesen Erzählungen die Bewältigungspraktiken und die Suche nach Lösungen ein. Sie beinhalten auch unterschiedlichste Beschreibungen von „Geduld (tevekkül)“, „Hingabe“, „Persistenz“ und „Hoffnung“, die erst gemanagt werden müssen. Diese konstituieren gerade die idealisierten Geschichten von den „Sehnsüchten nach einem leiblichen Kind“ und der tapferen werdenden-Mutter und dem werdenden-Vater. Spezifisch ist im Forschungsfeld, dass diese Narrative sich unbedingt mit dem Deutungs- und Handlungsfeld der Reproduktionsmedizin verschränken. Viele Geschichten, die auf der Selbsthilfeplattform von ÇİDER stehen und dort zirkulieren, gehen von der „Begegnung mit einer völlig neuen Welt der Medizin“ aus, von der sie bereits oft gehört, aber doch keine Ahnung hatten. Sie erzählen von diversen, dramatischen Momenten und der „Krise der Reproduktion“. Sie präsentieren detaillierte Behandlungsverläufe, etwa von ihren „Versuchen, auf na-
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türliche Weise schwanger zu werden“ bis zu immer wiederkehrendem „Scheitern“ und dem es „Nicht-Schaffen-Können“, um dann doch „von vorne zu beginnen“. Die heroische Untermauerung ihres „Kampfes um das Kind“ bleibt selten aus. In diesem partikularen Kontext ist, wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, ein heterogener, kollektiver Korpus von „mobile narratives of a common experience of suffering, of hope, and of waiting for success“ (Polat 2012: 210, [Herv. i. O.]) entstanden. Es existiert beispielsweise eine digitale Sammlung aus individuell-familiären Erfahrungsgeschichten im Netz, ein öffentlich-kollektives Kampfnarrativ der Mitstreiter*innen, auf das viele von mir interviewte Personen in ihrem eigenen Kinderwunschprozess und Informations- und Wissensmanagement zurückgegriffen haben und weiterhin zurückgreifen. Dieser Korpus ist Bestandteil des dominanten Diskursraumes, in dem IVF/ICSI-Technologien als Waffen gegen Infertilität konstituiert werden. Paare, Frauen und Männer veröffentlichen ihre exzeptionell empfundenen Biografien und machen diese somit zu einem heroischen Akt der werdenden Mutterschaft und Vaterschaft. Der Kinderwunschweg wird in dieser Diskurs-Matrix zum „Kampf/Krieg (savaş)“, wobei Reproduktionstechnologien als biomedizinische „Waffe“ gegen Infertilität konstituiert werden. Frauen und Männer konstituieren sich selbst als Mit-Gestalter*innen, sogar Held*innen ihrer Reproduktionsbiografien. Narrative bilden den reproduktiven Problemkörper in ihrem militärisch klingelnden Erzähltopos ab und damit nähern sie sich durchaus dem zirkulierenden Patient*innenbild heran: „bei Frauen, die bis zu ihrer letzten Eizelle und Männern, die bis zu ihrem letzten Spermium kämpfen“, so Interviewpartner Dr. Erdem über das spezielle und extrem fokussierte Patient*innenprofil. Besonders dann, so schildern etwa viele Protagonist*innen, „wenn man einmal drin ist – dann geht es nur noch ums Schaffen“ und „darum, das Schlachtfeld mit Erfolg zu verlassen“.2 Zwei zentrale Erzähltopoi der kollektiven Kampfgeschichten existieren in diesem Kontext: „die Sieger des Kampfes (Savaşı Kazananlar)“ und „die, die den Kampf noch führen (Savaşa Devam Edenler)“. Hier stellen die Mitglieder ihre reproduktionsbiografischen Geschichten zur Verfügung, wie mir eine Internetnutzerin geschrieben hat, in „der Hoffnung, dass unsere Geschichte anderen hilft“. In meinen Interviews kamen meine Interviewpartner*innen immer wieder auf die Problematiken der individuell-familiären Selbstoffenbarung und auf die gesellschaftliche Transparenz und Verheimlichung zu sprechen. Dabei kann eine Transformation „von einer zuvor dezidierten Geheimhaltung zu einem bewussten Nicht-Verheimlichen“ beobachtet werden. 2
Entnommen aus dem Gedächtnisprotokoll vom 27.03.2010 einer Informationsveranstaltung in Tuzla, einem Stadtteil von Istanbul.
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Dreierlei signifikante Bedeutungen werden diesen Narrativen zugeschrieben. Erstens, sie leisten einen authentischen Beitrag zur Konstruktion der lokal situierten IVF-Welten und ihrer Effekte auf die Mikro-Welten des Alltags. Sie demonstrieren, wie Menschen ihren Weg in das sozio-technische Arrangement der Reproduktionstechnologien machen. Ich betrachte sie vor diesem Hintergrund als Teil von Aus- und Verhandlungspraxen. Die Kinderwunschnarrative konstituieren neben dominanten institutionellen, biomedizinischen, juristischen, bioethischen, sozialen und moralisch-religiösen Narrativen den diskursiven Raum der Reproduktionsmedizin in der Türkei. Die folgenden drei reproduktiven Portraits zeigen beispielhaft die diskursiven Dynamiken und Widersprüchlichkeiten in diesem umkämpften Feld der Reproduktion. Mobile Narrative und Kinderwunschkarrieren „Manche Menschen können das Bedürfnis verspüren, sich geheim zu halten. Es kann sein, dass sie das nach außen hin nicht erklären wollen. Also nicht alle müssen so offen wie wir sein. Wir stellen den Leuten alles, was wir durchgemacht haben, zur Verfügung [wörtl.: Biz sırtımızdaki çuvalın akıbetini döküyoruz insanlara – wir kippen die Ergebnisse der Säcke auf unserem Rücken den Leuten vor die Füße], wir erzählen alles.“
So erzählt Muko eine altruistisch orientierte Kinderwunschkarriere. Sie ist eine der allerersten Mitstreiter*innen, die mit ihrer Infertilität in die Öffentlichkeit ging. Gleich nach der Geburt ihrer Zwillingssöhne engagierte sie sich zusammen mit Sibel bei ÇİDER. Seitdem gehört ihre IVF-Erfolgsgeschichte zu einem mobilen Narrativ des strapazierenden Kinderwunschweges und ermöglichte Sibel eine Karriere als Kinderwunschexpertin. Mehrfach wurde ihre Geschichte auf diversen Informationsveranstaltungen erzählt und sogar im nationalen Fernsehen ausgestrahlt. Vom ersten „Schock der Diagnose“ bis zu den tiefen Brüchen, psycho-sozialen Schwankungen und körperlichem Leiden umfasst ihre öffentlich erzählte Reproduktionsbiografie alle wichtigen Aspekte: „Die Diagnose, die erste Begegnung mit dem Arzt war das Schrecklichste. Diese schreckliche Diagnose. Ich habe alles, ich besitze alles (was ich möchte), aber der Arzt sagte mir: ‚Du kannst kein Kind kriegen.‘ Ich konnte dann die Türen des Krankenhauses nicht mehr finden. ‚Ich werde nicht Mutter werden können‘ dachte ich. Das ist aber falsch, so korrigierte mich mein Arzt: ‚Nein. Du wirst nicht auf natürlichem Wege Mutter. Die Medizin macht täglich Fortschritte, du kannst auf diese Weise Mutter werden.‘ Er sagte: ‚Wir werden mit dir einen langen Weg gehen. Es kann drei oder fünf Jahre oder zwanzig Jahre dauern. Hauptsache, du bist bereit diesen Weg zu gehen.‘“
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Nach einer „Heulkrise“ brach sie auf der Straße zusammen und schlug ihrem Mann die Scheidung vor, die er ablehnte: „Ich habe dich nicht für Kinder geheiratet.“ „Das Einzige, was mir durch den Kopf ging, war, dass ich kein Kind bekommen werde, dass es vorbei ist. Also, ich sagte mir halt, ich arbeite, ich habe eine Karriere, ich habe eine Ausbildung, warum klappt diese Sache bei mir nicht, warum hat mich diese Krankheit erwischt?“ Trost kam von ihrem Mann, er sei „schon immer neugierig gewesen“, wenn er die Zeitungsberichte las, „was für eine Sache dieses Tüp Bebek ist“. Nun meinte er: „Allah hat das auch uns gegeben. Wir werden es selbst anwenden und sehen.“ Eine lange „Kinderwunschreise“ stand dem Paar bevor. Sie glaubten daran, dass sie irgendwann ein Kind haben würden, mit Technologien an ihrer Seite gingen sie nun in einen Kampf um die gewünschten Kinder. Schnell realisierte sie, dass es eine „sehr sorgenvolle Phase“ ist, mit „langen (Behandlungs-)Protokollen [...] nahezu 40 Tage, 40 Spritzen, jeden Tag zur gleichen Zeit eine“; manchmal war sie auch unterwegs von Stadt zu Stadt während ihrer Dienstreisen: „Diese Spritzen müssen kalt bleiben. Also tut man kaltes Wasser, Eis, in die Thermoskanne, verbindet die Spritzen mit einem Faden.“ Sie musste einen minutiösen Zeitplan einhalten, immer „mit einem Auge auf der Uhr“, alles exakt takten, sodass die Behandlungen in ihr Alltagsleben möglichst reibungslos eingebettet werden konnten. Sie hatte einen starken Glauben daran, dass „die Technologie sich mit jedem Tag entwickelt“ und war entschlossen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, „um Mutter zu werden“. Während meiner Forschung habe ich mehrmals beobachtet, wie sie ihren Kinderwunschprozess auf der Bühne einem heterogenen Publikum von Betroffenen darstellte. Sie gehört zu den privilegierten Frauen, denn nach langen strapaziösen ICSI-Behandlungen, erfüllte sich der Kinderwunsch mit der Geburt ihrer Zwillingssöhne. Als „Embryonen eingeführt“ wurden sprach sie zu ihnen: „Ja, so, finden wir Leben. Wir binden uns aneinander und finden Leben.“ Dieses ist einer von vielen sentimentalen Momenten aus ihrer Geschichte. Sie fühlte sich wie „in einer Wartezeit“, die sozialen Druck, Begründungszwänge und psychosoziale Schwankungen mit sich brachte. Auf der Suche nach informativen und psychosozialen Unterstützungsangeboten, die ihr damals völlig undenkbar vorkamen, schloss sie sich einer gerade gegründeten Webseite und einer kleinen Gruppe von 30 Personen in der gleichen Situation an. In engem Kontakt zu anderen Frauen und Paaren bewältigte sie diese dermaßen intensive Phase. Sie vertraute den medizinischen Erklärungsmustern und Lösungsangeboten, aber nicht „blindlings“, sondern eignete sich ausreichend Wissen über Behandlungsverfahren an.
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Erzählt sie, ob auf der Bühne, im Internet oder in Zweiergesprächen von anderen Mit-Leidenden, wird eine Selbsttransformation geschildert. Es geht um ein altruistisches Engagement von Bewusstseins- und Sensibilisierungsprozessen in der Gesellschaft. Verheimlicht hat sie das Thema niemals, aber seit der Geburt ihrer Kinder setzt sie sich auch öffentlich für die Enttabuisierung des Themas ein. So geht sie mit all ihren intimsten Krisen, Tiefen und Höhen an die Öffentlichkeit und stellt sich selbst als ein Vorbild für andere Mit-Leidende, werdende Mütter und Väter dar. „Ich nutze die Gegebenheiten aus meiner eigenen Geschichte“, betont sie, weil sie aus eigener Erfahrung weiß, „was solche Sachen mit einem machen“. Sie vertritt die Meinung, dass diese Erfahrungen aus der Privatsphäre herauskommen und enthüllt werden müssen. Die Geheimhaltung verberge nur, „was mit diesen Menschen passiert“ und „womit sie umzugehen haben“, während in der breiteren Öffentlichkeit ein Schein der modernen Rezeption von Reproduktionstechnologien als Normalisierung avanciert. Sie war und ist davon überzeugt: „Dieses Thema muss ans Licht.“ Nun fungiert sie als Selbstexpertin „in Sachen Medizin und Tüp Bebek“. Sie hatte von Anfang an bei den Aufklärungskampagnen mitgewirkt, besonders bei der Aktion „Brich Dein Schweigen“, was die Organisation ÇİDER damals gleich nach ihrer Gründung zusammen mit den Mediziner*innen ins Leben rief. Dies brachte eine „Transformation in den Wertvorstellungen in der Gesellschaft“ voran und brachte eine Normalisierung ihrer stigmatisierten Biografien. Im Schatten heroischer „Kämpfe“ Die Kinderwunschkarriere von Kader gehört zu einer anderen Art. Auch diese schildert einen langwierigen kämpferischen Weg im Kinderwunsch, mit vielen Fehlschlägen und Enttäuschungen. Mit dem Unterschied, dass Kaders Geschichte von Zeit zu Zeit „freiwillig“ in den Schatten tritt und öffentlich verschwiegen wird. Sie zeigt m.E., wie gerade im Kontext von Betroffenengruppen Transparenz und Schweigsamkeit erzeugt werden und sich zueinander verhalten. Ihren Kinderwunsch sieht Kader als ein „hartes Pflaster“. Dieser Wunsch verursache eine „unheilbare offene Wunde“, wenn die Behandlungen „immer wieder scheitern und erfolglos bleiben“. Kader räumt sich bestimmte „Orte“ für das Erzählen ihrer Geschichte ein und schweigt strategisch gezielt. Muko, eine von mehreren Mitgründer*innen von ÇİDER, bringt ihre mehrjährigen reproduktionsbiografischen Erfahrungen und ihr Wissen tagtäglich in die Organisation ein. Mehr als 15 Jahre hat sie versucht mithilfe von IVF- und ICSI-Behandlungen ein leibliches Kind zu bekommen. Mehr als zehn Inseminationen führte sie bereits durch, bevor sie im Jahr 1993 zum ersten Mal eine Behandlung in Anspruch nahm. Seitdem unterzog sie sich elf IVF-Behandlungen in
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mehreren Privatkliniken. Trotz aller Behandlungen blieb die erwünschte Schwangerschaft aus. Sie litt unter der Frustration der Erfolglosigkeit und des Scheiterns, bis sie sich wieder „zusammenriss“, „die Zähne zusammenbiss“ und zur nächsten Behandlung weiterging. Etwa im Jahr 2000, nach zahlreichen Enttäuschungen, begann sie sich auf der Selbsthilfeplattform zunächst im Internet und dann als Freiwillige zu engagieren. Sie sah darin eine inspirierende Kraftquelle für sich selbst, ein Potenzial, dass durch Hilfe zur Selbsthilfe Menschen und die Gesellschaft zu ändern fähig sei. Sie setzte sich für Frauen und Männer, für Paare mit ungewollter Kinderlosigkeit ein und steuerte zur Plattform bei, in der „die Moral sehr intensiv ist“. Aus eigener Erfahrung kennt sie „das Gefühl des Negativen“, wenn die Behandlung erfolglos bleibt und weiß, „wie die Menschen in ein Loch fallen“, fügt sie hinzu. Ihre Motivation besteht darin, den mehrjährigen Kinderwunschprozess mit all seinen Fehlschlägen in etwas gesellschaftlich Produktives zu verwandeln. Sie moralisiert nicht nur ihr Engagement, sondern auch das wiederkehrende Scheitern und die Erfolglosigkeit ihrer individuellen Reproduktionsbiografie. Für sie heißt es: „IVF ist ja eigentlich eine Art Hoffnung (umut)... also, jedes Mal kommt es einem wie ein Neuanfang vor... So funktioniert halt die Psyche der IVF-Patienten (tüp bebek hastasının psikolojisi).“ In den Interviews und Gesprächen, die ich in regelmäßigen Abständen mit ihr geführt habe, kam es immer wieder zu intensiven und intimen Artikulationen über den sozialen Druck, der zum „Weitermachen“ zwingt und den Druck, „immer an den nächsten Schritt denken zu müssen“. Sie ist eine von vielen Frauen in der Organisation, die mithilfe von IVF gegen ihre ungewollte Kinderlosigkeit „kämpft“ und dafür plädiert, die Kinderlosigkeit als Lebensform nicht so leicht zu akzeptieren. Im Vergleich zu vielen anderen Individuen zeichnet ihre reproduktionsbiografische Geschichte kaum einen heroischen Charakter, sondern ist mit einem langfristigen, kämpferischen, aber dennoch brüchigen reproduktionsbiografischen Leiden verwoben. Eine Biografie, die mit ihren Worten Tiefen und Höhen durchläuft und in deren Mittelpunkt ein sehr einflussreicher unerfüllter „Babywunsch“ und die Tatsache des Nicht-Kinder-Haben-Könnens steht. Sie kann mit dem Kinderwunsch nicht gänzlich abschließen. Ihr quasi „ongoing inbetweenness“ (Throsby 2004) beschrieb sie in jedem Interview verzweifelt als etwas, was „hin und her schwingt“ zwischen dem Weitermachen und dem Aufhören, in einem Dazwischen. Zum Zeitpunkt des letzten Interviews ist sie 43 Jahre alt und überlegt mit einer Eizellenspende weiterzumachen. Sie kann ein kinderloses Leben nicht akzeptieren oder „ein neues Kapitel im Leben anfangen“, aber eine Entscheidung für eine Eizellenspende ist schwierig. Ihre Erfahrung bringt sie tagtäglich im Verein ein. Dennoch wurde diese nie während mei-
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ner Forschung auf die Bühne getragen. Sie bleibt im Schatten mütterlichen Heroismus anderer, deren Geschichten als Vorbilder immer wieder erzählt werden. Nach einer Veranstaltung in Çorlu, einer Stadt im Westen, sprach ich sie nun darauf an. Das Team bestand aus fünf Mitstreiter*innen, unter denen waren Kader und Türkan, ihre Kinderwunschprozesse zählen nicht zu den öffentlich erzählbaren Narrativen. Sie selbst empfinden ihre eigenen Geschichten als „schlechte Beispiele“. Beide Frauen durchlebten unzählige Fehlschläge. Die erhoffte Schwangerschaft blieb bisher nach jeder Behandlung aus. Ihr Engagement ist von einer kinderlosen Kinderwunschkarriere geprägt. Diese konkurrieren mit den dominanten Erfolgsnarrativen der Reproduktionstechnologien. Diese erfolglosen Geschichten werden oft verschwiegen. „Wenn ich ein Kind hätte, dann wäre es anders“, sagte Kader, dann hätte sie auch ihre Geschichte öffentlich erzählt: Kader: „Meine Geschichte ist eine Geschichte langwieriger Bemühung [um ein Kind]. Und ich habe es nicht geschafft. Was kann ich da erzählen?“ Nurhak: „Können die Menschen nicht etwas aus Ihrer Erfahrung lernen?“ Kader: „Natürlich. Natürlich gibt es viele Dinge, die sie aus meinen Erfahrungen lernen können. Das gebe ich ja auch an anderen Stellen weiter. Das ist nicht so, dass ich mein Wissen und meine Erfahrungen nie (öffentlich) erzähle. Im Internet, im Austausch mit Patienten und so. Aber, wir wollen nicht, ich meine, auch ein Leben ohne Kinder ist möglich, das wollen wir nicht lancieren. Es ist also nicht wie bei anderen; sie haben Kinder; sie haben es geschafft. Es gibt einen Erfolg nach jahrelangen Kämpfen, den man sehen kann. Meine, unsere, ist nicht so.“ Türkan: „Wir sind eher die schlechten Beispiele.“ Kader: „Wir wollen nicht so lancieren, ein Leben ohne Kinder ist auch möglich. Denn die Menschen kommen ja zu den Veranstaltungen für eine Hoffnung. Unsere Geschichten lösen Frustration aus. Wir wollen niemandem die Hoffnung verderben.“ Nurhak: „Wieso? Wie meinen Sie das?“ Kader: „Da kommen junge Menschen mit großer Hoffnung, die gerade anfangen. Unsere Geschichte vermittelt ihnen nicht gerade das, was wir hier versuchen zu machen [zu vermitteln]. Das wäre, uns selbst zu widerlegen [im Sinne von entkräften], also die Widerlegung dessen, was wir hier machen.“ Türkan: „Das sind die Geschichten, die die Menschen nicht hören wollen, auch nicht hören müssen. Eher die schlechten Beispiele. Wir müssen ihnen aber die Kraft und Hoffnung geben.“
Das Nicht-Lancieren-Wollen ist hier eine bewusste Strategie, um das öffentliche Bild von Behandlungen nicht zu destabilisieren. In diesem Gespräch hört man
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deutlich heraus, wie Erfolgsnarrative erzeugt werden bzw. wie sich Erzählungen und Schweigsamkeiten zueinander verhalten. Die Erfahrungen von beiden Frauen kommen zwar zur Sprache, aber immer situativ werden Erzählen und Schweigen ausbalanciert. Ihr partiell vorsätzliches Verschweigen untermauert zum einen den Erfolgsdiskurs und das Marktmonopol, zum anderen manifestiert es, welche reproduktiven Erfahrungen mobilisiert bzw. welche immobil gemacht werden. Ähnlich wie das folgende dritte Portrait weist das aktive Schweigen auf die ambivalenten Auswirkungen breitgesellschaftlicher Normalisierung hin. Die besserwisserische Gesellschaft Genervt von den aufdringlichen „Einmischereien“ und der „sinnlosen Hilfsbereitschaft“ wendete sich Aynur Teksoycan immer häufiger an die netzbasierten Selbsthilfegruppen. Sie ist Ende dreißig und stammt aus der wohlhabenden Istanbuler Mittelschicht. Sie hatte es weder „mit dem Heiraten noch mit Kindern eilig“, sowohl sie als auch ihr Mann waren beide vor und nach ihrer Eheschließung mit 31 Jahren berufstätig. Eine „Karriere-Frau“ sei sie nie gewesen, erzählt sie, dennoch wollte sie sich mit dem ersten eigenen Kind etwas Zeit lassen und zunächst die Partnerschaft genießen. In einer routinemäßigen gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung wurde Endometriose diagnostiziert, die zum Ausbleiben der gewünschten Schwangerschaft und zum Misserfolg der IVF/ICSI-Behandlungen führen kann. Nun hieß es, dass sie ohne medizinische Assistenz nicht schwanger werden könne. Sie verließ die Praxis mit einem Zettel in der Hand, auf dem Endometriose stand; und in ihrem Kopf drehte sich nur der eine Satz: „Sie können keine Kinder bekommen.“ Zunächst ließ sie sich gynäkologisch behandeln und versuchte „ganz normal“ schwanger zu werden. Als es auf dem natürlichen Weg nicht klappte, hieß es „direkt Tüp Bebek“, die Zeit müsse „beschleunigt werden“ auf Grund ihrer biologischen Uhr, da sie bereits 32 Jahre alt war. Nach dem ersten Schock durchforstete sie das Internet, recherchierte auf den Webseiten von mehreren Reproduktionskliniken, von unabhängigen und informellen Frauengesundheitsgruppen, gynäkologischen Gesundheitsorganisationen und Fachgesellschaften und las zahlreiche medizinische Berichte über Endometriose und Durchführung bei IVF mit Endometriose. Sie hatte einigermaßen verstanden, wovon sie vormals keine Ahnung hatte, was ihr fehlte und wieso sie ohne medizinische Behandlung keine Kinder bekommen konnte. Ihre Endometriose war im dritten Stadium. Ihre Kinderwunschbehandlungen verliefen daher immer problematisch und führten nicht zum gewünschten Erfolg. Geforscht und gelernt hatte sie „mehr als ausreichend“ darüber und suchte nach Wegen, was sie noch selbst tun konnte. Sie stürzte immer in wiederkehrende, tiefe Verzweiflun-
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gen, Versagensgefühle und Hoffnungslosigkeiten; „Tiefen und Höhen“, „Depressionen“, mit denen sie nicht allein zurechtkam. Ich lernte sie während einer Informationsveranstaltung in einem Istanbuler Stadtteil kennen, auf der sie als Freiwillige mitarbeitete. Während der Rückfahrt im Zug erzählte sie mir sehr detailliert von ihrem „Werdegang im Kinderwunschkampf“, von ihrer persönlichen Geschichte, ihrem Engagement bei ÇİDER und ihrer subjektiven Sichtweise auf das „Tüp-Bebek-Geschäft“. Danach traf ich sie mehrmals und führte in großen Zeitabständen insgesamt vier Interviews. Diese umfassten ihre persönliche Erfahrung, aber auch, dass Enttabuisierung der IVF-Nutzung nicht unbedingt Entstigmatisierung herbeiführt. Ähnlich ruft die Transparenz nicht immer eine Sichtbarkeit hervor. Eher stellen die reproduktiven Erfahrungen „den scheiternden Körper“ ins Schnittfeld zwischen Öffentlichkeit und dominanten Zusammenhängen der Reproduktion. Details aus ihrer Geschichte tauchen an mehreren Stellen dieser Arbeit auf, da sie eine schillernde Figur für den Selbsthilfekontext darstellt. Immer wieder macht sie deutlich, wie man*frau ausschließlich als „infertile“ im Mittelpunkt steht. Nach jeder erfolglosen Behandlung spürte sie mehr Druck im sozialen Umfeld, in dem jeder versuchte, sie zu ermutigen: „Dann wird man ja immer wieder gefragt, wieso man noch kein Kind hat. ‚Macht doch endlich ein Baby‘, sagen viele. ‚Wir versuchen es, Bruder/Schwester, aber es geht nicht‘“, sei ihre genervte Standardantwort. Viele finden ihre Reaktion beschämend, sie raten dazu, sie solle „nicht offenherzig und mitteilsam“ sein. Sie macht aber genau das vorsätzlich und demonstrativ, um die Verletzung ihrer Privatsphäre darzustellen. „Zwischen Tür und Angel“ würde man oft über mögliche technologische Lösungsangebote der Reproduktionsmedizin „informiert“: „Jeder hat eine Meinung, ohne zu wissen, was das ist. Sie sagen so leichtfertig, was du zu tun hast. Wie einfach es heutzutage sei; ich müsse doch nur einen guten Doktor finden. Stell dir mal die Absurdität vor, folgendes Beispiel, ich lief auf dem Wochenmarkt einer Bekannten über den Weg, sie fragte unaufhörlich nach und beharrte darauf, eine Lösung für mich zu finden... ich weiß bereits alles, ich erlebe das ja am eigenen Körper. [...] Also nein! Du kannst das nicht wissen, denn du siehst dir diese Technologien im Fernsehen an, man sagt dir da, dass, wenn du keine Kinder bekommst, du dahingehen sollst, damit sie dir es machen; als würde es gehen, wenn sie es machen... sie erzählen es eben mit einem Ausdruck.“
In solch einer „besserwisserischen“ Gesellschaft fühlt sie sich mit ihren soziopsychischen und körperlichen Erfahrungen gar nicht verstanden. Ihr „scheiternder Körper“, der „nicht mal in der Lage war, Eizellen zu produzieren“ wurde zur
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Krise ihres Lebens. Er reagierte nicht auf die schwersten Hormonpräparate, ihre Hormonwerte stiegen oder sanken drastisch. Sie bekam nun die maximale Medikamentendosis und unterzog sich einer Behandlung nach der anderen. „Ich kämpfte nur noch für eine fruchtbare Eizelle“, beschwerte sie sich mehrmals. Darauf folgten sozio-psychische „Zusammenbrüche“ und „Traumata“, denn sie litt unter schwersten Komplikationen in jeder Behandlung, die trotzdem „immer zu Nichts führten“. Dazu kam die Herausforderung, immer „von vorne zu beginnen“. „Kannst du es dir vorstellen, was wir durchmachen müssen?“ fragt sie mich rhetorisch. Das Zitat, mit dem dieses Buch beginnt, stammt aus einem Gespräch mit ihr, in dem sie erzählte, dass sie „viel Umfassenderes, als den individuellen Kinderwunsch“ erlebt (siehe Einleitung). Dabei müsste sie mit Hormonen wie Emotionen haushalten, Familien wie Gesellschaft im Blick halten und immer wieder vieles erlernen, wissen, entscheiden und vorausdenken. Ihr fiel es sowieso sehr schwer darüber zu reden und ihr „Leid mitzuteilen“. Trost fände sie bei Menschen, „die das Gleiche erleben“. Auch Hilfe zur Selbsthilfe holte sie sich auf der Webseite von ÇİDER. Dadurch konnte sie ihren Kinderwunschprozess informativ, praktisch und emotional navigieren. Später fing sie auch an, ihre Erfahrungen zu verschriftlichen und auf Kinderwunschplattformen zu stellen, um anderen Personen zu helfen und ihr Problem mit ihnen zu teilen. Zugleich stellt sie langjähriges Erfahrungswissen altruistisch für andere zur Verfügung. Alle drei Portraitierten sind aus der städtischen Bildungs- und Mittelschicht, berufstätig und verfügen über soziale sowie ökonomische Ressourcen für ein ehrenamtliches Engagement. Es ist ihnen bewusst, dass sie keine Einzelfälle sind und auch dass sie durch die Mit-Teilung dabei helfen, die individuellen Stigmatisierungserfahrungen und singulären Einzelfälle in kollektive Bezugsrahmen einer „Community von Gleichgesinnten und den Menschen mit dem geteilten Schicksal“ einzubetten. In ihren Erzählungen werden die medialen Darstellungen teilweise kritisiert sowie auch neue Strategien der intendierten Sichtbarmachungen angeboten. Betroffenheit verändert sich und verlangt in ihrer medizinischen und sozialen Hilfe-, Rat- und Unterstützungssuche mehr Sichtbarkeit. Kinderwunschnarrative bewegen sich an einer Schwelle von Öffentlichkeit und Privatheit. Sie sind daher mit einer viel breiteren Transformation verwoben. Mein Forschungsmaterial zeigt etwa, dass mit einer öffentlichen Offenbarung reproduktiven Leidens ambivalente bzw. vielschichtige Transparent-Machung einhergeht. Die selbstoffenbarenden Erzählungen stellen „moralische Unternehmungen“ (Sandelowski 1991a: 163) dar. Denn sie adressieren die gesellschaftlichen, aber auch medizinischen Normative, Normen und Codes. Zugeschrieben wird ihnen in meinem Feld ein Tabu-Bruch, so dass sie gewissermaßen einen „Bruch der Schweigsamkeit“ erbracht haben. Dabei werden die Leidens-, Kampf- und Er-
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folgsgeschichten, individuell wie kollektiv, umgedeutet und aufs Neue entworfen. Außerdem stellen Menschen sich durch Erzählung ihrer Geschichten als Informations- und Wissensquelle, als ein „lebendiges Beispiel, aus dem man etwas lernen kann“ dar. Erzählt werden Irritationen, Zumutungen und Schwierigkeiten in Entscheidungsmomenten, aber auch moralische Herausforderungen die mit der IVF/ICSI-Nutzung einhergingen. Sie berichten davon, wie Kinderwunschbehandlungen mit diversen Risikokalkulationen, mit Ängsten um sich selbst und um die*den Partner*in und mit einem „geschickten Management des ganzen Prozesses“ zu tun haben, in dem sie für ein eigenes, leibliches Kind alles und noch viel mehr „gern in Kauf nehmen“. Zugleich generieren sie ein neues Repertoire an Wahrnehmungen, (Selbst-)Verständnissen und Sinngebungen. Auch die vorangetriebene Kultur der Mit-Teilung produziert neue Schweigsamkeiten und kanonisiert Erzählkonventionen erneut. Dabei werden bestimmte Erfahrungen weiterhin unsichtbar und immobil gemacht. Wie Plummer feststellt: „Stories need communities to be heard, but communities themselves are also built through story tellings. Stories gather people around them“ (Plummer 1995: 174, [Herv. i. O.]). Dafür ist ÇİDER ein gutes Beispiel. ÇİDER nutzt die Geschichten und narrativen Strategien als ein Werkzeug, um in die „Verheimlichungs-Kultur“ einzugreifen und um das Schweigen in Politiken des Transparentmachens zu überführen. Die hier analysierten Geschichten trugen und tragen in ihrem spezifischen Erzählmodus zur Mit-Konstruktion der Subjektpositionen von Frauen und Männern mit unerfülltem Kinderwunsch bei. Es geht hierbei durchaus um Verschiebungen in den Erfahrungspolitiken, wie ich im Weiteren erläutern möchte.
3.3 IN(VITRO)FERTILITÄT, DIE VERNETZT: ERFAHRUNGSPOLITIKEN „Wir sind anders (Biz farklı insanlarız)“, so bedeutungsschwer sprach Muko auf der Bühne zum Publikum während einer Veranstaltung. Die Fertilitätsschwierigkeiten beschreibend, die alle Anwesenden gemeinsam haben, setzte sie ihren Vortrag fort: „Das ist leider das, was uns zufällt. Jeder Mensch ist verschieden und das ist unser Unterschied. Wir sind Personen, die zu einem beliebigen Zeitpunkt keine Kinder kriegen können... nicht auf natürliche Weise. Wir sind nicht allein. 90 Millionen Menschen erleben das. Ich weiß, ihr fühlt Euch verloren. Ihr habt ständig den Drang zu weinen, von jedem Menschen kommt etwas anderes, jeder hat eine Meinung und einen Rat. Ihr wisst manch-
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mal nicht mehr, wie mit all den Sachen zu kämpfen ist. Ihr Kopf ist ständig verwirrt... Sie verlieren sich in einem Dschungel der Informationen und Fehlinformationen. In so einer Situation macht ihr natürlich die Fehler, die wir alle schon mal gemacht haben. Wir haben sozialen Druck, der uns zu falschen Entscheidungen führt und weshalb wir erfolglose Behandlungen durchmachen. In der Tat hat das aber etwas mit dem Mit-Teilen zu tun.“
Auch Tuzcu, die Gründerin des Vereins, weiß aus eigener Erfahrung, wie das „Selbstbewusstsein der Menschen den Nullpunkt erreicht“, die diese Art Behandlungen hinter sich haben. Sie seien „misstrauisch“ in der „Kommunikation mit der Umwelt und in jeder Beziehung“. Denn sie würden es „als etwas Exzeptionelles“ erleben oder erst im Prozess machen sie es dazu. Doch ihr Plädoyer ist, sowohl das Leben von als infertil Diagnostizierten als auch die Inanspruchnahme von Reproduktionstechnologien „zu normalisieren“. „Wir wollen sowohl solche Sachen etwas mehr aufheben, als auch die Menschen mehr darüber aufklären. Wir wollen dafür sorgen, dass sie Fragen stellen, dass sie reden... Ohne sich zu genieren, mit dem Wissen, dass dieses Thema nicht beschämend ist, dass es eine Krankheit ist und dass es kein Mangel... Ok, es ist ein Mangel. Aber ohne es zu einem bedrückenden Komplex zu machen und das Ganze in einer angenehmeren, ruhigeren Atmosphäre stattfinden zu lassen, ist das größte Ziel von ÇİDER. Wenn wir die Möglichkeit hätten, würden wir am liebsten die Menschen in Zentren schicken, die 100 % erfolgreich sind. Auch wenn die Behandlung nicht erfolgreich abläuft, wäre es schön dafür zu sorgen, dass die Leute dann so was sagen wie: ‚Dank euch habe ich eine sehr schöne Behandlung erlebt.‘ Bei vielen ist es ja auch der Fall. Aber meiner Meinung nach ist das größte Ziel von ÇİDER, für die Aufklärung der Menschen zu sorgen.“
Viele artikulieren mir gegenüber ein altruistisches Tun der Mit-Teilung, das darin bestehe, die Selbst- und Fremdbilder umzudeuten und sich auf die Problemlagen der Anderen einzulassen. Infertilität wird als medizinischer Fakt definiert. Medizin wird ein Werkzeug, wobei der Selbsthilfekontext ein Antidot zur medizinischen Differenzierung und steigenden Individualisierung anbietet. Aus dem individuell-singulären wird ein kollektives Narrativ generiert und extrahiert, das als Basis für die Herausbildung neuer solidarischer und biosozialer Relationen der Gleichgesinnten dient. Dies verkörpert sich in den „Wir sind anders“-Narrativen, die sich rekurrierend mobilisieren. Die Strategien der Ent-Exzeptionalisierung in kollektiven und einzelnen Fällen manifestieren sich in zwei Richtungen. Zuallererst wird die biosoziale Problemlage im Verhältnis zu den anderen Reproduktionsnarrativen in einer „fertilen Gesellschaft“, die sie umgibt, neu positioniert. Es handelt sich um eine Umdeutung der als exzeptionell erfahrenen Bio-
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grafien zugleich geht es darum, diese im Rahmen des Normativen zu platzieren. Durch Selbsthilfe tritt diese Problemlage zweitens in Relation zum bio-psychosozial Ähnlichen und unmittelbar dazu, was als „eine Gruppe von Gleichgesinnten“ konstituiert wird. Auch Emel İpekçi ist frustriert durch ihre Erfahrungen, die sie seit Jahren machte. Sie wusste nicht so recht, wie sie mit sich selbst nach einer Reihe „nacheinander scheiternder Behandlungen“ umgehen sollte. Sie musste mitansehen, dass ihr „Körper einfach nicht richtig funktionieren [möchte]“, während ihre „biologische Uhr tickt“ und ihr „die Zeit davon läuft“. Wo Infertilität ohnehin als „deine Schande (senin ayıbın)“ angesehen und die „Schuld gerade auf die Frau geschoben wird“, war es für sie „eine ständige Abwägung darüber, wem gegenüber was und wie zu erzählen“. Die Behandlungen nicht zu verheimlichen, ist eine Sache, aber sich zu äußern eine andere, erläutert sie. Wissen die Menschen darüber Bescheid, dann „kommen unaufhörlich viele Fragen“, die sich bei ihr als Schuld- und Schamgefühle niedergeschlagen hatten. Dass sie „nicht mal mit technisch-assistierter Hilfe schwanger werde“, brachte sie ohnehin zu der Frage: „Habe ich einen Mangel? Warum klappt es bei mir nicht? Wenn die Behandlungen jedes Mal negativ verlaufen, fällt es mir besonders schwer, eine Antwort zu finden.“ Bis sie eines Tages, erzählt sie ruhig, als wolle sie mich überzeugen, bei ihrem regelmäßigen Durchforsten des Internets auf „eine große Familie wie ÇİDER stieß“. Sie realisierte, dass sie nicht allein ist und lernte durch „die Brille der Anderen“ auf ihre eigenen Erfahrungen zu blicken. Damit ging eine Selbsttransformation einher: „Das Problem als keinen Fehler von mir zu sehen, habe ich in diesem Verein gelernt. Von Menschen, die das gleiche Problem haben wie ich. Das ist etwas, dass die Natur uns gegeben hat. Also kein Makel. Und keine Schande. Wie soll ich das erklären? In dieser Welt besitzen nicht alle alles. Und ich habe kein Kind. So einfach ist das. Das sich nicht alleine fühlen, ist eins, wichtig ist, dass es einfach ein verbreitetes Problem ist, das viele ähnlich erleben. Beim gegenseitigen Austausch sieht man, was für ein Erfahrungsschatz sich hier gesammelt hat. Das ist, was die Menschen hier tun: Das Wissen den Anderen weitergeben und ihnen helfen, sich zu orientieren. Das ist auch das, was dabei einem selbst hilft [...]. Es ist so, dass du mit der Zeit, besonders in der Kommunikation und im Austausch mit anderen Leuten, merkst, was für ein Wissen du dir angeeignet hast und wie viel Erfahrung du gesammelt hast, von der die Anderen auch profitieren können. Wenn du die teilst, haben nicht nur die Anderen was davon, sondern gerade auch du selbst.“
Das „Mit-Teilen der äußerst sensibel erlebten Themen (çok hassas yaşanılan meseleleri paylaşmak)“ ihrer Leben half also dabei, die reproduktionsbiografi-
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sche Krise in individuelle und kollektive Selbstschaffungsnarrative umzudeuten. Aynur ist exakt in der gleichen Situation. Auch mit Hilfe von höchst intensiven Behandlungen blieb die Schwangerschaft aus. „Alle gebären schließlich plumps plumps (zak zak)“, so sagt sie genervt im Interview vor sich hin, „nur wir nicht“. Ihr geht es nicht nur um ein soziales „Anderssein“. Vielmehr setzt sie sich mit dem „Fakt“ täglich auseinander, den sie „am eigenen Leibe mit viel Leid erfährt“: „Selbst wenn es alles unter 100 % normalen Umständen [passiere], auch dann gibt es ja nur 30 %-Chance [für den Erfolg einer Behandlung]. Ich meine unter normalen Umständen. Ich dachte ‚Jeder gelangt zu 30 %, nur wir nicht‘. [...] Für sie ist es etwas, was sehr leicht und erreichbar ist, aber für diejenigen, die das Gegenteil erfahren, für diese Gruppe, kostet es ernsthaft viel Kraft. Während man diesen Prozess durchmacht, musst du dich jeden Tag selbst spritzen, du musst dich gut ernähren, deine Psyche ausgeglichen halten... gesund sein... denn du bist immer bemüht, das Beste zu erreichen. Du nimmst mehr Hormone als eine normale menstruierende Frau... sie werden zusätzlich verabreicht, das belastet einen sehr. Und dazu noch ‚das ist gesund, iss das‘, ‚trink diese Wurzel‘, ‚mach das und dies‘. Man versucht dabei immer alles im Gleichgewicht zu halten.“
Sie muss auch über dieses Anderssein immer wieder kalkulieren und sich dabei neu orientieren. Sie gehöre nun mal nicht zu „den glücklichen 80 % der Gesellschaft, die sehr leicht, im Vorübergehen Kinder haben können“. Wenn sie dann noch von jemandem hören muss, „Denk nicht so sehr darüber nach“, „ich wünsche Dir das Beste“ stößt sie an ihre Grenzen und murmelt: „Was soll das denn heißen? Soll mir das jetzt gut tun?“ Wenn es von einer Person kommt, „die dasselbe durchmacht und dieselben Sachen erlebt“, täte es nicht weh, sagt sie, „aber wenn es ein normaler Mensch sagt, dann tut es einem weh“, denn es habe einen „anderen Gehalt“. Alle Gespräche, in die auch Ela Bakar in ihrem Umfeld verwickelt wird, „laufen immer wieder doch darauf hinaus, ‚Na, worauf wartest du noch Kinder zu haben?‘“. Ela wohnt in einer kleinen Stadt. Da kein Treffen mit ihr stattfinden konnte, antwortete sie auf meine Fragen per Email. Sie schrieb, dass sie auf „blöde Fragen Routine-Antworten“ gebe: „Ich denke noch nicht daran“. Aufgrund von Endometriose ist sie aber seit circa zehn Jahren in Behandlung. Wie Aynur tauscht sie sich im Internet mit anderen Frauen aus, „die unter ähnlichen Beschwerden leiden und bei denen auch die Behandlungsprozesse häufiger in die Leere laufen“. In einer Email schrieb sie: „Glauben Sie mir, das hat solche Züge angenommen, dass ich mit unseren Bekannten nicht einmal mehr telefonieren möchte. Das Thema landet immer dort, ich gehe in Vertei-
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digung und so setzt es sich fort. Mit gebärfähigen Menschen über dieses Thema zu sprechen ist wirklich ermüdend. Was man auch sagt, sie verstehen es einfach nicht. Da das Thema außerdem inzwischen unser primäres Interessensgebiet ist [vor allem meins], bin ich unglaublich informiert über dieses Thema – von den Hormonwerten bis zu den medizinischen Begriffen – auch weil ich eine berufliche Vergangenheit im Gesundheitsbereich habe. Also aus diesem Grund ist die Kommunikation mit diesen Menschen noch schwieriger. Sie sehen, selbst im obigen Satz, habe ich automatisch Menschen in zwei Gruppen geteilt. Das hat sich inzwischen in unser Unterbewusstsein eingeprägt: die Gebärfähigen und die nicht Gebärfähigen.“
Diese hochgradig emotionale Darstellung ist eine wiederkehrende Begründung für die Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Gesucht werden Inhalte und Sinnbilder, die das körperlich und psycho-sozial Erlebte normalisieren könnten. Menschen brauchen „Halt“, so argumentierten viele, der ihnen in der Gesellschaft entweder vorenthalten oder verweigert wird. Ohnehin sei es kaum „von außen zu gewährleisten“, auch Trost komme meist nicht von den Menschen aus der eigenen Familie, nicht von Verwandten und oft nicht mal vom eigenen Partner. Denn dies sind diejenigen, „die es nicht selbst erlebt haben oder erleben“. Ein typischer, immer wiederkehrender Erzähltopos in meinem Feld war der Moment der Begegnung mit ÇİDER. Frauen in meinem Sample suchten völlig verzweifelt im Internet nach: „Ich möchte ein Kind“. Feride empfand sich auf einem „emotionalen Tiefpunkt“, bei dem sie glaubte, „im Universum des Scheiterns allein zu sein“. Aynur ging es ähnlich, ihr „fehlte jeder Boden unter den Füßen“. Beide spürten eine emotionale Entlastung nachdem sie im Internet eine Gruppe fanden, die einen erfahrungsbasierten Zugang zu den Sinnkrisen und emotionalen Ausbrüchen für sie anbot. Das Thema anzusprechen traut sich lange keine, so Aynur: „Sie tun so, als gäbe es das nicht, aber ich brauche es auch, über das Thema zu sprechen [...] nicht mal meine Schwester konnte nachvollziehen, was ich durchmache, wie ich in meiner eigenen Krise ertrinke; ich gehe nicht aus dem Bett, weine ständig, das Leben hat keinen Sinn. Du empfindest Schuldgefühle, also in dieser Zeit hinterfragst du alles, das Leben, du hinterfragst das Dasein, du hinterfragst Gott, du hinterfragst dich selbst. ‚Vielleichts‘ und ‚Wenns‘ gehen nicht mehr aus deinem Kopf, zum Beispiel immer noch, selbst an einem Punkt, an dem ich denke, dass ich dieses Thema überwunden habe. Ich war früher jemand, der sehr lebendig, sehr fröhlich war, sich ständig mit Dingen beschäftigt hat. Dinge, die ich erlebt habe, waren aber sehr schwer und ich wurde zu dem genauen Gegenteil; dann plötzlich auf den Füßen, plötzlich, als ich auf Google gesucht habe, als ich gesucht habe, weil ich mir gedacht habe, dass, wenn es Müttergruppen gibt, es auch hierzu Gruppen geben sollte, sich Menschen irgendwo getroffen haben sollten... dann habe ich
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die Website gefunden und bin da rein. Es gab eine Menge Menschen und alle haben irgendwas geschrieben, sie waren sehr aufrichtig, zu der Zeit gab es den Chatroom, alle waren im Chatroom, plötzlich war ich ÇİDER-abhängig. Dort habe ich begonnen zu schreiben und die Menschen waren sehr warm, sehr offen, sie waren in einem Modus des dich Beschützens; und ich habe nachts im Chat, in den Foren ständig aktiv geschrieben.“
Sie nutzte die Gruppe und ihre Onlineforen als einen Raum für die eigene Selbstoffenbarung und „Mit-Teilung (paylaşma)“ ihrer Erfahrungen. „Die damit einhergehende Bindung zu den anderen Personen in der gleichen Lage“ war für sie während ihrer immer noch „erfolglosen Fahrt zum Kind unverzichtbar und außerordentlich wertvoll“. Die eigene Offenbarung ist für viele keine rein individuelle Sache. Mit-Teilung bedeutet teilen und mitteilen gleichzeitig. Viele meiner Gesprächspartner*innen argumentierten, dass sie durch ihre Selbstoffenbarung aktiv ein solidarisches „Mitsein“ und „Mit-Leiden“ kreieren. Die Erfahrungen vieler anderer flossen immer auch in die eigenen Narrative ein. Viele betrachten die exzeptionell erlebten Einzelbiografien anders, fühlen sich zugehörig zu einer Gruppe von Menschen, die das gleiche Schicksal durchleben. Unter dem Motto „Solidarität (dayanışma)“ wird eine wachsende Bindung untereinander, zugleich die Hilfsbereitschaft und Gegenseitigkeit zueinander angedeutet. Durch das Darüber Reden und Öffentlich Machen ihrer persönlichen Geschichten entstehe eine „Solidaritätsgruppe“, die bei dem strapazierenden und langen Prozess der IVF/ICSI-Behandlungen unterstützend zur Seite steht. Nicht nur innerhalb der onlinebasierten Gruppen, sondern auch außerhalb, gerade bei den alltagspraktischen und lokalen Problemlagen, z.B. in ihren Familien, Nachbarschaften und Wohnorten sowie auch in den Kliniken, setzen die Mitglieder – meist Frauen – sich füreinander ein (siehe für eine detaillierte Analyse Kapitel 5.4). „Wir alle teilen das gleiche Schicksal miteinander (biz bir kaderi beraber paylaşıyoruz)“, argumentieren viele Frauen und Männer, die sich darin aktiv engagieren. Ceyda, die über mehrere Jahre hinweg ihre Hoffnung auf ein Kind nicht aufgab und auch ihre Behandlungen mit Hilfe einer lokalen Frauengruppe fortsetzte, in der sowohl ehemalige wie aktuelle „IVF-ler“ beteiligt waren, sagte bei einem Treffen: „Denn es sind die gleichen Gefühle und die gleiche Lebensführung. Du bist auf eins fokussiert, nur Mutter-Werden und Vater-Werden. Argumentiert wird oft: „Exakt die gleichen Wünsche“ und „die gleichen Probleme, die wir alle zu bewältigen haben“. Die Mitstreiterin Muko schildert wie folgt: „Diese Gemeinsamkeit verbindet uns. Wahrscheinlich war das unser UHU, das war unser Klebstoff. Nicht etwas Anderes. Das ist wirklich etwas Anderes.“
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Herrn Tıknaz, der gemeinsam mit seiner Partnerin ungewollt kinderlos war, empfand es als eine Art „Therapie“. Es half ihm einen Schritt in eine Richtung zu gehen, um „normal zu werden“: „Also unsere Situation, also dieses Problem ist etwas anders in der Türkei. Es ist nicht wie eine normale Krankheit. Das merken sie auch. Deswegen können die Menschen das, worüber sie in der Gesellschaft oder in ihrem Umfeld nicht reden, dort sehr locker erzählen. Entweder fühlen sie sich besser, wenn sie es erzählen. Vielleicht ist es das, nur das Sich Aussprechen. Oder ist es gerade, sie sprechen mit Menschen, die die gleichen Probleme erleben, und allein das lässt sie sich besser fühlen. Also meiner Meinung nach ist es Therapie.“ Nurhak: „Ja? Eine andere Therapieform wird dort entwickelt?“ Herr Tıknaz: „Sie haben recht. Es ist mehr gegenseitig. [...] Also lassen sie das Umfeld mal beiseite, der Ehepartner erlaubt es nicht einmal, zu Hause darüber zu sprechen. Sie gehen dort rein und sprechen locker darüber, erzählen, hören zu, also das lässt den Menschen besser fühlen. Also stellen Sie sich vor, es entsteht etwas in ihrem Kopf, also irgendein Ereignis, und wenn sie es niemandem erzählen, ihr eigenes Gehirn verrät sie, also, wie sagt man es, es frisst sie innerlich auf. Also dieser Gedanke beunruhigt sie. Aber was machen sie, sie erzählen es jemandem, sie teilen es mit jemandem und fühlen sich besser. Das ist halt so etwas Ähnliches.“
Der Kontakt zu anderen ungewollt Kinderlosen und IVF-Nutzer*innen ermöglichte dem Paar Tıknaz Strategien, einen „passablen“ und „richtigen“ Umgang zu entwickeln, „das Problem als ein medizinisches Problem“ und nicht als ein individuelles Versagen der Reproduktionsbiografie zu verstehen. Sie wählten einen offenen Umgang damit, indem sie die gesellschaftlichen Verständnisse reproduktiver Erfahrungen grundsätzlich infrage stellten. Die individuellen und kollektiven Narrative halfen ihnen dabei. Ein idealtypischer Effekt der gegenseitigen Hilfe beschreibt das Paar, der vom „sozialen Vergleichen“ (Dibb/Yardley 2006) herrührt. Diesen verstehe ich als Ent-Exzeptionalisierung. Anders als Prozesse der Entstigmatisierung und Enttabuisierung fokussiert dieser Prozess auf das individuelle Selbstverständnis. Verglichen werden körperliche und soziopsychologische Verfassungen, Kinderwunschwege, Abläufe in Reproduktionsbiografien, unter anderem in reproduktionsmedizinischen Diagnosen, Verläufe und Behandlungen und behandlungsrelevante Alltage. So erläutert Frau Tıknaz: „Hier verstehst du einfach, was die Erfahrungen mit Behandlungen bedeuten. Am Anfang hast du halt kein Wissen, fühlst dich wie ein Fisch außerhalb des Wassers. Ich habe hier ziemlich viele Dinge über die Behandlungen gelernt. Jetzt habe ich... Wissen darüber.
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Auch die Erfahrungen von anderen Frauen waren sehr hilfreich, weil du ja vergleichst, guckst was die anderen machen, wie sie damit umgehen. Das bringt einem wirklich viel.“
Die Differenzen in geteilten Schicksalen werden genauso wie die Ähnlichkeiten und „das Geteilte“ aktiv genutzt. Sie identifizieren sich mit einer Aktivist*innenSzene wie ÇİDER und engagieren sich auf den Kinderwunschplattformen (siehe Kapitel 5), besonders nach dem Leitbild der aktiven, mündigen, selbstreflexiven Patient*in und Mitstreiter*in im Feld der Reproduktionsmedizin. Die Normalisierungsarbeit ist also nicht nur offiziell erklärtes Ziel des Vereins. Auch Einzelne greifen auf die rekurrierenden Deutungsangebote der Reproduktionsmedizin zurück. Medizin wird genutzt, um individuelle Erfahrungen zu sozialen Problemlagen zu transformieren. Dabei tragen die singulären Fälle zum Aufbau der „Erfahrungsschätze“ bei, die häufig positiv bewertet und als eine der zentralen Wissensquellen im Feld ernannt werden. Die Mitarbeiterin İnce, die selbst (noch) keinen Kinderwunsch hat noch Selbstbetroffene ist, ist der Meinung, dass Menschen gerade bei der ersten Behandlung emotional wie informativ gar nicht ausreichend gerüstet sind. „Sie wissen nicht, was auf sie zukommt“, sagt sie, so fühle es sich an „wie ins kalte Wasser geworfen [zu werden]. Sie haben von nichts eine Ahnung“. Dabei erfordere diese Behandlung nicht nur ein Mitmachen, sondern auch ein eigeninitiiertes Engagement im Behandlungsprozess, das sich auf den Alltag ausdehnt. Oft ist es unklar, wo das Behandlungssetting anfängt und aufhört. Vor diesem Hintergrund erleben die Menschen ihren Alltag mehr oder weniger als Teil eines Behandlungssettings. In diversen Schritten der Behandlung bringen sie unterschiedliche praktische wie informationelle Fertigkeiten und Kompetenzen in den Behandlungsprozess mit ein. Sie müssen sich auf ein komplexes Behandlungsregime einlassen, welches ihnen „viel abverlangt“ und das sie als höchst eingreifend empfinden. „In eine völlig neue Welt der Medizin tauchst du tief ein“, so beschreibt es ein Mann im Online-Forum. Eine neue Welt also, die erfordert, ein komplexes Behandlungsregime möglichst reibungslos in den Alltag zu integrieren. Als eine Zumutung stellt sich der Umgang mit dem eigenen Körper dar und auch, dass zwei Körper, der einer Frau und der des Mannes und deren Substanzen sich harmonisch aufeinander abstimmen müssen. Die Dosierung und Selbstspritzung von Medikamenten, das Zeitmanagement und die exakte Einhaltung des Behandlungsplans, der sich nach den körperlichen Zyklen richten muss, gehören zum Alltag. Dieser Prozess wird „als ein Angebot oder als ein Druck zu Handlungs- und Seins-Optionen, durch die übliche Verhaltensweisen außer Kraft gesetzt werden“ (Knecht et al. 2011: 24) erlebt. Für Aynur bedeutet dies einen individuellen Lernprozess: „Über die Dinge also, von denen du vorher keine Ahnung hattest und emotionell musst du ja
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auch damit fertig werden und dich da durchfinden, dass das, was du dir wünschst, nicht einfach so klappt“. Eine intensive Wissensarbeit wird von Frauen wie ihr gefordert: Sich selbst aktiv Informationen über die Diagnose und die Behandlungen einholen sowie sich über die medizinischen Entwicklungen und ethischen Debatten auf dem Laufenden halten. Mit den Folgen der Behandlungen müssen sie klar kommen sowie die Unklarheiten und Misserfolge kalkulieren. Dabei fühlen sich viele meiner Gesprächspartner*innen – auch eine geringere Zahl von Männern – gezwungen, ihren emotionalen Haushalt bestmöglich zu steuern. Neben einem „Selbst- und Hoffnungsmanagement“ sind auch ihre Beziehungen im sozialen Umfeld zu managen. Sie bedienen sich unterschiedlichen Wissensquellen, manchmal konkurrierenden, sich widersprechenden und oft schwer verständlichen Informationen und orientieren sich im IVF-Markt neu. Dazu zählen u.a. „Erfahrungsschätze“, die Selbsthilfegruppen und Austauschräume anbieten. Dadurch eignen sie sich – je unterschiedlich – Sinnangebote und Wissensinhalte an bzw. verwandeln ihre subjektiven Erfahrungen in produktive Ressourcen für reflexive Umdeutungen biografischer Selbstverständnisse und Praktiken (Knecht/Hess 2008). Daraus wird individuell und kollektiv eine EntExzeptionalisierung (Rosenbrock et al. 2000, Amelang et al. 2011, Knecht et al. 2011) von Infertilität und der damit einhergehenden psycho-sozialen und körperlichen Erfahrungen hergeleitet. Die als exzeptionell kodierten Erfahrungen und ihre Normalisierung sind für diese Gruppen konstitutiv. Ich argumentiere, dass die Selbsthilfekontexte allmählich eine spezifische Funktion für die Wissensstrategien der Menschen haben. Bei weitem ist diese jedoch nicht mehr auf individuelle Offenbarungen und anonyme Mitteilungen über intime Angelegenheiten der Sexualität, der Reproduktion und des Familienlebens beschränkt. Eher fördern sie neuartige biosoziale Relationen unter den Betroffenen zueinander und neue Subjektpositionen in diesem spezifischen Handlungsfeld.
3.4 VON SELBSTHILFE ZUR ERFAHRUNGSGEMEINSCHAFT: EINE PROBLEMKONSTELLATION Mit der Kultur der Mit-Teilung geht also eine Mobilisierung subjektiver Erfahrungen und des Erfahrungswissens einher. Im Kern folgender Analyse steht die Frage, wie und inwiefern die subjektiven, singulären Erfahrungen als ein Rohstoff für Wissen genutzt werden und wie das erfahrungsbasierte Wissen in Bewegung gesetzt wird. In einem hochgradig kommerziellen und paternalistischen
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Geschäft mit dem Kinderwunsch wird den Selbsthilfe- und Solidaritätsgruppen, wie oben dargestellt wurde, selbstoffenbarungsfördernde und entstigmatisierende Wirkung eingeräumt. Eine anti-reduktionistische Funktion also, die oft positiv, aber auch widersprüchlich bewertet wird. Ihre Attraktivität scheint für viele in meinem Sample darin zu liegen, dass sie gerade alternative Wissens- und Umgangspfade ermöglichen. Denn sie stellen Informationen und Wissen zur Verfügung und setzen sie in Bewegung, die häufig reduktionistisch als überflüssig, unwichtig oder im besten Falle nur psychologisch relevant validiert werden. Es sind subjektive Erfahrungen und Erfahrungswissen, welche einen konstitutiven Charakter für Selbsthilfekontexte haben. Im folgenden volkskundlichen Erzähltopos wird diesen eine zugespitzte Bedeutung verliehen. Eine Mitstreiterin ÇİDERs sagte dem Publikum in einer Veranstaltung für Betroffene: „Nasrettin Hodscha [eine traditionelle Witz- und Erzählfigur, der meist eine Volksweisheit zugeschrieben wird] fällt aus dem Baum, die Zeugen wollen einen Arzt bringen, er hingegen sagt ‚Bringt mir einen, der auch aus dem Baum gefallen ist‘. Nun, Freunde, stellt eure Fragen, denn wir sind wie in der Geschichte von Nasrettin Hodscha Menschen, die vom selben Baum gefallen sind.“
In dieser allegorischen Anekdote geht es im Grunde darum, die gemeinsam geteilten Erfahrungen auf die stillschweigenden Wahrheitsansprüche einer verkörperten biosozialen Selbsterfahrung hin auszulegen. Dieses Kapitel erkundet die Erfahrungspolitiken, die gemeinschaftsstiftende Prozesse unter den Betroffenen hervorrufen. Ich analysiere die Rolle der mit-geteilten Erfahrungen und wie sich daraus eine quasi imaginierte Gemeinschaft aus IVF-Nutzer*innen und räumlich versprengten Mit-Leidenden als eine biosoziale Erfahrungsgemeinschaft bildet. Zunächst werde ich die Begriffe Erfahrungswissen und Erfahrungsgemeinschaft auslegen, um dann meinen analytischen Zugriff darauf zu skizzieren. Die Selbsthilfekontexte wurden bislang in vielerlei Hinsicht im Rückgriff auf die Begriffe Erfahrungswissen und erfahrungsbasierte Expertise gefasst. Erfahrungswissen kennzeichnet im Grunde ein Alltagswissen, das aus der unmittelbaren Erfahrung mit biosozialen Zuständen und Prozessen gewonnen und auch aus dem körperlich, sozio-psychisch und medizinisch Gelebten extrahiert wird. Es ist höchst subjektiv sowie individuell und stellt zugleich auch reflexiv verfügbare und vergleichbare Wissensinhalte zur Verfügung, auf die Menschen zurückgreifen. Erfahrungswissen wird als ein analytisches Werkzeug verwendet, um die transformativen Kapazitäten der Selbsthilfegruppen und des Patient*innenwissens zu analysieren (Borkman 1976, 1990). Für Borkman basiert dieses Wissen auf gelebten, subjektiven Erfahrungen, daher ist es pragmatisch und handlungsorien-
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tiert.3 Vom alltäglichen Laienwissen unterscheidet es sich gerade dadurch, dass Laienwissen nicht auf Erfahrung basiert, und vom medizinischen Expert*innenwissen durch seine „Perspektivität, Relationalität [und] Situativität“ (Beck 2009: 227). Durch seine steigende Mobilisierung ruft es eine tendenzielle Auflösung der Grenzen zwischen Laien-, Erfahrungs- und Expert*innenwissen hervor. Damit zeigt es Transformationen auf, die ich unten als Grenz(be)ziehungen auffasse. Im Umgang mit Reproduktionstechnologien gewinnen allmählich das Erfahrungswissen und die „Patient*innenperspektive“ auch im türkischen Kontext an Bedeutung. In neoliberalen und hochgradig kompetitiven Behandlungs- und Gesundheitsregimen fordert subjektive Erfahrung als eine Ressource das „soziale Monopol der Expertise und des Wissens“ (Turner 1995: 47) der Mediziner*innen heraus. Die Erfahrung ist situativ und kontextuell. Auch das Erfahrungswissen wird in ganz bestimmten Konstellationen validiert und zur Geltung gebracht. Zum professionellen Expert*innen- und Medizinwissen verhält sich das Erfahrungswissen ergänzend. Es setzt neue Wissensinhalte in den heterogenen Wissensordnungen in Bewegung, ohne dabei unbedingt zu beanspruchen, als eine primäre Quelle der Wahrheit zu dienen. Denn es leitet sich vom „having been there too“ (Humphreys 2004) ab und erhebt keinen allgemeinen und universalen Wahrheitsanspruch. Dennoch steht das Erfahrungswissen für ein Symbol von Transformationen in Behandlungs- und Gesundheitsregimen der Gegenwart. Durch einen Übergang der von außen gesteuerten Medikalisierung zur Moralisierung des gesundheitsbezogenen Handelns ist dies gekennzeichnet (Conrad 2007, Rose 2007a). Die Mobilisierung von Erfahrungswissen via Betroffenengruppen impliziert das Entstehen von neuen Belangen und Anforderungen auf Seiten der Betroffenen. In der einschlägigen Literatur wurde dies als Indiz für eine Gegensteuerung gegen die mangelhaften und nicht laiengerechten Strukturen thematisiert. Neue Beziehungen zum Selbst und zur Selbstbetroffenheit entstehen dabei auch zwischen den Individuen, die nichts Gemeinsames haben als ihre (mit-)geteilten Erfahrungen. Am Beispiel von Endometriose analysiert Emma Whelan (2007) die Wissenspraktiken der betroffenen Frauen und zeigt, dass diese eine Art „Com-
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Erfahrungsbegriff im Sinne von Wissens- und Handlungspraxen gerät im kollektiven Kontext ins Schwanken. Denn Erfahrung und Erfahrungswissen werden durch Rückgriff auf die subjektiven und individuellen Erlebnisse gemacht. An dem Begriff hat sich innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie eine theoretisch breit aufgefächerte Diskussion entwickelt, auf die ich hier nicht eingehen kann. Mein Zugriff darauf lehnt sich an die Perspektiven, die diesen nicht kognitivistisch und subjektivistisch verstehen. Diese betonen, dass Erfahrung als etwas (kulturell und situativ) Geteiltes, Kollektives und durch diverse Mittel Übertragbares ist (Throop 2003).
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munity“ bilden. Sie versteht diese als eine neue Form von „epistemological communities“. Diese fördere die Produktion von einem geteilten Körperwissen und ordne die subjektiven Erfahrungen als Geteiltes neu. Sie nutzen Erfahrung als epistemologische Basis, mobilisieren Erfahrungsnarrative und arbeiten zugleich „experiences-in-common“ heraus (ebd.: 960). Erfahrung dient also als Grundlage für die Suche nach den Gemeinsamkeiten, auch für die Identifizierung von biologisch-körperlich basierten und biosozial fundierten Handlungszusammenhängen. Solch eine Perspektive auf Gruppenbildungen steuert gegen holistische und essentialistische Annahmen aufgrund eines biologischen und sozialen Merkmals (siehe auch 1.3). Bisher wurde die mit-geteilte Erfahrung als solche im Kontext von ungewollter Kinderlosigkeit und IVF-Nutzung kaum untersucht. Stattdessen wurde auf eine Besonderheit verwiesen. In ihrem Artikel „In the making of an imagined community“, in dem sie die Presse als einen „Mediator“ im ART-Kontext analysieren, beschreiben Salazar und Orobitg (2011: 240) beispielsweise, dass Reproduktionsschwierigkeiten von Frauen und Paaren als individuell und „singulär“ betrachtet werden. Sie hätten daher kaum Interesse, sich selbst als Mitglieder imaginärer oder sonstiger Vergemeinschaftungs- und Sozialitätsformen zu sehen bzw. als solche zu agieren. Aufgrund der biomedizinischen und biosozialen Grundlage der Infertilität und des Kinderwunsches seien Mitgliedschaften und Aktivitäten kurzlebig. Diese Menschen investierten demnach nicht in die Identifizierungsarbeit. Auch Deborah Spar (2006) betont, dass Biomedizin infertile Personen und IVF-Nutzer*innen zu einer imaginären „desperate community“ macht, die nichts anderes gemeinsam hätten außer ihrer biologischen und biografischen „inability to conceive“. Mein Material zeigt hingegen, dass aus den individuellen und singulären Erfahrungen eine Gruppe entsteht, die sich als eine Gemeinschaft mit-geteilter Erfahrung konstituiert. „Wir haben lebende Beispiele als Erfahrungsschätze“ Die reproduktionsmedizinischen Behandlungsregime sind Resultat eines höchst heterogenen Wissenskorpus, das unterschiedlichste Wissensformen, -inhalte und -ansprüche mobilisiert. Es ist ein Handlungsfeld, das mittels diverser Netzwerke und Allianzen von unterschiedlich situierten Akteur*innen ein aktives, selbstbewusstes und informiertes Handeln beim Umgang mit dem Kinderwunsch aufdrängt. Durch Kliniken und Ärzt*innen, Medien und Selbsthilfekontexte wird das Imperativ zu einer informierten und reflexiven Selbst-Aktivierung verbreitet. Organisationen wie ÇİDER beanspruchen durch einzigartige Erfahrungsschätze, so die Mitstreiterin Kader Şimşek, zu diesem bunten Wissenskorpus beizusteuern: Eine Ansammlung von als wertvoll geschätzten Informationen, die auf individuellen Erfahrungen und Erfahrungswissen beruhen. Diese behauptet sich als
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eine neuartige Informations- und Wissensquelle, die das Erfahrungswissen von Erfahrenen neu validiert und Betroffenen zur Verfügung stellt. Denn Menschen seien auf der Suche nach lebendigen Wissensressourcen, nach authentischem Erfahrungswissen und „lebendigen Beispielen, aus denen die anderen [Betroffenen] etwas lernen können“. Diese verwandeln die subjektiven Biografien, Erfahrungen und das Wissen in „soziales Kapital“4 um und steuern dies somit einem kollektiven Wissenskorpus bei. Durch das Engagement in der Selbsthilfe lernen Protagonist*innen, ihre individuellen Reproduktionsbiografien und ihre subjektiven Erfahrungen in Wissens- und Wahrheitsquellen umzudeuten und aktivistisch einzusetzen. Sie transformieren die erlebten Schwächen, Nachteile und Inkompetenzen zu neuen Kompetenzen, sozialem Kapital und Vorteilen. Es sind also Subjekte, die selbstreflexiv verantwortlich über sich denken und handeln und in der Gesellschaft und in den Behandlungsregimen eine transformative Handlungsfähigkeit vorweisen. Sie verkörpern sich aber auch in der neoliberalen Figur der „altruistischen“ Aktivist*in, die die eigenen Erfahrungen und das eigene Wissen mitteilt und für andere zur Verfügung stellt. Wie ich unten darlegen werde, positionieren sie sich als „erfahrene Patient*innen (deneyimli hasta)“ und „expert patients“ (Kerr et al. 2007, Pols 2014). Sie agieren also als Expert*innen durch ihre Erfahrung. Sie teilen ihre intimsten Erfahrungen sowie die „daraus gefilterten Informationen“, indem sie sich als „lebende Beispiele als Erfahrungsschätze“ und „lebendige Ressource“ entwerfen und mitteilen. In all ihrer Individualität, Partikularität und Intimität wird also ihr Alltag durch die IVF/ICSITechnologien neu bewertet. Dadurch entstehen „Räume gegenseitigen Lernens“ (Rabeharisoa/Callon 2004: 145, zitiert und übersetzt von Beck 2009: 233), in denen neue Subjektpositionen erprobt werden. Häufig werden die ersten und allgemeinen Grundinformationen über Praxen und Institutionen, über angewandte Technologien, Behandlungsabläufe, Medikamente oder mögliche Komplikationen, Risiken und Konsequenzen etc. von den anderen Erfahrenen geholt. Semra beschreibt die wechselseitige und wegweisende Unterstützung:
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Das soziale Kapital ist „an elastic construct“ (Steinfield et al. 2008). Bourdieu versteht darunter „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 2011 [1986]). Es sind „all things that draw individuals together into a group“, so Cohen und Prusak, was die Gruppen zu mehr als einer Ansammlung von Individuen macht: „Social capital makes an organization, or any cooperative group, more than a collection of individuals intent on achieving their own private purposes. Social capital bridges the space between people. Its characteristic elements and indicators include high levels of trust, robust personal networks and vibrant communities, shared understandings, and a sense of equitable participation in a joint enterprise – all things that draw individuals together into a group“ (2001: 4).
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„,Das ist mein Problem, was habt ihr dafür gemacht? Meine Testergebnisse sind bekannt, folgendes kam dabei raus, wie ist es bei euch? Was hat der Arzt euch empfohlen? Welche Medikamente verwendet ihr? Sollte man sofort direkt Tüp Bebek machen lassen oder Insemination machen lassen...? Wer ist euer Arzt? Mit welchem Zentrum arbeiten sie?‘ Und so was, das alles haben wir mit den Freunden besprochen, und wir reden auch sehr locker darüber, deswegen ist meiner Meinung nach die Sache von ÇIDER sehr wichtig.“
Der kollektive Korpus von Erfahrungsschätzen sorgt für eine Orientierungshilfe für ungewollt Kinderlose und IVF-Nutzer*innen. Somit transformieren sie singuläre Fälle zu kollektiven Wissensressourcen. Sie mobilisieren also das subjektive Erfahrungswissen, das einen breit definierten, psycho-sozialen, informativen und moralischen Beistand leistet. Damit kreieren sie, so mein Argument, eine partikulare Form von biosozialer Community von Menschen mit geteiltem Schicksal und gemeinsamer Erfahrung. Für Kader Şimşek realisiert die Organisation primär eine Vision und ein Konzept, das auf einem Erfahrungsbündnis basiert und damit gleichzeitig individuelle und subjektive Erfahrung als ein wichtiges Instrument qualifiziert und neu evaluiert: „Wir haben viel Erfahrung. Wir haben lebende Beispiele als Erfahrungsschätze. In erster Linie natürlich mit Frau Sibel. Frau Sibel wurde jahrelang behandelt, sehr oft ausgenutzt, reingelegt und ihre Zeit wurde verschwendet. Wir... Bei mir ist es auch so. Wir sind Menschen, die sehr viele fehlerhafte Sachen durchgestanden haben. Das Ziel von uns als ÇİDER ist, dass Anfänger, die diese Behandlungen neu beginnen, solche Sachen weniger durchleben müssen. Halt eine Art Sicherheit aufbauen. ÇİDER ist eben eine Art von Sicherheit.“
Erfahrungsschätze beziehen sich auf eine Wissensform, die auf den biosozialen und körperlichen Erfahrungen basiert. Ihr wird eine reflexive und pragmatische Fähigkeit zugestanden, den biomedikalisierten Zustand eines stets biosozialen Leidens zu verhandeln. Im Umgang mit dem paternalistischen Gesundheitssystem und im hochgradig kommerziellen und neoliberalen Behandlungsregime wird es für viele zu einer Ressource. Kader begründet: „Wenn man es sich so logisch mal vor Augen führt, sind diese Behandlungen sehr anfällig für Missbrauch. Also wirklich, das Geld... Die meisten Ärzte denken nur daran, wie sie ihre eigenen Taschen voll kriegen können. Sie denken gar nicht an die Psyche der Menschen oder dass sie zum Beispiel viel Geld investiert, viel Kraft eingesetzt haben und trotzdem ein negatives Ergebnis erhalten könnten. Deshalb sind wir ja auch hier.“
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Oftmals werden die Asymmetrien in der Zugangs- und Ressourcenverteilung angesprochen. Männer wie Pomak beklagen sich darüber und schätzen die Organisation und die von ihr initiierte Informations- und Wissensvermittlung sehr. Er lebt in einem Dorf in der Schwarzmeerregion, wo ich ihn in einer Informationsveranstaltung kennenlernte. Die Auswahl und der Inhalt der Informationen zur Reproduktionsmedizin sind eingeschränkt, oft aus Massenmedien wie Fernsehsendungen (u.a. aus sogenannten Morgenstunden). Mit einer nur sechsjährigen Grundschulausbildung war es für ihn und seine Frau nahezu unmöglich die nicht laiengerechte Medizinsprache zu verstehen. Es stellt eine große Herausforderung für sie dar, das Fach- und Medizinwissen, die Behandlungslogiken und auch das Überangebot von medialen und kommerziellen Informationen zu bewältigen. Für Paare wie diese, welche nicht über die notwendigen sozialen und materiellen Bedingungen verfügen, geht es um die Ergänzung bzw. Erweiterung ihrer Kompetenzen: „Für Familien, die kein Kind bekommen, sind diese Leute sehr wertvoll [„baş taçları“ – wörtlich: Kronen auf dem Kopf]. Moralisch sind sie so wichtig. Denn sie sind Vorreiter, sie sind informiert, sie zeigen Wege auf, öffnen den Zugang zu Ärzten. Auf der einen Seite sind diese Dinge sehr wichtig. Also ich habe es zwar geschafft ÇİDER zu erreichen, aber wir haben viele Menschen, die sie nicht erreichen. Wir haben Menschen, die in so schwierigen Situationen sind. Selbst zu sagen ‚Ich bekomme kein Kind‘ ist schwierig, solche Menschen haben wir, wo sollen sie einen Arzt finden? Es gibt so viele Städte, so viele solcher Menschen, und denen helfen sie in diesen Themen, sie halten sie an der Hand. Meiner Meinung nach ist es perfekt, Allah soll ihnen immer beistehen.“
Die Organisation halte also den Menschen „an der Hand“. Menschen finden Orientierungshilfe und Halt durch die hoch kompetitive und kommerzielle Welt der Medizinwissenschaft und der biotechnologischen Behandlungen hindurch. Dabei geht es ihnen auch darum, einen Platz für ihre emotionalen Erfahrungen zu finden. Eine Frau sagte während einer Informationsveranstaltung, viele sind darauf fokussiert, sich „alle Informationen und Annäherungen zunutze [zu] machen, um die reproduktionsfunktionellen Prozesse des Körpers (vücudun üreme fonksiyonlarını) zu unterstützen und zu stärken“. Dazu gehört, wie so oft in meinem Feld akzentuiert wird, eine ganzheitliche Perspektive: „Wenn man sich nur auf das Eine fokussiert, so ist das Scheitern oft vorprogrammiert. Körper und Seele gehören in diesem Prozess zusammen. Für beide muss man eben was machen.“ Dies entspricht dem erklärten Zweck, gegen die Reduktionismen der schulmedizinischen Erklärungsmuster zu steuern. Sibel bemängelt die fehlende Bereitschaft, die vor mehr als 20 Jahren während ihrer Behandlungen deutlich stärker
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gewesen war, die mentale und emotionelle Verfassung, die gesellschaftlichen Umstände sowie biografischen Unterschiede zu erkennen. Für sie hat die Organisation „viel in dieser Richtung gemacht“. „Wir helfen zur Selbstannahme“, so entnehme ich aus dem Gedächtnisprotokoll zu meinem letzten Gespräch mit ihr im Jahr 2013: „Wir leugnen unseren Körper in diesem Zustand. Wir akzeptieren ihn nicht. Das ist genau seelische Nicht-Selbstakzeptanz und leidendes sich selbst verleugnen. Man fühlt sich erfolglos. Das ist Selbstverleugnung.“ So werden also die Psyche, die Biografie, das Familienleben und die sozialen Beziehungen im Umfeld von ungewollter Kinderlosigkeit und Infertilität mit einbezogen. Viele wollen sich nicht auf die schulmedizinischen Erklärungs- und Behandlungsmodelle beschränken. „Nehmt euch vor einer Tüp-Bebek-Behandlung eine Vorbereitungsphase“, ist ihr Plädoyer. Eine Phase, die seelische, soziale und körperliche Arbeit an sich selbst einschließen sollte. In ihrem eigenen Behandlungsprozess vor 20 Jahren hat sie das selbst erprobt: „Denk mal nach, wir sind den Ärzten 20 Jahre voraus. Unser Standpunkt war fortschrittlicher. Ich denke auch, was wir seit Jahren gesagt haben, können die Ärzte auch wissenschaftlich durch die Tests und Untersuchungen, feststellen. Es gibt eine neue Publikation. Die habe ich ins Türkische übersetzt und auf die Webseite gestellt. Auch in dieser Publikation wird meine Ansicht bestätigt und für eine körperliche und seelische Vorbereitung durch diverse Methoden plädiert.“ Nurhak: „Sie beschreiben eine medizinkritische Haltung und eine Kritik an dem medizintechnologischen Monopol? Würden Sie mir zustimmen?“ Sibel: „Nein, nicht wirklich. Das sind meine Erfahrungen und mein Wissen, das aus meinen Erfahrungen, auch den von anderen hier [in ÇİDER] jahrelang herausgefiltert wurde. Als Patientin muss ich während einer Behandlung meinen Horizont breiter halten, um erfolgreich zu werden. Erfahrungen öffnen einem alles. Schon im Jahr 2000 habe ich das gesagt.“ Nurhak: „Ist es eine Kritik an der zentralen Rolle der Medizin?“ Sibel: „Ich meine, Tüp Bebek kann nicht der einzige Ausweg sein. Statt Hormone zu geben, sollte man dem Körper selbst eine Chance geben. Den Körper muss man auch vorbereiten, durch Vitamine, Mineralien und feststellen, was eigentlich dem Körper fehlt. Wenn das nicht passiert, ist es egal, wie viel Hormone du dosierst. Das würde nicht taugen. Natürlich ist Tüp Bebek der letzte Ausweg.“ Nurhak: „Wie sollte denn Ihrer Meinung nach die Behandlung sein? Sollten die alternativen Behandlungsmöglichkeiten in den klassischen Behandlungen eingeschlossen sein? Meinen Sie, die Frauen und Männer sollen möglichst auf die hormonellen Behandlungen verzichten, oder gar auf Tüp Bebek? Verglichen mit unseren vorherigen Interviews sehe ich eine Verschärfung in ihrer diesbezüglichen Haltung. Stimmen Sie mir zu?“
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Sibel: „Selbst wenn es durch Tüp Bebek geht, sollte man sich körperlich und seelisch (ruhani) [darauf] vorbereiten. Wenn man die Mängel (eksiklikler) behebt, findet manchmal eine spontane Schwangerschaft statt [gemeint ist: ohne medizinische Hilfe].“
Es handelt sich hier also nicht um Kritik an der Medikalisierung, vielmehr geht es um ihre Ergänzung. Der „seelisch beeinflusste Körper“, die „sozialen Aspekte“ und auch die individuellen Lebensumstände und -führung seien im Umfeld von ungewollter Kinderlosigkeit „genauso wichtig wie der Erfolg selbst“. Diese Lebensumstände hätten in der Türkei relativ spät einen Platz in Debatten, Diskursen und Praktiken gefunden. Betont werden oft die positiven Effekte des Mit-Seins: „Was Menschen tun, ist das Wissen den anderen weiterzugeben, ihnen zu helfen sich zu orientieren. Da ist auch etwas dabei, was einem selbst hilft.“ Obgleich für viele Mediziner*innen und Patient*innen solche Gruppen und Betroffenen-Räume als sehr „eintönig“, „einsichtig“ und in ihrer Mitwirkung im Feld eher „parteiisch“ als „kritisch“ angesehen werden, wird auch wiederholt unterstrichen, dass dadurch eine große „Lücke“ gefüllt und „Mängel“ kompensiert werden. Eine der beratenden Ärzt*innen des Vereins argumentiert: „Vieles, was sie [die Patient*innen] uns nicht fragen, fragen sie sich dort über den Verein gegenseitig und sie fragen Personen, die im Verein aktiv sind. Dann füllen sie diesen fehlenden Beistand, diese psychologische Lücke damit, indem sie miteinander kommunizieren.“ Eine „die gleiche Sprache sprechende Gruppe von Menschen kommt dadurch zusammen (aynı dili konuşan insanlar grubu olur)“, argumentiert Dr. Tavmergen, die eine „angemessene Haltung“ mit erzeugt. Die Hoffnung ist also, dass eine Art Rationalität produziert wird, ohne die psychischen Frustrationen, Irritationen und manchmal „Irrationalitäten“ abzuwerten: „Menschen, die die gleichen Probleme haben, agieren gemeinsam, also nicht zur Machtdemonstration, sondern indem sie sich gegenseitig verstehen. Denn viele empfinden so, ‚warum ist es mir passiert, alle werden schwanger, die Leute machen Abtreibungen‘. ‚Ich bin so und so, was habe ich denn getan, dass ich so bestraft werde‘, ist die psychische Verfassung, in die sie geraten. Mit dem Engagement in solchen Gruppen, fühlen sie ‚Ich bin nicht allein. Ich muss also nicht gedemütigt werden, von der Gesellschaft oder von meiner Familie oder von einer anderen Person, manchmal von meiner Frau, manchmal von meinem Mann‘, oder Ähnliches sagen sie sich. Aus diesem Grund ist selbst das eine große Unterstützung für die Patienten und ihre Familien. [...] Vor allem können sie zu diesem Thema ein Bewusstsein schaffen. Also ein Mensch, der diese Sache durchgemacht hat, kann den anderen Menschen in dieser Sache ganz anders helfen. Zuallererst ist es ein positives Beispiel. Der Mensch gibt dir viel größere Hoffnung. Oder wenn er die Dinge er-
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zählt, die er erlebt hat, kann er verhindern, dass das Gegenüber unnötig hohe Erwartungen hat. Er kann seinen Mitbürger auf eine angemessenere Ebene bringen.“
Hier bildet sich ein Subjektbild ab, das sich selbst als Wissensressource betrachtet, selbstreflexiv über sich denkt und selbstverantwortlich wie informiert handelt. Die Gruppen sind Mitgestalter eines kollektiven Bewusstseins und zugleich eines körper- und erfahrungsbezogenen Wissens. Die individuellen Singularitäten und Besonderheiten werden dezidiert nützlich gemacht. Meine Gesprächspartner*innen extrahieren für sich selbst praktische Handlungsanweisungen aus dieser Wissensform. Sie nutzen diese Anweisungen beim Umgang mit Reproduktionstechnologien und bei ihren Vorstellungen über die Ursache, die Symptomatik und die Definitionen einerseits und über die biologischen Prozesse, die ihr Körper durchläuft. Dadurch glauben sie, die eventuellen Mängel im Medizinsystem eigenständig zu kompensieren bzw. ihre Behandlungen zu kontrollieren. Macht(ein)sichten: Expert*innen durch Erfahrung reproduktiven Biografiemanagements In ihren häufig langwierigen reproduktionsmedizinischen Behandlungswegen verändern Frauen und Männer also ihre Selbstverständnisse. Sie lernen in unterschiedlichen Situationen und Entscheidungszwängen ihre Körper-, Wissens- und Deutungspraktiken zu navigieren – und in einigen Fällen sogar mehrfach. Zu Beginn der Behandlung war das Paar „sehr unwissend“. Das „Allgemeinwissen über Reproduktion“, das sie mitbrachten, erwies sich bald als unzureichend. Als sie ein „Rezept mit einem Haufen Medikamente in die Hand gedrückt“ bekamen, stellten sie fest, dass sie beim Umgang mit Reproduktionsbehandlungen mehr Wissen benötigten. Durch die diagnostischen und behandlungstechnischen Informationen zu ihrem Problem herausgefordert, suchten sie von Anfang an Orientierungshilfe jenseits der klinischen Behandlungssettings. Beide beteiligten sich zunächst in den netzbasierten Austauschräumen für und von anderen Patient*innen und engagierten sich dann auch in anderen Aktivitäten von ÇİDER. Psycho-soziale und informative „Solidarität“ mit anderen Erfahrenen, für beide je unterschiedlich, half bei der Um- und Neudeutung des Wissens. Eine Neuorientierung folgte daraufhin, so dass sie sich als Paar als Teil einer vernetzten Unterstützungsgruppe und als Mitstreiter*innen empfanden. Die Erfahrungsschätze Betroffener haben sie dabei mit einbezogen und auch selbst zu ihrem Ausbau beigesteuert. Sie beschrieben eine über den sozialen und privaten Lebens- und Sinnbereich hinausgehende Bemächtigung. Sie haben sich aus unterschiedlichen Wissensquellen bedient und auf die Sichtweisen von anderen Betroffenen ein-
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gelassen. Diese basierten auf individuellen Problemlagen und lieferten dementsprechend subjektive, körperbezogene und psycho-soziale Erfahrungen. Sie gehören zu den Akteur*innen, die als „Erfahrene“ den „Nicht-Erfahrenen“ auf ihrem Kinderwunschweg begleiten. Sie beraten über die Behandlungsmöglichkeiten, vermitteln ihr Wissen darüber und teilen zudem ihre Vorstellungen über medizinische Fakten, moralische Fragen und Kontroversen sowie über die Gesellschaft, in der sie leben. Sie entwickeln eine Art „Expertise-durch-Erfahrung“5, und zwar, nicht nur über ihre eigene Lebenslage und Erfahrung sondern auch über die medizinischen Informationen und das Faktenwissen. Die Legitimität wird aus der langatmigen Auseinandersetzung und Interaktionen mit Reproduktionsmedizin geschöpft. Eine Interviewpartnerin begründete beispielsweise: „Na, wir zählen allmählich als kıdemli in Sachen Tüp Bebek“ (Ee biz kıdemli sayılırız artık). Im herkömmlichen Sinne ist kıdemli ein Adjektiv im Türkischen, das auf die Beschäftigungszeit und Erfahrung in einem spezifischen Bereich hindeutet. Als solche beschreiben sich einige aktuelle IVF-Nutzer*innen und Ehemalige, die bereits „langjährige Erfahrungen am eigenen Leib“ gemacht haben und „mittlerweile ein ausgeprägtes Fachwissen und großes Interesse in diesem Bereich“ vorweisen. Es sind also diejenigen, die eine langjährige Kinderwunschkarriere hinter sich haben und nun beanspruchen, als Expert*innen durch die eigene Erfahrung zu agieren. Dies deutet unmittelbar auf die prozessualen Selbsttransformationen in meinem Feld hin. Diese gehen unmittelbar mit den Erfahrungsgemeinschaften einher, die Neu-Positionierungen und -orientierungen der Patient*innen und Laien mit sich bringen. Ähnlich wie Sibel, Muko oder Kader, die ihren Kinderwunschprozess zu einer halb-professionellen NGO-Karriere überführten, agieren auch etliche andere Mitstreiter*innen, denen ich über die Jahre hinweg begegnet bin. Auch sie brachten eine derartige Selbsttransformation zum Ausdruck. Mir hilft die emische Beschreibung kıdemli, die Beziehungen der Protagonist*innen als Laien und „Laienexpert*innen“ zu vermeiden, welche ohnehin innerhalb der Medizinanthropologie problematisch angesehen werden (Collins/Evans 2002, Kerr et al. 2007). Diese weist m.E. auf die neuen Macht-Wissen-Konstellationen hin, die Betroffenenkontexte ausmachen. Die Expertise-durch-Erfahrung ist eine hybride Form. Sie basiert auf einer „Wissensbricolage“ bzw. einem „Zusammengereimten“ (Warneken 2006: 109) von angeeignetem medizinischem Expert*innen5
An dieser Stelle möchte ich mich bei Martina Klausner, Sabrina Mutz und Stefan Beck für den gemeinsamen Vortrag „Expertise und Erfahrung: eine Diskussion um epistemische Grenzziehungen“ bedanken. Dieser wurde im Rahmen des Kolloquiums vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin: „Zirkulierendes Wissen. Epistemologische Positionen in der Europäischen Ethnologie“ am 29.11.2011 gehalten.
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wissen, aus subjektiver Erfahrung extrahierten Informationen, Ideen und Überzeugungen und den im selbsthilfe-ähnlichen Kontexten zirkulierenden Informationen und Erfahrungswissen. Obgleich ihre Relevanz für diejenigen, die intendiert nach subjektivem und situiertem Erfahrungswissen suchen, immer reflexiv angedeutet wird, wird ihr eine gewisse erfahrungsbasierte Autorität zuerkannt und zugeschrieben. Sie umfasst also nicht nur formelle, techno-wissenschaftliche und klinische Aspekte der geteilten Erfahrung, sondern macht, wie oben angedeutet, auch soziale, kulturelle, kontextuelle und genderspezifische Verstrickungen im Umgang mit Medizin sichtbar. Die Selbstexpertisierung setzt die alles durchdringende Deutungsund Handlungshoheit von professionellem Expert*innenwissen vielleicht nicht unbedingt außer Kraft, stellt sie jedoch infrage, fordert sie heraus und ergänzt sie. Herr Tıknaz betonte in diesem Zusammenhang, dass Menschen auf der Suche nach „lebendigen Wissensressourcen“ seien, nach authentischem Erfahrungswissen und „lebendigen Beispielen, aus denen die anderen [Betroffenen] etwas lernen können“. Er bringt seine Erfahrungsexpertise in den Internetforen und anderweitig ein: „Das Wertvolle dabei ist, dass die Informationen, die ich weitergebe, durch jahrelange Erfahrungen gesammelt und gefiltert werden. Ich erzähle da, was ich erlebt habe und wie ich es erlebt habe. Ich habe viele Menschen kennengelernt und viele Menschen gehört. Vielleicht, weil ich etwas aktiver im Internet war. Ich habe von vielen Menschen viele Dinge gehört. Diese Dinge decken sich halt mit dem Wissen. Es gibt allerdings eine sehr dünne Linie zwischen Wissen und Besserwisserei. Also Sie können bestimmte Dinge wissen, Hauptsache ist, Sie müssen ihren Arzt gut auswählen. Danach müssen Sie das, was der Arzt sagt, Sie müssen eine Erklärung von dem Arzt verlangen. Das ist Ihr Recht. Und der Arzt muss es erklären. Wenn er das nicht erklären kann, kann dieser Arzt sowieso nicht mein Arzt sein. Ich habe halt niemals... also ich erzähle zwar, aber ich sage immer vergleicht Euch selbst niemals mit anderen Freunden. Also vergleicht euch nicht eins zu eins. Jeder Körper ist anders, jeder Mensch ist anders. Die Antwort, die der Körper gibt, ist anders. Also warum wird da dieses Medikament und hier jenes Medikament verwendet. Meistens ähneln die Verwendungen der Medikamente sich sowieso, aber ich sage: ‚Entscheidet euch für einen guten Arzt und vertraut eurem Arzt‘.“
Berna Tekin ist eine von vielen Ehemaligen, die ihre Erfahrungen anderen zur Verfügung stellt: „Ich sage es ganz ehrlich, ich bin keine Psychologin oder vielleicht bin ich nicht so kompetent für diese Sache, vielleicht nicht, und ich habe verglichen mit dem, was viele Menschen durchmachen, vielleicht sehr wenig er-
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lebt.“ Nichtdestotrotz schreibt sie Erfahrungswissen, auch dem eigenen, erhebliche Bedeutung zu: „Diesen Menschen als Verein zu erzählen, ‚Seht ihr, dieses arme Mädchen hat diese Sachen durchgemacht, kommt, fragen wir noch jemand anderes, was er/sie gemacht hat.‘ [...] Es ist wirklich eine sehr mühsame Sache, das sage ich beharrlich, es ist finanziell und emotional eine sehr anstrengende Sache, aber es ist auf keinen Fall etwas, wovor man viel Angst haben, traurig sein oder sich verstecken muss, das ist es auf keinen Fall. ‚Schaut‘, sage ich Ihnen, ‚mein Name ist so, ich habe das durchgemacht, man braucht das nicht so zu übertreiben‘; ich gebe da, wo es nötig ist, soviel Unterstützung, wie es nötig ist. Also nicht auf die Altweiber-Art (koca karı, abwertend die traditionellen und alternativen Heilerinnen) oder mit Informationen vom Hörensagen, sondern eins zu eins, ‚seht, das und das habe ich gemacht, erlebt, es hat nichts damit zu tun‘.“
Auch das Paar Durmaz gehört allein aufgrund seiner zehn aufeinander folgenden Behandlungen zu den kıdemli Patient*innen. Sie haben viel mehr hinter sich gebracht als viele „durchschnittliche IVF-Patient*innen durchmachen“. In unseren Interviews, die ich in regelmäßigen Abständen führte, erzählten sie: „Wir haben es so weit gebracht, dass wir beide darüber Bücher schreiben können.“ Herr Durmaz führte „Excel-Tabellen zu den wöchentlichen Schwankungen der Östrogen-Hormone“ seiner Frau. Nach den zahlreichen „Misserfolgen“ und „Fehlschlägen“, die bei dem Paar eine deutliche Skepsis gegenüber der Medizin und besonders dem paternalistischen und kompetitiven Markt der IVF-Medizin auslösten, fühlten sie sich dazu gezwungen. Jedes Mal waren beide emotional aufgeladen und reflektierten kritisch darüber, wie die „Mentalität“ der Ärzt*innen und Kliniken mit ihrer Behandlungslogik bei ihnen ein beinahe „obsessiv gewordenes Weitermachen“ kreierte. Sie recherchierten selbst über die möglichen Optimierungs- und Verbesserungstechniken auf türkischen und englischen Webseiten, in der medizinischen Literatur und in den Foren für Betroffene und eigneten sich nicht nur ausreichend Informationen, sondern auch eine Handlungs- und Deutungsmacht an, die sie in ihren Behandlungsalltag einbrachten. Sie zogen die Ärzt*innen zur Rechenschaft, etwa „wieso das und dies nicht gemacht wurde“, diskutierten über diverse Möglichkeiten, Medikamentendosierung, Hormonwerte usw. Für Frau Durmaz stand fest: „Ich kann es nicht machen, ohne irgendetwas darüber zu wissen. Das ist nicht nur aus Misstrauen gegenüber dem Arzt [...] In Ordnung, vielleicht haben wir keine gynäkologische Ausbildung, können keine Medikamente verabreichen, aber während ich so viele Möglichkeiten in der Hand habe, so viele medizinischen Informationen, kann ich ja wohl
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selbst an zwei Informationen kommen? Natürlich hinterfrage ich, ob der Arzt es richtig gemacht hat oder nicht. Warum? Es gibt jeden Tag neue Entwicklungen.“
Auch Aynur Teksoycan hat sich zur „Expertin“ gemacht. Aufgrund immer wiederkehrender Erfolglosigkeit und Fehlschläge fühlte sie sich dazu gezwungen, eine unabhängige und eigenständige Wissensarbeit zu leisten. Sie lernte die fachlichen Diagnosen und Prognosen zu beurteilen. Ihr Erfahrungswissen half ihr dabei. Sie wusste bereits, dass ihr „Körper spät [auf die Behandlung mit Hormonspritzen] reagiert“. Dieses Wissen ermutigte sie dazu, sich gegen den medizinischen Rat zu entscheiden und die Behandlung nicht abzubrechen. Sie forderte vielmehr: „10 Tage höchste Dosis, 450 cc [pro Spritze], Gonal F [Medikament zur Stimulation der Eierstöcke im Rahmen der Kinderwunschbehandlung] und normalerweise verwenden die Menschen 450 cc für 3 Spritzen“: „Ich bin eigentlich vom Charakter auch ein Typ, der forscht, wenn mich etwas interessiert, dann erforsche ich das bis zum tiefsten Punkt; inzwischen habe ich mir unbewusst ein ernsthaftes Wissen darüber angeeignet, was Endometriose ist, welche Tests gemacht werden, unter welchen Umständen was passiert; ÇİDER hat einen großen Beitrag für mich geleistet. [...] Ich habe vielleicht nicht Medizin studiert, aber ich weiß mehr als mein Arzt über die aktuellen Forschungen [zur Endometriose] [...] Du recherchierst schließlich ständig, um dieses Problem zu überwinden; wenn du dir die Vereins-Websiteforen ansiehst, gibt es Leute, die ständig etwas schreiben, etwas finden; wir schauen uns die Entwicklungen an, zum Beispiel habe ich als letztes erfahren, was die Endometriose im Immunsystem verursacht. Die Endometriose Zyste; das Immunsystem des Menschen ist sehr stark und nimmt alles, was in den Körper kommt direkt als Gefahr wahr und greift an und in Amerika gab es eine Untersuchung dazu, dass das der Grund ist, wieso es nach dem Transfer nicht hält, wie es bei mir war. Ich bin zum Arzt gegangen und habe gesagt, zum Arzt, bei dem ich als letztes war; ‚Nun es gibt so etwas, was sagst du?‘... Er konnte nichts sagen, da ich dieses Thema vor ihm wusste.“
Derartige Narrative beschreiben mehr als eine simple Wissensaneignung. Sie stehen auch für die Herausforderung der paternalistischen Strukturen und die alleinige Deutungsmacht der Mediziner*innen. Viele Protagonist*innen meiner Studie lernten viel im Behandlungsprozess aus ihren biografischen Brüchen und Irritationen, wie auch aus den langwierigen Aushandlungen mit Mediziner*innen und deren Expert*innenwissen über ihren eigenen Körper. Zudem schildern sie qualitativ neuartige Beziehungen zwischen Ärzt*in und Patient*in, wobei viele Ärzt*innen diese mit Zurückhaltung betrachten. Viele argumentierten, dass durch das Erfahrungswissen eher eine Unsicherheit erzeugt wird und das Ver-
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trauen in die Behandlungen und Fachmeinungen schwinden lässt. Im Grunde werden Betroffene nur dann als Expert*innen angesehen, wenn sie über ihr soziales Leiden reden. Die in diesem Gesamtkapitel analysierten Gruppenpraktiken führen in Anlehnung an die Soziologin Madeleine Akrich (2010) zur Entstehung einer „community of experience“. Besonders die netzbasierte Kommunikation und die Vernetzungsmöglichkeit tragen dazu bei. Darauf gehe ich im Kapitel 5 detailliert ein. Sie verwandeln die subjektiven Biografien, Erfahrungen und das Körperwissen in eine Wissens- und Informationsressource und erzeugen eine „gelebte Normalität“ (Salman/Assies 2010). Die imaginäre und lose Community von IVF-Nutzer*innen wird neu konstituiert, so zeigt es dieses Kapitel, um noch einmal mit Akrich zu argumentieren, durch „engaging them collectively in a process of transformation“. Zentral sind dabei „shared experience – defined both by a common experience all users have known and the fact that they are sharing this experience with others – forms the backdrop on which these exchanges are built“ (2010: 8). Die Erfahrungsgemeinschaften dieser Art haben zwar einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Handlungs- und Deutungsweisen der Patient*innen, befinden sich dabei jedoch häufig in einem „vielschichtigen, heterogenen und teilweise widersprüchlichen Geflecht von (Makro-)Strategien, Diskursen und Interessenlagen unterschiedlicher wirtschaftlicher und professioneller Akteure“ (Wehling et al. 2007: 560). Diese stellen also nicht bloß selbstermächtigende Settings dar. Wichtiger ist, dass sie neue Verhältnisse zwischen Erfahrung, Kultur, Identität, Politik und Macht generieren (vgl. Bernstein 2005). Ich habe in diesem Kapitel aufgezeigt, wie individuelle Narrative strategisch für eine flexive Selbst-Normalisierung genutzt werden. Gleichzeitig führen sie zur Entstehung neuer Kollektive, indem sie die individuell-familiären Erfahrungen als mit-geteilte Erfahrungen neu definieren und formen. Im türkischen Kontext haben sie zu einer öffentlichen Sichtbarkeit der Infertilität und der Reproduktionstechnologien beigesteuert. Sie beeinflussen die individuellen und familiären Praktiken der Selbst-Offenbarung und Verheimlichung sowie den Umgang mit Problemlagen in der Privatsphäre. Die Besonderheit dieser Narrative sehe ich darin, dass sie eine Kultur der reproduktionsbiografischen Mit-Teilung (paylaşma) prägen. Paylaşma(k), Teilen und Mitteilen, steht in meiner Studie zum einen für die selbstoffenbarenden Wissenspraktiken der Protagonist*innen. Zum anderen umfasst der Begriff die in den Selbsthilfekontexten hergestellten Ideen über das Gemeinsame, d.h. über das, was sie glauben, miteinander körperlich, psychosozial und reproduktionsmedizinisch zu teilen bzw. in ähnlicher Art und Weise zu durchlaufen. Transparenz, die scheinbar um das Private herum erzeugt wird, beinhaltet aber immer auch eine Kehrseite. So hat mein Material ge-
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zeigt, dass die Mit-Teilungskultur zugleich ihre eigenen Schweigsamkeiten produziert. Es geht schlussendlich darum, was als Sagbar und Nicht-Sagbar gilt. Es hängt auch unmittelbar mit den Spielräumen innerhalb der familiären und individuellen Strategien der Kinderwunschwege zusammen, die bestehen oder neu eröffnet werden. Einige dieser Strategien, sowohl kollektive als auch individuelle, hat dieses Kapitel erkundet. Besonders ging es der Frage nach, wie diese Wege navigiert und in den konservativen Erfahrungsfeldern der Familien, Paarbeziehungen und Nachbarschaften sowie in den paternalistischen Settings der Medizin ausgefochten und verhandelt werden. Eine derartige Kultur der MitTeilung ist besonders im Kontext der Reproduktion geschlechtsspezifisch relativ unfair und fördert unterschiedliche Selbst-Positionierungen. Im nächsten Kapitel „Technologien des Geschlechts“ lege ich den Fokus gerade auf diese Thematik. Ich analysiere die geschlechtsspezifischen Aushandlungen der heterosexuellen und ungewollt kinderlosen Frauen und Männer aus der (meist) städtischen Mittelschicht im reproduktionsmedizinischen und -biografischen Kontext. Ich frage danach, wie für sie der reproduktionsmedizinische Raum zu einem Ort der Verhandlungen ihrer Gender-Arbeit wird und wie sie diese managen. Teil einer erfahrungsbasierten Gemeinschaft, ein*e Mitstreiter*in, zu sein, ist für viele eine Strategie des eigenen Wissensmanagements. Sie identifizieren sich mit der Gruppe und generell mit dem von den Selbsthilfegruppen nahegelegten Selbstaktivierungsmodus. Damit beteiligen sie sich am Informationsfluss zwischen Medizin, Märkten und Gesellschaft. Die individuellen Erfahrungen und das daraus entstandene subjektive Erfahrungswissen werden in die Herstellung von Reproduktions- und Behandlungsregimen zurückgespeist bzw. dort aktiv eingebaut. Damit geht eine Verstärkung der neoliberalen Imperative und Diskurse von Selbstverantwortlichkeit, Ermächtigung und Selbstaktivierung einher.
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Technologien des Geschlechts Situierte Aushandlungen und Männlichkeiten
Reproduktionstechnologien fungieren als Pfade zum heteronormativen Geschlecht. Zugleich fordern sie die tradierten Geschlechterrollen und die herrschenden Vorstellungen von Geschlechteridentitäten heraus. Den Männern und Frauen wird von der Reproduktionsmedizin eine geschlechtsspezifische Wissensarbeit abverlangt. Im Umgang mit reproduktiven Erfahrungen, die individuell und gesellschaftlich als krisenhaft empfunden werden, nimmt diese Wissensarbeit variable und manchmal ganz pragmatische Züge an. Dabei können die tradierten Rollen verfestigt oder auch herausgefordert werden. Die Reproduktionsmedizin erzeugt, so zeigte Charis Thompson (2005), eine performative Parodie der heteronormativen und traditionellen Geschlechterrollen. Da die Behandlungen sich primär auf den Frauenkörper fokussieren, würden Männer als „ejakulierende Apparate zu ihren Partnerinnen choreografiert“ (ebd.:128). Das reproduktionsmedizinische Feld bietet also ein ganz spezifisches Terrain, welches primär als weiblich dominiert konstruiert ist. Die heterosexuellen Männer und Frauen, denen ich während meiner Forschung in den Kliniken und in den Selbsthilfekontexten begegnete, sind damit konfrontiert, dass Reproduktion – ob ‚assistiert‘ oder nicht – in der patriarchalen Gesellschaft wie der Türkischen gewöhnlich als eine Sache der Frauen gilt. Mein empirisches Material aus verschiedenen Forschungssites – Kliniken und Selbsthilfekontexten wie ÇİDER – verdeutlicht, wie Weiblichkeit(en) und Männlichkeit(en) konstituiert und performativ ausgehandelt werden (Becker 2000). Dieses Kapitel analysiert die situierten Wissensarbeiten in diesem spezifischen Terrain. Zunächst fokussiere ich darauf, wie die zugewiesenen Rollen für Frauen und Männer im reproduktionsmedizinischen Behandlungskontext an- und umgedeutet werden. Danach analysiere ich die Erfahrungen der Männer, die sie durchlaufen. Auf die ausge-
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handelten Männlichkeiten gehe ich ein, die in diesem feminisierten Terrain stark ausgeprägt, aber wenig sichtbar sind. Ich richte meinen Blick besonders auf die vernetzten Räume der Selbsthilfe, die zwar relativ eindeutig (noch) von Frauen okkupiert, dennoch auch Platz für Männererfahrungen und Männlichkeiten eröffnen.
4.1 ALTE ROLLEN IN NEUEM GEWAND? – ODER PRONATALISTISCHE VERSCHIEBUNG IN TRADIERTEN GESCHLECHTERORDNUNGEN „Ganz egal, bei wem das Problem liegt“, so deuten viele meiner Interviewpartner*innen, „konzentriert sich das Ganze wirklich die ganze Zeit auf die Frau. Es ist eine Behandlungsart, in der die Frau die ganze Arbeit hat und sehr stark und gefestigt sein muss.“ Verglichen mit der Rolle und der Involviertheit der Männer steht die Frau das größere Ausmaß an Eingriffen durch. Von hormoneller Stimulation, die durch tägliches Selbst-Spritzen in den Bauch erfolgt, bis zur Eizellenentnahme unter Narkose und dem Embryonentransfer wird der Körper der Frau durch medikamentöse und operative Eingriffe belastet. Die reproduktiven Funktionen und Substanzen werden einer ständigen Beobachtung unterzogen, wobei es um den sogenannten weiblichen Körperrhythmus von Eisprung, Eireifung und FSH-Hormonwerten geht. Im Vorfeld wird der Körper der Frau – besonders rahim, der Uterus – als das für den Behandlungsvorgang zu „fixierende“ Problem definiert. Rahim wird häufig, sowohl von den Behandelten als auch von den Behandelnden, mit einer gängigen, agrarisch konnotierten Metapher als tarla bezeichnet. Reden Männer und Frauen über Empfängnis und Reproduktion, zeigt sich die kulturelle Logik des penetrierten Körpers der Frau durch tohum, penetrierende und Lebenerzeugende Samen. Die Interviewpartnerin Berktan, die nach zwei hintereinander folgenden ICSI-Behandlungen mit 38 Jahren Zwillinge bekam, dachte nach ihrer Erstuntersuchung: „Das Feld der Frau, also die Gebärmutter, ist von großer Bedeutung für das Einpflanzen. Beim Mann dagegen genügt schon ein einziges Spermium.“ Das klingt für Anthropolog*innen, die in der Türkei forschen, nach einem Echo der „Seed and Soil“-Theorie (Tohum ve Toprak) der Anthropologin Carol Delenay (1991). Diese Metapher weißt auf die geschlechtsspezifischen Rollen in der Zeugung hin, die Delaney in ihrer bekannten Ethnografie in einem türkischen Dorf analysierte. Nach altem Volksglauben kommen Kinder vom tohum (Samen) und der Samen kommt vom Mann. Toprak symbolisiert dabei den Boden, der durch einen Samen befruchtet wird. Beim Vollzug des Einpflanzens,
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was im türkischen dölle(n)mek heißt, ist der Samen als alleiniger Verantwortlicher und „Erzeuger“ konnotiert. Der Samen des Mannes hat demnach eine entscheidende Rolle bei der Befruchtung, während die Rolle der Frau darin gesehen wird, den ernährenden Boden zur Einnistung des Embryos bereit zu stellen. Feld und Samen sind zwei gängige Metaphern im Kontext der IVF/ICSI-Behandlungen und in Erzählungen meiner Interviewpartner*innen. Im herkömmlichen Sinne interpretiert, ist hier das Feld passiv und wird durch ein einziges aktives Spermium penetriert. Dies harmonisiert mit den bislang universal zu gelten scheinenden techno-medizinischen Konstruktionen aus passiver Eizelle und aktivem Spermium (Martin 1991). Die Metaphern, wodurch Menschen die Reproduktionsprozesse erklären, sind zwar erhalten geblieben, ihre Bedeutungsinhalte und symbolischen Werte haben sich jedoch geändert. Im Umgang mit den biomedizinischen Praxen und Wissen lassen sich signifikante Verschiebungen feststellen, welche Körper wie überhaupt problematisiert werden bzw. welche Körperteile und Substanzen zu medizinisch behandelbaren Problemen gemacht werden. Im Grunde wird eine extrakorporale Gameteninteraktion medizinisch und technisch assistiert, d. h. eine außerhalb des Körpers stattfindende Befruchtung einer Eizelle durch ein einzelnes präpariertes Spermium im Labor. Dann wird/werden die befruchtete(n) Eizelle(n) in den Uterus transferiert, ins Feld also, das meist nur als Empfänger und Träger des Fötus gedacht wird. Ihre biomedizinischen Konstruktionen im Sinne von Martin überlappen sich mit den alltäglichen Mustern (Georges 2008). Gegen Ende meiner Feldforschung nahm ich an einer Informationsveranstaltung teil, bei der der vortragende Mediziner ein gemischtes Publikum von Frauen und Männern über die „Naturgesetze“ der Reproduktion und die Praxis von IVF/ICSI aufklärte. Anhand einer tausendfach vergrößerten Aufnahme auf der Leinwand beschrieb er die „geheimnisvolle, nun enthüllte Macht der Eizelle“ und redete über den für die Wissenschaft noch einigermaßen geheimnisvollen „Wunderprozess“, in dem sich der Frauenkörper auf die Befruchtung vorbereitet. Früher hätte man das – in der Gesellschaft und in der Medizin – anders eingeschätzt, so kommentierte er gegenüber dem Publikum, nämlich, dass man durch die Reproduktionsmedizin eher den Uterus ersetzen würde. Spätestens mit der Einführung von ICSI, bei der ein einziges Spermium direkt mit Hilfe einer Pinzette in die Eizelle eingespritzt wird, wäre die naturgemäße Macht der Eizelle entkräftet. Nun wüsste man aber genauer, „was in diesem Prozess auf der chemischen und biologischen Ebene passiert“. Wenig später warf er ein neues Bild auf die Leinwand. Hier wurde der reproduktive Vorgang visuell dargestellt. Zu sehen waren der Uterus, die Eileiter (tüpler), die Eizellen und Eierstöcke (yumurta und yumurtalıklar), die auf ihre „Auffälligkeiten“, ihre „als Makel geltenden Zu-
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stände“ hin untersucht werden. So stehe dieses Bild „im Mittelpunkt des Ganzen“, so „wird es als Ganzes betrachtet und behandelt“. Bei Männern beschäftigen sich die diagnostischen und auch weitgehend therapeutischen Verfahren eher auf der Ebene von Körpersubstanzen. Entscheidend sind Samenzellen, die durch Masturbieren gewonnen und per Spermiogramm auf Qualität, Quantität und Beweglichkeit geprüft werden. Im Fall von männlicher Infertilität, so trägt er weiter vor, gebe es operative und mikrochirurgische Verfahren wie die Mikro-TESE, bei der die Spermien direkt dem Hodengewebe entnommen werden. Als medizinisches Problem definiert er aber am Ende: „Wenn das Feld (tarla) nicht geeignet ist, können sie geben, was sie wollen, es wird nicht halten.“ Abbildung 2: „Geheimnisvolle, nun enthüllte Macht der Eizelle“
Quelle: Feldforschungsmaterial Aus dem Vortrag eines Arztes während einer Veranstaltung
In der Analyse meines Materials bezüglich der Wissens- und Geschlechterarbeit, besonders der Rolle der Männlichkeit, kam ich immer wieder auf diesen Satz zurück. Diese Betrachtungsweise knüpft zweifelsfrei an patriarchale Gesellschaftsstrukturen an, die Reproduktion und Unfruchtbarkeit als weibliche Dominanzund Responsibilitätsbereiche rahmen. Infertilität wird als „Sache der Frau“ definiert, wie bereits angedeutet, bei der der Körper der Frau im Mittelpunkt der Behandlungen steht. Dabei scheint die Rolle des Mannes im reproduktionsmedizinischen Feld eine gewisse Reduzierung auf die des „Spermiengebers (sperm veren)“ zu erfahren (Inhorn et al. 2009). In der Reproduktionsmedizin geht es um „technisch und medizinisch hergestellte Optimierung“ und „Vorbereitung der Gebärmutter, der Eizellen- und Samenzellen für Befruchtung“; so wurde es mir von Embryolog*innen während meiner Hospitationen in Kliniken und Embryologie-Laboren „vorgeführt“. Im Labor werden die Keimzellen gereinigt und nach diversen Kriterien selektiert. Das Spermium wird in erster Linie nach Beweglichkeit und Aussehen begutachtet und gewählt. Das Routineverfahren, besteht darin, dass das „Spermium mit einem Schlag durch eine Pinzette unbeweg-
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lich gemacht“ wird. Im Andrologie-Labor der IVF-Klinik, in der ich hospitierte, machen die Embryologinnen und die ihnen helfenden Andrologie-Assistentinnen Witze darüber: Durch die Pinzette werde ein „Anschlag auf die Männlichkeit“ verübt. Dem Spermium, das die Pellucida, die das Ei umgebende Hülle, durch seine Beweglichkeit und Kraft penetriere, werde diese Rolle nun weggenommen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede kommen auch in dem folgenden Zitat aus einem Arztinterview zum Ausdruck: „Was das Gebären und Mutter werden angeht, trifft die Frau die Entscheidungen, die Frau realisiert sie, die Frau führt sie durch und bringt sie zu Ende; der Mann nimmt hier nur eine begrenzte Rolle ein. Der Mann hat keine andere Position. [...] Die Frau ist es, deren Existenzgrund auf dieser Welt im Gebären liegt und die dazu fähig ist; die Frau ist es, die sich zu dieser Sache entscheidet. [...] das Dasein der Frau ist wesentlich, die Frau ist darauf programmiert. Die Frau trifft die Entscheidung [und] führt diese Sache. [...] der Mann ist nur Geber von Spermien, der Mann hat keine andere Besonderheit. Der Mann ist nur ein Spermiengeber.“
Dies ist eine Annahme, die durchaus von vielen geteilt wird. In solchen Aussagen werden zugleich signifikante Verschiebungen des lokal kulturellen Verständnisses markiert, die wir seit der Ethnografie von Delaney kennen. Bei der Kreierung und Inszenierung von Mann- oder Frausein werden nicht nur sozial unterschiedlich situierte, sondern auch gerade biologisch anders ausgerüstete und privilegierte Rollen in der Reproduktion hervorgehoben. Der Frauenkörper verberge „etwas Unberechenbares“ in sich, er habe ein „natur-“ und „gottgegebenes Privileg wie die Gebärfähigkeit“, die Frau würde „von Natur aus eine Macht besitzen, über die Reproduktion zu entscheiden“, teilte mir ein Arzt seine subjektive Meinung mit. Aus dieser Perspektive unterstützt die Reproduktionsmedizin lediglich die „biologisch“ bereits vorhandenen Voraussetzungen der Natur und der damit vergeschlechtlichten konstruierten Rolle in der Fortpflanzungsmedizin. Der Frauenkörper, „ein mächtiges, aber formbares Symbol, wird unvermeidlich zu einem Forum“ (Lock 2002: 284). In der klinischen Praxis wird dieser Frauenkörper zu einem Hybrid-Patient und die Kategorie „Patient“ erfährt eine Unschärfe (Van der Ploeg 2004). Im Verlauf einer Behandlung wird unklar, wer als Patient*in definiert wird bzw. gilt und auf wessen körperlichen Zuständen hin diese implementiert werden. Dabei wird die*der Patient*in vage und subsumiert sich unter der Kategorie: das Paar. Van der Ploeg hat beispielsweise gezeigt, dass die Körper und auch Substanzen von Frauen und Männern sich also miteinander vermischen und zu Hybriden werden. In Folge der IVF/ICSI-Behandlungen entstehen zugleich neue Hybride – wie Embryonen und Föten. Auch
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in den Erzählungen von Alltagsverständnissen tauchen diese Hybriden öfter auf. Frauen und Männer, mit denen ich in den Kliniken und Selbsthilfegruppen zu tun hatte, greifen die Verschiebungen und Unschärfen auf und beschreiben ein Problemwerden in ihren alltäglichen Konfrontationen und Erlebnissen im Behandlungskontext. Es kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die vergeschlechtlichten Responsibilitäten sich gänzlich neu arrangieren. In einigen Narrativen wird dennoch ein Potential für eine Neuordnung der Geschlechterhierarchien konstatiert. Reproduktionsmedizin bietet nicht nur eine „Chance zum Wunschkind“ oder einen Pfad zu heteronormativen Geschlechteridentitäten und Familienmodellen (vgl. Jennings 2010). Im Umgang mit ihnen entstehen auch neue Erklärungsweisen über das Nichterfüllen der Normen, von den als „Defizit“ stigmatisierten und empfundenen biologischen Zuständen der Infertilität. Auch die Zuschreibungen von reproduktiven Geschlechterrollen ändern sich. Damit geht auch die Herausforderung für Frauen und Männer – selbst voneinander völlig unterschiedlich – einher, „to try harder than ever to perform and norm gender“ (Thompson 2005: 118). Behandlungen verlangen einen partikularen „weiblichen Einsatz“ (Franklin 1997: 125) – körperlich, emotional und sozio-psychologisch. Im türkischen Diskursraum, in dem ich mich bewegte, wird ein kämpferisch konnotierter Einsatz viel stärker thematisiert. Frauen werden als „wahre Patientinnen“ und Betroffene bezeichnet, deren Körper, Psyche und Alltage in Leid und Mitleid (gerade im Falle von männlicher Infertilität) gezogen werden. Sie würden die ganze Last „an Leib und Seele erfahren“ – in einem viel größeren Ausmaß als die Männer. Frauen sehen sich in der „Hauptrolle“ im „Kampf um das gewünschte Kind“. Im klinischen und reproduktionsbiografischen Zusammenhang wird den Männern eine „Begleiter-Rolle (refakatçı)“ zugewiesen. Ihr körperlicher Einsatz wird nicht selten darauf reduziert, bloß „Spermiengeber“ zu sein, wie ich später im Detail ausführe. Dabei werden vielschichtige körperliche wie psycho-soziale Erfahrungen unsichtbar gemacht. Für das Ausbleiben der gewünschten Schwangerschaft gebe es drei Gründe, so behauptet der Patient Herr Durmaz im Interview mit mir: „Erstens kann es etwas mit dem Mann und den Spermien zu tun haben; zweitens, und am grundlegendsten, mit den Eizellen der Frau und drittens mit der Gebärmutter der Frau. Das Problem liegt unter der Gebärmutter, die meisten Probleme liegen bei den Frauen in dem Bereich der Gebärmutter. Das Gebärmutterinnere kann man sich wie die Blackbox in einem Flugzeug vorstellen. Es nimmt auf, schließt wieder und trifft dann die Entscheidung. Nun, die Härchen etc. an der Gebärmutter meiner Frau sind fantastisch. So sagte auch der Arzt, wenn er es einführt, ich habe ihm genau zugehört, es habe sich sofort geschlossen, die Gebärmutter, also so sehr... die Härchen anderer Frauen sind etwa ein Zentimeter lang,
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im Vergleich sind die von meiner Frau länger als ein Zentimeter. Das Gebärmutterinnere ist sehr sauber. Da kann es [der Embryo] sehr gut einnisten und nähren.“
Trotzdem habe das Paar es „nicht geschafft“ und musste sich insgesamt zehn „erfolglosen“ IVF-Behandlungen und einer Behandlung per Eizellenspende unterziehen. Tagtäglich musste er beobachten, wie seine Frau seelisch und körperlich darunter gelitten hat. „Ihre Anatomie hat sich durch die volle Belastung mit Medikamenten verändert, da man mit einem Haufen Hormonen vollgepumpt wird“, erklärt er. Er selbst fühlt sich – wie viele andere Männer – nicht nur im Behandlungsprozess „draußen“ und „ausgeschlossen“, sondern auch den „Naturgesetzen“ unterlegen. Für seine Frau Pelin wurde es eindeutig zu einem Kampf um ihre Weiblichkeit. Trotz all ihrer Widerstandkräfte war sie doch immer wieder verzweifelt darüber, dass sie als Frau in der Gesellschaft als mangelhaft (kusurlu) und wertlos (değersiz) bewertet wurde: „Wenn ich jetzt darüber nachdenke und eine Selbstkritik über meine eigene seelische Gesundheit ausübe, ging es damals nur darum, schwanger zu werden, als würdest du dir selbst etwas beweisen wollen. So, als würdest du dir selbst beweisen, dass du eine Frau bist. Fast um der Gesellschaft die Nachricht zu geben: ‚Ich bin auch eine Frau, ich bin auch irgendwas.‘ [...] Ich war eine Zeitlang so paranoid. Es ist ein besonderer psychischer Zustand, du siehst es als einen Kampf an und je mehr du verlierst, umso mehr verspürst du den Wunsch zu gewinnen.“
Mutter-Sein wird als eine zentrale und normative Eigenschaft der weiblichen Identität verstanden. In meinen Interviews werden oftmals ein biologisch bedingter Wille zum Mutter-Werden, eine „körperliche“ und „weibliche Sehnsucht nach dem Gebären“ und der „Mutterinstinkt“ thematisiert. Medizinische und populäre Definitionen und Wahrnehmungen des reproduktiven Körpers der Frauen beeinträchtigen dieses Bild. Frauen begegnen gewissen Normalitätsvorstellungen und Erwartungshaltungen in der Gesellschaft, in ihrem sozialen Umfeld und auch durch den diskursiven Raum der Reproduktionsmedizin, die allesamt erweiterten Druck erzeugen, „alles zu tun, um Mutter zu werden“. Die Reproduktion wird als ein sehr starker Teil der Selbstverwirklichung der Frauen repräsentiert. In Betroffenengruppen wie ÇİDER gibt es durchaus Kritik daran, trotzdem wird diese vielfältig reproduziert. Der als einzelgängerisch entworfene Kinderwunschkampf der Frauen wird als Teil weiblicher Identitäten konstituiert. In der heroisch dargestellten Geschichte der ÇİDER-Leiterin Sibel ist dies ersichtlich. Ihre erfolgreiche Reproduktionsbiografie wird als Symbol resoluter Weiblichkeit und [werdender] Mutterschaft markiert. „Eine Frau zu sein und diese Sache zu
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erleben ist etwas anderes“, sagt sie und fügt hinzu: „Man verwendet zwar das Wort ‚Paar‘, aber sogar die Person, die Sie als ihre andere Hälfte bezeichnen, versteht in dieser Situation Ihre Gefühle nicht.“ Damit wird eine erweiterte patriarchale Wirkung markiert, besonders in einer normativen, pronatalistischen und kinderzentrierten Erfahrungsumgebung. Frauen wie sie stellen sich oft auch als Aktivistinnen ihrer eigenen Reproduktionsbiografien und Kinderwunsch-Karrieren dar. Die unmittelbare sozio-psychische und körperliche Betroffenheit der Frauen – selbst im Fall von männlicher Infertilität – wird von meinen Interviewpartner*innen wiederholt thematisiert und gilt auch im sozialen Umfeld als anerkannt. In vielen Interviews geht es um die ungleich verteilten Responsibilitäten in der Reproduktionsbiografie: „Der ganze [Kinderwunsch-]Prozess und alles, was die Behandlungen betrifft, hängt immer von den Frauen ab. Sie müssen viel investieren, verglichen mit Männern, die sich ja meist in der luxuriösen Lage befinden, alles der Frau zu überlassen. Denn der Mann wird ja während dieser Behandlungen im Grunde nur gebraucht, wenn er Spermien abgeben muss oder wenn das Problem beim Mann liegt. Sonst geht es ja immer nur um die Frau.“
Dieses Zitat wurde einem Treffen einer lokalen Frauen-Selbsthilfegruppe entnommen. Auf den ersten Blick geht es um ein Unbehagen den medizinischen Behandlungsprozessen gegenüber, das in vielen Interviews subtil angedeutet wird. Meist folgen aber Äußerungen, die eine Alleinverantwortung der Frauen nicht nur biologisch-sozial begründen, sondern zugleich auch als ein „natürliches Privileg“, „etwas Heiliges (kutsal)“, als „natürliche Gabe“ und „von Gott der Frau verliehen“. So wird in der Reproduktion einerseits eine normative und traditionelle Frauenrolle verstärkt und zugleich die biosoziale und -medizinische Verantwortung und Belastung legitimiert. Emel İpekçi, die seit ihrem 37. Lebensjahr fünf IVF-Behandlungen „ohne ersehnten Erfolg“ durchmachte und sich nun bei ÇİDER engagiert, sieht sich als „Einzelkämpferin“. Sie musste ihren Mann, bei dem auch ein für eine Schwangerschaft problematischer Befund, ein schlechtes Spermiogramm, vorlag, jedes Mal zum Mitmachen bewegen. Er wollte es aber nicht wahrhaben und war der Meinung, die Mediziner*innen würden „alles übertreiben. Wir sind doch gesund. Das ist die Haltung der Männer.“ Es hat immer mit dem „weiblichen Reproduktionssystem“ zu tun, erklärt sie, ihres „läutet bereits die Alarmglocken“ ihres ohnehin strapazierten Körpers: „Ohnehin tragen die Frauen die ganze Last. Du kämpfst. Du gehst zum Arzt. Es ist dein Körper, der strapaziert wird. Es geht immer etwas von dir weg. Was der Mann macht, ist einfach die Frau zu unterstützen. [...] Aber es sind die Frauen, die das erleben. Natürlich
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erleben die Männer auch ihren Teil, aber nicht so schwer und komplex wie die Frauen. Bei Männern sind es das Spermiogramm, Varikozelen etc.; Frauen hingegen machen enorm viele Tests durch.“
Emel sieht den Kinderwunsch und die IVF-Behandlungen als ihre Privatsache: „Wenn die Frau stark ist, wird der Mann auch stark.“ Sie lasse sich „immer testen“, „werte die Ergebnisse aus“ und recherchiere selber, aber für ihren Mann sei es schwer, „der Mann betrachtet sich in dieser Sache natürlich selbst als gesund“ und „möchte an sich selbst keinen Mangel sehen“. Sie muss – wie viele andere Frauen auch – Überzeugungsarbeit und Legitimationsleistungen erbringen, die sich gegen die individuellen und kollektiven Einprägungen und gegen kulturelle Gegebenheiten und Hemmungen richten müssen. In dieser Narration wird angedeutet, wie Männer sich selbst „entlasten“, während Frauen dem Imperativ eines aktivistischen Modus in ihren individuell-familiären Reproduktionsbiografien nachgehen. Auch Kader betont: „Mein Mann ist ein sehr verständnisvoller Mann, aber ich kann Folgendes unterstreichen: Wenn das Problem bei meinem Mann gelegen hätte, glaube ich nicht, dass er so viel probiert hätte. Also, weil Männer sowieso ganz schwer zum Arzt gehen. Also, sogar die Spermienabgabe-Situation machen sie zu einem Ereignis. In diesen Behandlungen ist er einmal an einem Tag notwendig, also ein einziges Mal, an einem Tag brauchen sie ihn. Wenn der Mann sich sogar dann sträubt... also überlegen sie sich wie oft er das denn probieren kann oder wie oft er sagen wird: uff, es reicht, ich kann mich nicht mehr darum kümmern. Aber die Frau hat ja dieses intuitive Dings, das Gefühl, Mutter sein zu wollen.“
In einem Gruppentreffen deutet Interviewpartnerin Semra an, dass die Frauen die „Regie“ übernehmen: „Es sind die Frauen, die wissen, wo es langgeht und was wie gemacht werden soll.“ Sie erzählt, dass immer sie es war, die den „passenden und richtigen Weg“ im Kinderwunschprozess navigierte. Nach der Diagnose informierte sie sich intensiv über das Internet, eignete sich zusätzliches medizinisches Fachwissen an und nahm an den öffentlichen Informationsveranstaltungen teil, um mit den Ärzt*innen zu diskutieren und von ihnen etwas Neues zu lernen. Sie initiierte beispielsweise eine lokale Onlinegruppe auf ÇİDERs Internetforum, aus der eine lokale Selbsthilfegruppe von Frauen entstand, die sich regelmäßig treffen (siehe Kapitel 5.4). Jahre später, nach der Geburt ihrer Tochter, ist sie immer noch sehr aktiv darin involviert. Während eines Gruppentreffens merkt sie an: „Wie immer sind die Männer etwas zurückhaltend, klar, die Frauen zwingen sie dazu, zu solchen Orten zu gehen.“ Gemeint sind insbesondere öffentliche Veranstaltungen, aber auch diverse Online-Räume. Alle Ehemänner der Grup-
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penmitglieder, wie zum Beispiel Semras Ehemann, unterstützen die Frauen sowohl im Behandlungsprozess als auch in ihrem sozialen Engagement in advokatorischen Selbsthilfekontexten. Sie sind allerdings kaum daran interessiert, selbst aktiv zu sein. In meist kurzen Gesprächen berichteten mir Männer von der „männlichen Art“ des Umgangs mit dem Thema. In meinen Feldnotizen finde ich folgenden Auszug aus einem Gespräch mit einem der Ehemänner: „Auch als Mann macht man viel durch. Aber ehrlich gesagt steigert man sich als Mann nicht so in diese Sache rein, wie die Frauen es tun. Es liegt nicht in der Natur des Mannes (erkeğin doğasında yok).“ Männer fehlen „für gewöhnlich“ in den klinischen oder anderen relevanten Kontexten des Behandlungsalltags (wie etwa in Selbsthilfe- und Betroffenengruppen). Infertilität und IVF-Behandlungen werden weiterhin deutlich weniger als „Männersache“ thematisiert, weder in der breiteren und betroffenen Öffentlichkeit noch in den individuellen Narrativen. „Die Ehemänner bekommen wir kaum zu Gesicht“, begründen IVF-Ärzt*innen, „weil man sie fast nur für die Spermienprobe braucht“. Auch ich traf während meiner Feldforschung in den Kliniken und Selbsthilfekontexten deutlich weniger Männer als Frauen. Mit den diagnostischen und therapeutischen Interventionen wird eine Destabilisierung der Männlichkeit assoziiert. Diese wird als ein Nebenprodukt männlicher Desorientierung in diesem spezifischen biomedizinischen Reproduktionsbereich verstanden. Im reproduktionsmedizinischen Feld in der Türkei stehen Männlichkeiten zwischen heroischer Darstellungen „der Kinderwunschkämpfe der werdenden Mütter“ und hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen. Ihre Position wird oft in Relation zu reproduktiven Idealen des „Mannseins“, aber auch zu den als feminin konnotierten Eigenschaften erfahren. Bevor ich auf die neuen Männlichkeiten eingehe (4.3), möchte ich genauer analysieren, wie Männlichkeiten im Umfeld der Reproduktionsmedizin in der Türkei konstituiert und transformiert werden. In Interviews mit Mediziner*innen, Mitstreiter*innen und Paaren wird oft auf dreierlei strukturelle Hindernisse hingewiesen: 1- die biomedizinisch-klinisch bedingte, institutionelle Exklusion der Männer 2- ihre biosoziale und körperliche Marginalisierung als (nicht) reproduktive Akteure 3- die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, die über die – in ihren Worten – „gelernte Männlichkeit (öğrenilmiş erkeklik)“, und Männerpraktiken in derartig intimen Konfrontationen bestimmen. Ich möchte im Folgenden auf die Rhetoriken und Aushandlungsprozesse eingehen. Infrage steht, wie Männer sich als reproduktive Akteure, Erzeuger, Partner und Entscheidungsfinder in den Kinderwunschprozess einbringen oder auch innerhalb der familiär-individuellen Biografien neu orientieren.
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4.2 „EIN MANN ZU SEIN, HÄNGT NICHT VON EINER SAMENZELLE AB“: MÄNNLICHKEITEN UND INFERTILITÄT Bleibt die gewünschte Schwangerschaft aus und die Familie kinderlos, kann ein komplexes Geflecht aus biografischen Wünschen, Selbstverständnissen und Männlichkeitsvorstellungen ins Schwanken geraten. Gerade deshalb kommentiert beispielsweise Dr. Demir, der seit Jahren Männer und Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch in einem sozio-ökonomisch besser gestellten Istanbuler Stadtteil berät und behandelt: „Nach den in der Türkei vorherrschenden Befindlichkeiten, die sich nach allerhand Bräuchen und Sitten richten, [gehört es dazu], dass ein männlicher Mann auch Kinder bekommen kann.“ Auch Männer, die selbst betroffen sind, klagten darüber, dass das Kinderhaben zum „Leben eines jeden normalen Mannes“ dazu gehöre. Wenn das zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht gelingt, dann werde die Männlichkeit (erkeklik) des Mannes in Frage gestellt. Aus eigener Erfahrung weist Tıknaz auf die Herausforderungen hin, als ein Mann einen Platz in der „fertilen Gesellschaft“ zu finden. Aufgrund der „Männlichkeitsvorstellungen in unserer Kultur“, der „patriarchalen (erkek egemen) Gesellschaftsstrukturen“, sagte er in einem Interview, werde den Männern mit Fertilitätsschwierigkeiten das „echte Mann-Sein (gerçek erkek olma)“ entsprechend abgesprochen. Dies prägt das Selbstbild der Männer mit. Männer wären mit einem gesellschaftlich stigmatisierenden „Gerede“ konfrontiert, das „Mann-Sein“ subtil auf ein Spermium fixiert. Dieses präge die Selbstwahrnehmungen mit. Ausdrücklich fügt er hinzu: „Auch in allen sozialen Schichten, ob gebildet oder ungebildet und mit Vorwissen oder ohne.“ Gerade nach einer medizinischen Diagnose sind die Männer erst recht damit konfrontiert, sich damit auseinanderzusetzen, was es für sie selbst bedeutet, ein Mann mit solch einem biologisch bedingten Problem zu sein. Das Kinderhaben bestätige für sie und für die Gesellschaft, in der sie leben, das Mann-Sein und es erfülle die sozialen Erwartungen. Viel wichtiger aber noch: es vervollständigt die angestrebte Biografie als Mann. Das gängige Argument, welches in den Interviews wiederkehrte, lautet: „Männer haben meistens Angst, dass an ihrer Männlichkeit gezweifelt wird“. Dass ihre Fertilitätserfahrungen ihnen die Männlichkeit berauben könnte und sie daher nicht als „echter Mann“ wahrgenommen werden, behauptet Tıknaz, werde als größte Last empfunden. Er selbst bestreitet, je einen Zweifel an seiner Männlichkeit gehabt zu haben.
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Abbildung 3: Qualität eines Spermiums
Quelle: Feldforschungsmaterial: „Vorbereitung des Spermas“. Aus dem Vortrag eines Arztes während einer Veranstaltung
Die Männlichkeitsvorstellungen, von denen er in unseren Gesprächen ausführlich berichtete, stehen mit der Silbe „erk“ in Zusammenhang. Etymologisch beruht der Begriff Mann im Türkischen darauf. Dieser ist mit Macht und Stärke gleichzusetzen. „Erkek (Mann)“ besitzt ein erk, das mit Macht und Mächtigkeit assoziiert wird (Türker 2004). „Erkeklik“ ist demnach an die sexuelle Potenz, Virilität und Fruchtbarkeit geknüpft. Nicht selten findet dies seinen Ausdruck in den alltäglichen Diskursen über den „männlichen Mann (erkek adam)“. „A man’s maleness“ werde an dem „Samen (tohum)“ gemessen, so Göknar Demircioğlu (2015), und Infertilität rufe Ambivalenzen an der „substance in procreation“ hervor. In ihrer kürzlich publizierten Ethnografie beschreibt sie insbesondere die Männlichkeit im Kontext von Infertilität vulnerabel und dass Kinderlosigkeit und Infertilität für viele heterosexuelle Männer einen „Totalverlust“ in ihrem sozialen und familiären Umfeld mit sich bringt. Denn den kulturellen Vorstellungen von Samen im weitesten Sinne entsprechend, wird Männlichkeit mit Virilität, Zeugungsfähigkeit („Manneskraft“) und sexueller (Im-)Potenz assoziiert und dissoziiert. So würden Männer dem „risk of being considered feminine“ ausgesetzt werden (ebd.: 145), weil sie auf Grund ihrer Reproduktionsbiografien die heterosexuellen und normativen Männlichkeitsideale nicht erfüllen. Wird Infertilität als eine Dysfunktion in sexuellem Sinne diskreditiert, so werden also die damit einhergehenden Erfahrungen – wie überall auch in der Türkei als „eine Bedrohung an Männlichkeit“ (Throsby/Gill 2004, Hinton/Miller 2013) empfun-
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den.1 Diese scheint dabei diskursiv in den hegemonialen Normen und der Konstruktion vom Mann-Sein verankert zu sein. An Cornell (2005 [1995]) anknüpfend wird hegemoniale Männlichkeit durch die Ausübung eines Zeugungsakts hergestellt. Dieser muss potent, heterosexuell und im biologisch-reproduktiven Sinne vollzogen werden. Es geht also ganz konkret um die Zeugungsfähigkeit, die tradierte Männlichkeit in den patriarchal-pronatalistischen Umgebungen sichert. Die ÇİDER-Mitstreiterin Muko reflektiert kritisch: „Die Männer sprechen nicht, aber die eigentlichen Schwierigkeiten und Probleme erleben in der Türkei eigentlich die Männer. Wenn zum Beispiel außerhalb von Istanbul eine Frau kein Kind bekommen kann, dann übernimmt sie die Schuld dafür. Aber wenn herauskommt, dass das Problem, die Ursache beim Mann liegt, dann geht dieser Mann nie wieder unter die Gesellschaft. Er zieht sich zurück. Er verschließt seine Türen. Denn in der Türkei werden, kein Kind zu haben und Impotenz (iktidarsızlık) miteinander verwechselt. Da es auch eine patriarchale Gesellschaft ist, kommt schließlich Folgendes auf: ‚Der hat überhaupt keine Macht (gücü yok).‘ Als wäre es die einzige Macht der Männer, Kinder zu bekommen und ihre Nachkommenschaft zu sichern. So wird eben gedacht.“
Männer beziehen sich häufig auf derartige, vorherrschende Normen der reproduktiven Männlichkeitsideale. Auf Grund der oben dargestellten Assoziationen erscheint Infertilität für viele heterosexuelle Männer aus der Mittelschicht in der Türkei als ein krisenhaft empfundener Bruch in der erwünschten Biografie. Diese Männer sehen sich gezwungen, Männlichkeitsideale zu erfüllen bzw. viel intensivere Aushandlungen mit den eigenen und gesellschaftlichen Männlichkeitsempfindungen zu vollziehen. Diejenigen, mit denen ich in den Kliniken und in den Selbsthilfekontexten zu tun hatte, reagierten empfindlich, aber auch hochgradig reflexiv auf die heteronormativen Imperative. Sie berichten auch darüber kritisch, wie diese in ihrer sozialisierten Selbstvorstellung und ihren Geschlechtsidealen verankert sind. „Wie ein Mann zu sein hat“, ist in einem breiteren Geschlechterregime und in den hegemonialen Erwartungen und Geschlechterrollen verankert (Sancar 2008). Die Männlichkeitsideale und Vorstellungen variieren im heterogenen Kontext der Türkei kulturell, regional und ideologisch enorm. Gerade in Bezug auf Reproduktion, Vaterschaft und Sexualität sind die
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Die Anzahl der Studien zu Männlichkeiten wächst allmählich in diesem stereotyp feminisierten Feld der Reproduktionsmedizin. Einige aufgelistete Publikationen sind entweder zeitgleich oder nach der Verfassung dieses Kapitels veröffentlicht. Daher konnte ich sie nicht angemessen in meine analytische Perspektive mit einbeziehen.
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(kulturell) heterogenen und „multiplen“ Männlichkeiten sichtbar.2 In meinem Feld werden die männlichen Reaktionen auf die Diagnose der Infertilität gegeneinander gestellt. Manche Männer betrachten die herkömmlichen Männlichkeitsempfindungen – auch ihre eigenen – kritisch. Andere treten damit hingegen in einen Dialog, in dem sie sich selbst eindeutig im Nachteil sehen. In vielerlei Hinsicht werden diese als soziale und biologische Referenzen genutzt. IVF/ICSI dienten zwar wie überall zur Entkopplung der Männlichkeit von der Virilität und Potenz. Die Reproduktionsmedizin ist jedoch weiterhin ein Schauplatz für Aushandlungen mit tradierten Rollen der Männlichkeiten. Im Sinne von Charis Thompson sind hier die unkonventionellen Parodien biotechnologischer ‚Assistenz‘ einflussreich. Die Erfahrungen, die sie im Kontext der Infertilität und Reproduktionsmedizin durchlaufen, werden gesellschaftlich in unterschiedlichen sozialen Kontexten eher negativ konnotiert. Auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung wurden häufig die Diskurse und Vorstellungen von Männlichkeiten in den Fokus gestellt, welche „emasculating“ auf die Männer wirken (Dolan et al. 2017). Damit hängt die „Abwesenheit“ der Männer in den Kliniken, aber auch generell im Reproduktionsbereich zusammen (Culley et al. 2013). Neuerdings werden Männer allerdings im behandlungsrelevanten Alltag und auch in der Sozialwissenschaft aus dieser Position herausgeholt. Sie werden nicht mehr als fehlende Akteure gedacht und als marginalisierte „othered“ (Inhorn et al. 2009: 6) Subjekte (Culley et al. 2013) analysiert. Im Fokus der neueren sozial- und kulturanthropologischen Forschungen stehen somit stärker die diskursiven und performativen Praktiken in den Kliniken und Laboren sowie gerade in den Selbstdeutungen und -narrativen der Männer. Gefragt wird, wie Männlichkeiten im Feld von Reproduktionsmedizin hergestellt und wie diese kontextuell und kulturell unterschiedlich ausgehandelt werden (Throsby/Gill 2004, de Jonge 2013, Hinton/Miller 2013, Bell 2015). Barnes beschrieb beispielsweise die komplexe „gender work“ der Männer, welche „[...] entails mentally and emotionally processing how personal ideas about gender fit in or clash with ubiquitous cultural ideas of gender. Gender work requires digging 2
Ich beziehe mich hierbei auf das Konzept der „multiplen Männlichkeiten“, um diverse Männlichkeitsformen und ihre Relationen zueinander und zu den vorherrschenden Machtverhältnissen, anderen männlichen Geschlechterpraktiken und -politiken zu betonen. Dabei geht es um die Praktiken und Erfahrungen der Männer innerhalb ein und desselben Reproduktions- und Geschlechterregimes, in dem sie andauernd mit anderen, meist „hegemonialen“ Männlichkeiten konfrontiert sind. Hegemoniale Männlichkeit bezeichnet idealisierte Praktiken, Logiken und Macht, materiell und diskursiv, und unabhängig davon, ob und inwiefern die Männer diese innerhalb eines spezifischen Handlungs- und Deutungsfelds erfüllen oder nicht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht möglich, „hegemonial“ und „nicht-hegemonial“ (oder „alternativ“) voneinander klar zu trennen (Gutmann 2014).
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deep, reconsidering personal values, and weighing the social and economic benefits and costs of conforming to society’s expectations or going against the grain“ (2014: 6). Diese wird mit einer produktiv konnotierten „Krise der Männlichkeit“3 begründet. Die assistierte Reproduktion erzeugt in dieser Hinsicht auch psychosoziale und körperliche Problemlagen, die Männer in ihren Männlichkeitsvorstellungen und -praktiken herausfordern können. Sie variieren durch unterschiedliche soziale Kontexte und innerhalb des gleichen medizinischen Bereichs. So kann sich der Umgang mit den kulturellen Kategorien, Codes und Normen erheblich von Mann zu Mann unterscheiden. Männer etablieren situativ individuelle Umgangsweisen und übernehmen ihre Rolle im reproduktiven Bereich. Vor diesem Hintergrund erschien es mir relevant, empirisch zu untersuchen, wie und inwiefern die Problemlagen der Männlichkeit(en) und die Erfahrung der Männer thematisiert werden. Welche Männlichkeitspraktiken und -formen im Umfeld der Reproduktionsmedizin entstehen, stand dabei im Fokus. Es geht mir weniger um feste, kulturelle Kategorien, Codes und Normen der Männlichkeiten als um die Frage, wie diese in diesem spezifischen Terrain der Medizin praktiziert und „performiert“ (Butler 1991) werden. Männer positionieren sich im Geflecht von Krisen, Reproduktionsmedizin und gesellschaftlicher Transformationen unterschiedlich und oft aufs Neue. Im Umgang mit reproduktionsmedizinischen Angeboten entfalten sich neue Problematisierungen der Männlichkeiten einerseits und neue Verständnisse andererseits, die die oben dargestellte Vorstellung von Mann-Sein destabilisieren. Der Zugriff auf biomedizinische Sinnangebote sowie Wissens- und Deutungspraktiken ist zwar in einem Land wie der Türkei äußerst unterschiedlich, spielt aber eine zentrale Rolle darin, wie das Selbstverständnis der Männer und damit die gesamtgesellschaftlichen Männlichkeitsvorstellungen sich ändern (vgl. Erol 2004, Erol/Özbay 2013). Dazu gehört unmittelbar das Verhältnis der Männer zu Infertilität und IVF-Technologien. Die Reproduktionsmedizin greift auf das Selbstbild der Männer und ihre Männlichkeitsverständnisse, die plural und variabel je nach der regionalen, familiären, politischen und gesellschaftlichen Schichtzugehörigkeit sind. Erol und Ege Tavmergen, IVF-Ärzt*innen, die die IVF-
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Der Terminus „Krise der Männlichkeit“ ist problematisch. Connell behauptet, dass wir von tendenziellen Eigenschaften der Geschlechterrollen reden: „As a theoretical term, ‚crisis‘ presupposes a coherent system of some kind, which destroyed or restored by the outcome of crisis. Masculinity [...] is not a system in that sense. It is, rather, a configuration of practice within a system of gender relations. We cannot logically speak of the crisis of a configuration; rather we might speak of its disruption or its transformation. We can, however, logically speak of the crisis of the gender order as a whole, and of its tendencies toward crisis“ (2005 [1995]: 84).
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Medizin in der Türkei einführten, beobachten kritisch, dass es „natürlich auch davon abhängig [ist], aus welcher sozialen Schicht oder Familie der Patient oder die Patientin stammt“.4 Die Männerpraktiken, die ich in diesem spezifischen weiblich dominierten Feld analysiere, demonstrieren die noch offenen Relationen der Männer und der Männlichkeiten mit den patriarchalen Paradoxen. Neue Diskurse entstehen – wie überall auch – in der Türkei, die Problematik reproduktiver Männlichkeiten neu adressieren, wie Männer sich im reproduktiven Bereich als reproduktive Akteure, werdende Väter und Väter engagieren sollen (Hinton/Miller 2013). Sie sind teilweise schichtübergreifend wirksam. Stärker wird allerdings die Rolle des Mannes in der städtischen sowie ländlichen Mittelschicht verhandelbar. Bei den tradierten biosozialen Verantwortlichkeiten für Familie lassen sich Verschiebungen feststellen. Im Falle von Infertilität und IVFNutzung tritt diese stärker ein. Die Infertilität und Fertilitätsbehandlungen avancieren beispielsweise tendenziell zu einem „Paar-Problem“. Diese Tendenz ist mit Vorsicht zu betrachten. Denn diese bestärkt die vorherrschenden (Geschlechter-)Normen, genauso wie sie als eine Destabilisierung der normativen, lokal ausgeprägten Geschlechteridentitäten wirken kann. Zweifellos bietet die Reproduktionsmedizin einen Weg zur Realisierung (hetero)normativer Geschlechtsidentitäten. Die angebotenen Sichtweisen und Diskurse können von Männern unterschiedlich und situativ genutzt werden. Die Reproduktionstechnologien helfen dabei, in die hegemonialen männlichen Ideale „hineinzupassen“. Sie können aber auch dazu dienen, die traditionellen Geschlechterrollen herauszufordern und die Ideale, die den Männlichkeiten zugeschrieben werden, innerhalb der (patriarchalen) Geschlechterordnung zu transformieren. Während meiner Feldforschung konnte ich die noch tentative Veränderung beobachten, auch in den konservativsten Regionen, wo Reproduktion und Kinderhaben kaum als ein privates Anliegen der Individuen und Paare gedacht und behandelt wird (Ayçiçeği-Dinn/Kağıtçıbaşı 2010, Boratav et al. 2017). Reproduktionstechnologien haben zu einer Ab- und Entkopplung zwischen Virilität und Männlichkeit geführt. Zudem trugen sie auch zu vielschichtigen BeDeutungswandlungen von Reproduktion, Kinderhaben und Vaterschaft bei. Denn im Umgang mit den Reproduktionstechnologien orientieren Männer sich an den zur Verfügung stehenden Wissens- und Deutungsinhalten der Medizin. Sie beziehen sich durchaus auf die medikalisierten Sichtweisen auf Männlichkeiten.
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Das Zitat wurde aus einem früheren Interview entnommen, das Stefan Beck und Asiye Kaya im Jahr 2005 zusammen in Izmir geführt haben.
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„Ihm fehlt doch nichts“ Der Fall des Paares Uçankuş, das in Giresun, einer Stadt in der konservativ und ländlich geprägten Schwarzmeerregion, wohnt, ist durchaus repräsentativ. Sie gehören zu den privilegierten Paaren in der Gegend. Beide haben einen Universitätsabschluss und gehen einer beruflichen Selbstständigkeit nach, diese bringt ihnen finanzielle und soziale Autonomie. Nach einer Doppel-Diagnose musste das Paar – wie andere Paare in der Situation – erleben, wie Unfruchtbarkeit jeweils für beide Geschlechter andere Schwierigkeiten, Konfrontationen und Aushandlungen mit sich bringt. Bei Frau Uçankuş wurden „polyzistische Ovarien“ diagnostiziert und bei ihrem Mann „Azoospermie“, dem vollständigen Fehlen vitaler und beweglicher Samenzellen im Ejakulat. Besonders in einem ländlich geprägten, konservativen und bildungsfernen Umfeld sei Kinderlosigkeit mit „Schuldzuweisungen“ gegenüber den Frauen verwoben, so Frau Uçankuş. Sie werde „als Makel (kusur)“ der Frau angesehen und es werde abgelehnt, dass das Thema auch den Mann betrifft. Trotzdem erlebte es auch ihr Ehemann „wie einen Schlag“, vor allem „gegen seine Männlichkeit“. Doch auch seine Familie wollte nicht wahrhaben, dass „das Problem bei ihrem Sohn liegt“, weil es Zweifel an „seinem Mann-Sein“ auslösen würde. Sie misstrauten den reproduktionsmedizinischen Eingriffen, da diese ihn zu „einem halben Mann“ machen würden. Die Verweigerung der Familie nach dem Motto „Ihm fehlt doch nichts“ verschärfte die Verzweiflung des Ehemanns und erschwerte ihm dadurch auch einen offenen Umgang mit dem Thema. „Er schweigt und verschweigt“, so Frau Uçankuş. Sie musste Überzeugungsarbeit leisten und ihm klarmachen, dass sie selbst die „ganze Last auf den Schultern“ tragen würde, wenn er sie nicht mit ihr teilt: „Männer sind ja so: ,Also‚ bin ich vielleicht minderwertiger als Mann?‘ [denken sie], oder so kommt es ihnen vor. Mein Mann wusste es auch nicht. Nachdem wir beim Arzt waren hat auch er gemerkt, dass es nicht nur von einer Samenzelle abhängt, ein Mann zu sein.“ Auch bei dem Paar Pomak, das in der gleichen Gegend in einem kleinen Dorf lebt, ist die Situation ähnlich. Auch bei diesem Paar wurde eine Doppeldiagnose gestellt. Frau Pomak habe die ganze Verantwortung mit folgender Begründung von selbst „auf sich genommen“: „Sie werden so (schlecht) reden, du wirst in eine schwierige Situation geraten.“ Auf meine Frage, ob und inwiefern er dies mit dem Mann-Sein und seiner Männlichkeit assoziiert, antwortete er ganz klar: „Nein, das hat gar nichts damit zu tun.“ Doch gleichzeitig fügte er hinzu, dass Kinderlosigkeit in einem konservativen oder bildungsfernen Umfeld grundsätzliche Zweifel bzw. Legitimationszwänge mit sich bringen würde, denen er sich tagtäglich stellen müsste. Als Gläubiger und praktizierender Muslim betrachtete er die Kinderlosigkeit als „Allahs Ermessen (takdir-i Allah und tak-
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dir-i ilahi)“, als „äußerst normal“, eben als „eine Krankheit“. Dennoch, als kinderloser Mann würde „mit Fingern auf ihn gezeigt“ werden. „Das Leben in einem kleinen Ort ist schwierig“, sagte er, weil er immer „verkehrte“ und „mürrische“ Reaktionen bekommen würde. Nach wie vor gebe es Unterstellungen, dass es unmännlich sei: „Ich bin ein fleißiger Mensch. Ich arbeite gut. Ich kümmere mich um alles. Aber wenn du das Umfeld hörst, [...] das ist doch nicht nötig.“ Man würde „in der Gesellschaft [sozial] untergeordnet (aşağı görülüyor)“ werden. Es ist „eine Gesellschaft, die kaum in der Lage ist, diesbezügliche Probleme aufzufangen“, klagt Herr Pomak. Zu der Informationsveranstaltung, auf der ich ihn interviewte, kam er allein. Er wollte sich über diverse Behandlungsmöglichkeiten informieren. Für ihn ist es Teil seiner jahrelangen Bemühungen, um den Kinderwunsch bestmöglich zu managen: „Wie sollen sie das sonst von dem Dorf heraus schaffen? Das sind ziemlich große Probleme. Zum Beispiel nach Istanbul zu gehen und sich in der Medizin, in der Fakultät abzumühen, das ist für die Menschen, die im Dorf leben, eine ganz andere Welt. Wenn ein Mensch immer aus seinem Dorf dahin fahren muss, mit dem Bus, nach Istanbul oder so, das ist nun mal nichts für den Dorfbürger. Wie gut kennen sie sich aus? Was wissen sie denn schon von der Medizin? Also ich versuche es seit 20 Jahren und es fällt mir zum Beispiel immer noch schwer. Ich habe einen Grundschulabschluss, das sage ich ihnen auch dazu. Es gibt natürlich auch Zeiten, in denen ich Schwierigkeiten hatte, es ist uns sehr schwergefallen. Wenn dieses Problem nicht wäre, wäre ich aufgeschlossener gegenüber meinem Umfeld, meinem Dorf zum Beispiel, meinen Freunden um mich herum.“
Er ist nicht der Einzige in dem Dorf, der diesbezüglich auf medizinische Hilfe angewiesen ist. Doch er unterscheidet sich in seinem Umgang mit dem Problem von vielen anderen Männern in den ländlichen Regionen: Viele andere in einer ähnlichen Situation wären nicht informiert und würden nicht bewusst handeln. Er sieht Unfruchtbarkeit als „eine Sache des Schicksals“. Sie sei einfach „eine Krankheit” fügt er hinzu, „also wie Magenschmerzen oder Gastritis, wofür es eine Lösung gibt“. Männer wie er sind der Meinung, dass es zwischen Männlichkeit und Fertilität keinen Zusammenhang gibt. Sie betrachten ihr Problem als eine technologisch zu behandelnde „gesundheitliche Situation“, als „einen bloß medizinischen Zustand“. Die gängigen Selbstdarstellungsweisen in meinen Interviews leiten sich aus biomedizinischen Erklärungsmodellen ab und stützen sich auf das aktive Engagement im Kinderwunsch- und Behandlungsprozess.
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Rhetoriken über das Schweigen der Männer Infertilität gehört zu einer der meist stigmatisiertesten und verschwiegenen Angelegenheiten männlicher Gesundheit in der Türkei. Trotz der enormen Sozialakzeptanz der Reproduktionstechnologien: „(die Männer), die zu uns kommen, sind die Spitze eines Eisbergs“, so pointierte es der IVF-Arzt Demir in einem Interview im Jahr 2010. Die Einschätzung, dass mit IVF/ICSI eine öffentliche Sichtbarkeit der infertilen Männer einherging, aber immer noch kaum über die Belange der Männer offen diskutiert wird, teilen auch viele andere meiner Interviewpartner*innen. Es besteht eine steigende Tendenz, dass Männer eigenständig medizinische Hilfe in Anspruch nehmen bzw. einen viel offeneren Umgang mit Reproduktionsschwierigkeiten finden. Doch die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen sind weiterhin sehr wirksam gegen die Akzeptanz des Problems und befördern Verheimlichung und stigmatisieren einen offenen Umgang. Eine große Bevölkerungsschicht sieht in der Infertilität und der Nutzung von IVF eine Verletzung des männlichen „Ehrenkodex“. In diesen Fällen seien die Männer durch patriarchale und konservative Strukturen eingeschränkt. Diese wirken sich auf die Hilfesuche der Männer im Bereich der Medizin als auch im Selbsthilfebereich aus. Die reproduktiven Schwierigkeiten haben für viele Betroffene „nichts mit dem Mann-Sein zu tun“, während diese anderen als „eine Sache des männlichen Stolzes (erkeklik gururu)“ unter die Haut gehen. Dr. Kaplan kommentiert, dass die männliche Infertilität schon immer ein großes Problem war: „[...] aber die Alternative, dass der Mann zum Arzt ging, weil er keine Kinder bekommen kann, war zu gering. Das blieb viel zu sehr im Verborgenen. Natürlich hat es auch etwas mit der Verbreitung der Behandlung zu tun. Auf der anderen Seite ist es auch gut, dass Tüp Bebek und Ähnliches so viel in den Medien zu sehen ist, sodass das Bewusstsein in der Bevölkerung dafür steigt. Durch dieses wachsende Bewusstsein kann mittlerweile auch eine Frau zu Hause zur Tagesordnung bringen, dass das Problem auch bei ihrem Mann liegen kann. Früher stand das nicht zur Debatte. Wenn keine Kinder gezeugt wurden, lag es an der Frau, egal wie, aber es war so, als ob es an der Frau lag. Jetzt wird es ständig in den Medien herausposaunt: Die Männer sind auch was weiß ich was. Dann sagt diesmal die Frau zu Hause, egal wie ungebildet oder Ähnliches sie sein mag: Hey Kerl, vielleicht liegt es ja an dir, lass dich mal untersuchen. So schafft sie psychischen Druck.“
Männer trifft die „Kultur der Schweigsamkeit“ viel härter als Frauen, so die para-ethnografischen Feststellungen meiner Gesprächspartner*innen. Dabei entsteht ein „two-person cult of silence“ (Inhorn/Wentzell 2011: 807) auf Grund der männlichen Infertilität. Dr. Tola berichtet darüber, dass diese Schweigsamkeit oft auf der Frau lastet:
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„Wir sehen Folgendes, wenn es ein Problem mit den Spermien gibt: Der Zusammenbruch des Mannes ist sehr schwer, es ist sogar so, dass seine Frau ihn schützt und das ist sehr interessant, oder? Nicht der Mann schützt die Frau, sondern die Frau ist allein in der Gesellschaft, die Frau, die keine Kinder bekommt. Der Mann hat keine Spermien und trotzdem lastet das auf der Frau... Die Frau kann nicht sagen, dass es bei ihm nicht geht und eignet sich das an.“
Das Schweigen wird als „typisch männlich“ konnotiert. Männer seien bezüglich der Reproduktionsschwierigkeiten „schweigend“, „sich schämend“ und „verschlossen“. Ihnen fehle die Bereitschaft, sich mit bestimmten, sexuellen und intimen Problemlagen im Privaten und in der Öffentlichkeit zu offenbaren und auch artikulieren zu können. Das folgende Zitat aus dem Interview mit Veli Kalem schildert das deutlich: „Zuerst, nachdem meine Frau und ich die Diagnose hatten, wollte ich nicht, dass eine Seele davon erfährt. Ich schämte mich, zeugungsunfähig zu sein und auf Grund der niedrigen Spermienzahl. Die Leute denken nicht informiert und bewusst darüber. Für sie ist es ‚Unfruchtbarkeit‘ und du kannst kein echter Mann sein. Ich wusste nicht einmal, wie ich darüber reden soll.“
Ähnlich argumentiert auch Herr Hamza Tıknaz. Er schildert, dass es für viele Männer enorm schwierig ist, „sich dem Problem“ zu stellen, denn „Männer tun sich schwer, sich darüber zu äußern“ und es gelinge ihnen „nicht mal im Privaten offen darüber zu reden“. Die Männer seien „zurückhaltender“. Der männliche Umgang mit der Zurückhaltung habe „gänzlich mit der Beschaffenheit des Mannes zu tun“: „Männer flüchten etwas mehr vor diesem Problem. Also sie flüchten vor dem Problem, nicht vor der Behandlung. Sie finden das nicht passend für sich. Sie bekommen das Gefühl, normal werden zu können, ohne sich behandeln zu lassen. Also aus diesen Gründen halt. Und das kommt durch die Männlichkeitsvorstellung in unserer Gesellschaft.“
Es würde „automatisch bedeuten, mit dem Thema in die Öffentlichkeit zu gehen, wo die Männer enorm viele Hemmungen, Sorgen und Barrieren haben“. Die fehlende Bereitschaft zu reden und die privaten Erfahrungen mit In/Fertilität öffentlich zu teilen, wird durch die normative Gesellschaftsstruktur erklärt. Diese fördert die „Tradition“ des Sich-Selbst-Nicht-Offenbarens und des Verschweigens, so Tıknaz. Dies ist für ihn eine verallgemeinerbare Haltung der Männer:
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„Über diese Dinge können wir da draußen nicht sprechen. Das ist sogar in sehr entwickelten Gesellschaften so. [...] Ich habe Freunde, die viel gebildeter sind und an Orten leben, die entwickelt sind, und ich habe Freunde, die in ländlichen Regionen leben, ich habe auch Freunde, die ungebildeter sind. Also was die Betrachtung des Themas angeht, gibt es keinen Unterschied zwischen diesen. [...] Männer haben in dieser Hinsicht viel mehr Angst.“
Viele Männer präsentieren sich vorsichtig mit ihren reproduktiven Krisen und ihrem Privatleben. Sie geben die damit einhergehenden Empfindungen ungern preis. In meinen Interviews erzählen viele Männer zwar sehr inhaltsreich und detailliert über den eigenen Kinderwunschprozess, doch beziehen sie sich deutlich weniger als es Frauen tun auf ihre eigenen, individuellen Reproduktionsbiografien oder berichten kaum über ihre emotionalen und sozio-psychologischen Erfahrungen. Herr Sefa Aydın, der im Osten der Türkei lebt, schilderte es in einem Telefoninterview wie folgt: „Bei Frauen ist der Bedarf nach Austausch sehr hoch. Sie sind generell eher mitteilsamer. Bei Männern, besonders hier im Osten, kommt es dem gleich, eine Schwäche zu zeigen. Bei so einer Sache wie Infertilität ist es eben noch schwieriger. Da sind sie sogar froh, wenn man damit in Ruhe gelassen wird. Das trifft ja, naja, dann doch die Männlichkeit. Die Frau sagt es beispielsweise, dass es wegen ihr nicht klappt. Aber dem Mann fällt es schwer, das zu sagen. Zumindest nicht am Anfang.“
Generell besteht also die Tendenz zu einer rein pragmatischen Strategie im Umgang mit der reproduktionsbiografischen Problematik, ob die Männer darüber reden oder es verschweigen. Die Mitarbeiterin İnce erläutert die geschlechtsspezifischen Unterschiede wie folgt: Nurhak: „Worüber sprechen die Männer zum Beispiel? Also wenn der Mann auch Unterstützung braucht, in welchen Themen braucht er sie?“ İnce: „Meistens begegnet uns so etwas nicht auf diese Weise, Nurhak. Also wie ich schon sagte, hat der Mann seine Entscheidung schon getroffen; und wenn er einen solchen Widerspruch empfindet oder emotionale Unterstützung braucht, teilt er das nicht so oft mit. Also ich bin dem nicht so oft begegnet, vor allem wenn es sich um männliche Infertilität handelt, will er das mit einem Mann teilen. [...] Männer machen solche Probleme zu einer Sache des Stolzes. Also wenn Männer unfruchtbar [kısır] sind, ist das für sie ein viel, viel größerer Grund zur Trauer, zum Zusammenbruch und für Probleme zwischen Mann und Frau, als wenn die Frau unfruchtbar ist; dann ist es ein Grund zur Trauer. Aber der Mann nimmt das viel schwerer hin.“
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Hier lassen sich die Zuschreibungen des männlichen Subjektes als rational versus der emotional geprägten Frau erkennen. Diese sind an die normativen Erwartungen geknüpft. Auch mir gegenüber pflegen die von mir interviewten Männer häufig dieses Bild vom selbstbewussten, rational handelnden und zielorientierten Mann. Die infertile Männlichkeit bzw. „Infertilität als Männersache“ finden nur unter bestimmten Konstellationen einen Weg in die Öffentlichkeit. Männer sind nach wie vor schwierig zu mobilisieren, behaupten die von mir interviewten Mitstreiter*innen. Ganz gleich ob es sich um männliche oder weibliche Infertilität handelt, die erlernte Männlichkeit verhindere einen offenen Umgang mit dem Problem. Männer würden ihre sozio-psychologischen Schwankungen und Erfahrungen verdrängen oder gar ignorieren. Die bereits genannte Heroisierung spielt dabei eine Rolle. Auch die Aushandlungen mit Männlichkeitsverständnissen und -praktiken im Kontext mit den Behandlungsmethoden der Reproduktionsmedizin bleiben unsichtbar. Männerbelange brauchen Männer, die bereit wären als „Sprachrohre“ zu agieren und öffentlich über sich selbst und ihre intimsten Lebens- und Problemlagen zu reden. Die Organisation ÇİDER beansprucht für sich „einen Ort kreiert zu haben, in dem auch Männer und Männlichkeit zur Sprache kommen“. In ihren Worten geht es um das Engagement „gegen die Schweigsamkeit der Männer-Erfahrungen“. ÇİDER versteht sich auch als einen Aktionsraum, in dem Narrationen und Rhetoriken der Männlichkeiten verhandelt werden. Darin können Neu-Deutungen von Erfahrungen die Männer gemacht haben zur Herstellung neuer Männlichkeiten geteilt werden. „Männer ins Boot zu holen“ ist eine Parole in diesem umkämpften Feld. Der „Bruch“ der männlichen Schweigsamkeit wird in meinem Feld als ein besonderer Indikator „für eine anfängliche Transformation in der Gesellschaft“ identifiziert. „Deswegen müssen wir eigentlich die Männer in diese Sache reinziehen“, erzählt mir die Mitstreiterin Muko unterwegs in die Schwarzmeerregion, in der Schätzungen zufolge eine höhere Rate der männlichen Infertilität vorliegt. „Bewegt man die Männer zur Partizipation“, könne man „sie als Komplizen für Frauenbelange gewinnen und sie gehen dann diesen Weg zusammen mit ihren Frauen“. In ihrer mittlerweile mehr als 10-jährigen Tätigkeit bei ÇİDER hat sie zahlreiche Veranstaltungen überall in der Türkei organisiert und moderiert. Im Westen wie im Osten, in den städtischen und ländlichen Regionen hatte sie immer enttäuscht beobachtet: „Im Publikum sitzen mehr Frauen als Männer.“ Daraus schließt sie folgendes: „Entweder schämt sich der Mann, und das ist sehr gefährlich, oder der Mann kümmert sich gar nicht um diese Sache.“ Viele „machen sich den Kinderwunschprozess nicht zu eigen“, klagt sie über Männer und setzt fort, „oder sie wissen nicht, wie das geht. Die Frau ist immer dazu gezwungen, das Problem alleine zu tragen“. Obgleich vereinzelt, meldeten sich in den Veran-
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staltungen, an denen ich teilgenommen habe, auch Männer zu Wort, um „aus ihrer Perspektive zu erzählen“. Sie agierten quasi als advokatorische Stimme, indem sie für das „Darüber-Reden“ plädierten. Für sie ist das der beste Umgang mit der Stigmatisierung. In diesen Veranstaltungen kommen vermehrt subjektive Erfahrungen und neue Positionierungen der Männer zum Ausdruck, was in der einschlägigen Literatur als ein neues „Zeugungsbewusstsein“ (Marsiglio et al. 2013) bezeichnet wird. Mehrere Teilnehmer*innen betonten, dass Männer „angefangen haben, sich mit ihren eigenen Problemen auseinanderzusetzen“. Im Selbsthilfekontext wird ihr wachsendes Engagement in der Erfüllung des eigenen Kinderwunschs und in den medizinisch assistierten Prozessen der Reproduktion gefördert und inszeniert. Die reproduktionsbiografischen und -medizinischen Angelegenheiten und Belange führen Männer stärker in solche Räume, in denen sie medizinische wie soziale Hilfe finden oder anbieten können. Mit dieser Entwicklung verbinden viele, für sich selbst und für die breitere Gesellschaft, eine vielschichtige und „tabu-brechende“ Veränderung in Männlichkeitskonstruktionen. Bezogen auf die Rolle der Selbsthilfegruppen kommentiert die ÇİDER-Mitgründerin Kader, Männer würden sich offener verhalten: „Ohne sich zu schämen, zurück oder versteckt zu halten. Inmitten von Hunderten von Menschen steht der Mann auf und sagt: ,Ich habe keine Spermien‘. Das ist meiner Meinung nach ein sehr großer Erfolg. Sie können es zur Sprache bringen. Da es ja angeblich etwas ist, wofür man sich schämen soll... So wurde dieses Männlichkeitstabu wohl etwas gebrochen.“
Zur Sprache gebracht wird hier die neue Männlichkeit, die mit der individuellen und kollektiven Wissensarbeit der betroffenen Paare und Männer einhergeht. Diese neuen Männlichkeiten verkörpern neu entstehende Männlichkeitsideale, die den tradierten Männerrollen im reproduktiven Bereich und den den hegemonialen Männlichkeiten zugeschriebenen und normativen Verhaltensidealen nicht entsprechen, ja ihnen sogar zuwider laufen. Dennoch: Reproduktion wird nach wie vor als „die Sache der Frau“ konstituiert und gilt weiterhin als weibliches Terrain. Männerpositionen werden in meinem Feld auf drei Ebenen problematisiert: 1- als völlige „Außenseiter der ganzen Sache“. Damit sind diejenigen Männer gemeint, die jegliche körperliche, soziale und psychologische „Bürde“ alleine der Frau überlassen. 2- als „Begleiter und Unterstützer“ der Frauen, die als „wahre Patienten“ der Reproduktionsmedizin angesehen werden und 3- als „aktive Patienten“, die sich in einem weitgehend feminisierten Terrain und Handlungsfeld zurechtzufinden versuchen. Diese Positionen sind mehr oder weniger
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voneinander abgrenzbar, beziehen sich aber oft aufeinander. Innerhalb dieser etwas schematisch dargestellten Positionen entwickeln Männer unterschiedlichste Umgangs- und Handlungsstrategien, die sich kontextuell und biografisch erheblich voneinander unterscheiden (Inhorn/Wentzell 2011, Culley et al. 2013, Hinton/Miller 2013, Whittekar 2014). Oft werden allerdings das „Fehlen“ und die strukturelle „Exklusion“ der Männer kritisch betrachtet. Laut Dr. Erdem, leitender Embryologe und IVF-Arzt einer Privatklinik in Istanbul wäre das folgende Gefühl durchaus typisch für Männer: „‚Meine Frau muss alles durchstehen und ich kann gar nichts machen. Was kann ich denn machen?‘ Sie grübeln dann darüber nach. Manchen passt es sehr gut in den Kram... Manche sind sehr engagiert... die gibt es ja auch, die Kehrseite.“ Viele Männer, die ich im Laufe meiner Feldforschung in Kliniken und in Selbsthilfe-Settings interviewt habe, fühlen sich in diesem Feld orientierungslos. Die bisher beschriebenen Reflexionen meiner Interviewpartner*innen wiesen bereits darauf hin. Allerdings bietet dieses Terrain Männern unterschiedliche Möglichkeiten an. Es zwingt sie mitunter, ihr sozio-psychisches und körperliches Engagement neu zu denken. Dennoch scheint es für einige Männer völlig legitim zu sein, Außenseiter des Prozesses zu bleiben. Andere positionieren sich als verständnisvolle Begleiter der Frau. Doch einigen passt das alles eben nicht „gut in den Kram“. Im Umgang mit den Folgen für die Geschlechterverhältnisse und individuellen Lebensbereiche entstehen für Männer zwar neue Möglichkeiten aber auch neue Imperative. In der gegenwärtigen Türkei steuert der Nexus zwischen der Medikalisierung und des pronatalistisch-patriarchalen Konservatismus und den neoliberal-konsumeristischen Idealen dazu bei, dass sich die körperbezogenen Verständnisse und sozio-psychischen Prägungen von Männlichkeiten ändern. Männlichkeit wird eine gesellschaftspolitische Funktion zugeschrieben. Dass auch Männer ihre Umgangsweisen, Selbstbilder und Ein- und Vorstellungen über Intimität, Sexualität und Männlichkeiten ändern, wird dabei häufig als „ein positiver Schritt in Richtung einer gesellschaftlichen Transformation (toplumda dönüşüm)“ thematisiert. Im Folgenden gehe ich darauf ein, welche Wege und Strategien Männer im Kontext des Kindermachens und der Reproduktionsmedizin gegen die gefühlte Exklusion entwickeln. Ich konzentriere mich auf die neuartigen Aushandlungen Seitens der Männer, die ihre Männlichkeiten im Schnittfeld von Reproduktionsmedizin und Selbsthilfe neu herstellen und performieren. Dabei liegt der Fokus darauf, wie Männlichkeitsideologien angefochten und verändert werden.
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4.3 MÄNNLICHKEITEN IM WEIBLICH KONSTITUIERTEN TERRAIN: SELBSTHILFE UND AKTIVISMUS Egal wie die Diagnose ausfällt, Männer fühlen sich „auf dem Rücksitz, während die Frau mit ihrem Arzt zusammen die Fahrt steuert“. So grübeln die heterosexuellen Männer aus der Mittelschicht in meinem Sample metaphorisch über ihre Rolle im Kontext von Reproduktionsmedizin. Die Grübeleien beziehen sich auf die fixe und irrige Vorstellung, dass Frauen die alleinige Verantwortung in Sachen Infertilität tragen und diese demnach primär „Frauen-Belange“ wären. Die oben dargestellten Rollen, über die Männer klagen, fordern die eigenen Männlichkeitsentwürfe im Umgang mit heteronormativen Männlichkeitsidealen heraus. Es entsteht ein neues Narrativ der biosozialen Exklusion, wie ich es nenne. Die reproduktionsmedizinischen Erfahrungen stellen eine Herausforderung dar, wenn der begrenzte Einschluss als eine körperliche und soziale Marginalisierung im reproduktionsbiografischen Kontext empfunden wird. In diesem Teil möchte ich auf die partikulare Wissens- und Genderarbeit eingehen: Wie entwerfen Männer ihre Männlichkeiten in diesem als stereotypisch weiblich konstituierten Terrain? Wenn auch noch sehr zaghaft, haben manche Männer angefangen, die als marginalisiert empfundenen Positionen der Männer im reproduktiven Bereich umzudeuten und in ihre eigenen Männlichkeitsverständnisse zu integrieren. Die Selbsthilferäume werden hierbei als Aktionsraum gegen diese gefühlte Exklusion genutzt. Das Engagement der Männer verdeutlicht ein als problematisch empfundenes Verhältnis zwischen Männlichkeiten, Reproduktionsbiografie, Selbstoffenbarung und Selbsthilfe. Denn die Nutzung von Selbsthilfeangeboten wird nach wie vor als „unmännlich“ angesehen (Tjørnhøj-Thomsen 2009). Im Folgenden möchte ich auf die als unmännlich konnotierten Praktiken eingehen, die in den akademischen und öffentlichen Diskursen noch als Ausnahme gelten. Männern wird häufig Verheimlichung der Infertilität und „schweigsame Umgangsweisen“ damit zugeschrieben. Einige Männer, oft aus der städtischen Mittelschicht, verhalten sich eher genau gegensätzlich zu den normativen Erwartungen und den erlernten Männlichkeiten zugeschriebenen Haltungen. Tıknaz ist einer von ihnen. Der damals 35-jährige, zweifache Vater beschrieb mir die Ambivalenzen, die er habe, da er als Diagnoseträger kaum in die Behandlungen involviert werde. Weiter führt er aus: Für Männer sei es „möglich sogar manchmal von Vorteil in einer patriarchalen Gesellschaft wie der Türkei die Schuld und auch die Last auf die Frau zu schieben und während der Behandlungen abwesend zu sein“. Er behauptet, über die geschlechtlichen Unterschiede und Verantwortungen in diesem Feld der Biomedizin durchaus Bescheid zu wissen. Doch er möchte sich nicht darauf beschränken, in seinem Kinder-
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wunschprozess bloß als „Begleiter der Frau“ und als nur „Spermiengeber“ (sperm veren)“ beteiligt zu sein. Diesem reduktionistischen Verständnis steuert er mit seiner Reproduktionsbiografie aktiv entgegen. Während ihrer IVF-Behandlungen aufgrund einer doppelten Diagnose und eines in dieser Zeit vollzogenen Adoptionsverfahrens greift das Paar auf diverse Selbsthilfe-Angebote von ÇİDER zurück. Beide sind an den völlig unterschiedlichen Aspekten der Selbsthilfe und des Aktivismus interessiert. Während seine Frau sich eher „mit dem Ziel der Unterhaltung“, d. h. mehr zum emotionalen Austausch mit anderen Personen, als auf der Suche nach reproduktionsmedizinischen und fachlichen Informationen bei ÇİDER engagiere, sei er „mehr der Recherchierende“ von den beiden. Tıknaz gehört zu den Männern, die die Selbsthilfeangebote von ÇİDER aktiv nutzen und diese im reproduktionsbiografischen Wissens- und Stigma-Management einsetzen. Die netzbasierten Austauschräume sind für seine Umgangsstrategien und Wissenspraktiken sehr relevant, da diese für mehr Transparenz, Selbstoffenbarung und Entstigmatisierung sorgen. Mit Tıknaz führte ich zwei Interviews mit zeitlichem Abstand: Das erste fand während seines kurzen Aufenthalts in Istanbul statt, wo er ein Kinderwunschpaar zu ÇİDER begleitet hatte, und das zweite mit seiner Frau zusammen, als ich sie in ihrer Wohnung in einer kleinen Stadt im Süden der Türkei besuchte. In beiden Interviews ging es unter anderem um sein Engagement „als Mann“, nicht nur in den Behandlungs- und Adoptionsverfahren, sondern auch in den Selbsthilfe-Aktivitäten von ÇİDER. Er stellt sich selbst als reproduktiver Akteur dar und zielt darauf ab, einen „passablen“ Umgang mit den Auswirkungen der Reproduktionstechnologien auf die alltäglichen, reproduktionsbiografischen und privaten Lebens- und Sinnbereiche zu finden. Er stehe zu seinem Problem, „kann es in die Gesellschaft tragen und offen damit umgehen“. Mit gewissem Stolz erklärte er mir, dass sein Engagement in Sachen der Reproduktion von vielen als „für Männer nicht so gewöhnlich (çok da alışılmadık)“ empfunden wird. Menschen seien überrascht, dass er „als ein Mann überhaupt Interesse zeigt und seine Gefühle mitteilt ohne sich zu schämen“. Und weiter, dass er „mit dem Thema mehr vertraut ist als eine Frau und viel weiß über Reproduktion, Behandlungen, Hormone, Spermien, Eizellen oder so“. Für ihn selbst sind seine nicht-so-gewöhnlichen Attitüden ein Zeichen für einen offenen und selbstbewussten Umgang mit dem eigenen gesundheitlichen Zustand. Nicht selten werde dieser in der Gesellschaft als „feminin (kadın gibi)“ konnotiert und meistens den Frauen zugeschreiben. Vor diesem Hintergrund scheint die Art und Weise des Engagements in individuellen Gesundheitsfragen und familiären Reproduktionsanliegen gesellschaftlich umso mehr als Ausnahme. Tıknaz baut aktiv Beziehungen zu Frauen und Männern auf, die „das Gleiche durchmachen“ und mit denen er „ein gemeinsames Problem“ zu
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teilen glaubt: „Je mehr man kennenlernt, umso offener wird man bei bestimmten Dingen, man geht sogar ins Private.“ Auch dafür, dass es „mehr eine Sache der Männer wird“, setzt er sich ein und hofft dadurch, dass sich die sozialen Bedingungen ändern. Dies zeigt Ähnlichkeiten mit den altruistischen Handlungen der Frauen auf. Er erklärt „die Perspektive des Mannes“: „Denn auch ich weiß halt, wie schwierig es ist. Auch ich war bedachter; anfangs gab es natürlich Grenzen, aber inzwischen bin ich auch locker, so wie ein Arzt locker ist. Ich habe das als Mann überwunden, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, was die [Männer] denken. Ich interessiere mich ziemlich dafür. Also ich weiß so viel über diese Themen, wie es die meisten nicht wissen und sich nicht vorstellen können. Also, ob man es will oder nicht, sei es in den Behandlungen, oder in den Dings, du hilfst, erklärst und so.“
Sein reproduktionsbiografisches Engagement steht für das Schillern neuer Männlichkeiten, das mir in unterschiedlichen Situationen und Interviews mit anderen Frauen und Männern als „vorbildliches Beispiel“ genannt wurde. Er engagiert sich stark für die familiären Anliegen und Problemlagen in privaten wie in öffentlichen Bereichen. Er greift auf möglichst viele online wie offline Werkzeuge, Räume und Informationen zurück, um mit seiner als ambivalent erlebten Position umzugehen und neue Bewältigungsstrategien zu finden. In den Augen vieler meiner Interviewpartner*innen, die ihn persönlich oder ähnlich handelnde Menschen aus Selbsthilfekontexten kannten, handelt es sich dabei um ein nach wie vor ungewöhnliches Engagement von Männern bzw. darum: „Eine Hingabe in Sachen kein Kind haben zu können (çocuk sahibi olamama)“. Er flüchte nicht vor dem Problem und zeige keine Scheu sich auch mit den intimsten und sensiblen Problemlagen der Unfruchtbarkeit, öffentlich zu zeigen. Sein Engagement blieb nicht auf der Ebene der diskursiven und rhetorischen Selbstoffenbarung eines als infertil diagnostizierten oder ungewollt kinderlosen Mannes. Er sieht sich selbst als ein „lebendiges Vorbild“ für viele andere Männer und als einen Pionier mit seinem derartigen Engagement, welches er seit der frühen 2000er Jahre betreibt. Damit präsentiert er eine partikulare Selbsttransformation, die Männer im Kontext von IVF/ICSI und Kinderlosigkeit durchlaufen. Er verwandelte den individuellen Kinderwunschprozess zu einem Prozess der Selbstexpertisierung (siehe Kapitel 3.3). Er setzt sich für andere betroffene Männer und auch Frauen ein, indem er in online und offline Kontexten seine reproduktionsbiografischen Erfahrungen mitteilt sowie sein Wissen über und seine Meinungen zu Reproduktionstechnologien und medizinisch assistiertem Mann-Sein zur Verfügung stellt. Somit wollen Männer wie er sich von anderen Männern durch ihr aktives Engagement unterschieden wissen. Sie inszenieren und performieren sich dement-
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sprechend selbst als reproduktive Subjekte mit ausreichendem Medizinwissen, Interesse und auch Einfühlungsvermögen im privaten Leben. Verglichen mit aktiven Frauen stellen sie sich allerdings deutlich weniger emotional und sentimental dar. Ihre sozialen Interaktionen formen nicht nur Pfade zu ihren neuen Männlichkeitsentwürfen. Sie naturalisieren und normalisieren auch die bislang als feminin konnotierten Kompetenzen für Männer. Männer wie Tıknaz, mit denen ich mehrere Stunden über ihre eigenen Männlichkeitsideale und Kritiken an einer patriarchalen Gesellschaft diskutiert habe, engagieren sich proaktiv. Sie integrieren in ihre Narrative der Selbsttransformation ähnlich wie Frauen eine auf gewisse Weise heroische Rhetorik. Zugleich steuern sie unmittelbar dazu bei und profitieren von den kollektiven Selbstbildern, Kampfnarrativen und Heroismen auf dem Kinderwunschmarkt. Die Selbsthilfekontexte und Online-Gruppen sind hierbei signifikant, sie rahmen, wie Männer sich gegen die tradierten Rollen wenden (können) bzw. diese kritisch hinterfragen. Nach wie vor ist ein derartig, proaktives Engagement durch die verbreiteten Männlichkeitsvorstellungen und Diskurse eingeschränkt, die Männlichkeiten in binären Gegensätzen von „schwach und stark“ rahmen. Vor diesem Hintergrund kommt für viele Männer, die in hochgradig konservativen und patriarchalen Umgebungen leben, eine Partizipation in Selbsthilfeaktivitäten gar nicht infrage, da sie als weibliche Praktiken konnotiert sind. Tatsächlich werden Sozial- und Wissensräume in diesem spezifischen Bereich der Infertilität meistens von Frauen besetzt und damit einhergehend als „weibliches Terrain“ betrachtet. Häufig artikulieren Männer, dass die gesellschaftlichen Vorstellungen von Mann-Sein und vom männlichen Verhaltenskodex ihr eigenes Selbstverständnis beeinflussen. Im Umgang mit den normativen Erwartungen verstehen sie ihre eigene Männlichkeit als einen Aushandlungsprozess. Sie befinden sich quasi in einer Orientierungssuche für ihre krisenhaft empfundene Männlichkeit. Sie beschreiben mir aber auch, dass sie während der Behandlungen und auch danach über sich viel gelernt haben. Seine Perspektive hat sich durchaus geändert, auf sich selbst und auch auf die Gesellschaft und nicht zuletzt auf die gesellschaftlichen Vorstellungen von Infertilität, Männlichkeit und Männeridealen. Für Männer wie ihn ist Infertilität „ein medizinisch zu lösendes Problem“, das sie „als einen gesundheitlichen Zustand“ wahrnehmen. Sie nutzen dezidiert die reproduktionsmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten. Diese dienen ihnen dazu, wie bereits gesagt, in die Normen und Erwartungen patriarchaler Gesellschaft hineinzupassen. Im Umgang damit wird es aber auch möglich, die hegemonialen Männlichkeitsideale als Modell für ihre eigene Männlichkeit abzulehnen. Auch den bereits dargestellten Männlichkeitsvorstellungen und Stereotypen stehen sie kritisch gegenüber. IVF- und besonders ICSI-Technologien wer-
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den Teil ihrer Selbsttechnologien. Einige Männer ziehen dabei die reproduktionsmedizinischen Technologien, Praktiken und Diskurse heran. Auch dafür wird in diversen Selbsthilfe- und Austauschsituationen plädiert. Der medikalisierte Weg zum erwünschten Kind scheint signifikante Veränderungen zu generieren, besonders im sexuellen Leben der Paare. Sibel Tuzcu kommentiert wie folgt: „Warum? Du probierst eine lange Zeit. Nach einer Weile ist es kein natürlicher Sex mehr sondern findet unter der Kontrolle des Arztes statt. Es wird zu ‚Mach es heute, mach es morgen nicht‘. Dann verliert es sowieso seine Natürlichkeit. Also du machst etwas, nicht wegen deiner Hormone und weil du dich nach der Person, die dir gegenüber ist, sehnst, sondern weil du ein Ziel hast, um dieses Ziel zu erreichen. Das ist für dich wie eine Spritze [lacht]. Insemination ist auch für den Mann etwas. In diesem Moment, ja sie machen etwas gemeinsam, aber das wird mehr auf etwas zielend gemacht. Wenn sie das längere Zeit machen, werden die Gefühle ernsthaft abgeschnitten, traumatisiert, unterbrochen. Danach dauert es eine Weile, bis sie wieder zurückkommen. Ob sie an den vorherigen Ort zurückkommen oder nicht weiß ich nicht ganz.“
Männer behaupten, gelernt zu haben, sich in den ehelichen Beziehungen solidarisch zu verhalten und sich um die sozio-psychischen Auswirkungen auf sich selbst und auf die Paarbeziehung und Instabilitäten zu sorgen. Der körperliche Einsatz des Mannes beschränkt sich häufig auf die „Spermienabgabe“, was von vielen als „ein ernsthaftes Trauma für den Mann“ beschrieben wurde. Er muss seine Sexualität in einem mehr oder weniger als öffentlich erlebten Ort einer Klinik erleben, „während alle draußen das wissen“. Sarp Tekin war höchst aktiv am Behandlungsprozess beteiligt – immer „freiwillig“, „im Vergleich zu vielen anderen Männern in der Gesellschaft, sehr tapfer“, erzählte seine Frau Berna, bei der medizinisch alles unauffällig war. Das Paar hat spät geheiratet und wollte erst einmal ein paar Jahre verhüten, da sie noch nicht bereit waren, ihrem Kinderwunsch nachzugehen. „‚Lass uns doch etwas europäisch handeln und die Tests machen lassen, damit wir sie schon parat haben‘, sagte ich zu Berna“, erzählte Sarp als wir zu Dritt bei ihnen zu Hause in Istanbul miteinander sprachen. Stolz ergänzte seine Frau Berna: „Er machte alles, was von ihm verlangt wurde. [...] Sogar beim Spermiogramm sagte er: ‚Natürlich‘. Auch die behandelnde Ärztin war erstaunt über seine derartig selbstverständliche Zustimmung. ‚Sie sind ein Mann, dem man in der Türkei nicht oft begegnet‘, hat sie gesagt.“ Das erste Spermiogramm wies auf „Seltsamkeiten (tuhaflıklar)“ hin, die zum Ausbleiben der Schwangerschaft führen konnten. Er beschreibt es so: „Sie sehen, wie viele Arten von Spermien es gibt. Sie denken, dass Spermien nur ein
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Schwanz sind... aber das ist nicht so. Es gibt Hunderte Arten davon. Es gibt welche mit Kopf, welche ohne Kopf, und so weiter.“ Bevor das Paar mit dieser Diagnose zurechtkommen konnte, folgte eine Hodenkrebsdiagnose. Er musste so schnell wie möglich behandelt werden, wodurch der Kinderwunsch in der Lebensplanung des Paares erst mal ganz nach hinten rückte. Vorher ließ Sarp sich trotzdem Spermien entnehmen und für eine spätere Behandlung einfrieren. Der Krebs wurde erfolgreich behandelt. Die Kinderwunschbehandlung ging dann „mit den eingefrorenen Spermien weiter“, so Berna, „er ist nur als Begleitung mit mir gekommen (refakatçı)“. In unserem zweiten Interview erzählten sie, dass sie unterschiedlich darunter gelitten haben: Berna litt unter dem massiven Eingriff durch die Behandlung und er selbst litt als Diagnoseträger. Er zweifelte nicht an seiner Männlichkeit, dennoch wollte er nicht nur eine einfache Unterstützerrolle einnehmen. Er sah den ganzen Prozess „rational“, als „einen Weg, als eine Möglichkeit“, die man „ohne sich zu schämen nutzen kann“. Dennoch, die Konfrontationen im sozialen Umfeld waren, besonders für ihn als Diagnoseträger, herausfordernd. „,Liegt das Problem an dir oder an deiner Frau?‘, bekommt man oft zu hören, als wäre es eine Straftat.“ Aber er ging nicht darauf ein: „Denn man muss sich sehr gut mit den Themen auskennen. Es ist nicht etwas, was man einem mal kurz durch oberflächliches Erklären verständlich machen kann. Na ja, sowohl aufgrund der Herangehensweise der Gesellschaft, als auch aufgrund ihrer Art, Andere zu verurteilen. Wir waren zum Beispiel immer sehr locker drauf und haben gelacht.“
Sarp übernahm eine aktive Rolle als Begleiter, Unterstützer und informierter bewusster Entscheidungsträger im Behandlungsprozess. Für ihn ging es darum, das Problem „miteinander zu teilen“ und den Behandlungsprozess als Paar gemeinsam zu bewältigen. Wie Tıknaz gehört er zu den Männern der städtischen Mittelschicht, die gemeinsam mit ihren Ehefrauen unterschiedliche Selbsthilfe- und Informationsangebote in Anspruch nehmen. Mir gegenüber präsentieren sie sich als „aktiv Teilhabende (aktif katılan)“ im reproduktionsbiografischen „Leiden“ und „mit-teilende (paylaşan)“ Patienten/Betroffene. Den Männern, die ihre Rolle so beschreiben, geht es im Grunde um eine Neuorientierung in ihrem „intimate selving“ (Joseph 1999, Inhorn 2004, Inhorn/Wentzell 2011). Eine derartige Orientierung konfligiert kaum mit Eigenschaften, die etwa als „unmännlich“ bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil identifizieren sich einige Interviewpartner bewusst damit. Ihre Narrative beinhalten Darstellungen eines heroischen Selbst, das sich im Zuge des familiären reproduktiven Kampfes ändern und neu positionieren kann. Als Mann also, der nicht nur zu seiner Ehefrau hält, sie unterstützt
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und „den Prozess mit ihr zusammen durchmacht“, sondern sein eigenes Management und seine eigenen Bewältigungsstrategien entwickelt. Dafür begibt er sich auf die Suche nach Möglichkeiten einer Neuorientierung, sei es in den realen, aktuellen Behandlungssettings und Kliniken oder in seinem sozialen Umfeld. Er engagiert sich in den realen und netzbasierten advokatorischen Selbsthilfekontexten von Kinderlosen und IVF-Patient*innen. Er nutzt die informativen und psychosozialen Hilfe- und Selbsthilfemöglichkeiten aktiv, tauscht sich beispielsweise mit anderen Frauen und Männern aus und versucht dadurch Informationen über IVF-Technologien und Infertilität zu sammeln. Das Bedürfnis geht meistens mit den ausgrenzenden Effekten klinischer Behandlungsverfahren und der Konfrontation mit biomedizinischen Settings einher. Zusätzlich geht es auch um eine Motivation, sich selbst zu „ermächtigen“, indem sie „möglichst viel darüber erfahren“, „das Problem verstehen“ und bereit sind, sich darin selbst neu zu orientieren. Veli Kalems Erfahrungsgeschichte verkörpert dies sehr gut. In meinem Interview mit ihm erzählt er eine schrittweise erfolgte Selbsttransformation. Bis zu den ersten Untersuchungen und dem Erstspermiogramm wusste er nicht, dass auch männliche Infertilität existiert bzw. dass das Ausbleiben der Schwangerschaft mit dem männlichen Körper zu tun haben könnte. Für das Ausbleiben der Schwangerschaft wurde bis dahin seine Frau verantwortlich gemacht. Der soziale Druck war enorm groß, was er als eine Art „emotionale Ausbeutung“ erlebte. Doch dann erhielt er ein „schlechtes Spermiogramm“ und war damit nun der Diagnoseträger. Seinen Umgang mit den Reaktionen seiner eigenen Unfruchtbarkeit gegenüber und die damit verbundenen patriarchalen Ideologien beschreibt er wie folgt: „Na ja, so schaut man doch immer auf die Dinge. Alles, was wir bis heute erlebt haben – und auch wenn es in meinem eigenen Umfeld so etwas gegeben haben sollte, so habe ich nicht mitbekommen, dass es am Mann liegen soll. Sie sagen sich halt: Wieso sollte es am Mann liegen. Schließlich wissen sie ja auch, da sind Spermien, alles ist normal, es gibt keinen Grund, wieso es nicht klappen sollte. Und man sagt sich: Wenn überhaupt, dann liegt es an meiner Frau. Du kennst dich damit halt nicht aus. Weil du die medizinischen Details nicht kennst, kommst du auf solch eine Überlegung. Als man mir das damals sagte, habe ich mich irgendwie auch gefreut, für meine Frau habe ich mich gefreut. Hätte es an ihr gelegen, hätte ihr das noch mehr Probleme bereitet, da die Gesellschaft konservativ ist. Aber, dass es an mir liegt, denn man hat mich sehr oft [gefragt], ich sagte: Es liegt an mir. Und das Thema war für mich erledigt und man fragte nicht mehr danach.“
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Er „stellte“ sich zunächst dem Problem der Infertilität, dann setzte er sich auch dafür ein, dass das Paar eine gewisse reproduktive Autonomie und Selbstbestimmung erlangte. Vom Zweifel ein „Mann zu sein“ ist bei ihm kaum die Rede. Auf meine Frage antwortet er klar: „Ich habe meine Männlichkeit nie in Frage gestellt.“ Das Spermiogramm ergibt das Resultat, das er mehr oder weniger als Beweis seiner Zeugungsunfähigkeit wahrnahm. „Die Spermienzahl lag bei etwa 150 Millionen“, erinnert er sich, „nur die Beweglichkeit war sehr gering“. Er musste sich keinem operativen Eingriff unterziehen, wie beispielsweise TESE, bei der Samenzellen direkt aus den Hoden entnommen werden: „Mit der Anzahl oder dem Nichtvorhandensein von Sperma hatte das nichts zu tun.“ Er stützt sich auf die rekurrierenden Erklärungs- und Begründungsmuster: „Letztlich ist das ja auch eigentlich kein Fehler“, teilt er seine Meinung mit, „es ist etwas, das gottgegeben ist“ und weiter: „Ich sagte auch nicht, ich wäre zeugungsunfähig, aber ich sagte manchmal so bei mir: ,Wieso habe ich so ein Problem?‘ Na ja, so innerlich, nicht innerhalb der Gesellschaft, sondern für mich. Auch mit meiner Frau haben wir uns nie darüber unterhalten. Ich wollte nicht so sehr darüber sprechen, denn es machte meine Frau viel zu traurig. Wir sind diese Art Themen umgangen, denn wir waren der Meinung, dass sie uns belasten würden.“
Er beschreibt sich selbst als gläubigen und praktizierenden Muslim. Seinen Glauben und damit einhergehende fatalistische Orientierungen zieht er aktiv als Wissens- und Wahrheitsressource in seinen Begründungs- und Selbstbehauptungsstrategien heran. Er sagte, „am Anfang wollte ich nicht, dass eine Menschenseele davon weiß“. Mit der Zeit lernte er, „da gibt es nichts dran zu rütteln; aber was erforderlich ist, werden wir tun“. Für ihn ist es sein „Schicksal“, wie viele gläubige und praktizierende Muslime in diesem Feld sieht er es als Allahs’ Wille und Prüfung. Er erklärt: „Wenn etwas nicht mein Los ist, so wird es mir auch nicht zuteil“. Nichtdestotrotz fühlte er sich in der langen Kinderlosigkeit immer mehr durch eigene innere Auseinandersetzungen und Reaktionen aus seinem Umfeld unter Druck: „Ich habe da so eine Eigenart. Ich kann nicht weinen und manchmal laufen bei meiner Frau die Tränen äußerlich, bei mir hingegen laufen sie innerlich. Es sieht also niemand, wenn ich weine, keine Menschenseele. Es ist sehr schwer für einen Mann. Frauen können ihr Inneres irgendwie ausschütten, doch für Männer ist diese Verantwortung, kein Kind zeugen zu können, eine große Last. Frauen sind, wie ich vorhin schon sagte, stark. Irgendwie schaffen sie es, sich zu fangen, tun halt irgendwelche Dinge. Aber bei Männern wächst und wächst und wächst das innerlich und sie können es nicht rauslassen.“
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Veli, aufgewachsen in einer konservativen und muslimischen Familie, lernte seine Hemmungen abzubauen. Er stellt die gesellschaftlichen Barrieren und „gelernte Männlichkeit“ in Frage. Als ein „verschlossener Mensch“ mit einer konservativen Weltanschauung musste er seine individuellen Grenzen, die ihn massiv daran hinderten, über intime Themen wie Sexualität, Reproduktion etc. zu reden, „überwinden“. Ohne dabei „in Schamesröte zu vergehen“, konnte er nicht einmal die Begriffe „Samen und Eizellen in den Mund nehmen“. Er ist kein Sonderfall, beteuert er, „das hat etwas mit der Verschlossenheit der Gesellschaft zu tun“. Damit meint er die Verinnerlichung von normativen Verhaltensregeln, allgemeinen stereotypen Erwartungen und Geschlechterrollen. Als Folge sozialen Lernens und von „Gelerntem (öğrenilmiş)“ seien Männer nicht nur emotional verschlossen. Sie würden zugleich die Tabuisierungen verinnerlichen und jegliche freie Äußerung von intimen Angelegenheiten und Gefühlen als entwürdigend erleben. Mit Orientierungshilfe von anderen Menschen im Internet oder auf den Informationsveranstaltungen lernte er seine individuellen Hemmungen abzubauen und „einzusehen, dass es dabei überhaupt gar nichts gibt, wofür man sich schämen muss“. Infertilität als ein biosoziales Problem des Stigma- und Informationsmanagements versucht er also innerhalb und durch die neuen Politiken der Schweigsamkeit und Offenheit zu bewältigen. Trotz der Herausforderung und Belastung begab er sich „auf den Weg zum eigenen Kind“ aktiv in die emotionale Landschaft der Selbsthilfe. Mehr als seine Frau engagierte er sich in diversen Aktivitäten und war als einer der ersten männlichen Engagierten auf netzbasierten Austauschforen am Aufbau einer Kinderwunsch-Aktivist*innenSzene beteiligt. Er versuchte für sich und für seine Frau „Halt“ dadurch zu finden: „Wir waren an unsere Energiegrenzen angelangt, na ja wir waren am Ende ganz schön kaputt.“ Und weiter: „Meine Frau hatte keine Kraft mehr. Die Behandlungen, die Medikamente, dies und jenes hatten sie psychisch ganz schön mitgenommen. Letzten Endes hat der Mann nicht so schwer zu tragen. Ich meine damit die Medikamente, die Behandlungen. Die größte Last hierbei trägt die Frau. Auch wenn der Fehler nicht bei ihnen liegt, so müssen sie doch zig Medikamente nehmen, die ihrerseits Nebenwirkungen haben.“
Verglichen zu vielen Paaren zählt das Paar zu jener „glücklichen Gruppe“, sagt Veli, bei der die Nachricht von der Schwangerschaft „wie die Rettung in letzter Not“ kam. Er spürte den „Fortpflanzungs-Druck“ nach jedem Misserfolg bei den Behandlungen immer stärker. Rückblickend spitzt er es zu: „Ein positiver Aspekt ist, dass wir gelernt haben, eine Familie zu sein. Eins zu sein und das Leiden miteinander zu teilen.“ Seine erlernten Vorstellungen wären ins Schwanken
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geraten, was er als einen weiteren positiven Effekt aus der schwierigen Phase in seinem Leben sieht. Männer wie er betrachten in meinem Sample diese Folge für sich selbst und auch für ihre Männlichkeitsvorstellungen retrospektiv als einen Lern- und Aushandlungsprozess. Dies führt dazu, ihre Wertvorstellungen über Männlichkeit, Reproduktion, Vaterschaft und Kinder neu abzuwägen. Ihre Selbstbilder ändern sich und sie bestärken ihre individuellen männlichen Identitäten als „betroffene“ Männer, „zärtliche“, „verantwortungsvolle“ und „verständnisvolle“ Ehemänner und werdende Väter. Es sind nur einige Adjektive, mit welchen sich Männer wie Frauen im Umgang mit dem reproduktiven Leiden und der Last ihrer Frauen beschreiben. Das Leid wie die Last bleibe auf den Schultern der Frauen. Doch als Ehemänner würden sich diese Männer im strapazierenden Kinderwunschprozess neu positionieren, den psycho-sozialen und körperlichen Erfahrungen der Frau nachempfinden und sich gleichzeitig „mit ihr solidarisieren“. Tıknaz klagt beispielsweise über die patriarchalen Familien- und Erfahrungsumgebungen. Bei Situationen wie der Infertilität, die die individuellfamiliäre Selbstbestimmung einschränken, käme „dem männlichen Partner eine große Aufgabe zu“: „Er muss gegenüber der Familie geradestehen und lernen, alles gut zu managen. Er muss der Familie die Situation erzählen. Und schließlich ist das ja unser Leben. Das Problem kann bei meiner Frau liegen, oder es kann ein Problem bei mir sein. Also das ist unser Leben. Niemand hat das Recht, sich da einzumischen. Wenn die uns akzeptieren, müssen sie uns so akzeptieren. Es geht also nicht um die Verteidigung der Frau oder so [...] Er muss das erklären. Also es kommt daher, dass man dazu neigt, vor den Problemen zu flüchten... also da es immer noch ein wenig als Schande verstanden wird, kein Kind zu bekommen... Diese Probleme kommen ein wenig von unserer allgemeinen kulturellen Beschaffenheit. Also wir betrachten das immer noch nicht als eine Krankheit.“
Die neue intime Selbstwerdung einiger Männer umfasst also die noch zaghaften Veränderungen in Sozial-, Verwandtschafts- und Ehebeziehungen. Dabei scheinen Männer sich neue Praktiken anzueignen. Sie leisten eine intensive Wissensund Genderarbeit – teils an den individuellen und gesellschaftlichen Barrieren und Tabu-Zonen sowie teils an der strukturellen Exklusivität der Reproduktionsbehandlungen. Dabei geht es ihnen auch um mehr individuelle Autonomie in der Privatsphäre und den ehelichen Beziehungen. Die Sozialanthropologin Marcia Inhorn (2012b) beschreibt in ihrer Analyse der Praktiken und Narrative der Männer im Kontext von IVF/ICSI in Ägypten derartig signifikante Veränderungen unter dem Begriff „emergent masculinities“. Darunter versteht sie eine Neuorientierung von Männern hinsichtlich „der vier M’s: Maskulinität, marriage, Mo-
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ralität und medizinische Behandlungssuche“ (ebd.: 30). Emergenz beziehe sich dabei auf ein prozessuales Verständnis von Männlichkeiten, die bei Inhorns Studie kontextuell plural, aber kulturell teilweise eher in ihren singulären Erscheinungen konzipiert werden. Das Konzept soll „die laufenden, kontextspezifischen und verkörperten Veränderungen in Inszenierung von Männlichkeit von Männern [erfassen]“ (Inhorn/Wentzell 2011: 802). Emergierend daher, weil die Männer ihre Männlichkeit neu konzipieren und dabei „technoscientifically and morally agentive within their local moral worlds“ agieren (Inhorn 2012b: 226). Wenn nun seit der frühen 2000er Jahre der Männerrollen und -praktiken öffentlich wie sozialwissenschaftlich mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, so vor allen Dingen deshalb, weil die Medikalisierung zu heterogenen und neuen Männlichkeitsentwürfen dient (Rosenfeld/Faircloth 2006). Es liegen noch keine umfangreichen Untersuchungen vor, die sich der Frage widmen, wie die reproduktiven Männlichkeiten an unterschiedlichen Schauplätzen mit ihren jeweils unterschiedlichen historischen und kulturell ausgehandelten Umständen hergestellt werden. Bislang wurden Männlichkeiten besonders in den nicht euroamerikanischen Ländern und sogenannten patriarchalen Gesellschaften untersucht. In Frage stand zudem auch, wie die neuen Bio- und Reproduktionstechnologien auf die lokalen Männlichkeitskonstruktionen wirken und dabei neuartige Männlichkeiten hervorrufen bzw. die hegemonialen Männlichkeiten herausfordern. Oft argumentieren die Forschungen, explizit oder implizit, gegen ein Bild patriarchaler Männlichkeit aus der sogenannten nicht-westlichen Welt. Sie adressieren neue Repräsentationsmöglichkeiten gegen die dominanten Diskurse in den westlichen Öffentlichkeiten und Sozialwissenschaften (vgl. Inhorn 2004, Inhorn/ Wentzell 2011). Es geht unter anderem um die muslimische Männlichkeit zwischen Wandel und Persistenz. Die neuartigen Selbstverständnisse und -praktiken der Männer hängen meiner Meinung nach mit den vielschichtigen Auswirkungen der neoliberalen und neokonservativen Transformation zusammen. Sie sind empirisch wie konzeptuell als fortlaufende Aushandlungsprozesse im Umgang mit Reproduktionsmedizin und auch mit Kinderwunschökonomien verstehbar. Die Männererfahrungen, die ich in diesem spezifischen Terrain der Selbsthilfe analysiert habe, sind unmittelbar mit den neoliberalen Ideologien und Imperativen über Gesundheit und Selbstverantwortlichkeit verwoben. Dazu gehört auch der Aktivismus (Sabo 2005). Im letzten Jahrzehnt sind die NGOs, der Selbsthilfe-Aktivismus und besonders das Internet die wesentlichen Antriebsfaktoren in der Entfaltung und Verbreitung dieser Ideale geworden. Die Praktiken der Männer, obgleich diese bislang eher an die Ränder der Reproduktionsmedizin verbannt oder verschwiegen werden, sind nun auch hierfür anfällig. Diese geraten nicht bloß stärker in
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die Öffentlichkeit. Auch Männer problematisieren ihre eigenen Beteiligungsmöglichkeiten und versuchen diese zu erweitern. Ihr Engagement in den Selbsthilfegruppen gilt nach wie vor als Ausnahme in Ausnahmezuständen, dies gilt sowohl für westlich als auch nicht-westlich geprägte Kontexte. Tine Tjornhoj-Thomsen (2009) beschrieb beispielsweise in ihrer Studie zu dänischen Kinderwunschpaaren durchaus verallgemeinerbare und geschlechtsspezifische Orientierungen in lokalen Selbsthilfegruppen für ungewollt Kinderlose. Jegliche psycho-soziale Hilfesuche und Selbstoffenbarungspraktiken würden dort als „unmännlich“ wahrgenommen und klassifiziert, argumentiert sie. Auch innerhalb der Gruppe und in den Gruppeninteraktionen, an denen Paare gemeinsam teilnehmen, verhalten sich Frauen aktiver und Männer eher zurückhaltend. Auch in meinem Feld ist es ähnlich. Männer wie Veli Kalem betrachten die große online und offline Gruppe der Betroffenen, in der sie involviert sind, eher als eine „Frauengemeinschaft (kadın cemiyeti)“. Auch eine solche Bereitschaft wird häufig als ein positiver Schritt angesehen, damit auch als ein Resultat von Lernprozessen, eigene Männlichkeit aufs Neue zu bewerten und öffentlich (dezidiert) an die Reproduktionsbiografien, ehelichen und individuellen Intimitäten und damit einhergehenden Beziehungen und Problemlagen zu knüpfen. Auch das als weiblich wahrgenommenes und konstituiertes Terrain der Selbsthilfe nutzen die Männer, mit denen ich sprach, gezielt, um ihre Männlichkeiten herzustellen, zu erproben und zu performieren. Es ist zugleich ein Sozial- als auch ein Wissensraum, in dem die neuen aktivistischen Männlichkeitspraktiken sich neu behaupten. Es lenkt die öffentliche Sichtbarkeit dieser neuen Männlichkeiten aktiv. Weil es als weiblich konnotiert ist, wird es jedoch von Männern noch immer begrenzt, äußerst dilettantisch, zurückhaltend und vorsichtig genutzt. Die engagierten Männer exemplifizieren neue „zivile Männer“ (Sancar 2008: 12). Gerade durch das zivilgesellschaftliche Handlungsfeld lässt sich ein tiefer Einblick in die unterschiedlichsten Männlichkeitserfahrungen gewinnen. Darin engagieren und präsentieren sich die Männer als Engagierte gegen hegemoniale und normative Männlichkeitsformen und ihnen inhärente habituelle, maskulin-patriarchale und kulturelle Inhalte. Indem sie Formen und Praktiken der alternativen Männlichkeiten in Umlauf bringen, tragen sie zu einer Veränderung von Männlichkeit bei. Sie entwerfen nicht nur ihre persönlichen und höchst intimen Deutungs- und Handlungspraktiken, Sinngebungen und Selbstbilder, sondern zugleich auch neue Notionen der Männlichkeit, Geschlechterbeziehungen und -modelle. Sie fordern die bereits existierenden und dominanten Verständnisse der Männlichkeit heraus und steuern gegen konventionelle Geschlechterstereotypen und damit verbundene Muster in der Gesellschaft. Nichts-
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destotrotz machen die diskursiven und praktischen Effekte des Betroffenenaktivismus die Geschlechterunterschiede sichtbar. Eine sehr bemerkenswerte Transformation der Männlichkeiten lässt sich in den öffentlichen Veranstaltungen von ÇİDER beobachten. Obgleich die Frauen in der Mehrheit sind, nehmen auch viele Männer mit ihren Frauen daran teil. Vereinzelte Männer kommen sogar ohne ihre Ehefrauen, um sich über die männliche Infertilität und deren reproduktionsmedizinische Lösungen zu informieren. Eine biosoziale Neuorientierung und ein neues Verantwortungsbewusstsein der Männer „in Sachen Reproduktion“ werden hier ersichtlich. Männer positionieren und präsentieren sich in solchen mehr oder weniger geschützten Räumen als einfühlsame und verantwortliche Ehemänner, aktive, bewusste und informierte Patienten und reproduktive Akteure. Schließlich performieren sie sich als moderne Männer, die über sich selbst und über die gesellschaftlichen Um- und Missstände bewusst reflektieren. Sie narrativieren die Irritationen, Verzweiflungen, aber auch dadurch entstandene Selbstverständnisse und Praktiken, wie etwa ihr soziales Kapital welches sie aus einer „schwächeren Position als Mann“ schöpfen. Der folgende Erzählmodus eines Teilnehmers während einer Veranstaltung in Istanbul ist typisch für die männliche Selbstdarstellung: „Wir sind circa seit sechs Jahren verheiratet. Und seit diesen sechs Jahren setzen wir uns mit der Behandlung meiner Frau auseinander. Das teilen wir immer miteinander, denn ich bin ihre Hälfte und sie ist meine. Wir müssen die Behandlung zusammen durchstehen. Ich betrachte es so, als wäre ihre Krankheit zur Hälfte meine Krankheit. Das war schon immer so. Wir sind gerade mitten in der Behandlung. Außerdem sind wir Mitglied von ‚Çocuk İstiyorum Dayanışma Derneği‘. Hier bitte ich einfach alle im Saal, zuerst im Verein Mitglied zu werden. Genau deshalb, weil wir dadurch die Ärzte erreichen können, mit denen wir sonst keinen Kontakt herstellen können. Oder hier setzen wir uns mit unseren eigenen Angelegenheiten auseinander.“
Darüber hinaus geht es hierbei auch um ein Plädoyer an andere betroffene Männer. Das selbsthelferische Engagement wird nahegelegt, um sich selbst als aktive Partizipanten in Behandlungen neu zu behaupten. Während einer anderen Informationsveranstaltung in der Stadt Giresun am Schwarzen Meer ergriff ein Teilnehmer das Mikrofon und sagte: „Männer wissen meistens nicht, wie sie sich an den Behandlungen beteiligen können. Alles beginnt und endet bei der Frau. Sogar dann, wenn das Problem bei dem Mann liegt. Es gibt natürlich kein Rezept dafür. Man lernt aus den Erfahrungen und sucht immer nach Wegen, sich als Mann zu orientieren.“ Hier wird nicht nur eine simple Orientierungslosigkeit sondern auch ein „Bedarf“ an Orientierungshilfe und -angeboten zur Sprache ge-
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bracht. Ein anderer Teilnehmer, in der Nachbarstadt Ordu, versteht sich als „Sprachrohr (onların tercümanı) für die Männer, die nicht über dieses Thema reden wollen“. Er selbst habe „als Mann darunter gelitten“. Jeweils bei ihm und seiner Frau wurden unterschiedliche für eine Schwangerschaft medizinisch problematische Diagnosen festgestellt. Nahegelegt wurde eine reproduktionsmedizinische Behandlung per IVF, das Paar hoffte allerdings trotzdem auf „eine Schwangerschaft auf natürlichem Wege“. Nachdem die erhoffte Schwangerschaft immer wieder ausblieb, wandte sich das Paar zunächst an eine lokale Praxis im Wohnort und ließ sich später in Istanbul behandeln. Er wurde einer mikrochirurgischen Varikozelen-Operation unterzogen, eine invasive Methode bei Hodenkrampfadern, einer häufigen Ursache im Zusammenhang mit einer Reproduktionsschwierigkeit. Erhofft haben sie sich damit, sich eine invasive Behandlung zu sparen. Im Nachhinein dachte er, dass es ein unnötiger Eingriff war und reflektierte kritisch „über den spärlichen Zugang zu Informationen, über fehlerhafte Umgangsweisen mit medizinischen Beratungen“, was „immer an den geringen und fehlenden Kenntnissen“ liegen und „mit einem Druck von außen verstärkt“ würde. Er beschrieb, mit welchen Unsicherheiten die Paare konfrontiert werden: „Wie vorhin gesagt wurde [verweist auf die Rede einer Frau, die von Einflüssen durch ‚Ratgebereien‘ geredet hat], äußert jeder eine Meinung. Obwohl wir gebildete Menschen sind, führt uns Kinderwunsch dazu, diese Meinungen ernst zu nehmen. Ich habe miterlebt, wie meine Frau immer wieder geweint und gelitten hat [...]. Acht Jahre haben wir es versucht. Finanziell sind wir überlastet. Insbesondere den Männern erzähle ich... Hier hat mir ein Arzt gesagt, wenn er mich operiert, hätte ich hundert Prozent Kinder haben können, ohne Tüp Bebek. Ihm habe ich gesagt, dass ich mich bei den Professoren in Großstädten untersuchen lassen habe und mir gesagt wurde, dass ich ohne eine Behandlung kein Kind bekommen kann. Trotzdem sagte er, ich muss mich operieren lassen und ich ließ mich operieren. Ohne Resultat. Nicht, dass ich auf die Ärzte hier herabschaue oder so was, aber es ist gerade bei dieser Sache wichtig, die richtige Adresse und Expertise zu finden.“
Er plädiert damit einerseits für eine maximale und zielorientierte Nutzung von Reproduktionstechnologien. Andererseits legt er damit auch anderen, unerfahrenen Patienten nahe, „bewusst zu handeln“, d. h. mit den medizinischen Informationen und möglichen Missständen rationaler und bewusster umzugehen. Hierbei wird deutlich, wie „men navigate – and ultimately transform – their social worlds“ (Inhorn/Wentzell 2011: 803). Die Selbsthilfegruppen formen die Sichtweisen dieser Männer auf sich selbst und auf die gesellschaftlichen Umstände, in denen sie ihr reproduktives Selbst und ihre Reproduktionsbiografien (er)leben. Et-
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liche andere wie Kalem und Tıknaz machten auch auf die wachsende Bedeutung von Erfahrungs- und Informationsaustausch aufmerksam. Sie äußerten sich aufgrund des Sozialdrucks und der stets empfundenen Begründungszwänge kritisch gegenüber dem, was als „männlich“ und „unmännlich“ bewertet wird. Die kulturellen Zuschreibungen und normativen Erwartungen nutzen Männer auch pragmatisch, um die männlichen Subjektivitäten zu bestätigen aber auch um diese zu verändern. Manche werden als Eigenschaften der modernen und selbstbewussten Männer umgedeutet. So fühlen sich Männer durch ein „Gemeinschaftsgefühl“ und ein „Miteinander“ – zusammen mit ihren Frauen – in der eigenen Männlichkeit gestärkt. Manche Reaktionen aus dem Umfeld werden weiterhin als verletzend erlebt und durch die erlernten Männlichkeitsgefühle und -empfindungen fühlen sich die Betroffenen „weniger männlich“. Die Männlichkeiten stellen sich zur Herausforderung in diesem spezifischen Terrain der Reproduktion und der Biotechnologien. Männer integrieren gerade jene Problemlagen und Eigenschaften in ihre neuen Männlichkeitsentwürfe und Inszenierungen, die in der patriarchalen Geschlechterordnung entweder stigmatisiert, als feminin konnotiert oder dem heteronormativen Mann-Sein völlig abgesprochen werden. Sie praktizieren eine dezidiert aktive Partizipation, nicht nur an der familiären Konfrontation, sondern im gesellschaftlichen Umgang mit Reproduktionstechnologien und den von diesen produzierten Männlichkeitsformen. Zum einen stehen sie für die sich verändernden und neuen Verhältnisse der Männer zu Reproduktion, Vaterschaft und Infertilität. Zum anderen stechen besonders Männlichkeitsentwürfe im Schnittfeld von Reproduktionsmedizin, Biotechnologien und Zivilgesellschaft hervor. Zum Schluss möchte ich argumentieren, dass die in den Selbsthilfegruppen und in Internetforen rekurrierenden Diskurse und Rhetoriken die anfänglichen Veränderungen in patriarchalen Aushandlungen markieren. Im Kontext der Selbsthilfe tun sich neue Räume für Performanz und alternative Inszenierungen der Genderarbeit auf. Somit gelangen die bislang unsichtbaren bzw. sozial stigmatisierten und tabuisierten Erfahrungen mit Geschlecht, Reproduktion, Sexualität, Familie und Elternschaft in die Öffentlichkeit. In der Türkei wirbeln sich die Wissenspraktiken weiterhin um ein hochgradig flüchtiges und dynamisches Zusammenspiel von (konservativem) Pronatalismus, der heterosexuell tradierten Geschlechterordnung und idealtypisierten Lebensentwürfen moderner und konsumeristisch orientierter Männer und Frauen. Dieses Zusammenspiel schlägt sich im Selbstaktivierungsmodus nieder und wirkt auf die geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster, Selbstbilder und Selbstpraktiken der Protagonist*innen dieser Studie ein. Das Zusammenspiel dient zur Produktion des weiterhin vergeschlechtlichen Engagementmodus‘ im Kontext der Reproduktionsmedizin sowie
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auch der -biografien. Wie bereits in der sozial- und kulturanthropologischen Literatur aufgearbeitet wurde, mobilisieren die aktivistischen Räume – ob online oder offline – global und in unterschiedlichen medizinischen und sozialen Kontexten mehr Frauen als Männer (vgl. Taussig et al. 2003). Gerade in dem umkämpften und als weiblich konstruierten Feld der Reproduktionsmedizin lässt sich eine patriarchale Komplizenschaft zwischen der tradierten Geschlechterund Fürsorgepolitik, den neoliberalen Imperativen und den Kinderwunschmärkten erkennen.
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Communities mitgeteilter Erfahrungen Online-Offline-Welten
Das Internet ist „eine perfekte Organisation“, murmelt Berna im Interview vor sich hin. Nachdem ihr klar geworden war, dass ihr Kinderwunsch nicht auf „normalem Weg“ erfüllt werden kann, wurde sie so etwas wie ein „Internet-Junkie“. Täglich durchforstete sie das Internet nach Informationen, ging online und tauschte sich in verschiedenen Foren mit anderen Frauen und Männern aus. Auch für ihren Mann war es ein wichtiger Raum, indem er seine eigenen Recherchen machte. Das Internet hatte starke Auswirkungen, und zwar auf entschieden geschlechtsspezifische Weise, auf ihre Umgangsweisen mit Infertilität und Reproduktionsmedizin, welche praktisch nicht nur ihren Alltag, aber auch ihre Beziehungen in Nahwelten herausforderten. Für sie beide war die Hauptsache, dass sie verstanden, was ihnen passierte und auch wie ein Paar wie sie damit umgehen sollte. Ohnehin versteht sich das junge und berufstätige Paar als belesene und recherchierfreudige Mittelschichtsfamilie einer Weltmetropole wie Istanbul. Zu ihrem Selbstverständnis gehört die digitale Anbindung an das große Netzwerk Betroffener. Beide ließen sich dort auf neue Sozialbeziehungen ein, in denen es sich ausschließlich um die reproduktionsbiografischen und -medizinischen Erfahrungen handelt. Das Paar hatte kein Interesse an und auch kein Wissen über die klassischen Selbsthilfegruppen, an die sie sich in Istanbul wenden konnten. Bis zur Geburt ihrer „Reagenzglas-Tochter“ hat Berna selbst viel von der anonymen und durchgehend offenen Onlineplattform profitiert. Die Selbstoffenbarung im Internet, bei solch einem intimen Thema, sehen weder sie noch ihr Mann als „verwerflich“. „In der Türkei sehen die Menschen das als etwas, vor dem man sich schämen muss“, erzählt sie mir und sie konnte sich selbst überzeugen, dass das „Netz für viele Menschen hilfreich sein kann, die Angst haben, sich genieren oder kein Wissen darüber haben“. Das Internet „beeinflusst sehr positiv dabei“, sagt Berna, „dass es nichts ist, weswegen man sich schämen braucht“. Während meiner Forschung war Berna
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weiterhin dort engagiert, sie sagt, dass sie „den Menschen etwas in eine positive Richtung mitgeben kann“. Das Internet bietet also einen Raum, für die Bewältigungsstrategien mit Stigmatisierung, Schamgefühlen und Ängsten. Es wird aber auch zu einem Werkzeug, um mit den politischen, sozialen und kulturellen Kodes, Kategorien und Verständnissen umzugehen und diese zu ändern. Es stellt das letzte, vielleicht mächtigste Element im „Medien-Medizin-Nexus“ (Bharadwaj 2002) dar. In diesem laufen, wie überall auch in der Türkei, die Wissensund Informationsvermittlung über die Reproduktionstechnologien und auch über die (kulturellen) Umgangsweisen mit ihnen zusammen (vgl. Kahn 2006). Das Internet greift in die bislang dominanten Wissens- und Informationsstränge ein (Polat 2012), auf die Menschen auf ihrem Weg zum ersehnten Kind bisher zurückgegriffen haben. So wurde das Internet auch in meiner Forschung zu einer zentralen Feldsite und eröffnete mir neue Zugänge zu den Sichtweisen auf die von mir untersuchten Veränderungen im Schnittfeld von Medizin und Alltag. In diesem Kapitel werde ich die Verflechtungen zwischen Online- und Offline-Welten aufzeichnen und erkunden. Zunächst werde ich die Kinderwunschplattform www.cocukistiyorum.com und ihre Internetforen im Detail vorstellen. Auf dieser Internetseite habe ich mit zeitlichen Abständen circa zwei Jahre geforscht. Diese avancierte für viele, in diesem Feld unterschiedlich situierten Akteur*innen, zu einer zentralen Online-Anlaufstelle. Hier engagieren sich die „Ehemaligen“, die aktuellen und die potenziellen IVF-Nutzer*innen und Reproduktionsmediziner*innen. Die räumlich versprengten als infertil diagnostizierten Individuen und ihre Angehörigen kommen zusammen. Ich analysiere die netzbasierten und darüberhinaus gehenden Praktiken der Protagonist*innen. Hierbei stellt sich die Frage, wie sie ihre Beziehungen in diesen Internetforen als eine netzbasierte „Community von Menschen mit geteiltem Schicksal“ verstehen bzw. wie sie ihr Netzwerk als solche konstituieren. In/Fertilität als eine biosoziale Problemlage wird dadurch zwar nicht gänzlich von den Nahwelten, der Familie und dem sozialen Umfeld entkoppelt, so mein Argument, aber doch in die neuen Aushandlungskontexte expandiert. Am Beispiel einer kleinen, sich örtlich versammelnden, Frauengruppe werde ich im letzten Teil dieses Kapitels auf die ganz spezifischen und lokalen Auswirkungen der netzbasierten Kommunikation und Vernetzungen eingehen. Ich erkunde, wie via die psycho-soziale Solidarität im Netz neue Handlungsmöglichkeiten und Deutungsweisen für diese Frauen entstehen.
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5.1 IN-FORMATION Die Kinderwunschplattform wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen. Ihr Ziel war es, im Kinderwunschprozess psycho-sozialen und informativen „Beistand zu leisten“. Anfänglich war sie „sehr amateurhaft“, wie Sibel, die Gründerin der Plattform, rückblickend deutet. Nun beansprucht die Webseite, den „Mangel“ an psycho-sozialer und informativer Unterstützung der ungewollt Kinderlosen zu kompensieren. Seither bietet sie eine Fülle von Beratungsangeboten für Hilfesuchende an. Damit wird nicht nur die Kommunikation zwischen Reproduktionsmediziner*innen und Patient*innen gefördert, sondern auch unter den betroffenen Personen und ihren Angehörigen selbst. Die Informationen, die zur Verfügung gestellt werden, sollen „besseren und leichtverständlichen Zugang zum Wissen“ ermöglichen. Bisher gehört sie zu den umfangreichsten Webseiten im Land, die sich mit den Themen Kinderwunsch, Infertilität und Reproduktionstechnologien befassen. Die Webseite wirbt für sich wie folgt: „Untersuchungen, Tests, Diagnosen, Beobachtungen (takipler, was kurz für den Prozess aus Zyklus, Eisprung und kontrolliertem Sex steht), Inseminationen und dann IVF/ICSIBehandlungen, und dann... in einem unabsehbaren Marathon zwischen den IVF-Zentren, Krankenhäusern, Ärzten und Behandlungen verlieren Sie Ihr Selbst aus den Augen. Gerade in dieser Phase kommt diese Webseite zur Hilfe.“
„So wird hier alles, was Kinderwunsch und Tüp Bebek anbelangt“, so der Anspruch – ein sehr dicht und vielfältig aufgestelltes Spektrum von Themen, Problemlagen und Interessen, einschließlich der Adoption – abgedeckt. Viele, wie Berna und ihr Mann, verbringen unzählige Stunden „mit Recherche und Forschung“ im Netz und greifen in der Planung ihrer Behandlungen immer häufiger auf die zur Verfügung stehenden Informationen, das Fach- und Expert*innenwissen und die Beratungsmöglichkeiten zurück. Die Plattform ist somit ein Beispiel für einen „epistemological shift“ (Mager 2010), der insbesondere mit den netzbasierten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten einhergeht (Rogers 2004). Diesem wissenspolitischen Shift entspricht besonders der Einsatz von offenen, anonymen und asynchronen Austausch- und Wissensräumen und die netzbasierten Communities. Dadurch werden unterschiedliche Bewältigungsstrategien mit Infertilität möglich (Kaliarnta et al. 2011, Van Hoof et al. 2013). Auch Wissens- und Umgangswege im Handlungsfeld der Reproduktionsmedizin ändern sich bzw. verlagern sich teils oder gänzlich ins Netz. Die Kinderwunschplattformen und Webseiten wie ÇİDER übernehmen allmählich eine zentrale Rolle beim „Stillen“ des Informationsbedarfs im reproduktionsmedizinischen
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Kontext (für einen Überblick siehe Zillien et al. 2011). Ihre wachsende Bedeutung kann als eine Reaktion auf die oft konflikthaften, heterogenen und fragmentierten Informationsquellen und Wissensinhalte gedeutet werden. Die Internetseite www.cocukistiyorum.com orientiert sich des Weiteren daran, das steigende Bedürfnis nach Informationen und Wissen zu stillen. Ihre Moderator*innen beanspruchen aber auch, das Bedürfnis mit zu steuern bzw. die Nachfrage der Patient*innen und Betroffenen zu „lenken“. Sie analysieren das „Profil und Verhalten“ von Patient*innen und können die Probleme und gerade die anfängliche Desorientierung nachvollziehen, behaupten sie. Für das reproduktionsbiografische Management habe die Organisation einen Raum erschaffen, der für „alle erdenklichen Fragen“ der Reproduktionsmedizin und des unerfüllten Kinderwunsches Antworten bereit halte. Damit habe die Webseite über die Jahre in ihren Worten eine „anderswertige Verlagerung der Wissens- und Informationsverteilung“ realisiert. Nach eigenen Angaben der Organisation ÇİDER bot die Plattform seit ihrer Gründung circa 30. 000 registrierten Nutzer*innen eine „Schritt-für-Schritt-Begleitung“. Sie fördert auch die Optionen der Hilfe zur Selbsthilfe im Kinderwunschprozess. Praktische medizinischtechnische Fragen werden hier genauso behandelt, wie reproduktionspolitische Kontroversen. Die Plattform übernimmt unterschiedliche Funktionen: die Verbreitung des IVF-Wissens und die Vermittlung von Informationen über IVF, die soziale und informative Unterstützung der als infertil diagnostizierten Frauen und Männer und ebenso der aktuellen und potenziellen Klient*innen, die Mobilisierung einer Patient*innengruppe für biosoziale und politische Ansprüche sowie die Lobbyarbeit für bessere, patient*innenfreundlichere Behandlungen und für regulative Änderungen. Obwohl diese Webseite einen gewissen unabhängigen Status beansprucht, steuert sie eindeutig Richtung Marktförmigkeit der Fertilitätsbehandlungen. Sie wird mit Sponsoring und kommerzieller Werbung von Kliniken und der Pharmaindustrie finanziert. In unterschiedlichen Foren und Blogs berichten regelmäßig Mediziner*innen über die relevanten medizinischen Aspekte. Für die Interessierten wird somit ein Zugang zum unübersichtlichen IVF-Markt mit unterschiedlichsten Behandlungsangeboten ermöglicht. Diese können sich hier über die Vertrags-Kliniken, deren medizinischen und finanziellen Angebote und auch über die Professionellen und Ärzt*innen informieren. Die Formulare und Fragebögen, die auf der Webseite zur Verfügung stehen, werden gezielt an die Kliniken und auch an die Vertragsärzt*innen weitergeleitet. Von Beginn an hatte die Kinderwunschplattform das Ziel, eine Lotse-Funktion einzunehmen. Sie stellte Informationen zu ethisch-moralischen und oft kontrovers diskutierten Fragen zu IVF/ICSI-Technologien zur Verfügung und auch
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einen Raum für die betroffenen Frauen und Paare, indem sie sich darüber austauschen können. Die kinderwunschrelevanten Debatten über nationale und globale Regulierungen und ihre Änderungen sowie ethisch-moralische Fragen und Veränderungen im IVF-Kontext werden gezielt übermittelt. Ähnlich informieren die Mitstreiter*innen über ihre Lobbyaktivitäten; mal dramatisch-heroisch, mal humorvoll teilen sie ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Kritik öffentlich. Unterschiedliche advokatorische Aktivitäten, wie beispielsweise Umfragen, Lobbyaktionen und Petitionen, werden hier realisiert. Damit gehen auch partikulare, komplexe Formen des Engagements, des Intervenierens und Mitgestaltens im heterogenen und komplexen Reproduktions- und Behandlungsregime mit einher. Abbildung 4: Ausschnitt der Kinderwunschplattform
Quelle: www.cocukistiyorum.com
Viele greifen auf diverse Formen der Orientierungshilfe zurück, beispielsweise auf Ärzt*innenforen oder live chats mit Ärzt*innen und anderen Kinderlosen. Damit expandieren sie ihre Wissensarbeit eindeutig über die medizinischen Settings und Kliniken hinaus. Auf der Webseite werden thematisch unterschiedliche Foren betrieben. Sie decken eine Bandbreite von unterschiedlichen biologischen, sozialen und medizinischen Aspekten und Problemlagen ab. Die Themen der Foren erstrecken sich thematisch von konventionellen IVF/ICSI-Technologien bis hin zu unkonventionellen, kontrovers diskutierten Technologien, beispielsweise Samen- und Eizellenspende. Es gibt sowohl Foren für praktische Fragen zu IVFund Kinderwunschbehandlungen als auch solche, in denen sich nur Diagnoseträger*innen bestimmter Fruchtbarkeitsschwierigkeiten austauschen. Foren zu den Themen Ovarialinsuffizienz, Endometriose, Azoospermie und HH-Hypogona-
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dotroper Hypogonadismus sind einige Beispiele dafür. Es existieren unterschiedliche Foren zu Verlust- und Traumaverarbeitung und zur emotionalen Stärkung trotz des unerfüllten Kinderwunsches. Unter dem Namen „Gebetsbereich“ gibt es auch einen Bereich, in dem religiöse Mitglieder online zusammen beten. Eine Reihe von Foren ist den Diskussionen bezüglich der moralischen, regulativen und ethischen Problemfelder der Reproduktionsmedizin vorbehalten. Auch kontrovers diskutierte Themen, die sonst kaum so offensichtlich in der offiziellen, diskursiven und selbsthelferischen Wissensarbeit verbalisiert werden, können hier offen diskutiert werden. Dies betrifft gerade die reproduktionsbiografischen Erfahrungen und Wege zur Familienbildung, die es kaum oder nur begrenzt bis in die Öffentlichkeit schaffen. Im reproduktionsbiografischen Wissensmanagement spielen diese Räume also eine zentrale Rolle, besonders im Falle von grenzüberschreitenden „Umwege(n) zum eigenen Kind“ (Bockenheimer-Lucius et al. 2008).1 Es gibt also beispielsweise Foren, die denjenigen vorbehalten sind, die ihren Wunsch auf ein eigenes, d. h. leibliches und/oder genetisch verwandtes Kind, aufgegeben haben und „für eine Donation ins Ausland reisen“. Ein Unterforum ist dem Thema Samenspende gewidmet, während (einige) andere das Thema Eizellenspende und Donation haben. Hier tauschen sich die aktuellen und potenziellen Rezipient*innen über diverse Aspekte und Themen der Spende aus und beraten sich gegenseitig. Es geht dabei meistens um die individuellen, praktischen, rechtlichen und religiös-moralischen Bedenken, denen Menschen im Laufe ihrer verschiedensten Fertilitätsrouten ins Ausland begegnen. Zudem helfen die Betroffenen sich bei der Organisation des Kinderwunsches im transnationalen Raum der Reproduktionsmedizin. Wie bei Web-Foren üblich, setzt die aktive Teilnahme an den Kinderwunschforen eine einmalige, kostenlose Registrierung voraus. Die Anonymität wird gesichert, solange die Menschen individuell ihre Privatsphäre nicht von sich aus preisgeben. Unter einem Pseudonym können die Nutzer*innen so Diskussionsbeiträge erstellen und die Beiträge der anderen lesen und kommentieren. Zahlreiche Beiträge beinhalten dennoch private Informationen und einige bevorzugen es, ihren wirklichen Namen zu nutzen. Im Internet wird „ein geschützter Raum“ dafür angeboten, der dabei hilft, die individuellen Problemlagen zu managen und Reproduktionswege zu navigieren. Ein Mitglied, das ich in den Internetforen kennenlernte, betont: „Im Internet und in den Foren fühlen sich viele sicher. Ein
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Das Internet ist allmählich ein zentrales Medium für die Beschaffung von Informationen über und für den Kontakt zum transnationalen Geschäft mit IVF geworden (Shenfield et al. 2010). Es bilden sich eigenständige transnationale Netzwerke von Patient*innen, „IVF brokers“ (Speier 2011) und Klinikbetreiber*innen (Hudson et al. 2011).
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geschützter Raum, in dem man weniger Hemmungen hat, und dem gegenüber die Menschen nicht so voreingenommen sind wie im realen Leben.“ Dies ist ein halböffentlicher Raum. Das heißt, die registrierten Nutzer*innen können die Einstellungen ihrer Privatsphäre selbst gestalten bzw. diese bei Wunsch auch schützen. In den Foren sind die selbstoffenbarten Informationen und Interaktionen größtenteils öffentlich abrufbar. Hinzu kommt, dass die Inhalte in ihrer digitalisierten Form durchsuchbar, persistent, replizierbar und einen heterogenen und unsichtbaren Empfänger*innenkreis einschließen (Boyd 2008). Für die Protagonist*innen dieser Studie ist diese spezifische Eigenschaft von Bedeutung. Als eine „lebhafte Möglichkeit“ sehen sie die netzbasierten Räume, in denen sie beliebig und eigenständig nach Informationen suchen und jenseits der zeitlichen und räumlichen Einschränkungen an ihrer Wissensarbeit bleiben können. Sie haben Zugriff auf aktuelle wie vergangene Interaktionen, auch auf den Informationsfluss. Sie offenbaren unterschiedlichste Aspekte ihrer oft krisenhaft erlebten Auswirkungen der Kinderlosigkeit und Behandlungen. Zugleich tauschen sie sich über die alltagspraktischen und biografischen Fragen der Kinderwunschbehandlungen miteinander aus. Während meiner Forschung waren es täglich unzählige Mitteilungen, Berichte und Kommentare. Die Datenmenge war daher kaum überschaubar. Auch die Teilnehmer*innen variierten, wobei eine beträchtliche Anzahl circa bis zu 300 Personen häufig zeitgleich online waren. In den Foren konnten sie selbst ihre eigenen Rubriken eröffnen, wenn sie sich über eine bestimmte Problemlage oder Frage mit anderen austauschen wollten oder Interesse an etwas hatten. Die anonymen Strukturen erschweren es, statistisch zutreffende Aussagen über das Nutzer*innenprofil zu machen. Im breiteren Sinne ist die Mehrzahl der aktiven Nutzer*innen und Engagierten weiblich, aus der städtischen Bildungs- und Mittelschicht und im reproduktiven Alter – wobei sich dies gerade im Kontext von Reproduktionstechnologien enorm breit und unterschiedlich definieren lässt. Auch für außerhalb der Türkei lebende Personen sind solche Räume attraktiv und werden als Ressource für praktische Informationen über IVF-Behandlungen in der Türkei und zur sozio-psychologischen Unterstützung genutzt. Die Moderator*innen und Mitstreiter*innen der Organisation ÇİDER hielten sich und auch mich über die Anzahl der Personen, die sich aus dem Ausland eingeloggt haben, auf dem Laufenden. Auch aus Ländern wie Korea, China oder nicht zentraleuropäischen Balkanländern loggten sich Menschen ein oder wurden auf der Webseite aktiv. Die überwiegende Anzahl war allerdings aus Deutschland, wo die größte Diaspora aus der Türkei lebt. Die Organisation ÇİDER performiert sich dort zu einer concerned group, indem ein Raum für ihr politisches Engagement eröffnet wird. Den netzbasierten
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Räumen und Praktiken wird ein Selbsthilfe- und Empowerment-Effekt eingeräumt. Dieser geht allerdings mit den neoliberalen Imperativen Hand in Hand. Die neoliberalen Restrukturierungen im Gesundheitssektor sind hier einflussreich. Diese bauen in den letzten Jahren zunehmend die gesundheitspolitischen Verantwortungen des Staates ab, die paternalistischen Strukturen und die Beziehungen zwischen Patient*innen und Mediziner*innen ändern sich und bringen nun stark konsumeristische Neuorientierungen hervor. Folglich wird häufiger die Verantwortung sowohl für den Erfolg als auch das Scheitern des individuell-familiären reproduktionsbiografischen Managements auf die Individuen verlagert. Die Webseite fordert zum einen die herkömmlichen Wissens- und Informationsmonopole der Mediziner*innen heraus. Zum anderen hat sie eine besondere Funktion in der Mobilisierung von Betroffenen. Sie schafft also Räume, in denen Erfahrungen, Wissen und Sichtweisen von Patient*innen auf Medizin, ungewollt Kinderlosen und werdenden Eltern Geltung beanspruchen. ÇİDER als ein selbsterklärter Vertreter einer heterogenen Gruppe nutzt das Internet daher dezidiert, vor dem Leitbild der*des informierten Patientin*en, für die Mit-Konstruktion der virtuell informierten und digital vernetzten Patient*innen/Konsument*innen (Hardey 2000, Radin 2006). Ihnen wird immer fort eine altruistische und solidarische Selbstverpflichtung für die Informationsverteilung und Wissensvermittlung zugewiesen. Innerhalb der netzbasierten Räume engagieren sich viele als aktive Mitstreiter*innen, die sich für die Probleme, Belange und Rechte der betroffenen Frauen und Männer einsetzen. Es sind quasi digital vernetzte Patient*innen, die sich mit den virtuellen Erfahrungs-Communities (à la Akrich) identifizieren können. Dies hat damit zu tun, dass sich im und durch das Netz die Selbstdarstellungs-, Vernetzungs-, und Vertretungsmöglichkeiten geändert haben. Katharina Liebsch merkt beispielsweise in ihrer Analyse der Selbsthilfe im Netz kritisch an: „In digitalen Netzwerken entstehen tagtäglich neue Lebens- und Lernmodelle, Sub- und Minderheitenkulturen, die einen Anspruch auf Mitsprache, Selbstvertretung und eine eigenständige kulturelle Artikulation verbreiten. Sie produzieren nicht nur die Form einer intersubjektiv kontrollierten, kommentierten und korrigierten Selbstdarstellung und Selbstinszenierung im Netz, sondern machen darüber hinaus das Prinzip der andauernden Selbstreflexion und der Interpretation von Erfahrung zur sozialen Verpflichtung.“ (2010: 137)
Das Netz komplementiert so die bislang, nicht nur für die Türkei dominante Moralisierung der Wissens- und Informationsvermittlung. Signifikant hierfür ist, dass die Wissensquellen immer attraktiver werden, die Inhalte aus den privaten,
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individuellen und familiären Erfahrungswelten unmittelbar zur Verfügung stellen. Durch die netzbasierte Kommunikation greifen Gruppen, intendiert oder nicht intendiert, in den besagten Medien-Medizin-Nexus ein und kreieren für ihre Klientelgruppe eine Medienöffentlichkeit, in der unterschiedlichste biografische, körperliche und psychosoziale Erfahrungen und Inhalte zirkulieren. Dadurch werden neue Beziehungen gestiftet. ÇİDER beansprucht für sich zudem, einen plural(istisch)en Wissenskorpus generiert zu haben, und damit auch einen Ort für die Wissensarbeit ihrer Klientelgruppe. Sie bietet ein offenes, hochgradig affektiv-emotionales und informatives Umfeld für ungewollt Kinderlose und für als infertil Diagnostizierte an, die netzbasierte Kommunikationsmöglichkeiten und Räume strategisch heranziehen im Umgang mit dem jeweiligen körperlichen und/oder psycho-sozialen Zustand. Die Leiterin der Organisation, Sibel Tuzcu, begründet dies wie folgt in einem Gespräch, welches ich in meinen Feldnotizen festgehalten habe: „Was wir als Tüp Bebek-Patienten bezeichnen, also die Menschen, die versuchen ein leibliches Kind zu bekommen, sind sowieso sehr sensible Menschen und ehrlich gesagt laufen sie jeglichen Möglichkeiten und kleinsten Hoffnungen nach. Viele kämpfen gegen die Zeit, gegen sich selbst, gegen ihr Umfeld, ihre Familie und Verwandten; dazu gibt es noch viele Fehldiagnosen und -behandlungen und sie müssen mit einem sehr strapazierenden Behandlungsprozess klarkommen. Was diese Webseite leistet, ist eine Alternative. Gehen die Menschen auf die Seite, so können sie sich über diverse, praktische wie medizinische, Tüp Bebek Themen informieren und zugleich für sich selbst einen Weg finden, wie sie damit umgehen. Mit (Ärzte-)Foren, Chats und den aktuellsten Informationen ist diese Seite eine zu diesem Thema allumfassende Wissensplattform.“
Diese übernahm und übernimmt bei der biosozialen Normalisierung eine zentrale Rolle, die in den vorherigen Kapiteln analysiert wurde. Sie setzt dezidiert teils neue und teils bislang als unwichtig betrachtete subjektive Wissensinhalte und das Erfahrungswissen in Bewegung. Dies hängt grundsätzlich mit den Erfahrungspolitiken zusammen, die mit Selbsthilfe, Interessen- und Lobbygruppen und auch Aktivismus einhergehen. Das Internet ist ein wichtiges Mittel, um Vernetzungen und Sozialbeziehungen über räumliche und zeitliche Grenzen hinaus zu ermöglichen. ÇİDER setzt es für ihre selbsterklärte Schlüsselposition im heterogenen und umkämpften Feld der Reproduktionsmedizin in der Türkei ein. Es werden also nicht nur die „Defizite“ in den höchst kompetitiven Märkten der IVF/ICSI markiert, auch neue Wechselwirkungen zwischen Märkten, Konsument*innen und Patient*innen sowie der breiteren Gesellschaft kommen zum Vorschein (Novas/Rose 2000). Die Ideale des „sich zu Bemächtigens“ und zu-
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gleich auch der „sich selbst und Anderen Normalität zu verschaffen“ werden in Bewegung gesetzt. Durch das Internet werden bis zu einem gewissen Grad die geografischen und sozio-politischen Verteilungsungleichheiten von Wissen, Information und Infrastruktur in der Türkei kompensiert. Die regional/ethnische und geschlechterspezifische digitale Kluft ist ein wesentlicher Faktor (Murthy 2008), der sich entlang der urbanen und ruralen Unterschiede und Sozialschichten in der gegenwärtigen Türkei verstärkt. Dies hat nicht immer mit den soziotechnischen Möglichkeiten zu tun, sondern auch mit der Frage, wer Internet wie nutzt und welche Menschen, Gruppen und Themen überhaupt vom Internet bedient werden. Für eine Mehrheit der Bevölkerung ist es allerdings nicht das erste Informations- und Kommunikationsmedium.2 Für viele, die keine digitalen Infrastrukturen besitzen, besonders Frauen, ist beispielsweise der Fernseher die erste und einzige Informationsquelle. Nicht selten werden Informationen den sogenannten „Morgen-Programmen“ und „Frauen- und Gesundheitssendungen“ über die Reproduktionsmedizin, reproduktive Gesundheit und Behandlungsangebote entnommen. In meinen Interviews haben besonders Frauen unzählige Male darauf verwiesen. Viele standen der medialen Darstellung eher kritisch gegenüber, da medizinische Angebote vereinfacht und glorifiziert werden. Während einige die oft heroisch dargestellten Erfolgsnarrative kritisierten, äußerten andere sich positiv darüber, da diese zur Normalisierung ihrer Erfahrungen geführt hätten. Die Zugangs- und Ressourcenverteilung von Kompetenzen sind von zentraler Bedeutung, gerade für die oft sozio-ökonomisch benachteiligten Gruppen. Im Falle von reproduktiven Belangen trifft das stärker die Frauen als die Männer. Diese reproduktiven Belange werden demnach oft als „Frauen-Belange“ kodiert und meist sind es Frauen und Frauenkörper, die im Mittelpunkt der Behandlungen stehen. Frauen sind allerdings nach wie vor stärker als Männer von der digitalen Kluft betroffen. Ob in ruralen oder urbanen Räumen, ihre digitale Anbindung ist durch die patriarchale und konservative Alltagspolitik eingeschränkt oder wird sogar manchmal gezielt verhindert. Unerfüllter Kinderwunsch und Infertilität, als ein durchaus vergeschlechtlichtes und feminisiertes Handlungsfeld, ermöglicht für einige Frauen in meinem Sample einen Zugang zur digitalen Welt 2
Der Anteil der Internetnutzer*innen in der Türkei lag im Jahr 2014 bei 53,8 % der Bevölkerung (Männer: 62,7 % und Frauen: 44,3 %) und im Jahr 2017 stieg diese auf 66,8%, wobei die Zahl der Nutzerinnen mit 58,7 % noch deutlich geringer ist als die der Nutzer mit 75,1%. (siehe URL: www.tuik.gov.tr/PreIstatistikTablo.do?istab_id=1615, Zugriff am 10.02.2018). Die Statistiken, die letztlich im Jahr 2013 ausführliche Daten zur Internetnutzung erstellten, wiesen starke regionale Unterschiede auf: In städtischen Regionen waren es 57,4 %, in den ländlichen Regionen hingegen 29,1%. Laut staatlichen Statistiken informieren sich circa 48% der Internetnutzer*innen via Internet über Probleme und Fragen, die die Gesundheit betreffen (DPT 2013).
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oder auch ein Motiv. In den anonymen bzw. semianonymen Strukturen der Kinderwunschnetzwerke etabliert sich ein weiblich dominiertes Terrain. Wie gesagt, waren es meistens Frauen, die während meiner Forschung in den Foren aktiv waren. Auch die als Frauen-Belange geltenden, reproduktiven gesundheitsbezogenen Themen – wie beispielsweise Endometriosis – gehörten zu den lebendigsten und meist besuchten Rubriken. Männer beteiligten sich in der Regel hochgradig gezielt und meist nur unter den dafür ausgerichteten Rubriken und Foren. Eine heterogene Gruppe von „Mit-Leidenden“ mit diversen reproduktionsbiografischen Problemlagen kommt dort zusammen, die über die nötigen sozio-technischen Voraussetzungen und Sozialkapital verfügen. Die digitalen Kinderwunschnetzwerke werden landesweit von Frauen genutzt, die auf moralische, ethische, medizinische und gesundheitsbezogene Informationen zugreifen, von denen angenommen wird, einigermaßen die lokalen und geschlechtlichen Ungleichheiten vor Ort abzubauen und auf diese vorteilhaft zu wirken. Im letzten Teil dieses Kapitels komme ich noch einmal darauf zurück, wie insbesondere die betroffenen Frauen, mit denen ich durch das Internet in einen engen Kontakt getreten bin, die lokalen Strukturen und ihre patriarchalen Erfahrungsumgebungen durch einen Zugewinn von digitalen Kapiteln zu ändern pflegen. Für den Moment möchte ich mit zwei Aspekten in das nächste Unterkapitel überleiten. Erstens, die von mir untersuchten Austauschplattformen sind eng mit den lokal situierten IVF-Welten verwoben. Ungewollt Kinderlose finden hier ihren Weg in das sozio-technische Arrangement der Reproduktionsmedizin. Die Plattform trägt kontinuierlich dazu bei, dass das individuelle und kollektive Informations- und Wissensmanagement in einem zunehmend bedeutsamen Informationsfluss zwischen Medizin, Öffentlichkeit und individuellem Alltag anders gelagert wird. Es finden ganz lokal spezifische Aushandlungen mit globalen IVF-Technologien einerseits und mit den patriarchalen und paternalistischen Gesellschafts- und Gesundheitsstrukturen andererseits statt. Zweitens und viel wichtiger ist dabei, dass die individuell-familiären Erfahrungen mit IVF-Technologien und Infertilität aus den aktuellen und sozial einflussreichen Kontexten (wie Paarbeziehung und Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft oder aber auch klinisch-medizinische Settings) herausgenommen und in neue vernetzte Kontexte der Betroffenenbeziehungen überführt werden (Boyd 2008).3 Das Internet verschafft, so mein Argument, erweiterte Wissens- und Sozialräume jenseits der 3
Forscher*innen der netzbasierten Beziehungsformen und vernetzten öffentlichen Räumen zeigten bereits einen de-kontextualisierenden Effekt des Internets und der Sozialmedien. Boyd behauptete beispielsweise in ihrer Studie zur Internetpraktiken der amerikanischen Jugendlichen, dass die sozialen Praktiken und Situationen im bzw. durch das Internet häufiger „aus den traditionellen Kontexten herausgenommen werden“.
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verfügbaren sozialen und klinisch-medizinischen Settings. Andersherum, dehnt es die aktuellen Behandlungsalltage der Frauen und Männer in neue Sozialbeziehungen aus. Es bilden sich auf der Grundlage der (mit)geteilten Biografien, Erfahrungen und subjektiven Wissensinhalte neue Communities heraus. Im Folgenden analysiere ich diese im Detail. Ich argumentiere, dass aus den lockeren und durchaus losen Netzwerkstrukturen eine netzbasierte Erfahrungsgemeinschaft der Betroffenen, ihrer Angehörigen und Interessierten entsteht.
5.2 „HEY MÄDELS, ICH HATTE DIESEN MONAT EINEN EISPRUNG“: REPRODUKTIONSBIOGRAFIEN IM NETZ Die Kinderwunschplattform stellt eine soziale und räumliche Verschiebung dar. Das heißt, die digital vernetzten Austauschräume ermöglichen eine Erweiterung kultureller Wissensarbeit im Umgang mit IVF/ICSI. Diese verstehe ich als eine kontextuelle Erweiterung. Denn die bereits analysierten Strategien für Wissensund Informationsmanagement werden auf die Zusammenhänge der neu hergestellten Erfahrungsgemeinschaften verlagert (siehe 3.4.). Stellt sich die Reproduktionsbiografie als ein Wissens-Problem dar, so greifen viele in meinem Feld auf das Angebot zurück, auf das Orientierungswissen und die gegenseitige Unterstützung. Die reproduktionsbiografische Sorge wird dadurch aus dem Privaten der Paarbeziehung in die neuen Kontexte verlagert. Die Internetplattform www.cocukistiyorum.com ist für viele ein möglicher Ort auf ihrer Suche nach Hilfe, nach emotionalen und psycho-sozialen Unterstützungsmöglichkeiten und (Informations-)Austausch. Für die Mehrheit stellt sie nahezu den einzig verfügbaren Sozial- und Wissensraum dar. Bereits in den ersten Interviews mit den Mitarbeiter*innen von ÇİDER wurde mir erklärt: „So etwas wie Gesprächsgruppen, wie in europäischen Ländern, werde es hier in der türkischen Gesellschaft nie funktionieren. Es ist aus verschiedenen Gründen schwierig, diese Menschen in Kleingruppen, Gesprächsrunden oder sonst irgendwie zusammenzubringen; wo sie eventuell auch mit Psychologen oder anderen zusammen in bestimmten Abständen an ihrem Problem arbeiten. Hier ist eher der virtuelle Raum wichtig. Da schreiben Menschen sich gegenseitig, bilden eher kleine Gruppen im Internet und treffen sich vielleicht in ihren Wohnorten, unabhängig von uns [der Organisation ÇİDER].“
Die virtuellen Räume können, so argumentieren viele in meinem Feld, die fehlenden Supportmöglichkeiten kompensieren. Sie ermöglichen, dass Frauen und
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Männer jenseits ihres aktuellen und gelebten sozialen Umfeldes und über geografische Distanzen und temporale und physische Räumlichkeiten hinaus miteinander in Kontakt treten. Unter dem negativ empfundenen Einfluss und dem sozialen Druck leidend, beschreiben meine Interviewpartner*innen detailliert, wie netzbasierte Kommunikation und Interaktion mit anderen Erfahrenen ihr Selbstverständnis ändert und einen besseren Umgang mit dem Umfeld und den sozialen Konfrontationen in der Gesellschaft ermöglicht. Allein die anonyme Selbstoffenbarung und das Mit-Teilen der Probleme erzeugt bei den von mir interviewten Personen ein Gefühl von Selbstermächtigung und Selbsttransformation. Die Anthropologin Ann Anagnost (2000) behauptet, dass im Zeitalter des Internets „web-based modes of knowing“ entstanden sind. Welche in den teils geschützten Netzräumen auf den Formen intimer-familiärer Selbstdarstellung, Selbstoffenbarungen und Artikulationen der Individuen basieren. Sie fragt in Anlehnung an Berlant, „welche Formen der Äußerungen macht das Internet möglich, was ansonsten unsagbar bleiben könnte“ und wie dadurch „die intime Öffentlichkeit“ geändert wird. In ihrem Beispiel sind es die Mittelschichtsfamilien, die eine transnationale Adoption vornehmen und im Netz unterschiedliche Szenen privater und intimer Erfahrungswelten öffentlich machen. Im Falle der intimen und familiären Reproduktionswege, die ich ins Zentrum meiner Studie gestellt habe, ist das Internet allmählich zu einem wichtigen Bestandteil eines ausgeprägten (Un-)Sichtbarkeitsregimes geworden. Die reproduktionsbiografischen Erfahrungen, Problemlagen und Kinderwunschkarrieren rekurrieren dort als Erzählformen der werdenden Familien- und Elternschaften, der techno-wissenschaftlichen Moralitäten und Subjektivitäten. Menschen stellen im Netz ihre sozial akzeptablen Selbstnarrative her und auch zur Verfügung. Diese umfassen eher die heterosexuell, normativen Familienbilder der Mittelschicht und zugleich die Selbstbilder von Frauen und Männern, die die reproduktiven und verwandten Technologien primär für die Erfüllung des eigenen, d.h. genetisch verwandten, Kinderwunschs nutzen. Infertilität als biosoziale Problemlage fordert die bisherigen Umgangsweisen der heteronormativen Familien mit Reproduktion, Sexualität und Privatsphäre heraus. Laut psychologischer Studien sind viele der Betroffenen mit der sozialen Isolation konfrontiert. Es sei gleichgültig, wie die soziale Umgebung auf die spezifische Situation reagiert und ob Betroffene stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Die Selbstoffenbarung in den Online-Räumen wirke sozialer Isolation entgegen und stärke somit für die Herausforderungen der IVF-Nutzung auf emotionaler, psycho-sozialer wie informativer Ebene (Malik/Coulson 2010). Durch eine gegenseitige, individuell- und bedürfnisorientierte Hilfe zur Selbsthilfe etabliere sich eine Art „niche support“ in den Kinderwunschplattformen, wie die
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einschlägige Literatur in den euro-amerikanischen Ländern zeigte (Malik/ Coulson 2008, Hinton et al. 2010). Auch während meiner Forschung konnte ich beobachten, wie im Netz eine partikulare emotionale, sozio-psychische und informative Solidarität entsteht. Dabei bilden sich neue, zuvor unmögliche Sozialbeziehungen, Subjektpositionen und Wissensräume heraus. Das Internet erzeugt einen offeneren und informierten Austausch über Themen wie Sexualität, Reproduktion und IVF/ICSI-Behandlungen. Es fördert auch einen transparenten und interaktiven Umgang mit biosozialen Problemlagen der Infertilität und Kinderlosigkeit, woraus eine intendierte biosoziale Normalisierung folgt (siehe Kapitel 3). Beliebig viele Personen können, jenseits zeitlicher und räumlicher Grenzen, daran partizipieren. Viele Personen erzählten mir, dass sie Tag und Nacht zu unterschiedlichen Zeiten ihre Sorgen, Probleme und ihr Alltagsleben austauschen und Orientierungshilfe für ihre emotionalen und psycho-sozialen Herausforderungen suchen. Sie offenbaren sich selbst, sie geben freiwillig sozial und individuell sensible Themen wie Sexualität, Paarbeziehungen und Kinderwunschbehandlung preis. In der Tat ist es eine gezielte Veröffentlichung ihrer Erfahrungen und ihres Privatlebens. Sie veröffentlichen auf der Webseite auch längere Aufsätze und Erfahrungsbriefe. Diese umfassen in der Regel sämtliche Informationen und Details über Behandlungsverläufe und die damit einhergehenden Probleme. Dabei wird u. a. die Entstigmatisierung und Normalisierung gelebter Erfahrungen gefördert. Wie bereits im Methodenkapitel eingeführt, bewegte ich mich, ergänzend zu meinen stationären Forschungsaufenthalten, auch in diesem netzbasierten Raum. Die Forschung macht keine simple Online- und Offline-Dichotomie auf, eher untersucht sie die Frage, wie die Protagonist*innen ihre Erfahrungs- und Handlungskontexte gestalten und verändern. Sie selbst zerlegen ihre Erfahrungsumgebungen nicht kategorial in online und offline. Vielmehr verfolgen sie dezidiert eine strategische Kopplung von offline und netzbasierten Angeboten, Sozialbeziehungen und -räumen im Umgang mit medizinischem Wissen, IVF-Technologien und intimsten Erfahrungen. Den netzbasierten Sozial- und Wissensräumen werden eine wesentliche Funktion zugeschrieben. Sie bringen nämlich signifikante Veränderungen in den Alltag der ungewollt Kinderlosen und der als infertil diagnostizierten Frauen und Männer. Es sind Räume, in denen Reproduktionsbiografien als individuelle und kollektive Belange inszeniert, performiert und präsentiert werden. Der oben eingeführte Wissensmodus bezieht sich also auf die Problemlagen, die unterschiedliche Körper, Individuen und ihre privaten Sinnund Lebensbereiche miteinander verbinden und als „geteilt“ konstituiert werden. Frauen und Männer sehen die Pluralität der infertilen Erfahrungen und integrieren verschiedenste Inhalte in ihre alltäglichen Selbsttechnologien und Wissens-
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praktiken im Umgang mit ihren eigenen Biografien. Damit geht eine neue Intensität der Sozialisierung in den IVF-Markt und die Behandlungsregime einher. Zugleich werden die individuellen Problemlagen, Wünsche und Kämpfe in die Öffentlichkeit übertragen und übersetzt, auch unmittelbar die verschiedensten Inhalte aus den Lebens- und Sinnbereichen der Einzelnen. Es sind, so möchte ich argumentieren, neue und selbst kreierte Räume, die bereits existierende und ‚gewöhnliche‘ Erfahrungs- und Aushandlungskontexte mit Infertilität als eine biosoziale und medizinisch zu lösende Lage erweitern. Das, was einst in den familiären und privaten „Vier Wänden“ passierte und „streng zum Privaten gehörte“, so etwa viele meiner Interviewpartner*innen, verlagert sich durch die dicht bevölkerten Internetforen und die netzbasierten Communities viel stärker nach außen. Inhalte, Erfahrungen und Wissensformen, die bislang eher als privat gegolten haben und wenig Beachtung fanden, werden so in Umlauf gebracht. Gerade im Umgang mit den öffentlich durchaus popularisierten IVF/ICSI-Technologien werden die individuellen Reproduktionsbiografien sichtbarer. In biografischen Selbstbeschreibungen kommt eine intensivierte Suche nach Wegen für das bestmögliche Wissens- und Informationsmanagement zur Sprache. Ich habe bereits die biografischen Unbehagen, Zwänge und Imperative beschrieben, die mit der steigenden Normalisierung und Sichtbarkeit dieser Technologien einhergehen. Im Umgang mit ihnen verschiebt sich auch allmählich und ganz individuell die Be-Deutung von einer Privat-Öffentlich-Schwelle. Die in den vorherigem Kapitel analysierten Gefühle des „Geteilten“ und „Mitgeteilten“ spielen in der Gestaltung und auch in der Funktion solcher netzbasierten Räume eine entscheidende Rolle. Sie beeinflussen unmittelbar die Interaktionen im Netz. In welcher Form und Tiefe die intimen und privaten Themen der Mikro-Welten des Alltags öffentlich gemacht werden, hängt mit den sich wandelnden Sinngebungen und Deutungen von privat und intim zusammen. Aynur, über deren Bedrängnisse durch die „Einmischereien“ und „besserwisserische Gesellschaft“ ich bereits schrieb, deutet es wie folgt: „Diese Themen erscheinen uns mittlerweile ganz normal. Ich gehe zwei Mal die Woche zum Arzt. Der sieht mich öfter als mein Mann. Alles dreht sich darum. Deswegen kommt es mir nicht als etwas sehr Verrufenes vor. Nein, so betrachte ich es nicht. Ich habe mich sogar in der Seite eingeloggt und geschrieben: „Hey Mädels, ich hatte diesen Monat einen Eisprung. Mir kommt es sehr natürlich vor [lachend].“
In den circa zwei Jahren meiner Forschung fungierten die Web-Foren als ein Ort für anonyme und manchmal für Außenstehende schwer zugängliche Intimitäten. Diese Funktion wurde sowohl von meinen Interviewpartner*innen als auch in
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den Forenbeiträgen selbst als wichtig beschrieben. Insbesondere in einem Land wie der Türkei, in der ungewollt Kinderlose den patriarchalen Druck als einen weiteren stigmatisierenden Schritt erfahren, machen viele Gebrauch von der Anonymität. Dennoch scheint für einen Teil der Nutzer*innen, die sich in den Foren aktiv beteiligen, die Anonymität weniger von Bedeutung. Wie Aynur erleben und äußern viele eine starke Verschiebung in ihren Wahrnehmungen, was als privat bzw. mahrem (intim) gilt und wie eine ohnehin schwierige Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem auf sie einwirken. Auch mit den anonymen Strukturen, in den teils semiöffentlichen und teils öffentlich zugänglichen Foren, gehen einige sehr pragmatisch um. Für einige ist Pseudonymität „anonym genug“ und sie teilen auch ganz intime Teile ihrer Leben online. Andere reflektieren hingegen kritisch über ihre selbstoffenbarenden Praktiken. Viele folgen dem Appell der Organisation ÇİDER: „Erzähl deine Geschichte!“ und: „Teile dein Problem mit!“. Eine der Moderator*innen beschreibt dies wie folgt: „Es ist ein Raum, in dem sich die Menschen einander mitteilen, ihre Ängste, ihre Verzweiflung und ihr Leiden aussprechen und miteinander teilen.“ In den Foren haben sich eigendynamische und authentische Formen der Selbsthilfe, gegenseitiger Unterstützung und Laienberatung etabliert. Sehr intensive Diskussionen und ein reger Informationsaustausch zur Diagnostik und über Therapien, Behandlungsverfahren und -verläufe, Symptome oder psychische und körperliche Beschwerden lassen sich beobachten. Viele berichten täglich über ihren körperlichen und psychischen Zustand. Für sie bedeutet es, wie ich von unterschiedlichen Teilnehmer*innen unterrichtet wurde, „sehr intime Themen“ und „ihr Innenleben, ihre Emotionen und Erfahrungen“ preiszugeben. Es steuere dazu bei, so eine Teilnehmerin, „ohne Scheu und ohne sich zu genieren“ Informationen zu teilen. Diskutiert wird über „verfluchte Perioden“, „blöde Spermien“, den Eisprung, FSH (Follikelstimulierendes Hormon)-Werte oder den Embryotransfer und die Qualität der Ei- und Samenzellen oder der Embryos. Wiederholt wird von mehreren Interviewpartner*innen gesagt: „Wir sagen und schreiben uns die Dinge, über die wir mit niemandem sonst reden.“ Sie erfahren Trost und Bemächtigung durch ein Sich-Bewusstwerden „geteilter und gemeinsamer Kinderwunsch-Schicksale“ und der „Schicksalsschläge“. Die Analyse zahlreicher Forenbeiträge und längerer Interviews mit aktiven Nutzer*innen zeigt vielfältige Transformationsprozesse, die durch die Vernetzung in Bewegung gesetzt werden. Im folgenden Abschnitt wird aus dem Forum „Azoospermie“ eine typische anfängliche Austauschform geschildert. Zwei Teilnehmerinnen tauschen sich über die männliche Infertilität aus:
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Eintrag I: „Falls es nicht zu privat ist, darf ich fragen, welches Problem bei Ihnen vorliegt?“ Eintrag II: „Ach was, gibt es noch so was wie unser Privates? Nicht mal Geschwister verstehen sich so gut wie wir hier. Mein Mann hat keine Spermien. Weder lebendige noch tote. Verzweifelt versuchen wir es seit Jahren, ohne Erfolg.“
In dem gleichen Forum schreibt eine andere Frau über ihre große Verzweiflung nach der Diagnose der männlichen Infertilität: Eintrag I: „Wir versuchen seit zwei Jahren ohne Erfolg ein Kind zu bekommen. Nun sind wir kürzlich zu einem Arzt gegangen. Die Diagnose des Spermiogramms war total niederschmetternd: alle Spermien sind tot. Es gibt keine lebenden Spermien, die zur Befruchtung fähig wären, sagte der Arzt. Nicht mal mit Tüp Bebek könnten wir auf ein eigenes Kind hoffen, hat der Arzt gesagt. Ich versuche hoffnungsvoll zu bleiben und sage mir seitdem, obwohl ich ständig heule, Gott gibt Hoffnung, es muss eine Lösung geben. Wie seid ihr mit diesem Problem umgegangen? Gibt es noch weitere Möglichkeiten, was wir machen können?“ Eintrag II: „Nicht das gleiche, aber ein ähnliches Problem haben wir auch. Bei uns hieß es erstmal Azoospermie. Dann wurden aber Spermien von den Hoden entnommen. Bis zum nächsten Termin ist es noch eine Weile. Ich weiß, wie schwierig es ist. Auch für deinen Mann muss es ein Schock gewesen sein. Als wir das erfahren haben, trauten wir uns nicht mal miteinander zu reden. Wenn ich hier schreibe, fühle ich mich schon besser. Bestimmt tut es dir auch gut, wenn du das alles nicht in dich hineinfrisst.“
Viele bekunden das „Glück“, dass sie „nicht die Einzigen mit diesem Problem“ sind und ihren „Kampf um ein leibliches Kind nicht allein bewältigen“ müssen. Beyza Toksöz und Ela Bakar, zwei im Osten der Türkei lebende Frauen, erläutern mir in Emails die Relevanz davon. Die Intensität und Motivation bei der Teilnahme an solchen Netzwerken unterscheiden sich in beiden Fällen erheblich voneinander. Ela ist keine Mitteilerin und Selbstoffenbarerin, während Beyza den emotional tröstenden und entlastenden Effekt der Mitteilung genießt. Beiden Frauen fehlt ein unterstützendes Umfeld. So wenden sie sich an die netzbasierten „Gemeinschaften geteilten Schicksals“: „Ich lese die Erfahrungen anderer, die ähnliche Sachen erleben und fühle, dass ich nicht allein bin.“ (Email-Austausch mit Frau Toksöz) „Selbst wenn es im Netz ist, erleichtert das Schreiben einigermaßen den Umgang mit dem Problem. Denn Sie finden dort Menschen wie Sie und sagen sich selbst: ‚Ich bin auf diesem Weg nicht allein.‘ Sicher ist es sowohl leichter als auch verständlicher, mit Infertilen
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über diese Themen zu reden. Denn bei ihrem Gegenüber wurde auch alles gemacht, was bei ihnen – Tests, Untersuchen und Behandlungen – durchgeführt wurde. Weil die auch das gleiche Wissen haben, können sie leichter mit ihnen reden.“ (Email-Austausch mit Frau Bakar)
Die Bereitstellung persönlicher Informationen und privater Erfahrungen, die konzeptionell und alltäglich als „Selbstoffenbarung“ gefasst werden kann, ist häufig ein Beweggrund für und eine Konsequenz von der Teilnahme in InternetForen. Semra ist seit mehr als sechs Jahren in den Foren aktiv und Gründerin einer lokalen Frauenselbsthilfegruppe. Frauen dieser Gruppe beschreiben eine „Schicksalsfreundschaft (kader arkadaşı)“, die sie von netzbasierten Interaktionen in ihre alltäglichen Nahwelten überführt haben. Später werde ich diese Freundschaft im Detail darstellen und die partikularen Effekte des Internets in der Herausbildung derartig intimer Communities im Leben der Frauen analysieren (siehe Kapitel 5.4). Semra ist wie andere Frauen in der Gruppe täglich online und tauscht sich mit den Betroffenen in den Internetforen aus. Von der Diagnose bis zur Geburt ihrer Tochter nach einer IVF/ICSI-Behandlung profitierte sie von den netzbasierten Angeboten und von den zum Teil anonymen und offenen Kommunikationsstrukturen. In einer Gruppendiskussion schilderte sie einen durchaus typischen Beweggrund: „Obwohl oder gerade deshalb, weil man sich ja nie im realen Leben zu Gesicht bekommt... wenn eine vielleicht lebendig vor mir gesessen wäre, hätte ich damals nicht über diese Sachen mit ihr sprechen können. Jetzt schon, aber damals war es einfacher im Internet. Denn dein Gegenüber kennt dich nicht, sie ist weit weg, sie kann dich nicht sehen und so weiter... Du kannst dein Inneres besser schützen. Manchmal reden wir über weibliche Themen, über Privates, unsere Männer, Partnerschaften, Sexualität etc.“
Für viele der von mir interviewten Frauen und Männer ist Selbst-Offenbarung eine Praxis des Informations- und Wissensmanagements. Diese verlagert sich ins Internet, je nach Bedürfnis, nach sozialer Interaktion oder auf der Suche nach Hilfe. Das Internet stellt nun ein Werkzeug für diese Praxis zur Verfügung. Paare wie die Kalems setzten das Internet von Anfang an flexible für ihre Bewältigungs- und Umgangsstrategien mit dem unerfüllten Kinderwunsch ein. Im Jahr 2000 hatte das Paar eine doppelte Diagnose, bei ihm und bei seiner Frau lagen gleichermaßen Probleme vor, die zur Unfruchtbarkeit führen konnten. Damals hatten sie im Fernsehen über den Start der Kinderwunschplattform gehört. Die Gründerin Tuzcu gewann mit ihrem Weg zum Wunschkind – mehr oder weniger unerwartet – eine öffentliche Präsenz, wovon das Paar Kalem „viel lernen konn-
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te“. Sie waren eine der ersten Personen, die sich auf der Plattform registriert und begonnen haben, sich mit den damals noch „eine Handvoll Menschen“ auszutauschen. Der Diagnose folgten die Gefühle der Verzweiflung und eine gewisse Isolation in ihrem sehr konservativen Umfeld. Sie lebten in Istanbul und hatten zwar einen relativ guten Zugang zu diversen medizinischen Hilfeangeboten. Wie mir Herr Veli Kalem allerdings äußerst eindrucksvoll schilderte, fehlte beiden der „Halt“, den sie brauchten. Weder in der Familie noch im Freundeskreis konnten sie Hilfe und Trost finden. Gerade deshalb, weil es „einfach damals äußerst schwierig war, darüber zu reden“. Gegenüber Familie und Freund*innen konnte das Paar sich kaum offenbaren, geschweige denn mit ihnen über viele überfordernde Details und moralische, technische wie praktische Fragen offen reden. Sie trafen gelegentlich in den Kliniken auf andere Paare und Familien, die sich auch behandeln ließen. Ihnen fehlten die Worte, Ausdrucksweisen und Informationen, um sich selbst in der Lage zu sehen, um sich dem „Außen“ „gegenüber so zu verhalten, wie es sich gehört“. Während meiner Forschung konnte ich Frau Kalem nicht kennenlernen. In zwei Gesprächen hat mir Veli seine Sichtweise auf diese Zeit übermittelt und eine Geschichte der Selbsttransformation erzählt. Verglichen mit Frauen sind solche Männergeschichten seltener und schildern Aushandlungsprozesse mit Männlichkeiten (siehe Kapitel 4). Velis hat unmittelbar mit der „virtuellen Gemeinschaft (sanal cemaat)“ zu tun. Diese ist für ihn zwar damals wie jetzt eine Frauengemeinschaft, doch zu ihrer Herausbildung hat er selbst beigesteuert. Diese hat ihm dabei geholfen, mit den „Sozialisierungsstrukturen einer konservativen und verschlossenen Gesellschaft“ umzugehen. Auf Grund seiner konservativ sunnitisch-muslimischen Erziehung hatte er ganz strickte Überzeugungen davon, „worüber man wie redet oder nicht redet“ und „was sagbar und nicht sagbar ist“. Auch im erwachsenen Alter hatte er „Hemmungen“, sowohl in der Familie als auch in der Öffentlichkeit, über die Themen zu reden, die die Sexualität und Paarbeziehung betreffen. Für ihn hatte dies vor allen Dingen mit der „Verschlossenheit der Gesellschaft zu tun“: „In unserer konservativen und verschlossenen Gesellschaft lernt man gar nicht, wie man über solche Sachen redet. Eher im Gegenteil.“ In unserem zweiten Interview, das im Büro von ÇİDER stattfand, reflektierte er darüber, wie er mit Hilfe der netzbasierten Community die gesellschaftlichen Barrieren und seine Hemmungen abbauen konnte. Diese verhalf ihm, „sich selbst zu verändern“. Er sagt, dass es „unvorstellbar war, darüber offen und locker zu reden, ohne Scham zu empfinden, sich zu genieren“. Er „lief sogar im Internet rot an“, wenn er über die intimsten, tabuisierten, emotionell hoch aufgeladenen und „schambesetzten“ Themen der Unfruchtbarkeit, Sexualität, Reproduktion, Männlichkeit und Weiblichkeit redete. Begeistert und mit deutlichem Stolz erzählte er mir:
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„Sehen Sie, wenn ich heute so locker darüber reden kann, so hat das mit der Internetseite zu tun; nie hätte ich sonst so sprechen können. Als wir anfingen mit diesen Freunden zu reden, d. h. uns via Internet zu unterhalten, da merkten wir, dass wir locker werden. Ich merkte, dass die Menschen auf eine sehr lockere Art darüber reden. Na ja, im Moment sitzen sie mir gegenüber und wir unterhalten uns live, aber dort ist es nicht so, dort schreiben sie. Also wenn sie damals etwas über den Eisprung der Frau oder über Spermien, über dies und jenes gesagt hätten, hätten wir uns sehr geschämt. Und was hat diese Phase mit uns gemacht? Durch die Bewusstwerdung haben wir [gesehen], dass das nicht so ist, also dass das eine Wahrheit ist, dass wir uns nicht schämen sollten; sehr einfach, dass nichts dabei ist, darüber zu sprechen. Wenn es früher gewesen wäre, hätte ich wirklich gesagt, also ich entschuldige mich im Vorhinein, [lachend] ‚Mann bist du bescheuert? Bist du verrückt? Hast du nichts zu tun oder was ist das für eine Frage, die du stellst?‘ hätte ich gesagt. Also ich hätte auf jeden Fall so geredet und wäre gegangen.“
Wie er, reflektieren viele über weitgehende Effekte dessen, wie Internetforen ihren Alltag, ihre alltäglichen Konfrontationen geprägt und vor allem den Umgang mit bestehenden Normen, Wertvorstellungen und habituellen, „erlernten“ Verhaltenskodizes tief beeinflusst haben. Häufig wird ein Veränderungsprozess beschrieben, der zur sozialen Offenheit führt. Herr Tıknaz beschreibt seine Gefühle folgendermaßen: „Schreiben ist einfacher. Also wenigstens begegnen sich nicht die Blicke. Vielleicht ist das eine Phase. Mir fällt es dann leichter zu reden und mich mitzuteilen. Derzeit gibt es vor allem zum Thema Reproduktionsbiologie niemanden, mit dem ich nicht von Angesicht zu Angesicht sprechen könnte – solange mein Gegenüber zuhören kann, rede ich. Ich sage das so: so wie ein Arzt locker ist, bin ich auch locker. Aber anfangs gab es natürlich Grenzen. Ich war bedachter, mein Gegenüber... aber je besser man sich kennenlernt, umso offener werden bestimmte Dinge erzählt. Man geht sogar ins Private. Also das Problem, das wir durchmachen, ist ein gemeinsames, und dadurch... also es ist schließlich ein gemeinsames, von allen geteiltes Problem, also unser Problem.“ Nurhak: „Ja? Das, was sie auf diese Weise zusammenbringt?“ „Eben. Ich erlebe das Gleiche. Zum Beispiel verändert sich während einer Behandlungsphase die Art des Geschlechtsverkehrs, was für das Paar sehr belastend ist. Sie haben zu gegebener Zeit Geschlechtsverkehr. Mit wem du darüber reden kannst, dein Gegenüber, ist also wichtig. Nicht mit allen kannst du ja darüber reden.“
Weniger die Anonymität im Netz ist von Bedeutung als das Gefühl, dass „das Gegenüber auch das gleiche erlebt wie man Selbst“. Dieses trage stärker zu einer Überwindung sozialer Tabuisierungen bei. Fatma, die den größten Teil ihres re-
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produktionsbiografischen Kampfes und ihrer Erfahrungen mithilfe solidarischer Beziehungen im Netz bewältigte, beschrieb die Bedeutung des Forums so: „Es gibt viele, die nur die Geschichten anderer Menschen lesen und in den Erzählungen über Hoffnung, über Erfolge und darüber Nicht-Aufzugeben, seelische Hilfe finden, sich dadurch stärker fühlen. Manche sind sehr aktiv – die Wissbegierigen, die alles recherchieren, lesen, erlernen und dann auch mitteilen und andere Beiträge kommentieren. Das sind in der Regel Menschen mit viel Erfahrung, die weniger an einer Redegruppe [gemeint Selbsthilfe- und Supportgruppe] Interesse haben, sondern sich viel mehr gänzlich mit dem Thema beschäftigen. Sie sind an allem interessiert und helfen eher den Menschen als sich selbst; sie helfen denen, die neu dazugekommen sind, die zurückhaltend oder schüchtern sind, die sich kaum trauen, aus sich selbst herauszukommen und offen über das Thema zu reden. Und es gibt auch diejenigen, die nur emotionale und psychologische Unterstützung suchen und an der Geselligkeit der Gruppe interessiert sind.“
Wichtig ist in solchen Erzählungen eines. Das Internet als Werkzeug ermöglicht eine Kontrolle über die intimen Selbstoffenbarungen. Viele beklagen sich über die „Einmischereien“ in alltäglichen Nahwelten und sehen die Netzräume als einen „Fluchtort“. Darin finden sie eben Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Management ihrer reproduktiven Informations- und Wissenspraktiken. Dies ist als ein Aushandlungsprozess zwischen Rückzug und Offenbarung gestaltbar. Für diejenigen, die kaum flexible und selbstbestimmte Informations- und Wissenspraktiken beanspruchen können, scheint es von großer Bedeutung zu sein – gerade in den patriarchalen und pronatalistischen Umgebungen. In meinen Interviews beschreiben viele die Selbsttransformation bzw. die Veränderungen in den Selbstbildern und -verständnissen als eine Konsequenz der Internetaktivitäten. Der Akt des Be-Schreibens ihrer Erfahrungen und des Lesens der anderen Kinderwunschgeschichten von Paaren, Frauen und Männern ändere sowohl ihre Orientierung im bereits existierenden sozialen Umfeld als auch ihre Problematisierung der Infertilität und der IVF-Nutzung. Es ist auch mit einem Lernprozess verknüpft, der ihre Deutungen, Selbstverständnisse und Handlungen im Umgang mit dem Problem tief beeinflusst hat. Frauen und Männer, je unterschiedlich, lernen individuell-familiäre Reproduktionsbiografien zu managen. Sie erweitern den Erfahrungshorizont für als krisenhaft empfundene Biografien im Zusammenhang mit der Infertilität und den reproduktiven Schwierigkeiten. Menschen lernen durchaus mit den antizipatorischen und versprechenden Regimes der IVF/ICSI-Technologien und der Hoffnung umzugehen (Franklin 2002). Sie ermuntern sich gegenseitig und legitimieren „jegliche Investitionen“ für das erwünschte Kind und ein „immer Dranbleiben“. Diverse
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Posts triggern die dominanten Rationalitäten, Logiken und Wahrheiten über die medikalisierte Reproduktion. Sie tragen zum hochgradig heroischen Diskursraum bei. Viele Beitragende performieren sich selbst zu kämpferischen und heroischen Kinderwünscher*innen. Eine Teilnehmerin schreibt in einem Forum: „Mit Eurer Hilfe fühle ich mich stärker und werde diesen Kampf weiterführen, bis ich das Licht am Ende des Tunnels sehe.“ Das biografische Schicksal und das Leiden an der Kinderlosigkeit wird anders wahrgenommen und ein kollektives Narrativ der Hoffnung, der Machbarkeit und der Persistenz aufgebaut. „Schau, also kann es klappen; man muss sich bei dieser Sache bemühen“ oder „Ja, jedes Mal, wenn ich euch sehe, bekomme ich mehr Hoffnung, ja, ich werde das schaffen, es ist sehr wichtig, das sagen zu können.“ Unzählige Postings wie diese demonstrieren die Wechselwirkungen zwischen Selbstoffenbarungen, Emotionalitäten und spezifischen moralischen Erzählungen von Hoffnung, Erfolg und Scheitern. Auch im Internet entsteht und zirkuliert eine partikulare Rhetorik über die Sehnsucht nach dem eigenen Kind. Diese wird wörtlich wie visuell in den Profilnamen und -bildern widergespiegelt. Es sind Bilder und Emojis, die Mütter und Kinder abbilden. Auch zahlreiche Sprüche wie „Eines Tages werde auch ich Mutter“ sind teil von Selbstdarstellung ungewollt Kinderloser. Andreas Bernard merkte kürzlich kritisch über die deutschsprachigen Kinderwunschforen an, „die in Profilnamen anklingenden Sehnsüchte nach einem eigenen Kind scheinen oft genug den Fluchtpunkt der gesamten Existenz zu bilden“ (2014: 442). Auch in den türkischen Foren ist dies der Fall. Oft werden die Sehnsüchte und dem damit einhergehenden Gemütszustand im Profilnamen zum Ausdruck gebracht, beispielsweise „yorgunsavasci“, („ermüdetekämpfer“) „hopeful“, „umut79“ („Hoffnung79“), „kizimizolacakti“ („wirhätteneinetochterbekommen“). Diese sprechen oft für sich, aber auch zueinander. In den Foren werden unter anderem die nun weit verbreiteten und konsumierten Erfolgsnarrative der IVF/ICSI-Technologien dargestellt. Anschaulich wird es gerade im narrativen Geflecht zweier Blogs auf der Webseite, die von vielen meiner Interviewpartner*innen rezipiert und mitverfolgt werden: Savaşa Devam Edenler („Diejenigen, die den Kampf fortführen“) und Savaşı Kazananlar („Die Sieger des Kampfes“). Diese Blogs sind effektiv in ihrer Produktion und Zirkulation kollektiver Kampfnarrative, wie bereits dargestellt wurde (siehe Kapitel 3.2). Die digitale Sammlung dieser sich ergänzenden Narrative vergrößert sich beinahe täglich, indem Frauen und Männer ihre Erfahrungen in Form von langen Aufsätzen erzählen. Sevgi Dalış erzählte mir beispielsweise, dass sie sehr häufig die Berichte der „Sieger des Kampfes“ las. „Vielleicht, weil ich auch mal eines Tages da reinschreiben wollte“, erklärte sie und dachte daran, „dass
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man diesen Kampf anscheinend gewinnen kann“. Die Erfolgsnarrative der anderen begleiten den Prozess der Behandlungen und des Kinderwunsches mit tiefgreifenden biografischen Reproduktions- und Sinnkrisen. Die psycho-soziale und informative Überforderung und Frustration führt viele in ihrer „hoffnungslosen Suche nach einer Lösung“ zu den online verfügbaren Angeboten und anonymen Austauschforen. In Interaktion mit anderen verhandeln Teilnehmer*innen also ihre Lebens- und Erfahrungskontexte immer wieder neu. Indem sie ihre privaten und intimsten Erfahrungen mit-teilen und sich selbst mit ihren problematisch erlebten Reproduktionsbiografien offenbaren, prüfen sie ihre Deutungsund Handlungsweisen. Jenseits struktureller und gesellschaftlicher Barrieren und räumlicher wie zeitlicher Einschränkungen und Grenzen, engagieren sich viele in diesen Foren aktivistisch. Als sich selbstoffenbarende Subjekte, die höchst private und intime Details ihrer reproduktiven Biografien, emotionale Brüche und Krisen, Schwächen und Stärken „im Kampf gegen die eigene Biologie und den eigenen Körper“ und „für Kinder“ im Internet preisgeben, sehen sie sich kaum als öffentliche Darstellungsobjekte. Im Gegenteil, viele Nutzer*innen präsentieren sich als „bewusste Patienten“, die ihre subjektive Erfahrungs- und Lebenswelt als relevante Wissens- und Informationsressource neu validieren.
5.3 AUF DER SUCHE NACH ANONYMEN RÄUMEN: BEDEUTUNGEN NETZBASIERTER COMMUNITIES Die netzbasierten Sozial- und Wissensräume treiben eindeutig die Konstruktion der partikularen biosozialen Erfahrungsgemeinschaft voran, die in dieser Arbeit analysiert wird. Für diese Form von netzbasierten Communities ist die geteilte Erfahrung und Wissensarbeit konstitutiv (siehe 3.2 und auch 3.3).4 Wie bereits angemerkt, wird das Forum von Betroffenen als eine Wissensplattform genutzt, auf der sie sich mit anderen „IVF-Patient*innen“, Mit-Leidenden und Kinderwunschkämpfer*innen austauschen. Sie erleben ein solidarisches Miteinander, so argumentieren viele der Nutzer*innen, das auf etwas körperlich, sozio-psy-
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Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Literatur gibt es eine weitreichende Diskussion über die netzbasierten Kommunikations-, Gruppen- und Sozialitätsformen (Baym 1998, Wilson/Peterson 2002). Diese betonen die gemeinschafts- und identitätsstiftenden Wirkungen des Internets. Kritisch dazu betonen neuere Studien die Relevanz von flüchtigen und kurzlebigen Effekten auf die Sozialbeziehungen, Felder und Formen des Aktivismus und der Identität (Bakardjieva 2003, Postill 2008).
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chologisch und moralisch „Geteiltem“ beruht.5 Im Netz situieren sich Frauen und Männer mit ihren subjektiven Reproduktionsbiografien nicht nur als Patient*innen. Sie formen ihre langen Kinderwunschkarrieren zu einer Informationsressource und positionieren sich als Mitstreiter*innen eines kollektiven Kinderwunschkampfes neu. „Wir haben hier eine Art Schicksalsgemeinschaft derjenigen geschaffen, die das Gleiche durchmachen“, lautet eine typische Beschreibung für die netzbasierten und darüberhinaus gehenden Communities. Es ist eine partikulare Gruppe von Menschen, die in ihren Worten „das gleiche Schicksal miteinander teilen“. Für viele Paare, die ich interviewte, ist es ein höchst moralisches und altruistisches Engagement, sich mit-zu-teilen und „sich selbst zur Verfügung zu stellen“. Die individuellen Erfolglosigkeiten werden kollektiv geteilt und gemanagt, die erwünschten „Erfolge“ gefeiert. Viele sind motiviert, „den anderen, die sich in der gleichen Lage befinden“ und denen nötige „Ausrüstung“, „Wissen“ und „Bedingungen“ fehlen oder die aufgrund sozialer und psychischer Krisen nicht in der Lage sind, selbst zu handeln, „zu helfen“. In diesen Netz- und Lernräumen werden sowohl die subjektiven Reproduktionsbiografien als auch die situierten Wissenspraktiken der Einzelnen neu geformt und bewertet. Goldstein behauptet in ihrer Analyse einer Support-Webseite für die Menopause, dass Online-Gruppen ihre eigene medizinische Kultur haben: „[...] a culture which gives primary importance to the role of subjective experience“ (Goldstein 2004: 127). In meinem Feld reflektieren viele selbst, wie subjektive Erfahrungen den Zugang zu kollektiven Erfahrungen ermöglichen. So wird oft darüber debattiert, wie relevant und lehrreich die Sammlung von „Selbst-Erfahrung“ und eines „Erfahrungsschatzes“ ist. Es werden neue Subjektpositionen erprobt, und zwar jenseits der und über die formellen medizinischklinischen Räume und professionellen Deutungs- und Handlungshoheiten hinaus. Als Alternative zu klinisch-medizinischen Settings finden Frauen und Paare in solchen Räumen einen einfachen und anspruchslosen Einstieg in die und Zugang zur reproduktionsmedizinischen Welt. Besonders wichtig ist, dass viele sich als altruistische Advokator*innen performieren und ihre Kinderwunschkarrieren von einer „IVF-Patientin“ zu einer Selbstexpertise in Sachen IVF/ICSI 5
Trotz eines starken Verbindlichkeitsgefühls, das sich über die aktuellen Behandlungsprozesse, soziale und medizinisch-diagnostische Unterschiede und reproduktionsbiografische Verläufe hinaus etabliert, gibt es auch „transitorische Gemeinschaften, in denen die größere Anonymität und die geringere Verbindlichkeit Möglichkeiten des Experimentierens und Probehandelns eröffnet“ (Liebsch 2010: 138, [Herv. i. O.]). Diese sind in der Regel solche, die sich temporal um bestimmte Problemlagen und spezifische Themen gründen, in der die Zahl der Beteiligten eher klein ist und die nur partiell charakteristische Eigenschaften einer Erfahrungsgemeinschaft haben. Sie lösen sich meistens auf, sobald die Grundlage des Zusammenkommens nicht mehr existiert.
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führen (siehe auch 3.3). Die Foren steuern besonders stark zu dem kollektiven Wissenskorpus bei, indem gerade die subjektiven Erfahrungen, Reproduktionsbiografien und Kinderwunschkarrieren neu validiert werden: „Es gibt viele Menschen, die ähnliche Probleme durchmachen. Und jeder hat eine einzigartige Geschichte“: „Ich empfehle allen mit diesem Problem, dass sie da mal reinschauen. Denn es gibt dort einen Wissens- und Erfahrungsschatz wie nirgendwo. Im gegenseitigen Schreiben geht es beispielsweise [um folgende praktische Hilfen]: ,Ich habe dieses Medikament angewendet, in der Dosierung, und so lange‘ oder: ,Ich empfehle dir dies und das‘ oder: ‚Der Arzt xy ist gut, geh mal zu ihm‘, und so weiter.“
Eine Lern- und Austauschkultur entsteht dort, die auf subjektiven Sichtweisen auf Reproduktionsmedizin und körperbezogenes Wissen fußt. Wie die Beispiele hier verdeutlichen, steht dadurch eine zusätzliche und immer mehr attraktiv werdende Informationsquelle zur Verfügung. Ich sehe diese unter dem Aspekt einer Fragmentierung im Informationsfluss zwischen Medizin, Gesellschaft und Subjekten. Auch in einigen Interneteinträgen wird ersichtlich, wie dort zirkulierendes Erfahrungswissen gedeutet wird: „Gerade das Internet gibt Patienten die Möglichkeit, das ärztliche Informationsmonopol zu durchbrechen. Ich selbst merke, dass ich in gewisser Weise gutgläubig darangegangen bin. Heute ist es leider umso wichtiger, als Patient gut informiert zu sein. Man muss doch selbst wissen, was mit einem passiert. Man muss eben recherchieren, recherchieren, recherchieren. Wenn man so was wie Internet hat, darf man nicht mehr jammern. Es gibt ja hier top-informierte Menschen, die jeden mit zahlreichen Informationen, Tipps und Ratschlägen versorgen.“
Die Rezipient*innen werden zu Involvierten, gerade ihre individuellen Umgangsweisen und singulären Erfahrungen gewinnen eine Neubedeutung dazu. Es folgt dezidiert eine Erweiterung der Erfahrungsräume jenseits der klinischen Settings und des dominanten Diskurs- und Handlungsraumes. In den Foren hat sich bereits eine „gemeinsame“ und für Außenstehende kaum zugängliche und kontextbezogene Sprache und Rhetorik etabliert. In ihrem Artikel zum „Infertilitätsblogging“ beschreibt Clancy Ratliff (2009) diese als „rhetorical enclaves“. Ähnlich dazu schaffen die neuen Genres der Intimitäts- und Infertilitätserzählungen neue Sprachinseln, in denen „Menschen ohne Eigenerfahrung“ und Vorkenntnisse unbeholfen sind. Diese umfassen eine besonders schwer entzifferbare Internet-Sprache und eine Schreibweise, die medizinische Fachbegriffe, Abkür-
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zungen und eine für bestimmte Fälle spezifische Wortwahl beinhaltet. Viele nutzen unterschiedliche Emoticons, Symbole oder Bilder, welche die Sehnsüchte und das, „was unter den Nägeln brennt“ versinnbildlichen und ihnen Ausdruck verleiht. Die Fachbegriffe werden beliebig gekürzt, beispielsweise Hypogonadotroper Hypogonadismus zu Hipo Hipo und Betroffene werden zu „hipolu (mit Hipo)“, Azoospermie zu azo, Endometrium zu endo. ICSI wird zu Mikro (die Verkürzung von Mikroinjektion) und In-vitro-Behandlung wird zu tüp (Reagenzglas) verkürzt. Sehr häufig werden die Medikamentendosierungen und Hormonwerte öffentlich geteilt, was unter anderem Vorkenntnisse der Fach- und Internetsprache erfordert (wie beispielsweise. 450 cc Gonal F, ein Medikament zur Stimulation der Eierstöcke im Rahmen der Kinderwunschbehandlung, FSH) oder Verniedlichungsformen wie „yumos“ für „yumurta“ – also „Eizellchen“ für Eizelle, „Stimu“ für Stimulation, die oftmals als „Gold“ oder „Diamanten“ bezeichnet werden. Semra ist eine von vielen Frauen, die durch die Internetforen ein exklusives soziales Umfeld webt. Niemand solle „allein damit zurechtkommen“ müssen – für sie fungierten die Erfahrungen der anderen als Wegweiser. Inzwischen übernimmt sie eine „Lotsenfunktion“ und bemüht sich, so Semra, vielen „einen Weg zu zeigen. So wie vorher andere Menschen mir Wege gezeigt haben, helfe ich auch anderen“. Es passt zu der bisher beschriebenen Wissensarbeit von vielen meiner Interviewpartner*innen, für die „ein Mehr an Wissen auch gleich mehr Macht“ bedeutet – mündige Subjekte, die in der Lage wären, die Autorität der Medizin und der Mediziner*innen infrage zu stellen, an der autoritären Wissensund Deutungsmacht zu zweifeln und diese zu ergänzen. Für sie bedeutet Nichtwissen Unmündigkeit und Ratlosigkeit. Berna beschreibt es: „Ich hatte sehr viel gelesen, ich habe mir sogar Notizen und so gemacht, wenn ich zu meiner Ärztin gegangen bin. Sie sagte ‚Woher weißt du das, das ist ein Schritt, den du nicht wissen solltest‘... Also ich lese sehr viel, ich recherchiere viel im Internet. Ich mache das, um ein wenig Wissen zu erlangen, auch ein wenig darüber, was mit mir passiert, was sie machen, ob ich am richtigen Ort bin, ob sie das Richtige machen.“
Auch Aydan Molf ist überzeugt von dem transformativen Effekt des netzbasierten Austausches zwischen den Betroffenen. Aydan ist zum Zeitpunkt des ersten Telefoninterviews seit 9 Jahren auf dem Forum „HH“ aktiv. Es ist ein Forum, in dem sich Frauen und Männer mit Hypogonadotropem Hypogonadismus, einer hormonell bedingten Funktionsstörung der Eierstöcke und Hoden, gegenseitig helfen. Die Diagnose bekam sie in der Türkei und auch ihre erste intrauterine Insemination wurde dort durchgeführt. Im Warteraum ihrer Klinik fand sie damals
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die Zeitschrift von ÇİDER, die damals monatlich erschien und an Fertilisationskliniken verteilt wurde. Gleich meldete sie sich auf der Kinderwunschplattform an und seither findet sie dort Hilfe für viele Fragen, die HH betreffen. Ihre Behandlungen, die Eizellenproduktion unterstützen und Eizellentwicklung zum gewünschten Lauf bringen sollten, führten wiederholt zu Misserfolgen. Sie immigrierte zusammen mit ihrem deutschen Ehemann zum Zeitpunkt unseres ersten Gesprächs vor vier Jahren nach Deutschland. Weiterhin hat sie sich in der Türkei, aber auch in Deutschland und in Italien behandeln lassen. Nach ihrem Umzug hat sie ihre engen Kontakte zu anderen Betroffenen auf der Kinderwunschplattform weiterhin aufrechterhalten. In den zwei Telefoninterviews, die ich in einem zeitlichen Abstand von circa anderthalb Jahren mit ihr führte, erzählte sie mir, dass sie auf dem Forum HH eine soziale Nähe fühlte. Diese fühle sich für sie „Fast-wie-Familie“ an, die sich um einen „ähnlich dysfunktionalen Körper“ herum und zwischen Menschen mit „gleicher medizinischer Geschichte“ und biografischen Ähnlichkeiten entwickelte. Die Bedeutung dessen beschrieb sie wie folgt: „Du unterhältst dich nicht allgemein. Du triffst dort Leute bezüglich deines Problems, die dieses wie ihr eigenes betrachten. ÇİDER hatte über viele Jahre Tausende Mitglieder, bestimmt 10. 000. Ich bin da seit acht vielleicht neun Jahren (aktiv). Jede Krankheit ist hier bei ÇİDER Tausende Male vorgekommen. Wir haben so eine enge Freundschaft in den Foren entwickelt. Wir schreiben uns fast über alles. Alle wissen von den Anderen, von ihren Behandlungsabläufen. Etwa so: ‚Ich bin zum Arzt gegangen‘, damit starten wir und dann schreiben uns die Dosis: ‚So und so viele Eizellen, so viel und so viel Millimeter‘ etc. Und das Tag für Tag, regelmäßig. Es ist wie eine Schritt-für-Schritt Begleitung [durch den Behandlungsprozess]. Ich lese die Beiträge täglich, jeden Tag. Die Mädels hier z. B. – ich sage einfach Mädels, weil sehr viele von ihnen Frauen sind... Es gibt aber auch ein Forum für Männer mit HH, auch sie helfen sich dort gegenseitig.“
In beiden Gruppen entwickelte sich eine ähnliche Dynamik der Laienberatung, zum „Sonderfall HH“. Geteilt wurden praktische Informationen, Expert*innenwissen und Ratschläge zur medikamentösen Hormonbehandlung vor der und für die IVF-Behandlung. Die Mitglieder informierten sich gegenseitig über Behandlungsverläufe, wobei die „Erfahrenen“ die „Neuankömmlinge ohne Vorwissen“ über diverse Aspekte aufklärten. Für die IVF/ICSI-Behandlungen sei HH eine Herausforderung. Bis eine vollständige Diagnose und ein Behandlungsprotokoll erstellt werden könne, so Frau Molf, lassen viele mehrere erfolglose Behandlungen mit Komplikationen über sich ergehen:
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„Oft sind es unterdosierte Medikamentenbehandlungen, welche den Körper sinnlos vollpumpen. Diese Behandlungen laufen ins Leere, aber verglichen mit anderen Faktoren muss meistens dann doch eine doppelte oder dreifache Medikamentendosierung her. Daher sagen wir hier immer wieder: eine Behandlung mit einer einfachen Dosis kann man sich gleich sparen. In diesem Fall (HH) bringt das gar nichts.“
Ihre eigenen Behandlungen führten nicht zum gewünschten Resultat und ihr Körper wurde vergebens zwischen Unter- und Überdosierung der Hormonspritzen belastet. In der Regel werden die Spritzen in 15 bis 75 Dosen verabreicht, sagt sie, ihre eigenen fangen erst ab einer Dosis von 50 und 60 an: „Also was eine normale Frau erst in zehn Behandlungen zu sich nehmen würde, nehme ich halt fast auf einmal, in nur einer Behandlung“. Aufgrund der Hochdosierung können unvorhersehbare Probleme und Komplikationen auftreten. Bei ihr war es wiederholt Überstimulation, das ovarielle Überstimulationssyndrom (OHSS), eine eventuell lebensbedrohliche Komplikation. „Keine einfache Sache, sehr schmerzhaft“ sagt sie. Sie musste mehrmals ins Krankenhaus gebracht werden, „weil sich in den Eierstöcken die Flüssigkeit gebildet hat und die fliest dann in die Bauchhöhle. Und dort kommt es zu Wasseransammlung. Du hast folglich starke Schmerzen. Oft muss man die Behandlung abbrechen, weil man in dieser Situation nicht mehr mit der Behandlung weiter machen kann. Dann hast du ja nichts davon, du hast enorm viele Hormone und Spritzen bekommen, hast deine Gesundheit gefährdet und am Ende sind die Eizellen nicht brauchbar.“
Viele wie sie seien von einer „Learning-by-Doing-Methode“ der Ärzt*innen betroffen, bis sie ein für sie individuell zugeschnittenes Behandlungsprotokoll erhielt. Bei unserem letzten Gespräch war Aydan 42 Jahre alt und hatte mehr als fünf Behandlungen mit ähnlichen Verläufen hinter sich. In ihrem Kinderwunschprozess gelang sie nun „zu allerletzten und schwierigsten Option mit Adoption“. Weiterhin hilft sie den betroffenen Frauen und Männern im Forum HH. „Beratung durch die Erfahrenen“ sei für viele sehr wichtig, „da sie von unseren Erfahrungen etwas lernen und das dann [gegenüber] ihren behandelnden Ärzten kommunizieren und ihren Behandlungsplan mitgestalten [können]“. Im Forum äußern sich viele, dass sie die medizinischen Erklärungen, Behandlungsprotokolle und Medikamentendosierung nicht verstanden haben oder sich psychisch ratlos fühlen, wie sie das dem Partner und der Partnerin erklären können. Die Forum-Teilnehmerin #suskungeveze (schweigsame Quasselstrippe) ist Anfang 20, frisch verheiratet und hat „Hipo (hipolu)“, wovon sie bereits vor der Eheschließung wusste. Sie verfügte jedoch noch über kein Wissen bezüglich HH
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und ihrer Behandlung. Seit ihrem letzten Arztbesuch ist sie irritiert. Sie bekam eine schlechte Prognose, dass sie womöglich keine Kinder bekommen könne und über Adoption nachdenken solle. Die medizinische Erklärung fand sie komplex. In den letzten Jahren nahm sie ihre Hormonmedikamente nicht mehr regelmäßig, erzählte sie im Forum und bat um Hilfe. Sie wusste nicht, wie sie ihrem Mann die „Krankheit“ erklären sollte, ihr fehlten die „richtigen Worte“. Sie versuchte es trotzdem. Einen Tag später kam ihr Mann zu ihr, „völlig unbeholfen, mit einem Schwangerschaftstest in der Hand. Was nun?“ beichtete sie. Die Teilnehmerin #karia berät sie daraufhin. Sie solle Schritt-für-Schritt vorgehen. Wichtig wäre, das ganze Forum erst mal gründlich zu studieren und die Medikamente weiterhin regelmäßig zu nehmen. Dem Ehemann solle sie alles „so simpel wie es geht darlegen“. Eine durchaus typische Austauschform ist: „Du wirst deinen Traum, auf natürliche Weise schwanger zu werden, leider aufgeben müssen. Es ist wirklich sehr schwer. Sag deinem Mann am besten, dass eine kleine Intervention nötig ist. Wie ich bereits sagte: du bist noch jung. Wenn du zu einem guten Arzt gehst, kann er vielleicht mit Spritzen deine Eizellen stimulieren. Womöglich kann er dir dann doch ganz normal Geschlechtsverkehr nahelegen. Die Hauptsache ist die Eizellenstimulation. Passiert das, braucht man vielleicht nicht mal eine Insemination. Ohne deine Medikamente kriegst du deine Periode nicht... keine Periode, keine Schwangerschaft... bei uns ist es ja beinahe unmöglich, ohne medikamentöse Behandlung schwanger zu werden oder die Chance steht eins zu einer Million. Mit Medikamenten hast du eine Chance von eins zu eintausend. Mit der Behandlung hast du im besten Falle die gleiche Chance wie bei einer normalen Frau. Bei einer gesunden Frau liegt diese bei 25 %. Verglichen zur Chance eins zu einer Million gibt es doch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit und mit Mikro steigt diese sogar auf 40 bis 50 % [für eine Behandlung].“ „Das sollst du eigentlich deinem Mann erzählen. Nicht wie es der Arzt erklärt, sondern wie wir es erklären. Denn so ist es richtig. Weiß er das alles nicht, kommt er jeden Monat mit einem Schwangerschaftstest nach Hause, was dich und ihn strapaziert.“
Auch #müderkämpfer im Forum „HH bei Männern“ berichtet von seinem letzten Arztbesuch, bei dem die Medikamentendosierung modifiziert wurde. Zwei voneinander abweichende Hormonspiegel listet er auf, mit der Hoffnung auf Ratschläge von anderen Männern. Ein Medikament namens Pregny musste er absetzen und will wissen, was andere davon halten. Ein anderer Teilnehmer fragt genauer nach dem bisherigen Verlauf der Behandlung und Medikamentendosierung. Dann kommentiert er: „Richtig, aber Pregny solltest du nicht gänzlich absetzen. Eine neue Dosierung ist sinnvoller. Statt 5.000, kannst du es auf einmal die Woche 1.500 reduzieren.“ Sonst bleibe die Behandlung ineffektiv und er
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müsse alles von vorn durchmachen. Er habe es selbst durchgemacht. Solche Beispiele zeugen von transformativen Effekten der vernetzten Communities. Viele betrachten diese allerdings vorsichtig. „Würde ich auf die Webseite schreiben, dass Regenwasser hilft, würden alle das trinken“ Im reproduktionsmedizinischen Feld wird den Patient*innen ein exzeptioneller Status zugeschrieben, denn die reproduktionstechnologischen Eingriffe behandeln „keine Krankheiten“, sondern nur die reproduktiven Schwierigkeiten und zielen darauf ab, den sozialen Kinderwunsch zu realisieren. In diesem spezifischen Behandlungssetting sind Personen, die im Management ihrer reproduktiven Biografien auf die reproduktiven Technologien angewiesen sind, weder medizinisch-diagnostisch krank, noch sind die subjektiven Erfahrungen mit Infertilität mit den normativen Krankheitsbildern und -wahrnehmungen identisch. Der reproduktionsmedizinische Behandlungsprozess ist also von einem wesentlichen Spannungsverhältnis geprägt, das im folgenden Interviewabschnitt mit einem Arzt aus einer privaten Istanbuler In-Vitro-Fertilisations-Klinik geschildert wird: „Wenn Menschen sich nicht krank (hasta) fühlen, erscheint es ihnen unlogisch, ins Krankenhaus zu gehen. Nun, bei dem Problem der Unfruchtbarkeit sind die Menschen ja eigentlich gesund. Da sie herkommen müssen, ohne irgendein gesundheitliches Problem zu haben, verursacht es bei ihnen eine Anspannung.“
Sie würden nicht verstehen „wieso der Arzt an einer Seite des Tisches und sie an der anderen Seite sitzen“. Für Mediziner*innen wie Betroffene, die ich im Verlauf meiner Feldforschung interviewte, ist die*der „Tüp Bebek-Patient*in“ höchst „anspruchsvoll“ oder gar „tüftelig“, „spitzfindig“ und „pingelig“. „Bei Tüp Bebek recherchieren die Leute wirklich sehr unnachgiebig“, erzählt Interviewpartner Dr. Üstün über die Klientel. Wie viele andere, sieht er das „in der Natur der Sache“ begründet und kommentiert: „Es ist ein sehr kniffliges Thema und ein Sachverhalt, der dem Missbrauch offensteht.“ Menschen würden unter falschen Diagnosen, Behandlungsverfahren und Fehlern leiden, was sie oft generell über die medizinischen Behandlungen „verunsichere“: „Bin ich wirklich am richtigen Ort? Wird wieder das Gleiche passieren? Werde ich wieder gar nichts erreichen? Die Art der Behandlung spielt auch eine Rolle dabei, was man für ein Ergebnis erzielt. Ja, man macht dann Tüp Bebek und sagt sich, dass man eine Chance von 60 % oder 40 % hat. Und wenn es nicht klappt, fragt der Patient, woran es lag. Es gibt keine Antwort. Und wenn man das alles in Betracht zieht, dann ist der Patient schon sehr
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zermürbt, ist sehr unsicher und zweifelt an allem. Man sagt zum Beispiel, dass sie sich eine Spritze am Bauch verpassen sollen. Die fragen sich dann, ob sie es wirklich tun sollten und ob es das richtige Medikament ist. Da sie an allem zweifeln, informieren sie sich sehr gut, recherchieren viel, fragen bei anderen nach, informieren sich zusätzlich im Internet und fragen bei Ärzten nach. Sie informieren sich also auf jede Art.“
Auf die metaphorische Grenze des Ärzt*innen-Tisches beziehen sich viele in meinem Feld. Sie deuten Veränderungen, mal auf der Ärzt*innen-Seite und mal auf der Patient*innen-Seite, an. Das, was sie ausmacht, zeigen die Grenz(be)ziehungen in meinem Feld deutlich. Die online Kommunikation unter den Gleichgesinnten fordert auch die klinischen Praxen heraus und die Beziehungen zwischen Ärzt*innen und Patient*innen. Ärzt*innen wie Vicdan beschreiben ein „Patiententyp“, den sie „anstrengend“ finden: „Das sind welche, die in der Regel sehr viel in Foren schreiben und lesen. Und die denken, dass alles, was sie im Internet gelesen oder irgendwo gehört haben, wahr ist. Folglich kommen sie mit richtig heftigen Vorurteilen her.“ Nurhak: „Inwiefern?“ Vicdan: „Ein Teil der Patienten kommt nicht her, um von uns behandelt zu werden sondern um uns zu verhören. Man merkt das, während man sich mit der Patientin unterhält. Manchmal versteht man dann auch nicht wirklich, worauf dieses Beharren basiert. Wenn ihr das Ganze ja schon so außerordentlich gut und detailliert versteht, dann braucht ihr doch gar nicht zu mir zu kommen. Also, wenn jemand mit Vertrauen zu mir ins Zentrum kommt, dann sollte er dem Arzt auch ein wenig... Natürlich mögen wir Patienten, die Fragen stellen, aber es gibt auch eine Art und Weise, Fragen zu stellen. Es hat ja wirklich keinen Sinn, mir solche absurden Fragen zu stellen wie: ‚Würde es meine Schwangerschaft verhindern, wenn ein Meteorit vom Himmel fallen würde?‘ Wir erläutern ja alles im Detail und sagen auch, dass sie uns mitteilen sollen, wenn sie noch extra irgendwelche Fragen im Kopf haben oder ob es noch etwas gibt, was sie wissen wollen. Aber eine bestimmte Patientenpopulation möchte diesen Rahmen sprengen.“
Die gegenseitige Hilfe und der Austausch im Internet fördern ein selbstbestimmtes Management im Kinderwunschprozess. Neben sozio-psychischen Strapazen helfen diese auch bei den Verunsicherungen durch den Informationsüberfluss sowie dabei, dass „die Patienten ihre Behandlungen auf Augenhöhe mit ihren Ärzten führen können“. Die durch die Internetkommunikation auftretenden Herausforderungen bzw. ihre emotionell wie sozio-psychischen negativen Auswirkungen wurden häufiger von vielen Akteur*innen erwähnt. Auch die Teilnehmer*innen diskutieren unter sich darüber. Die folgende Konfrontation ist bei-
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spielhaft, die Aynur Teksoycan demonstrativ erzählt. Eine neue Teilnehmerin äußert ihre kritische Wahrnehmung über den Effekt der Foren: „Würde ich auf die Webseite schreiben, dass Regenwasser hilft, würden alle das trinken, so ist die Stimmung hier.“ „Sie hat uns alle beobachtet, hat uns allen was gesagt... Sie hat gesagt: ‚Du bist so und so, du tust, als wär überhaupt nichts, aber du hast Probleme.‘ Sie hat allen ihre Meinung gesagt und uns kritisiert, wie wir etwa handeln... Ich hab mich da nie [auf die Konfrontation] eingelassen, aber es ist nicht so, dass es meine Nerven nicht strapaziert hat; denn, klar, wie kann mich eine Fremde so kritisieren. Anderen hat es sehr zu schaffen gemacht. Ayse beispielsweise, ihr gehen solche Dinge sehr nah; da habe ich ihr gesagt: ‚Schau mal, sie hat noch nie eine Behandlung machen lassen, wenn sie zwei, oder eine Tüp Bebek-Behandlung machen lassen hat, also diese Phasen durchgemacht hat, dann können wir darüber sprechen, ob sie Regenwasser trinken würde oder nicht.‘ Aus der Distanz hat man leicht reden, sie hat noch gar nichts unternommen, also wieso beachtest du das Ganze. Ja klar, wenn jemand sagt, dass Regenwasser hilft, trinken wir das, in solch einer Stimmung sind wir eben.“
Darüber hinaus sind nicht alle gleichermaßen daran interessiert, von einem derartigen „Wissens- und Erfahrungsschatz“ zu profitieren oder Teil von einer Gemeinschaft zu werden. Während meiner Feldforschung interviewte ich besonders in den Kliniken viele, die eine eher „skeptische“ Distanz zu derartigen Internetforen bewahrten. Für viele dieser Nicht-Teilnehmer*innen in meinem Sample ist es ein „Schreckensbild“. Sie fürchten, dass sie dadurch erst recht „nicht mehr aus dem Teufelskreis (çark) rauskommen“. In einem einstündigen Online-MSNInterview begründet Seda Yüksek, dass sie „von der Intensität erschüttert war“, als sie sich zum ersten Mal in den Foren eingeloggt hat. Das Ausmaß von Emotionalität und des intimen Austauschs dort überfordert ihre Kapazitäten. Es sei für sie erschreckend und nicht hilfreich, sagt sie. Die Informationsdichte, die auf eine Person in diesem Prozess zukommt, ist für sie ohnehin kaum zu bewältigen. Die derartigen Selbsthilfekontexte und besonders das Internet kompliziere es noch mehr, indem jede*r sich äußern kann und jeder Fall, einen gezielten und selektiven Umgang mit den Angeboten in solchen Netzwerken für Selbsthilfe, erschwere. Ähnlich sehen es auch die Salihs, ein Paar Anfang 30, aus der berufstätigen Istanbuler-Mittelschicht, das ich während ihrer Behandlung in einer Istanbuler Privatklinik interviewte. „Vertrauen auf die Medizin und Ärzte“ ist für beide vorrangig, sodass sie keine andere Wissensquelle in Betracht ziehen wollen, schon gar nicht die Internetforen, betont Can Salih demonstrativ. Merve sei heimlich ab und an in Internet- und Frauenforen gewesen, „nur so aus Neugier-
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de“, aber sie war eher in englischsprachigen Foren unterwegs. Relativ schnell hat die Neugierde nachgelassen, weil sie feststellte, dass weder informative Angebote noch sozio-psychische Selbsthilfemöglichkeiten den beiden einen Reiz boten. Can Salih argumentiert folglich: „Alles kommt da zur Sprache, die extremsten Fälle werden im Internet debattiert. Jeder schreibt was er will. Manche schreiben Fehlinformationen und falsche Sachen. Es sind persönliche Empfindungen, und das, was Menschen für wahr halten, schreiben sie da rein. Viele sind verwirrend. Man kann höchstens aus den wissenschaftlichen Webseiten etwas lesen. Und diese haben dann einen anderen Nachteil. Sie müssen schließlich jegliche Möglichkeit da reinschreiben. Das kleinste Detail oder jeden Fall, selbst wenn es eins zu eine Million ist... wie ein Medikamentenbeipackzettel. Liest das ein normaler Mensch, ein Laie, [denkt er]: ,Aha, so eine Option gibt es auch noch‘, ein Wunder.“
Übers Internet recherchierte die Interviewpartnerin Karagöz zwar sehr intensiv, jedoch war sie über dessen informativen und emotionellen Effekt immer skeptisch und äußerst vorsichtig. Zum Zeitpunkt des Interviews hat sie zweijährige Zwillingstöchter und reflektiert rückblickend, wie schwierig es ohnehin war, mit den überwältigenden Gefühlen und dem stetig steigenden Informationsbedarf umzugehen. Einen „individuellen Weg dabei einzuschlagen“ war für sie eine Herausforderung, bei der sie sich gegen jegliche Eingriffe der Familie, der Verwandtschaft und der ganzen Gesellschaft behaupten musste. Solche „Vergemeinschaftungen“ im Internet seien äußerst relevant, aber sie betrachtet sie dennoch kritisch: „Dass es sich immer nur um Kinder dreht, wollte ich ja eigentlich vermeiden.“ Implizit oder explizit geht es in meinen Interviews mit den in den Internetforen-Nicht-Beteiligten häufig um eine derartige Kritik an Rhetoriken des Kampfes und der Hoffnung sowie an der intensivierten Sentimentalität. Während einer Informationsveranstaltung begründete beispielweise eine Teilnehmerin ihre „Skepsis“ wie folgt: „Ich möchte nicht Gefahr laufen, dass ich mich in diese, naja, übermäßige Emotionalität vertiefe. Hoffnung findet man dort vielleicht, klar, aber es gibt auch viel Bitteres und viele Schmerzen da.“ Auch Şebnem Koç ist ein gutes Beispiel für diejenigen Frauen, die normativen Werten und Erwartungen des Kinderwunsches, der Reproduktion und der Familie immer kritisch gegenüberstehen und den ganzen Kinderwunschprozess mit sich selbst ausmachen wollen. Sie hat höchstens informatives Interesse, sie erklärt: „Ich bin nicht Teil der sozialen Medien. Es kommt mir sehr substanzlos vor. Da sehe ich mich selbst nicht. Ich bin eher materialistisch.“ Frau Idali ist eine „Aussteigerin nach der jahrelang intensiven Teilnahme“. Bei ihr blieb die Schwangerschaft nach den „eigenständigen Versuchen“ und den
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drei nacheinander erfolgten Inseminationen aus. Als sie sich für eine invasive IVF-Behandlung entscheidet, ist sie bereits 35 Jahre alt. Laut Fachmeinungen „fehlt“ ihr nichts. Diagnostisch wird für das Ausbleiben „unerklärbare Infertilität“ herangezogen. In meinem letzten Telefongespräch mit ihr lässt sich ihr Misstrauen gegenüber den medizinischen Diagnosen und den Mediziner*innen deutlich heraushören. Sie stellt den „Diagnose-Modus“ infrage, alles mit Unerklärbarkeit zu beantworten. Sie informiert sich nun anderweitig und zieht andere Erklärungsweisen in Betracht. Mit einem dicken Ordner in der Hand geht sie nun von Ärzt*in zu Ärzt*in. Im Ordner sind diverse medizinische Unterlagen und Befunde zum „funktionierenden Körper“ von ihr und ihrem Mann. Es seien „Beweise“ dafür: „Ich habe kein Problem, mein Alter ist 35, den Eierstöcken geht es überaus gut. Ich weiß keinen Moment in meinem Leben, in dem die Hormonwerte schlecht waren. Was das Thema Infertilität angeht, meinem Mann geht es auch gut.“ Durch den gegenseitigen Austausch gelang sie an „etwas mehr Macht“. Sie lernte über die medizinischen Diagnosen und Kategorien kritisch zu reflektieren bzw. mit ihnen anders umzugehen. Sie habe sich nicht einseitig informiert, sondern auch eine eigenständige Recherchearbeit vollzogen und Wissenswege gefunden. „Vertrauen in die Medizin ist gut, doch nicht ausreichend“, sei allmählich ihr Motto. Dies gab ihr das Gefühl, an der Diagnose, Erklärung wie Behandlung ihrer Reproduktionsprobleme aktiv teilzunehmen und intensiv daran zu arbeiten. Dennoch habe sie realisiert, dass dies bei ihr eine extreme Fokussierung auf den Kinderwunsch mit sich brachte. Einem werde in den Internetforen doch ein permanentes Weitermachen aufoktroyiert. Das fällt ihr nun zur Last. Wie andere klagt sie über die hohe Emotionalität, und erklärt weiter: „So wird nur noch dein Leid aufgefrischt, du wirst an deine Erfolglosigkeit erinnert“, und „dort (in den Internetforen) ist doch kein Leben ohne Kinder vorstellbar“. So merkt sie in unserem letzten Telefongespräch an, sie möchte doch „ein neues Blatt in ihrem Leben eröffnen“. Sie sei nicht bereit den Kinderwunsch völlig aufzugeben, jedoch will sie sich nicht mehr „so stark darin hineinsteigern“. Was in diesen Aussagen kritisiert wird, ist für viele andere gerade attraktiv. Viele meiner Interviewpartner*innen suchen eine Art solidarischer Beziehung, die sie als „Schicksalsfreundschaft“ bezeichnen. In der folgenden Analyse einer lokalen Sektion der biosozialen Erfahrungsgemeinschaft wird dies nun veranschaulicht.
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5.4 VERNETZTE ON- UND OFFLINE-WELTEN: EIN LOKALES BEISPIEL Über die Kinderwunschplattform von ÇİDER kam ich mit einer kleinen, lokalen Frauengruppe in Kontakt. Viele hatten bereits lange Kinderwunschkarrieren hinter sich und waren jahrelang loyale Mitstreiter*innen bei ÇİDER. Sie integrierten die netzbasierte Kommunikation und Erfahrungsgemeinschaft in ihre alltäglichen Umgangsstrategien mit biosozialen Problemlagen der Infertilität und Kinderlosigkeit. Sie tauschten sich online, in den Foren, intensiv über ihre Belange, Problemlagen und Erfahrungen aus. Zunächst erstellten sie eine lokale Sektion im Forum, unter dem Stadtnamen Salcak6, einer Kleinstadt in der Nähe von Istanbul, um die dortigen Betroffenen zusammenzubringen. Die Gruppe reagierte auf mein Schreiben, das ich online stellte, und nach einem intensiven Austausch und längeren Telefongesprächen wurde ich zu einem monatlichen Treffen eingeladen. Durch die Teilnahme bekam ich neue Einblicke in eine entstehende lokale Selbsthilfekultur. Hier entfaltete sich eine besondere Formation, die sich eindeutig von konventionellen (westlichen) Formen der Selbsthilfe unterscheidet. Ihre anfänglichen Online-Beziehungen überführten diese Frauen in eine herkömmliche Form der Zusammenkunft, dem Gün (wörtlich: Tag).7 Es ist quasi ein Beisammensein nur für Frauen und ein Frauentreffen der urbanen Mittelschicht. Bei einem Gün trifft sich für gewöhnlich eine feste Gruppe von Frauen in regelmäßigen Abständen, wobei zusammen mit der Gastgeber*innenschaft auch eine vorab festgesetzte Geldsumme oder ein Wertgegenstand (wie Gold) zwischen den Frauen rotiert. Eine geschlechtsspezifische Sozialitätsform wird damit in eine (kulturelle) Form des Sparens transformiert. In der Regel hat ein Gün weder einen thematischen Bezugspunkt oder ein erklärtes Ziel, noch teilen die Frauen etwas anderes als ähnliche Lebensumstände als Frauen aus der städtischen Mittelschicht. Die Treffen finden jeweils bei einer Frau zu Hause statt, die die anderen bewirtet und für die dann die regulären Beiträge gesammelt werden. Gewöhnlich tauschen sich Frauen bei den Güns über alltägliche Themen und Probleme aus, manchmal über Intimes und Privates, aber auch viel Klatsch und Tratsch wird mitgeteilt. 6 7
Der Stadtname und damit auch der Name der Gruppe wurden anonymisiert. Gün-Meetings hängen mit den „vergeschlechtlichten Räumen“, Sozialitätsformen, geschlechtsspezifischer Solidarität und Öffentlichkeit zusammen (Özbay 1999, Polat 2008). Seit den frühen 1980er-Jahren werden Gün meistens in urbanen Räumen als Frauenversammlungen praktiziert. Es sind Sozialräume für Frauen, in denen Lebensstile, Normen und Werte der (urbanen) Mittelschicht performiert und reproduziert werden (vgl. Ekal 2006).
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Die Güns, an denen ich teilnahm, hatten eine Besonderheit. Die Teilnehmerinnen hatten sich im Internet kennengelernt, teilten ähnliche reproduktionsbiografische Erfahrungen miteinander und verstanden sich mit der Zeit als „Schicksalsfreundinnen“. Zehn Mitglieder aus der online-Gruppe trafen sich zum Zeitpunkt meiner Feldforschung regelmäßig. Die Gün-Treffen nutzten sie dabei als eine Möglichkeit, gemeinsame Umgangsweisen bei der Bewältigung eines „geteilten Schicksals“ und geteilter Problemlagen zu finden. Es ging aber über die Praktiken des Sich-Selbst-Austauschens hinaus. Die Frauen „standen füreinander ein“ und „halfen sich gegenseitig, wo es auch immer ging“. Die Gruppe kam für psycho-soziale, emotionale, praktische und finanzielle Belastungen auf, sei es die Begleitung bei Behandlungen und Untersuchungen oder erfahrungsbasierte Beratungen und Orientierungshilfen bei medizinischen Angelegenheiten. Die regelmäßig rotierenden Beiträge stellten eine finanzielle Hilfe für die aktuellen und bevorstehenden IVF-Behandlungen, Untersuchungen oder Geburten dar. Sie haben eine gemeinsame reproduktionsbiografische „body history“ (Inhorn 2003: 186), verkörpern eine „geteilte“ biosoziale Laufbahn und pflegen eine intime Bindung, die für Außenstehende kaum zugänglich ist. Bereits bei meinem ersten Besuch erzählten sie mir, wie die ähnlichen psycho-sozialen und körperlichen Erfahrungen sie „zusammengeschweißt“ hätten. Alle erlebten die ungewollte Kinderlosigkeit und Infertilität als einen „Schicksalsschlag“, doch sie konnten ihre Kinderwunschkarrieren auch als einen Lernprozess umdeuten. Es entstand eine enge Verbundenheit zwischen ihnen, dadurch, dass sie alle das Gleiche durchmachen. Mithilfe von ÇİDERs Webseite kreieren sie einen „geschützten Raum“, in ihren eigenen Worten: für „das geteilte Schicksal“. Die Frauen meinen das nicht unbedingt fatalistisch, sondern bezogen auf ihre psycho-sozialen, medizinischen und körperlichen Erfahrungen mit IVF/ICSI-Behandlungen. Relativ bald „wurde ein Treffen von Angesicht-zuAngesicht ein Muss“ erzählt Semra. Die Mitglieder, die eine lokale Form der Selbsthilfegruppe gegründet haben, betrachten ihre Reproduktionsbiografien als „einen Komplex“ aus medizinischen, verleiblichten, psycho-sozialen und ökonomischen Aspekten. Was sie als einen Problemkomplex mit vielen Komponenten erleben, wird „da draußen“ beliebig zersplittert, so ihr Argument. Der ein oder andere Aspekt ihrer biosozialen Erfahrung wird entweder „ausgeblendet“, in seiner Bedeutung „abgedämpft“ oder als Problem entschärft. Emine merkt lachend an: „Das erste Treffen war am letzten Tag meiner Periode.“ Feride fügt hinzu: „Semra kam später dazu, direkt vom Arzt. Sie hatte gerade mit der Behandlung angefangen und an dem Tag hatte sie ein Erstgespräch mit ihrem Arzt. Sie berichtete, was der
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Arzt sagte und von den Medikamenten: ‚Dieses und jenes muss ich nehmen, an diesem Tag wird das und dies gemacht‘ und so weiter. Aha, das passt gar nicht zu dem, was wir sonst wissen. Alles hat sie falsch verstanden, wisst ihr noch?“ Emine: „Manche von den Erfahrenen wissen verschiedene Dinge... daraufhin haben wir ihr alles von vorne erzählt.“
Trotz individueller „Nuancen“ glauben viele „die gleiche Sprache zu sprechen“ und „sich gegenseitig so gut zu verstehen wie sonst mit niemanden“. Die vielfältigen Foreninhalte sind beispielsweise nicht leicht zu entschlüsseln, auch bei den Treffen ist eine emotional sehr intensive und informelle Art der Selbsthilfe zu spüren. Dadurch gelingt es den Betroffenen, völlig neue Umgangsweisen mit intimsten und biosozialen Problemlagen der Infertilität und IVF-Nutzung zu praktizieren. Gerade diese Dimension motivierte mich zu meinen wiederholten Besuchen vor Ort. Alle Frauen in dieser Gruppe leben in einem konservativ-patriarchalen und eng verbundenen Umfeld sozialer Beziehungen und in heteronormativen Paarund Familienverhältnissen. Die reproduktionsbiografischen Profile allerdings weisen durchaus große Unterschiede auf. Die medizinischen Zustände und Hintergründe variieren besonders bei Diagnosen, den Behandlungs- und Kinderwunschverläufen und Lösungsstrategien. Zwei der Frauen aus der Gruppe haben bereits IVF-Kinder. Gökcen hat nach einer IVF/ICSI-Behandlung Zwillinge bekommen. Zum Zeitpunkt des Interviews sind die Zwillinge drei Jahre alt und sie hat eine neugeborene Tochter. Semra „schaffte” bei ihrer ersten Behandlung die erwünschte Schwangerschaft und hat nun eine dreijährige Tochter. Emine musste sechs erfolglose Behandlungen über sich ergehen lassen, bis sie mit 38 Jahren schwanger wurde; zum Zeitpunkt meines ersten Besuchs war sie im achten Monat ihrer Schwangerschaft. Bei den ersten zwei Frauen Gökcen und Semra lautete die Diagnose, welche die ausbleibende Schwangerschaft erklärte: „Frauenfaktor“, während bei Emine eine doppelte Diagnose vorlag. Als IVF-Mütter fühlen sie sich dieser intimen Schicksalsgemeinschaft dennoch eindeutig zugehörig, weil ihre Vorgeschichten und der „Kampf für ein (leibliches) Kind“ sie miteinander verbindet. Sie sind „Vorbilder“ und „Hoffnungsfiguren“ für die „werdenden Mütter“, bei denen es aus unterschiedlichen medizinischen Gründen und biologischen Veranlagungen bislang mit den Behandlungen „nicht geklappt hat“. Eine andere Teilnehmerin, Feride, erzählt in der Runde, dass die Erstdiagnose lautete, es bestehe ein „Problem bei der Spermienbeweglichkeit“. Diese regulierte sich relativ schnell wieder, aber es folgte eine zweite Diagnose, die „Eileiter-Verstopfung“. Hin und her gerissen, aber doch einigermaßen erleichtert durch die zweite Diagnose, „dass es doch nicht bei ihm lag“, nahm sie sofort ei-
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ne ICSI-Behandlung vor. In der dritten Schwangerschaftswoche kam es aufgrund einer genetisch bedingten epileptischen Erkrankung zur Fehlgeburt von Zwillingen; so endeten auch die weiteren drei Behandlungen und sie bereitet sich nun auf die nächste vor. Auch Serpil, eine Sportlehrerin Mitte dreißig, hat mehrere Behandlungen hinter sich, wobei sie nichts über den medizinischen Hintergrund verriet: „Ob das an ihm oder an mir liegt, so sehe ich die Sache nicht. Das ist unser Problem.“ Eine andere Teilnehmerin, Birsen, hat „geringere Eizellreserven“, weshalb es bei den zwei aufeinander folgenden Behandlungen nicht zum Embryonentransfer kam. Nach meinem zweiten Besuch hatte sie eine Behandlung, die sie mithilfe der anderen Frauen und ÇİDER finanzieren konnte. Beim dritten Treffen berichteten mir aber andere: „Es scheiterte bereits bei der Ovarien-Stimulation und dann kam es zum Abbruch der Behandlung, da sich keine Eizellen zur Befruchtung entwickelten.“ Die ganze Gruppe stehe ihr bei. Bei einer anderen Frau, Ceyda, liegt eine „unerklärbare Infertilität“ vor. Daher war sie schon immer skeptisch, was medizinische Behandlungen angeht. Sie ließ sich zwar behandeln, aber ihre Hoffnung auf eine natürliche Schwangerschaft bewahrte sie immer. Belma dagegen ist die einzige Frau, die bereits zu Beginn ihres Kinderwunschprozesses ein Kind adoptiert hat und doch ihre „Sehnsucht auf ein leibliches Kind nie aufgeben konnte“, wobei ihr Mann „diese nicht nachvollziehen kann“. Zum Zeitpunkt des ersten Gespräches ist die Adoptivtochter 14 Jahre alt. Belma ist noch aktiv bei ÇİDER, allerdings engagiert sie sich lieber in der Salcak-Gruppe statt in „Adoptions-Foren“. Sie nimmt an den Informationsveranstaltungen teil und hilft anderen Frauen – so kommt sie besser mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch zurecht. Elçin, mit 28 Jahren die Jüngste der Gruppe, findet Trost besonders hinsichtlich der Beziehung zu ihrem Ehemann, der mit seinem schlechten Spermiogramm nicht zurechtkommt und die Behandlungen verweigert, und zu seiner Familie, die nicht akzeptiert, dass ihr Sohn der Diagnoseträger ist. In den drei Treffen mit der Salcaklılar-Gruppe, an denen ich innerhalb von zwei Jahren teilgenommen habe, ging es um deren „erfolgreiche“ und „bisher noch nicht erfolgreiche Kinderwunschkämpfe“. Wiederholt erzählten sie, wie die schwierigste Phase ihres Lebens „alles erschüttert“ hat, die Paarbeziehung, Familien- und Sozialverhältnisse, Psyche wie Körper. Sie müssen nicht nur die Eingriffe und den sozialen Druck bewältigen, sondern auch ein richtiges und immer besseres Management im Kinderwunschprozess leisten, um „dranzubleiben, ohne viel Schaden davon zu nehmen“. Bei manchen sind die Familien eine Entlastung und Hilfe, bei anderen hingegen eine Last und ein Hindernis. In Internetgruppen und in der Gün-Gruppe reflektieren sie über die alltagsweltlichen Umstände für infertile und kinderlose Frauen in einer Kleinstadt, überlegen ge-
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meinsam und wägen mögliche Strategien, Lösungen und Problemlagen ab. Sie finden Trost, oder zumindest „schüttet die Frau auf diese Weise alles aus Leib und Seele und hat sich freigeredet“. Viele kämpfen für etwas mehr Autonomie in einem sozialen Umfeld, in dem jede*r über das Anliegen und die Belange der anderen nicht nur Bescheid weiß, sondern auch „das Sagen zu haben glaubt“. Elçin und Birsen sind ständig mit der Familie der Ehemänner konfrontiert, Elçin muss sich beispielsweise gegen die Ignoranz der Familie ihres Ehemanns behaupten. Sie werden immer weiter isoliert, wobei ihnen gleichzeitig jegliche Privatsphäre abgesprochen wird. Feride und Serpil verheimlichen ihrem Umfeld gezielt alles. Für manche fungiert diese Gruppe quasi als ein „Wegweiser“ auf ihrem „Weg zum eigenen Kind“, während sie für andere einfach einen Sozialraum für intimen und emotionalen Austausch darstellt. Unter ihnen sind Frauen wie Semra, die im medizinischen Sektor tätig ist und dadurch über ein breiteres Fachwissen verfügt. Doch gerade sie berichtet darüber, wie „unerfahren“ und „unwissend“ sie am Anfang gewesen sei und wie stark sie vom Wissensreichtum der Gruppe profitiert habe. Alle versorgten sie auf ihrem inzwischen erfolgreichen Kinderwunschweg mit Erfahrungswissen und agierten auch wegweisend, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Gerade das war, was sie suchte und später zu schätzen lernte, „etwas Kompaktes“ und „ein intensives Umfeld“, in dem Frauen sich vielfältig und anderswertig einbringen können. Feride erzählt: „Wenn wir ein Problem haben, schreiben wir das als erstes im Forum. Es ist nach dem Motto: Mädels, mir ist folgendes passiert, gibt es jemanden, der darüber etwas weiß oder Erfahrung damit hat; was könnt ihr denn empfehlen?“ Die Teilnehmerinnen der Gruppe bringen sich selbst aktiv in das netzbasierte Kinderwunschportal ein und bauen dadurch neue soziale und solidarische Beziehungen in ihrem medizinisch geführten „Kampf“ gegen Kinderlosigkeit auf. Sie navigieren zwischen ihren gelebten „Realitäten“, den alten (limitierten) und neuartigen Handlungs- und Zugangsmöglichkeiten und einem hochgradig komplexen Regime der Reproduktion. „Es gibt viel, was eine solche Gruppe zu ihrer moralischen Gemütsverfassung beiträgt“, betont Semra, während andere Frauen bejahend nicken. Als „infertile“ Frauen, umgeben von einem konservativen sozialen und familiären Umfeld, sind sie eng in die traditionellen Arrangements eingebunden. Zudem sind sie von den ungleichmäßig verteilten Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheits- und reproduktionsmedizinischen Versorgung und von der lokal ausgeprägten Stratifizierung betroffen. Mutterschaft kann für manche eine zu wählende Option sein, für sie ist es sowohl „ein Weg zur Selbstverwirklichung“ als auch ein „Schlachtfeld“.
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Die Bezeichnung „fertile Gesellschaft“, die ich bereits detailliert einführte, hörte ich zum allerersten Mal während des ersten Güns im Jahr 2009. Später fiel dieser Begriff relativ häufig, figurierte gleichsam als eine schillernde „Wir-undsie-Logik“ und verlieh den gelebten Stigmatisierungserfahrungen unmittelbar Ausdruck. Zugespitzt wurde hier durchaus distinktiv eine Relation zwischen den normativ „Gebärfähigen“ und stigmatisierten „Nicht Gebärfähigen“ konstruiert. Mitstreiterinnen dieser lokalen Frauengruppe beschreiben Interaktionen bildhaft mit einer patriarchalen und pronatalistischen Erfahrungswelt, in der ihre infertilen Biografien, „nicht gebärfähigen“ Körper und Kinderwunschkämpfe „als Mangel“ im Mittelpunkt stehen. Alle Frauen in der Gruppe erzählten von diversen entmächtigenden Erfahrungen im sozialen und familiären Umfeld. Auch Semra beschrieb diese Phänomene bei meinem ersten Besuch in Salcak als ötekileştirme, als „zum Anderen machen“ oder Othering (siehe Kapitel 3.1). Ähnlich wie viele verheiratete Kinderlose im gebärfähigen Alter spürte auch sie den Sozialdruck und die Stigmatisierung zutiefst – bis zur Geburt ihrer Tochter. „Da draußen bist du einfach jemand, der nicht gebären kann“, sagt sie. Gemeinsam mit den Frauen in der Gruppe distanziert sie sich „von anderen Menschen, die bereits Kinder haben, die nicht infertil sind“ (in der Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft etc.). Jegliche Sozialisierungsversuche, also Gün- und Nachbarschaftstreffen mit „normalen“ Frauen, scheiterten „oft spätestens bei der Kinder-Frage“, erzählt Belma. „Es gibt eine Neugierde in unserer Gesellschaft“, beschwert sie sich über „unendlich viele Fragen, in denen es immer wieder heißt: ‚Gehst du zum Arzt? Was machst du (um Kinder zu bekommen)?‘ Ich möchte ja vielleicht gar nicht darüber reden.“ Ihre Worte werden von einer anderen Frau ergänzt: „Gesellschaft existiert nicht nur gefühlsmäßig, sondern ist so oder so tatsächlich in deinem Privatesten.“ Semra übernimmt daraufhin wieder das Wort: „Ja, das ist direkt das Thema; als gäbe es kein anderes Thema, über das man mit dir sprechen kann. Als wüsstest du nichts anderes im Leben. Eine außenstehende Person hat oft keine Ahnung, wie empfindlich die Frau in dieser Sache ist. Manchmal wird das auch einfach so weiter erzählt. Aber es war meine Privatsphäre, ich habe das ja nur mit dir geteilt und möchte gar nicht, dass andere davon erfahren. Aber nein! Hier bei uns passiert so was nicht. Wir sind geschützt, weil jede ja weiß, dass man sensibel ist.“
Ähnlich wie Frauen in derselben Lage in meinem Sample, ent-exzeptionalisieren auch alle Frauen in der Salcak-Gruppe ihre Reproduktionsbiografien. Wirksam ist hierbei das Stigma- und Wissensmanagement, das ich in Kapiteln 3.1 und 3.3 detailliert analysiert habe. Alle nicken bejahend, als Serpil sagt: „Das ist das
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größte Problem meines Lebens. Mit wem kann ich denn überhaupt darüber reden?“ Ihre rhetorische Frage unterstreicht die Bedeutung der erfahrungsbasierten Gemeinschaft: „Wir können es nicht jedem erzählen. Selbst wenn wir es tun, könnten uns nicht mal die Personen verstehen, die uns am nächsten sind – seien es Schwestern oder unsere Mütter. Nur mit Menschen wie uns, können wir es richtig teilen.“ Denn ihnen fehle nicht nur das Wissen und die Informationen, sondern auch das Interesse, „weil ja bei ihnen alles so normal ist, dass man sich über solche Dinge gar keinen Kopf macht“, heißt es in der Runde. Das, was für viele – Ärzt*innen, Ehemänner, Verwandte und fertile Freundinnen – nebensächlich ist oder immer so „einfach dahergeredet wird“, hat für sie eine „schwerwiegende Bedeutung“. Auch viele bewegende Konfrontationen in den behandlungsrelevanten Alltagen finden in der Gruppe ihren Platz. „Manchmal zählt ein einziges Wort, das man hört“, beschreibt Semra zugespitzt, was sich auf diverse Enttäuschungen, Irritationen und Herausforderungen bezieht. In den folgenden Zitaten beschreiben die Mitglieder der Gruppe während meinen Besuchen in Salcak die Funktion ihrer Freundschaft: „Wir teilen das gleiche Schicksal miteinander. Wenn wir uns hier versammeln, geschieht das nicht nur deshalb, weil wir einen Kinderwunsch haben, sondern eher, weil wir ja das Gleiche durchmachen oder durchgemacht haben. Das hier ist eine Schicksalsfreundschaft.“ „Du führst einen Kampf, du hast ein Ziel zu erreichen – für viele da draußen ist es nebensächlich, wie du den führst.“ „Es ist wie eine Therapie, wirklich, wir teilen unsere Erfahrungen miteinander, lernen auf der Webseite, in Chats oder auf Treffen so viel voneinander, wovon wir keine Kenntnisse haben. Ich habe bereits viel davon profitiert. Ich lernte hier viel über Dinge, die ich vorher nicht wusste.“
Diese Kommentare ähneln durchaus den typischen Aussagen der ÇİDER-Mitglieder. Mitglieder der Gruppe beschreiben es als eine „Schicksalsfreundschaft“. Zugespitzt sagt Ceyda: „Wir haben eine Gemeinschaft erschaffen (Bir toplum yarattık)“: „Über das Internet haben wir Freunde in allen Ecken der Welt, denn es sind die gleichen Gefühle und die gleiche Lebensführung. Du bist auf eine Sache fokussiert, es geht nur darum, Mutter zu werden oder Vater zu werden. Wir alle sind nur für diesen einen Zweck an der Webseite beteiligt. Wir alle machen viel durch, Schlimmes und Gutes, aber wir kommen gemeinsam damit klar.“
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Gün ermöglichte den Frauen ihre Verbundenheit in eine Schicksalsfreundschaft zu überführen, bei der sie mehr als emotionale und soziale Unterstützung füreinander leisten. Erprobt werden neuartige Selbsthilfe- und Unterstützungspraxen, die es zuvor als solche nie gegeben hat. Diese Frauengruppe praktiziert die typische Form von Gün, wobei es bei ihren Treffen um das biosoziale Problem der Infertilität und IVF-Behandlungen geht. Ähnlich wie bei gewöhnlichen GünTreffen rotiert auch in diesem Kontext Geld unter den Frauen. Dieses wird zur finanziellen Unterstützung für Behandlungskosten genutzt: Feride: „Es war so, es gab Schwangere unter uns, manche standen vor einer Behandlung und bei manchen wiederum gab es andere Probleme. So dachten wir, dass das Geld, das hier rotiert, ein Beitrag zu den Behandlungskosten sein kann.“ Nurhak: „Für die muss man ja auch sparen, dachten Sie dann!?“ Feride: „Ja, die Reihenfolge setzten wir auch danach, wessen Behandlung oder Geburt als nächstes bevorsteht. Die Prioritäten setzen wir auf diese Weise.“
Eine derartige „Schicksalsfreundschaft“ hilft in einzelnen Fällen und Biografien, die alltäglichen Erfahrungs- und Lebensumstände aktiv zu verändern. Die netzbasierte und lokale Gruppe verschafft eine vernetzte Erfahrungsumgebung, in der Frauen ihre intimsten und privatesten Erfahrungen aufarbeiten können. Die Frauen deuten ihre individuellen Erfahrungen in „geteilte“ Erfahrungen um – und diese werden „zu etwas Positivem umgewandelt“, so Ceyda. Sie gelangen in gewisser Weise auch zu einer stärkeren Individualisierung, Autonomie und persönlichen Lebensführung. In den neuen sozialen Umgebungen verändern sie nämlich das Selbstbild; sie sind nicht mehr „die Frau von jemandem, die Schwiegertochter von jemandem“; sie können sich dem Stigma und den normativen Rollenzuschreibungen in gewisser Weise entziehen und durch die Schicksalsfreundschaft dieses „Schicksal“ zugleich anders wahrnehmen und handhaben. Einzelbiografien und subjektive Erfahrungen werden als Wissensressourcen (um)gedeutet und neugestaltet. In diesem intimen Bündnis für den Kinderwunschkampf enthüllen sich Anliegen und Probleme, die sie über den Kinderwunsch hinaus verbinden. Während meiner Besuche konnte ich beobachten, wie die Konzeptionen medizinischer Diagnosen und Eingriffe thematisiert und Wahrheiten pragmatisch beurteilt werden. Wie viele bei ÇİDER, definieren sich auch die Frauen in der Salcaklılar-Gruppe als gläubige Muslimas, wobei einige mehr und andere weniger intensiv ihre Religion praktizieren und nur wenige unter ihnen ein Kopftuch tragen. Sie unterscheiden sich auch in ihrer Grundanschauung über das Verhältnis zwischen Religion und Techno-Wissenschaften oder im Besonderen zwi-
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schen Islam und Reproduktionstechnologien kaum von der restlichen Gruppe. Es steht für sie beispielsweise so gut wie nie zur Diskussion, ob und inwiefern Tüp Bebek kulturellen und religiösen Werten widerspricht. Im Grunde sind sie entschlossen und fokussiert auf ihre Erfolgschancen mithilfe von IVF/ICSI-Technologien. Geht es um andere Familienmodelle und öffentlich kontrovers diskutierte Themen (wie Leihmutterschaft, Drittspende oder gar Kinderhaben von Singles, unverheirateten und homosexuellen Paaren) gibt es höchst ambivalente Meinungen. Solche Themen werden erst gar nicht aufgegriffen, wobei sie in den Foren von ÇİDER durchaus zur Sprache kommen. Bezüglich meiner Frage, nach ihrer Meinung zur Samenspende, in der Gruppendiskussion im Dezember 2010, verkünden sie ihre Offenheit dafür, „wenn Ehepaare keinen anderen Weg mehr finden, [als] ihren Kinderwunsch über eine Spende zu realisieren.“ Doch sie unterbinden die Diskussion zu diesem Thema mit dem Kommentar: „Für mich käme es nie infrage.“ Den diesbezüglichen Anzweiflungen in ihrem sozialen Umfeld sind sie doch latent ausgesetzt: „Noch immer wird daran gezweifelt, ob ein Tüp Bebek mit den eigenen Spermien und Eizellen gemacht wird und ob das Kind das eigene ist.“ Noch immer fließen solche Anzweiflungen in ihre eigenen Kämpfe hinein und verstärken die Legitimationszwänge auf ihrem Weg zum Kind. Die Legitimität der IVF-Nutzung stellen sie nicht infrage. Sie setzen sich eher – ähnlich wie viele andere in meinem Sample – mit einer wenig zufriedenstellenden Beziehung zwischen der helfenden Hand des IVF mit „never enough quality“ (Sandelowski 1991b) und den erlebten Ambivalenzen von „zu viel Medizin“ auseinander. Die biologischen und erfahrungsbasierten Ähnlichkeiten und Differenzen werden in der Gruppe herausgearbeitet und sich zunutze gemacht. Die Frauen versorgen sich gegenseitig mit medizinischen Informationen und kommentieren und interpretieren die Wahrheiten, Aussagen, Diagnosen und Prognosen der Ärzt*innen. Ausgetauscht werden die alltäglichen und intimsten Informationen, wie etwa über den Eisprung, über den „Zwangssex nach dem Eisprung“, die Eizellen-Reserven, die Spermienzahl und -qualität oder über die FSH-Werte, die sie ständig im Auge behalten und in der Gruppe diskutieren. Informationsaustausch über diverse Behandlungsrhythmen und -werte (Zyklen, Medikamente, Eizellenentnahmen, Embryonentransfer usw.) gehört zum Alltag. Genauso stellen Erfolge (gelungene Behandlungen) und Verluste (nicht gelungene Behandlungen, Fehlgeburten, Verluste in der Qualität der Eizellen, Schwankungen in den Werten oder im Spermiogramm etc.) die Basis für eine biosoziale Relation und Bindung dar. Nicht selten praktizieren sie auch einen „ergänzenden Plan“ und verfolgen ihr eigenes Programm, von dem sie denken, dass es die „Erfolgschancen“ erhöht, bestimmte Heilungsprozesse herleitet oder sich positiv auf den
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Gesamtprozess auswirkt. Die folgende Gesprächssituation ist beispielhaft. Emine berichtet von fünf aufeinander folgenden Misserfolgen mit IVF und von ihrer Schwangerschaft, die bei der sechsten Behandlung erfolgte. Gemeinsam reflektieren die Frauen darüber, was dies ihnen im Allgemeinen über diese Technologien sagt. Viele sind davon überzeugt, unterschiedliche Methoden und Erklärungsmodelle in Erwägung zu ziehen. Emine betont hier demonstrativ: „Es gibt nicht immer nur das Eine.“ Sie hatte sich bislang immer „an das Programm der Mediziner gehalten“, doch musste sie immer wieder „von vorne anfangen, immer das Gleiche ohne Resultat. Du landest oft da, wo du ja schon warst, bei null.“ Ihre Schwangerschaft begründen weder sie noch die anderen Frauen in der Gruppe nur „technologisch“. Emine wusste, dass eine Ablehnung der technomedizinischen Behandlungen nicht möglich wäre. Doch merkt sie kritisch an: „Ich stelle mich natürlich nicht über die Ärzte, aber ich habe fünf erfolglose Behandlungen hinter mir. Fünfmal. Immer die gleichen Ergebnisse, immer war ich bei den guten Ärzten, immer bei Profs [Professoren], schwanger wurde ich aber nicht [...] Dann dachte ich, dass ich diesmal was anderes probieren werde. Ich redete andauernd mit anderen auf der Webseite und lernte, was sie gemacht haben, bis es endlich klappte.“
Emine erstellte ihr eigenständiges Programm, diverse „Kuren“ mit Pflanzen, Akupunktur, Ernährungsumstellungen und der „Arbeit an der Psyche“ – laut ihr das Wichtigste von allem. „Die Ärzte sind ja so, sie wollen von den alternativen Methoden, die wir machen, nichts wissen. Für sie ist es entweder unnötig oder nicht nützlich, oder sogar schädlich.“ Alles rundum soll Erfolg bringen. „In so einer Situation ist die Frau bereit, alles zu tun und will nichts unversucht lassen“, ergänzt eine andere Teilnehmerin. Sie greifen auf die erfahrungsbasierten „Erfolgsrezepte“ und auf komplementäre Behandlungen, die in den Foren zirkulieren, zurück. Viele machen Kuren, die bei verschiedensten Problemen, Mängeln und Unregelmäßigkeiten empfohlen werden. Eisprung, Fettverbrennung, unregelmäßige Menstruation oder frühzeitige Menopause sind nur einige Beispiele, wofür und wogegen die Frauen diese anwenden. Bei meinem dritten Besuch verbrachte ich zwei Tage in Salcak, um Einzelinterviews mit den Frauen durchzuführen und die Gespräche an bestimmten Punkten zu vertiefen. Oft kam es jedoch zu Gesprächen zu dritt. Obwohl die Gespräche diesmal als Einzelinterviews geplant waren, entwickelte sich durch die Anwesenheit einer weiteren, also dritten Frau eine für die Forschung sehr relevante Dynamik. Manchmal redete die eine Frau für die andere und erzählte deren Geschichten aus ihrer Perspektive, und manchmal teilten sie ihre Meinungen und ihr medizinisches Laienwissen mit, gaben Ratschläge und trösteten die andere,
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wenn es zu emotionalen Ausbrüchen kam. Im Gespräch mit Ceyda und Semra ging es beispielsweise um „die immer wieder scheiternden Behandlungen“ von Ceyda und darum, was Ceyda selbst bislang „falsch“ oder „mangelhaft“ gemacht hätte oder „inwieweit es an den Ärzten lag, die weder mit ihrer Diagnose noch mit ihren Einsichten präzise waren“. Wie bei vergangenen Treffen reflektierte sie lange darüber, dass ihr „damals der Ehrgeiz fehlte“ und dass sie für ihren Kinderwunsch „hartnäckig dranbleiben und alles machen sollte“. Teilweise vertraute sie den medizinischen Prognosen, die sie bekam und sagte sich, dass „es von selbst klappen kann“ oder überhörte die Ärzt*innen gern: „vielleicht aber auch nicht“. Teilweise fühlte sie sich noch unentschlossen mit dem Kinderwunsch, da sie mit ihrem Mann, der als Seemann tätig ist, gern Monate auf dem Meer verbrachte. Sie hatte eine für sie völlig unverständliche Diagnose der „unerklärbaren Infertilität“ und „wusste [anfangs] gar nicht wohin damit“. Wie sie beim ersten Treffen allen erzählte, hatten sie „Eizellen und Spermien. Es gibt keinen Grund, wieso es nicht klappen soll“. Mittlerweile ist sie 42 Jahre alt und merkt langsam, dass die „biologische Uhr aufhört zu ticken“. Andere Frauen, wie Semra, bei denen es mit wenigen Behandlungen „geklappt hat“, sind „lebendige Beispiele“, die nicht nur den Erfolg reproduktiver Technologien am eigenen Leib beweisen, sie sind vielmehr „Vorbilder“ für ein „richtiges“ Management reproduktiver Biografien. Bei den Treffen fühle sich Ceyda jedes Mal für ein paar Stunden „wie eine Mutter“ und tankt wieder Hoffnung, „dass es klappen kann“. Da sie „fatalistisch (kaderci)“ orientiert ist und fest daran glaubt, dass „alles seine eigenen Gründe hat“ und „Gott weiß was er tut – so ist es bestimmt“, will sie „ihr Glück nicht erzwingen“. Andere versuchen ihr aber klarzumachen, dass es sich „dennoch lohnt, dranzubleiben“. Sie solle wenigstens versuchen, eine vernünftige Diagnose einzuholen und eine neue Behandlung zu starten, selbst wenn dies der letzte Ausweg ist. Alle drei zurückliegenden Behandlungen wurden kurz vor dem Embryotransfer abgebrochen, weil die Eizellen „leer“ und „unreif“ waren. Im Folgenden möchte ich ein langes, von mir leicht editiertes Gespräch zitieren. Es verdeutlicht, wie typisch die gegenseitige Hilfe bei der Deutung von reproduktionsbiografischen Diagnosen und auch Fehlschlägen ist: Semra: „Also, ich kann das jetzt nicht so pauschal sagen, weil ich natürlich nicht weiß, ob deine Eizellen die richtige Reife erlangt haben, aber wenn die Eizellen nach einer Behandlung leer sind, heißt das normalerweise eigentlich, dass die Eizellreserven und die Eizellen schlecht sind.“ Ceyda: „So hat man es mir eigentlich nicht gesagt... Wie ich schon sagte, erst später, also nach dem ich mich dieser (Frauen-)Gruppe anschloss, habe ich mehr erfahren und meine
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Ansicht hat sich geändert. Weil, du weißt es eigentlich nicht. Egal wie intensiv du auch recherchierst.“ Semra: „Bis dahin ist nur das, was der Arzt dir sagt...“ Ceyda: „Eben das, was du weißt.“ Semra: „Und der Arzt hat dir immer gesagt, es wäre unerklärbare Infertilität...“ Ceyda: „Das meine ich eben. Im [Internet]-Forum und in der Gruppe unterstützen wir uns gegenseitig. Das ist der Vorteil daran, denn alle teilen ja miteinander, was sie durchmachen. Ich dachte ja immer über die Frage nach, die Sie gerade gestellt haben. Ha, die Ursache könne man nicht wissen. Es ist nicht so, dass die Ursache nicht zu erklären ist. Die Eizellen werden von [der] Patientin entnommen... wenn die Eizellen schlecht sind... Aber es wird gesagt, dass die Untersuchungen, die FSH-Werte normalerweise... sagen wir mal, die Werte sind so, dass sie auf eine Menopause hindeuten. Da reduziert sich die Qualität der Eizellen, die Eizellenreserve verringert sich und so weiter. Damals waren meine Werte sehr gut. Trotzdem...“ Semra: „Wieso findet die Eizellreifung nicht statt?“ Ceyda: „Ja, wieso jetzt das. Also wieso wird die Eizelle nicht reif? Das müsste man eigentlich untersuchen.“ Semra: „So kann es doch sein. Sie finden wahrscheinlich die richtige Dosis nicht? Sie dosieren vielleicht das Medikament für die Ovarienstimulation nicht richtig. Also es ist wichtig, dass es das richtige Medikament ist und dass es richtig dosiert wird. Denn sonst müsste es, selbst wenn nur eine einzige Eizelle (zu befruchten) ist, eigentlich zum Transfer kommen.“
Auch beim Zweier-Gespräch mit Belma und Elçin war eine ähnliche Dynamik zu beobachten. Beide haben nichts anderes gemeinsam als den „Unwillen“ und die „Verweigerung“ ihrer Männer. Sie sind im unterschiedlichen Alter, haben voneinander völlig unterschiedliche lebens- und reproduktionsbiografische Behandlungsgeschichten und es lassen sich auch in ihrem sozio-ökonomischen Hintergrund erhebliche Unterschiede bemerken. Elçin ist Hausfrau, wobei sie gelegentlich mit unregelmäßigen Jobs versucht, ihren Mann beim Familienbudget zu unterstützen. Belma betreibt ein kleines Modegeschäft, indem ich die beiden Frauen auch traf. In den Augen der Verwandten ihres Ehemannes trug Elçin „die Schuld“ und stand immer als „kısır gelin (unfruchtbare Schwiegertochter)“ da, bis das Paar dann doch ein schlechtes Spermiogramm als ärztliche Diagnose bekam. Ihren Kinderwunsch und ihren „Behandlungswillen“ musste sie gegenüber ihrem Mann und seiner Familie legitimieren, da „sie einfach alles abstreiten“. Ihr Mann stehe „viel zu sehr unter deren Einfluss“. Sie fühlt sich nicht nur völlig allein im ganzen Behandlungsprozess, sondern auch im sozialen und familiären Umfeld fallengelassen. Ihr Ehemann nimmt nicht am Prozess teil.
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Selbst wenn er es zulassen würde, scheint die Schwiegermutter das Sagen zu haben. Doch diese akzeptiert die ärztliche Sicht nicht und weist jede Andeutung ab, dass „das Problem auch vielleicht bei ihrem Sohn liegen könnte. Vielleicht ist er ja das Problem, aber das würde ja den Stolz der Familie verletzen“, erzählt Elçin völlig genervt und erschöpft. Ihre Geschichte verkörpert genau das Phänomen des sogenannten „Schwiegermutter-Faktors in der Türkei“, das von vielen benannt wurde. „Nur für eine Diagnose“, erzählt sie, für etwas mehr Autonomie des Paares, musste sie eine enorme Überzeugungsarbeit und Selbstbehauptung leisten. Doch dann fing alles erst richtig an. Ihr Ehemann sollte sich vor der Kinderwunschbehandlung eigentlich einer Varikosen-Operation unterziehen, was er und seine Familie mit der Begründung „Bei uns, in unserer Familie gibt es so was nicht“ stets verweigerten. Jahre habe es gebraucht, bis Elçin ihn überzeugen konnte. Aber auch die Operation half nicht und die Schwangerschaft blieb weiterhin aus. Noch einmal hieß es Tüp Bebek, doch ihr Ehemann schloss die Behandlungsversuche nie bis zum Ende ab, weshalb das Paar inzwischen kaum mehr über das „Kinder-Thema“ reden würde: „Ich sage nichts mehr, er schweigt. Von niemandem kommt der Satz: ‚Nun geh mal zum Arzt‘. Die Familien unterdrücken es, nach dem Motto: ‚Es ist nicht nötig.‘“ Ihre fatalistischen Wertvorstellungen helfen ihr, die Situation durchzustehen. Wie alle in der Gruppe, sieht sie ihre Reproduktionsbiografie als Teil einer „Prüfung Allahs“, der sie unterzogen wird: „Jeder bekommt eine andere Prüfung. Das ist meine.“ Hilfe und Trost findet sie bei ihren „Schicksalsfreundinnen“. „Sie hören zu, sie fühlen mit und haben Teil an deinen Sorgen.“ Elçin erzählt weiter: „Ich wurde allein gelassen bei diesem Thema. Mein Mann unterstützte mich dabei gar nicht. Eine Hilfe war er nicht, es kamen keine Ideen von ihm. Er lebt es für sich allein, in sich, und ich in mir allein. Dass mein Mann so reagiert, ist für mich ein größeres Problem, als keine Kinder haben zu können... Irgendwann dann doch so, also... Du duldest es bis zu einem gewissen Grad. Ich ging allein zu den Behandlungen und habe das nicht zum Problem gemacht. Ähnlich wie Belma abla [ältere Schwester], habe ich alleine mit den Ärzten gesprochen. Auch das habe ich nicht zum Problem gemacht. Ich habe alles arrangiert, allein, auch das war in Ordnung. Aber, dass er nicht mal sagen konnte: ‚Mach dir keinen Kopf wegen meiner Familie‘, ist einfach zu viel.“
Als Elçin sich so äußert, redet Belma dazwischen. Trotz der völlig unterschiedlichen Erfahrungen äußert sie sich mitfühlend und sucht beispielartige Momente aus ihrem Leben, die Elçin helfen könnten. Auch sie habe „genug erlebt“, selbst wenn sie als Diagnoseträgerin nicht dem Stigma als kısır (unfruchtbar) ausgesetzt wurde und enorm viel emotionale, finanzielle und soziale Unterstützung
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von beiden Familien bekam. Ihnen gegenüber ist sie auch offen: „Ich bin diejenige, die kein Kind kriegt.“ Sie ist bereit, für ein leibliches Kind alles auf sich zu nehmen, doch auch ihr Ehemann „hat damit bereits abgeschlossen“. Anders als bei Elçin hat seine Reaktion weder mit männlichem Stolz, finanziellen Sorgen, sozialem Druck oder gar mit dem „Familien-Faktor“ zu tun. Was das angeht, hat sie „Glück“. Ihr Mann findet eine Behandlung unnötig, weil sie eine Adoptivtochter haben. Das Gefühl der Vaterschaft erlebt er im vollen Umfang; was Belma noch „fehlt“, kann er nicht nachvollziehen. Und das, was fehlt, ist auch das, was die beiden Frauen teilen: „Die weibliche Sehnsucht nach dem Schwangerwerden, die die Frau natürlich instinktiv spürt, verstehen die Männer nicht“, erzählt sie und setzt fort: „Es ist nicht geistig-psychisch, es ist körperlich, als ob dein Körper gebären will.“ Wie Elçin versucht auch sie diesen „natürlichen Drang“ zu unterdrücken. „Gott sei Dank habe ich meine Tochter“, sagt sie zu Elçin, „doch dich verstehe ich ganz genau.“ Seit Jahren geht es ihr nicht mehr um ihren unerfüllten Kinderwunsch, der ist ja bereits erfüllt. Wenn sie sich noch in der Gruppe engagiert, dann nur deshalb, weil sie sich nicht helfen kann, diesem Drang entgegenzuwirken. Belma: „Ich wache in der Nacht schweißgebadet auf... entbunden habe ich im Traum oder gestillt, meine Brüste tun noch weh. So real ist es. Einmal hatte ich sogar einen Blutfleck, soweit habe ich gepresst, wie eine normale Geburt war das, ich kann mich noch erinnern. Es war wie zwischen Traum und Realität, diesen Moment habe ich erlebt. Ich meine, so tief sitzt das in unserem Unterbewusstsein [...]. Ehrlich, ich würde so gerne, wie sagt man einfach gebären [wir alle lachen]. Ein Kind, das ist was ich will. Dagegen kann man nichts... es ist wie... als ob man so großen Durst hat, so etwas. Als ob man sehr hungrig ist, so was. So eine Sehnsucht ist es, ein Hunger. Nicht nur psychologisch ist es, auch hormonell willst du das. Dein Körper will. Die Gebärmutter sehnt sich nach der Schwangerschaft. So etwas ist es.“ Elçin: „Belma abla erzählt so schön. Was in mir vorgeht, das Unsagbare, bringt sie zum Vorschein.“ Belma: „Nicht überall, nur hier kann ich das alles erzählen. Manchmal muss über bestimmte Dinge geredet werden. Und ich teile das hier meinen Freundinnen bei den GünTreffen mit und versuche mich zu trösten.“
Sie berät Elçin: „Manchmal muss man im Leben den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Aber wenn du entschlossen bist, dann steh auch dahinter.“ In der Hoffnung, dass sie doch ihren Ehemann überzeugen kann, bleibt sie an dem Thema dran und informiert sich über ihre Schicksalsfreund*innen genauso wie früher sehr aktiv über Behandlungsoptionen.
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Die in diesem Teil analysierten Praktiken illustrieren, wie die Soziologin Elif Akşit anhand ihrer Forschung in der IVF-Abteilung eines staatlichen Krankenhauses behauptete, dass unter „Frauen, die ihre Fruchtbarkeit an den Grenzen miteinander teilen“, einzigartige solidarische Beziehungen entstehen und dass das „Frauenwissen“ gegen paternalistische Strukturen genutzt wird (2009: 48). Frauen würden erfinderisch ihre gelernten und geschlechterspezifischen Strategien, ihr Wissen und ihre Praktiken sogar in die formellen, klinischen Settings einbringen. Für mich hat eine derartige Perspektive analytische Relevanz. Sie ermöglicht es nämlich zu zeigen, wie sich Frauen vieles, was systematisch in die medizinischen Machtdomänen hinein und aus den öffentlichen Sphären exkludiert wird, zunutze machen. Es geht insbesondere darum, wie effektiv Frauen ihre lokal geprägten und alltäglichen Solidaritäts- und Wissenspraktiken in der Begegnung mit IVF-Medizin nutzen. Als Resümee ist festzuhalten, dass nicht die Probleme an sich den Zusammenhalt einer solchen Gruppe stärken. Es geht eher darum, wie sie diese erfahren. Die krisenhaft empfundenen Reproduktionsbiografien und Lebenslagen werden als Probleme behandelt, aus denen ein starkes Gefühl von Verbundenheit entsteht. Die geschilderten Beispiele zeigen zugleich, wie ein unerfüllter Kinderwunsch und die IVF/ICSI-Nutzung als biosoziale Problemlagen in einer sehr lokalen Form der Selbsthilfe be- und ausgehandelt werden. Es geht um die Strategien, wie viele Protagonist*innen explizit und implizit zur Sprache bringen, beim Umgang mit den strukturellen Effekten der paternalistischen und patriarchalen Reduktionismen.
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Verschiebungen und Symbiosen Aktivismus, Staat und Märkte
Nach wie vor ist Reproduktionsmedizin ein umkämpftes Feld, gerade bezüglich der nationalstaatlichen Politiken und Regulationen, die sich verpflichtet fühlen, auf die lokalen, nationalen und globalen Entwicklungen, Konzepte und Diskurse zu antworten. Zudem treffen dort nicht nur die staatlichen und bürgerlichen Interessenlagen aufeinander, sondern auch unterschiedliche Positionen von Akteur*innen, Wissenswege und Moralitäten. In diesem letzten empirischen Kapitel wende ich mich nun an die bestehende und teils modifizierte Allianz zwischen Staat, Gesellschaft, Interessenvertretung und NGOs sowie Märkten im neoliberalen Kontext in der Türkei und ihrer globalen Verflechtungen. Ich analysiere im Detail, was im Feld häufig als „Symbiosebeziehungen“ zwischen kommerziellen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen kontrovers diskutiert wird. Ich werde dabei die vielgestaltigen Verstrickungen aufzeigen und mein Material auf die zivilgesellschaftlichen Engagementsmodi in diesem spezifischen Feld hin analysieren. Während der erste Teil sich mit nationalen Aspekten auseinandersetzt, wendet sich der zweite Teil globalen Verflechtungen zu. Das hier zu analysierende Material markiert Interessengruppen als Wissensakteur*innen in dieser Allianz, die seit den 2000ern graduell und kontinuierlich einen neuen Modus des Engagements vorangetrieben haben. Dieser steht als Beispiel, so argumentiere ich im Gesamtkapitel, für eine neuartige bio-subpolitische Relationalität von Staat und Gesellschaft, Subjekten und neuen, meist locker organisierten Gruppen wie Kollektiven (Beck 2007, Pottage 2007). Ich gehe auf die Fragen ein, wie durch unterschiedliche Interessenslagen, Wissensformen und Handlungsweisen der globale und transnationale Raum der Reproduktionsmedizin geprägt wird und welche Vermittlungen zwischen den lokalen und globalen Praktiken, Diskursen und Logiken stattfinden.
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6.1 „RECHT AUF FORTPFLANZUNG“: REPRODUKTIONSPOLITIKEN, STAAT UND IVF-LOBBY IN DER TÜRKEI Reproduktionstechnologien sind in der Türkei in einen Diskurs zum „Fortpflanzungs-Druck“ auf Frauen und Paare eingebettet. Im hoch kompetitiven und überwiegend privaten Tüp Bebek Sektor werden Paare als Patient*innen konstituiert, „die nur eins möchten: Das eigene Kind auf den Schoß nehmen“, so die Vertreter*innen von ÇİDER. Sie würden nicht immer als autonome Konsument*innen mit ausreichendem Interesse auf und Wissen über Rechts- und Ethikdebatten agieren können. Eher stehen sie selbst im Mittelpunkt unterschiedlicher Interessen und Diskurse, welche die reproduktionspolitischen Ansprüche prägen. Seit ihrer Einführung wurden die Reproduktionstechnologien als „Luxus“ bzw. als Konsumgut konstituiert. Infertilität war damit ein „Privatproblem“, das stärker dem neoliberalen und kommerziellen Privatsektor zugeordnet wurde. Seit dem Aktionsprogramm der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo im Jahr 1994 werden auch Infertilität und Reproduktionsstörungen im Zusammen mit Menschenrechtsdebatten gesehen. Der Diskurs „Recht auf Fortpflanzung“ rekurriert auf eine Allianz der Lobbyist*innen, die auf den Argumenten der Weltgesundheitsorganisation und auf den weltweit zirkulierenden Ideen der reproduktiven Rechte beruhen. Ursprünglich gingen die Rechtsdiskurse von einem „Bewegungskontext“ (Schultz 2015: 111) aus, der die Frauenbewegungsorganisationen und NGOs der 1970er und 1980er Jahre verband und die bevölkerungspolitischen Reproduktionsverhältnisse mit Bezug auf Klasse und auf lokale Umstände kritisierte (Briggs et al. 2013). Während diese eine weitreichende und globale Politik und ihre Schwächen markierten, gerade in der post-kolonialen Welt, wird das Recht, so Susanne Schultz, „als simpler und dekontextualisierter Garant einer individuellen Konsumfreiheit präsentiert“. Nun im Kontext der Reproduktionstechnologien wird die Zugangs- und Nutzungsverteilung in eine individualistische Rechts- und Wahllogik verpackt und „Kinderwunsch als grundrechtliches Nonplusultra“ (ebd.: 111) fördert pauschalisierende Argumente des befürworteten Zugangsrechts zu allen verfügbaren Technologien der Reproduktionsmedizin. In der Türkei überschneiden sich die Legitimationsgrundlagen der Normalisierung von IVF und der patriarchalen pronatalistischen Politiken, die darauf ausgerichtet sind, das „Recht auf eigene und gesunde Kinder [...] zu sichern“. So spiegeln die rechtlichen, ethisch-politischen Richtlinien zur Regulierung der Biotechnologien und Biomedizin, wie ich in Kapitel 1 schilderte, immer die Interessen der Lobbyist*innen und Vertreter*innengruppen wider. Alle Verfahren in
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der Petrischale, außer der heterologen – d.h. mit Substanzen von Dritten – Praxen, werden durchgeführt, um den Anspruch auf die eigenen, genetisch verwandten und gesunden Kinder zu ermöglichen und den Wunsch auf Nachwuchs zu erfüllen. Dazu zählen PID (humangenetische Diagnostik), Selektion und Forschung an den Embryonen und Reproduktionszellen für diagnostische und therapeutische Zwecke. Die flexible Regulationslage basiert zum einen auf dem relativ späten ‚Transfer‘ der bioethischen Debatten aus den Entstehungskontexten in die lokalen Diskussionszusammenhänge. Wie ich bereits dargestellt habe, hängt sie zum anderen mit der sozio-politischen und moralischen Position der Medizin zusammen. Aus Sicht einer relativ heterogenen Gruppe meiner Gesprächspartner*innen ist die Nutzung der Reproduktionstechnologien „zeitgemäß (çağdaş)“ und modern. Die pronatalistischen Politiken fördern diese Sichtweise bzw. der soziale Wunsch auf das eigene, leibliche Kind legitimiert eine moralisch offene, beinah enthusiastische Antwort auf Medikalisierung der Reproduktion. Bis lange nach der Einführung der In-Vitro-Fertilisation im Jahr 1987 kam ein derartiger Anspruch allerdings zwischen den antinatalistischen und pronatalistischen Politiken in der Türkei ins Stocken (Kuyucu/Öngel 2014). Im umkämpften Feld der Reproduktionsmedizin löst die Rhetorik „Reproduktion als Recht“ auch heutzutage noch Ambivalenzen aus.1 Die Recht-Rhetorik markiert zwar neue Ansprüche aber auch normative Zwänge, die stets durch neoliberale und neokonservative Politiken verstärkt werden. Unter einem pronatalistischen Regime und dessen gegenwärtigen Umschwüngen kämpfen Frauen nach wie vor, um individuelle und freie Entscheidungsmacht für oder gegen das Kinderhaben. Hier gab es in den letzten zwei Jahrzehnten eine starke Veränderung. Fast täglich werden durch die AKP-Regierung neue Themen auf die Agenda gebracht, die reproduktive Rechte, Belange und Privatheit der Bürger*innen, besonders der Frauen betreffen. Während die staatssouveräne Macht über die selbstbestimmten Leben gestellt und dabei Reproduktion als ein Thema nationalstaatlicher Moralitäten lanciert, treten auch neue Rhetoriken, Diskurse und Streitpunkte zu Tage. Die neoliberalen und neokonservativen Politiken gehen Hand in Hand mit den „pro-familie“ und nationalistisch-islamistischen Tendenzen der AKP-Regierung. So verfolgt diese immer stärker – besonders während meiner Feldforschung von 2008 bis 2013, die Effekte der bereits diskutierten und eingeführten Veränderungen in den Intimitätspolitiken. Reproduktion, so Özgüler und Yarar, wird instrumentalisiert für die neoliberale Governementalität
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Auch innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie gibt es Stimmen für die Zugangsrechte zu ART beim unerfüllten Kinderwunsch. Diese argumentieren gegen die globale Verteilungsungleichheiten und markieren „stratifizierte Reproduktion“ (Inhorn 2009).
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der AKP „which is linked to its nationalist, Islamist and patriarchal moral regime of truth“ (2017: 144). Gezielt nutze die Regierung eine Rhetorik von ahlak (der Moral) und macht den Anschein, als äußere sie die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen im Land. Die ethisch-moralischen Streitfälle markieren, sobald sie in die Öffentlichkeit eindringen können, unterschiedliche Positionen, Klagen und Forderungen über die regulative Macht. Ein viel stärkerer Konservatismus, der durch die Regierung in die Gesellschaft übertragen wird, überschattet jedoch den öffentlichen Diskursraum. So werden auch die zivilgesellschaftlichen Spielräume gegenüber der ohnehin mächtigen Staatsräson enger. Auf die Regierungspolitiken reagieren der boomende Markt für Kinderwunsch via IVF/ICSI und die Lobbyallianz von unterschiedlichen Akteur*innen variabel. Denn bereits seit den 2000er Jahren konnte eine Allianz aus Mediziner*innen, Kliniken, Pharmaindustrie und Betroffenen die Regulationskräfte des Gesundheitsministeriums und des Ministeriums für Familien- und Frauenangelegenheiten (Kadın ve Aileden Sorumlu Devlet Bakanlığı – insbesondere in Person Nimet Çubukçu) sowie auch die Frauenausschüsse (Kadın Kolları) der politischen Parteien (besonders die von AKP in Person die Leiterin Fatma Şahin) für ihre Interessen mobilisieren. Die Zielsetzung bestand darin, eine IVF-Normalisierung in der Öffentlichkeit zu schaffen, die die Belange der Betroffenen anerkennt, eine neue Kinderwunschpolitik zulässt und die die staatlichen Krankenkassen der SGK zur Förderung der individuellen Kinderwunschwege verpflichtet. ÇİDER etablierte sich zu einem Schlüsselakteur in dieser pragmatischen und zielgerichteten Allianz und agiert dabei als Vermittler. ÇİDER versorgte die allgemeine und betroffene Öffentlichkeit mit Bildern, Geschichten und Details aus den intimen Erfahrungswelten; diese waren nicht unbedingt dramatisierend oder stellten Personen aus einer unmündigen Opferposition dar. Vielmehr handelte es sich gerade um heroisierend dargestellte Menschen auf ihren Reproduktionswegen und in ihren -kämpfen, wodurch sie neue Ansprüche formulierten sowie Rechte und Anforderungen an den Staat und auch an die Gesellschaft stellten. Im Schnittfeld eines paternalistischen, höchst privatisierten Gesundheitsregimes neoliberaler und -konservativer Politiken und rasch wachsender Märkte gelang ihr und der von ihr initiierten Lobbyallianz „der Sieg“ im Jahr 2005, als Infertilität als „Krankheit anerkennungsfähig war“ und die Kostenübernahme von drei Behandlungen für gesetzlich versicherte, verheiratete Paare folgte. Noch im gleichen Jahr spricht Dr. Tavmergen in einem Interview mit meinen Kolleg*innen Stefan Beck und Asiye Kaya über diese Allianz: „Da waren natürlich mehrere Momente. Erst mal sind manche Vereine organisiert, zum Beispiel von diesen Sterilitätspatientinnen gibt es eine Organisation. Und die Ärzte, wir,
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haben das auch seit zehn Jahren in jeder Plattform immer, immer, immer wieder heiß gemacht und haben gesagt: Das ist ein Problem, das ist eine Krankheit, das hat soziale, psychologische usw. usw. Auswirkungen. Das ist ein Recht, dass jeder, der ein Kind will, ein Kind wenigstens bekommen sollte falls es auch eine medikamentöse oder irgendwie Behandlung gibt, dass das auch bezahlt werden muss. Das ist keine ästhetische Operation, sagen wir mal. Das kommt von der Natur her, dass jeder der ein Kind will, ein Kind bekommen sollte. Und falls Probleme dazwischen kommen und diese Probleme medizinisch therapiert werden können, das sollte in jedem System auch drin sein.“
Abbildung 5: „Probiere alle Lösungsmöglichkeiten, habe ein Kind“
Quelle: Tageszeitung Sabah, 28.10.2001. Die Leiterin von ÇİDER Sibel Tuzcu mit dem ehemaligen Staatspräsidenten und mehrfachen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel.
Die Protagonist*innen dieser Studie setzen dabei ihre oft als „brüchig“ und krisenhaft empfundenen individuell-familiären Reproduktionsbiografien ein. Auch die Diskurse über den reproduktiven Körper und die damit im Zusammenhang stehenden Wünsche und Rechte ändern sich dadurch. In ihren eigenen Worten ist es eine „beispiellose STK (Sivil Toplum Kuruluşu, NRO)“. Seit ihren Anfängen treiben sie durch diverse Strategien „das Thema in die Öffentlichkeit“. Neben der medizinischen Expert*innencommunity gewannen sie auch politische und
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prominente Figuren für sich, beispielsweise trat der ehemalige Staatpräsident Süleyman Demirel, selbst kinderlos, in einer Veranstaltung auf und sorgte in diversen nationalen Zeitungen und Nachrichtensendern für Aufmerksamkeit. Das Motto lautete: „Probiere alles, um ein Kind zu bekommen“, wie die Schlagzeile in Abbildung 5 zeigt. Bis heute gestalten sie die traditionellen Familienwerte, Normen und pronatalistischen Politiken mit, um öffentliche Sensibilität zu schaffen. Die Gruppen – wie ÇİDER – helfen ihrer Klientel: „to establish the perspective of having a right to participate in reproducing because it is a major life activity. This transformation of something that is surely historically and culturally contingent – certain kinds of pressure to have certain kinds of families – and also extremely personal and stigmatizing into a less stigmatizing bodily disease and the basis for an ahistorical, transcultural human right to reproduce is the basis of the local activist solidarity.“ (Thompson 2005: 240)
Auf der nationalen Ebene stand diese Funktion unmittelbar mit der Machtübernahme der neokonservativen AKP im Zusammenhang. Die nationalstaatlichen Politiken der Reproduktion standen in der Türkei immer in einem Spannungsverhältnis zwischen pro- und antinatalistischer Demografiepolitik (Özbay 1998). Dazwischen haben die Vorstellungen von Familienbildung und Kinderhaben an den jeweils dominierenden, fertilitätsrelevanten Normen und Erwartungen angeknüpft. Seit den frühen 2000ern hat die Organisation ÇİDER und die von ihr mitgetragene Allianz aus Kliniken, Pharmaindustrie, Ärzt*innen und Patient*innen die familienzentrierten und selektiv pronatalistischen Politiken der AKP Regierung effektiv und erfolgreich genutzt. Während meiner Forschung wurde von meinen Gesprächspartner*innen thematisiert, inwiefern sich Regierungsinteressen mit den Belangen des IVF-Marktes überlappen. Zumindest ist eine Schnittstelle zwischen dem heteronormativen und patriarchalen Pronatalismus und der neoliberalen Gesundheitspolitiken erkennbar. Diese Überschneidung der Interessen zwei unterschiedlicher Protagonisten ist durchaus kritisch zu bewerten. Für die IVF-Märkte wirkt sich diese allerdings äußerst vorteilhaft in der Durchsetzung ihrer Interessen „hinsichtlich der Anerkennung der Infertilität als eine Krankheit“ aus. Die Anerkennung als Krankheit hat die Finanzierung durch die staatlichen Krankenkassen (SGK) zur Folge. Der tief verwurzelte Familismus geht Hand in Hand mit steigendem Konservatismus und selektivem Pronatalismus, der die heteronormative Familie „als Kern der Gesellschaft“ lanciert. Für die damals noch laienhafte und relativ lose Betroffenengruppe, die sich überwiegend online vernetzte, brachte dieses Zusammenspiel ein „Teilnahmeund Mitspracherecht“ in den rechtlichen Regulierungen und den Debatten über
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moralisch-ethische Bewertungen der reproduktionstechnologischen Behandlungen. Diese waren beispielsweise bei den Gremien des Familien- und Frauenministeriums vertreten, wenngleich in einer ausschließlich beratenden und nicht stimmberechtigten Position. Während meiner letzten Besuche in der Organisation ÇİDER und in den letzten Interviews wurde eine substanzielle Veränderung in den kontinuierlichen Lobbystrukturen und Kooperationen mit den staatlichen Institutionen sowie auch mit den frauen- und reproduktionspolitisch relevanten Ausschüssen der AKP ersichtlich. Die Mitstreiterin Olgun, die ich bei einer Informationsveranstaltung kennenlernte, erzählte mir von den enger werdenden Kooperationen und vom steigenden Interesse an dem Kinderwunschbereich seitens der AKP und besonders ihrer Frauenausschüsse, bei denen sie sich auch aktiv engagiert. Die fertilitätsbetreffenden Themen würden als „Brennpunkt“ der Familien- und Frauengesundheit markiert. Gerade durch die Frauenausschüsse würden die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Lobbyist*innen in diesem Bereich immer stärker gezielt unterstützt. Auch eine andere Mitstreiterin bestätigt, dass ihre Interessen „durch die Hand der Regierung auf die Agenda gebracht“ werden. Mit den „mindestens-drei-Kinder“-Diskursen würden die Politiker*innen und Regulatoren wie das Gesundheitsministerium nun „eine Gruppe sehen, die sie bislang nicht wirklich wahrgenommen hatten“: Nurhak: „Solche pronatalistischen Politiken erleichtern bestimmt für sie das Thema anzusprechen, nicht? Aber was ist ihre eigene Rolle konkret darin?“ Mitstreiterin: „Natürlich das ändert einiges. Uns geht es um die Familien, die kein Kind bekommen können. Wir haben uns ja dafür eingesetzt. Nun ist es kaum nötig. Für uns bringen sie [gemeint: die Regierung und Regierungskräfte] das selbst auf die Agenda, um die Kinderzahl zu erhöhen.“
Von der Gründung bis in die Gegenwart hat die Organisation ÇİDER also daran mitgearbeitet, dass die Reproduktion, der Kinderwunsch und die biotechnologischen Behandlungsangebote gegen Fertilitätsprobleme im Bereich der familienund frauenpolitischen Regierung angesiedelt wird (siehe auch Kapitel 1.1). Folglich wurde Infertilität als ein biosoziales Problem der heterosexuellen Paare und Familien mobilisiert und rein förmlich als familienpolitische Angelegenheit kodiert. Es geht um die Einflussnahme darauf, wie der Kinderwunsch als medizinisch realisierbares Anliegen konstituiert wird, welche Erfahrungen dabei in die Öffentlichkeit übertragen werden können und in welchen Zusammenhängen oder um welche Problematiken inwiefern (Un-)Sichtbarkeiten erzeugt, Ansprüche formuliert und auch an die Regierungen gestellt werden – oder nicht. In den eigenen Worten des Vereins ÇİDER, müsse man „immer ein Auge darauf haben,
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wie solche Themen eben in einer Gesellschaft wie der Türkei wahrgenommen, behandelt und diskutiert werden können“. Wie die jeweiligen Aktionen letztendlich auf die Lebenserfahrungen und reproduktiven Biografien zurückwirken, sei zu beobachten und könne so in aktivistischen Strategien drosselnd wirken. Wie bereits dargestellt, gilt die IVF/ICSI-Nutzung als sozial akzeptiert und ermöglicht eine biosoziale Teilhabe in der normativen Gesellschaftsordnung. Der ART-Aktivismus steht unmittelbar damit im Zusammenhang. Die heterologe Nutzung und die damit einhergehenden rechtlich-moralischen Problemlagen wurden deswegen bisher nur begrenzt thematisiert und immer bezogen auf die moralisch begründete „Sehnsucht nach Kindern“ relativiert. Viele Gesprächspartner*innen betonten wiederholt „die soziale Realität in diesem Land“, die es „schwierig macht einige Themen offen zu behandeln“. Dazu gehören eindeutig die Eizellen- und Samenspende, „Donations-Familien“ und „Donations-Kinder“, aber auch die Adoption (siehe Kapitel 2.3). Die aktivistischen Ansprüche bleiben nach wie vor heteronormativ, wobei einige der wenigen Vertreter*innen sich bemühen, auch das Thema der heterologen Inseminationen und die damit einhergehenden, doch völlig unsichtbaren alternativen Familienmodelle auf die Tagesordnung zu bringen. Im Fokus stehen jedoch stets die emotionalen und psycho-sozialen Aspekte vom unvermeidlichen Umweg zum ersehnten Kind und nicht die dadurch erzeugten Kinder und Familien. Die eventuellen kulturellen, moralisch-ethischen und rechtlichen Fragen werden abgedrängt. An den „kulturellen Prägungen“ und „Umständen des Landes“ werden die Forderungen und aktivistischen Strategien ausgerichtet. Auf meine Frage erklärten die Mitstreiter*innen das Ziel, allen Betroffenen eine Stimme zu verleihen, unterschiedliche Facetten der ungewollten Kinderlosigkeit sichtbar zu machen und die mit wiederholten Behandlungen einhergehende sozio-ökonomische „Last“ für Familien paritätisch zu vertreten. Auf der einen Seite erhebt also die Gruppe den Anspruch darauf, eine durchaus heterogene Zielgruppe zu vertreten, die ihren Kinderwunsch mithilfe von unterschiedlichen und teilweise auch mit Beteiligung von Dritten durchgeführten Behandlungen zu erfüllen versuchen. Eine biografische Normalisierung wird dadurch für die Paare und Familien möglich, die beispielsweise eine Drittspende in Anspruch nehmen. Dieses Interesse stellt sich auf der anderen Seite quer zu den politischen und patriarchalen Moralitäten einer reproduktiven Regierung im Land. Weiterhin verortet diese Aktivist*innen-Szene die Reproduktionswege, für die sie eintritt, ausschließlich innerhalb der Reproduktionsmedizin. Während die Drittspende als „allerletzte Option“ auf dem Weg zum ersehnten Kind konstituiert wird, wird „ein Leben ohne Kinder“ kaum bzw. nur ungern in die soziopolitischen Debatten und aktivistischen Repertoires eingeführt. Auch die Un-
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sichtbarmachung der Möglichkeit des Kinderhabens durch Adoption stellt ein Beispiel dafür dar, dass in der offiziellen Haltung der Vertreter*innengruppe und auch aus Sicht vieler Engagierter die reproduktionsmedizinischen Behandlungsoptionen vordergründig sind. Die Adoption wird in dieser Szene ausschließlich als ein erweiterter und „letzter Ausweg“ aus der Kinderlosigkeit dargestellt. So wird für heterosexuelle Paare ein uneingeschränkter und leichter Zugang zu unterschiedlichen Behandlungsoptionen gefordert, die willig sind, Fertilisationstechnologien in Anspruch zu nehmen. Gerade im Internet lassen sich unterschiedliche Aushandlungen innerhalb der Gruppe beobachten. Zudem mobilisieren sich dort Frauen und Männer dafür, dass ihre Erfahrungen Sichtbarkeit erlangen und ihre Stimmen gerade bei dem Staat Gehör finden. Während meiner Feldforschung habe ich Aktionen unterschiedlicher Art beobachtet. Die Gruppe protestierte beispielsweise via Emails, Fax und Telefonaten gegenüber den Ministerien, Behörden und Kommissionen gegen die regulativen, oft restriktiven Veränderungen. Dabei ging es besonders um die sozialen, ökonomischen und moralischen Barrieren beim Zugang zu den Behandlungen sowie um Politikgestaltung und ihrer Umsetzung in individuellen Fällen (Polat 2011). Während die privaten Anliegen dadurch in die Öffentlichkeit dringen, formen sie sich simultan zu kollektiven Belangen und Ansprüchen. Ungewollte Kinderlosigkeit und IVF-Nutzung als biosoziale Problemlagen gehören zu den typischen Themenbereichen derartiger Sub-Politisierungen der Gesellschaft. Es sind neue und alte moralische Spannungen, die bisher in diesem Kapitel als ein regulatives und biopolitisches Problem geschildert wurden. Auf der staatlichen Ebene ging es darum, die öffentliche Moralität und normative Ordnung aufrechtzuhalten, während sich im Alltag der Menschen komplexe ethische und moralische Fragen stellen. Besonders in den urbanen Mittelschichten verändern sich die alltäglichen Erfahrungen, biografischen Krisen und Lebensentwürfe in politische Triebkräfte und Ausdrucksformen. Im Falle von ÇİDER handelt es sich um eine selbsterklärte und nicht demokratisch gewählte Vertreterposition. ÇİDER agiert als „Sprachrohr“ und „Anwaltschaft“, für „eine Patientengruppe, die schwer zu bewegen ist“, erklärt ÇİDERs Leiterin. Im Jahr 2006 reflektiert sie darüber, dass die Türkei „gerade die Bedeutung von STKs lernt“: „Das ist nicht nur ins Bewusstsein der Menschen eingedrungen. Wir versuchen das zu ändern, dass die Leute sich für ihre eigene Betroffenheit und eigenen Rechte einsetzen und sich gegen die Probleme wehren. In dieser Richtung muss allerdings in der Türkei noch viel gemacht werden. Allein wir und unsere Arbeit sind nicht genug. Die Menschen müssen die Macht der Zivilgesellschaft erkennen, dass sie etwas bewegen und ändern können. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Trotzdem bewegt sich da natürlich was. Wir versu-
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chen, den Menschen eine Stimme zu geben und sie gleichzeitig zu kollektiven Aktivitäten zu bewegen, so dass wir auch was ändern können.“
Auf meine Frage sagt sie noch im Jahr 2011 zugespitzt: „Es existiert hier kein Aktivismus“. Eine klare, jedoch frappierende Aussage von einer Frau, die sich seit über zehn Jahren für die Belange und die Rechte der Betroffenen im Bereich der Kinderlosigkeit engagiert. Nach jahrelangen Erfahrungen behauptet sie, dass es sich um eine „atypische Patient*innengruppe“ handelt, deren einzelne Akteur*innen sich häufig nur auf einen ganz persönlichen und oftmals als sehr schwierig erlebten Prozess des Kinderhabens fixieren. Hinzu kommt, dass sie sich stets in einem hochgradig einflussreichen Komplex von pronatalistischen und normativen Gesellschaftsstrukturen und neoliberalen Privatmärkten der Reproduktionsmedizin zurechtzufinden versuchen. Diese Gruppe oszilliere ohnehin zwischen Privatem und Öffentlichem und sei mit der Herausforderung des richtigen Informations- und Wissensmanagements über ihren reproduktiven Zustand und ihre Biografie konfrontiert. Die sozio-politischen Veränderungen der letzten Jahre machen also den zivilgesellschaftlichen Boden für Politikgestaltung bereit. Der moralisierte Nexus zwischen Medizin, Technologien und Gesellschaft wird dabei instrumentalisiert, was neuartige moralische Spannungen mit sich bringt. Generiert werden neue Repertoires von Wahrnehmungen, (Selbst-)Verständnissen und Sinngebungen sowie gesellschaftliche Bedeutungen in Bezug auf individuelle, politische, institutionelle und moralische Umgangsweisen mit Nutzungspraktiken, Responsibilitäten und nationalen Regulierungsprinzipien von IVF-Praktiken. Der IVFAktivismus konstituiert und mobilisiert eine partikulare Betroffenenperspektive auf Gesellschaft, auf den reproduktiven Markt und auf die staatlichen Obligationen. Dabei werden die kulturellen Kodes und Moralitäten der Mutterschaft und der Familiengründung in den Vordergrund gestellt. Er (trans-)formiert diese in kollektive Stimmen neuer Patient*innenschaft, setzt die intimsten und privatesten Lebensbereiche, Reproduktionsbiografien und Erfahrungen in Bewegung und übersetzt die privaten Erfahrungen und Belange in die Öffentlichkeit. Durch ihre langjährigen Erfahrungen und Aktivitäten betrachtet die Ko-Gründerin Muko die staatliche und gesellschaftliche Problembehandlung kritisch. Im ersten Interview im Jahr 2009 deutet sie mir gegenüber eine distinktive Eigenschaft der Politikgestaltung in der Türkei an, gegen die ÇİDER sich einsetze: „Nun werden so bei uns immer manche Probleme verdeckt, als würde man etwas Gutes machen. Eigentlich nicht. Also bestimmte Dinge müssen enthüllt, erklärt werden, denn wenn es ein Problem gibt, können sie das Problem nicht mit einem Verband lösen, da
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musst du eingreifen [wörtlich: du musst behandeln, indem du mit dem Skalpell rein schneidest]. Bei uns bekommen die Probleme immer einen Verband, sie werden nicht behandelt. Mit diesem Problem ist es das Gleiche. Also, mit dem Infertilitätsproblem ist es auch das Gleiche.“
Akteure wie ÇİDER sind weniger Wahrheits-Produzenten als moralische Mobilisierer. Sie führen unterschiedlichste Inhalte der Erfahrungs- und Lebenswelten der Einzelnen in den Aktivismus ein und bewegen sich damit aus den klinischmedizinischen Settings heraus. Sie (trans-)formieren die (kulturell) kontextuellen Wissenswege. Sie agieren als Mitgestalter des kompetitiven Behandlungsregimes und steuern aktiv zur Markförmigkeit der Reproduktionstechnologien bei. Ähnlich wie die Communities der Mediziner*innen, die Lokalisierungs- und Globalisierungsprozesse vorantreiben, ist auch diese Aktivist*innen-Szene in den „Kinderwunsch-Ökonomien“ aktiv. Gegenüber den restriktiven Politiken des Staates wird zwar das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung und das primär euroamerikanisch und westlich geprägte „right to choose“ (Inhorn 2012b, Morgan/Roberts 2012) beansprucht. Es ist aber konsumeristisch eingefärbt und unmittelbar in den kontextuellen, konjunkturellen und oft situativen Bedingungen der reproduktiven Rechte und Wahlmöglichkeiten eingebettet. Die Mitgründer*innen reflektieren oft die Rolle von „lokalen Gegebenheiten“ und individuellen wie kollektiven „Handlungsspielräumen“. Kurzum begründen die klientelistischen Staats- und Regierungspolitiken und paternalistischen Umstände des Gesundheitsregimes nicht nur Strategien, Taktiken und Politiken der Organisation, sondern eben auch die symbiotischen Beziehungen zwischen Aktivismus, Lobbyarbeit und Märkten. „Symbiosebeziehungen“: Verschiebungen in Subjektpositionen im Markt für Kinderwunsch Ich möchte nun mit der Vorstellung der vielschichtigen, kontrovers diskutierten Doppelrolle der von mir untersuchten Betroffenengruppe fortsetzen. Die folgende Darstellung veranschaulicht, dass die Betroffenengruppen nicht mehr (wenn sie es denn überhaupt je waren) nur emanzipatorische Settings für die Altruismen und die biosoziale Solidarität der ausreichend bemächtigten Subjekte und Betroffenen sind. Vielmehr, wie es am Beispiel von ÇİDER der Fall ist, agieren sie als Mitgestalter*innen des weitgehend privatisierten, sich rasant restrukturierenden Gesundheitssektors. Im sich rasch etablierenden türkischen Behandlungssektor für Kinderwunsch, der hochgradig dynamisch und global verflochten ist, verortet die Organisation ÇİDER sich selbst daher als eine „Brücke“ und „Sprachrohr“ zugleich. Sie hat eine vielgestaltige Funktion und agiert als selbst-
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erklärte, nicht demokratisch gewählte Akteurin und Interessenvertreterin einer sozio-ökonomisch heterogenen Gruppe von ungewollt Kinderlosen. ÇİDER beansprucht als „Verfechterin (hak savunucusu)“ für die spezifischen Rechte und Belange einzutreten. Gleichzeitig versteht sie sich, und dies tat sie von Anfang an, als Wissensakteurin, die sich für die Selbstermächtigung von Frauen und Männern im Umgang mit ihren Reproduktionsbiografien und in Bezug auf reproduktionsgesundheitliche Schwierigkeiten einsetzt. Diese Funktion ist in den in den letzten Jahren zunehmenden neoliberalen Transformationen im Land eingebettet. Um diese Funktion für die Leser*innen verstehbar zu machen, werde ich zunächst auf die modifizierte Rolle der Medizin und Medikalisierung im türkischen Kontext eingehen. Dabei werde ich am Beispiel von ÇİDER zeigen, wie und inwiefern sich die Übersetzungen zwischen Reproduktionsmedizin, MikroWelten der Alltage ihrer Rezipient*innen und auch die Vermittlungen zwischen Gesellschaft, Staat, Gesundheitssektor und -märkten geändert haben. Die Mobilisierung von betroffenen Individuen und ihrer Angehörigen beruht auf der ausgeprägten, paternalistischen Mission, die der Medizin seit der Modernisierungsphase spätestens ab der Republikgründung bis hin zur Gegenwart als quasi Modernisierer zugeschrieben wird (siehe Kapitel 1.3). Dabei wird die Etablierung der neoliberalen Ideen erleichtert und Ideale über die bewussten und selbstreflexiv handelnden Patient*innen und „rechnerischen Konsument*innen“ mitgeprägt (Thompson 2005). Der Aktivismus ist als eine Folge davon zu betrachten. Er orientiert sich an dem idealisierten Leitbild der*s informierten, bewussten Patientin*en, das historisch ‚von oben‘ auferlegt war, doch nun zu einem neoliberalen Projekt der Selbststeuerung gehört. Mit den 1990er Jahren zunehmenden Privatisierung des Gesundheitssystems und dessen späteren neoliberalen ReStrukturierungen änderten sich folglich auch in der Türkei die Wissens- und Informationsaneignungsweisen der Menschen. Diese brachte unter anderem Interessenskonflikte und Verhandlungen darüber mit sich, wer (über wen) eine Wissens- und Deutungsmacht besitzt und damit auch über den Umgang mit medizinischen und wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen. Im Feld der Reproduktionsmedizin waren diese Aushandlungsprozesse von Anfang an stark ausgeprägt. Quasi als moralische Normalisiererin eines biosozialen Zustandes trägt ÇİDER zur Konstruktion eines biosozialen Agierens bei (Gibbon/Novas 2008). Die bereits angeführten Normalisierungsansprüche werden dabei in eine Sprache, dem „Recht auf Fortpflanzung“ verwandelt. Aus der Interessenvertretung wird ein Recht auf Reproduktionsmedizin abgeleitet. Dies wird aber in „Logiken der Wahl“ (Mol 2008) eingebettet. Somit werden die Ideen in Bewegung gesetzt, die Biografien als Resultate von richtigen und falschen Wahlen, von Rechten und Pflichten in Selbstverwirklichung und Subjektivierung rahmen.
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Von Beginn an war ÇİDER an den moralisch-ethischen und regulativen Debatten und Veränderungen im Land beteiligt. Mit vielfältigen Aktivitäten kämpfte sie für öffentliche Sensibilisierung und Bewusstseinserhöhung und mobilisierte Rechtsansprüche auf Selbstbestimmung. Auch während meiner Forschung involvierte diese Aktivist*innen-Szene sich stark in die öffentlich meist kontrovers geführten Debatten. Die Vertreter*innen äußerten sich zu den ethisch-moralischen Fragen zur Nutzung von Reproduktionstechnologien und auch zur regulativen „Agenda“ der Regierung. Die soziale und politische Reichweite der Mobilisierung in diesem Bereich der Reproduktionspolitiken beschränkt sich auf Partizipation von Einzelnen und ist eingebettet in der nationalen Politikgestaltung von IVF/ICSI, die unter der starken Staatsräson steht. Die metaphorische Anspielung „Brücke“ bildet symbolisch die Transformationen in den Grenzverhältnissen zwischen Zivilgesellschaft, Staat, Expert*innen und Laien, Markt, Medizin und (Wissens-)Politik ab. Nicht nur die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem/Politischem werden unscharf. Auch die Pole von Verantwortung, Repräsentation und Politik verschieben sich. Die Grenzen zwischen den unterschiedlich situierten Akteur*innen, Obligationen, Belangen und Interessen werden erodiert. Die global zirkulierenden Diskurse und Ideen sind einflussreiche Faktoren in der Definition, was als national und lokal angemessen konstituiert wird. Darauf gehe ich später im letzten Unterkapitel im Detail ein. Von Beginn an waren die engagierten Mitstreiter*innen ein Teil eines Komplexes der Vermittlungen und Übersetzungen. Sie agierten relativ lange als Gatekeeper, zugleich als „Vorreiter*innen“ eines damals für die Türkei ganz neuen Phänomens selbsthelferischen Aktivismus, der sich um die Probleme von ungewollt Kinderlosen kümmert, ihre Belange vertritt und neue Forderungen formuliert. Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 lotste ÇİDER beispielsweise ungewollt Kinderlose und war an den neoliberalen Re-Konfigurationen in diesem Feld aktiv. ÇİDER übernahm eine doppelte Vermittler-Rolle als Vertrags- und Wissensvermittlerin zwischen den aktuellen und potenziellen Patient*innen/ Konsument*innen und dem Medizinsektor. Sie eröffnete eine Machtnische, wie ich es verstehe, in dem rasch wachsenden und boomenden IVF-Markt, worin damals das Potential von Selbsthilfe und Betroffenengruppen entdeckt wurde. In Zusammenarbeit mit den kommerziellen Akteur*innen und Kliniken, die sich auf spezielle „Deals“ eingelassen haben, machte die Gruppe dieses Potential geltend. Den Kliniken ging es darum, ihren Marktanteil zu vergrößern und den IVFMarkt im Land zu erweitern. Auch heute, wie mir ein Arzt sagte, geht es in diesem umkämpften Feld darum „den eigenen Anteil vom Kuchen abzubekommen“. Wie in anderen Bereichen hat auch das mit der neoliberalen Wende zu tun. Die Betroffenen werden primär als potentielle Konsument*innen einer me-
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dizinischen Dienstleistung anvisiert, die bereit sind zur Erfüllung des Kinderwunsches einiges in Kauf zu nehmen. Oft wird diese doppelte Vermittlungsrolle durch die kompetitive Marktstruktur und den Sozialdruck auf die Paare begründet. In meinen Interviews fassten die Mitarbeiter*innen Vermittlungen zwischen Kliniken sowie aktuellen und potentiellen Patient*innen und Konsument*innen keineswegs als reine markförmige Leistung auf. Im Gegenteil. Sie sehen ihre weitgehend kontrovers diskutierte Vermittlerinnen-Position als eine Antwort auf die ungleich verteilten Zugangsmöglichkeiten. Dr. Yaman, ein ehemaliger Vertreter der ÖTBMD (Verein für die privaten Fertilitätszentren), vertritt die Meinung, dass die Beziehungen in diesem Sektor „etwas aus dem Ruder geraten“ sind. Oft drehe es sich um die Profitmaximierung aufseiten vieler kommerzieller und nicht-kommerzieller Akteur*innen, einschließlich der Patient*innenvertreter wie ÇİDER. So erläutert Dr. Yaman: „Früher war es eigentlich so: Tüp Bebek war eine Behandlungsmethode und wir waren Ärzte. Die Patienten kamen, wurden von uns behandelt und gingen dann wieder. Jetzt ist es nicht mehr so. Jetzt versuchen wir herauszufinden, wie wir am meisten von den Patienten profitieren können. Pharmafirmen, Vereine, Nichtregierungs-Organisationen, Patientenvereine, Berufsvereine... Unsere Berufsvereine sind schließlich auch nicht gerade anders drauf. Wieso gibt es denn so viele Vereine? [...] Vielleicht ist es auch das Ergebnis der Kommerzialisierung... Halt diese ganzen Geschichten mit Psychiatern, Akupunktur, Hypnose, Universum-Was-Weiß-Ich-Therapie, Ozon-Was-Weiß-Ich... das alles ist eigentlich wirklich nicht nötig. So weit muss es echt nicht kommen. Natürlich ist es ein Problem, keine Kinder bekommen zu können. Man wird das Problem dem Patienten mitteilen und wenn dadurch zusätzliche Persönlichkeitsprobleme wie gewisse psychische Defekte aufkommen, wird man da natürlich mithelfen. Aber es ist auch nicht richtig, alle Patienten gleich zu behandeln.“
Die Vertreter*innen unterschiedlicher Interessensgruppen bestreiten eine erfragte finanzielle Profitorientierung stets. Grundsätzlich lassen sich jedoch gegenseitige Instrumentalisierungsprozesse zwischen NGOs wie ÇİDER und den Märkten feststellen, wobei sich jeweils die Interessenslagen, Wissensformen und Handlungsweisen von den anderen zunutze gemacht werden. Diese sind durchaus ökonomischer Natur. Von einigen Mediziner*innen wird eine neue Tendenz kritisch betrachtet, die sie als „Symbiosebeziehungen“ zwischen kommerziellen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen bezeichnen und die darin besteht, dass die profitorientierten Interessen und asymmetrischen Beziehungen innerhalb des Behandlungssektors ausgenutzt werden, um ein „Geschäft mit der Hoffnung“ zu
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betreiben.2 Andere hingegen sehen dies unter den Umständen einer Gesellschaft wie der Türkei legitim und beschreiben wie Dr. Akın, ein langjähriger Kooperationspartner, solche Unternehmungen etwa als „amateurhaft, aus dem Herzen und mit Sympathie“: „Sie fragen sich, was dem Patienten beschafft werden kann, was nützlich sein kann. Glauben Sie mir, viele Menschen wissen gar nicht, dass es eine Lösung für ihr Problem gibt. Diese Menschen muss man schon darüber informieren, dass es eine Lösung gibt. Es gibt immer noch viele Fehlinformationen und auch noch welche, die denken, dass man 10. 000 oder 20. 000 für eine Behandlung ausgeben muss oder dass die Medikamente 5.000 oder 10. 000 kosten. Es gibt Leute, die über Fremdspende und ähnliche Sachen überhaupt keine Ahnung haben. Nun dann sind eben beide Waagschalen der Waage voll, [Kritiker*innen wie Unterstützer*innen], beide haben Recht. Wie gesagt, die Sache hat viele Dimensionen. Aber jede Art von Werbung vergrößert den Markt.“
Die in diesem Bereich zu beobachtenden Kooperationen und Informationsnetzwerke verhelfen zu der Marktförmigkeit und der Normalisierung von IVF/ICSITechnologien in der Türkei. Diverse Kooperationen markieren die strukturellen und professionellen Reduktionismen und die paternalistischen Verhältnisse, die vorherrschen. Sie illustrieren zugleich die Effekte der neoliberalen Marktlogiken im Gesundheitsbereich. In den letzten zwei Dekaden wirkt die Kommerzialisierung und Privatisierung auf die herkömmlichen Verhältnisse von Mediziner*innen und Patient*innen: die Erstgenannten werden dabei eher zu den „Dienstleister*innen (hizmet sağlayıcı)“, die das Wissen und die medizinische Kompetenz für ein heterogenes Klientel „schmackhaft“ machen soll und die Patient*innen und Betroffenen werden zu den „Dienstnehmer*innen (hizmet alıcı)“. Darüber hinaus werden aktiv neuartige Wissenspfade im reproduktionstechnologischen Sektor kreiert, und damit wird zur Produktion vom neuen „Patient*innenbild“ beigetragen. Der Zugang zu den richtigen Informationen und dem Vertrauen in die Biomedizin und die Mediziner*innen werden häufig als Empowerment-Faktoren dargestellt. Die Mitstreiter*innen und die engagierten Ärzt*innen gehen dabei von einem kausalen Zusammenhang aus: Die Rezeption von techno-wissenschaftlichen Entwicklungen des Kinder-Machens demonst2
Signifikant hierbei ist, dass die medizinischen Expert*innen allgemein skeptisch gegenüber der Funktion von solchen Gruppen sind. Viele bewerten besonders solche Kooperationen als eine Art „Ausbeutung der Hoffnung“. Dies zeigt m. E., wie die Gruppen von Patient*innen und Betroffenen sich an der gegenwärtigen „political economy of hope“ (Novas 2006) andocken und sich Selbsthilfe, Hype und Hoffnung vermischen. Zugleich symbolisieren solche Diskussionen in meinem Feld, wer als legitime*r Produzent*in und Vermittler*in von Wissen, Hoffnung und Wahrheiten gilt.
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riere den gesellschaftlichen Fortschritt. Zudem wird betont, dass Selbst-Aktivierung und Responsibilität Menschen und Gesellschaft vorwärts bewege. Ihre Wissensarbeit ist mithin an die bislang dominanten, epistemologischen Aushandlungen der Reproduktionsmedizin und den Reproduktionstechnologien gekoppelt. Dieser Wissensarbeit wird eine transformative Triebkraft zugeschrieben, besonders in der Mit-Formung der Öffentlichkeit und des öffentlichen Wissens und damit auch in der gegenseitigen Wissens- und Informationsvermittlung zwischen Gesellschaft und Medizin. In der öffentlichen Selbstpräsentation, und auch mir gegenüber, schließt die Organisation ÇİDER jedoch eine gesellschaftspolitische „Lücke“ und wirkt gegen den „Mangel“ sozio-psychischer und informativer Unterstützung im paternalistischen Gesundheitsregime. „(Selbst-)Bewusstsein (bilinç)“ über die eigenen Wissenswege erlangen ist ein dominanter Diskurs im Feld türkischer Reproduktionsmedizin. Dieser Diskurs impliziert eine Kompetenz von bildungsnahen, urbanen und sozial wie ökonomisch bessergestellten Personen aus der Mittelschicht und dem Bildungsmilieu. Bilinçli hasta ist deckungsgleich mit der*m informierten Patientin*en, während ihr*m oft „unwissend“ und (cahil) „Unwissenheit (cahillik)“ unterstellt wird. Einen Gemeinplatz haben diese Begriffe nicht nur im Alltag. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung verweist oft auf eine aufgeladene Spannung zwischen westlicher Moderne und Tradition, Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit etc. Cahil wird mit Rückständigkeit konnotiert und repräsentiert Orientierung und Gebundenheit an Tradition und wird somit auch als ‚irrationale‘ Denk- und Handlungsweise abgewertet. Bilinçli hingegen verkörpert informierte, selbstreflexive und emanzipierte Subjekte und Bürger*innen, welche die Fähigkeit besitzen, mit den Sinnangeboten und Problemlagen der modernen Welt besser umzugehen oder sich diese anzueignen. Die Rhetoriken über bilinç und cahil heben einerseits ein neoliberales Idealbild der*s Patientin*en und Bürgers*in hervor und machen andererseits die Kluft in der asymmetrischen Zugangs- und Ressourcenverteilung im Bildungs- und Gesundheitssystem deutlich. Sozialanthropolog*innen und Sozialwissenschaftler*innen, die sich mit der türkischen Gesellschaft auseinandersetzen, sehen hierunter Türkei-spezifische und kulturelle Aushandlungen mit der Modernität, der westlichen Wissenschaft, Rationalität und Religiosität (siehe Kapitel 1.2). Diese Rhetoriken nehmen in meinem Feld einen Gemeinplatz ein. Den Menschen wird also gegenüber der Paternalismen im Gesundheitssektor eine gewisse Handlungskompetenz zugestanden, wofür aber immer ein gewisses soziales Kapital vorausgesetzt wird. Selbstbewusste Bürger*innen passen zu dem politischen Leitbild der informierten Patient*innen, während den Unwissenden eine Bevormundung durch paternalistisch-klientelistische und staatliche Akteur*innen zugestanden wird. Dazu gehören besonders
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eine Zusammenarbeit und eine bessere Sozialisierung in die (kommerzielle) Medizinwelt und ihren Behandlungsregimen, in denen Menschen ohne Orientierungshilfe und soziale Unterstützung nicht zurechtkommen könnten. Zusätzlich wird für ein neues Selbstverständnis und für Selbstaktivierung plädiert. Die Leitfigur des informierten Subjekts, der*dem informierten Patient*in lässt sich daran erkennen, dass sie*er sich im Behandlungs- und Gesundheitsregime aktiv und kritisch verhält und die „Dinge in die eigene Hand nimmt“. Die Mitstreiter*innen betonten beispielsweise wiederholt eine „Begegnung mit Ärzten auf Augenhöhe“ anzustreben bzw. diese anderen zu ermöglichen. Wenn meine Interviewpartner*innen aus unterschiedlichen Regionen der Türkei über die soziale und gesellschaftspolitische Relevanz reproduktiver Behandlungen reden, ziehen sie solche Selbstdarstellungsmodi heran. Sie berichten davon, wie für sie ein idealtypischer Umgang mit und ein Verständnis von reproduktionsmedizinischem Wissen und Kinderwunsch-Technologien aussieht. Als wesentliches Motiv der NGO-Arbeit wird die Zugangserleichterung zum Medizinwissen und dem IVF-Markt erklärt. Sowohl der Sozialdruck als auch die (Selbst-)Stigmatisierung auf Grund eines körperlichen und biosozialen Zustandes der Infertilität und Kinderlosigkeit dienen zur Legitimation jeglicher, durchaus kommerzieller Kooperationen zwischen Markt und Zivilgesellschaft. Auch über das erklärte Ziel, „IVF-Nutzung zu normalisieren“ und „für alle verfügbar zu machen“, legitimiert sich eine doppelseitige Positionierung der Organisation. Eine moralische Verpflichtung wurde häufig von meinen Gesprächspartner*innen erwähnt: „die Türen zu öffnen“. In unterschiedlichen sozialen Schichten und kulturellen Milieus werde dadurch das Problem aus dem (tabuisierten) Privatbereich herausgenommen und avanciert zugleich zu einem Problem des optimalen Informations- und Wissensmanagement. Das Motto der Selbsthilfegruppe ist: „Je mehr Menschen darüber wissen, desto offener wird mit dem Thema umgegangen.“ Das Wissen trägt zur bewussten Problembewältigung bei, so ist die Annahme, und zur biosozialen Enttabuisierung und Normalisierung. Aynur Teksoycan, die sich seit mehr als sieben Jahren als Ehrenamtliche in der Organisation ÇİDER engagiert, sagt: „Es gibt noch Typen, die laufen herum mit null Wissen und Ausrüstung zu diesem Thema. Das Ziel ist es, diese zu informieren, denen die Sache zu erzählen.“ Wie viele andere stellt sie fest, dass „Wissen auch ein Stück Macht“ bedeutet. Es ist eine Wissensarbeit, welche die Sozial- und Selbsttechnologien der betroffenen Personen beeinflusst und damit die biosozialen Erfahrungen und Identitäten im reproduktionsbiografischen Bereich. Wie diese auf die Wissenspfade der Personen und die kulturellen Kodes, Repräsentationen und Vorstellungen von Normalitäten der Reproduktionsbiografien verändernd einwirken, habe ich
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in Kapitel 3 analysiert. Insbesondere durch die netzbasierten Wissens- und Austauschräume, lokale Selbsthilfegruppen und die advokatorische und informative Öffentlichkeitsarbeit schlagen diese sich in qualitativ neuen Wissens- und Managementstrategien der als infertil diagnostizierten Personen nieder. Die Aktivist*innen-Szene ist demnach nur in dem komplizierten und dynamischen Kontext der gegenwärtigen biopolitischen Entwicklungen verstehbar. Bei Weitem geht es hier nicht mehr nur um die Vermittlung von Fachwissen über die Reproduktionsmedizin. Eher wird die Mit-Konstruktion von Subjekten als zielstrebige, partizipative, wissende und aktive Patient*in gesteuert. In meinem ersten Interview im Verein ÇİDER erklärt Frau Şimşek: „Also wir haben es gewissermaßen mit diesem Verein geschafft, also den Menschen Bewusstsein, Bewusstsein zu schaffen, dafür zu sorgen, dass sie Fragen stellen, das ist sowieso der Grund unserer Versammlungen. Sie sollen recherchieren, recherchieren, fragen, nicht blind zu allem ja sagen. Wir gehen ja von Stadt zu Stadt, auf diesen Informationsveranstaltungen können sogar Männer aufstehen und diese Probleme erfragen, ohne sich zu schämen, sich zurückzuhalten, oder versteckt zu halten. Das ist meiner Meinung nach ein sehr großer Erfolg. Wir haben in den geschlosseneren Gesellschaftsschichten, auch wenn es wenig ist, ein wenig die Türen geöffnet.“
Die hier beschriebenen aktiven Betroffenen sollen als informierte, engagierte und verantwortliche Subjekte agieren, die sich sowohl für sich selbst aber auch für die anderen in der gleichen Situation einsetzen. ÇİDER ist nicht nur Türhüterin zivilgesellschaftlichen Engagements, der Verein leitet auch die lokal situierten Pfade zu techno-wissenschaftlichen Identitäts- und Erfahrungspolitiken. Zusammen mit den anderen vielfältigen Interessen, die den Kinderwunsch-Markt formen, mobilisieren sich durchaus neue Belange. Diese Nische und die darin zu beobachtenden Aktivitäten sind mit einem komplexen Gefüge von Wissen, Macht und Ökonomie der biosozialen und biomedizinischen Belange verwoben. Eine diesbezüglich bemerkenswerte Transformation beobachtete ich bei den öffentlichen Informationsveranstaltungen ÇİDERs, an denen ich über zwei Jahre teilgenommen habe. Im folgenden Teil möchte ich diese Informationsveranstaltungen analysieren, die eine wichtige Rolle in der Mitgestaltung des reproduktionsmedizinischen Feldes spielen.
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Inszenierung der IVF Die Organisation ÇİDER reist in Kooperation mit bestimmten, aber variierenden Privatkliniken seit ihrer Gründung in diverse Städte der Türkei und hält landesweit Tüp Bebek Seminare für aktuelle und potenzielle Patient*innen und Nutzer*innen. Für die Mitstreiter*innen-Szene sind die Veranstaltungen wesentliche Merkmale der Öffentlichkeitspraxen des Vereins. Durch ihren offiziellen Vereinsstatus erhalten sie auch Unterstützung von lokalen Stadtverwaltungen, die ein Interesse an der Bildung der Bevölkerung und allgemeinen Gesundheitsinformationen haben. Empirisch sind die Veranstaltungen relevant. Ihre Analyse zeigt, wie eine kleine Vertreter*innen-Gruppe an der Mit-Konstruktion des bewussten, aktiven und konsumeristischen Patient*innenbilds mitwirkt. Was folgt, ist ein ‚Schnappschuss‘ der spezifischen Doppelrolle ÇİDERs als Wissens- und Vertragsvermittlerin. Meine Beschreibung ist eine idealtypische Darstellung unterschiedlicher Informationsveranstaltungen in unterschiedlichen Städten in der westlichen Marmararegion (in unterschiedlichen Stadtteilen von Istanbul, Izmit und Çorlu) und in der Schwarzmeerregion (in den Städten Giresun und Ordu). Sämtliche Veranstaltungen sind gleich aufgebaut und verlaufen nach einem einheitlichen Schema. Die inhaltlichen Unterschiede und Differenzen basieren ausschließlich auf den interaktiven Situationen. Ich werde daher nicht immer explizit den Ort der Beobachtung kenntlich machen, außer wenn es inhaltlich von Bedeutung ist. Überall in den Städten hängen Banner und Plakate, in den Bürgerämtern und Verwaltungseinrichtungen liegen Flyer der Veranstaltung aus. Die lokalen Medien werden eingeschaltet, im Radio oder Fernsehen laufen Werbedurchsagen, die über die Veranstaltung informieren. In der Regel fahren oder fliegen wir zusammen in den Veranstaltungsort, oft stellt die kooperierende Klinik ein Auto zur Verfügung. Vor Ort treffen wir zunächst die ehemaligen Klient*innen der Organisation oder falls diese eine aktive Rolle einnehmen, die lokalen Repräsentant*innen, die bereits im Vorfeld involviert sind. Dass die IVF-Zentren der Kliniken in Zusammenarbeit mit ÇİDER solche Informationsveranstaltungen organisieren, mindert einerseits den Informations- und Wissensressourcenmangel auf der regionalen Ebene und bietet den Adressat*innen eine zusätzliche Wissensquelle, neben den nationalen Presse und TV-Sendungen, die den neuen Entwicklungen im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren eine große und spezielle Aufmerksamkeit schenken. Zudem wird für einige Familien die Kostenlast dadurch minimiert, dass jeweils etwa zehn Teilnehmer*innen im Rahmen der Veranstaltungen kostengünstige Behandlungen als „IVF-Programm“ angeboten werden. Die Gewinner*innen dieser Werbeaktion werden durch „Lose“ während der Veranstaltung bestimmt. Viele Teilnehmer*innen betonen die Relevanz da-
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von, dass die Organisation Informationen, Wissen und Kliniken „bis zur Haustür herbeiholt“. Die Kliniken erweitern so ihren Markt und verbinden ihre marktstrategischen Motive mit den sozialen Obligationen. Viele Ärzt*innen begründen dies damit: „das Volk zu informieren und Bewusstsein zu schaffen“. Während der Veranstaltungen werden den Teilnehmer*innen die wichtigsten Informationen über die IVF-Klinik vermittelt. Mit Hilfe der Broschüren und Visitenkarten wird hier möglich, was außer in einem Aufklärungskontext unter den gesetzlichen Werbeeinschränkungen stehen würde. Alle Beteiligten bekräftigen, dass eine derartige Zusammenarbeit unter den regional höchst ungleichen sozio-ökonomischen Bedingungen ein „legitimer Deal“ sei. Es handele sich hierbei um eine „Win-Win-Situation“: Die Interessen der Non-profit-Gruppen werden mit den neuartigen „Dienstleistungen“ eines boomenden Marktes kombiniert. Während einer Veranstaltung sagte der vortragende Arzt zu mir: „Jeder hat etwas davon, aber am meisten die Menschen, die mit der sozialen und finanziellen Knappheit zu kämpfen haben“. In der Tat erzählten mir Frauen und Männer in mehreren Veranstaltungen, dass die soziale, informative und finanzielle Ressourcenknappheit sie zu einer Teilnahme motiviert habe. In den sozio-ökonomisch besser gestellten Regionen wie der Marmararegion und auch in den ländlich geprägten Städten der Schwarzmeerregion, kam ein Publikum zusammen, aus dem trotz der hohen Heterogenität häufig über die gleichen Themen, die ungleichmäßige Zugangsverteilung zu den Kliniken und den medizinischen Behandlungen sowie auch zu den zufriedenstellenden Informationen über die medizinischen Abläufe gesprochen wurde. Ich begegnete beispielsweise Frauen mit funktionellem Analphabetismus – mit minimalen Lese- und Schreibkenntnissen – und mit geringer Schulbildung, für die besonders herausfordernd zu sein scheint, das medizinische Wissen zu verstehen, ihre eigenen „scheiternden“ Kinderwunschwege und Körper in der medizinischen Sprache aufzufassen und auch Lösungen dafür zu finden. Viele meiner Gesprächspartner*innen klagten über den verunsichernden und oft konfligierenden Informationsfluss durch unterschiedliche Medien, wie den Fernseher – der für viele das primäre Informationsmittel darstellt. Diese Menschen waren sowohl informativ als auch emotional motiviert. Sie suchten einen Ort, an dem sie über die körperlichen und auch psycho-sozialen Erfahrungen reden konnten, den Mediziner*innen und dem Publikum Fragen stellen und über mögliche Antworten öffentlich diskutieren konnten. Charakteristisch für diese Veranstaltungen ist, dass sie einen Crashkurs zur Reproduktionsmedizin anbieten. Es werden allgemeine und explizite Informationen über (In-)Fertilität geteilt, wissenschaftliche Fakten erklärt und schließlich IVF/ICSI als Lösungswege präsentiert. In diesem Sinne wird die Fertilität unmittelbar mit der Fertilitätsmedizin und ihrem fachspezifischen Wissen sowie
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mit den technisch-medizinischen Lösungsangeboten in Zusammenhang gebracht. So können sie als „Orte für antizipatorische Sozialization“ (Thompson 2005: 130) verstanden werden. Inszeniert werden diese zur Informationsvermittlung, zur Lobby für Reproduktionstechnologien und zum Austausch unter den betroffenen Frauen und Männern. Es sind Orte, an denen die aktuellen und potenziellen Patient*innen in die sozio-technische Assemblage der Reproduktionsmedizin eintauchen. Sie werden nicht nur mit den medizinischen Praktiken, Erklärungsmodi und der Sprache vertraut gemacht, sondern auch in die sozio-psychischen, emotionalen und ökonomischen Herausforderungen eingeführt. Die Alltagssprache vermischt sich hier mit der Medizinsprache. Von allen Teilnehmer*innen wird erwartet, dass sie ein Informationsblatt ausfüllen. Dieses dient einer Art reproduktionsbiografischen ‚Anamnese‘. Alle vorhandenen diagnostischen und therapeutischen Details sollen hier geschildert werden. Hierzu wird ein Vokabular angeboten, welches ihnen ermöglicht, über ihren Körper und einen möglichen sozio-technischen Weg zum ersehnten Kind sprechen, schreiben und denken zu können. Da von einer variierenden Erkenntnisspanne ausgegangen wird, modifizieren die Mediziner*innen die Wissensvermittlung selektiv. Diese Events geben auch den Ehemaligen eine Bühne. Sie können hier auftreten und von ihren „gelebten Wunder-Geschichten“ erzählen, von den strapazierenden „Kämpfen ums ersehnte Kind“ berichten und auch davon, was sie aus diesen Erfahrungen über sich selbst, die psycho-sozialen und körperlichen Dimensionen der Betroffenheit, die Ehe- und Familienbeziehungen sowie über eine Gesellschaft, in der Unfruchtbarkeit „einer Horrorvorstellung“ gleichkommt, gelernt zu haben glauben. So wird über eine „gesellschaftliche Realität“ geklagt, wie bereits eingeführt, in der sich viele einmischen: „‚Herr Meinung und Frau Meinung (fikriye hanım ile fikri bey)‘, Menschen mit Meinung und ohne Wissen“ (siehe Abbildung 6). Mit diesen Versammlungen wird darauf abgezielt, ein „Bewusstsein zu bilden“ und ein „Gewahrsein (farkındalık)“ darüber zu schaffen, wie in den gesellschaftlichen Konfrontationen eine „Abwehr“ von Stigmatisierung und Eingriffen aus dem sozialen Umfeld gelingen kann. Da diese Stigmata durch andere eventuell dazu führen können, „die Hoffnung aufzugeben“. Hier wird stets auf eine Bedeutung der „Persistenz“, des „Durchhaltevermögens“ und der „Selbst-Disziplin“ rekurriert. Ein als richtig konnotiertes und anhaltendes „Hoffnungsmanagement“ (Franklin 1997: 158) wird nahelegt, welches die reproduktionsmedizinischen Behandlungen von den betroffenen Frauen und Paaren abverlangt. Die Ehemaligen treten als „lebende Beispiele“ für die verbreitete Erfolgsstory der IVF/ICSI-Technologien auf. Rhetorische Begriffe wie Wunder oder Glaube sind üblich, wenn die Gründerin Sibel Tuzcu ihre eigene Geschichte
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auf die Bühne bringt. Es sei etwas von beidem: „etwas Vertrauen an Willenskraft und etwas Wunder“. Unterschiedliche Logiken und Rhetoriken vermischen sich permanent in diesen Veranstaltungen. Jegliche Irritationen und Unsicherheiten zu IVF/ICSI werden aus dem Weg geräumt, so wie etwa die IVF-Koordinatorin einer Klinik unterwegs im Auto schildert: „Menschen brauchen klare Antworten und Einsichten: ja oder nein?“. Hier müsse man Vertrauen aufbauen und dieses mit technischem und medizinischem Wissen untermauern. Natur und Technik, Wissenschaft und Glaube, Psyche und Körper, Soziales und Biologisches gehen hier Hand in Hand. Abbildung 6: „Herr Meinung und Frau Meinung“
Quelle: Feldforschungsmaterial, Informationsveranstaltung 2010. Die vortragende Mitstreiterin erzählt über die psycho-sozialen Effekte der Kinderlosigkeit und der Behandlungsprozesse.
„Manchmal kann es sein, dass das medizinische Wissen der Ärzte nicht mehr ausreicht. Es könnte bei ihnen die unerklärbare Infertilität, unerklärbare Unfruchtbarkeit (kısırlık) beispielsweise diagnostiziert werden. In einem Moment aber könnte es sein, dass ihr Körper bereit dafür ist, Ihr Körper könnte sich vielleicht einigermaßen ausbalancieren und sie werden dann auf natürliche Weise schwanger. Oder er reagiert positiv auf eine Behandlung, der er [der Körper] unterzogen wurde. Deshalb verlieren Sie niemals die Hoffnung.“
Allerdings beschränkt sich alles ausschließlich auf die klassischen, konventionellen Behandlungsmethoden für Ehefrau-und-Ehemann. Die Darstellung folgt ex-
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klusiv der paarweisen, (hetero)normativen Choreografie, das heißt, weder von Eizell- und Samenspende noch von Kinderwünschen von Singles, Unverheirateten und in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Lebenden ist hier die Rede, sondern von Ehepartnern: Ehefrau und Ehemann. Informationen über die kontrovers diskutierten Methoden zur „Donation“ werden nicht öffentlich, sondern – wenn überhaupt – eher unbemerkt „hinter den Kulissen“ und „in Zweiergesprächen“ weitergegeben. Auch werden kaum separate thematische Sessions angeboten, die sich beispielsweise ausschließlich mit männlicher Infertilität aus medizinischer Sicht und mit männlichen Infertilitäts- und Behandlungserfahrungen aus selbsthelferischer Sicht auseinandersetzen. Abbildung 7: Verlauf einer IVF-Behandlung
Quelle: Feldforschungsmaterial, Informationsveranstaltung 2011
Eine wesentliche Funktion der Praxis von Informations- und Wissensvermittlung ist eine visuelle Sprache und ein Verständnis von In-vitro-Behandlungen zu schaffen. Mit unzähligen Grafiken, Abbildungen und Laborbildern wird der medizinische Denkstil über den reproduktiven Körper der Frauen und der Männer im Labor-Kontext nähergebracht. Das übliche ICSI-Bild, auf dem die Eizellwand durch eine Pipette zerstochen und ein Spermium in das Zytoplasma eingespritzt wird, repräsentiert in diesen Veranstaltungen „das normale“ Verfahren. Diese Repräsentation entspricht der routinierten Praxis in den Kliniken. Diese wird durch diverse visuell und verbal dargestellte Bilder von reproduktiven und hormonellen Funktionsstörungen (Verstopfung bei Fallop-Tuben, Myome, En-
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dometriosis, Varikosele und TESE-Operationen bei den Männern) erweitert und der labortechnische Vorgang greifbar gemacht. Der Reproduktionsprozess wird als ein Ganzes, aber eben gerade als ein medizinisch zu lösendes Problem dargestellt. Die Präsentationen der IVF-Kliniken komplementieren dieses Bild. Sie werden etwa als „modernste“ und „höchsttechnologisierte“ Labore mit „neuesten Geräten und Präparaten“ dargestellt, die die „beste Praxis“ und „höchste Erfolgsrate“ für einen Gesundheitsdienst „wissenschaftlich und labortechnisch auf gleicher Ebene mit den Weltstandards“ anbieten können. Die individuellen Biografien und Erfolgsgeschichten werden in den Aufklärungskontext und den professionellen Ethos der Mediziner*innen integriert. Sie selbst erklären die „medizinische Geschichte“ für sich, wie sie es erlebt haben, reden über „wissenschaftliche Fakten“ und informieren die anderen durch ihre Erfahrungen. Sie berichten über ihre individuell-familiären Probleme, Umgangsweisen, „mit der Hoffnung anderen zu helfen, die das gleiche Problem erleben“. Sie schöpfen auch Hoffnung in der lebenswichtigen Krise, wie viele mir zu verstehen gaben. Vieles wird über die individuellen und intimen Sinn- und Erfahrungsbereiche ihres Lebens zur Sprache gebracht. Einige legen unmittelbar nahe, wie man*frau sich als Patient*in, Partner*in und Angehörige zu verhalten hat. Sie sind Vorbilder, die keine öffentliche „Scheu und Scham“ empfinden, wenn sie über die Schwäche und Problemlage ihrer reproduktiven Identität erzählen. Die Ehemaligen, die den Erfolg und ihr Glück mithilfe von IVF/ICSI gefunden haben, präsentieren sich als „lebende Beispiele“. Sie sorgen für eine hoch emotionale Atmosphäre. Eine Teilnehmerin kam beispielsweise mit ihren „mühsam erzeugten und wohlverdienten Tüp-Bebek-Drillingen“, die als „Beweis für den Erfolg“ auch mit auf die Bühne kamen. Sie erzählte, sie sei mit der Diagnose „zusammengebrochen“, dies sei für sie überhaupt „das Schwierigste auf der Welt“ gewesen: „Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch. Ich sagte mir immer: ,was soll’s. Wenn du kein Kind bekommst – ich werde es sowieso – aber höchstens, wenn nicht, dann probiere ich Tüp Bebek.‘ Dass ich nicht mal eine Chance dazu hätte, dachte ich kaum. Es gibt Millionen Spermien und Männer, und auf mich trifft es zu, sagte ich, und wir haben nicht mal die Chance, Tüp Bebek zu probieren. Dann habe ich Sie [den Arzt] gefunden. Und die Möglichkeit, dass ich ein Kind bekommen kann, hat mich glücklich gemacht. Daraufhin kam das volle Programm, das wir alle kennen, Schritt-für-Schritt von der Eizellenentnahme bis zur Geburt war alles schwierig. Drei Embryonen wurden transferiert, eins hat gehalten; dann erfuhren wir, dass sie dreigeteilt sind. Wir erlebten ein Wunder nach dem anderen. Aus dem Grund möchte ich hier den Freunden sagen: Lassen sie sich niemals
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frustrieren [...] Ich habe das Negativste durchgemacht, was es gibt. Ein Professor, Experte sagte mir, dass ich kein Kind haben werde. Nun habe ich drei Engel im Schulalter.“
Mögen die Drillinge auch als „Mehrlingsschwangerschaften“3 gesellschaftliche, medizinische und bioethische Kontroversen über die assistierenden Reproduktionstechnologien auslösen und auch als ein „unerwünschtes Resultat der medizinischen Intervention“, also als vermeidbar gelten, werden sie im Kontext der Informationsveranstaltungen nicht so gesehen – im Gegenteil: Sie sind unmittelbar ein Teil des Erfolgsdiskurses. Obwohl für Mütter und Ungeborene hochproblematisch, werden sie als „Wunder“ zelebriert, nach dem Motto: „Statt einem [bekommt frau] gleich drei.“ In diesen Veranstaltungen tritt eine pragmatische, „konsumeristische Mélange“ (Georges 2008: 276) hervor, die sich in den neoliberalen Gesundheitsregimen und auch in den boomenden Kinderwunschmärkten durchsetzt (Spar 2006). Die Reproduktionstechnologien sind als „eine abweichende Assistenz“ beim unerfüllten Kinderwunsch in den Reproduktionswegen integriert, bei denen die Adressat*innen aufgefordert sind, sich bewusst konsumeristisch und selbst aktiv zu organisieren sowie zu lernen, mit dem „Hoffnungsgeschäft“ wachsam umzugehen. In einer Gesellschaft, in der Deutungen von und Umgangsweisen mit reproduktiver Wissenschaft und Medizin, Biotechnologien und Expert*innenwissen äußerst heterogen sind, sprechen sie die Alltagserfahrungen, Diskurse, Praktiken und den common sense der Individuen, besonders derjenigen, die in ihren singulären reproduktionsbiografischen Erfahrungen ein Potenzial für gesellschaftspolitische Transformationen sehen, an. Im Speziellen machen sie sich die techno-wissenschaftlichen und biomedizinischen Erklärungsmuster und Termini, Expert*innenwissen und Wissenspraktiken im Management dessen zunutze, was sie als „Schicksalsschlag“ und „Kinderwunschkämpfe“ bezeichnen. Diese werden simultan zu einem gemeinsam auszuhandelnden, geteilten biosozialen Problem gemacht. Die Analyse in den vorherigen Kapiteln der Arbeit machte deutlich, wie sich die Allianz zwischen den Selbsthilfegruppen und den Lobbyverbänden innerhalb des Behandlungsregimes selbst und andere mobilisiert und insofern auch (immer) an den kulturell, sozial und gesellschaftlich situierten Erfahrungszusammenhängen reproduktiver Biografien reibt. Das folgende Kapitel geht einen 3
In den zahlreichen Fachkongressen, an denen ich seit Oktober 2008 bis 2010 teilnahm, war die Regulierung des Embryotransfers ein zentrales Thema der Tagesordnung. Oft wurden die Mehrlingsschwangerschaften als „unerwünschte Resultate“ der Behandlungen gerahmt und über die Vorbeugungsmaßnahmen diskutiert. Auch die staatliche Richtlinie wurde während meiner Forschung in dieser Hinsicht modifiziert und besonders beim Embryotransfer wurde eine als restriktiv empfundene und weitgehend kritisierte „Ein-Embryo-Politik“ durchgesetzt.
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Schritt weiter in der ethnografischen Beschreibung re-konfigurierender Mitwirkung der Aktivist*innen-Szene und nimmt die grenzüberschreitenden Vernetzungs- und Vermittlungspraktiken innerhalb globaler Netzwerke unter die Lupe. Zu betonen ist hierbei, dass diese „eine Handvoll Menschen“ weder unvoreingenommene und unschuldige Betroffene und Patient*innen sind, noch Gruppen wie ÇİDER bloß eine Sozialbewegung bildet, die nur altruistische und gegenseitige Unterstützung um den Kinderwunsch herum bietet. In den bisher analysierten Grenzverschiebungen wurde die Vielschichtigkeit solcher Gruppenbildungen deutlich. Sie sind Teil einer „komplexen biopolitischen Assemblage“, wie Nguyen die HIV-bezogenen Gruppen betitelt, die globale und lokale Technologien vieler Art, Diskurse, Wissensformen und Aktionen „zusammenflickt“ (2005: 125). Im Falle von ÇİDER verbindet diese Assemblage unterschiedliche Akteur*innen zu einer heterogenen Allianz für Lobbyaktivitäten und damit rekonfiguriert sie die paternalistischen und neoliberalen Gesundheits- und Behandlungsregime in der Türkei und darüber hinaus. Sie führt außerdem individuellfamiliäre Lebens- und Erfahrungsbereiche in die Öffentlichkeit und zielt darauf ab, in die Diskurse sowie in die bio-subpolitischen Geschehnisse einzugreifen. Zu diesem Zweck bringt sie die kommerziellen und nicht-kommerziellen Akteur*innen zusammen, etwa Kliniken, Pharmaindustrie, IVF-Ärzt*innen, aber auch Psycholog*innen, Jurist*innen oder Journalist*innen. Eine derartige Vernetzungsarbeit ist nicht unabhängig von der neoliberalen Politik zu denken. Im Gegenteil, sie fußt auf die in den letzten Jahren sehr rasch voranschreitende Kommerzialisierung der Reproduktionsmedizin.
6.2 GLOBALES WISSEN – (G)LOKALER AKTIVISMUS: ENGAGEMENT MIT GLOBALEM – MACHEN IM NATIONALEN Ethnografiert man Wissenspraktiken und -formen in der globalen Welt, im Sinne Marcus’ „den Akteuren folgen“, so kann die Ethnografin einer gewissen multisitedness nicht entgehen. Global sites schleichen sich dort gewöhnlich mit ein. Trotz der single-sitedness meiner Forschung war das Globale in diversen Formen „im Feld“. Da ich aber ausschließlich partikulare Kontexte und/oder Effekte globaler Biotechnologien als Untersuchungsgegenstand gewählt habe, stellte die globale Dimension den analytischen Hintergrund dar. Obwohl ich nicht explizit globalen Verbindungen folgte, „kamen“ sie – im wahrsten Sinne des Wortes – in mein Feld. Im Februar 2010 organisierte die globale Dachorganisation International Consumer Support for Infertility (iCSi) unter der Gastgeberschaft von
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ÇİDER ihr reguläres Treffen in Istanbul. Das iCSi ist ein globales Informationsnetzwerk nationaler und lokaler Selbsthilfegruppen, in dem ÇİDER seit seiner Gründung als Vertreterin türkischer Betroffenengruppen aktiv mit involviert ist. Somit war dies ein relevantes Event für die Organisation, das neben Anerkennung, öffentlicher Geltung und Prestige auch Bewegung in die Aktivist*innen-Szene brachte. Seit Monaten liefen die Vorbereitungen, der Verein ÇİDER mobilisierte zusammen mit iCSi und diversen Akteur*innen wie die Pharmaindustrie, Privatkliniken, Ärzt*innen, Politiker*innen und Journalist*innen. Ich betrachtete die Tagung als eine gute Möglichkeit, in die globalen Strukturen des Aktivismus hineinzublicken. Dabei beobachtete ich eine gelungene Performanz einer global aktivistischen Landschaft in den Umfeldern der Reproduktionsmedizin, die ich hier festhalten möchte. Es ist eine Landschaft, die zugleich global und lokal agiert, also „glokal“. 4 Ich werde eine partikulare Form des Patient*innennetzwerkes beschreiben, die innerhalb der globalen „repro-scapes“5 einflussreicher wird. Hier agieren sie subaktivistisch – was ich in Kapitel 1.3 ausgehend von Ulrich Becks Gegenwartsdiagnose als eine Form „subpolitischer Gesellschaftsgestaltung“ diskutiert habe. Diese entsteht gerade in Umfeldern und Kontaktzonen der Reproduktionsmedizin, in denen das Globale und das Lokale/Nationale – damit auch das ‚Universale‘ und das ‚Authentische‘ – in einer spezifischen Art und Weise zusammentreffen. Diese Gestaltung der Gesellschaft ist nicht passive Nebenfolge einer reproduktiven Globalisierung, sondern Resultat aktiver Wissensarbeit und reflexiver Praktiken. Die ethnografische Vignette in diesem Teil versucht zu schildern, was passiert, wenn kulturell situierte Wissenspfade und politisch-aktivistische Kulturen, die durch historisch spezifische 4
5
In der Globalisierungsforschung wird auf eine Hybridisierung und simultane Produktion von Globalität und Lokalität hingewiesen. Der Begriff „glokal“ geht auf den kanadischen Soziologen Roland Robertson (1995) zurück, der diese Art von Ineinandergreifen und Simultanität kreativ zum Ausdruck brachte (Knecht 2010). In den Feldern von biosozialen Gruppen und Sozialbewegungen kommt dies eindeutig in Schwung, besonders aufgrund des Internets und des steigenden Drucks, globale und lokale Politiken zu globalen Problemlagen zu entwickeln (für eine empirische Studie auf der europäischen Ebene siehe Rabeharisoa/O’Donovan 2013). Dieser Terminus basiert auf der Konzeptualisierung der entstehenden transnationalen Verflechtungen im Bereich der Reproduktionstechnologien aus dem Projekt „Verwandtschafts-Kulturen“. In Anlehnung an Arjun Appadurais Konzept von „scapes“ (siehe Fußnote 11, Kapitel 1) haben sich unterschiedliche Auffassungen von Verflechtungen und Konstellationen im globalen Raum der Reproduktionstechnologien etabliert. Mit trivialen Nuancen wurde dieser Raum unterschiedlich benannt, beispielsweise von Sven Bergman (2012) „reproductive scapes“, von Marcia Inhorn (2012a) „reproscapes“ und von Michi Knecht, Maren Heibges und Stefan Beck (Knecht et al. 2012) als „transnational scapes“ (Knecht 2011). Alle bezeichnen die Zirkulation von Akteur*innen, Technologien, Wertvorstellungen und Materialitäten (einschließlich biologischer Substanzen).
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diskursive und politische Regime jeweiliger Kontexte konstruiert sind, aufeinander stoßen. Welche Formen biosozialer Allianz und affektiver Solidarität – und damit auch aus ihnen hervorgehenden aktivistisch-advokatorische Wissenspfade – spielen auf der globalen Ebene im Machen zivilgesellschaftlichen IVF-Kontexts eine Rolle? Hier führe ich die bereits detailliert beschriebene Rahmung der national-lokal situierten (Selbst-)Bemächtigungsproblematik und ebenso die Selbstpositionierung der Advokator*innen einen Schritt weiter und analysiere die partikularen Modi des Engagements, die über das Nationale und Kulturelle hinausgehen und ebenso deren Protagonist*innen, die darüber hinweg agieren. Zudem entstehen diese Engagementsformen durch eine globale Mobilisierung lokal-kulturell situierter Wissenswege, Praktiken, Erfahrungen mit IVF und genauso lokal situierter Praktiken und Konzepte der „advocacy“, Befürwortung und Aktivismus aus diversen lokalen Kontexten. Es geht um die Wissenspraktiken und Mobilisierungsformen, die zur simultanen Mitgestaltung von beidem, nationalem und globalem Raum reproduktionspolitischer Gegenwart beisteuern. Das ermöglicht mir in diesem letzten Kapitel, der Falle des methodologischen Nationalismus zu entgehen. Zusätzlich geht es mir darum, die Transformationen in den Vordergrund zu stellen, die nicht notwendigerweise in den makro und institutionellen Kontexten und in der nationalstaatlichen bzw. (dominanten) transnationalen Politikgestaltung emergieren, sondern in der Rekonstruktion und Rekonfiguration von öffentlichen Sphären, Zivilgesellschaft und Politiken. Zunächst werde ich den Dachverband iCSi und seine globale Vernetzung vorstellen, um im Anschluss mein gesammeltes Material aus dem zweitägigen Treffen zu analysieren. iCSi ist ein transnationales Informationsnetz und eine Interessenvertretungsgruppe.6 Im Jahr 1999 wurde es durch die Initiative von einflussreichen Gruppen, wie ACCESS in Australien und RESOLVE in den USA, ins Leben gerufen. Seitdem engagiert sich die Organisation für effektive soziale Intervention in den biomedizinischen und reproduktionspolitischen Deutungs- und Handlungszusammenhängen reproduktiver Gesundheit. Die Initiator*innengruppe spielte darin eine Schlüsselrolle, „common interests and concerns“ der bereits existierenden Patient*innen-Nutzer*innenmobilisierung durch einen globalen Austausch in einen Dialog zu bringen und dadurch auch neu zu markieren. Zum Zeitpunkt 6
Diese weist viele Ähnlichkeiten mit den sozialen Formen auf, die in der Literatur als „transnational advocacy networks“ (Keck/Sikkink 1999) und „Grassroots“-Mobilisierungen von Politiken, Diskursen, Normen, Objekten (Appadurai 2000) analysiert wurden. An meinem Fallbeispiel sind es nicht „von unten“ selbstorganisierte Netzwerke, sondern ein Informationsnetz von Vertreter*innen. Was hier typisch zu sein scheint, ist die Exklusivität und ein kaum als demokratisch gewählt beschreibbarer Mechanismus der Interessenvertretung.
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meiner Feldforschung waren 41 Gruppen innerhalb dieses Netzwerkes engagiert, um effektive (nationale wie globale) „patient advocacy“ für „access to reproductive health care“ und für ein „right to ART“ voranzutreiben. Darunter werden Strategien für Interventionen aufgefasst, die diversen „barriers to infertility treatment“ entgegenwirken (können), Interventionen, die finanziell, infrastrukturell, technisch und sozial bessere biomedizinische Fertilitätsbehandlungen ermöglichen sowie gleiche Verteilung in Behandlungsweisen und -optionen anstreben (Dill 2002, 2007). Zu diesem Zweck bringt iCSi Organisationen aus wohlfahrtstaatlichen Ländern Europas und Nordamerikas, Australiens sowie asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern und Ländern des Mittleren Ostens zusammen.7 Das Netzwerk besteht aus den Protagonist*innen mit Selbsterfahrung und ihren reproduktiven Biografien und aus Akteur*innen, die in ihren jeweiligen Ländern Selbsthilfegruppen initiiert und sich für „Rechte“, Probleme und Anliegen von Betroffenen eingesetzt haben. Zu dem Zeitpunkt bestand der Vorstand aus Repräsentant*innen der Organisationen aus Australien, Deutschland und Argentinien, die als nicht demokratisch gewählte „patient leaders“ und Expert*innen agieren. Das erklärte Ziel sei die Vermittlung von Perspektiven, Erfahrungen und Wissen von Konsument*innen reproduktiver Technologien und Betroffenen an die allgemeine und interessierte Öffentlichkeit. In den letzten Jahren engagieren sie sich dafür in Netzwerken und Organisationen von medizinischen Expert*innen, wie ESHRE (European Society of Human Reproduction and Embryology), um die Wissenspolitiken und Expert*innenkulturen mitzubestimmen. Bei der Istanbuler Tagung wird etwa die produktive Kraft und Wissensmacht der Organisationen unterstrichen. Es geht nicht nur darum, den diskursiven Raum mitzugestalten, sondern auch mitzubestimmen, was und wessen „concerns“ und Interessen „matter“, wessen Wissen, Erfahrung und Perspektive zählt, wenn die Netzwerke von Reproduktionsmediziner*innen die technischen, politischen, ethischen und medizinischen Debatten und Dilemmata aushandeln oder zu globalen Reproduktionstechnologien und den mit ihnen einhergehenden 7
Die Liste der Mitgliedorganisationen ist unter www.icsicommunity.org öffentlich zugänglich. Organisationen aus west- und nordeuropäischen Ländern (Großbritannien, Deutschland, Schweden, Norwegen, Irland, Island, Finnland, Dänemark, Österreich, Frankreich) aber auch süd- und osteuropäischen Ländern (Italien, Griechenland, Spanien, Bulgarien, Ungarn, Ukraine, Tschechien); aus Afrika, wo reproduktive Technologien erst in wenigen Ländern zugänglich sind (wobei zwischen 2003 und 2009 deren Anzahl von 3 auf 9 stieg), nationale Gruppen aus Zimbabwe, Kenya, Uganda und Nigeria; aus dem asiatisch-pazifischen Raum aus Japan, China, Südkorea, Australien und Neuseeland; aus lateinamerikanischen Ländern etwa aus Mexiko, Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien und aus dem Mittleren Osten sind etwa Organisationen aus Israel, Bangladesch und Indien vertreten. In vielen Ländern existieren mehrere regionale, thematisch ausdifferenzierte Gruppen (spezifische Themen: männliche Infertilität, Eizellen- und Samenspende), die in iCSi engagiert sind.
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(nationalen und transnationalen) Problemen Wissen produzieren. Als Ziel annonciert die Organisation ein „Ethical partnerships“-Modell zwischen zivilgesellschaftlichen, staatlichen und kommerziellen Akteuren (Mediziner*innen und ihrer zivilgesellschaftlichen, global vernetzten Organisationen, Regierungen, Pharmaindustrie und Kliniken sowie Medien) (Dill 2007) (siehe Abbildung 8). Abbildung 8: „Ethical Partnership“ zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Märkten
Quelle: Aus dem Vortrag von Sandra Dill, leitende Mitstreiterin von iCSi
Eine globale Lobbyarbeit zugunsten einer Anerkennung biosozialer Problemlagen der Betroffenen und des Patient*innen-Empowerments wird durch iCSi betrieben. Sandra Dill, Mitgründerin von ACCESS und aktuelle Vorsitzende von iCSi, schildert dies in einem Artikel folgendermaßen: „Governments worldwide have been reluctant to acknowledge that infertility is a disability or medical condition. In most countries infertility treatment is viewed as an elective procedure and therefore not worthy of reimbursement. [...] The challenge for consumers of infertility services is to persuade governments that infertility is a medical disability which causes suffering and as such is worthy of inclusion in their national health plan. This is one of the objectives of the International Consumer Support for Infertility (iCSi), which brings patient leaders together to discuss common interests and concerns.“ (Dill 2007: 148).
Eine derartige Gruppe, die global vernetzt ist, reibt sich also besonders an den Barrieren in „infertility health care“. Die gemeinsamen Interessen und politischen Forderungen werden bei den Netzwerktreffen formuliert und diskutiert. So auch während meiner Forschung. Unter dem Titel „Transforming Sacred Cows: Managing Taboos & Barriers“ fand ein Treffen in Istanbul statt. Das globale Netzwerk und die darin vertretenen nationalen Gruppen zielen darauf ab, die
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Bedürfnisse der betroffenen Personen und deren Situation öffentlich sichtbar zu machen, edukative Prozesse zu fördern, um Barrieren abzubauen und sie partizipieren in den ethischen und regulationspolitischen Fragen, um die Patient*innen/Konsument*innenperspektive zu mobilisieren (Dill 2002, Sembuya 2010, Thorn/Dill 2010). Mehr als zwanzig Selbsthilfegruppen und advokatorische Gruppen aus europäischen, lateinamerikanischen, afrikanischen, asiatisch-pazifischen Ländern und dem Mittleren Osten kamen in Istanbul zusammen. Zwei Tage lang berieten sie über Grenzen und Barrieren beim Zugang zu Reproduktionstechnologien und diskutierten über die nationalstaatlichen und globalen Politiken und Ansprüche auf reproduktive Selbstbestimmung, die in diesem Kontext in eine „choice“-Rhetorik übersetzt wird. Das Recht auf Reproduktion und auf Behandlungen jeglicher Art kursiert als freie und individuelle Wahl der Frauen und Männer als Konsument*innen. Im Mittelpunkt standen die ethischen, politischen, gesellschaftlichen und religiösen Dilemmata und „concerns“ der IVF-Technologien und unterschiedlich situierte und erfahrene biosoziale Problemlagen der Infertilität. Die Teilnehmer*innen berichteten über die nationalstaatliche IVF-Nutzung, die damit zusammenhängenden Problemlagen, Entwicklungen und Veränderungen in der Politikgestaltung und den Regulationen. Es sind diejenigen Akteur*innen, die sich – ähnlich wie Sibel und andere – als „lay experts“ und „patient leaders“ im Bereich reproduktiver Medizin bezeichnen. Sie beanspruchten als globale „Stimmen(geber)“ von ungewollt Kinderlosen und globalen Konsument*innen zu agieren und an kulturellen und sozialen Tabus und regulativ-ethisch, politisch und technologisch geprägten Barrieren entlang eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Vokabular zu generieren. Sozial-politische Fragen der Infertilität und regulativ-moralische Streitpunkte reproduktiver Technologien sind nationalstaatlich und lokal-kulturell unterschiedlich gerahmt, dennoch unterscheiden sie sich kaum in ihrem effektiven Potenzial, individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhängen und Konditionen. Bioethische und praxispolitische Fragen der Eizell- und Samenspende, „cross-border reproductive care“ und die damit einhergehenden Mobilitäten und Pluralismen wurden unter die Lupe genommen. Vertreten waren unterschiedliche Positionen. „Sacred cows“ betrafen besonders die umstrittenen und kontrovers diskutierten Problemfelder der Biotechnologien und Behandlungen. Mir gegenüber wurde geäußert, diese zu entziffern, darauf ziele die Tagung ab und ebenso ihre lokale und globale Diversität und Komplexität in die Diskussion zu stellen. Hierbei gab es zwei praktische Ziele: erstens einen internationalen Informations- und Wissensaustausch zwischen den Aktivist*innen und Laienexpert*innen zu etablieren, um dadurch ein lokal wie global durchsetzbares
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„patient empowerment“ im Handlungsfeld ungewollter Kinderlosigkeit und biomedizinischer Infertilitätsbehandlungen zu stärken, und zweitens Lösungsvorschläge und Strategien für die Politikgestaltung zu formulieren. Gerade aufgrund der Vielfältigkeit der Themen und (Problem-)Felder diente die Versammlung in erster Linie dazu, unterschiedliche Erfahrungszusammenhänge, Belange und Interessen, mit denen ein Aktivismus (auf unterschiedlichste Weise) konfrontiert oder in ihnen aktiv engagiert ist, in einen kosmopolitischen Lernraum zu übertragen. Ausgehandelt werden auch die Teilhabemöglichkeiten in der epistemischen Expert*innencommunity, in Staatspolitiken und Gesellschafts- wie Machtstrukturen. In vielen Ländern, die in iCSi repräsentiert sind, sind eingeschränkte und fehlende staatliche Förderung und Zugangseinschränkungen in den reproduktiven Behandlungsoptionen aufgrund der staatlich-regulativen Rahmen zentrale Themen. Außer in Australien und Israel werden beispielsweise die Behandlungskosten nur begrenzt durch Versicherungsträger refinanziert und sind durch medizinische und krankenversicherungspolitische Ausschlusskriterien nur für bestimmte Gruppen der Population zugänglich. Die australische Organisation ACCESS und die türkische Organisation ÇİDER, um nur einige zu nennen, trugen mit zur (erweiterten) Staatsförderung bei, indem sie mit Staats- und Industrieakteur*innen kooperierten und verhandelten. In anderen Ländern fehlt allerdings jeglicher staatlich politischer Wille zur Inklusion biomedizinischer Behandlungsoptionen, weil die Infertilität durch unterschiedliche Argumente als private Angelegenheit des individuell-familiären Kinderwunsches eingeordnet wird. Unterschiede zeigen sich auch in den nationalstaatlichen Regulationen und Gesetzgebungen der Nutzungspraktiken der konventionellen, homologen IVFICSI-Technologien, aber auch in der Regulierung von als „unkonventionell“ und „kontrovers“ betrachteten Praktiken von Eizell- und Samenspende, PGD, Leihmutterschaft oder des Zugangs für homosexuelle Paare und alleinstehende Personen. Hierbei setzen sich die Gruppen besonders in westlichen Kontexten, aber auch in Ländern wie Israel, wo IVF-Behandlungen durch Eizellenspende durchgeführt werden, für eine Entstigmatisierung der Individuen und Familien ein. Die Personen mit ähnlicher Erfahrung und Gruppen übernehmen eine „Anwaltsfunktion“ (Thorn 2008) in der gesellschaftlichen Transformation sowie in der Rechtsprechung für eine Regulationsänderung (besonders in Bezug auf Regelungen der Behandlungsoptionen, klinischer und gesetzlicher Anonymitätsregelungen etc.). Eine ähnliche Rhetorik wie ÇİDER nutzen viele in ihrer Selbstdarstellung als Person und als Organisation, denn auch sie agieren als „bridge“ zwischen diversen Akteure. Unterschiede liegen besonders in den ökonomischen und (wohlfahrt-)staatlichen Strukturen und Problemlagen und darin, wie jeweils
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die Reichweite von Wissensvermittler*in zu Broker-Rolle eingegrenzt wird. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle sich mit den ethisch-moralischen, politisch-staatlichen, individuellen wie gesellschaftlichen Problemfeldern biomedizinischer Behandlungsregime auseinandersetzen, die, wie auch die aktivistischen Repertoires und Vorstellungen, variieren. Die Diskussionen während der Istanbuler Tagung zeigten gerade, dass es keine einseitigen Antworten auf die gegenwärtig global kontrovers diskutierten bzw. neu auftauchenden, bioethischen und biopolitischen Fragen gibt. Besonders dann nicht, wenn die Gesetzlagen und Moralitäten in Bezug auf die Verwirklichung des Kinderwunsches und auf deren Folgen unterschiedlich reagieren und somit noch weitere Probleme konstituieren. So existiert beispielsweise in der Türkei keine Diskussion über ein „Recht auf Wissen“ über genetische Abstammung nach einer Drittspende und auch kaum über die Anonymität in der Durchführung der grenzüberschreitenden Familienund Kinderwunschprojekte von Frauen und Männern in und aus der Türkei. Eine globale Akkumulation von Wissen und Perspektiven wird gefördert. Petra Thorn, Mitgründerin der deutschen Organisation WUNSCHKIND e. V. und Vorstandsmitglied von iCSi, beschrieb mir und meinen Forschungskolleg*innen in einem Gespräch in Berlin mehrere Aspekte dieser Praktiken folgendermaßen: „Ich glaube, dass dieser europäische, internationale Austausch natürlich dazu führt, dass man voneinander lernt, dass man sehr viel besser informiert ist und Informationen bedeuten einfach auch ein Stück weit Macht, was man so auch besser umsetzen kann im eigenen Land. Das ist ja auch erklärtes Ziel von iCSi, Betroffene zu ermächtigen durch Austausch, durch Fortbildung und sie dazu zu befähigen das Thema in ihrem Land voranzubringen.“8
Dieses Wissensmilieu besteht aus Pionier*innen und Pfadfinder*innen aus städtischen Mittelschichtsverhältnissen, mit universitärem Bildungshintergrund und/ oder mit Berufskarrieren, die Erfahrungswissen und Erfahrungsexpertise mitbringen. Alle ohne Ausnahme bauten sich nach jahrelangen Erfahrungen mit IVF-Technologien und Kinderlosigkeit eine selbst kreierte Laufbahn vom Patient*innen- zum Aktivist*innendasein und schließlich zum Expert*innen-sein durch Erfahrung auf. Es sind also neue Expert*innenfiguren im reproduktiven Raum. Wie Thorn in Istanbul ausdrückt, haben einige „mehrere Hüte in der Tasche“, die ihnen eine Laufbahn von der Selbstbetroffenheit zur Professionalität als studierte Kinderwunschberater*innen, Forscher*innen und Wissensproduzen-
8
Dieses Gespräch wurde circa ein halbes Jahr nach der Istanbuler Tagung von iCSi als ein Expert*inneninterview im Rahmen von „Verwandtschaft-Kulturen“ geführt [Werkstattgespräch, 22.09.2010 in Berlin].
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t*innen ermöglicht haben.9 Sie überbrücken das Ehrenamtliche, Persönliche und Fachliche, damit destabilisieren sie auch die Grenzen zwischen Laien und Betroffenen einerseits und Professionellen andererseits. Dass ein infertiler Zustand in lokale soziale Erfahrungswelten eingebettet und gerade deshalb plural und multidimensional ist, wird in der Versammlung anerkannt. Dennoch besteht eine Tendenz dazu, die erlebte Infertilität und das, was emotionaler und sozialer Erfahrung des infertilen Daseins zugeschrieben wird, universal zu behandeln. Vor diesem Hintergrund wurden unterschiedliche Dimensionen von (selbst-)stigmatisierten und biosozialen Problemlagen der Infertilität als „interconnected“ Probleme behandelt. Alle Protagonist*innen aus sogenannten westlichen oder nicht-westlichen Ländern reden über normative gesellschaftliche Werte und gesellschaftliche Normativität, womit ein gewisser sozialer Druck auf Individuen einhergeht. Universal geltende Referenzen (wie „experience of infertility“, „stigma“ „patients“, „consumers“, „rights to ART“) lassen einen diskursiven Korpus entstehen. Es sind Vokabulare, die flexibel genug sind, völlig unterschiedliche Verständnisse und moralische Rahmungen aufzufassen. Dass sie in ihren (Be-)Deutungen multipel sind, ist ihnen inhärent. Zur Sprache kam, dass die Stigmatisierungserfahrungen in den stark pronatalistischen und traditionellen Gesellschaften und Regionen der Welt kaum vergleichbar mit Erfahrungen der urbanen Mittelschicht und den globalen „Eliten“ in individualisierten Industrieländern sind. In ihrem Vortrag berichtete Rita Sembuya, die Gründerin von Joyce Fertility Support Centre Uganda, von den Erfahrungen in Uganda und unterstrich pauschalisierend, dass Infertilität in afrikanischen Ländern auf der gesundheitspolitischen Ebene weiterhin „unattended“ blieb. Im Kontrast zu „priority diseases“ wie beispielsweise AIDS/HIV würden keine lösungsorientierten Politiken dazu entwickelt. Dahinter stehen anti-natalistische Politiken, die allerdings kaum etwas an dem gesellschaftlichen und sozialen Druck auf Frauen und Paare infolge der Kinderlosigkeit und Infertilität ändern würden. Infertilität werde auf gesellschaftlicher Ebene häufig als „a result of evil deeds“ angesehen. Weiter berichtet sie, was ich hier leicht editiert aus meinen Feldnotizen zitiere: „There are complex psychological and social dimensions to the problem. Couples who cannot conceive face a poignant, and sometimes unbearable, social stigma. The culture of 9
Meine Kollegin Maren Klotz (2014) analysiert beispielsweise in Deutschland und in Großbritannien die neuen Expert*innenfiguren im Bereich der donogenen Insemination, die sich aus dem Patient*innensektor heraus etablieren. Ein Beispiel dafür sind die Erfahrungsexpert*innen, die während der Istanbuler Tagung präsentiert worden sind. Diese engagieren sich in der Wissensproduktion und -vermittlung, z.B. in der Verfassung von Rat- und Selbsthilfebüchern (Rawlings/Looi 2006).
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silence and shame surrounding what is essentially a medical problem, means that affected couples often have no one to confide in or seek help from – not family members, doctors, or other childless couples. With no support, they suffer in isolation, and many are unaware that treatment may be available to help them conceive. Women bear the worst of the blame: fertility is seen as their gift and male-factor infertility is largely unknown.“
Jenseits der kulturellen und sozialen Komponente eines „lack of concern“ tragen auch die strukturellen Bedingungen des Gesundheitssystems (beispielsweise die Knappheit medizinischer Fachkräfte, fehlende Technologien und ökonomischbedingter Interessen) zu dieser Situation bei. Darüber hinaus spielt auch eine historisch tief verwurzelte „top-down culture of medical care“ eine große Rolle, wogegen eine Patient*inneninitiative sich mobilisieren müsse. In Uganda waren die potenziellen Konsument*innen zusammen mit iCSi als Pionier*innen an der Herstellung einer medizinischen Fachgesellschaft beteiligt. Auch Sibel Tuzcu geht in ihrem Vortrag darauf ein, wie lokale und nationalstaatliche Umstände sowohl die reproduktionsbiografischen als auch aktivistisch-advokatorischen Strategien der Betroffenen in der Türkei beeinflussen. Die kulturellen Bedingungen seien hierbei enorm einflussreich. Sie weist besonders auf die kontrovers diskutierten, für die Türkei unkonventionellen und verbotenen Techniken (wie Drittspende) hin. Sie markiert die sogennante „donor ART“ als eine religiöse Tabuzone und stellt die Herausforderungen dar: Eine Eizellen- und Samenspende wird mit „a sin like to perform adultery and interrupting the blood line“ gleichgesetzt. Die Relevanz eines global-lokalen Repertoires des Aktivismus und Engagement auf seitens der Patient*innen unterstreicht sie bei der Mitwirkung in den lokalen Behandlungs- und Reproduktionsregimen. Die Organisation und auch sie persönlich agieren in diesem Punkt als Übersetzer*innen von global zirkulierenden Diskursen und als Stimmengeber*in türkischer Betroffenen im globalen und nationalen Kontext. Solche Momente kreierten ein Klima des permanenten kontextuellen Vergleichens. „Kultursensibles“ Interesse am Anderen (an lokalen IVF-Praktiken, kulturellen Orientierungsweisen, dem biotechnologischmedizinischen Umfeld sowie nationalen Regulationen und Gesetzlagen geformt durch unterschiedlich motivierte Regulationsprinzipien in den jeweiligen Kontexten) traf auf „global-sensible“ Orientierung an dem Gemeinsamen. Selbst wenn die globale Mitwirkung als Priorität gesetzt wird, ging es für viele Partizipierende in erster Linie um die Einflussnahme in den lokalen, nationalstaatlichen Rahmungen. Dementsprechend wurde auch oft die Anerkennung kulturellmoralischer Diversität sowie ethisch-moralischer und politischer Komplexität in Bezug auf die zu behandelnden Themen betont.
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Abbildung 9: Präsentationen während der iCSi Tagung
Quelle: Feldmaterial. Links: Die argentinische Organisation CONCEBİR Rechts: die türkische Organisation ÇİDER
Im Großen und Ganzen mobilisiert dieses globale Netzwerk, das sich als „bunt“ und „vielfältig“ versteht, eine lobbyistische Kinderwunsch-Politik. In Bezug auf reproduktive Rechte und Selbstbestimmung in den Reproduktionsbiografien wird eine moralisierende und auch individualistische Perspektive auf die reproduktiven Entscheidungen, Wissensstrategien und Wege zum ersehnten Wunschkind entworfen. Sie setzen sich mit Fragen rund ums Kinderhaben mit Hilfe der In-Vitro-Verfahren auseinander und packen diese grundsätzlich in eine global umstrittene Sprache der individualistischen, befürworteten Zugangsrechte zu allen verfügbaren Reproduktionstechnologien und -behandlungen. Sandra Dill, Mitinitiatorin und eine der aktivsten Netzwerker*innen, betont, dass jede Organisation „unique“ ist, doch „iCSi is a family“, so ergänzt es in dem gleichen Gespräch die Vorsitzende der italienischen Organisation. Die iCSI biete auch den partikularen Zuständen einen Raum. Wessen Stimmen unter welchen Umständen Gehör finden und vertreten werden, ist umstritten. Vordergründig scheinen jedoch die körperlichen und psycho-sozialen Erfahrungen sowie die ökonomischen Verhältnisse im Kontext der Infertilität. Es sind nämlich diejenigen Akteur*innen, die ich als multiple Übersetzer*innen und Wissensbroker bezeichnen möchte, die darüber die Macht beanspruchen, zwischen den national(staatlichen) und globalen Diskursräumen zu vermitteln, über die gesellschaftlichen Wahrheiten und Realitäten zu urteilen sowie für solch ein globales Wissensmilieu die kulturell wie biopolitischen Relevanzen zu benennen. Sie sind weder demokratisch gewählt noch erheben sie den Anspruch, objektives und universal gültiges Wissen zu produzieren oder Handlungsmöglichkeiten zu diktieren. Sie vermitteln die global zirkulierenden Diskurse zu reproduktiven Körpern, Problemlagen und Rechten in die nationalen Aushandlungen mit In-Vitro. Umgekehrt übertragen sie das Wissen aus den lokalen IVF-Welten und kulturellen bzw. kontextuel-
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len Zuständen in das globale Informationsnetz der Kinderwunschökonomien. Diese spezifischen Patient*innen, die leaders, präsentieren sich somit als „Kenner*innen“ und „Expert*innen“ von partikularen Umständen und Erfahrungswelten. Bei derartigen Treffen, an denen ich teilnahm, ging es um die aktivistischen Herausforderungen und darum, wie diese für die künftigen Projekte jeweiliger Organisationen produktiv und fruchtbar gemacht werden können. Eine global übergreifende Politik und Befürwortung gibt es nicht, weil diese vor allem auf der nationalen Ebene geltend zu machen sind. Obgleich diese aktivistische Szene sich darauf konzentriert, übertragbare Aktionsprogramme zu entwerfen und „Toolkit“ für Lobby-, Befürwortungs- und Bemächtigungspolitiken für die ungewollt Kinderlosen und Konsument*innenrechte zur Verfügung zu stellen, wird argumentiert: „All patient associations are unique – as are the circumstances, legal requirements and cultural environments in which they operate.“ Anstatt der simplen Eins-zu-Eins-Implementierung globaler Empowermentpolitiken werden diese von meinen Gesprächspartner*innen in der Türkei beliebig gebeugt und mit den lokalen und nationalen „Gegebenheiten“ abgestimmt. So sei auch dieses globale Netzwerk als ein Raum für Pluralität und Partikularität verstehbar. Die Frage ist, wie die ethischen und moralischen Diskussionen in die biopolitischen und regulativen Regulationsprozesse übersetzt bzw. hineingetragen werden können. Das „Eigene“ durch die globale Brille sehen Wenn die globalen Belange auf die lokalen „Realitäten“ treffen, so türkische Partizipierende der Tagung, entstehen Reibungen. Diese werden im Moment der Übersetzung produziert und sind für solche globalen Austauschräume konstitutiv. Unterschiedliche IVF-Welten begegnen sich hier in flexibler Form, die gleichzeitig Raum für partikulare Lebenswelten – d. h. subjektive und kollektive Partikularitäten, kulturelle und regulative Logiken, individuelle Bemächtigungskämpfe etc. – zulässt. Und doch, vielleicht gerade deshalb, gibt es eine artikulierte Hoffnung vom aktivistischen und globalen Wissenskorpus des Netzwerks zu profitieren und in ihrer Sprache das „voneinander Lernen“ in einem globalen Kontext mitzugestalten. Auf der nationalen Ebene bringt eine derartige Vernetzung, die seit der Gründung kontinuierlich besteht, Prestige und Anerkennung für ÇİDER. Folglich mündet diese in eine Einflussnahme in den nationalen Diskussionsräumen und auch im höchst kompetitiven Kinderwunschmarkt. Für ÇİDER folgt daraus ein moralischer, ethischer und politischer „Rückhalt“, der es ihnen ermöglicht, ihre Interessen und Lobbypolitiken durchzusetzen. Die Zugehörigkeit zu einer global vernetzten Aktivist*innen-Szene wie iCSi und andere
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fertilitätspolitische Lobbygruppen steuert zum Sonderstatus bei, um den sie sich gerade in ihrer doppelten Rolle als „Wissens- und Vertragsvermittlerin“ bemüht. Die global politischen und ethischen Orientierungen einer Zivilgesellschaft werden in diesem Bereich nach wie vor als wichtig erachtet. Auch ihre Strategien der „ethischen Partnerschaft“ mit den institutionellen und kommerziellen Akteur*innen verhilft ÇİDER’s Vertreter*innen bei ihrer eigenen Positionssuche, die im Verlauf meiner Forschung von ihnen selbst als auch von anderen sehr kontrovers diskutiert wurde. Bei den umstrittenen Fragen und öffentlichen Diskussionen werden besonders die Argumentationslinien, wie moralische und politische Sichtweisen aus der globalen Landschaft der Aktivist*innen relevant. ÇİDER nutzt gezielt und dezidiert die Diskurse und Praktiken dieses global vernetzten Netzwerks, um ihren „Platz“ zu legitimieren. Hinzu kommt der Anspruch, die türkischen Frauen und Paare politisch zu stärken bzw. zu empowern. Für die Türkei, ein Land, in dem die Nutzung konventioneller IVF/ICSITechnologien weitgehend sozial und gesellschaftlich akzeptiert ist, jedoch gleichzeitig moralisch-sozialen, politischen und ökonomischen Barrieren neuer Aushandlungen unterliegt, messen meine Interviewpartner*innen dem „Wissenstransfer“ eine besondere Bedeutung bei. Seitens der ausländischen Organisationen gebe es Interesse „an einem muslimischen Land wie der Türkei“. Als eine der ersten Organisationen aus den muslimisch geprägten Ländern versuche ÇİDER seit ihrer Gründung dieses Interesse und den Wissensbedarf zu stillen. Ein Mithalten mit den westlichen und europäischen Aktivismuskulturen sei nicht so einfach, so Sibel Tuzcu und Kader Şimşek in einem Fazit-Gespräch nach einer intensiven zweitägigen Netzwerkversammlung: „Man ist mit unterschiedlichen Realitäten konfrontiert. Uns stehen unterschiedliche Mittel zur Verfügung, verglichen mit den anderen, europäischen Vereinen.“ Gerade dies habe sie zu einem „kritischen Nachdenken“ über die gesellschaftlichen Bedingungen für Aktivismus und auch über die Eigenposition im höchst heterogenen Sektor des Kinderwunschs bewegt. Damit ist eine Kontextgebundenheit zivilgesellschaftlicher Praktiken (ihre Steuerungskraft, Effizienz und Wirkmächtigkeit) gemeint. Durch den Austausch im globalen Netzwerk werde ihr „Horizont“ erweitert, erläutern die beiden Frauen, und dass sie „trotz der sprachlichen Barrieren“ viel lernen und zum globalen Informationsnetzwerk beitragen. Während der zwei Tage und auch im Vorfeld beeinflussten die sprachlichen Einschränkungen den gewünschten Wissenstransfer. Auch ich musste ab und an – zusammen mit der anwesenden Vertreterin eines türkischglobalen Pharmaunternehmens – als Dolmetscherin fungieren. Für mich als Forscherin und auch für Sibel und Kader gab diese Tagung einen Anlass dafür, die lokalen Umstände, Handlungs- und Aktivismuskulturen zu überdenken. „Wie
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ein Spiegel auf uns selbst gerichtet“, so beschreibt die Mitstreiterin Kader Şimşek die Relevanz des internationalen Austausches: „Information über andere Länder [zu bekommen,] hat eine kritische Schlüsselrolle für uns. Wir erweitern uns und unsere Möglichkeiten dadurch, auch für andere Organisationen gilt das.“ Aus der globalen Heterogenität und Diversität werden Wissen, Ansprüche und Ansichten geschöpft, ohne die nationalstaatlichen und kulturellen Unterschiede außer Acht zu lassen. Es geht um eine Addition, eine ergänzende Wissens- und Informationspraxis, welche die Patient*innenmobilisierung im Land „stärkt“. Dennoch wird auch häufig auf die Unterschiede hingewiesen. In einem Interview schilderte Sibel, kulturelle und soziale „Gegebenheiten“, „Handlungsund Sichtweisen“ und sozio-ökonomische „Bedingungen“ im Land würden das zivilgesellschaftliche Engagement und seine Grenzen formen und determinieren. Zwingend sei es, die Form(ation) des Aktivismus möglichst an die gesellschaftlichen Sensibilitäten, Handlungsgewohnheiten und sozialen wie ökonomischen Ressourcen „anzupassen“: „Auf die Straße zu gehen beispielsweise, wie ja die [argentinische Selbsthilfegruppe] CONCEBIR10 vorgestellt hat, ist in der Türkei beinahe undenkbar, oder bestimmte Themen öffentlich zu machen. Wir machen das Beste daraus, was man für machbar hält. Dabei gibt es natürlich Unterschiede zwischen denen [europäisch-transnationalen] und uns.“
In der Regel hat das eine politische und strategische Relevanz in der Mitbestimmung von Praktiken, Politiken und Diskursen der IVF-Regulation. Zusätzlich ermöglicht es, in den biopolitischen und bioethischen Debatten die nationale Patient*innenperspektive mit der transnationalen Patient*innenperspektive zu verknüpfen. Die dargestellte Tagung in Istanbul prägte später meine Feldforschung. In Gesprächen mit den Mitstreiter*innen und auch den unterstützenden Mediziner*innen wurde oft darauf Bezug genommen. Im Verlauf meiner Forschung beobachtete ich besonders in der Entwicklung von öffentlichen Aktionen und Statements ÇİDERs sowie auch in von ihr initiierten Verhandlungen mit den staatlichen Akteur*innen über Regulationsprinzipien und -änderungen eine sichtbare Veränderung. Das Gelernte aus anderen Politik- und Aktivismuskulturen wurde stärker in die Rhetoriken, Wissenspraktiken und schließlich Aktionen eingebaut. Dennoch, die globalen Diskurse, Logiken und Rhetoriken sind insofern wichtig, als sie für die nationalstaatlichen Debatten in der Türkei zunutze gemacht werden können bzw. auf diese übertragbar sind. Es geht also nicht um eine simple Adaptierung globaler Konzepte, Ideen und aktivistischer Repertoires. Eher argumentiert die Mitstreiter*innengruppe: „[Es ist] für unsere Ent10 Siehe Abbildung 9.
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wicklung ziemlich wichtig, dass wir mit ihnen [den internationalen Organisationen] kooperieren. Mein Fuß muss aber hier sein, wegen der Werte und so in der Türkei, daher sind wir auf allen Seiten dabei.“ Sie thematisieren unterschiedliche kulturelle Wertesysteme, Rechts- und Moralvorstellungen zu Reproduktion, Familie und Techniknutzung, aber insbesondere unterschiedlich geprägte Staatlichkeiten, die den zivilgesellschaftlichen Handlungsbereich mit prägen. In solch einem moralisch aufgeladenen Problemfeld wird daher oftmals auf die globalen Hierarchien und Asymmetrien hingewiesen. Reflektiert wird einerseits über kulturelle Deutungsmuster, politische und bioethische Regulationsmodi, symbolisch-moralische Werte und Wertvorstellungen, die auf die aktivistischen Machbarkeiten bzw. Grenzen Einfluss nehmen. Andererseits setzen sie sich damit auseinander, wessen Belange – dadurch auch Wissen, Expertise, Deutungs- und Handlungsweisen – in der Mitkonstruktion nationalen und globalen reproduktiven Raumes zählen. In diesem Sinne formen sie ihre eigene diskursive und aktivistische Strategie und formulieren Ansprüche, Anforderungen und Aktionsprogramme an den Staat und an die jeweiligen Regierungen. Es geht primär um die Be-Deutung von reproduktionsmedizinischen Technologien und um ihre (kulturell) akzeptable und mögliche Anwendungsweise. Oft stellen meine Gesprächspartner*innen die „Machbarkeiten“ in den Vordergrund. Diese umfassen unmittelbar die kulturell lokalen Normen, die die heterosexuelle und -normative sowie die nationalsensible Basis bei der Nutzung dieser Technologien zur Erzeugung von Familien und Kindern unterstreichen. Seitens vieler Akteur*innen, wie bereits dargestellt (siehe Kapitel 1 und 2), besteht ein Interesse daran, mal ausgesprochen mal unausgesprochen, den gegenwärtigen Zustand der Rechtslage, Regulation und Staatskontrolle aufrechtzuerhalten. Es ist u.a. als eine Response auf die „moral pluralism in motion“ (Pennings 2002) in der Gegenwart, zu verstehen, der zur Mobilisierung von unterschiedlichsten Moralitäten, Logiken und Prinzipien in der Rahmung und Regulierung von Biotechnologien und -medizin zurückzuführen ist. Dieser Response wird von unterschiedlichen national aktiven Gruppierungen als eine Herausforderung betrachtet, wobei sie diese in Verhandlungen mit ihrer Regierung gezielt nutzen. Der moralische Pluralismus, der oft als eine Bedrohung für die nationalen Moralitäten markiert wird, produziert nicht nur Ängste, sondern prägt auch die politischen Artikulationen von Problemen, mit denen Menschen auf einem globalen Feld der Reproduktionsmedizin konfrontiert sind. Das heißt, die unterschiedlichen moralischen Standpunkte von Individuen, Paaren und Gruppen in diesem Feld unterstützen zwar die politischen Anforderungen dieser Aktivist*innen-Szene. Die engagierten Personen vertreten in vielen Kontroversen auch eine liberale Meinung und setzen sich für die individuellen und familiären
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Selbstbestimmungsrechte ein. Dennoch artikulieren viele von ihnen eine deutlich heteronormative Perspektive und eine moralische Haltung in Bezug auf die gesellschaftspolitischen Effekte der Reproduktionstechnologien. In diesem letzten empirischen Kapitel habe ich zum einen die Wissensarbeit der peripher, aber auch kontrovers situierten Akteure analysiert und zum anderen die Allianzen, die innerhalb der Versuchsanordnung der Reproduktionsmedizin entstehen (für eine Diskussion siehe Kapitel 1.2). Gezeigt wurden unterschiedliche Dimensionen, wie im Schnittfeld von Märkten, Medizin, Biografien und Aktivismus neue Rechtsansprüche und Handlungsmöglichkeiten in Bewegung gesetzt werden. Die Praktiken, die ich beobachtet habe, stehen für noch unstabile, flüchtige und umstrittene Engagement- und Aktivismus-Modi. Die damit einhergehenden Veränderungen im Feld der Reproduktionsmedizin sind sowohl national als auch transnational; so sind auch ihre Effekte. Das Fallbeispiel im letzten Kapitel (6.2) hat vor allem gezeigt, wie im aktivistischen Bereich unterschiedliche politische Kulturen und biosoziale Handlungsräume aufeinandertreffen. An nationalstaatliche Kontexte sind diese Kulturen gekoppelt und in kulturelle Wissenspfade und Aktionskulturen eingebettet. Gerade diese Kopplung und Einbettung ist für die Schnittfelder konstitutiv, die ich, ausgehend vom Kontext der türkischen Reproduktionsmedizin und ihrer globalen Verflechtungen, in meiner Studie aufgezeichnet habe. Dargestellt habe ich in diesem Sinne, wie im globalen Raum des Aktivismus lokal situierte Wissensinhalte, Ideen, Erfahrungen und Ansprüche entstehen und auf lokale Situationen übertragen werden. Dadurch werden darüber hinaus globale, kollektive Sprache sowie Rhetoriken der Wahl und des Rechts formuliert. Diese implizieren und mobilisieren immer Machtkalküle und Auseinandersetzungen mit medizinischer Expert*innenmacht. Zusammengefasst, handelt es sich um neuartige und teils noch instabile Sozialbeziehungen und Aktivismuskulturen im nach wie vor umkämpften globalen Repro-Scape. Sie lassen sich auf die pragmatischen Allianzen mit den institutionellen und kommerziellen Kräften ein – wie mit der Pharmaindustrie und den Kliniken, die Tagungen und Aktivitäten wie in Istanbul mit finanzieren. Ihre Spielräume sind an die soziale, politische und ökonomische Ordnung gebunden. Ihre bio-subpolitischen Effekte sind zudem an den jeweiligen kontextuellen Problemfeldern der Reproduktionsmedizin geknüpft, welche ihre Klientelgruppe betreffen und sie so adressieren. Dies wiederum hat damit zu tun, was als Problemfeld jeweils definiert wird bzw. als solch eines publik gemacht werden kann. In den Ländern wie der Türkei sind der steigende institutionell-politische und gesellschaftliche Konservatismus sowie die zum Teil von anderen westlichen Kontexten unterschiedlich geprägten Bedingungen der individuell-familiären Privatsphäre zwischen Selbst- und Fremd-
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bestimmung relevante Faktoren. Die hier zu beobachtenden Praktiken illustrieren, um mit Michael Fischer zu sprechen, wie „the sciences are cultured and technologies are peopled with the face of the other“ (2009: x). Es sind die lokalen und nationalen Sensibilitäten, und politischen wie moralischen Ordnungen, die die Übersetzungen und Vermittlungen innerhalb des globalen Netzwerks und zwischen den globalen und (trans-)nationalen Aktivismuskontexten im globalen Repro-Scape prägen.
Schluss
Ethnografien nutzen Reproduktionstechnologien als eine Linse, um die Zusammenhänge gesellschaftlichen Wandels, biomedikalisierter Behandlungsregime und Ökonomien um den Kinderwunsch herum zu erfassen. Sie zeigen, wie in den lokal situierten Erfahrungswelten das globale und lokale Normengefüge und die Kodes der Reproduktion auf die intimsten Lebens- und Sinnbereiche der Frauen und Männer treffen, die diese Technologien als einen Weg zur Erfüllung ihres Wunsches nach einem (leiblichen) Kind nutzen. In meiner Studie bewege ich mich durch unterschiedliche Umfelder der türkischen Reproduktionsmedizin, um die Verschränkungen zwischen medizinischen Settings, sozio-politischen Prozessen und Reproduktionsbiografien zu erkunden. Ich analysiere, wie Protagonist*innen ihren Weg im komplexen Arrangement des biomedizinischen Kinder-Bekommens navigieren und ihre Reproduktionsbiografien managen. Diskutiert wird, was aus Handlungs- und Deutungsfeldern der Reproduktionsmedizin heraus in Bewegung gesetzt wird und wie die biomedizinischen und alltäglichen Settings miteinander verbunden werden. Dabei rückten aktivistische Praktiken in den Vordergrund sowie Gruppen, die sich im Umfeld der türkischen und global vernetzten Kinderwunschökonomien herausgebildet und zu den relevanten Akteure avanciert haben. Am Beispiel von ÇİDER, ein Selbsthilfezusammenschluss und Aktivist*innen-Netzwerk von ungewollt Kinderlosen und als infertil diagnostizierten Frauen und Männern, erforschte ich von 2008 bis 2013 die Zusammenhänge zwischen sozio-technischen und reproduktionsbiografischen Dimensionen in der gegenwärtigen Türkei. Ethnografie soll „nicht festhalten, ‚was der Fall ist‘, sondern verstehbar machen „für was etwas ein illuminativer Fall ist“ (2001: 437, [Herv. i. O.]), so der Soziologe Stefan Hirschauer. Dieser Gedanke strukturiert das Schlusskapitel. Entsprechend frage ich, was meine Fallstudie über technologisch assistierte Reproduktionsmedizin und den bio-subpolitischen Aktivismus ungewollt kinderloser Frauen und in einem geringeren Teil auch Männer, jenseits ihrer selbst er-
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zählt. Für welche erweiterten Fragestellungen und Zusammenhänge formuliert sie relevante Antworten und Interpretationsangebote? Entsprechend arbeite ich die koproduktiven Wechselwirkungen im Umfeld der türkischen und global vernetzten Kinderwunschökonomien heraus. Statt mich auf die diskursiven und narrativen Praktiken zu fokussieren, konzentriere ich mich auf die Wie-Fragen, unter anderem bezüglich der Wissens- und Deutungspraxen. Meine Arbeit zeigt auf, wie Frauen und Männer an ihren eigenen Körpern und psycho-sozialen Erfahrungen arbeiten, wie sie sich in den medizinischen und Selbsthilfe-Kontexten selbst und wechselseitig zu Wissenssubjekten, -vermittler*innen und Expert*innen-durch-Erfahrung machen. Auch wie sie sich selbst in diesem Feld als biosoziale Subjekte neu positionieren, indem sie nicht nur ihren eigenen biomedikalisierten Weg zum ersehnten Kind navigieren, sondern zugleich an Wissenswegen und der Herausbildung von neuen biosozialem Handeln und Aktivismus aktiv arbeiten. Dabei lag der Schwerpunkt meines Forschungsinteresses auf den Schnittfeldern und Verschränkungen von medizinischen Settings, soziopolitischen Prozessen, Alltagen und Erfahrungsumgebungen der Reproduktionsbiografien. Zur Politik der Kinderwunschökonomien In den empirischen Kapiteln habe ich unterschiedliche Dimensionen dessen dargelegt, was ich als eine komplexe und in transnationale Verflechtungen eingebettete, biopolitische Assemblage von institutionellen und sozio-technischen Arrangements, Politiken, Wissens- und Machtkonstellationen verstehe. Die Reproduktionsmedizin ist ein Schauplatz für die Kämpfe ko-existierender Ordnungs- und Wahrheitsprinzipien und Moralitäten. Diese wirken vielfältig auf die öffentlichen und medial vermittelten Patient*innenbilder, auf Vorstellungen von Körpern, Geschlechterbeziehungen wie Sexualität, individuellen Privatsphären und gesellschaftlichen Intimitäten. Dieses Feld ist außerdem durch „shifting power relations“ (Sawicki 1991) geprägt. Es kreuzen sich dort verschiedenste pronatalistische Interessen und die Ambivalenzen von Pathologisierungen und Normalisierungspraxen, die sich Optimierungsimperativen und Medikalisierung der Reproduktion zeigen. Im türkischen IVF-Markt zirkulieren, als Teil der globalen Kinderwunschökonomien, Bilder von Frauen und Männern, die sich zur Erfüllung des eigenen Kinderwunsches „übereifrig“ auf die Reproduktionsmedizin einlassen. Die neoliberalen Markt- und Gesundheitsstrukturen gehen Hand in Hand mit den neokonservativen und nationalistischen Belangen des „patriarchalen Pronatalismus“ (Gürtin 2016). Die reproduktions- und gesundheitspolitischen Fragen werden von der regierenden AKP als ein Machtwerkzeug genutzt, um die proislamistischen und konservativen Interessen durchzusetzen. Seit
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knapp zehn Jahren macht die Partei zwar ihren Anspruch auf autoritäre Macht im privaten, öffentlichen und politisch-juristischen Leben gerade in den Fragen der Regulierung der Sexualität, Reproduktion, Körper der Bürger*innen ganz willkürlich geltend. Die staatliche Machtausübung und Überwachung wird jedoch brüchig, wenn die zunehmend global verflochtenen Märkte auf die kontinuierlich ausgedehnten Grenzen des individuell wie gesellschaftlich moralisch Vertretbaren und Selbstbestimmungsansprüche stoßen. Eine wesentliche Rolle haben dabei die von mir aufgezeichneten Re-Konfigurationen zwischen Staat, Zivilgesellschaft, Bürger*innen und Märkten. In der Türkei brachten sie neue Aushandlungszonen mit hervor. Um diese zu erforschen, verschob ich den Blickwinkel von den medizinischen und individuell-biografischen Behandlungssettings zu den Schnittfeldern hin. In ihnen treffen moralische Ökonomien, medizinische Machbarkeitslogiken und familienpolitische Veränderungen aufeinander und haben vielfältige Auswirkungen auf alltägliche Erfahrungen der Frauen und Männer. In-Vitro-Technologien und ihre Erfolgsnarrative markieren immer wieder ein universal öffentliches Bild der Normalisierung. Foucault folgend, behauptet Sarah Franklin, IVF sei normal, weil sie ohnehin zu den Techniken der Normalisierung gehört (2013: 6). Dazu zählen ihr zufolge besonders die Selbsttechnologien, wie unter anderem die der Ehe, der Verwandtschaft und des Geschlechts, wissenschaftlichen Fortschritts und der Medizintechnologien, ebenso wie die der Konsumkultur, mit all ihren Alltagsdimensionen von TV-Serien bis hin zu Onlineplattformen. Für viele Protagonist*innen in meinem Feld stellt Reproduktionsmedizin einen völlig neuen Rahmen für die von ihnen angestrebte Biografie, zu der ein eigenes Kind dazu gehört. Der unerfüllte Kinderwunsch wird dabei zu einer Sache des Wissens- und Informationsmanagements, wo sie zugleich erlernen müssen, vieles zu managen: Zeit wie Geld, ihre Körper und Seelen, gesellschaftliche Erwartungen und Irritationen, Hoffnungen und Fehlschläge, medizinisches Wissen wie auch die öffentlichen Bilder. In der Türkei wuchsen die Behandlungsregime „der medikalisierten Hoffnung“ (Ullrich 2012) für die Zeugung von legitimen Familien und Kindern parallel zu den neoliberalen und neokonservativen Politiken. Wie ich gezeigt habe, sind die Verschränkungen von klinischen Behandlungslogiken, selektiv-patriarchalem Pronatalismus sowie neoliberalem Kinderwunsch-Markt konstitutive für die scheinbar schichtübergreifende Normalisierung. Dieser Markt der „literally embodied practices uses rhetorical feed stocks – habits, tropes, and narratives of self, family and nature that come with locally specific historical baggage of preexisting meanings and hierarchies and that is fed into new practices of differentiation and stratification, as well as empowerment.“ (Thompson 2005: 243)
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In meiner Studie zeigte ich, dass der Nexus zwischen Kinderwunschökonomien, Staat und Gesellschaft sich veränderte und zum Teil auch über die letzten Jahre neu konfigurierte. Die vielfältigen Verschränkungen zwischen den klinischen und aktivistischen Settings sind hier einflussreich. Daher kommen der Selbsthilfe, der Lobby- und der advokatorischen Wissensarbeit eine wichtige Scharnier- und Übersetzungsfunktion zu. Ab den 2000er Jahren waren sie als konstitutive Akteure aktiv und gestalten seither das Feld der Reproduktionsmedizin und die Behandlungsregime mit. ÇİDER, als die erste Vertreter*innengruppe von und für die ungewollt Kinderlosen, verschaffte sich selbst eine Machtund Handlungsnische. In ihrer Funktion ist sie vielgestaltig, besonders in der Mitgestaltung der Kinderwunschökonomien in der Türkei. Sie agiert als Wissens- und Vertragsvermittlerin zwischen den kommerziellen Akteuren, Medizinexpert*innen und zwischen aktuellen wie potentiellen Patient*innen/Klient*innen. Neben einer Pionierarbeit an Tabu-Bruch steuerte sie auch in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteuren – von Pharmaindustrie und Kliniken bis hin zu staatlich-regulativen Vertreter*innen – zur Marktförmigkeit dieser Technologien bei. Aktivismus, Selbstentwürfe und Transformation Sherry Ortner merkt mit Verweis auf Sahlin an: „Change comes about when traditional patterns of relations [...] are deployed in relation to novel phenomena [...] which do not respond to those strategies in traditional ways“ (1984: 155). Mit anderen Worten, Wandel entsteht dadurch, dass Menschen das anders ‚machen‘, was sie immer machen. Die sozio-technischen Wege zum ersehnten Kind zeigen unter anderem die individuellen Umgangsweisen mit ungewollter Kinderlosigkeit, der Infertilität und der damit einhergehenden körperlichen und soziopsychischen Erfahrungen. Die in dieser Arbeit dargestellten Wege sind nur teilweise typisch und sicherlich nicht unbedingt repräsentativ für die Wissenspraktiken aller betroffener Personen und Paare. Sie exemplifizieren gerade in der patriarchal-pronatalistischen, sozio-politisch wie regional heterogenen Gesellschaft wie der Türkei völlig neue Strategien des Wissens- und Selbstmanagements. Die von mir interviewten Frauen und Männer, überwiegend aus der städtischen Mittelschicht aber auch in geringerer Anzahl aus den ländlichen Regionen, engagieren sich in den nicht nur für die Türkei neuen aktivistischen Kontexten, online wie offline Wissens- und Austauschräumen. Sie bringen sich aktiv ein, in dem sie ihre intimsten und privatesten Anliegen mitteilen und ihre subjektiven Sichtweisen auf die Medizin vermitteln. Viele beziehen sich auf die Wissensformen und Rationalitäten, die dort im Umlauf sind, und bilden auch neue Sozialbeziehungen.
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Empirisch habe ich die Entstehung einer Erfahrungsgemeinschaft vernetzter Betroffener erkundet. Ich habe im Detail dargestellt, dass gerade durch die netzbasierten Interaktionen die örtlich verstreuten und losen Nutzer*innen von Reproduktionstechnologien und Kinderwünscher*innen, die sich als „Mit-Leidende“ verstehen, zusammenkommen. Via digitaler Vernetzungs- und Kommunikationstechnologien und Internet werden die erfahrungsbasierten und körperbezogenen Informationen und das Wissen sowie subjektive Sichtweisen auf Medizin vermittelt. Diese Sozial- und Wissensräume fördern, über die geografische und lokale Distanz und zeitliche Einschränkungen hinaus, neue Wissenswege und Engagement im Umgang mit Reproduktionsmedizin und Belange der Infertilität. Neue erfahrungsbasierte und biosoziale Sozialbeziehungen sind dadurch entstanden und wurden in biosoziale Zusammenschlüsse überführt. Diese sind nicht nur für die Türkei neue Phänomene. Sie wären zuvor aufgrund der Tabuisierung und Stigmatisierung kaum möglich gewesen. In unterschiedlichen Kontexten, in denen die Reproduktionsmedizin für Frauen und Männer mit den nötigen sozialen und finanziellen Ressourcen verfügbar ist, aber dennoch unter den gesellschaftlichen Umständen weiterhin stigmatisiert wird, bieten solche Zusammenschlüsse im Internet einen und meist den einzig verfügbaren Zufluchtsort aus den patriarchalen-pronatalistischen Zwängen und Normen an. In einer „doğurgan toplum (fertilen Gesellschaft)“, wie es einige Frauen formulierten, werden Infertilität und Kinderlosigkeit defizitär kodiert. Darüber hinaus setzt diese Gesellschaft die Maßstäbe und Normen zum Kinder-Haben und der Reproduktionsbiografien. In diesem Kontext scheint es für viele unmöglich, einen individuellen Weg zu gehen, bei dem sie „nicht die ganze Gesellschaft zwangsläufig mitschleppen müssen“. In den Erfahrungsgemeinschaften finden sie nicht nur Trost, sondern erproben auch verschiedene Strategien zur EntExzeptionalisierung ihrer nach wie vor stigmatisierten, aber dennoch öffentlich stark sichtbar gemachten Körper und Erfahrungen mit Infertilität und „Kämpfen“ für ein leibliches Kind. Primär lief dies über eine Teilhabe am Informationsfluss zwischen Medizin, Öffentlichkeit und Märkten in diesen Foren, in denen ich mit zeitlichen Abständen monatelang die Interaktionen beobachtete, um den Wandel von Selbsthilfe zu einer bio-subpolitischen Neuorientierung zu verstehen. Dort findet eine Wissensarbeit statt, die auf selbstorganisierte und eigenständige Wege zum Wissen basiert, und mit offenem und ungewissem Ausgang, durchaus für eine neuartige Form gegenseitigen Lernens steht. Anhand meiner Beobachtungen einer Gün-Gruppe, eine tradierte Form der Versammlung der (meist urbanen) Mittelschichtsfrauen, habe ich eine lokale Formation dessen analysiert. Die Frauen überführten diese Treffen in eine spezifische Erfahrungsgemeinschaft, um dort Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig im konservativen und prona-
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talistischen Erfahrungsraum einer Kleinstadt zu unterstützen. Dies demonstriert, wie die global zirkulierenden Ideen der Selbsthilfe und des Aktivismus gänzlich lokale Formen annehmen und sich durchaus von der individualistisch geprägten Orientierung der Selbsthilfe bezüglich Belange, die Körper, Gesundheit und Privatleben betreffen, unterscheiden. Es sind eigenständige Wege der „Solidarität füreinander“, um nicht nur das Selbst, sondern auch die Lebenswelten zu ändern, in denen Kinderlosigkeit als existenzielle Problemlage erfahren wird und Frauen und Paare sich verschiedensten Sozialzwängen sowie sozialen und finanziellen Ressourcenknappheiten stellen müssen. Diese Praktiken stehen für eine Ausweitung der Reproduktionsmedizin in die Mikro-Welten des Alltages. In den Gruppen tauschen sich Frauen und Männer über ihre als infertil diagnostizierten Körper und die als exzeptionell erlebten Wege zum ersehnten Kind aus. Hier werden auch psycho-soziale, politische und moralisch-ethnische Belange um die IVF/ICSI-Nutzung ausgehandelt. Dabei geht es um ein strategisches „Einbetten der Unfruchtbarkeit und der Behandlungsmethoden“ (Schaad 2009: 125) in einen weiteren Zusammenhang. Allerdings, so wurde klar, findet dabei keine völlige Verlagerung reproduktiver Erfahrungen aus den Nahwelten zu den Erfahrungsgemeinschaften statt. Im Gegenteil. Sie sind nach wie vor in den klinischen Behandlungssettings und dem sozialen Umfeld eingebettet, indem die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen verwoben und Reproduktionsbiografien eine Sache des Wissensund Informationsmanagements ist. Erzeugt wird eine flexible Form der Selbstnormalisierung. Diese geht mit Produktion und Konsum von spezifischen Erzählweisen der reproduktionsbiografischen Brüche und heroisch dargestellten Kämpfe einher. Die individuellen Erfahrungsnarrative, Kinderwunschwege und Bewältigungspraktiken formieren sich in ein neues Verhältnis zueinander. Sie fördern nämlich eine zum Teil unkontrollierbare Zirkulation von Informationen, Wissen und Erfahrungen, wobei die Intimitäten (mahremiyet) unter den anonymen, aber dennoch auf die Sichtbarmachung und „das sich selbst Erzählen“ ausgerichteten Strukturen der Internetforen situativ ausgehandelt werden. Es entwickelt sich eine digital mediatisierte Kultur entstand, die ich als eine Kultur der Mit-Teilung bezeichne. Dabei geht es um die Sichtbarmachung von sozio-psychischen und körperlichen Erfahrungen, Biografie und Selbst, Sehnsüchte und Emotionen. Durch die netzbasierte Kommunikation wird dezidiert eine Sprache generiert, die Erfahrungen und Ansprüche mobilisiert. Die Deutungsmuster und narrativen Konventionen werden wiederum erneut kanonisiert. Viele empirischen Vignetten zeigten die Effekte dieser Kultur auf die Wissensfragmentierung auf und diskutierten, welche reproduktionsbiografischen Selbstentwürfe entstehen, welche sichtbar und unsichtbar,
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mobil und immobil in der Mit-Gestaltung der Gesellschaft und den Behandlungsregimen gemacht werden. Feststeht, dass die Effekte derartig bindender Gruppen auch von unterschiedlichen Mitgliedern mit Vorsicht und manchmal ambivalent betrachtet werden. Sie werden für ihre Reproduktionsbiografien und dabei auch für die Unterstützung anderer Mitstreiter*innen proaktiv. Viele ihrer Narrative manifestieren allerdings, wie durch die Imperative der Selbstaktivierung neue Zwänge auf die individuellen Entscheidungen ausgeübt werden. Wichtiger noch ist, dass sie außerdem eine viel stärker und langfristige Verflochtenheit und Engagement der Frauen und Männer, der aktuellen wie potentiellen Nutzer*innen der IVF/ICSI-Technologien einhergehen. Pluralisierung der Wissenswege – Diversifizierung der Akteur*innen? Ausgehend von den Praktiken meiner Gesprächspartner*innen und ihrer Einträge in den netzbasierten Räumen habe ich ein Moment der Entstehung neuartiger Erfahrungspolitiken kenntlich gemacht. In der einschlägigen Literatur zum Gesundheitsbereich wurden damit teils antagonistische teils widersprüchliche Veränderungsprozesse aufgezeichnet. Die Selbsthilfegruppen und -bewegungen werden erwartungsvoll als „Korrektiv“ und als „vierte Säule“ (Trojan 2006) im Gesundheits- und Behandlungsregime akklamiert. Sie werden häufig von den unterschiedlichen Akteur*innen im medizinischen Bereich als „Seismographen für Mängel“ (Moeller 1996) betrachtet, die den Anspruch erheben, den strukturellen und professionellen Reduktionismen entgegenzuwirken und „handelnd etwas zu verändern“ (Trojan 2006: 87). Insbesondere in den gesundheitsbetreffenden Feldern wurde das kollektive Generieren und Teilen von erfahrungs- und körpernahen Informationen und praktischem Sachwissen als Teil eines epistemischen und biopolitischen Shift adressiert. Oftmals wird es positiv bewertet, dass sich die herkömmliche Patient*innenschaft ändert. Die Neu-Orientierung der Patient*innen wird als Beweis dafür verstanden, dass die neoliberalen und kompetitiven Gesundheits- und Fürsorgeregimen demokratisierende Wirkungen entfalten. Doch manchmal wird der „Mythos vom mündigen Patienten“ (Stollberg 2008) verpackt als eine*n selbstbestimmte*n, informierte*n, aktive*n und wählende*n Konsumenten*in. Aus der wissens- und medizinanthropologischen Perspektive geht es darüberhinaus um eine Neu-Aufteilung von Wissensproduktion, -vermittlung und Verantwortlichkeiten. Es handelt sich dabei um eine Teilnahme an der „Sozialisierung der Biomedizin“ (Burri/Dumit 2007), die bislang unterschiedliche Formen des Engagements hervorgebracht hat. Auf der Grundlage der wechselseitigen Verhältnisse zwischen Wissen(schaft) und Gesellschaft wurden unter anderem Sozialbewegungen unterschiedlichster Art untersucht – von Müt-
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tern behinderter Kinder, von Menschen mit HIV, genetisch-bedingten Krankheiten oder Behinderungen (Rapp 2000, Taussig et al. 2003, Biehl 2004). Diese Studien zeigen, wie diese Bewegungen an der Wissensproduktion und den Entscheidungsfindungen teilnehmen. Ich zeigte hingegen, dass dabei die bisher kaum als politisch markierten Themen als das Politische konstruiert werden. Dabei spielt der Einsatz von subjektiven, körperlichen und intimen Erfahrung(en) in der sozio-politischen Transformation eine signifikante Rolle. Auch neuartige Grenz(be)ziehungen gehen damit einher. Sie tragen zu den zirkulierenden Diskursen, Repertoires und Wissensformen bei. Neue Subjektpositionen und Engagementsformen werden erprobt, meistens mit einem (kontroversen) Anspruch den asymmetrischen und weitgehend kommerzialisierten Gesundheitssystemen entgegenzuwirken. Die Selbstexpertisierung, als „Wegweiser“, aufseiten der aktuellen und vormaligen Betroffenen beruht oft auf langwierigen Kinderwunschkarrieren. Dabei erodieren sie die Grenzen zwischen Politik und Wissenschaft, Medizin und Gesellschaft, Expert*innen und Laien und Patient*innen, Staat und Zivilgesellschaft. Vor diesem Hintergrund sehe ich ihre Relevanz nicht in der Markierung bzw. dem Ausgleich der Defizite des Gesundheitssystems. Vielmehr übernehmen sie eine additive Funktion und transformieren das Schnittfeld zwischen Medizin, Wissenschaft, Märkten und Sozialbewegungen (Epstein 2008, Akrich et al. 2013). Sie tragen zu einer „widerspenstigen Mélange“ (Buse/Walt 1997) von Selbststeuerung und Empowerment, Kommerzialisierung und Aktivismuskultur bei. In meiner Analyse zeichnete ich die symbiotischen Beziehungen und zum Teil kontrovers situierten Allianzen unterschiedlicher Akteure, Wissensformen und Interessen auf. Damit docken sie eindeutig an den neoliberalen Logiken der Selbstaktivierung an. Auch im türkischen Kontext richtet sich das Orientierungsund Navigationswissen nicht an den demokratisch zu organisierenden Strukturen, sondern an den kommerzialisierten Wissenswettbewerb. Die Mediator*innen wie ÇİDER stehen für die Diversifizierung der Akteure in der Wissensvermittlung. Zugleich befürworten sie die reflexive und individuelle SelbstAktivierung durch die Übernahme einer Verantwortung für eine Arbeit an Selbst-Empowerment. Der in dieser Arbeit analysierte Aktivismusmodus führt zu einer Diskreditierung des Nicht-Aktiven. Dadurch werden sowohl das Engagiertsein als auch eine mögliche „Verweigerung“ (Callon/Rabeharisoa 2004) begründet. Gerade die Selbsthilfe und die aktivistischen Gruppen entwerfen ein partikulares Verständnis von Handlungsfähigkeit. Gemessen wird diese überwiegend an der individuellen Mitarbeit für die körperliche und seelische Gesundheit, Verbesserung der Lebenssituation und für die Realisierung der individuellen Wünsche – wie die Erfüllung des Kinderwunsches mit Hilfe von Medi-
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zin und Technologien. Somit werden die Reproduktionswege an die neoliberalen Imperative und Diskurse angeknüpft, die von solchen Gruppen mobilisiert und mit Begriffen wie Partizipation, Empowerment/Selbstbemächtigung und Eigenverantwortlichkeit assoziiert werden (Bröckling et al. 2000).1 Das oben dargestellte Mit-Machen an der Formung des reproduktionsmedizinischen Raumes in der Türkei steht nicht für eine demokratisch zu verstehende Diversifizierung der Wissensakteur*innen. Eine Form davon habe ich in der Analyse der global-lokalen Verflechtungen dargestellt. Diese streckt sich über das Lokale und Nationale hinaus. Bei der Analyse des globalen Netzwerkes International Consumer Support for Infertility (iCSi) habe ich gezeigt, dass die Übersetzung und Wissensvermittlung heterogen, aber keinesfalls demokratisch oder systematisch verläuft. Es entstehen unterschiedliche Formen der Provinzialisierung globaler Akteur*innen und Kulturalisierung im transnationalen und globalen Repro-Scape. Reichweite des Bio-subpolitischen Der von mir untersuchte Aktivismus orientiert sich an den Rändern der biomedizinischen Kinderwunschökonomien und staatlichen Biopolitiken, die Macht über das Leben, Körper und auf die Selbst- und Familienentwürfe der Menschen in der Türkei beanspruchen. In den Aushandlungsprozessen und biopolitischen Spannungsfeldern situieren sich Akteure wie ÇİDER weniger als Wahrheitsproduzent denn als moralische Mobilisierer. Sie sind in der Mit-Konstruktion einer „concerned and unsettled public“ (Latour 2007: 816)2 beteiligt, die gerade im umkämpften Feld der „politics as usual“ – in diesem Falle der Reproduktion, Körperkonzepte sowie Familienmodelle – eine Art bio-subpolitischen Effekt ausüben. In Bezug auf Unfruchtbarkeit und sozio-technische Wege zum Kind sind neue Körper- und Selbstpraktiken entstanden. Die Be-Deutungswandlungen von 1
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Der Begriff Empowerment hat „eine deskriptive wie eine präskriptive Seite“, schreibt Ulrich Bröckling (2003: 323). Gerade diese Doppelbödigkeit macht ihn problematisch als ein Kollektivum für Selbstaktivierung in den Gegenwartsgesellschaften, der Ziel, Mittel, Prozess und Ergebnis in sich vereint. Der Begriff „betroffene Öffentlichkeit“ setzt keine kategorisch festgelegten Subjektund Machtpositionen – wie beispielsweise die Patient*innenposition – voraus. Es handelt sich primär um eine kontext-, thema- und problembezogene Öffentlichkeit, in der unterschiedlich situierte Wissens- und Handlungsformen, Erfahrungen, Inhalte und Belange zusammenkommen. Diese sind weder homogen noch stabil. Der Latour’schen Perspektive folgend bieten gerade solche Öffentlichkeitsformen den Belangen einen empirischen Zugang zu re-konfigurierten Macht- und Repräsentationsverhältnissen und ermöglichen einen tiefen Einblick, wie die Verhältnisse in den hochgradig komplexen Reproduktionsregimen gegenwärtiger Gesellschaften (wie der Türkei) re-konfiguriert werden.
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Tabu-Biografien zu einer analysierten biosozialen Normalisierung knüpfen an geschlechtsspezifischen, tradierten Wissens- und Umgangspraktiken mit reproduktionsgesundheitlichen Themen. Diese sind in der diskursiven Matrix der Normativität über Reproduktion, Mutterschaft und Vaterschaft, Familie und Gender – und auch dem vergeschlechtlichten „PatientIn-Sein“ – verankert. Meine Analyse der situierten Aushandlungen der Genderarbeit zeigte, wie das auf (In-)Fertilität bezogene und heterosexuelle „Mann-Sein“ und „Frau-Sein“ konstituiert und performiert werden. Die heteronormativen, repressiven und patriarchalen Gender-Ordnungen werden, so ist mein Argument, reproduziert. Es entstehen jedoch neue Spielräume für Aushandlungen. Ich konnte die Doppeldeutigkeit exemplarisch an den Praktiken der Männer und Männlichkeiten in einem nach wie vor als weiblich konnotierten Terrain der Reproduktion zeigen. Im Feld der Reproduktionsmedizin ist, so möchte ich abschließend betonen, ein Interessensgefüge zur Kontinuität heteronormativer Ordnungen am Werk. Reproduktionstechnologien werden in die Selbst- und Sozialtechnologien integriert, indem sie als zusätzliche Ressourcen und Werkzeuge für Wissens- und Umgangspraktiken gedeutet und genutzt werden. Unterschiedliche Probleme, Belange, Akteur*innen und Politiken werden zu einem normativen Bündel zusammengefügt. Die biologischen und biografischen Verläufe und Erfahrungsumstände agieren dabei als gesellschaftstransformierende Kräfte. An diesem Punkt lässt sich ein Unterschied zu dem feststellen, was Charis Thompson als eine Kombination aus biomedizinischen ART-Aktivismus und einer leicht geänderten, biomedikalisierten Form mütterlichen Aktivismus bezeichnete. In meiner Arbeit zeigte sich, dass die Praktiken weder nur den medizinischen Bereich adressieren noch sich auf die Mobilisierung weiblicher, auf (werdende) Mutterschaft bezogenen Erfahrungen beschränken. Eines meiner zentralen Argumente ist, dass eine Art bio-subpolitische Transformation um die Reproduktionstechnologien herum entsteht. Ich verortete Reproduktionstechnologien als Ausdrucksweisen von und Triebkraft für neuartige Selbst- und Sozialtechnologien. Dabei lassen sich durchaus neuartige Allianzbildungen und damit auch Bestrebungen von Vermittlungsarbeit feststellen. Diese verbinden globale Wissensräume mit lokalen Erfahrungen und tragen so zur Konstruktion einer neuen Form aktiver biosozialer Subjektivität und einer Kultur des Kinderwunschaktivismus bei. Unter den gegenwärtig voranschreitenden autoritären, proislamistischen Tendenzen gilt es, diese wiederum noch weiter zu analysieren. Die Aktivitäten der ungewollt Kinderlosen komplexisieren die normative Sozialordnung, indem sie die dominanten und normativen Reproduktionsnarrative und Familienmodelle herausfordern. Dabei wird die Reproduktionsbiografie als medizinisch zu lösendes Problem hergestellt. Dadurch transfor-
Schluss | 299
mieren sie sowohl die individuellen Umgangsstrategien als auch die kollektiven Ansprüche und geteilten Belange. Die analysierten Erfahrungspolitiken sind nach wie vor durch normativ pronatalistische und patriarchale Bedingungen von Medizin und Politik geprägt. Körper, Erfahrungen und auch moralisch kontrovers diskutierte Wege werden in das politische Feld eingeführt. Damit geht eine neue Sprache einher, die ungewollte Kinderlosigkeit und körperbezogene, subjektive Erfahrungen in Rechte und Ansprüche verwandelt. Diese manifestieren sich im Schnittfeld techno-wissenschaftlicher Kultur, lokaler Kämpfe, kultureller Komplexitäten und Alltagen.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Mapping eines Schnittfeldes | 73 Abbildung 2: „Geheimnisvolle, nun enthüllte Macht der Eizelle“ | 160 Abbildung 3: Qualität eines Spermiums | 168 Abbildung 4: Ausschnitt der Kinderwunschplattform | 201 Abbildung 5: „Probiere alle Lösungsmöglichkeiten, habe ein Kind“ | 251 Abbildung 6: „Herr Meinung und Frau Meinung“ | 268 Abbildung 7: Verlauf einer IVF-Behandlung | 269 Abbildung 8: „Ethical Partnership“ | 276 Abbildung 9: Präsentationen während der iCSi Tagung | 282
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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
Sabine Hark, Paula-Irene Villa
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Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4
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Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9
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