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German Pages 464 Year 2022
Udo Friedrich Wandel des Kulturellen – Wissen der Rhetorik – Wege der Metapher
Literatur | Theorie | Geschichte
Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten
Band 24
Udo Friedrich
Wandel des Kulturellen – Wissen der Rhetorik – Wege der Metapher
Ausgewählte Aufsätze Herausgegeben von Andreas Hammer, Michael Schwarzbach-Dobson und Christiane Witthöft
ISBN 978-3-11-076431-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077234-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077242-5 ISSN 2363-7978 Library of Congress Control Number: 2022942763 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Teppich von Bayeux (Ausschnitt), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Teppich_von_Bayeux.jpg, Wikimedia Commons, lizenziert unter GNU-Lizenz für freie Dokumentation (Zugriff 17.6.2022) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Andreas Hammer, Michael Schwarzbach-Dobson, Christiane Witthöft Einleitung 1
Teil I:
Wandel des Kulturellen
Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander 21 Grenzmetaphorik. Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen 41 Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-TierVerbindung im Mittelalter 67 Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter 91 Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied 129 Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit 151 Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit 173
Teil II: Wissen der Rhetorik Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer 205 Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen 235 Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen 263 Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik 285
VI Inhalt
Teil III: Wege der Metapher Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue 309 Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur 333 Erzählen vom Tod im Parzival. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter 353 Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter 381 Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges 407 Metapher als Umweg – Umweg als Metapher. Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller 437
Anhang Abbildungsverzeichnis 449 Verzeichnis der Erstveröffentlichungen 451 Schriftenverzeichnis von Udo Friedrich bis 2022 453
Einleitung Dies ist keine klassische Festschrift. Wie ließe sich auch ein Wissenschaftler ehren, der sich einerseits im wissenschaftlichen Diskurs sehr für das Feld der Ehre interessiert,1 Erweisungen derselben aber andererseits in seinem persönlichen Umfeld als reine Zumutung erachtet? Die Antwort ist ganz einfach: Wir lassen in diesem Band seine eigenen Texte und Gedanken sprechen, um die zweifellose Angemessenheit einer Ehrung zu pointieren. Für die Auswahl der hier zusammengestellten Schriften haben wir uns an drei zentralen Leitparadigmen der Forschung von Udo Friedrich orientiert, die für die Germanistische Mediävistik im Bereich der historischen Kulturwissenschaft, der Rhetorik und Topik und der Metaphorologie von besonderer forschungsgeschichtlicher Bedeutung sind. Sie haben wesentlich zu einem Wandel im Verständnis von alteingesessenen Forschungsperspektiven beigetragen und mitunter gar zu neuen Analyseparadigmen geführt. Die titelgebende Alliteration der drei Begriffe ‚Wissen‘, ‚Wege‘ und ‚Wandel‘ soll daher eine gewisse Unrast und Dynamik unterschiedlicher und auch gegensätzlicher Lesarten verdeutlichen, die ein beständiger Ansporn und Begleiter der Forschungen von Udo Friedrich sind: „Wissen ist Forschen. Es ist Unruhe, nicht das Verwalten eines festen Besitzes“.2 Wege und Wandlungen wiederum bilden geradezu eine „Hintergrundmetaphorik“ (Hans Blumenberg) der ausgewählten Schriften, in denen die Geschichtlichkeit der Gegenstände und eine diachrone und interdisziplinäre Perspektive niemals verlorengehen:3 Friedrichs Untersuchungsgegenstände reichen vom Gilgamesch-Epos bis hin zu Schriften von Herta Müller. Die Kohärenz der Forschungsarbeiten von Udo Friedrich wiederum, die in ganz unterschiedlichen Kontexten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten veröffentlicht wurden, ist frappierend. Es scheint daher für sein Oeuvre zu gelten, was Roland Barthes als ‚Netz der Rhetorik‘ beschrieben hat: Ein Gebilde nur scheinbar hetero-
|| 1 Vgl. etwa: Udo Friedrich: Topik der Ehre. Dynamiken der Urteilsbildung und poetischen Gestaltung im „Armen Heinrich“ Hartmanns von Aue. In: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems., Christiane Krusenbaum-Verheugen, Monika Schausten. Berlin 2021 (Beihefte zur ZfdPh. 20), S. 315–343. 2 Mit diesen Worten erfasst Kurt Flasch die Originalität der Gedankenwelt des Nikolaus von Kues: ders.: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay. Stuttgart 2004 (RUB. 18274), S. 37. Voraus gehen unter anderem Überlegungen über die „philosophische […] Ablehnung des ptolemäischen Weltbildes“ in der Schrift De docta ignorantia von Nikolaus von Kues. Ebd., S. 35. 3 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998 (stw. 1301), bes. S. 91–111. „Keine Erfahrung bewegt sich je in einem Raum völliger Unbestimmtheit, so wenig wie im bloßen linearen Nachvollzug der kausalen Zusammenhänge ihrer Gegenstände. Mit dieser bestimmten Unbestimmtheit hat es die Metaphorik zur Erfahrbarkeit der Welt zu tun, für die das Paradigma der ‚Lesbarkeit‘ steht.“ Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 72007 (stw. 592), S. 16. https://doi.org/10.1515/9783110772340-001
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gener Einzelfäden, die sich ganz automatisch zusammenfügen und letztlich eine geschlossene Struktur bilden.4 Eine geschlossene Struktur bildet einerseits das gesamte Oeuvre, von dem wir hier eine Auswahl bieten, andererseits findet sich in den Arbeiten selbst ein beständiges Interesse für Strukturen, sei es hinsichtlich serieller Erzählformen oder auch geometrischer Figuren im Raum: Die Vorstellungen von Strecken, Linien und Diagrammen leiten Überlegungen zur Narration von Lebenswegen.5 Die Figur des Kreises, Kreisdiagramme und der Ouroboros sind Begleiter poetologischer und kultureller Fragen über Anfang und Ende oder die Geschlossenheit des christlichen Weltbildes und/oder der Weltkarten.6 Udo Friedrichs Arbeiten basieren daher vielfach auf einem heuristischen Analyseinventar des Strukturalismus, erweitern dieses aber durch einen weiten, kulturwissenschaftlichen Blick auf diejenigen diskursiven Formationen, in denen sich das Erzählen selbst ereignet. Denn Udo Friedrich betrachtet Erzählen – den Akt des Erzählens ebenso wie die Erzählung selbst – stets im kulturellen Kontext: Erzählen ist ein kultureller Akt, Literaturwissenschaft ist daher auch immer Kulturwissenschaft. Diese Prämisse zieht sich durch seine gesamte Forschung.7 Wenn Kultur bestimmend ist für das, was erzählt wird und wie es erzählt wird, dann gehen daraus Erzählschemata, die Geschichten strukturieren, Motive, Erzählkerne und Meistererzählungen hervor, die die gesellschaftliche und kulturelle Identität formen, bestätigen und stabilisieren. Andererseits aber untersucht seine Forschung die Erzählung auch innerhalb ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen, denn in dem, was erzählt wird, spiegelt sich die Kultur einer Gesellschaft. Das betrifft kulturelle Praktiken und deren Implementierung, Reflexion oder Diskussion ebenso wie die Tradierung und Verarbeitung von kulturellem Wissen: sei es im Bereich der Ethik, Politik, Theologie, Naturkunde oder der Physiognomie. Auf seiner beständigen „Suche nach Begründungsverhältnissen menschlichen Daseins“,8 die
|| 4 Vgl. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2007 (es. 1441), S. 15–101, hier S. 49–52. 5 Vgl. Friedrich: Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges (in diesem Band, S. 407–436). 6 Vgl. Friedrich: Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue (in diesem Band, S. 309–332); Friedrich: Erzähltes Leben (Anm. 5). 7 Friedrich verweist in diesem Zusammenhang auf Lotmans kultursemiotische Erzähltheorie, in der jeder literarische Text eine Art Modell der Welt bildet. Vgl. Juri M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972; ders.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Frankfurt a. M. 2010; dazu: Udo Friedrich: Diskurs und Narration: Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 64), S. 99–120. 8 Vgl. Friedrich: Grenzmetaphorik. Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen (in diesem Band, S. 41–65, hier S. 41).
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ein zentraler Anlass seiner Forschung ist, verbindet Friedrich immer wieder – auch in Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg – anthropologische und soziologische Überlegungen zur (christlichen) conditio humana in den literarischen Quellen.9 Seine nicht eingehegten Perspektiven über Diskurs- und Epochengrenzen hinweg sowie sein Interesse an der „Relativität kultureller Regeln“, etwa hinsichtlich der Gewohnheiten von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, lassen auch einen Einfluss von Montaignes Essais erahnen.10 Der Blick von Udo Friedrich reicht in frühneuzeitlicher Manier vergleichbar beständig über den disziplinären Tellerrand. Schon die Dissertation zu Conrad Gessners Historia animalium verortet die Untersuchung frühneuzeitlicher Tierkunde in einem weiten Spannungsfeld aus Enzyklopädistik, Historiographie, Philologie und Exempelliteratur.11 Erzählungen, literarische Texte betrachtet Udo Friedrich als kulturelle Narrative.12 Als Paradebeispiel hierfür kann in der mittelalterlichen Literatur das Paradies gelten: Im Jenseits gelegen ist es doch der Ort, an den es die Menschen schon im Diesseits hinzieht, der in mittelalterlichen Weltkarten einmal am Rand der Welt zu finden ist, zum anderen jedoch auch im Zentrum, paradigmatisch verbunden mit Jerusalem und den heilsgeschichtlichen Ereignissen, die dort situiert werden. Auf diese Weise, so erläutert es Friedrich, generiert die Paradieserzählung ein kulturelles Narrativ, das sich auch in der mittelhochdeutschen Literatur realisiert, dessen erzählte Ereignisse zugleich auch eine orientierungsstiftende Funktion entfalten.13 Genau hierin ist der wesentliche Zusammenhang von Mythos und Narration zu erkennen, der in Udo Friedrichs Forschungen (wie die hiermit ebenfalls verbundene Figur der Metapher) eine herausragende Konstante darstellt: Der Mythos als Form der Wirklichkeitsgestaltung und -beschreibung ist stets narrativ; Mythos heißt Erzählen14 und der Mythos ist eine Erzählform, denn über den Vorgang des Erzählens stiftet er Wirklichkeit und schafft Orientierung durch Identifikation.15 Mythische Denk- und Erzählformen beschäftigen Udo Friedrich in zahlreichen Beiträgen, von denen auch in diesem Band einige aufgegriffen werden. Diese haben die mediävistische Mythosforschung bis heute nachhaltig beeinflusst und immer || 9 Vgl. u. a. Friedrich: Erzähltes Leben (Anm. 5), S. 425; Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (in diesem Band, S. 381–405, hier S. 403f.). 10 Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität (Anm. 9), S. 383. 11 Vgl. Udo Friedrich: Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft. Conrad Gessners „Historia animalium“ und ihre volkssprachliche Rezeption. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit. 21). 12 Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien 22008. 13 Vgl. Friedrich: Anfang und Ende (Anm. 6), S. 317–321. 14 Vgl. Udo Friedrich: Mythos und europäische Tradition. In: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter: Wissen – Literatur – Mythos. Hrsg. von Manfred Eikelmann, Udo Friedrich. Berlin 2013, S. 187–204, hier S. 188. 15 Vgl. Fritz Stolz: Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos. In: Mythos und Rationalität. Hrsg. von Hans H. Schmid. Gütersloh 1988, S. 81–106.
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wieder gezeigt, wie stark Kultur und Literatur des Mittelalters, aber durchaus auch der Moderne, von mythischen Konzeptionen geprägt sind. Udo Friedrich begreift Mythos nicht als Ausschlussfigur, er setzt keine Opposition zwischen Mythos und Literatur, sondern analysiert immer wieder die besondere Sinnkonstitution mythischer Erzählformen. Diese Perspektive auf den Mythos, mythisches Denken und mythische Erzählformen erlaubt daher einen kulturhistorischen Zugriff auf die Literatur und ihre Narrative. Indem Kultur und Literatur auf vielfältige Weise von mythischen Konzepten geprägt sind, kann Udo Friedrich hierbei besonders den narrativen Umgang mit Rationalität analysieren: Gerade in den Bereichen, in denen unser rationales Denken, unsere Vernunft versagt (Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Liebe und Leid usw.), ermöglicht der Mythos „in seinem narrativen und metaphorischen Anschauungspotential“16 einen alternativen Zugriff. Indem er eben einer andersartigen Logik folgt, präsentiert er eine eigentümliche, fremde, ja teilweise konträre Rationalität, die es zu erkennen gilt, um die sinnbildende Funktion von Geschichten und die narrative Aneignung der Welt nachzuvollziehen. Einer solchen Form von Rationalität ist in der Art des Erzählens auch ein verändertes Verhältnis von Kausalität und Finalität geschuldet. Mythisches Denken setzt, nach Ernst Cassirer, auf den sich Udo Friedrich immer wieder bezieht, die Relationen von Ursache und Wirkung vielfach anders, für unser modernes Verständnis geradezu ‚verkehrt herum‘.17 Die Wirkung einer Handlung ist bereits da, bevor die Ursache konstituiert ist, das Resultat steht vor seiner Entstehung bereits fest, wie Udo Friedrich beispielsweise am Gilgamesch-Epos erklärt: Gilgameschs Freund Enkidu muss sterben, damit Gilgamesch das Geheimnis der Unsterblichkeit aufdecken kann; sein Scheitern, nachdem er die Unsterblichkeit bereits erlangt hat, ist final bereits vorbestimmt, damit dem Menschen die eigene Sterblichkeit narrativ bewusst gemacht wird.18 Solche finalen Sinnkonstitutionen, die nach Clemens Lugowski auch ‚Motivation von hinten‘ genannt werden,19 lassen sich vielfach auch in der mittelalterlichen Literatur finden; der Minnetrank im Tristan oder die vom Ende her motivierten Gründe, die zum Untergang der Nibelungen führen, sind nur zwei prominente Beispiele für eine solche Finalität vormoderner Erzählverläufe. Und auch das Christentum folgt in seinen Narrativen immer wieder finalen Zusammenhängen:
|| 16 Friedrich: Mythos und europäische Tradition (Anm. 14), S. 195. Vgl. auch Stolz (Anm. 15). 17 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen. Bd. 2: Das mythische Denken. Darmstadt 71977, S. 60 u. 93f. 18 Vgl. Fritz Stolz: Paradiese und Gegenwelten. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 1 (1993), S. 5–23, hier S. 15f.; vgl. auch die anschließende Übertragung des Gilgameschmythos auf andere Kulturräume, S. 18–20, auf die Friedrich methodisch aufbaut (vgl. etwa Friedrich: Anfang und Ende [Anm. 6], S. 312–317). 19 Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Hans Schlaffer. Frankfurt a. M. 1976, S. 66f. Vgl. auch Müller-Funk (Anm. 12), S. 106f.
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Christus muss verraten werden, weil er dadurch am Kreuz sterben kann;20 nach der im 11. Jh. entstandenen Wiener Genesis erschafft Gott die Menschen schon mit Blick auf den Sündenfall, damit diese dann den Chor der gefallenen Engel ersetzen.21 In dieser, von ihm maßgeblich geprägten Diskussion zu mythischen Strukturen des Erzählens, hat Udo Friedrich immer wieder mit Nachdruck dafür plädiert, dass gerade keine Opposition zwischen Mythos und Christentum existiert. Exemplarisch hat er etwa am Brief des Priesterkönigs Johannes eine „mythische Aufladung christlicher Strukturen“ herausgearbeitet.22 Die mythischen Raumentwürfe eines beinahe schon transzendenten, von Konkreszenz im Cassirer’schen Sinne geprägten Reiches, das ans Paradies angrenzt, aber doch nicht ins Paradies hineinragt, lassen sich einerseits historisch anbinden, weisen andererseits aber auch Umbesetzungen antiker Mythologeme in eine christlich-heilsgeschichtliche Metaphorik auf. Die Schilderung vom Reich des Priesterkönigs partizipiert an mythischen Denkformen und setzt auf diese Weise eine entscheidende Differenz zur Utopie. Mythen erklären über metonymische und metaphorische Verfahren strukturelle Differenzen innerhalb der Gesellschaft.23 Die Einarbeitung antiker Mythologeme in christliche Narrative wie dem Paradies einerseits und die Einbettung dieser mythischen Narrative in die vormoderne Erzählkultur andererseits ist jene ‚Arbeit am Mythos‘, die Blumenberg beschrieben hat24 und die Udo Friedrich an zahlreichen Punkten der mittelal-
|| 20 Vgl. etwa Christian Kiening: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Bruno Quast, Udo Friedrich. Berlin/New York 2004 (TMP. 2), S. 35–58. 21 Vgl. Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen/Basel 2005, S. 49–59. Gerade die Wiener Genesis schließt einen Kreis vom mythischen Ursprung vor aller Zeit über die genealogisch fassbare Geschichte des Alten und Neuen Testaments bis hin zur Apokalypse, dem Ende der Welt und der Geschichte: „Das Ende ist im Beginn angelegt“ (ebd., S. 64). Vgl. zur Finalität hagiographischer Texte auch Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘. Berlin/Boston 2015 (TMP. 10), S. 5–11, 94–100 u. 361–367; ders.: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. In: Anfang und Ende – Kausalität und Finalität. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2013 (LTG. 3), S. 179–204. 22 Udo Friedrich: Zwischen Utopie und Mythos. Der Brief des Priester Johannes. In: ZfdPh 122 (2003), S. 73–92, hier S. 75. 23 Vgl. Friedrich: Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit (in diesem Band, S. 151–172, hier S. 152f.). 24 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1996; vgl. auch ders.: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel (Poetik und Hermeneutik. 4). Hrsg. von Hans Fuhrmann. München 1971, S. 11–66. Die Bedeutung der hier zur Geltung kommenden Mythostheorien von Cassirer, Blumenberg und anderen für die literaturwissenschaftliche Analyse machen Udo Friedrich, Bruno Quast: Mediävistische Mythosforschung. In: Präsenz des Mythos (Anm. 20), S. IX–XXXIII, deutlich. Vgl. auch Andreas Hammer: Tradierung und Transformation.
Andreas Hammer, Michael Schwarzbach-Dobson, Christiane Witthöft terlichen und frühneuzeitlichen Literatur festmacht: sei es hinsichtlich der Paradieserzählung im Brief des Priesters Johannes, der Implikationen auf Anfang und Ende in der Brandanlegende und im Erec(k)25 oder auch hinsichtlich der Überlagerung frühneuzeitlicher Wissensdiskurse mit schöpfungsmythischen Vorstellungen.26 Die Paradieserzählung ist dabei besonders dazu angetan, räumliche wie zeitliche Konstellationen des Mythos aufzunehmen und literarisch weiterzuverarbeiten. Udo Friedrich kann die Strukturen und Eigenheiten dieses Narrativs nicht nur in der Brandanlegende, sondern auch im höfischen Roman beschreiben; die Metaphern und Typologien sind die gleichen, das Modell des Weges wird paradigmatisch in die Erzählungen eingelassen. Anfang und Ende – mit Karlheinz Stierle die entscheidenden Komponenten jeglicher Erzählung – werden damit uneindeutig.27 Diese ‚andere‘ Erzählweise mittelalterlicher Texte schafft, wie es Udo Friedrich nicht nur in den Umbesetzungen des Paradiesnarrativs, sondern ebenso am Beispiel der memoria im Parzival28 oder der Dichotomie von Providenz und Kontingenz29 beschreibt, eine alteritäre Sinnkonstitution und differente zeitliche Strukturen: Die Zeitkonzeption des Mythos durchbricht die gewohnten Setzungen und Erwartungen neuzeitlichen Erzählens ebenso, wie Kausalität und Finalität sich gegenüberstehen; erst postmoderne Narrative setzen wiederum neue, die gewohnten zeitlichen Konzepte verlassende Ordnungen. Eine solche Konvergenz zeitlicher und räumlicher Konzeptionen interessiert Udo Friedrich aber auch in anderer Erscheinungsweise: nämlich in der des Weges als erzähltem Lebensweg. Diesem Verhältnis nähert er sich über die Figur der Metapher, die einen wesentlichen Aspekt seiner Forschungsansätze bildet. Gerade die Wegmetapher ist in der Verbindung von Raumsemantik und Diagrammatik eine epochen- und genreübergreifende Denkfigur, in der narrativ die grundlegenden kulturellen Konstanten von Leben und Tod, Anfang und Ende, Vergangenheit (Erinnerung) und Zukunft (Erwartung) ihren Ausdruck finden: „Über die Metapher vom Lebensweg wird das Problem der Zeitlichkeit des Lebens mit Hilfe von Raumkategorien strukturiert.“30 Darin wird zugleich die enge Verbindung von Mythos und Meta Mythische Erzählelemente im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg und im „Iwein“ Hartmanns von Aue. Stuttgart 2007. 25 Vgl. Friedrich: Anfang und Ende (Anm. 6). 26 Vgl. Friedrich: Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens (Anm. 23). 27 Vgl. Karlheinz Stierle: Die Wiederkehr des Endes. Zur Anthropologie der Anschauungsformen. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von dems., Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik. 16), S. 578–599. 28 Vgl. Friedrich: Erzählen vom Tod im Parzival. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter (in diesem Band, S. 353–380). 29 Vgl. Friedrich: Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit (in diesem Band, S. 173–202). 30 Friedrich: Erzähltes Leben (Anm. 5), S. 409f. Vgl. auch Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität (Anm. 9), S. 387f.
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pher deutlich: Die Denkfigur der Metapher ermöglicht es, sprachlich nicht ausdrückbare Dilemmata einer Kultur zu narrativeren,31 wie es eindrücklich die Ebstorfer Weltkarte zeigt: „Die Metaphern des Kreises und des Weges werden zu Medien, zu Chronotopoi, die zwischen dem religiösen System (Christus) und der unüberschaubaren Komplexität von Welt und Leben vermitteln. […] Anfang und Ende, Mittelpunkt und Umkreis, schließlich Bild, Metapher und Narrativ.“32 Zugleich aber verweisen diese mythischen und metaphorischen Phänomene wiederum auf kultursemiotische Konstanten, die Udo Friedrich etwa mit Claude Lévi-Strauss in der Basisopposition von Kultur und Natur erkennt.33 Hier kann Friedrich Topoi, Motive und Figurendarstellungen beschreiben, in denen sich die Dichotomie auflöst. Die vielleicht deutlichste Verkörperung dieser Basisopposition ist die Figur des Wilden Mannes, in dem tierische wie menschliche, natürliche wie zivilisatorische Eigenschaften überblendet sind. Friedrichs Interesse an der höfischen Kultur verbindet sich dabei beständig mit einem Interesse für zivilisationsgeschichtliche Theorien. Derartige Denkfiguren und ihre diskursiven und kulturellen Kontexte hat er in all ihrer Breite in seiner Habilitationsschrift „Menschentier und Tiermensch“ herausgearbeitet.34 Kultur wird hierin als symbolische Ordnung beschrieben, in der die Grenzziehungen – nicht zuletzt die so basale zwischen Mensch und Tier – stets aufs Neue verhandelt werden müssen. Diese Grenzfiguren sind etwa in der hagiographischen Literatur ebenso zu finden wie in der Heldenepik (Nibelungenlied, Eckenlied, Wolf Dietrich) und im höfischen Roman (der Wilde Mann im Iwein oder in Partonopier und Meliur).35 Eine vergleichbare Hybridität oder vielmehr Ineinssetzung von Kultur und Natur findet sich nicht zuletzt in der Darstellung der Alexanderfigur wieder, der als Heros und Herrscher tierische und menschliche Beschreibungsmerkmale in sich vereinigt. Die metaphorischen Vergleiche jedoch bringen die Grenze zum Tierreich zum Verschwinden und können auf der Zeichenebene kippen: Es zeichnet den Heroen aus, dass er diese Eigenschaften tatsächlich besitzt und damit nicht nur symbolisch die Grenzen von Natur und Kultur zu überschreiten || 31 Wobei klar unterschieden werden muss: Metaphorisches Sprechen kann eine Ausdrucksform des Mythos sein, während mythisches Denken auf Kontiguität und metonymischen Bezügen aufbaut, vgl. Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 99 (2005), S. 323–364. Vgl. auch Susanne Köbele: Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan. In: Friedrich, Quast: Präsenz des Mythos (Anm. 20), S. 219–246. 32 Friedrich: Anfang und Ende (Anm. 6), S. 316. 33 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 1968; ders.: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a. M. 1967. 34 Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2010 (Historische Semantik. 5). 35 Zu beachten ist freilich auch die Domestizierung der Natur, nicht zuletzt symbolisiert in der Herrschaft über das Tier, v. a. die Symbiose von Ritter und Pferd, vgl. ebd., Kap. III; Friedrich: Der Ritter und sein Pferd (in diesem Band, S. 67–89).
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vermag. Darin nämlich gründet nicht nur das exorbitante Gewaltpotential des Heros, sondern überdies Alexanders Fähigkeit, seine Eroberungszüge über die bekannten Grenzen der Welt hinaus zu führen – und damit (im Sinne Blumenbergs) eben diese Grenzen zugleich auch wieder einzuhegen, fassbar zu machen: Das Wilde wird nicht besiegt, nicht kulturell überformt, aber doch, so zeigt es Udo Friedrichs kulturwissenschaftlicher Ansatz, dem Menschen eingeschrieben, wodurch er es sich narrativ aneignet.36 Auf andere Weise erzeugen die Eingrenzung und Aneignung des Wilden jedoch auch Gefahren, denen der Mensch ausgesetzt ist und denen es narrativ zu begegnen bzw. zu entgegnen gilt. Hier hat Udo Friedrich – ebenfalls im Rekurs auf die Dichotomie von Kultur und Natur – einen entscheidenden Beitrag zur mediävistischen Forschung geleistet, der im Folgenden nur grob in seinen Grundzügen skizziert werden kann. Neben den Untersuchungen zur Figur des Helden in der mittelalterlichen Literatur37 beschäftigt sich Udo Friedrich immer wieder mit dem Motiv des Zweikampfs: Im klassischen Kampf des Helden mit einem Ungeheuer zeigt sich die Gefährdung der kulturellen Ordnung durch das Wilde, die in der mittelalterlichen Literatur nur durch Gewalt gebannt werden kann. Der heroische Zweikampf, insbesondere der regelbasierte, serielle ritterliche Zweikampf,38 stellt ein herausragendes Thema der vormodernen Literatur dar, erweist er sich doch in seinen Regeln und Konventionen darüber hinaus als „kulturelles Leitmedium“ und als „Projektionsfläche sozialen Sinns“, ja als Paradigma für die kulturelle Relevanz symbolischer Ordnungen: „Die symbolische Ordnung stellt also ganz unterschiedliche Muster zur Verfügung – ideologische Asymmetrie, biblische Typologie, soziale Konstellationen und politische Phantasmen –, die je nach Bedarf kombiniert und hierarchisiert werden können.“39 Auch hier spürt Friedrich einerseits den Modellen der Gewaltbewältigung nach, welche Gewalt im Zweikampf in eine kulturelle Praxis überführen, andererseits aber auch den Brüchen dieser symbolischen Ordnung. Denn Zweikämpfe generieren aus sich heraus Regeln, die kulturstiftend wirken: Die Gewalt wird dadurch zwar nicht beherrschbar, aber Teil der Gesellschaft und damit berechenbar. Im Zuge seiner kulturgeschichtlichen Herangehensweise kann Udo Friedrich zeigen, wie literari-
|| 36 Vgl. Friedrich: Menschentier und Tiermensch (Anm. 34), S. 294–321; ders.: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander (in diesem Band, S. 21–40); ders.: Grenzmetaphorik (Anm. 8). 37 Vgl. etwa Friedrich: Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur (in diesem Band, S. 333–351). 38 „Die Serialität ihres Auftretens im Text und die topische Schilderung ihres Verlaufs wirken auf den modernen Leser oft nur noch ermüdend, für den zeitgenössischen Rezipienten aber eröffnen sie Spielräume für Identifikation und Reflexion.“ Friedrich: Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter (in diesem Band, S. 91–128, hier S. 95). 39 Ebd., S. 110, in Bezug auf das Rolandslied.
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sche Texte gesellschaftliche Ordnungen beschreiben, diskutieren und zugleich an ihre Grenzen führen, wobei er insbesondere den Begriff der Ehre als Konvention und symbolisches Kapital isoliert. So kann er im Eckenlied eine regelrechte Ökonomie der Ehre festmachen, die sich im Kampf des Heros gegen den Riesen als besonders wirkmächtig erweist. Zugleich werden hier die Konventionen und Ordnungsentwürfe von Ehre wiederum in Frage gestellt, wenn es ausgerechnet der Riese ist, der nach Ehre strebt, und der Heros ihn nur auf unehrenhafte Weise töten kann.40 Die Basisopposition von Kultur und Natur wird durch die Ökonomisierung der symbolischen Ordnung der Ehre sowie die Umbesetzungen mythischer Erzählelemente aufgebrochen. Es ist die Beobachtung dieses Aufbrechens von Ordnungssystemen und die Beschreibung ihrer verschiebbaren, dynamischen Grenzen, die Udo Friedrichs Forschungen auszeichnet: Er sucht nicht nach starren Strukturformeln, Denkmustern oder binären Oppositionen, welche die kulturwissenschaftliche Mediävistik zur Genüge beschrieben hat, sondern argumentiert stattdessen immer wieder an deren Bruchlinien entlang und geht dabei von einer dynamischen Grenzziehung aus. Mit der Beschreibung von Kulturmustern, kulturellen Narrativen und Erzählformen erkundet er zugleich auch deren Widerstände, Grenzen und Auflösung. So erscheint es folgerichtig, dass er sich in jüngster Zeit intensiv dem Feld der Konventionalität gewidmet hat. Nicht zuletzt zeigen die unterschiedlichen axiologischen Besetzungen von Ehrvorstellungen, welche die vormoderne Gesellschaft prägen, wie sehr soziale Wertesysteme sich selbst regulieren, diese Regularien aber nicht selten nur implizit festschreiben und begründen, nämlich über die Gewohnheit, die Konvention.41 Literatur wiederum handelt diese Ordnungen der Konventionen immer weiter aus, unterliegt aber zugleich selbst gewissen Konventionen.42 Die Tragweite dieses Ansatzes und seine vielfältigen Anschlussoptionen spiegeln sich in der Arbeit des Kölner Graduiertenkollegs ‚Dynamiken der Konventionalität‘ (GRK 2212), an der Udo Friedrich als dessen erster Sprecher maßgeblichen Anteil hat. Konventionalität definiert dabei als ‚Schlüsselbegriff‘ „kollektive Geltungsansprüche des Sprechens, Denkens, Handelns und Darstellens, über die Gesellschaften, Gemeinschaften oder Gruppen durch Übereinkunft oder Habitualisierung Orientierungen in der Zeit ausbilden.“43 In einer verstärkt soziologisch verankerten Rhetorik rücken hier vor allem Fragen nach Gewohnheit, Wiederholung und
|| 40 Vgl. Friedrich: Transformation mythischer Gehalte im Eckenlied (in diesem Band, S. 129–150). 41 Vgl. Friedrich: Topik der Ehre (Anm. 1). 42 Zu diesem Wechselspiel von Konventionen in der Literatur und Konventionen der Literatur vgl. Friedrich, Krusenbaum-Verheugen, Schausten (Hrsg.): Kunst und Konventionalität (Anm. 1), dort bes. Udo Friedrich, Christiane Krusenbaum-Verheugen: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne. Zur Einführung, S. 7–61. 43 Zit. nach der Website: https://grk2212.uni-koeln.de/forschungskonzept-1/konventionalitaet-alsneuer-schluesselbegriff (17.5.2022).
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Common Sense in den Fokus. Über eine soziale Ausrichtung wird die Gewohnheit zur Konvention. Schon etymologisch lässt sich dies als Praxis der Reziprozität, der sozialen Wechselbezüglichkeit und der Übereinkunft, ableiten:44 Das lateinische Verb convenire bedeutet ‚zusammenkommen, übereinkommen, sich schicken‘. Konventionalität bezieht sich somit auf ein sozial akzeptiertes Wissen, das historisch fundiert ist: Es verfügt über eine lange Geltungsdauer und behauptet sich gegen die Herausforderungen neuen Wissens, ohne dabei aber unflexibel zu sein. Vielmehr zeigen sich gerade in seiner Dynamik die Spielräume sozialen Handelns, die sich normativem Regelwissen entziehen. In soziokultureller Perspektive ermöglicht die Wiederholung von (Sprach-) Handlungen eine Stabilisierung derselben und damit eine entlastende Komplexitätsreduktion: ein Speicher, ein Archiv von Rede- und Handlungsweisen entsteht (siehe unten zur Topik), der im Bedarfsfall (Handlungszwang zur Krisenbewältigung) sofort herangezogen werden kann. Über Wiederholung entstehen somit Gewohnheiten, d. h. Ordnungen des Wissens, aber auch symbolische Formen, in denen sich ebenjenes Wissen ausdrückt. Dieses Wissen zeichnet sich im sozialen Gefüge nun dadurch aus, dass es in der Regel kein reflexives oder klar normiertes Wissen ist, sondern ein inkorporiertes: Das Gewohnte wird gewissermaßen zur zweiten Natur des Menschen (consuetudo est altera natura).45 Seine Regeln sind daher latent, sie werden nur selten schriftlich fixiert, sondern zeigen sich in habitualisiertem Handlungswissen. Erst in der tatsächlichen Praxis, in der Performanz, werden die Regeln der Gewohnheit öffentlich nach außen sichtbar gemacht. Dass diese Formung des Subjekts durch Übung und Gewohnheit ganz unterschiedliche Felder – Religion, Politik, Rhetorik, Medizin usw. – betrifft und dort je spezifische Praktiken begründet, hat Friedrich in einer kleinen Monographie verfolgt, die auf einem Vortrag auf der angesehenen ‚Lecture in Medieval Philology‘ an der Universität Zürich gründet.46 Das Forschungsparadigma ‚Konventionalität‘ profitiert dabei maßgeblich von Udo Friedrichs Arbeiten zur Rhetorik und Topik, die sich immer schon für die Verhandlungen eines Common Sense-Wissens interessiert haben, dessen Geltungsansprüche sich jenseits strenger Logik formatieren. Friedrichs Ansatz soll im Folgenden detailliert nachgezeichnet werden, um seine Relevanz für die Etablierung und Weiterentwicklung neuer Forschungsfelder aufzuzeigen. Viele Jahrzehnte hat die Forschung die Genese der Rhetorik vor allem als Geschichte eines Verfalls beschrieben. Als wirkungsmächtig hat sich hier etwa Ernst || 44 Vgl. Friedrich, Krusenbaum-Verheugen: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne (Anm. 42), S. 11. 45 Friedrich zeigt dies etwa am Beispiel der Erziehung des Paris in Konrads Trojanerkrieg; Friedrich: Diskurs und Narration (Anm. 7). 46 Vgl. Udo Friedrich: Die Rhetorik der Gewohnheit. Zur Habitualisierung des Wissens in der Vormoderne. Zürich 2021 (Mediävistische Perspektiven. 12).
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Robert Curtiusʼ Monographie zur Topik gezeigt,47 die von einem Niedergang der Rhetorik in der Spätantike ausgeht und konsequenterweise die Funktion des Topos in den folgenden Jahrhunderten nur noch als ‚Gemeinplatz‘, als „Klischee[]“48 definiert. Untersuchungsansätze zur Rhetorik beschränkten sich dann in der germanistischen Mediävistik auch weitgehend darauf, bestimmte rhetorische Figuren oder Stilmittel in literarischen Texten zu identifizieren und zu kompilieren. Friedrich unternimmt demgegenüber eine Rehabilitation der Rhetorik, die deren argumentatives Potential in ihren Mittelpunkt stellt. Dass dieses nicht allein im engeren Sinn auf eine spezifische Redeform beschränkt ist, sondern auch schriftlichen, literarischen Texten zugrunde liegt, ist bereits eine aristotelische Prämisse, auf die Friedrich mehrfach hingewiesen hat.49 Überhaupt zeigen sich die Arbeiten Friedrichs vielfach als Schlüssel zu den Texten des Aristoteles, deren Relevanz für eine rhetorisch ausgerichtete Literaturanalyse Friedrich vollumfänglich herausarbeitet. Denn Aristotelesʼ Schriften sind nicht etwa nur dort für Mediävisten interessant, wo sich eine dezidierte Aristoteles-Rezeption im Mittelalter nachweisen lässt (Übersetzung der aristotelischen Poetik ins Lateinische im 13. Jahrhundert usw.). Vielmehr kann Friedrich zeigen, dass Aristoteles als Rhetoriker und Literaturwissenschaftler ernst genommen werden sollte, insofern sich seine Rhetorik und Poetik als generelle Anleitungen für die Analyse von auf Wahrscheinlichkeiten bauenden Argumentationsmustern in Texten lesen lassen. Friedrich hat das heuristische Potential einer rhetorischen Lektüre vor allem anhand von mittelalterlicher Kleinepik – Mären, Gleichnissen, Fabeln – erarbeitet.50 Es scheint hier gerade die Kurzerzählung zu sein, die das breite Feld rhetorischer Wahrscheinlichkeiten gegen eine rationale Logik anführt. Was heute als ‚Epistemologie des Exemplarischen‘51 auf die Wissens- und Überzeugungsstrategien von Exempel und Beispiel verweist, hat seine Prämissen daher in den Arbeiten Udo Friedrichs. Gleichzeitig aber hat Friedrich immer wieder darauf hingewiesen – und in der Analyse längerer Texte auch durchgeführt52 –, dass sich das rhetorische Lektüreparadigma nicht allein auf die Erzählform des Exempels begrenzen lässt, sondern || 47 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 7. Aufl. Bern [u. a.] 1969 [zuerst 1948]. 48 „Sie [die Topoi] werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind […]“, ebd., S. 80. 49 Etwa am Beispiel des Umkehr-Arguments, vgl. Udo Friedrich: Umkehr: Rhetorischer Topos und epistemische Figur. In: Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems., Ulrich Hoffmann, Bruno Quast. Berlin 2020 (LTG. 21), S. 77–102. 50 Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (in diesem Band, S. 263–284); ders.: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (in diesem Band, S. 235–261). 51 Vgl. Nicolas Pethes, Jens Ruchatz, Stefan Willer: Zur Systematik des Beispiels. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hrsg. von dens. Berlin 2007 (LiteraturForschung. 4), S. 7–59. 52 Vgl. Friedrich: Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik (in diesem Band, S. 285–305).
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Rhetorik vielmehr als ein genereller Generator für literarische Erzählstrategien zu verstehen ist. Ausgangspunkt für Friedrichs Überlegungen ist ein Axiom des Aristoteles: Natur ist dasjenige, das immer und das als wahr gilt, das kulturelle Feld ist hingegen dasjenige der Gewohnheit und der Wahrscheinlichkeiten.53 Genuiner Verhandlungsraum der Wahrscheinlichkeit ist dabei die Rhetorik. Sie bietet nicht nur gegenüber Naturgesetzen, sondern auch gegenüber institutionalisierten Wahrheitsansprüchen (Recht, Logik, Religion) argumentative Techniken, die zeigen, dass eine Sache so, aber auch genau anders sein kann. Die epistemischen Unsicherheiten, die mit Wahrscheinlichkeiten einhergehen (da man sich nie ganz sicher sein kann), wendet die Rhetorik daher ins Produktive: Für alles lässt sich – je nachdem, was die Situation verlangt – ein Beispiel, aber auch ein Gegenbeispiel finden.54 Das Potential der Rhetorik liegt daher nach Friedrich in ihrer Flexibilität, mithin darin, dass sie keinem starren ‚entweder oder‘-Schema folgt (wie es die Logik tut), sondern einen offenen ‚sowohl als auch‘-Ansatz verfolgt, der sich nicht an Rationalitäten, sondern an historisch und situativ variablen Gegebenheiten orientiert.55 Anstelle logischer Beweisführung (Syllogismus) setzt die Rhetorik daher auf das Enthymem, d. h. auf einen Wahrscheinlichkeitsschluss, dessen Reservoir kulturelle Grundüberzeugungen bildet. In diesen Grundüberzeugungen, im Common Sense, formiert sich gewissermaßen das kollektive Gedächtnis der Rhetorik. Dieses generiert nicht nur Enthymeme, sondern auch andere Erfahrungsschlüsse wie etwa Exempel oder Sprichwörter.56 Dass letztere aber – genau wie die Exempel – sowohl für wie gegen eine Sache argumentieren können und sich daher mitunter widersprechen (‚Gleich und gleich gesellt sich gern‘ vs. ‚Gegensätze ziehen sich an‘) weist nochmals auf das breite Archiv sozialen Wissens der Rhetorik hin, das für jeden Fall die passende Regel bereithält. Die kulturelle Signifikanz rhetorischer Urteilsmuster verfolgt Friedrich damit gleichfalls in anthropologischer Perspektive. Das Archiv sozialen Wissens speist sich aus dem Common Sense, der bekanntlich bei Geertz dasjenige bildet, das uns als ‚natürlich‘, als ‚selbstverständlich‘ erscheint,57 und auch das Enthymem ist im Wortsinn dasjenige, das direkt ins Herz (θυμός, thymos) zielt, da es sich mit kol-
|| 53 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, I, 11 (1370a 7–8). Zit. nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 4: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Darmstadt 2002. 54 Vgl. auch Manfred Fuhrmann: Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 449–452. 55 Vgl. Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität (Anm. 9). 56 Vgl. Friedrich, Krusenbaum-Verheugen: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne (Anm. 42), S. 20. 57 Vgl. Clifford Geertz: Common sense als kulturelles System. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1999 (stw. 696), S. 261–288.
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lektiven Grundannahmen deckt. Beziehen kann sich Friedrich dabei auf Arbeiten Hans Blumenbergs, der in der Rhetorik ein anthropologisches Bedürfnis von Wirklichkeitsbewältigung erkennt, welches sich nicht allein durch Wahrheitspostulate befriedigen lässt.58 Die rhetorischen Techniken der Überzeugung entfalten sich nach Blumenberg dabei präferiert in dilemmatischen Entscheidungssituationen: Handlungszwang und Evidenzmangel erfordern den Rückgriff auf ein Archiv von Erfahrungsschlüssen.59 Wenn rasch gehandelt werden muss (Handlungszwang), aber nicht alle Konsequenzen bzw. Voraussetzungen des Handelns abgesehen werden können (Evidenzmangel), benötigt man einen Speicher vorgeformten Erfahrungswissens, an dem man sich orientieren kann (so wie es das selbst zum Topos geronnene Diktum historia magistra vitae beschreibt).60 Zentral für die Rhetorik ist daher die Wiederholung – aus dem, was mehrfach passiert, lässt sich eine Erfahrung und damit ein wahrscheinlicher Schluss für die Zukunft bilden: Was schon einmal geschehen ist, kann auch wieder geschehen. Sprichworte und Sentenzen sind hier für Friedrich typische Kristallisationspunkte derartiger kollektiver Erfahrungen, die aus wiederholten Ereignissen ein Urteil bilden.61 Die Rhetorik verzichtet dabei auf streng logische Beweisketten: Für formale Schlüsse wie Induktion oder Deduktion müssten etwa alle Fälle geprüft werden, um zweifelsfrei bestimmen zu können, ob sich unter bestimmten Bedingungen immer wieder das gleiche Ereignis einstellt, wie es etwa für Naturgesetze gilt. Rhetorische Schlussfolgerungen beanspruchen aber keine derartige Allgemeingültigkeit, sondern eine relative Allgemeinheit: Sie zeigen, was gemäß kollektiven Erfahrungswissens häufig eintritt, was sozial akzeptiert oder sanktioniert wird und daher das Regulativ unseres Handelns bildet (nicht gemein zu anderen sein, denn: ‚Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‘ etc.). Es geht somit nicht um das Formulieren empirischer Regeln, die für einen bestimmten Fall immer gültig sind. Weder das Verhältnis vom Ganzen zum Teil, noch das Verhältnis vom Teil zum Ganzen definiert das rhetorische Verfahren, sondern das Verhältnis von Teil zu Teil: Das Paradigma, das Beispiel/Exempel, zeigt die Verbindung von zwei bestimmten Fällen auf und extrapoliert aus dieser Beziehung eine Regel.62
|| 58 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981 (RUB. 7715), S. 104–136, hier S. 105–119. 59 Vgl. ebd., S. 117. Vgl. dazu: Udo Friedrich: Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach. In: Mythen und Narrative des Entscheidens. Hrsg. von Helene Basu, Bruno Quast, Martina Wagner-Egelhaaf. Göttingen 2019 (Kulturen des Entscheidens. 3), S. 23–45, hier S. 23f. 60 Vgl. Friedrich: Topik und Narration (Anm. 52), S. 290f. 61 Vgl. etwa: Friedrich: Providenz – Kontingenz – Erfahrung (Anm. 29), S. 196. 62 Vgl. Giorgio Agamben: Was ist ein Paradigma? In: Ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a. M. 2009 (es. 2585), S. 9–40; Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 3, Teil 1/2:
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Schon die aristotelische Rhetorik führt hier drei paradigmatische Erzählformen für die Funktion des Beispielgebens an, die in der römischen Rhetorik als genera narrationis Karriere machen sollten: historia, argumentum, fabula. Sie setzen je ein unterschiedliches Verhältnis zu Wahrheit und Wirklichkeit voraus: Die historia ist wahr und wirklich geschehen; das argumentum ist nicht geschehen, aber wahrscheinlich; die fabula ist weder wahr noch wahrscheinlich. Als historisches Exempel (historia), Gleichnis (argumentum) und Fabel (fabula) haben sich diese drei Erzählformen auch weit über das im engeren Sinne rhetorische Schrifttum hinaus verbreitet,63 bleiben in ihren Argumentationsstrukturen aber ihrer rhetorischen Herkunft verhaftet – gerade dies hat Udo Friedrich für die volkssprachigen Kurzerzählungen des Mittelalters immer wieder aufgezeigt.64 Die auf Wahrscheinlichkeiten beruhende argumentative Leistung der Rhetorik lässt sich dabei nach Friedrich aber auch über das Exempel hinaus verfolgen. Besonders zwei rhetorische Figuren stehen hier neben der Beispielerzählung immer wieder im Fokus seiner Forschung: der Topos und die Metapher. Die Topik lässt sich im antiken Sinn generell als ein Archiv bzw. Speicher an Argumenten verstehen, auf das ein Redner immer wieder zurückgreifen und dessen Inhalte er neu kombinieren kann.65 Gleichzeitig aber ist die Topik Teil rhetorischer inventio und damit auch die Kunst, ebendiese Argumente zu finden: Eine Suche nach denjenigen konventionalisierten Prägungen, deren Evidenz so vertraut ist, dass sie oft gar nicht als Überzeugungsmittel wahrgenommen werden. Die Topik ist also eine rhetorische Methode sui generis – Friedrich hat hier wiederholt auf einen perspektivenreichen (aber oftmals übersehenen) Aufsatz von Roland Barthes hingewiesen.66 Barthes zählt pointiert drei Funktionen der Topik auf: Diese sei „1. eine Methode; 2. ein Raster von Leerformen; 3. ein Vorrat ausgefüllter Formen.“67 Letzteres entspricht weitgehend dem, was Curtius in der Topik sah: Ein Speicher von loci communes (wie etwa der locus amoenus), die im kulturellen Gedächtnis einer Gemeinschaft präsent und jederzeit abrufbar sind.
|| Analytica priora. Buch 2. Übersetzt von Niko Strobach, Marko Malink. Erläutert von Niko Strobach. Berlin 2015, II, 24 (69a 14–16): „Es ist demnach klar, dass ein Beispiel [parádeigma] sich weder wie ein Teil zu einem Ganzen verhält, noch wie ein Ganzes zu einem Teil, sondern wie ein Teil zu einem Teil.“; vgl. auch Aristoteles: Rhetorik, I, 2 (1357b 26–36). 63 Vgl. dazu auch: Michael Schwarzbach-Dobson: Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation. Berlin 2018 (Literatur – Theorie – Geschichte. 13). 64 Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung (Anm. 50). 65 Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976; Barthes (Anm. 4). 66 Vgl. Barthes (Anm. 4). 67 Ebd., S. 67.
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Das „Raster von Leerformen“ hingegen ist stärker an den antiken Ausführungen zur Topik angelehnt, denn im aristotelischen Sinn ist der Topos nicht nur ein kulturell verbreitetes Sprachbild, sondern auch eine rhetorische Schlussfigur – Aristoteles führt hier in der Rhetorik eine ganze Reihe an derartigen Topoi auf, wie etwa den Topos des ‚Mehr oder Minder‘ oder denjenigen der ‚Umkehrung des Arguments‘.68 Topoi wie ‚Mehr oder Minder‘ sind in diesem Sinne Leerformen, da sie zwar eine Relation anzeigen, aber nicht mit Inhalt gefüllt sind. Je nachdem, was die Rede oder der Text verlangt, kann dann der Rhetoriker „seinen Gegenstand über ein[] Raster von Leerformen ‚gleiten‘“69 lassen und so je neues argumentatives Potential schöpfen. Friedrich kann nachweisen, dass diese Topoi, die wesentlich auf analogen Relationen beruhen (was für das ‚Mehr‘ gilt, gilt auch für das ‚Minder‘ und umgekehrt) die Struktur vieler Kurzerzählungen prägen, so dass die narrative Exposition des Exempels oftmals in einen rhetorischen Diskurs mündet.70 Übertragungsverhältnisse wie Analogie und Ähnlichkeit prägen auch die Metapher. Diese stellt für Friedrich eine der zentralsten rhetorischen Tropen dar, insofern sich an ihr das rhetorische Bewusstsein für die Ambiguität von Sprache exemplarisch aufzeigen lässt.71 Dass die Rhetorik nämlich anstelle von binären Unterscheidungen (richtig-falsch; klug-unklug) mit situativen Wahrscheinlichkeiten argumentiert, die zeigen, dass es neben zwei Alternativen immer auch eine „Figur des Dritten“ gibt, setzt die Metapher als Sprachspiel um: Ihre Übertragungsleistung ergibt sich genau aus dem gemeinsamen Dritten zweier Dinge, einem tertium comparationis, das sich dem tertium non datur der Logik zu widersetzen scheint. An der Metapher lässt sich daher ein zentrales Prinzip der Rhetorik selbst ablesen: „to speak of metaphor, therefore, means to speak of rhetorical activity in all its complexity“72, so Umberto Eco. Genau wie der Topos setzt auch die Metapher auf das Wissen des Common Sense, auf ein kollektives Gedächtnis für bildlich abgespeicherte Erfahrung. Ihre Übertragung kann auf gesellschaftlich akzeptierten Ähnlichkeiten basieren, sie kann aber auch per Analogie neue und überraschende Verbindungen aufzeigen. Das Potential der Metapher liegt dabei darin, Identität wie Differenz gleichzeitig zu postulieren: Das Sprachspiel der Übertragung suggeriert eine Identität (‚der Löwe Achill‘), die
|| 68 Vgl. zu Letzterem Friedrichs Ausführungen in: Ders.: Umkehr: Rhetorischer Topos und epistemische Figur (wie Anm. 49). 69 Barthes (Anm. 4), S. 68. 70 Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung (Anm. 50); Friedrich: Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle (Anm. 59), S. 29. 71 Vgl. Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität (Anm. 9); Ders.: Historische Metaphorologie. In: Literatur- und Kulturtheorie in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 169–211. 72 Umberto Eco: The Scandal of Metaphor. Metaphorology and Semiotics. In: Poetics Today 4,2 (1983), S. 217–257, hier S. 217.
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aber gleichzeitig eine Differenz beinhaltet (denn Achill ist immer noch Mensch, kein Tier). Die weiten Perspektiven einer derartigen Metaphernanalyse hat Udo Friedrich bereits in einem frühen Aufsatz zu den Mären Heinrich Kaufringers gezeigt, die immer wieder auf die Metapher des Spiels rekurrieren, innerhalb derer sie agonale Streitpunkte (‚Minnespiel‘) jenseits moralischer Normen verhandeln.73 Aus dieser hier in aller Kürze skizzierten rhetorischen Grundlegung kristallisiert sich in Friedrichs Schriften dann gewissermaßen ein ‚Werkzeugkasten‘ verschiedener Analyse- und Untersuchungsmethoden heraus, der sich auf mittelalterliche Kurzerzählungen, aber auch auf längere Erzähltexte anwenden lässt. Gerade für die oft überlieferungs- und gattungsgeschichtlich orientierte Forschung zu kleineren Erzählformen eröffnet sich damit noch einmal eine neue Perspektive, in der das Exempel als Argumentationsfigur und als Regel-Fall-Relation jenseits institutionalisierter Wahrheiten einen epistemologischen Geltungsanspruch auf dem Feld des Common Sense gewinnt. Friedrichs Forschungen weisen auf die Komplexität einer narrativen Form hin, die oft gerade nicht in der Erfüllung einer didaktischen Funktion aufgeht. Erweitert man hier den Analyseansatz mithilfe seines ‚Baukastens‘ von reinen Motivuntersuchungen hin zu größeren Fragestellungen, nimmt also nicht nur das Syntagma eines funktionalen Handlungsaufbaus in den Blick, sondern auch die damit korrespondierenden paradigmatischen Wertekonstellationen,74 so zeigt sich in oberflächlich ‚einfachen‘ Exempeln ein weites Feld sozialen Handelns, auf dem pragmatisches Gebrauchswissen, aber auch der Horizont sozialer Sinnvorstellungen verhandelt werden. Jenseits viel diskutierter Gattungs- und Epochengrenzen (vom Exempel zur Novelle; vom bîspel zum Märe usw.) zeigt sich die einfache Erzählform so als derjenige Kristallisationspunkt, an dem die Rhetorik Möglichkeitshorizonte und dilemmatische Konflikte ihrer kulturellen Umwelt diskutiert: Sexualität und Ökonomie, so Friedrich, scheinen etwa in den Mären diejenigen Kontexte zu sein, die narrative Prozesse bestimmen.75 Was in Recht, Religion, Moral usw. nicht oder nur schwer beantwortet werden kann, findet hier dem ihm angemessenen Platz. Gerade Erzählformen der Kasuistik, d. h. des Vergleichs und des Nebeneinanderstellens verschiedener Fälle und des Aufzeigens der diesen Fällen inhärenten Normkonflikte, gewinnen in einer derart rhetorisch basierten Analyse verstärkt Aufmerksamkeit: „In der Rhetorik wird der Fall zum Streitfall.“76 Es sind daher – mit Blumenberg gesprochen – Wirklichkeiten und nicht Wahrheiten, die hier diskursiviert werden. Alois Hahn hat in ähnlicher Perspektive von der „Inkommensurabilität des Wirklichen
|| 73 Vgl. Friedrich: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer (in diesem Band, S. 205–234). 74 Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung (Anm. 50), S. 263f. 75 Vgl. Friedrich: Trieb und Ökonomie (Anm. 50). 76 Friedrich: Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle (Anm. 59), S. 23.
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gegenüber aller Theorie und Gelehrsamkeit“77 gesprochen. Insofern die Rhetorik nicht nur der abstrakten Regel, sondern auch der ‚situativen Einzigartigkeit‘ jeden Falles Rechnung trägt, eignet sie sich prädestiniert dazu, soziale, ethische und kulturelle Verhandlungspunkte und Bruchlinien zu beschreiben. Abermals Hahn: „Die Fälle sind eben nicht als solche schon ‚im Prinzip‘ in der Theorie vorgesehen, so daß die Subsumption ein bloßer Sortierungsvorgang wäre […]. Subsumption als realer Vorgang der situativen Passung ist kreativ.“78 Versteht man die rhetorische Verwendung des Exempels, ja den rhetorisch geschulten Blick in der Literaturanalyse insgesamt auf die von Udo Friedrich beschriebene Weise, so ergibt sich ein heuristisches Instrumentarium, dessen Anwendung nicht allein auf mittelalterliche Texte begrenzt ist. Vielmehr lässt sich eine Perspektive einnehmen, mit der topische Argumentationsstrukturen in Texten und kulturellen Geltungsansprüche des Common Sense als subkutan verankerte, von der Gewohnheit geprägte Archive kollektiver Vorstellungen gleichermaßen diachron durch die Literaturgeschichte verfolgen werden können. Was Aristoteles formal an Argumentationsfiguren beschreibt, lässt sich im Gebrauch des Exempels in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit nachweisen, es findet sich aber auch in der Funktionalisierung von Sentenzen in höfischen Romanen des Mittelalters oder in heutigen Techniken der Werbeindustrie (paradigmatisch der Werbespruch für Bier: „Nicht immer, aber immer öfter!“). Es sind aber nicht nur interdisziplinäre Offenheit und eine breite Anschlussfähigkeit an bestehende Theoriekonzepte, die den ‚rhetorischen Ansatz‘ kennzeichnen. Greift man die These von Kulturen als Ensemble konkurrierender Wissensformen auf, so scheint es die Rhetorik zu sein, in der diese ‚Konkurrenz‘, d. h. Praktiken epistemischer Ver- und Aushandlungen, besonders deutlich zur Geltung kommt.79 Das Exempel verbindet Einzelfälle und kulturelle Regeln, es abstrahiert Erfahrung, überführt Normen in Anschauung und stellt in der Kasuistik Gegensätze nebeneinander. Die ‚Epistemologie des Exemplarischen‘ lässt sich damit als Index einer kulturellen Selbstverortung verstehen, in der die Geltungsansprüche rhetorischer Aussagepraktiken sichtbar werden. Es ist Udo Friedrichs Verdienst, diesen Ansatz implementiert zu haben, der sicherlich maßgeblich zur gegenwärtigen Konjunktur und erfolgreichen Renaissance der Erforschung von Kurzerzählungen beigetragen hat. Zurück zu den Lebenswegen, die in den Forschungen von Udo Friedrich in vielfältiger Hinsicht eine wesentliche Rolle spielen: sei es in Bezug auf ihre Metaphorik oder aber ihre spezifischen Dynamiken und Wandlungsformen in wechselnden
|| 77 Alois Hahn: Zur Soziologie der Weisheit. In: Weisheit. Hrsg. von Aleida Assmann. München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 3), S. 47–57, hier S. 49. 78 Ebd., S. 50. 79 Vgl. Friedrich: Trieb und Ökonomie (Anm. 50).
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kulturellen Feldern. Er selbst wiederum hat im universitären Alltagsleben zahlreiche Lebenswege ebenso zahlreicher Menschen in Forschung und Lehre geprägt, gelenkt und begleitet; dies immer sachlich und menschlich, immer fair und transparent, immer großzügig und von völliger Uneitelkeit geprägt. Mit Udo Friedrich verbindet sich daher eine wunderbar offene Gesprächskultur, die Freiräume schafft für die je eigenen Interessen und Methoden, die stets neue Lesarten altbekannter Texte ermöglicht und die Vieldeutigkeit und Pluralität als grundlegende Werte zu vermitteln versteht. Grundlage und das Herzstück für diesen besonderen wissenschaftlichen Habitus bilden sein umfassendes literaturwissenschaftliches Interesse, das von Aristoteles über Hartmann von Aue zu Charles Baudelaire und Christoph Ransmayr oder Herta Müller führt und die Mediävistik in diese weite Literaturlandschaft und in einen interdisziplinären Wissenshorizont einzubetten versteht. Damit sind wir wieder zurück beim Anfang: Wie soll man einen derart geschätzten Kollegen und auch Lehrer angemessen ehren? Wir folgen Udo Friedrichs Spuren und lassen nun seine eigenen Gedanken und Überlegungen in einer kleinen Auswahl zur Sprache kommen, die einen Eindruck seines vielfältigen Schaffens vermitteln sollen. Für den Wiederabdruck in diesem Band haben wir nur kleinere formale Eingriffe vorgenommen, um sie dem einheitlichen Format dieser Reihe anzupassen. Vorab gilt es noch Dank zu sagen. Ein herzlicher Dank geht an die zahlreichen Helfer*innen, die dieses Werk im Geheimen und aus der Ferne, aus Erlangen, Köln und Konstanz, redaktionell begleitet haben: Paul Bank, Anna Blum, Sandra Bonitz, Nina Diez, Friedrich Michael Dimpel, Sarah Scharrer und Harriet Ziegler. Wir danken den Verlagen, die uns die Genehmigungen für einen Wiederabdruck der Schriften so unkompliziert zugesagt haben. Unser Dank geht auch an den De Gruyter Verlag, namentlich an Robert Forke, für die gute Zusammenarbeit; Monika Schausten und Bruno Quast danken wir für die Aufnahme des Bandes in die gemeinsame Schriftenreihe ‚Literatur | Theorie | Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik‘. Zuletzt aber und zugleich allererst gilt unser aufrichtiger Dank Udo Friedrich für seine Forschungen, die uns weiterhin beständig begleiten werden. Andreas Hammer, Michael SchwarzbachDobson und Christiane Witthöft im Mai 2022
Teil I: Wandel des Kulturellen
Überwindung der Natur Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander Texte als homogene Gefüge zu lesen, ist im Gefolge moderner literaturwissenschaftlicher Verfahren in Verdacht geraten. Zwar finden sich mehr oder minder stimmige Werkkonzeptionen auch in der mittelalterlichen Literatur, doch rückt gegenwärtig die Heterogenität literarischer Entwürfe in den Horizont der Mediävistik. Daß Brüche, Offenheit, Polaritäten und Überlagerungen in besonderem Ausmaß Kennzeichen mittelalterlicher Texte sind, zeigt sich in vielen Fällen nicht nur am Überlieferungsbefund eines Werks, sondern auch erzähltechnisch in der Kombination heterogener Erzählmuster. 1 Wie ein und derselbe Stoff ganz unterschiedlichen Perspektivierungen unterliegen kann, läßt sich am Alexanderroman exemplarisch studieren: Die Biographie des antiken Herrschers bot sich gerade mittelalterlichen Rezipienten sowohl als Exempel einer Vanitas-Thematik als auch als Fürstenspiegellehre an, als Muster heroischen Handelns ebenso wie als Beispiel eines grenzüberschreitenden Wissensanspruchs. 2 Die verschiedenen Adaptationen des Alexanderstoffes bieten konzeptionelle und narrative Alternativen. Vor allem der Rückgriff auf heterogene Textsorten aus dem Umkreis der Alexandersage wie die Epistola Alexandri (Reisebericht), die Collatio Dindimi (Briefdiskurs) und das Iter ad Paradisum (Exempel) zeugt von der Möglichkeit, zusätzliche Themenfelder und Darstellungsmuster in den Roman einzuspielen oder durch Überlieferungssymbiose an ihn anzulagern. Sie schlagen sich indes nicht nur in verschiedenen Fassungen und Handschriftenkonzeptionen nieder, sondern durchziehen auch jeweils einzelne Werke. Die Komplexität von Erzähl-
1 Schon am Beispiel des klassischen Artusromans läßt sich die Spannung von „Homogenität und Heterogenität des Erzählens“ konstatieren. Vgl. Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. In Zusammenarbeit mit Jean Frappier, Hans Ulrich Gumbrecht, Ulrich Mölk, Daniel Poirion und Aurelio Roncaglia hrsg. von Hans Robert Jauß, Erich Köhler. Bd. IV: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Teil 1: (Partie historique). Heidelberg 1978, S. 25–59. 2 Werner Schröder: Zum Vanitas-Gedanken im deutschen Alexanderlied. In: ZfdA 91 (1961/1962), S. 38–55. Peter K. Stein: Ein Weltherrscher als vanitas-Exempel in imperial-ideologisch orientierter Zeit? Fragen und Beobachtungen zum ‚Straßburger Alexander‘. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hrsg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum, Peter Wapnewski. Stuttgart 1978 (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten. 1), S. 144–180. Jan-Dirk Müller: Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. V), S. 252–271, hier S. 254–256 u. 259. https://doi.org/10.1515/9783110772340-002
Überwindung der Natur strategien, Strukturmustern und Motivkomplexen kennzeichnet die Alexanderüberlieferung in besonderem Maße. 3
Der Alexanderroman schreibt aber nicht nur die exemplarische Geschichte einer historischen Herrschergestalt vor jeweils wechselnden Perspektiven, nicht nur diejenige eines Heros, dessen Expansionspolitik letztlich auf metaphysische Grenzen stößt. Alexander ist nicht das alleinige Zentrum der Darstellung. Die verschiedenen Bearbeitungen, denen der Stoff in seiner Geschichte unterworfen wurde, zeugen zwar davon, daß ganz unterschiedliche Interessen die Alexandervita strukturieren können und der Welteroberer zum Vehikel divergierender Sinnbildungen wird. Dabei dominiert das Syntagma des biographischen Entwurfs, das vom jeweiligen paradigmatischen Konzept (Heros, Ritter, Vanitas-Figur, Grenzüberschreiter) überlagert wird. Dieses bleibt indes an die Alexanderfigur gebunden und verdeckt Aussageebenen jenseits personaler Instanzen. Nicht weniger wichtig als die Exemplarik des Heros aber sind die Orte, die dieser durchläuft. Am Beispiel des Straßburger Alexander läßt sich zeigen, daß der Text bei sich überlagernden Sinnhorizonten zusätzlich eine Thematik entfaltet, die aus dem Blick fällt, wenn sich die Interpretation linear an der Hauptfigur orientiert. 4 Der zweite Teil des Epos kann – so meine These – in einer Reihe von Szenen als Dialog zwischen Kulturanspruch und Naturverhältnis gelesen werden, der in seinen verschiedensten, mitunter nicht kompatiblen Facetten entfaltet wird. Sogar als Polylog über verschiedene Bezugsformen von Natur und Kultur läßt sich der zweite Teil auffassen, ohne daß Alexander dabei eine zentrale Funktion erfüllte. Der Konflikt durchzieht zahlreiche Episoden, scheint ihnen geradezu als eine Art Basisopposition zugrundezuliegen. Er organisiert selbst die Dramaturgie der Episodenreihung und markiert zugleich eine Grenze, die im Formationsprozeß der feudalen höfischen Gesellschaft immer wieder Gegenstand literarischer Gestaltung ist. Der Alexanderroman thematisiert damit einen Problemzusammenhang, den auch der höfische Roman wiederholt aufnehmen wird: Es ist der Versuch, sich des
3 George Cary: The Medieval Alexander. Hrsg. von D[avid] J. A. Ross. Cambridge 1956. Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. Berlin 2 1977 (Grundlagen der Germanistik. 7), S. 35–45. Trude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte. Frankfurt a. M. [u. a.] 1989 (Europäische Hochschulschriften. I/1174). 4 Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen. Hrsg. und erklärt von Karl Kinzel. Halle a. d. S. 1884 (Germanische Handbibliothek. 6) (zukünftig: Straßburger Alexander).
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
eigenen kulturellen Standpunktes zu vergewissern gegenüber einer allenthalben erfahrbaren widrigen Natur. 5 Die äußere, aber auch die innere Natur bilden dabei Orte komplexer Überwindungs- und Disziplinierungsleistungen. 6 Was aber der höfische Roman entweder als dämonische Gegenwelt inszeniert oder als zeitweilige Verirrung ins Innere der Protagonisten verlegt (Iwein, Wigalois, Partonopier, Apollonius), diskutiert der Alexanderroman in der Begegnung mit ‚fremden‘ Naturinstanzen und Kulturformen in räumlicher Distanz. Die Kulturdiskussion läßt sich als eine eigene Aussageebene lesen, die nicht vollständig mit der Handlungslogik übereinstimmt, und doch profiliert sie sich deutlich gegenüber anderen Handlungsblöcken. Die Pragmatik des Textes weist damit über den Exempelstatus des Protagonisten hinaus; das Dual Natur-Kultur, das bis in die Moderne ein privilegiertes Instrument kultureller Selbstverständigung ist, strukturiert den Prozeß der Begegnung mit dem Fremden in einer historisch spezifischen Form. Ein Blick auf die lateinische Alexandertradition erhärtet die Hypothese. In einem Teil der gelehrten Überlieferung besitzt die Kulturthematik einen ausgezeichneten Stellenwert. Der Alexander-Dindimus-Briefwechsel enthält bekanntlich eine umfangreiche und dezidierte Kulturdiskussion, die die unterschiedlichen Lebensformen von Gymnosophisten und Griechen reflektiert. 7 Die divergierenden 5 Jacques Le Goff: Lévi-Strauss in Brocéliande: Skizze zur Analyse eines höfischen Romans. In: Ders.: Phantasie und Realität des Mittelalters. Aus dem Französischen übersetzt von Rita Höner. Stuttgart 1990, S. 171–200 [zuerst 1974]. Bernhard Waldmann: Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200. Überlegung zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters. Erlangen 1983 (Erlanger Studien. 38). Horst Wenzel: Ze hove und ze holze – offenlîch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied. In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld 3. bis 5. 11. 1983. Hrsg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia Humaniora. 6), S. 277–300. Petra Giloy-Hirtz: Begegnung mit dem Ungeheuer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hrsg. von Gert Kaiser. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 12), S. 167–209. Helmut Brall: Imaginationen des Fremden. Zu Formen und Dynamik kultureller Identitätsfindung in der höfischen Dichtung. In: Ebd., S. 115–165. Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996. 6 Zum Konzept der Beherrschung der Natur durch Kunst und Bildung in mittelalterlichen Kathedralschulen vgl. C. Stephen Jaeger: The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe. 950–1200. Philadelphia 1994, S. 159–164 u. 184–186. 7 Heinrich Becker: Die Brahmanen in der Alexandersage. Programm des Königlichen FriedrichsKollegiums. Königsberg 1889. Günther Christian Hansen: Alexander und die Brahmanen. In: Klio. Beiträge zur alten Geschichte 43/45 (1965), S. 351–380. Wolfgang Kirsch: Das Reich des Dindimus. Eine antike Utopie im Mittelalter. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 24 (1975), S. 71–75. Karl Heinz Göller: Alexander and Dindimus: West-östlicher Disput über Mensch und Welt. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes. Hrsg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 105–119.
Überwindung der Natur Fassungen belegen für die gelehrte Rezeption durchaus Bedarf an kontroverser Diskussion: Einerseits existiert eine stoisch-christianisierte Version, die stärker asketisch orientiert ist und die frugale Bedürfnisnatur des Menschen akzentuiert (Palladiusversion), andererseits eine aristotelisch geprägte, die gegen die Naturphilosophie der Gymnosophisten den Kulturanspruch behauptet (Collatio Dindimi). 8 Abgesehen von ihren separaten Überlieferungen, gehen sie in verschiedene lateinische Versionen des Alexanderromans ein und entfalten einen schon dort latent angelegten Diskurs. 9 Die Gymnosophistenepisode bietet aber nicht den einzigen Anknüpfungspunkt für die Kulturthematik, sie manifestiert sich nur als deren diskursive Inszenierung. Am Leitfaden der Wirksamkeit von Artes, Pädagogik und Physiognomik entfaltet die lateinische Alexandertradition das Kulturthema ebenso wie auch Alexanders politischer ‚Imperialismus‘ Herrschaft über die Natur impliziert. 10
Die Suche nach einer einheitstiftenden Idee kennzeichnet die Interpretationsgeschichte zum Straßburger Alexander. Hier vor allem überlagern sich theologische, politische und utopische Konzeptionen, ohne in einem homogenen Gefüge aufzugehen. Schwer harmonisierbar sind bereits die beiden Hauptteile des Romans: der Kampf gegen Dareius einerseits und die Orientfahrt andererseits. Die politische und ethnographische Thematik besitzen zwar Verbindungslinien: etwa der Ausweis eines vorbildlichen feudalrechtlichen Herrscherhandelns oder die illegitime Überschreitung eines ursprünglich rechtmäßigen Vorhabens, die schließlich in der Zurechtweisung vor dem Paradies mündet. 11 Dennoch sind beide in Bezug auf Umfang 8 Hansen (Anm. 7), S. 372. 9 Vgl. Rüdiger Schnell: Liber Alexandri Magni. Die Alexandergeschichte der Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, n.a.l. 310. Untersuchungen und Textausgabe. München/Zürich 1989 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 96). Historia de preliis (J1). In: Die Quellen zum Alexander des Rudolf von Ems. Hrsg. von Oswald Zingerle. Breslau 1885 (Germanistische Abhandlungen. IV), S. 129–265. 10 Die Ausdehnung der Fragestellung auf ein umfassenderes Textcorpus, auch im Kontext der Alexanderüberlieferung, ist Gegenstand einer größeren Arbeit. In diesem Zusammenhang bedarf es auch der Historisierung des Kulturbegriffs, um moderne Projektionen zu vermeiden und Differenzen zu antiken Kulturtheorien (z. B. Platon, Lukrez, Seneca), in deren Sog der Alexander-DindimusBriefwechsel sich noch vollzieht, zu markieren. Für die mittelalterliche Rezeption, wie sie im Straßburger Alexander vorliegt, vollzieht sich die Diskussion unter dem Begriff der höfischeit. Zur Problematik dieses Begriffs und zum Problem „Höfische Kultur“ vgl. Peter Ganz: Der Begriff des ‚Höfischen‘ bei den Germanisten. In: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 16–32. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme. In: PBB 114 (1992), S. 414–492. 11 Stein (Anm. 2), S. 169f.; Schröder (Anm. 2), S. 51–54.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
und Handlungsführung seltsam isoliert gestaltet. Während für die Auseinandersetzung zwischen Alexander und Dareius im ersten Teil ein rekurrentes Strukturmuster postuliert wurde, das um die Idee der translatio imperii organisiert ist, scheint für die Orientfahrt ein anderes Kohärenzprinzip zu gelten. 12 Je nach Auswahl der Szenen ist diese Episodenreihung unterschiedlichen Leitideen unterstellt worden. Zum einen besitzt sie mit der Paradiesfahrt einen suggestiven Fluchtpunkt, der verbunden mit der Vanitassequenz des Prologs als Klammer dient, die Okzidrater-, Blumenmädchen- und Candacisepiode unter das Thema Vergänglichkeit zu stellen. 13 Haug sieht gar aus einer strukturellen Erzählperspektive das ‚naive‘ Prinzip der offenen Episodenreihung durch die Abschlußsequenz (Iter ad Paradisum) ‚negiert‘, indem diese alle vorhergehenden Episoden ‚invertiert‘ und damit negativ perspektiviert. 14 Dagegen hat Barbara Haupt für die Reihe Okzidrater-, Blumenmädchen-, Candacis- und Amazonenepisode den „strukturellen Zusammenhang“ einer kommunikativen Friedenspolitik postuliert, der nach dem Strukturprinzip „erweiternder und steigernder Wiederholung“ organisiert sei. 15 Die Episoden des zweiten Teils werden dabei weniger durch „ein kompositorisch-strukturelles und sinnstiftendes Beziehungsgeflecht“, 16 wie es für den ersten Teil postuliert wurde, als durch „motivliche, gedankliche und formale Entsprechungen“ miteinander verklammert. 17 Wird so einmal infrage gestellt, daß die Alexanderfigur „unter Kriterien personaler Stimmigkeit“ entworfen wird, so wird zum andern eine „Wandlung“ des Protagonisten vom gewalttätigen Eroberer zum Friedensfürsten konstatiert. 18 12 Peter Strohschneider, Herfried Vögel: Flußübergänge. Zur Konzeption des ‚Straßburger Alexander‘. In: ZfdA 118 (1989), S. 85–108, hier S. 87f. (zur Zweiteilung). 13 Vgl. Schröder (Anm. 2), S. 38–55. Zur Kritik vgl. Ruh (Anm. 3), S. 41f. Fisher (Rodney Fisher: Studies in the Demonic in Selected Middle High German Epics. Göppingen 1974 [GAG. 132], S. 146– 153, hier S. 150f.) stellt eine strukturelle Verbindung zwischen den Episoden des zweiten Teils her (Okzidrater, Blumenmädchen, Candacis, Paradies), die er durch die motivischen Korrespondenzen der Vanitas-Thematik belegt sieht. Der Okzidraterepisode (S. 150) weist auch er einen zentralen Stellenwert zu. 14 Walter Haug: Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten. In: GRM 23 (1973), S. 129–152, hier S. 133 u. 135f. Vor dem Hintergrund eines ästhetischen Evolutionismus (Reihung, Invertierung, Doppelweg), der von der Geschlossenheit literarischer Entwürfe ausgeht, bildet das Erzählprinzip des Straßburger Alexander lediglich eine ‚naive‘ Vorstufe zum Doppelweg. 15 Barbara Haupt: Alexanders Orientfahrt (Straßburger Alexander). Das Fremde als Spielraum für ein neues Kulturmuster. In: Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Hrsg. von Eijirō Iwasaki. Bd. 7: Klassik – Konstruktion und Rezeption. Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse. Hrsg. von Yoshinori Shichiji. München 1991, S. 285–295, hier S. 287f. Siehe auch dies.: Alexander, die Blumenmädchen und Eneas. In: ZfdPh 112 (1993), S. 1–36. 16 Vgl. dazu Strohschneider, Vögel (Anm. 12), S. 97. 17 Haupt: Alexander (Anm. 15), S. 9. 18 Strohschneider, Vögel (Anm. 12), S. 105. Haupt: Alexander (Anm. 15), S. 16.
Überwindung der Natur Gegenüber einer am Handlungsverlauf orientierten Leitidee sollen hier einzelne Szenen des zweiten Teils in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, das sich um die Pole Natur und Kultur bewegt. Das Vorgehen besitzt zunächst den Vorteil, daß es den Gedanken der Entwicklung suspendiert und sich auf die Erzählorganisation selbst konzentriert. Strategien der narrativen Kohärenzbildung werden damit nicht auf der Ebene der Figur gesucht, sondern auf paradigmatischer. Dem entspricht nicht nur der gegenüber der lateinischen Vorlage hohe Anteil deskriptiver Ergänzungen, die in einer handlungslogischen Interpretation nur schwer funktionalisierbar sind, sondern auch das Erzählprinzip der kontrastiven Reihung. 19 Überdies erfaßt ein solcher Ansatz einige Zusatz- und Nebenszenen, die in der Konzentration auf vier Hauptszenen keine Berücksichtigung finden. Schließlich läßt sich so eine Episode (Blumenmädchenepisode), die bisher allenfalls als Fremdkörper oder als Ort einer psychologischen Sondererfahrung des Protagonisten aufgefaßt wurde, in ihrer besonderen Konfiguration beschreiben. Die Opposition von Natur und Kultur bildet nun aber keinesfalls den Schlüssel für eine homogene Konzeption des zweiten Teils. Sie dient vielmehr als weiteres Indiz dafür, daß hier verschiedene Sinnrahmen miteinander konkurrieren, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind, sich allenfalls überlagern. Die lateinische Tradition hatte entsprechende Anregungen des Romans genutzt, um das Kulturthema in diskursiver Form zu entfalten. Der Straßburger Alexander, so meine These, zeigt eine Strategie der Aneignung des Fremden durch Integration ins Bekannte. Wiederholt ist darauf verwiesen worden, daß der Text keine reale geographische Raumvorstellung des Ostens bietet und in seinem Orientbild vor allem literarischen Vorstellungen folgt. Integriert der erste Teil des Romans noch eine diffuse Geographie durch Anlagerung vertrauter Namen und biblisch-literarischer Ereignisse, so fehlt ein derartiges Verfahren im zweiten Teil. Jenseits der vertrauten räumlichen und politischen Dimensionen praktiziert der Verfasser eine andere Form der Orientierung. Barbara Haupt konstatiert, daß „für das neue Kulturmuster der hubischeit, durch die Verlagerung in die entfernten Gebiete Asiens, weltweite Gültigkeit suggeriert“ wird. 20 Der Straßburger Alexander gibt somit weder eine historische noch geographische Differenzierung kultureller (höfischer) Konstellationen zu erkennen. An ihre Stelle tritt ein Verfahren der Aneignung des Fremden, in dem verschiedene Formen des feudal-höfischen Kulturmusters durchgespielt, in ein Verhältnis zueinander gesetzt und vor dem Hintergrund von differenten Naturverhältnissen jeweils anders akzentuiert werden. Fluchtpunkt scheint hier der Gedanke der Herrschaft
19 Die gerade im zweiten Teil extensiven Beschreibungen lassen sich mit Roland Barthes gegenüber den (syntagmatischen) Handlungskernen als „Indices“ beschreiben, die paradigmatische Bezüge implizieren. Vgl. Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988 [zuerst 1985], S. 112. 20 Haupt: Alexanders Orientfahrt (Anm. 15), S. 295.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
über die Natur zu sein, und das bevorzugte Darstellungsverfahren ist das der harten Fügung gegenläufiger Standpunkte. Es deutet sich bereits im ersten Teil an, und zwar dort, wo sich der Leser schon früh mit ‚wundersamen‘ Erscheinungsformen konfrontiert sieht. Vor allem vor der Folie der lateinischen Tradition setzt der Straßburger Alexander signifikante Akzente.
Alexanders Abkunft von Nectanebus, dem ägyptischen König und Magier, löst in der lateinischen Überlieferung den Protagonisten gleich zu Beginn aus der gewohnten natürlich-genealogischen Struktur. Schon im Alexanderroman Leos war die sonderbare Erscheinung Alexanders für Philipp Anlaß, schmerzlich die gestörte Genealogie zu beklagen: Fili, diligo velocitatem tuam atque ingenium, sed tristis existo, quia figura tua non assimilatur mihi. Daß mit dem genealogischen Argument ein politisches vorgebracht wird, erhellt aus der späteren Rede des Lysias, eines Verwandten von Philipps zweiter Frau Cleopatra, der gegen Alexanders Kritik an der neuen Verbindung die Erwartung äußert: Philippe, ex Cleopatra nascetur tibi filius similis tui. 21 Gerade die Ähnlichkeit wird zum Argument für legitime und illegitime Herkunft. Alexanders gewalttätige Reaktion gegen den Redner dient daher der Sicherung seines Herrschaftsanspruchs, der gegen ‚offensichtliche‘, gültige Regeln des natürlichen Herrschaftstransfers verstößt. 22 Das Modell von Legitimität qua genealogischer Identität, die sich am Körper auszuweisen hat, wird im lateinischen Text ausgespielt und zugleich durch eine Alternative negiert. Verändert hat sich hier das Verhältnis von Genealogie und Natur. Mit der Depotenzierung der genealogischen Vaterrolle ist indes das Argument der natürlichen Legitimität keinesfalls suspendiert. Während der Vatertausch die genealogische Legitimität infrage stellt, dient der Ersatzvater Nactanebus seinerseits nur noch als Katalysator einer höheren Abkunft: Der naturkundige Magier implantiert seinem natürlichen Sohn Alexander qua ‚Kunst‘ kosmische Kräfte und Zeichen und bindet ihn damit an natürliche Instanzen höherer Ordnung an. Erst durch den Vatertausch 21 Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo. Untersucht und hrsg. von Friedrich Pfister. Heidelberg 1913 (Sammlung mittellateinischer Texte. 6), S. 54, hier S. 59. 22 Der Vater bildet das natürliche principium generationis: Naturaliter enim desiderat pater suam speciem multiplicare in filiis, vt naturam quam non potest seruare, in se custodiat in sua prole [...]. Generat autem filium sibi similem in specie & etiam in effigie, maxime, quando virtus in semine patris, vincit virtutem in semine matris. Bartholomaeus Angelicus: De rerum Proprietatibus. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1601. Frankfurt a. M. 1964, S. 247. Zur Ähnlichkeit als Bestandteil genealogischer Argumentation vgl. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, V. 3658–3661 u. 13346–13355.
Überwindung der Natur läßt sich Alexanders welthistorische Bedeutung als kosmisches Ereignis beschreiben. Das Wissen über die Wirkkräfte der Natur (Astrologie), das dokumentiert die gelehrte Alexandertradition, wird zum Zweck einer mehr kosmischen denn patrilinearen Genealogie instrumentalisiert. 23 Das Problem des genealogisch fundierten Aussehens findet sich auch in der Historia de preliis, nicht aber im Straßburger Alexander. Hier wird die legitime Herkunft Alexanders als Sohn Philipps gegen jeden Zweifel verteidigt, und daher kann der Hinweis auf die äußerliche Unähnlichkeit mit dem Vater entfallen. Die Beschreibung Alexanders folgt dem rhetorischen Schema a capite ad calcem und setzt mit einer Charakterisierung von besonderen Kennzeichen ein. Die Körperzeichen, die im lateinischen Text als sichtbare Merkmale einer göttlich-dämonischen Herkunft (Ammon) ausgegeben worden waren, werden in einen heraldischen Merkmalskatalog umgeformt: Alexander trägt eine Löwenmähne und besitzt jeweils ein Drachenund ein Greifenauge. Der furor heroicus, der Alexander auszeichnet und der sich immer wieder in Zornausbrüchen ausdrückt, wird in Tieranalogien manifest, die im feudalen Kontext die kosmisch-dämonischen Bezüge ersetzen. So wird etwa das Auge zum Medium heroischer Gewalt, wenn Alexander seinen Unwillen im Wolfsblick artikuliert oder das wilde Pferd Bucephalus durch den Blick domestiziert (V. 145–148 u. 360–366). Gerade nicht durch mechanische Gewalt (zoum noh seil; V. 372) gewinnt Alexander Macht über das Tier, sondern durch eine naturanaloge Kraft. Die Prädestination zur Herrschaft erfolgt weniger über Erziehung als über mythische Qualitäten, und der Triumph über die rohe Natur versichert sich tiefer liegender natürlicher Ressourcen. Und doch scheint diese Kennzeichnung Alexanders ambivalent zu sein, da sie – in harter Fügung – durch die weitere Beschreibung, die nach höfischer Topik vor allem auf die Wohlgestalt abhebt, gebändigt wird. Die lateinische Fassung kennt eine derartige Ergänzung der descriptio nicht. Sîn hals was ime wol geschaffin, sîn brust starc und wol offin, sîne arme wâren ime von grôzer maht. allis sînes mûtes was er wol bedâht. sîn bûch ne was ime nit ze lanc noh ze breit: vil wol daz deme jungelinge steit. beide ubir vûze und ubir bein rîterlîch er ze tale schein.
23 Albertus Magnus beschreibt diese ‚natürliche Imprägnierung‘ Alexanders als Strategie des Nectanebus. Et ideo Nectanabus naturalis Alexandri pater cum matre sua Olympyade tempus observans coivit sole Leonem intrante et Saturno in Taurum, a quibus planetis suum filium volebat recipere figuram et potestatem. In: Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Nach der Cölner Urschrift. Hrsg. von Hermann Stadler. Bd. 2. Münster 1920 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters; Texte und Untersuchungen. 16), De animalibus XXII 1,4, S. 1352.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
unde ubir allen sînen lîb was er rehte hêrlîch. (V. 167–176)
Gegenüber der Relation Natur und Heroik, vor der die Beschreibung des Gesichts erfolgte, verlagert sich die Opposition hin zu derjenigen von Natur und ritterlicher Erscheinung. Das wunder des heraldischen Signums, obgleich frei von genealogischen Vorbehalten, changiert offenbar zwischen Auszeichnung und Bedrohung und bedarf der Korrektur durch eine zusätzliche Beschreibung höfischen Maßes. 24 Die Opposition von Wildheit und Höfisierung, Gewalt und Maß, die hier an einem kleinen Ausschnitt sichtbar wird, kehrt im Laufe des Romans in modifizierter Form wieder und bildet eine Strategie der Bewältigung des Fremden.
Im zweiten Teil des Straßburger Alexander verläuft die Begegnung mit dem Fremden zunächst unerwartet problemlos. Weder gibt es Kommunikationsprobleme, noch ist die ‚andere‘ Welt gänzlich unvertraut. Immerhin nimmt die Kennzeichnung der begegnenden Phänomene als ‚wunderbar‘ gegenüber dem ersten Teil überproportional zu. 25 Bezieht sie sich dort außer auf die Erscheinung Alexanders vor allem auf seine militärischen Taten, so dient sie im zweiten Teil zunächst als Kennzeichen unerwarteter Naturphänomene: von Elefanten, aggressiven Tieren, sonderbaren Bäumen und Vögeln. Der unerwarteten Konfrontation mit einer natürlichen Sonderwelt korrespondiert indes zugleich ein Erstaunen über Regionen ausgewählter Zivilisiertheit, wie sie im Sonnenpalast, in der Blumenmädchen- und CandacisEpisode hervortreten. In diesem Spannungsfeld von natürlicher und kultivierter Wunderwelt vollzieht sich der Zug ans Ende der Welt. Der Straßburger Alexander erzählt die Okzidrater-Episode nach dem Vorbild seiner mittelbaren Vorlage, dem Alexanderroman Leos. 26 Sie ist gegenüber dessen Version in den deskriptiven Partien erweitert und markiert stärker die Differenz von Wildheit und Zivilisiertheit. Damit reklamiert ein „Begleitumstand“ gegenüber dem eigentlichen Thema, der Konfrontation des Mächtigen mit den Weisen, zunehmende Aufmerksamkeit. 27 Die Szene setzt mit einer kurzen Skizze der fremden Lebensum 24 Zur Topik höfischer Personenbeschreibung vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 2. München 1986, S. 419–425. 25 Hans Szklenar: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen. Göttingen 1966 (Palaestra. 243), S. 62. 26 Karl Stackmann: Die Gymnosophisten-Episode in deutschen Alexander-Erzählungen des Mittelalters. In: PBB 105 (Tübingen 1983), S. 331–354. Cary (Anm. 3), S. 91–95. 27 Zum Verhältnis der Themen Weisheit – Macht und Wildheit – Zivilisiertheit vgl. Hartmut Kugler: Das Streitgespräch zwischen ‚Zivilisierten‘ und ‚Wilden‘. Argumentationsweisen vor und nach der
Überwindung der Natur stände ein: Die Okzidrater gehen nackt einher, besitzen keine Reichtümer, ihre Bewaffnung ist primitiv (Ziegenknochen), sie kennen weder Siedlungsformen noch Schutzräume, leben unter freiem Himmel, und ihre Schlafstätte wird durch die hereinbrechende Nacht bestimmt. 28 Die Nachbarschaft dieser Lebensform zu einer animalischen suggeriert der Straßburger Alexander gegenüber der lateinischen Überlieferung noch dadurch, daß hier eine Sequenz vorgeschaltet wird, die das gemeinschaftliche Leben der Frauen mit den Tieren auf der Weide notiert. 29 Vor allem aber kennen die Okzidrater kein Begräbnis und somit keine Memorialkultur, und mit ihnen zu kämpfen trägt nach ihren eigenen Worten keine Ehre ein. 30 So erscheint ihr Leben prononcierter als in Leos Text dem Naturrhythmus unterworfen, der Vergänglichkeit anheimgegeben und in direkter Abhängigkeit von naturalen Instanzen. Gemessen werden die Okzidrater an selbstverständlichen kulturellen Errungenschaften: an Kleidung, Besitz, Bewaffnung, an der Siedlungsform, an Burgen, Grabmälern und an sozialen Werten. Sie erscheinen als armseliges Volk, das unter erbärmlichen Bedingungen lebt. Die Lebensform des Naturvolks signalisiert hier nicht eine ideale Naturbeziehung gegenüber einem pervertierten Kulturzustand. Dem mittelalterlichen Erzähler erscheinen die Okzidrater aufgrund ihrer Bedürfnislosigkeit allein fremd und distanziert. Die Beschreibung ihrer Lebensform durch den Erzähler endet mit einem ebenso eindeutigen Fazit – si lebent jêmerlîche (V. 4782) – wie das abschließende Urteil Alexanders: ‚[...] hêten si alle uheren mût, di in der werilde wollent wesen, waz solde in danne daz leben?‘ (V. 4887–4889)
Indem gegenüber der lateinischen Version die Position Alexanders sichtbar gestärkt wird, besitzt das Fremde noch nicht die Funktion der Relativierung kultureller Standpunkte. 31 Hier, zu Beginn der Orientfahrt, markieren die Okzidrater aus dem Horizont einer höfischen Kultur ein zivilisatorisches Vakuum, indem ihrem Leben eine minimale Differenz zwischen natürlichen und zivilisatorischen Größen zugeschrieben wird. Die Darstellung des Fremden als naturverhaftet, wie sie aus der Erzähler- und der Figurenperspektive erfolgt, bildet aber nur das Negativ der vertrauten höfischen Größen. Und trotz aller Subtraktion bleibt die Darstellung von zentralen kulturellen,
Entdeckung der Neuen Welt. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 2: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hrsg. von Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann. Tübingen 1986, S. 63–72, hier S. 66f. 28 Vgl. ebd., S. 67. 29 Straßburger Alexander (Anm. 4), V. 4779–4781. 30 Zum Aspekt des Ruhms vgl. Stackmann (Anm. 26), S. 338. 31 Stackmann (Anm. 26), S. 339f.; Kugler (Anm. 27), S. 67.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
nämlich feudalen Prämissen abhängig. Nicht nur verfügen die Okzidrater über eine soziale Hierarchie (König) und über Kommunikationstechniken (Briefe) – diese kennt auch der lateinische Text –, überdies werden ihnen feudale Rituale (Botengaben, Empfangsritus) und ein Wissen um soziale Werte (Ruhm) attribuiert, die die markierte Archaik unterlaufen. Der Versuch einer diskursiven Grenzziehung zwischen naturverbundenem Leben und zivilisatorischem Impuls, wie ihn die lateinische Tradition entfaltet, wird hier noch von Faktoren eines politischen Diskurses überformt. Neben der Weisheitskonkurrenz und der ausgestellten Askese formiert sich deutlicher die naturkritische Perspektive. Trotz der geringen Ausmalung konfrontiert die Episode an signifikanter Stelle zwei Lebensordnungen. Sie basieren auf Statik und Dynamik und stellen einer Anpassung an die dürftige Natur den Willen zu ihrer Unterwerfung gegenüber. 32 Die Begegnung mit den Okzidratern kann daher als Folie für die in der Folge skizzierten Naturverhältnisse gelesen werden. Mit dem Beginn des Alexanderbriefes an Aristoteles (V. 4906) schließt sich eine locker gefügte Episodensequenz an, die dem additiven Muster des Reiseberichts folgt. Trotz ihrer Kürzung und Schematisierung gegenüber der separat überlieferten Epistola Alexandri läßt sich der Sequenz ein paradigmatischer Status zuschreiben. Einen See, der als Wasserreservoir dient, müssen die Griechen gegen wilde Tiere verteidigen. Die Szene gerät zu einer militärischen Auseinandersetzung mit einer widrigen Natur, wobei stereotyp die verschiedenen Tierarten aufgelistet werden: Skorpione, Löwen, Eber, Elefanten, Schlangen, Affen etc. Alexander trifft zudem auf Gewässer, Bäume und Vögel, die sich wundersam seinem Zugriff entziehen: In den Flüssen werden seine Soldaten verschlungen (V. 4955), der Versuch, die Bäume zu ernten, trägt Züchtigungen durch eine unsichtbare Macht ein (V. 5116f.), und die Annäherung an die Vögel zieht die Strafe des Himmelsfeuers (V. 5140f.) nach sich. Haupts Bemerkung, daß die Aggression im zweiten Teil sich auf den Bereich des Animalischen und Monströsen bezieht, läßt sich in Bezug auf diese Episode dahingehend erweitern, daß hier zum einen die Natur als Antinatur, zum andern als unzugängliche Vorsorgeinstanz entworfen wird. 33 Jene passive Widrigkeit der Natur, unter der die Okzidrater leben, wird um den Aspekt der Aggressivität erweitert. Der Diskurs über die Natur trägt dabei deutliche Züge einer Kriegshandlung: strategische Auswahl des Lagers, Bewachung, Verteidigung, taktische Maßnahmen. Überdies besitzt die Sequenz in Verbindung mit der folgenden Blumenmädchenepisode Anschlußstellen an die genuine Konzeption der Epistola. Für deren weitaus komplexere Darstellung hat Alexander Cizek eine eigenständige Konzeption postuliert, die im Spannungsverhältnis von zwei Szenen besteht: dem Kampf am Süßwassersee mit seinen apokalyptischen Bezügen und der nach der aetas aurea inszenierten 32 Kugler (Anm. 27), S. 66f. 33 Haupt: Alexanders Orientfahrt (Anm. 15), S. 290.
Überwindung der Natur Szene der prophetischen Bäume. Als gewissermaßen „archetypische, sinnbildliche Denkmuster“ markieren die beiden Pole den Handlungsraum des Kulturheros Alexander. 34 Zwar verliert im Straßburger Alexander die Szene am Süßwassersee im Kontext der Episodenreihung ihre strukturelle Schlüsselstellung, auch entfällt die Gegenszene der prophetischen Bäume. Dennoch bleiben im ersten Fall die dämonologischen Bezüge gewahrt, 35 während im zweiten die Gegenszene substituiert beziehungsweise in zwei Szenen mit analoger Funktion aufgespalten wird: in die sich anschließende Blumenmädchenepisode und in die abschließende Paradiesfahrt. An die Stelle der antiken Konstellation treten äquivalente christliche Entwürfe. Wenn im folgenden die Blumenmädchenepisode eingefügt wird, die sich in der griechischen und lateinischen Überlieferung nicht findet, so verstößt das eben nicht gegen die innere Logik des hier thematisierten Zusammenhangs. 36 Alexander entfernt sich mit 3000 Rittern von seinem Heer, um Wunder zu sehen (V. 5161), und trifft auf einen schönen Wald, der mit allen Elementen der Lustorttopik versehen ist und in dem unzählige kleine Mädchen tanzen und musizieren. Der topisch gestaltete Locus amoenus ist traditionell mit einer Minnewelt konnotiert, und auch diese Episode realisiert sie. 37 Sie konfrontiert Alexander gewiß mit einem neuen Erfahrungstypus: der befriedend wirkenden Minne. 38 Die Oppositionen verlaufen jedoch noch auf einer anderen Ebene als auf der von Aggression und Friedfertigkeit, Leiderinnerung und wohltuendem Vergessen. 39 Die Blumenmädchenepisode wird vor dem Hintergrund der Naturdiskussion aussagekräftig, indem Alexander in dem Wunderwald mit einer Atmosphäre höfischer Festlichkeit konfrontiert wird. Nicht nur spielen die äußerst hübschen Mädchen auf Harfen und singen lieblich, sie tanzen und verhalten sich explizit nach höfischem Vorbild:
34 Epistola Alexandri ad Aristotelem ad Codicum Fidem Edidit et Commentario Critico Instruxit. Hrsg. von W. Walther Boer. Meisenheim/Glan 1973 (Beiträge zur klassischen Philologie. 50). Alexander Cizek: Ungeheuer und magische Lebewesen in der Epistula Alexandri ad magistrum suum Aristotelem de situ Indiae. In: Proceedings. Third international beast epic, fable and fabliau Colloquium Münster 1979. Hrsg. von Jan Goossens, Timothy Sodmann. Köln/Wien 1981 (Niederdeutsche Studien. 30), S. 78–94, hier S. 84 u. 94. 35 Straßburger Alexander (Anm. 4), V. 5006–5009: dô quâmen lûte gegân / alse tûbele getan. / si wâren alse affen / under den ougen gescaffen. 36 Zur Quellenfrage der Blumenmädchenepisode vgl. Cola Minis: Zum Schluß von Lambrehts ‚Alexander‘, zur Geschichte der Blumenmädchen im Straßburger ‚Alexander‘ und zu dessen Verhältnis zu der ‚Eneide‘ von Veldeke. In: Zwei Studien zu Veldeke und zum Straßburger Alexander. Hrsg. von Thomas Klein, Cola Minis. Amsterdam 1985 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 61), S. 123–158, hier S. 123–141. Haupt: Alexander (Anm. 15), S. 19–25. 37 Szklenar (Anm. 25), S. 85–92, hier S. 87. 38 Haupt: Alexander (Anm. 15), S. 1–36. 39 Ebd., S. 17f.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
undir in ne was nehein, si ne phlêge scôner hubischeit. si wâren mit zuhten wol gemeit [...]. (V. 5280–5282) 40
Naturszenerie und kultiviertes Verhalten der Mädchen sind aber nicht umstandslos vereinbar. 41 Als ein großes Wunder beschreibt Alexander denn auch die Entstehung der vollkommenen Mädchen aus der Natur (V. 5245ff.). Wenn diese ‚höfische Enklave‘ aus Blumenkelchen entspringt und wenn die farbige Kleidung den Mädchen auf der Haut wächst, dann reklamiert die höfische Festkultur damit einen spezifischen Naturbezug, eine Art natürlicher Ursprünglichkeit. Sie erwächst ganz unmetaphorisch aus der Natur. Gerade in Opposition zur Mangelnatur der Okzidrater oder zur monströsen Antinatur der Folgeszenen wird hier gegenüber der Natur eine neue Position bezogen: die Natur als Kulturraum und umgekehrt. Die aufgehobene Differenz wird geradezu akzentuiert. In der Wunderwelt des Locus amoenus verbinden sich natürliche und höfische Freude ununterscheidbar: daz wunder daz was manicfalt: dô wart irschellet der walt von der sûzer stimme, di dâ sungen inne, di fugele und di magetîn, wî mohtiz wunniclîcher sîn frô unde spâte. (V. 5293–5299)
Die irreale Szenerie, der Alexander hier begegnet, setzt die Metapher einer im Naturzyklus wiederkehrenden höfischen Freude in konkrete Handlung um. Sie ist aber dadurch zugleich als gefährdeter Ausnahmeraum markiert. Die Vergänglichkeit des ‚Wunderraums‘ fügt sich in die höfische Kulturtopologie ein, bildet doch der Wechsel von Sommer und Winter in der höfischen Welt den Rahmen einerseits für die freudige Erwartung einer neuen minniglichen Zeit, andererseits für die Trauer über ihren Verlust. Und noch die Farbsymbolik der Pflanzen und der Kleidung, die beide
40 Haupt (ebd.), S. 18f., spricht in Bezug auf die heilende Wirkung des Gesangs (I Sm 16,23) von der „Überformung des alttestamentlichen Typus durch ein höfisches Kulturmuster, das Muster der hubischeit, das später in der Candacis-Episode noch einmal aufgenommen wird“. 41 Vgl. ebd., S. 23f. Ein Blick auf die französische Parallelfassung zeigt, daß dort die entsprechende Opposition weit deutlicher ausgestaltet ist. Die Differenzen, die Haupt feststellt, um das Verhältnis von Vorlage und Abhängigkeit (Minis) neu zu bestimmen, zeigen, daß der französische Text den Naturrahmen von Kultur deutlicher akzentuiert. Ein Automat muß beseitigt werden; eine Gartenanlage existiert, die nicht von menschlicher Hand angelegt ist; schließlich finden sich Heilmittel, die alle Kunst übertreffen.
34 | Überwindung der Natur
rot und weiß wie der Schnee gefärbt sind, spielt sowohl auf die Minnethematik als auch auf den Aspekt der Vergänglichkeit an.42 Die Blumenmädchenepisode entwirft einen natürlichen Kulturraum, der festliche Elemente (Farben, Gesang) beider Sphären verbindet und einer höfischen Kultur erlaubt, zumindest vorübergehend ein positives Naturverhältnis programmatisch ins Bild zu setzen. Suggeriert wird die Möglichkeit der Versöhnung der beiden Sphären, die bisher allenfalls antagonistisch einander zugeordnet waren. Doch nur im Vergessen und in der Illusion, das heißt in der temporären Enklave, gelingt die Suspendierung von Zeit (Geschichte), die denn auch aufgrund ihrer eigenen Zyklik die Ernüchterung der ‚Traumwelt‘ bewirkt. Die Topik des Locus amoenus, des höfischen Minneraums, wird nicht zufällig an diejenige des Paradieses angebunden.43 Die höfische Kultur projiziert sich in einen abgeschlossenen Naturraum, der im Hintergrund Reminiszenzen sowohl an die Zeitenthobenheit des Paradieses wie an die Vertreibung daraus enthält. Die Szene ist doppelt lesbar: einerseits als Kritik an einer im höfischen Kontext zelebrierten, periodisch wiederkehrenden Minnezeit, die jegliche Alltäglichkeit außer Kraft setzt, aber auch als Entwurf eines paradiesischen Schutzraums, in dem die Minneideologie sich noch ihres natürlichen Ursprungs versichern kann. Die sich anschließende Szenenfolge ist gerade aufgrund ihrer Oppositionen signifikant, da sie noch einmal die Grenze von Natur und Kultur thematisiert: hier die Begegnung mit dem sich widersetzenden wilden Mann, dort die Reverenz gegenüber dem schlafenden höfischen Greis. Die Art der Begegnungen folgt dem Muster feudalen Herrschaftshandelns. Alexander nähert sich einer Burg, vor der sich ein großer, scheußlich aussehender Mann postiert, der durch seine Unerschrockenheit Aufmerksamkeit erregt. Seine Haut besteht aus Schweineborsten und seine Stimme ist grôz unde freislîch, / eines lewen stimme gelîch (V. 5399f.). Der Wilde demonstriert (daz liez er wol schînen; V. 5375) durch sein herausforderndes Verhalten wenig Respekt vor den Griechen,
|| 42 In Herborts von Fritzlâr liet von Troye (hrsg. von Karl Frommann. Quedlinburg/Leipzig 1837), wird das Aussehen von Diomedes mit der rotweißen Farbsymbolik beschrieben: Daz die rote ir wangen / Hette befangen / Also rot vnd also breit / Als dar vf wer geleit / Ein harte frisch rosen blat / Vnd dar vmbe gezat / Die varwe wiz als ein sne / daz ist anders niht me / Dan wangen rot hut wiz […] (V. 8555–8563). Vgl die Beschreibung der Medea V. 601–610. Vgl. Veldeke (Anm. 22), V. 5169–5974. 43 Jansen Enikels Paradiesbeschreibung besitzt eine signifikante Parallele in der Darstellung von natürlicher Freude und fehlendem Zeitgefühl: noch kan sô süezes niht ensîn, / als diu kleinen voglîn / singent dâ ir süezen sanc. / dâ von diu zît ist niht lanc, / wan tûsent jâr ist ein tac, / wan ez niht süezer wesen mac. / heiâ wie mangen süezen dôn / singent diu kleinen voglîn schôn / hie bî uns in dem paradîs (Jansen Enikels Weltchronik. In: Jansen Enikels Werke. Hrsg. von Philipp Strauch. Hannover/ Leipzig 1900 [Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. 3], V. 619–627). Zur Paradiesanalogie vgl. auch Haupt: Alexander (Anm. 15), S. 17–19.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
insbesondere mangelt ihm jene furchtsame Haltung gegenüber dem Herrscher, auf die Alexander bereits im Gespräch mit den Okzidratern sich berufen hatte: mih noh mîne fursten, ne wolder nîwit forhten. ime dûhte, daz er ne dorfte. (V. 5370–5372) 44
Da der Wilde ungerührt in seiner provokativen Haltung verweilt, läßt Alexander ein Mädchen vor ihn führen. Mit dessen Hilfe wird, so fügt der Straßburger Alexander hinzu, die Macht der Minne auf den Menschen untersucht: 45 ih wolde scowen dar an, ob wêre dihein man, dem di wîbis minne nit ne brêhte ûzem sinne. (V. 5383–5386)
Alexander veranstaltet ein Experiment, das der Probe auf das affektive und auf das höfische Verhalten gilt. Unterliegt Alexander den Blumenmädchen auf friedliche Art, so mündet die Minneprobe an dem Wilden in Gewalt: Er raubt das Mädchen und verschwindet im Wald. Der erklärende Zusatz ermöglicht den Anschluß der kleinen Szene an eine komplexe Thematik des höfischen Minnediskurses. 46 Als Gegenbild zur vorausgehenden Szene wird die topische Konstellation von Frau und Wildem Mann angefügt, die expliziter als in der lateinischen Fassung an die Minnethematik rückgebunden wird. Damit wird eine weitere Variante des Verhältnisses von Natur und Kultur thematisiert. Dient der Wilde als Fokus menschlicher Instinkte und Begierden, so die Frau als Inbegriff disziplinierender Macht. 47 Doch auch hier wird der Naturdiskurs durch den politischen überlagert. Die Begegnung erscheint ambivalent. Indem der Mann keine Furcht zeigt, erheischt er zwar Respekt, provoziert aber den Herrscher. Indem er andererseits affektiv-gewaltsam reagiert, offenbart er eine zweite unverzeihliche Schwäche und negiert die domestizierend wirkende Macht der Minne. 48 Das Minneexperiment dient der Probe auf die Zähmbarkeit
44 Straßburger Alexander (Anm. 4), V. 4881. Zur Furcht als erwartetem Untertanenverhalten vgl. Bumke (Anm. 24), Bd. 1, S. 137. 45 Fisher (Anm. 13), S. 77–79, interpretiert den ‚Wilden Mann‘ als Vorverweis auf Alexanders Schicksal: sein abruptes Ende trotz seiner heroischen Haltung vor allem aber als Vorverweis auf die Gefangennahme durch Candacis. Auch die Tierliste, die Alexander nach der Okzidraterepisode begegnet, interpretiert Fisher als Gegenfolie zu Alexanders weltlichen Errungenschaften. 46 Richard Bernheimer: Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment, and Demonology. Cambridge 1952, S. 121–175: „The Erotic Connotations“. 47 Ebd., S. 137f. 48 Heinrich von dem Türlîn (Diu Crône. Hrsg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Stuttgart 1852 [Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 27]) wird später formulieren: Swie Minne wil
Überwindung der Natur des sonderbaren Wesens, das in Erscheinungsform und Verhalten zwischen Mensch und Tier angesiedelt wird. Gegenüber der Machtdemonstration an dem wilden Mann spielt die sich anschließende Besichtigung des Sonnenpalastes erneut das höfische Kulturmuster in die fremde Umgebung ein. Alexander trifft auf einen Palast, der in seiner außerordentlich kostbaren Erscheinung beschrieben wird. Goldene Ketten, Edelsteintreppen, goldene Weinreben und eine automatische Tür – Chiffren höfischer Kultur 49 – erwecken das Staunen Alexanders, der innerhalb des Palastes auf einen schlafenden, höfisch gekleideten alten Mann trifft. Ehrfurcht vor dessen Status (er lach an dem gebêre, / alser wêre vil rîche; V. 5462f.) und vor der prächtigen Erscheinung (er lach vil hêrlîche; V. 5464) verhindern eine Störung der friedlichen Szene. Auch hier kommt es zu keiner Kommunikation, aber auch zu keiner Statuskonkurrenz. In höfischer Geste erweist Alexander dem wunder seine Reverenz und entfernt sich gezogenlîche. Alexanders Handeln ist im Anschluß an die Blumenmädchenepisode gerade nicht durchgängig domestiziert, folgt vielmehr einem variablen Repertoire feudalen Herrschaftshandelns. Er sucht keinen Dialog. Tiere und Wilde unterliegen dem Machthandeln. Ohne Kommunikation vollzieht sich das Experiment an dem Wilden und mündet in einer exemplarischen Bestrafung. Herrscher oder Minnedamen dagegen erwecken vor dem Hintergrund feudaler und höfischer Etikette Respekt. Die feudale Welt zieht scharf die Grenzen zu einem Anderen, während die Begegnung mit dem Eigenen sogleich die Regeln der höfischen Etikette in Gang setzt. Ein Fluchtpunkt der Orientreise ist die Candacis-Episode. 50 Sie schließt an eine Grenzerfahrung Alexanders an: an das Erreichen des Weltenozeans, an dem ihm griechische Stimmen, das heißt die Sprache seiner Heimat, begegnen. Hier schließt sich ein Erfahrungskreis nicht nur in sprachlicher Hinsicht. Die Begegnung mit Candacis inszeniert ein ideales Bild höfischer Kultur. 51 Der Vergleich mit anderen Fassungen hat vor allem die Intensivierung der höfischen Prachtentfaltung herausgearbeitet. 52 Die zentrale Rolle der Frau wird durch einige Motive und Handlungszüge angedeutet. Candacis ist Herrscherin über ein phantastisch ausgestattetes Reich: Sie übersendet Alexander eine Reihe von Geschenken – dunkelhäutige Kinder, Ele-
gebâren / Wer mac ir des wider sîn? / Daz ist an manigem ende schîn, / Daz wir sîn vinden bilde. / Nieman ist sô wilde, / Sie habe in schiere gezamt (V. 8334–8339). 49 Heinrich Lichtenberg: Die Architekturdarstellungen in der mittelhochdeutschen Dichtung. Münster 1931 (Forschungen zur Deutschen Sprache und Dichtung. 4), S. 53. 50 Jacqueline de Weever: Candace in the Alexander Romances: Variations on the Portrait Theme. In: Romance Philology 43 (1989/1990), S. 529–546. 51 Haupt: Alexander (Anm. 15), S. 15. 52 Szklenar (Anm. 25), S. 104–109. Jürgen Brummack: Die Darstellung des Orients in den deutschen Alexandergeschichten des Mittelalters. Berlin 1966 (Philologische Studien und Quellen. 29), S. 127– 130.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
fanten, Panther, Leoparden, sprechende und singende Vögel, Edelhölzer und eine edelsteinbesetzte Krone. Die Abfolge von Menschen, vierfüßigen Tieren, Vögeln, Hölzern und Edelsteinen entspricht der Ordnung der Natur. Als letztes folgt ein Einhorn, das im Straßburger Alexander, wie Herfried Vögel gezeigt hat, ein signifikanter Zusatz ist. 53 Das Tier gilt noch in der mittelalterlichen Naturkunde als Inbegriff der Wildheit, bezähmbar allein durch eine Jungfrau. Der Zusatz markiert die Funktionalisierung der bekannten, auch christlich gedeuteten Bildtradition für den höfischen Kontext. Das Einhorn markiert hier die Gefangennahme des ‚wilden‘ Heros durch eine vollkommen höfische Dame. Das Ingenium höfischen Raffinements triumphiert über den selbstsicheren Abenteurer. Alexander nähert sich einem abgeschlossenen, in seinem Aussehen überdimensionierten Naturraum, der manicfalde wunder (V. 5808) bereithält. Die maßlose Fauna und Flora der Umgebung bildet die natürliche Kulisse für den Eintritt in eine Sphäre der Grenzwerte. Die höfische Welt, wie sie im folgenden am Beispiel des Palastes beschrieben wird, treibt den Gedanken der Kultur an seine Grenzen: manic wunder stunt dar in (V. 5892). Deutlich sichtbar wird das an den ‚kultivierten‘ Naturphänomenen. Viele von den Gegenständen, die Candacis Alexander als Geschenke überreicht hatte und die ihre Macht über jene domestizierte Natur widerspiegelten, gegen deren Ungezähmtheit sich Alexander kurz zuvor noch zu verteidigen hatte, begegnen nun in kunstvoller Verarbeitung. Die Innenausstattung besteht zunächst aus Kostbarkeiten der materiellen Kultur, etwa aus der Verarbeitung wertvoller Stoffe. Dazu bietet sie Abbilder der Realität: die manicfalden wunder, die den vergoldeten Rundbögen eingraviert sind, die ne mah û nieman gesagen (V. 5909 u. 5912). Dann die Repräsentation von Natur in dem prächtigen Vorhang, der mit Vogel- und Tierbildern, aber auch mit Abbildungen von Rittern und Frauen verziert ist. 54 Komplizierte Beleuchtungstechniken bewirken überraschende Lichteffekte. Die mit Gold überzogene Inneneinrichtung steigert das natürliche Sonnenlicht und färbt einen mit Pigmenten versehenen Fluß golden, der kunstvoll in die Architektur integriert ist. Kandelaber mit Karfunkeln, die Fackeln ersetzen, und rote Steine wirken wie Sterne und sorgen dafür, daß die Nacht keine Macht über den höfischen Raum gewinnt: des nahtes was dar inne tah (V. 6087 u. 5981). Durch Kunst wird damit ein Zustand restituiert, der natürliches Kennzeichen des Paradieses war. 55 Ihren Fluchtpunkt findet die instrumentelle Aufbereitung der Natur in dem technischen Meisterwerk des rollenden Schlafgemachs, das von 36 Elefanten gezogen wird. In all dem spiegelt sich ein Überbietungsgestus gegenüber 53 Herfried Vögel: Naturkundliches im ‚Reinfried von Braunschweig‘. Zur Funktion naturkundlicher Kenntnisse in deutscher Erzähldichtung des Mittelalters. Frankfurt a. M. [u. a.] 1990 (Mikrokosmos. 24), S. 33–36. 54 Bumke (Anm. 24), Bd. 1, S. 153f. 55 Vgl. Jansen Enikels Weltchronik (Anm. 43), V. 589–592: wan si [die Blumen] gebent sô liehten schîn / daz ez niht naht dâ mac gesîn. / ez ist dâ ze allen zîten tac / wan ez niht schoener wesen mac.
Überwindung der Natur der Natur. Die Natur – Stoffe, Licht, Tiere, selbst ein Fluß – ist hier in den höfischen Raum integriert und als Repräsentationsmoment funktionalisiert. Eine Gesellschaft, für die Natur allenthalben als Gefahr und Widrigkeit erfahrbar war, projiziert ihren Machtanspruch in die Ästhetik des Raums. Vor allem aber wird im kunstvollen Tierautomaten die Natur vollständig technisch reproduziert und der höfischen Unterhaltung dienstbar gemacht. 56 Auch diese Szene findet sich nur im Straßburger Alexander. Der Automat dokumentiert nicht nur den Domestizierungsanspruch gegenüber der Natur – ein Mann reitet auf einem Hirsch und führt zwei Hunde an der Leine –, er verbildlicht auch eine technische Herrschaft über die natürlichen Vorbilder. Das Geweih des Hirschs besteht aus zahlreichen Orgelpfeifen, in dem zudem tausend Vögel sitzen. Die technisch reproduzierten Lebewesen (Mensch, Hirsch, Hund, Vögel) werden durch ein Blasebalgsystem zum ‚Leben‘ erweckt und produzieren Klänge und Düfte. Der Alexanderroman mündet in der Candacis-Episode in einen Raum technischer Exklusivität, in der die Kunst sich zwar weiterhin an der Natur orientiert (ars imitatur naturam), sie aber doch in ideale Entwürfe steigert. Automaten wie der vorgestellte, Bäume, Lauben, Weinreben etc. – stets Naturphänomene – finden sich in zahlreichen höfischen Romanen jener Zeit. 57 Sie spiegeln das Selbstverständnis der höfischen Welt, die sich gerade durch die stilisierte Distanz zur Naturwelt definiert. Hier, in der befriedeten höfischen Enklave, bleibt die Wirkung der Maschine auf ästhetische Momente begrenzt, dient sie der mûze und dem spil. Domestizierung und Kultivierung von Natur betreffen in diesem Kontext auch die Herrschaft über die Affekte. In diesem Rahmen trifft die vorliegende Interpretation mit der Beobachtung Haupts zusammen, daß in der Candacis-Episode Alexander einer Disziplinierung unterworfen ist. Aber nicht nur Alexander. Affekthandeln wird hier konsequent durch ein diplomatisches und zeremonielles Handeln ersetzt. So verläuft die Minneszene zwischen Alexander und Candacis höfisch gemäßigt, ohne größeres Affektpotential. Disziplinierung kennzeichnet auch das Ritual des höfischen Festes: Die Beschreibung des Banketts folgt den Topoi höfischen Zeremoniells, von der Organisation der Dienerschaft und der Musik, dem Auftreten der
56 Zur Kemenate: Barbara Haupt: Die Kemenate der hochmittelalterlichen Burg im Spiegel der zeitgenössischen (volkssprachlichen) Literatur. In: Burg und Schloß als Lebensorte in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von Wilhelm G. Busse. Düsseldorf 1995 (Studia humaniora. 26), S. 129–145, hier S. 133–135. 57 Vgl. den goldenen Baum mit singenden künstlichen Vögeln in Konrads von Würzburg Trojaroman (V. 17560–17624). Bumke (Anm. 24), Bd. 1, S. 18–20. Lambertus Okken: Das Goldene Haus und die Goldene Laube. Wie die Poesie ihren Herren das Paradies einrichtete. Amsterdam 1987 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 72). J. Douglas Bruce: Human Automata in Classical Tradition and Mediaeval Romance. In: Modern Philology 10 (1912/1913), S. 511–526. Reinhold Hammerstein: Macht und Klang. Tönende Automaten als Realität und Fiktion in der alten und mittelalterlichen Welt. Bern 1986, S. 157–174, hier S. 167f.
Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander
Jungfrauen und ihrer geschmückten Kleidung über deren Tanz bis hin zum repräsentativen Hofgang der Herrin. Ihr gehen eine Anzahl Zwerge voraus, die – in Seide gekleidet – wieder ganz nach dem Muster höfischen Raffinements die Exklusivität der Szene akzentuieren: vor si gingen getwerge [...] di wâren alle wol gezogen (V. 6063 u. 6065). Hier, am Ende, ist es eine Sonderform von Menschen, die den Glanz der Herrscherin steigern helfen, indem sie das Maß vor der Folie des aus dem Maß Fallenden darstellen. Verschiedene dieser Verhaltensformen begegnen schon in der Schattenwelt der Blumenmädchen; hier werden sie in einer lichten, künstlichen Umgebung in Szene gesetzt. 58 Die Natur, wie sie in dieser Episode letztlich in Erscheinung tritt, ist die unterworfene, dienstbar gemachte und kultivierte Natur. Damit ist als Gegenbild zur Naturreligion der Okzidrater eine Position erreicht, die vollkommene Herrschaft über die Natur reklamiert und in ihrer künstlichen Verarbeitung die Natur allein als mimetisches Vorbild noch gelten läßt. Der Begriff ‚Wunder‘, zunächst auf die seltsamen Phänomene der Natur bezogen, dient hier stereotyp zur Beschreibung des höfischen Glanzes. Die Zusätze, die den Straßburger Alexander gegenüber anderen Überlieferungsträgern auszeichnen – Einhorn, Wandteppich, Automat, Festschilderung –, sind also keineswegs dysfunktional. Nicht im Rahmen der Handlungslogik, sondern in Bezug auf die Inszenierung höfischer Kultur als Gegeninstanz zur Natur besitzen sie einen funktionalen Status. Weniger als Vanitas-Exempel oder als Sündenfall wird hier die Episode entworfen, obgleich sie mittelalterlichen Autoren so lesbar gewesen sein mag, sondern eher als Selbstdarstellung der höfischen Kultur. Wie in dem idealen Reich des Priesters Johann mit seinen vollkommenen Menschen und perfekten Automaten imaginiert die höfische Kultur im Straßburger Alexander ihr künstliches Paradies im fernen Osten, sogar in enger Nachbarschaft zum irdischen Paradies. 59 Gegenüber der Unzugänglichkeit des letzteren entfaltet das künstliche Paradies den Spielraum zivilisatorischer Aktivitäten (techne), auf die der Mensch verwiesen bleibt. Weder durch das Motiv der Vanitas (Schröder) noch erzähltechnisch-strukturell (Haug) dient daher die abschließende Zurückweisung vor dem Paradies der gänzlichen Relativierung alles Vorhergehenden. Skizziert die
58 Zur Überbietung natürlicher Minneräume durch höfische Kunsträume im späteren höfischen Roman: Gert Kaiser: Liebe außerhalb der Gesellschaft. Zu einer Lebensform der höfischen Liebe. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hrsg. von Rüdiger Krohn unter Mitwirkung von Helmut Brackert [u. a.]. München 1983, S. 79–97, hier S. 81–84. 59 Der Priester-Johann-Brief lokalisiert das Reich im Osten, in einer gesteigerten idealen Naturregion, die noch unter dem Einfluß des benachbarten Paradieses steht. Vgl. Friedrich Zarncke: Der Priester Johannes. Erste Abhandlung, enthaltend Capitel I, II und III. Leipzig 1879 (Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, philologisch-historische Classe. 8,1), S. 827–1030, hier S. 1015–1028. Gert Melville: Herrschertum und Residenz in Grenzräumen mittelalterlicher Wirklichkeit. In: Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen Europa. Hrsg. von Hans Patze, Werner Paravicini. Sigmaringen 1991 (Vorträge und Forschungen. XXXVI), S. 9–73.
Überwindung der Natur Naturwelt der Okzidrater zu Beginn der Orientfahrt eher einen zu überwindenden Mangelzustand der Natur, so entwirft die Blumenmädchenepisode demgegenüber einen Kulturzustand der höfischen Freude in Abhängigkeit vom Naturrhythmus, sozusagen ein natürliches Paradies auf Zeit. Erst in der vollkommenen Kunstwelt von Meroves triumphiert die höfische Kultur über die Natur: über wilde Tiere, über die Nacht und über die Affekte. 60 Der Gestus der Unterwerfung und Instrumentalisierung ersetzt die Idee der Versöhnung mit der Natur, an deren Verlust mit der doppelten Reminiszenz an das Paradies nur noch erinnert werden kann. Vor dem Hintergrund der skizzierten Thematik lassen sich nun auch die beiden Hauptteile des Straßburger Alexander als komplementäre Entwürfe fassen. Ein theologisches Hintergrundmodell läßt sich für beide beschreiben: Vollzieht sich der erste Teil als Weg durch einen heilsgeschichtlichen Raum (translatio imperii), so daß im Hintergrund des Kampfes gegen Dareius zugleich ein Typus von Geschichte inszeniert wird, so verläuft die Orientfahrt entlang verschiedener Stationen einer natürlichen Heilsgeschichte (Iter ad paradisum), denen Modelle einer höfischen Alternative eingeschrieben oder entgegengesetzt werden. Auch wenn sich dabei theologischer, kultureller und politischer Entwurf nicht immer harmonisieren lassen, sichert sich dennoch die Feudalkultur ihren Platz in übergeordneten politischen beziehungsweise heilsgeschichtlichen Raum- und Zeitstrukturen.
60 Johannes von Mandeville wird später eine ähnliche, allerdings negative, parataktische Beziehung zwischen ‚künstlichem‘ Paradies (Der Alte vom Berge), irdischer Hölle (Wunderliches Tal) und irdischem Paradies herstellen. Sir John Mandevilles Reisebeschreibung. In deutscher Übersetzung von Michel Velser. Nach der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. HB V 86. Hrsg. von Eric John Morrall. Berlin 1974 (Deutsche Texte des Mittelalters. 66), S. 158ff. Zur Funktion „paradiesischer Gärten“ im höfischen Roman vgl. Dieter Seitz: Das Buch der Natur. Zur Naturwahrnehmung in theologischer und weltlicher Literatur des Mittelalters. In: Der Deutschunterricht 44/II (1992), S. 50–63, hier S. 61–63.
Grenzmetaphorik Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
Auf der Suche nach Begründungsverhältnissen menschlichen Daseins dient die Dichotomie von Natur und Kultur seit je als Leitparadigma, das die synchrone und diachrone Standortbestimmung des Menschen orientiert. Während für die neuzeitliche Wissenschaft Natur die Sphäre des unveränderlichen Gesetzes und Kultur den Ort historischer Varianz umfasst, erhält die Opposition für die Kulturgeschichte eine entgegengesetzte Wertung. Natur wird hier als das widerständige Wilde der Kultur als dem Raum verlässlicher Ordnung konfrontiert. Und noch diese Auffassung erfährt seit je kritische Wertschätzung. Handelt es sich für ‚Kulturalisten‘ um eine Relation, die die ordnende Kraft von Vernunft und Gesellschaft anzeigt, gerät sie ‚Naturalisten‘ zur Chiffre einer Unterwerfungsgeschichte der Natur. 1 Befunde dieser Art, die die Überwindung der Natur entweder als Gewinn feiern oder als Verlust beklagen, vollziehen sich auf der Basis einer alternativen Konstellation. Die Geschichte des Verhältnisses von Natur und Kultur ist in dieser Perspektive denn auch die einer immer größer werdenden Kluft. Hinter solchen Hierarchisierungen stehen alte Vorstellungen über den Ort des Menschen in der Natur, d. h. mythische Erinnerungen an eine Goldene Zeit oder geschichtsphilosophische Hoffnungen auf eine Utopie. Aus der Relation „asymmetrischer Gegenbegriffe“ ist für die modernen Humanwissenschaften ein immer schwerer zu bestimmendes Interferenzverhältnis geworden. 2 An die Stelle der großen kulturgeschichtlichen Gegensätze treten nunmehr wissenschaftlich belegbare Übergänge. Die Opposition ist in Bewegung geraten, seit die Evolutionsgeschichte die Natur historisiert und die Anthropologie die
1 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988. 2 Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 211–259, hier S. 244ff.; vgl. Christian Kiening: Kultur und Natur. In: Ders.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003, S. 56–80, hier S. 57f.; Christian Vogel: Von der Natur des Menschen in der Kultur. In: Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie. Hrsg. von Hans Rössner. München 1986, S. 47–66; Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung. München 2001, S. 123–156. https://doi.org/10.1515/9783110772340-003
Grenzmetaphorik Kultur zur Natur des Menschen erklärt hat. 3 Evolutionsgeschichtlich steht gemeinhin die Opposition von Tier und Mensch für diejenige von Natur und Kultur ein, doch bleibt der Übergang historisch und systematisch prekär. 4 Das fehlende Glied in der Kette wurde denn auch auf den verschiedensten Ebenen lokalisiert: als TierMensch (Paläoanthropologie), als Inzestverbot (Anthropologie), als Gesellschaftsvertrag (Politologie), als das Unbewusste (Psychologie) etc. 5 Die Reflexion auf eine Vermittlungsform von Natur und Kultur verlagert immer wieder die binäre Opposition in eine dreigliedrige Relation, die diachron den Übergang vom Tier zum Menschen, synchron die Schnittstelle von Trieb und Disziplin zu fassen sucht. 6 Ob „das fehlende Glied in der Kette“ aber überhaupt je existiert hat, ist mittlerweile selbst in der Paläoanthropologie umstritten. 7 Auch die Psyche erweist sich als immer schwerer zu fassende Schnittstelle zwischen Triebstruktur und kultureller Norm, das Unbewusste selbst ist sowohl als natürlicher Determinismus wie auch als kulturelle Verformung, als zweite Natur, aufgefasst worden. 8 Und auch die politische Theorie hat ihrerseits längst „den blinden Fleck“ im Gründungsmythos politischer Institutionen aufgedeckt. 9 Das durch den Gesellschaftsvertrag etablierte Gesetz domestiziert nicht einfach Natur, sondern bringt einen „Abgrund absoluter Freiheit“ (Wildheit) hervor, der als „Nabelschnur“ zwischen Natur und Kultur eintritt: mehr eine Problemzone als ein Übergang. 10 Die Postmoderne hat mehr und
3 Arnold Gehlen hat den Gegensatz von Körper (Natur) und Geist/Seele (Kultur) über den Begriff der „Handlung“ überbrückt: Über seine ‚mangelhafte‘ Ausstattung ist der Mensch gezwungen, sich Kultur als Welt zu erschaffen. Ders.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 1986, S. I–XVII; Karl-Siegbert Rehberg: Zurück zur Kultur? Arnold Gehlens anthropologische Grundlegung der Kulturwissenschaften. In: Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Brackert, Franz Wefelmeyer. Frankfurt a. M. 1990, S. 276–316. 4 Claude Lévi-Strauss: Natur und Kultur. In: Ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 45–56. 5 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a. M. 2002, S. 42–48; LéviStrauss (Anm. 4); vgl. Kiening (Anm. 2), S. 278f. 6 Wolfgang Marschall: Die zweite Natur des Menschen. Kulturtheoretische Positionen der Ethnologie. In: Kulturbegriff und Methode: der stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften; eine Passauer Ringvorlesung. Hrsg. von Klaus P. Hansen. Tübingen 1993, S. 17–26. 7 Die Paläoanthropologie geht mittlerweile davon aus, dass es ein „missing link“ nie gegeben habe, sondern eher „eine Verflechtung unterschiedlicher geographischer Varianten der ersten Vorzeitmenschen in Zeit und Raum entlang der Grenzen des tropischen Regenwaldes.“ Friedemann Schrenk: Adams Eltern. Von Menschenaffen und Affenmenschen. In: Tiere. Eine andere Anthropologie. Hrsg. von Hartmut Böhme [u. a.]. Köln 2004, S. 51–70, hier S. 54. 8 Vgl. Slavoj Žižek: Hegel mit Lacan. Zürich 1995, S. 23–50. 9 Vgl. den Überblick bei Arno Seifert: Verzeitlichung. Zur Kritik einer Frühneuzeitkategorie. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 447–477. 10 Slavoj Žižek: Kant und das ‚fehlende Glied‘ der Ideologie. In: Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan. Hrsg. von Hans-Dieter Gondek, Peter Widmer. Frankfurt a. M. 1994, S. 52–74; vgl. Niklas Luhmann: Am Anfang war kein Un-
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
mehr die Grenze selbst zu ihrem Thema gemacht und ihre systematischen und politischen Implikationen offen gelegt. Selbst traditionelle Vorstellungen von Natur wie Geschlecht sind in die Indifferenzzone von Natur (sex) und Kultur (gender) geraten, ja der Körper selbst rückt zunehmend in die Perspektive kultureller Konstruktion. 11 Giorgio Agamben hat die Mechanismen der Grenzziehung im anthropologischen Feld analysiert. Er beschreibt zwei Ausprägungen dessen, was er „anthropologische Maschine“ nennt und die der „Erzeugung des Humanen“ dienen. 12 In ihrer antiken Version humanisiere sie mittels Inklusion das Tier – z. B. im Menschenaffen, im Barbaren oder im Sklaven –, in ihrer modernen Ausprägung dagegen animalisiere sie mittels Exklusion den Menschen: im Affenmenschen, im Juden und Untermenschen und noch im Ultrakomatösen. 13 Beide aber erzeugten das Humane mittels der Opposition von Mensch und Tier und rekurrierten stets auf ein Vermittelndes, das aber seinerseits schon die Spaltung enthalte. 14 An die Stelle der kulturellen und wissenschaftlichen Erklärung tritt der Nachweis einer Paradoxie.
Gegenüber der wissenschaftlichen Suche nach Übergangsformen und der politischen Dekonstruktion der Grenzziehungen gilt es für den Mediävisten zuerst, sich den historischen Abstand zu vergegenwärtigen, der die mittelalterliche Reflexion auf die Grenze von Mensch und Tier, Natur und Kultur, kennzeichnet. Das Mittelalter fragt nicht nach evolutionsgeschichtlichen Übergängen, die die Gegensätze versöhnen. Natur ist für den mittelalterlichen Theologen immer schon durch den Schöpfungsplan kulturell imprägniert und Kultur programmatisch naturalisiert. Die Kultur ist die Norm für die Natur und umgekehrt. 15 Der Mensch ist nicht nur Eben-
recht. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1989, S. 11–64. 11 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991. Zur Grenzthematik in der Medizin vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Jenseits von Natur und Kultur. Anmerkungen zur Medizin im Zeitalter der Molekularbiologie. In: Anatomien medizinischen Wissens. Medizin, Macht, Moleküle. Hrsg. von Cornelius Borck. Frankfurt a. M. 1996, S. 287–306; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a. M. 2001, S. 11–31. 12 Agamben (Anm. 5), S. 46. 13 Agamben (Anm. 5), S. 47. Während die Moderne Subjekte oder Gruppen ausgrenzt, indem sie aus der Perspektive eines generalisierten Menschseins urteilt, menschliche Eigenschaften gewissermaßen subtrahiert und auslagert, verfährt die Antike entgegengesetzt, indem sie ihnen tierische Attribute zuschreibt, d. h. äußeres Wildes eingliedert. 14 Agamben (Anm. 5), S. 46. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2002, S. 9. 15 Vgl. Kiening (Anm. 2), S. 56–80.
Grenzmetaphorik bild Gottes, sondern auch Konzentrat der Schöpfung, vom Tier dennoch signifikant unterschieden. So existieren eher Nachbarschaften bei strikten Grenzen als Übergänge: ein hierarchischer ordo naturalis, der den Menschen metonymisch durch Verkettung (chain of being) und metaphorisch durch Spiegelung in der Welt verankert. 16 Erst der Sündenfall lässt problematische Zonen des Übergangs entstehen. Wenn in der Moderne Mensch und Tier einer Ordnung angehören, müssen historische Übergänge existieren, im Mittelalter aber sind sie auf zwei Ordnungen verteilt, so dass Grenzüberschreitungen immer Störungen markieren. Hayden White führt sie auf das Phänomen Artenvermischung – „species corruption“ – zurück. 17 Überdies existieren alternative Erklärungsmodelle über das Verhältnis von Mensch und Tier. Die Theologie dominiert zwar den Diskurs, sie beherrscht ihn aber nicht, so dass konkurrierende Vorstellungen sich Geltung verschaffen. Die mittelalterliche Ambivalenz von Mensch und Tier kommt z. B. prägnant im „Mythos des Wilden Mannes“ zum Ausdruck, der als historisch spezifische Grenzfigur betrachtet wird. Hayden White hat ihn auf der Ebene „kultureller Projektionen“ angesiedelt und vor dem Hintergrund zweier Kulturmuster profiliert. Hatte die antike Tradition das Fremde primär physisch und kulturell ausgegrenzt, so bestimmt die jüdische es vor allem metaphysisch und moralisch. Vor der Folie dieser beiden Archetypen formiere sich der Mythos vom Wilden Mann und bewirke jene Spaltung, die als Scham- und Schuldkomplex identifiziert worden ist. 18 In antiker und jüdischer Tradition bezeichne der Wilde Mann einen Zustand jenseits von Natur und Kultur, er fungiert mithin nicht als systematisches Bindeglied, sondern als verdächtige Figur jenseits der Grenze. Der Wilde Mann ist zunächst eine Figur des Fremden und der Exterritorialität: am Rande der Welt, des Territoriums, der Gesellschaft. Derart ausgelagert an die Peripherie, behauptet er aber hartnäckig seine Position. Er bevölkert den Rand der Erzählungen und als Marginalie noch den des Textes. 19 Der horizontalen Relation der Ausschließung korrespondiert indes eine vertikale der Einschließung, die die Nähe markiert. Bereits die antike und jüdischchristliche Tradition machen den Wilden Mann zu einem bedrohlichen Bestandteil des Eigenen und beziehen ihn auf einen moralischen Ordnungsdiskurs. Dadurch aber wird der Wilde Mann zum Spiegel und zur Reflexionsfigur. Die antike Mythologie verfügt über ein ganzes Ensemble an Figuren, die die Grenze von Mensch und Tier überschreiten – Silenen, Satyrn, Kentauren, Kyklopen u. a. –, Figuren, die im wilden Raum (Wald, Gebirge) einen Überschuss an Natur (Wildheit, Trieb) verkör-
16 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1974 [zuerst 1966], S. 46–77. 17 Zur „species corruption“ vgl. Hayden White: The Forms of Wildness: Archeology of an Idea. In: The Wild Man Within. An Image in Western Thought from Renaissance to Romanticism. Hrsg. von Edward Dudley, Maximillian E. Novak. Pittsburgh 1972, S. 9 u. 14f. 18 White (Anm. 17), S. 9f. 19 Michael Camille: Image on the Edge. The Margins of Medieval Art. London 1992, S. 92.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
pern. 20 Während die exorbitante Bestie das Leben unmittelbar physisch bedroht, gefährdet der Triebüberschuss der kleinen schlauen Bestie mehr die gewöhnliche Ordnung des Lebens. Die humanisierten Tiere der niederen Mythologie bedrohen den Menschen von außen und innen. Im Entwurf solch liminaler Tiere verhandelt die antike Mythologie die Grenzen ihres kulturellen Selbstverständnisses: ihr Verhältnis zu Gewalt, Sexualität und Wahnsinn. Die Mythologie grenzt den Menschen nicht nur von der Götterwelt, sondern auch von der Tierwelt ab. 21 Zwischen beiden etablieren sich Übergangszonen mit ihnen korrespondierenden Wesen: Wie die Titanen den Grenzraum zur Götterwelt bevölkern, so die Figuren der niederen Mythologie den zur Tierwelt. Die Innen-Außen-Relation wird nicht nur reziprok, sondern auch durch eine vertikale Relation übercodiert: Gott-Mensch-Tier. In der Mitte zwischen den Übergangszonen steht der Mensch. Die jüdisch-christliche Perspektive übernimmt zwar das antike Arsenal „liminaler Tiere“, rückt es aber in einen dämonologischen Horizont und lässt so sein kulturelles Reflexionspotential verblassen, da die mit ihm besetzten Werte negativ semantisiert werden. Die Vielfalt der Figuren wird zu Dämonen, zu pilosi und incubi, synthetisiert und aus der natürlichen und kulturellen Ordnung ausgelagert. 22 Nach Augustin sind sie keine Menschen, und wenn doch, dann Abkömmlinge Adams. 23 Zwischen Tier und Mensch bildet sich offenbar eine Indifferenzzone aus, die Grenzüberschreitungen von beiden Seiten her möglich macht. Die anthropomorphen Bestien gelten einerseits als dämonisch imprägnierte Zerrformen der Natur und dienen als Anschauungsformen für die Sündenwirkung selbst innerhalb der Tierwelt: 24 Monstrum führt schon Augustin auf monstrare zurück. 25 Andererseits aber werden sie als gefallene oder degenerierte Menschen entworfen. Indem die horizontale und vertikale Relation von Innen-Außen um eine zeitliche Dimension ergänzt wird, tritt der Wilde Mann als Figur der Vergangenheit hervor. Als Effekt des Sündenfalls wird er zum Mahnmal für den Menschen, um sich seines heilsgeschichtlichen Auftrags zu vergewissern. Während die Antike die immerwährende Grenzproblematik von Natur und Kultur an den „liminalen Tieren“ visualisiert und reflektiert,
20 Roger Bartra: Wild Men in the Looking-Glass. The Mythic Origins of European Otherness. Michigan 1994, S. 9–42. 21 Jean-Pierre Vernant: Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Frankfurt a. M. 1987, S. 132–169; ders.: Mythos und Religion im alten Griechenland. Frankfurt a. M. 1995, S. 75–77. 22 Richard Bernheimer: Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment, and Demonology. Cambridge 1952, S. 96f. 23 Diese Paradoxie betont Bartra (Anm. 20), S. 89. 24 Vincenz von Beauvais berichtet, dass zu Zeiten Ludwigs von Frankreich ein seltsames Lebewesen (animal) an den Hof gebracht wurde, das den Kopf eines Hundes besaß, ansonsten jedoch einem Menschen glich. Vincentius Bellovacensis: Speculum naturale. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Dvaci 1624. Graz 1964, S. XXXI, 126 u. 2392f. 25 Vgl. Bartra (Anm. 20), S. 89.
Grenzmetaphorik inszeniert die jüdisch-christliche Tradition die Überschreitung und ihre Folgen sichtbar als Auf- und Abstiegsprozess am Menschen selbst. 26 Die religiöse Tradition entwickelt darüber hinaus aber, darauf hat Roger Bartra aufmerksam gemacht, als spezifischen Typus des Wilden Mannes Figuren des Mangels im leeren Raum (Wüste): den Verfluchten und den Anachoreten, Nebukadnezar und Antonius. 27 Auch hier enthält der Grenzraum schon die Spaltung von Mensch und Tier, indem er sie von zwei Seiten aus entwirft: als ausgeschlossenes Herdenvieh einerseits (Nebukadnezar), andererseits als Mängelwesen, das seinen körperlichen Mangel noch offensiv bis in die Vertierung hinein befördert (Antonius). 28 Der Anachoret strebt von sich aus eine Position jenseits von Natur und Kultur an. Indem er nicht nur die kulturellen Standards ignoriert, sondern sich auch äußerlich dem Tierstatus nur annähert, um ihn zu überwinden, strebt er einen Zustand vor dem Sündenfall an. 29 Unter anderen Vorzeichen als beim verdammten Wilden Mann eröffnet sich auch hier eine Position jenseits von Natur und Kultur, die sich aber positiv aus der Transzendenz, als einer dritten Instanz herleitet. Es existiert eine weitere Option, die sich offenbar aus anderen Traditionen speist. Die Ausgrenzung des Wilden Mannes aus Natur und Kultur eröffnet zugleich einen Raum für positive Besetzungen, sie bringt eine Projektionsfigur jenseits kultureller Repressionen hervor: der Wilde Mann als von Zwängen befreite und der Natur verbundene Figur. Seiner Ausschließung aus der Kultur korrespondiert in diesem Fall eine Einschließung in die Natur. Dieser Wilde Mann partizipiert an Kraft und Wissen der Natur. Hatte die antike Mythologie die Inklusion vornehmlich auf die ‚liminalen Tiere‘ projiziert, zeigt diese sich in mittelalterlicher Überlieferung noch an humanisierten Wesen: an Riesen, Zwergen und Waldfrauen. 30 Bernheimer und Bartra führen diesen Versöhnungstypus auf die keltisch-germanische Mythologie zurück. 31 Auf der Grenze von Natur und Kultur entsteht ein „Abgrund absoluter Freiheit“, der nicht nur als Bürde, sondern auch als Lust empfunden wird, eine Grenzzone, in der die Gegensätze von Natur und Kultur fließend werden. Die Funktion des Wilden Mannes im historischen Prozess besteht nach White darin, unterdrückte Angst- und Wunschfiguren zu entwerfen und der Kultur sowohl ihr negatives (Wildheit) als auch ihr verdrängtes (Einheit) Komplement vor Augen zu führen. 32 Als kulturelles Phantasma füllt der Wilde Mann auch aus dieser Perspektive noch eine Leerstelle zwischen dem „Prozess der Zivilisation“ und dem „Unbehagen in der Kultur“. 26 Ebd., S. 83f. 27 Ebd., S. 48. 28 Ebd., S. 18f. u. 48. 29 Ebd., S. 59f. 30 Zum antiken Kontext vgl. ebd., S. 9–41. 31 Bernheimer (Anm. 22), S. 21–48; Bartra (Anm. 20), S. 62–74. 32 White (Anm. 17), S. 10.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
Dass die Auseinandersetzung mit dem ‚Wilden‘ ein zeitloses Thema ist, zeigt der Umstand, dass vom Gilgameschepos (Enkidu) an über die Odyssee (Polyphem) bis hin zum Beowulf (Grendel) und den mittelalterlichen Riesen das Thema als kulturelles Problem verhandelt und nach White noch in der modernen Psychologie internalisiert und damit remythisiert wird. 33 Die mittelalterlichen Konfigurationen des Mythos vom Wilden Mann entwerfen in ihrem Verhältnis zu Natur und Kultur Optionen für den Umgang mit dem Wilden: Ausschluss, Überwindung, Versöhnung. Sie sind nicht Produkt einer Erfahrung oder gar einer rationalen Erörterung. Deshalb fällt der Wilde Mann auch nicht mit dem Barbaren oder dem Heiden zusammen, deren Bild er allenfalls grundiert. 34 Barbaren werden in der Regel entweder als aggressive Wilde oder als primitive Viehzüchter (vita pastoralis) klassifiziert. Der Wilde Mann ist aber auch kein Produkt literarischer Fiktion, er füllt vielmehr einen breiteren Raum inoffiziellen Wissens aus. Seine stetig anwachsende narrative, visuelle und theatrale Inszenierung hält ihn als kulturelles Syndrom präsent und synthetisiert divergierende (antike, christliche, keltische) Traditionen und die Vielzahl an kursierenden Vorstellungen in das eine mythische Denotat. 35 So tritt der Wilde Mann denn auch nicht als empirisches Faktum, sondern als Name in Erscheinung: homo silvestris, homo silvaticus, der wildmann oder wilde Mann. 36 Unter diesen Namen formiert sich ein Ensemble an Vorstellungen, die in eine konstante Bildformel überführt wurden: ein Stereotyp des Wilden, das variabel handhabbar war: behaart, roh, triebgesteuert, technisch reduziert. 37 Roger Bartra hat den Wilden Mann als ‚mythisches, symbolisches Wesen‘ beschrieben, mit dessen Hilfe die antike und die mittelalterliche Kultur die Grenze zwischen Natur und Kultur reflektieren. 38 Der Wilde Mann ist weniger ein reales Objekt als eine Wahrnehmungsschablone für das Fremde, doch nicht im Sinne einer modernen analytischen, sondern einer mythischen Kategorie. Nach Lévi-Strauss gelingt es der mythischen Rationalität, mit Hilfe eines logischen Modells elementare Widersprüche zu überbrücken: Tier und Mensch, Natur und Kultur. 39 Solche Über-
33 White (Anm. 17), S. 4; vgl. Jacques Le Goff: Lévi-Strauss in Brocéliande. Skizze zur Analyse eines höfischen Romans. In: Ders.: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart 1990, S. 171–200, hier S. 184. 34 White (Anm. 17), S. 3–38, S. 12f. u. 19; Bernheimer (Anm. 22); Le Goff (Anm. 33), S. 183–188. 35 Zur niederen Mythologie der Germanen vgl. Rudolf Simek: Religion und Mythologie der Germanen. Darmstadt 2003, S. 165–172. 36 Bernheimer (Anm. 22), S. 51 u. 59f.; Bartra (Anm. 20), S. 63. 37 Vgl. Bartra (Anm. 20), S. 25. 38 Ebd., S. 85f. 39 Lévi-Strauss hat das sowohl am Beispiel des Totemismus als auch an dem der Mythen vorgeführt. Auf Lévi-Strauss beruft sich auch Roger Bartra, leitet dann aber die strukturale Operation seinerseits aus dem mythischen Analogiedenken ab: Bartra (Anm. 20), S. 84f. Schon im antiken Drama (Euripides) und im philosophischen Dialog (Platon) werden die mythologischen Figuren
Grenzmetaphorik brückungsfunktion leistet aber nicht nur die mythische Erzählung, sondern mehr noch die Metapher. 40 Die metaphorische Operation funktioniert als Verbindung zweier inkompatibler Objekte und ihrer Aussagefelder, deren Semantiken interferieren (Lebensabend). Es ist nun das Besondere an der Relation von Tier und Mensch, dass die Projektion vom Bildspender auf den Bildempfänger in beide Richtungen funktioniert, da Mensch und Tier sowohl in einer horizontalen syntagmatischen als auch einer vertikalen paradigmatischen Relation zueinander stehen. Mensch und Tier sind benachbart und zugleich artspezifisch unterschieden, so dass sich metonymische und metaphorische Beziehungen erstellen lassen. Die Grenze kann von zwei Seiten aus angegangen werden, doch noch nicht wie in der modernen Zoologie in Form einer funktionalen Analogie, die auf die Spezies bezogen wird (Menschenaffe/Affenmensch), sondern bezogen auf ein breites Feld von Wechselwirkungen, die über eine Denkform der Analogie sich erstellen (Menschentier/Tiermensch), die syntagmatische (Ähnlichkeit) und paradigmatische (Analogie) Relationen zugleich entfaltet. So kann das Tier umfassender aus dem Blickwinkel des Menschen und der Mensch umfassender aus dem des Tiers charakterisiert werden. Über die Herstellung von Ähnlichkeit und Analogie werden Positionen und Beziehungen zwischen beiden Objektfeldern konstituiert. Die Figur der Analogie changiert hier noch zwischen Beweisform und Metapher, Analogie und Ähnlichkeit bilden Demonstrationsund Illustrationsformen zugleich. Anders aber als in der Moderne zielen sie auf ein substantielles tertium comparationis. Im Grenzbereich von Mensch und Tier werden so unterschiedliche Konfigurationen von Inklusion und Exklusion entworfen. Der Wilde Mann kann dabei variable Positionen in Relation zu Natur und Kultur einnehmen. Die drei beschriebenen Figurationen setzen mit ihren Innen-Außen- zugleich Oben-Unten-Relationen ins Bild und verbinden strukturale Operationen mit pragmatischen Zwecken: die Ausschließung des Monstrums aus Natur und Kultur nach unten; in der Mitte die Versöhnung von Natur und Kultur im Wilden Mann, der noch im Eremiten sein Pendant findet; schließlich die Überwindung von Natur und Kultur nach oben, wie sie im Anachoreten programmatisch wird.
Auch jenseits der mythischen Figur des Wilden Mannes kennt das Mittelalter die Strategien der Inklusion und Exklusion, weil sie sich geradezu logisch für Grenzzie (Satyrn, Kentauren, Kyklopen) zu Metaphern, um auf das Verhältnis von Natur und Kultur zu reflektieren. Ebd., S. 26–33. 40 Zur Funktion der Metapher im Totemismus vgl. Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M. 1965, S. 39f. u. 132f.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
hungsdiskurse anbieten. Im Mittelalter rivalisieren zwei Diskurse, ein christlicher, der von einem allgemeinen Begriff des Menschen ausgeht, und ein politischer, der Strategien der Differenzierung und Ausgrenzung entwickelt. Beide ziehen die Grenzen zum Außen auf andere Art als in Antike und Moderne. Aber auch wenn die mittelalterliche Theologie über einen generalisierten Menschheitsbegriff verfügt, so ist dieser seit der Erbsünde fundamental gestört und macht gleichfalls Unterscheidungen notwendig. 41 Macht die Schöpfungsgeschichte jeden Menschen zum Ebenbild Gottes, so nähert der Sündenfall ihn dem Status des Tiers an. 42 Entsprechend reflektiert mittelalterliche Theologie intensiv über die Grenze zwischen Mensch und Tier, doch vollzieht sich die systematische Reflexion unter theologischen Prämissen. 43 Die Sünde artikuliert sich zum einen im Überschuss animalischer Energien als Inklusionsvorgang, zum andern im Verlust von Vernunft und Moral als Exklusionsvorgang. Beide Prozesse münden in unterschiedlichen Konfigurationen von Animalität. Zum einen entsteht ein Prozess der Verwilderung, der sich in der unkontrollierten Dynamisierung von Körperenergien, von Gewalt, Sexualität und Wahnsinn, artikuliert. Der Kapitalverbrecher als Friedloser oder Vogelfreier wäre ihr gefürchteter Repräsentant innerhalb der Gesellschaft. 44 Als ultima ratio verbannt das Recht die Ausgestoßenen (homines silvestres) an den Rand der zivilisierten Welt. Die Animalisierung der „infamen Menschen“ bezieht sich zwar auf eine soziale Praxis und demonstriert den kulturellen Mechanismus der Inklusion von Wildheit: Das Gesetz erst macht den Kapitalverbrecher zum Wolf. 45 Die Strafpraxis setzt im zeitgenössischen Verständnis aber nur um, was im Inneren des Verbrechers vorausgesetzt wird: die Dominanz animalischer Energien wie furor, ira oder appetitus bestialis. Die Strategie der Animalisierung des Rechtsbrechers bestätigt am Rande des Rechtssystems die Wirkungsmacht des Mensch-Tier-Dispositivs im Bereich sozialer Ordnung.
41 White unterscheidet in eine vertikale Gleichheit und eine horizontale Differenz: White (Anm. 17), S. 8. 42 Tantae namque excellentiae est in comparatione pecoris homo, ut vitium hominis natura sit pecoris: nec tamen ideo natura hominis in naturam vertitur pecoris. Augustinus: De peccato originali. Cap. 46, PL 44, Sp. 408. 43 White (Anm. 17), S. 11. 44 Die Steppenvölker Asiens – Hunnen, Ungarn, Mongolen –, deren Angriffe auf Europa als von Gott gesandte ‚Horden‘ aufgefasst wurden, repräsentieren die Bedrohung durch das wilde Außen. Ihre Wildheit wird stereotyp auf inzestuöse oder animalische Genealogien zurückgeführt, auf „species corruption“. William R. Jones: The Image of the Barbarian in Medieval Europe. In: Comparative Studies in Society and History 13 (1971), S. 376–407. 45 Joseph Vogl, Ethel Matala de Mazza: Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie. In: Vom Sinn der Feindschaft. Hrsg. von Christian Geulen, Anne von der Heiden, Burkhard Liebsch. Berlin 2002, S. 207–217. „da soll er sein soweit Wolf, hetzbar und gehetzt, wie Männer am weitesten Wölfe hetzen.“ Selbstverfluchungsformel für den Fall des Bruchs eines Versöhnungseides aus dem Norwegen des 10. Jahrhunderts. Nach: Wolfgang Schild: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil zum Beginn der modernen Rechtssprechung. München 1980, S. 65.
Grenzmetaphorik Sie legitimiert denn auch drakonische Modelle politischer Herrschaft, die auf Ausschließung und Auslöschung der ‚Bestie‘ ausgerichtet sind. 46 Zum anderen artikuliert sich die Animalisierung des Menschen in der Subtraktion der ratio, des specimen humanum schlechthin. Grenzwesen bilden für einige mittelalterliche Naturforscher z. B. die Pygmäen, über deren Menschsein etwa Albertus Magnus reflektiert. Zwar verfügten sie über eine menschliche Gestalt, über Sprache, Erinnerung und selbst über Erfahrung, nicht aber über Syllogismen, was sie aus der Klasse der Menschen herausfallen lässt. 47 Doch greift das Verfahren der Exklusion weiter aus und erfasst auch die Gesellschaft im Innern. Hier korrespondiert der ‚wissenschaftlichen‘ Exklusion gleichfalls eine soziale. So wird im Inneren der Gesellschaft, bei Frauen, Kindern und Leibeigenen, ein konstitutiver Mangel an Verstand, eine privatio rationis, diagnostiziert, die ihre Unterordnung unter die Fürsorge des pater familias rechtfertigt. 48 Nicht Überschuss, sondern Mangel nähert hier soziale Gruppen dem Status eines Tiers an: Wir sehen nämlich auf natürliche Art die Menschen die Tiere beherrschen, die Männer die Frauen, die Erwachsenen die Kinder. Die Menschen beherrschen auf natürliche Weise die Tiere, da das Menschengeschlecht stark an Klugheit ist; die Tiere haben nämlich wenig Anteil an Klugheit und Kunst. Entsprechend herrschen die Männer über die Frauen, weil [...] die Frau nur über eine geringe Klugheit verfügt. 49
Als ihren natürlichen Bedürfnissen unterworfene Wesen unterliegen Frauen, Kinder und Leibeigene daher der patriarchalen Obhut. Als Leitmetapher tritt das biblische Bild vom Hirten und der Herde ein. Das biblische Gebot, nach dem der Mensch über Tiere und nicht über Menschen herrschen solle, wird über die Figuren der Analogie und der Ähnlichkeit auf die Menschen übertragen, wobei der Verbrecher willentlich, Frauen und Kinder graduell aus der natürlichen Ordnung herausfallen. Der Mensch als Bestie einerseits und als Herdenvieh andererseits, das ist das politische Resultat des christlichen Sündenfalldiskurses. So sehr Natur und Tierwelt als Ordnungsraum entworfen werden, der Sündenfall spaltet auch ihn und sortiert die Menschen auf die Pole Bestie und Herdenvieh. Das Zähmungsmodell der säkula 46 Puto, dicerent iumenta, si loqui fas esset: ECCE, ADAM FACTUS EST QUASI UNUS EX NOBIS. Bernhard von Clairvaux: Cantica Canticorum 35. In: S. Bernhardi Opera, ad fidem codicum recensuerunt Jean Leclercq [u. a.]. Bd. 1. Rom [u. a.] 1957, S. 251. 47 Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Nach der Cölner Urschrift. Hrsg. von Hermann Stadler. 2 Bde. Münster 1920 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen. 16/17), XXI,1,2. 48 Vgl. Egidio Colonna (Aegidius Romanus): De regimine principum libri III. Recogniti et una cum vita auctoris per F. Hieronymum Samaritanium. Aalen 1967 [Neudruck der Ausgabe Rom 1607]. 49 Videmus enim naturaliter homines dominari bestijs, Viros foeminis, Senes pueris. Homines naturaliter dominantur bestijs, quia hominum genus viget prudentia: bestiae enim prudentia & arte parum participant. Sic etiam viri dominantur foeminis, quia (vt declarari habet in 1. Politic.) foemina habet consilium inualidum. Aegidius Romanus (Anm. 48), I,2,7, S. 65.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
ren Obrigkeit und das Pastoralmodell der Kleriker legitimieren sich vor dem Hintergrund dieser Dichotomie, und im Verlauf der Geschichte gehen sie eine Verbindung ein. 50 Lenkung der trägen unselbständigen Masse und Züchtigung der widerständigen Elemente legitimieren sich gleichermaßen auf der Basis der Animalisierung des Menschen, doch vollzieht sich diese einmal durch die Zuschreibung eines Wilden – eine Inklusion – und einmal durch die Subtraktion eines Humanen – eine Exklusion. In jedem Fall aber handelt es sich nicht um Tiere, sondern um Menschen, die nurmehr graduell vom idealen Maßstab abweichen. Das Argument für die patriarchale Herrschaft profiliert sich in Analogie zur Herrschaft des Menschen über das Tier. 51 So schließt die scheinbar rationale Beweisführung für soziale Differenzierung das ganze historische Syndrom von Sündenfall und Wildheit ein, so dass der christliche Leitdiskurs und seine Meistererzählung präsent gehalten werden. 52 Die Aufspaltung der Lebewesen in Bestie und Herdenvieh spiegelt im Modus der Metaphorik zentrale Konfigurationen der politischen Theorie seit der Antike wider: die unterschiedlichen Formen von Gemeinschaftsbildung, die Friedens- und Subsistenzsicherung einerseits und Herrschaft andererseits nach sich ziehen. 53 Bilden physisches Überleben und Sicherheit vor Gewalt die zentralen Antriebskräfte der ökonomischen Vergesellschaftung (oikos, societas), so garantiert erst die politische Ordnung der Gesellschaft den übergreifenden Zusammenhalt (polis, civitas). Im eigenen Haus herrscht der Patriarch despotisch (über Frauen, Kinder und Leibeigene), in der Öffentlichkeit besitzt er dagegen nur eine relative Macht über Freie. In der mittelalterlichen Staatstheorie fallen beide Herrschaftsformen bekanntlich unter dem Begriff des ordo zusammen. Die Herrschaft des Oikodespoten dehnt sich in der Feudalgesellschaft auf den ‚Staat‘ aus: der Fürst als pater familias, dominium als Herrschaft schlechthin. Friedens- und Subsistenzsicherung werden nunmehr zu Aufgaben des Fürsten. Symbolischen Ausdruck findet solcher Wandel noch in der politischen Metaphorik, wenn sie stereotyp auf Bestie und Herdenvieh rekurriert. 50 Vgl. Michel Foucault: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft. In: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Hrsg. von Joseph Vogl. Frankfurt a. M. 1994, S. 65–93. „‚Mein Knecht David wird König über alle sein. Und er allein wird ihnen allen ein Hirte sein.‘“ Thomas von Aquin: De regno ad regem Cypri. In: Sancti Thomae de Aquino Opera Omnia iussu Leonis, tomus XLII. Rom 1979, I,1. 51 Solche Vermischung von Analogie und Metapher hat bis in das 20. Jahrhundert hinein den ‚wissenschaftlichen‘ Diskurs über soziale Ausgrenzung legitimiert. Vgl. Nancy Leys Stepan: Race and Gender. The Role of Analogy in Science. In: Isis 77 (1986), S. 261–277; Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt a. M. 1988. Zum Verhältnis von Analogie und Ähnlichkeit im Wechselspiel von Begriff und Metapher vgl. auch: Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 319–323. 52 Wolfgang Stürner: Peccatum et potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken. Sigmaringen 1987. 53 Vgl. den historischen Überblick bei Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt a. M. 1972, S. 53–56.
Grenzmetaphorik Wird in der Bestie die physische Bedrohung der Gemeinschaft visualisiert, die der Herrscher im Zuge seiner Friedenspolitik zu domestizieren hat, so im Herdenvieh die soziale Existenzform des Mängelwesens, dessen Fürsorge er übernimmt. Was im theologischen Diskurs den Ausnahmezustand markierte – die Situation nach dem Sündenfall –, wird im politischen Diskurs zur Normalität: Friedens- und Subsistenzsicherung als Auseinandersetzung mit dem Animalischen. Die Metaphorik unterlegt den Entwürfen der politischen Theorie eine natürliche Evidenz, die sich auch christlich wenden lässt. 54 Die Metaphern von Bestie und Herdenvieh als zwei komplementäre Subjektivierungsformen der Herrschaft durchziehen denn auch die Diskurse der Theologie und der Politik, des Rechts und der Pädagogik, und sie prägen noch die kulturellen Leitvorstellungen literarischer Darstellung. Beide Metaphern überführen den politischen Machtanspruch von Adel (Zähmung) und Kirche (Pastorat) in ein sinnfälliges Bild, das mehr ist als eine Metapher: ein Modell für eine stratifizierte aristokratische Kultur. Die Synthese der Herrschaftsformen findet noch in der Synthese der Bildformen ihren Ausdruck. Damit sind aber die mittelalterlichen Optionen für die Verhandlung des Menschseins noch nicht erschöpft. Der Sündenfall lässt den Menschen nicht nur zum Tier werden, sondern auch zum Mängelwesen. 55 Im Anschluss an antike Traditionen ist der Mensch gegenüber den Tieren das physisch benachteiligte Wesen: der nackte Mensch. Aber auch der nackte Mensch besitzt die beiden Optionen der Inklusion und Exklusion, die seit der Antike mit den Metaphern mater naturae und natura noverca bezeichnet werden können. Der nackte Mensch besitzt die Wahl, sich entweder bedürfnislos in die Natur einzufügen oder die Mängel der natürlichen Ausstattung mittels ratio zu überwinden. Die antike stoische Tradition erfährt auch im Mittelalter ihre Rezeption und wird zur Grundlage sowohl asketischer Lebensformen als auch technologischer Fortschrittsprogramme. 56 Statt Wildheit ist Nacktheit der Ausgangspunkt der jeweiligen Entwicklung. Exemplarisch für diesen Diskurs mag der Briefwechsel Alexanders mit dem Gymnosophisten Dindimus stehen, wie er in der Historia de preliis vorliegt, einem vor allem im gelehrt-monastischen Umfeld verbreiteten Text. 57 Hier propagiert der Naturweise eine strikte Einpassung in die Vorgaben der Natur und entwirft die Na-
54 Die gesellschaftliche Ordnung ist Abbild und Bestandteil der Naturordnung, Natur und Kultur fallen im hierarchisch geordneten sozialen Kosmos/Organismus zusammen. Habermas (Anm. 53), S. 57. Vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie. In: Schweizer Monatshefte 48 (1968), S. 121–146, hier S. 122f. 55 Egert Pöhlmann: Der Mensch – das Mängelwesen? Zum Nachwirken antiker Anthropologie bei Arnold Gehlen. In: Archiv für Kulturgeschichte 52 (1970), S. 297–312. 56 Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009, S. 49–61. 57 Historia de preliis (J1). In: Die Quellen zum Alexander des Rudolf von Ems. Hrsg. von Oswald Zingerle. Breslau 1985 (Germanistische Abhandlungen. 4), S. 127–265.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
tur als Vorsorgeinstanz für den nackten Menschen: Der nackte Mensch inkorporiert qua Natur alle Leistungen der Kultur: Frieden, Recht, Sitte, Gesundheit usw. Die paradiesische Fürsorge wird unter den Bedingungen des Sündenfalls nach außen, auf die Natur, ausgelagert, die nun nicht mehr üppig, sondern karg, aber immer noch als hinreichend konfiguriert wird: erneut Exklusion und Inklusion in einem Zwischenraum. Auch wenn gefallen und sichtbar gezeichnet, bleibt der Mensch hier Teil der Naturordnung, in die er sich nun mittels Askese einfügen muss: gewissermaßen eine sozialpolitische Utopie ohne Technik, die sich von der Ausschließungsstrategie der Anachoreten durch ihre Inklusion unterscheidet. Demgegenüber nimmt Alexander den konstitutiven Mangel des Menschen zum Anlass, ein technologisch ausgerichtetes Kulturprogramm zu imaginieren, das Ackerbau, Seefahrt und selbst Sexualität als Effekt diätetischer Praxis zur kulturellen Leistung erhebt. Natur und Kultur sind in diesem Diskurs auch auf Seiten Alexanders Interferenzzonen. Signifikant und aufschlussreich für die Wirkungsmacht der kulturellen Topik ist, dass beide Positionen noch ihr Gegenüber als Animalisches entwerfen. Während Dindimus in Alexander eine wuchernde wilde Triebökonomie wirken sieht, die unersättlich alles verschlingt, reduziert sich für Alexander die Lebensform der Brahmanen auf eine primitive Existenzform: „Das habt ihr gemein mit den Tieren – denen ist von Natur nicht gegeben, daß sie Wohltaten empfänden, so können sie sich auch nicht am Guten erfreuen.“ 58 Selbst im Diskurs über den nackten Menschen tauchen als Hintergrundmetaphern Bestie und Herdenvieh, aggressive und passive Animalität, wieder auf, doch realisieren sie sich im moralischen Diskurs anders als im politischen als komplexe Relation von Innen und Außen. Jeweils aus der Perspektive des Gegners internalisiert der Herrscher Alexander das Animalische, während die wie Herdenvieh dahinlebenden Gymnosophisten die technologische ratio bewusst externalisieren. Im Kontext kultureller Selbstreflexion formieren sich zwei gegenläufige Standpunkte, in denen animalisches und menschliches Innen und Außen nicht mehr einfach unterschieden werden können. Die Folgen des Sündenfalls werden im theologisch-philosophischen Diskurs über den Menschen mithin zum einen über die Kategorie Tier – die Bestie und das Herdenvieh – imaginiert und generieren politische Programme der Herrschaft, zum andern auch über die des nackten Menschen, die naturethische Utopien und technologische Programme der Naturbeherrschung in Gang setzen. 59
58 Omnia hec communia habetis cum bestiis, quia, sicut non habent naturaliter, ut aliquid bonum sentiant, ita nec in aliquo bono delectantur. Historia de preliis (Anm. 57), Cap. 100, S. 233. 59 Vgl. Friedrich (Anm. 56), S. 106–115.
Grenzmetaphorik
Privilegierter Ort der Einschreibung von natürlichen und kulturellen Faktoren aber ist seit je der Körper. Markiert der Geist traditionell die spezifische Differenz zwischen Tier und Mensch, Natur und Kultur, so ist der Körper die elementare Schnittstelle. Nicht nur diachron als Folge des Sündenfalls und nicht nur politischsynchron als Stratifizierung der Gesellschaft denkt mittelalterliche Gelehrsamkeit Differenz und Interferenz von Mensch und Tier, sondern in der Physiognomik auch synchron, und ihr zentraler Schauplatz ist der Körper. Die antike Charakterlehre wird außer im politischen und theologischen vor allem im medizinischen Kontext rezipiert. Auch sie operiert auf zoologischer Basis, die die Animalität des Menschen nicht nur äußerlich sichtbar macht, sondern über die Affektenlehre auch innerlich verankert. 60 Jenseits des heilsgeschichtlich codierten Buchs der Natur existiert offenbar eine Naturschrift, die qualitative Zeichen und Unterschiede schon enthält und den Menschen auf andere Art in der Natur verankert: das Reich der Tiere und das der Gestirne. 61 Der Körper wird noch nicht als homogene Funktionseinheit aufgefasst, sondern als Ensemble vielschichtiger Markierungen, die an anderer Stelle schon verteilt und qualifiziert sind. 62 Dieser naturimmanente Prozess der Signifizierung verläuft über Signaturen. 63 Auch innerhalb der Physiognomik wirken die Mechanismen der Inklusion und Exklusion: Inklusion animalischer Eigenschaften – Löwenmähne, breite Brust, Adlerblick, aber auch Trieb, Gier und Zorn – und Exklusion menschlicher Qualitäten: breiter Schädel, leerer Blick etc. Jenseits des mythischen Phantasmas Wilder Mann erweist sich der Körper selbst als Interferenzzone widerstreitender Anlagen. Während die Moderne die synchrone Schnittstelle zwischen Mensch und Tier in den Dynamiken der Psyche internalisiert und invisibilisiert, ist sie in der mittelalterlichen Physiognomik unmittelbar am Körper ablesbar.
60 Vgl. den historischen Abriss bei Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1997, S. 26–65. 61 Rüdiger Campe: Rhetorik und Physiognomik. Oder: Die Zeichen der Literatur (1680–1730). In: Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen. Hrsg. von dems., Manfred Schneider. Freiburg i. Br. 1996, S. 283–312, hier S. 289; Reinhard Herzog: Mnemotechnik des Individuellen. Überlegungen zur Semiotik und Ästhetik der Physiognomik. In: Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Hrsg. von Anselm Haverkamp, Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1991, S. 165–188. 62 Campe (Anm. 61), S. 288. 63 Foucault (Anm. 16), S. 46–77; Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst. Aus dem Nachlass hrsg. von Uwe Ruberg, Dietmar Peil. Stuttgart/Leipzig 1999.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
Die Physiognomik ist die Disziplin, die die Spannung zwischen Mensch und Tier in den Körper selbst verlegt und verhandelt. Sie liefert gewissermaßen den natürlichen Untergrund für die Charakterlehre: Die Eigenschaften des Körpers sind nämlich Zeichen für die Eigenschaften der Seele, und es gelingt kaum jemals, wie Porphyrius und die Philosophie erklären, daß eine Monstrosität des Körpers nicht auch eine Monstrosität der Seele und der Sitten nach sich zieht. 64
Die Korrespondenz von Außen und Innen, das antike Ideal der Kalokagathie, erhält aber schon in der Physiognomik seine Korrektur. Über die Macht der ratio werden die natürlichen Dispositionen bewältigt. Antike und mittelalterliche Physiognomiken referieren wiederholt eine Geschichte über Hippokrates, deren abschreckende Erscheinung ihrem disziplinierten Verhalten widerspricht. 65 Die Form, durch die die konstitutive Spannung natürlicher Dispositionen und kultureller Verhaltensmuster bewältigt wird, ist Herrschaft. Zwischen die zentrifugalen Energien des Körpers und die zentripetale Kontrollinstanz des Verstandes etabliert sich ein Zwischenraum der Gewohnheit, der diätetischen und moralischen Praxis, durch die die Spannungen bewältigt und als zweite Natur in einen labilen Zustand der Kontrolle überführt werden. Die Leib-Seele-Dichotomie erhält im medizinischen Kontext eine eigene Vermittlungsebene. Die literarische Figurendarstellung spiegelt solche Konstellationen selten wider, sie müssen aber als deren kultureller Hintergrund berücksichtigt werden. Die rhetorische Topik entwirft zwar imaginäre Körper nach den Vorgaben stereotyper Schönheits- oder Hässlichkeitsvorstellungen. Sie liefert aber nicht nur literarische Muster, sondern auch kulturelle Selbstbilder: z. B. den schönen adeligen Standeskörper in epiphanischem Glanz (z. B. Tristan, Parzival, Gregorius) gegenüber dem hässlichen bäuerlichen Leib in animalischer Verzerrung. Rhetorische Technik transportiert hier tief verankertes kulturelles Selbstverständnis. Auch in der Partikularität und Zeichenhaftigkeit ihrer Verfahren operieren Rhetorik und Physiognomik analog. 66 Der
64 Dispositiones enim quae sunt in corpore, signa sunt in dispositionum quae sunt in anima, et vix unquam contingit, ut dicit Porphyrius et philosophia, quin monstrum in corpore sit etiam monstrum in anima et morum dispositione. Albertus Magnus: Commentarii in octo libros politicorum Aristoteli. In: Opera omnia, cura ac labore Augusti Borgnet. Bd. VIII. Paris 1891, I,3, S. 27. 65 ‚iedoch gewonhait verändert vil der nâtûr an dem menschen zuo guotem oder zuo poesem, und dar umb liest man, daz ein alter maister von der nâtûr fragt ainen andern grôzen maister in nâtürleichen dingen und sprach ‚sag mir, waz menschleicher nâtûr hab ich an mir.‘ dô antwurt im der grôz maister und sprach ‚ich hân kainen poesern noch scherpfern menschen gesehen von nâtûr wann dich und hân kainen pezzern gesehen von üebung der tugend und von gewonhait guoter siten wann dich […] dar umb ist der spruch wâr, der dâ spricht: diu gewonhait ist ain wechslerin der nâtûr.‘ Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Hildesheim/New York 1994 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1861], S. 29. 66 Campe (Anm. 61), S. 284–289.
Grenzmetaphorik ganze Leib setzt sich aus vielfältigen Teilen und Zeichen zusammen: ein Kompositkörper und kein Funktionskörper. Die Stereotypen der descriptio personae beziehen denn auch immer wieder physiognomische Markierungen mit in die literarische Figurenbeschreibung ein: z. B. Falkenaugen, Löwenbrust und Löwenmähne. Entsprechend komponiert rhetorische Topik Hässlichkeit immer wieder aus einem Ensemble von Tierattributen. Zugleich aber spiegelt die Literatur die rivalisierenden Standards über das komplizierte Verhältnis von Innen und Außen. In den literarischen descriptiones personae wird immer wieder das Verhältnis von Innen und Außen thematisiert: stereotyp nach dem Modell der Kalokagathie: das hässliche Böse und das schöne Gute: Malcrêatiure vs. Tristan. Das Christentum unterminiert aber auch diese eindeutige Relation, indem es gerade auf die Gegenläufigkeit abzielt: das gute Hässliche und der trügerische schöne Schein: Kundrîe vs. Genelûn. Zwischen epiphanischer Schönheit (oben) und animalischer Hässlichkeit (unten) öffnet sich für den Menschen ein ganzes Spektrum an Übergangszonen mit variablen InnenAußen-Relationen.
In der germanistischen Mediävistik ist der Status des adeligen Körpers primär auf zwei Arten thematisiert worden, die die Spannung von Natur und Kultur zum Ausdruck bringen. 67 Einer geschichtsphilosophischen Perspektive stellt sich das feudale Mittelalter als eine Epoche jenseits von Abstraktion und Institutionalisierung dar, in der soziale Kommunikation sich weitgehend über den Körper vollzieht. Politische Herrschaft gründe in der Unmittelbarkeit physischer Gewalt, und nicht Verstand und Strategie, geschweige denn Psyche, bestimmten das Verhalten des Adeligen sondern seine Physis: „Der Körper ist sein soziales Recht.“ 68 Eine solche Betrachtungsweise kann sich darauf stützen, dass Krieg und Turnier zentrale Felder adeliger Selbstbehauptung sind, dass die Aventiure die literarische Ausdrucksform des
67 Vgl. Wolfgang Haubrichs: Habitus corporis. Leiblichkeit als Problem einer historischen Semantik des Mittelalters. Ein Beispiel physiognomischer Körperdarstellung in der Limburger Chronik. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Klaus Ridder, Otto Langer. Berlin 2002, S. 15–43. 68 Peter Czerwinski: Das Nibelungenlied. Widersprüche höfischer Gewaltreglementierung. In: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Adel und Hof – 12./13. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Frey, Walter Raitz, Dieter Seitz. Opladen 1979, S. 49–87, hier S. 69; ders.: Heroen haben kein Unbewußtes – Kleine Psycho-Topologie des Mittelalters. In: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Hrsg. von Gerd Jüttemann. Weinheim 1986, S. 239–272.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
Gewaltprinzips ist und dass stets der Stärkste zur Herrschaft gelangt. 69 Die Körperfixierung des Adels wird überdies in einer Verordnung des Sachsenspiegels signifikant, nach der körperliche Kraft und nicht geistige Zurechnungsfähigkeit die Basis des feudalen Erbrechts bildet: 70 Physis als unhintergehbares Substrat der Macht. Literarisch codiert, werden Heros und Ritter wiederholt in die Sphäre der Natur eingebunden. So tradiert die Genealogie gemeinhin die väterliche Erbsubstanz und sichert die Partizipation an einem kollektiven Sippenkörper, Physiognomie und Name bringen diese und mitunter weitere Qualitäten qua Signatur zum Ausdruck, die Sozialisation wird als Entelechie natürlicher oder als Adaptation mythischer Kräfte inszeniert. Ein ganzes Arsenal an Zeichen, zu denen auch animalische Signaturen gehören, macht die natürliche Codierung des Körpers sichtbar. Gewissermaßen als Pendant zur epiphanen Schönheit des Standeskörpers konstituiert sich eine markierte ‚wilde‘ Körperlichkeit, die die Verbindung zu elementaren Ressourcen der Natur beschwört. Solche dem Körper eingeprägten Indices rekurrieren auf Natur als Ursprung der Macht. Vor allem heldenepisch geprägte Texte akzentuieren diese physische Seite der Macht, die als selbstbewusster politischer Gegenentwurf zu untergeordneten (Herdenvieh/Mängelwesen), aber auch zu übergeordneten (Gottebenbildlichkeit/höfischen Körper) Körperkonzepten erscheint. Eine zivilisations- und sozialgeschichtliche Perspektive hat dagegen die konkreten „Interaktionsmuster“, d. h. die Kommunikationsformen einer vorinstitutionellen semioralen Gesellschaft wie der mittelalterlichen herausgearbeitet: politische Rituale, Rechtsgesten und höfisches Zeremoniell. 71 „Die Signifikanz von Körperzeichen ist für die Einschätzung von Herrschaftsrechten, von Rangansprüchen und Rangdifferenzen unverzichtbar.“ 72 Hinzu tritt der disziplinierte Körper des höfischen Ritters, wie er narrativ in den Artusepen und programmatisch in Erziehungslehren wie Thomasins Welschem Gast entworfen, im „generalisierten Ich“ des Musterritters
69 Nach Marc Bloch „liebte der Adelige vor allem die Entfaltung der Körperkraft eines schönen Tiers, die er durch vollständiges Training von früher Kindheit an erworben und bewahrt hatte […].“ Ders.: Die Feudalgesellschaft. Berlin/Wien 1982 [zuerst 1939], S. 389. Zum Gewaltaspekt vgl. Robert Bartlett: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel 950–1350. Aus dem Englischen von Henning Thies. München 1996 [zuerst 1993]. 70 Die Fähigkeit, ohne Hilfe ein Pferd zu besteigen, gilt als Voraussetzung für Erbrechtsverfügungen. Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Landrecht 52, § 1. 71 Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Gerd Althoff: Spielregeln der Politik. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. 72 Horst Wenzel: Hören und Sehen. Die Lesbarkeit von Körperzeichen in der höfischen Literatur. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Helmut Brall, Barbara Haupt, Urban Küsters. Düsseldorf 1994, S. 191–218, hier S. 193.
Grenzmetaphorik Gawan idealisiert wird. 73 Die Ausbildung des höfischen Körpers besitzt ihr soziales Fundament in der Kommunikation der Menschen bei Hof, ihren Ursprung in der Disziplinierung des Körpers, wie sie in monastischen Erziehungslehren formuliert wurde. 74 Über eine Vielzahl an performativen Gesten erweist sich der Körper hier als Medium komplexer politischer, rechtlicher und kultureller Kommunikation. So wird einmal der Körper über seine Physis zum Medium eines natürlich fundierten Machtanspruchs, das andere Mal zum Medium sozialer und kultureller Interaktionsformen. Gewalt qua Natur und Verständigung qua Kultur stehen einander offenbar in harter Fügung gegenüber und scheinen nicht vermittelbar. Die Kommunikation der Adeligen bezieht ihre Optionen aus zwei Registern des Körpers, einem indexikalischen und einem symbolischen, deren Spannungen auf vielfache Art inszeniert werden. Sîvrits Auftritt in Worms legt bekanntlich solche Spannungen von Natur und Kultur im Rahmen der Heldenepik offen, und eine Reihe weiterer Heldenentwürfe zeigt den gleichen Befund: der freisliche Morolt, der wütende Wate, der zornige Rennwart, der rasende Witold usw.: exorbitante Gewalt in instrumenteller Funktion. Den exorbitanten Helden wird von innen und außen die komplementäre höfische Disposition gegenübergestellt. In der Konfrontation des Riesen Ecke mit dem Musterritter Dietrich werden exemplarisch die Grenzen am Körper selbst verhandelt: natürliche innere und äußere Exorbitanz in Ecke (zentrifugal), kontrollierte innere und äußere Exorbitanz in Dietrich (zentripetal). Im Hintergrund der Konfrontation der beiden Heldentypen wird noch der Mythos des Wilden Mannes sichtbar, der jenseits von Eckes Riesengestalt in unterschiedlichen Formen eingespielt wird: im Kentauren, in der heilkundigen wilden maget, im Zwergenritter, vor allem aber in Eckes Sippe, seinen monströsen Brüdern Vasolt und Eggenot sowie in Schwester und Mutter als wilden wîben. 75 Ein ganzes Ensemble von Grenzfiguren, die bis auf den Kentauren (merwunder) schon allesamt dem Bereich des Menschen angehören, rahmt das Geschehen und konstituiert signifikante Zeichenrelationen. Die feudale Kultur entwirft sich weniger in einem Entwicklungsmodell von der heroischen Natur zur höfisch domestizierten Kultur, vielmehr belegt die Parallelität der Überlieferung konkurrierender Gattungen die Wirkung einer komplizierten Interferenzzone. Heldenepik und Höfischer Roman inszenieren immer wieder einerseits das politische Modell der Herrschaft, die Gewalt abwenden und durchsetzen muss,
73 Jan-Dirk Müller: Identitätskrisen im höfischen Roman um 1200. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von Peter von Moos. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 297–323, hier S. 317. 74 Joachim Bumke: Höfischer Körper – Höfische Kultur. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 67–102. 75 Das Eckenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von Francis B. Brevart. Stuttgart 1986; John L. Flood: Dietrich von Bern and the Human Hunt. In: Nottingham Mediaeval Studies 17 (1973), S. 17–41.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
andererseits das soziale Modell der Vergesellschaftung, das zugleich die kulturellen Standards feiert: Frieden, Integration und Überfluss. Die Ambivalenz des feudalen Körpers zeigt sich auch im inneren Feld der Affekte. Gewalt und Minne gelten als die zentralen Themen der höfischen Literatur, das Medium ihrer Artikulation ist der Körper, der in beiden Feldern zwischen Animalität und Disziplin, zwischen natürlichen Dispositionen und kultureller Formung changiert: gier und kunst sind zeitgenössische Ausdrücke für diese innere und äußere Ambivalenz, Gier als Inbegriff von Aggressivität und Affektivität, Kunst als derjenige von Selbstbeherrschung und Technik. Neben die physiognomische Spannung von Innen und Außen und neben die rivalisierenden heroischen und höfischen Interaktionsformen tritt mit der Affektökonomie (Gewalt/Minne) eine weitere Form von natürlichen und kulturellen Interferenzen, die für das Mittelalter elementar sind. Auch sie konzentrieren sich in einer beliebten Metapher. Im Bild des Falken verdichtet sich die Opposition von gier und kunst, Natur und Kultur, so dass sich gegenläufige Sinnebenen synthetisieren und visualisieren lassen. 76 In der Falkenmetapher werden Minne und Gewalt als konstitutive und jeweils in sich gespaltene Konstituenten adeliger Identität anschaulich. Auch hier überbrückt die Metapher logische Widersprüche, indem sie nicht nur illustriert, sondern auch ordnet. Der Raubvogel als Bild für den Kämpfenden und für den Minnenden, deren affektive ‚Kommunikation‘ einer inneren und äußeren Dialektik unterliegt. Der Falke bewegt sich in beiden Feldern nicht nur auf der Grenze von Natur und Kultur, sondern er ist auch im Kampf wie in der Minne potentiell Jäger und Gejagter zugleich. 77 Die Jagd aber ist der Ort, an dem Natur in Kultur übergeht und umgekehrt: eine weitere Indifferenzzone. Die Falkenmetapher synthetisiert das wilde Körperbild und die kulturelle Formung, in ihr ist realisiert, was in den Narrativen immer wieder auseinander fällt. In Hartmanns von Aue Iwein werden schließlich die natürlichen und kulturellen Faktoren adeliger Existenz in komplexen Situationstypen und Figurenarrangements verhandelt. An drei Stellen nimmt das Körperthema eine signifikante Funktion an. Der höfische Ritter Kalogrenant trifft in einer Enklave der Wildnis einen monströs aussehenden Waldmenschen, einen gebûren, der eine Herde wilder und einander bekämpfender Tiere hütet: topologisch und anthropologisch scheinbar die geläufige Innen-Außen-Relation. 78 Seiner animalisierten Erscheinung korrespondiert indes kein wildes Inneres, der gebûre erweist sich überraschend als friedlicher Mensch, während der höfische Ritter sich auf der Suche nach Gewalt befindet. Indem an die Stelle der Konfrontation die Kommunikation tritt, wird der Wilde Mann zur Reflexi-
76 Christian Kiening, Susanne Köbele: Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120 (1998), S. 234–265, hier S. 248f. 77 Ebd. 78 Le Goff (Anm. 33), S. 171–200.
Grenzmetaphorik onsfigur für den höfischen Ritter, zu seinem Spiegelbild, das Innen und Außen wechselseitig relationiert. Weder am zivilisierten noch am wilden Körper ist die ethische Gesinnung noch unmittelbar ablesbar. Die physiognomischen Markierungen laufen auf beiden Seiten ins Leere, so dass sich offensichtlich die Zeichenkonfigurationen verschoben haben. Die Gegenbildlichkeit der Körperinszenierungen wird um eine der Praktiken ergänzt, in die Ritter und gebûre involviert sind. Mit den gegenläufigen Formen von Herrschaft über Tiere einerseits und über Menschen andererseits sind aber klassische politische Theoreme ins Bild gesetzt. Vor dem Hintergrund des Pastoralmodells scheint der gebûre den Herrschaftsanspruch des Menschen über die Tiere und nicht über die Menschen zu repräsentieren – Aventiure ist ihm unbekannt –, während Kalogrenant explizit Menschen unterwerfen will. Der Wilde Mann repräsentiert sowohl vertikal (Signaturen) als auch horizontal (Hirte) den Zustand der Erbsünde, indes ohne individuelle Schuld. Anders aber als der Ritter beherrscht er auf beiden Ebenen seine gegebene Natur. Auch die berühmte Szene von Iweins Wahnsinn, die immer wieder als Vertierung gelesen wird, gestaltet Hartmann vor dem Hintergrund traditioneller Topik, um von ihr abzuweichen. 79 Als Reaktion auf die Verfluchung greift er nicht auf das biblische Bild der Vertierung Nebukadnezars zurück, wie es spätere Erzählungen wiederholt (Partonopier, Busant, Wolfdietrich) praktizieren. 80 Hartmann lässt Iwein selbst im Augenblick der Krise weniger verwildern als die inneren animalischen Potentiale des Adeligen – des Jägers – offenbaren. Er erspart Iwein die vollständige Regression. Er wird nicht zum Tier, weder zur Bestie noch zum Herdenvieh, vielmehr explizit zum tôren. Im nackten Iwein wird jenseits aller Animalisierung das Mängelwesen als Adelsnatur inszeniert. Auf der elementarsten Ebene bleibt der Adelige Jäger, wird Jagdkultur in Natur inkludiert. Im zweiten Teil schickt Hartmann Iwein auf einen Bewährungsweg, in dem er einen sozialen und politischen Ordnungsanspruch durchsetzen muss: soziale Integration und Sicherung des Friedens. Dieser Weg steht unter dem Zeichen einer spezifischen Tiersignatur. Der Löwe, den Iwein aus den Fängen des Drachen befreit, unterwirft sich nicht nur seinem Retter, dient ihm nicht nur, wie es einem Tier anstehe, er mutiert selbst zum Herdenvieh. Iweins höfischer Status wird an seinem Löwen sichtbar:
79 Max Wehrli: Iweins Erwachen. In: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Hrsg. von Maria Bindschedler, Paul Zinsli. Bern 1969, S. 64–78; Wolfgang Mohr: Iweins Wahnsinn. Die Aventüre und ihr ‚Sinn‘. In: ZfdA 100 (1971), S. 73–94; Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996. 80 David A. Wells: Die Ikonographie von Daniel IV und der Wahnsinn des Löwenritters. In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift für John Asher zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Kathryn Smitts, Werner Besch, Victor Lange. Berlin 1981, S. 39–57.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
daz kuren sî dar an daz der lewe bî im lac und anders sites niene pflac niuwan als ein ander schâf. 81
Im Löwen aber, der zum Schaf wird, wird die Spannung von Bestie und Herdenvieh versöhnt. Wie der ideale Herrscher zum Hirten werden soll, so die Bestie zum Schaf. Politische und christliche Theorie werden hier in der konkretisierten Metapher des Löwen ebenso harmonisiert wie Natur und Kultur. Die Spannung zwischen wilder Natur und disziplinierter Kultur kommt überdies auf der Ebene der Figurenrelation in einer weiteren Konstellation paradigmatisch zum Ausdruck: im Riesen Harpin, der einen nackten und von einem Zwerg geschundenen Menschen vor sich hertreibt und auf den Inbegriff von Kultur, auf den technisch gerüsteten und innerlich ‚christianisierten‘ Ritter mit dem Löwen trifft. 82 Gegenüber der früheren Opposition von Wildem Mann und Artusritter haben sich hier die vertikalen und horizontalen Relationen von Tier und Mensch, Natur und Kultur, noch einmal verschoben: Reklamiert der berittene Riese explizit und praktisch Gewaltherrschaft über Menschen, so herrscht der Artusritter über Tiere und steht im Dienst der Menschen. Das animalische Potential des Menschen wird im literarischen Entwurf repräsentiert, symbolisiert und reflektiert, das Wilde ist in der Gestalt des Löwen exkludiert, instrumentalisiert und damit beherrschbar geworden. 83 Anders als in der gewaltsamen Konfrontation des Eckenliedes werden hier die Bestie und das Disziplinarmodell versöhnt.
Der Körper des Christen zeigt ähnliche Schichtungen und Ambivalenzen. Der Körper ist hier die Gegeninstanz zur Seele, er ist ihr Gefängnis, aus dem sie befreit werden, das Tier, gegenüber dem sie sich behaupten muss. Bildfelder der Domestizierung prägen im religiösen Feld traditionell die Beschreibungen des Verhältnisses von Körper und Seele: der Wagenlenker, der Reiter, das Joch. 84 Der geschundene und
81 Hartmann von Aue: Iwein. Text der 7. Ausgabe von G. F. Bennecke, L. Lachmann, L. Wolff. Berlin 1968, V. 4814–4818. 82 Ebd., V. 4914–4990. 83 Vgl. Eugene Vance: From Topic to Tale. Logic and Narrativity in the Middle Ages. Minneapolis 1987; Bruno Quast: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Hrsg. von Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Strohschneider. Frankfurt a. M. 2001, S. 111–128. 84 In der religiösen Praxis der Frauenmystik existieren indes auch andere Modelle, solche, in denen der weibliche Körper zum Medium religiöser Erfahrung wird. Vgl. Caroline Walker Bynum:
Grenzmetaphorik gebundene Körper einerseits und der disziplinierte Körper andererseits zeigen auch hier zwei Optionen an, um die Animalität des Menschen in den Griff zu bekommen: durch Gewalt und durch Rationalität. Die Folie, vor der diese Strategien sich entwickeln, ist ebenfalls die wilde Natur des Tiers, die zum einen gebrochen und zum anderen abgerichtet werden muss. Gegenüber dem Körper, dem eigenen wie dem fremden, kommen jene Strategien zur Anwendung, die schon die Bestie und das Herdenvieh trafen: Gewalt und Gewöhnung. Zucht und Disziplin werden zu Leitpraktiken der monastischen wie der höfischen Erziehung. Repräsentiert der Mönch als Figur der Disziplinierung die institutionelle Unterwerfung des Körpers innerhalb der Kultur, so der Eremit die individuelle innerhalb der Natur. Während dieser aber bemüht ist, in seiner Lebenspraxis eine Synthese von Natur und Kultur umzusetzen, gewissermaßen Kultur in Natur zu inkludieren, erhält er im Anachoreten noch sein ‚wildes‘ Gegenbild, der im Kampf gegen seinen Körper einen Zustand jenseits von Natur und Kultur anstrebt. 85 Im Körper des Christen realisiert sich die Spannung von Natur und Kultur offenbar in komplexen Konfigurationen. Im zweiten Buch seiner Dialoge bietet Gregor der Große eine Vita des Heiligen Benedikt von Nursia. Dieser zieht sich der Legende nach schon frühzeitig in die Einöde zurück, um abgesondert von den Menschen und ihren weltlichen Vergnügungen zu leben. Benedikt lebt zurückgezogen und selbstgenügsam, doch stellt sich bei ihm eine besondere Konstellation von Körper und Seele ein: Damals entdeckten ihn auch Hirten in der Höhle, wo er sich verborgen hielt. Als sie ihn mit Fellen bekleidet im Gestrüpp erblickten, meinten sie zunächst, er wäre ein wildes Tier. Bald aber erkannten sie ihn als Diener Gottes. Da ließen viele von ihrer tierischen Gesinnung ab und wandten sich der Gnade eines frommen Lebens zu. Dadurch wurde sein Name in der Umgebung allen bekannt. So kam es, daß er schon damals von vielen aufgesucht wurde. Sie brachten ihm Nahrung für den Leib und nahmen in ihrem Herzen dafür aus seinem Mund Nahrung für das Leben mit. 86
Fragmentierung und Erlösung. Geschichte und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt a. M. 1996. 85 „dem Zusammenbruch nahe […], fühlte er sich getrieben, frei und gedankenlos wie ein Tier zu wandern, an den hier und da wachsenden Kräutern zu nagen […].“ Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum. München 1994, S. 233. „Das war der unheimliche Zustand der adiaphoria. In ihm lösen sich die Grenzen zwischen Mensch und Wüste, Menschlichem und Tierischem in bedrückender Verwirrung auf.“ Ebd. 86 Eodem quoque tempore hunc in speculatitantem etiam pastores invenerunt. Quem, dum vestitum pellibus inter frutecta cernerent, aliquam bestiam esse crediderunt, sed cognoscentes Dei famulum, eorum multi ad pietatis gratiam a bestiali mente mutati sunt. Nomen itaque eius per vicina loca cunctis innotuit, factumque est ut ex illo iam tempore a multis frequentari coepisset, qui cum ei cibos deferrent corporis, ab eius ore in suo pectore alimenta referebant vitae. Gregor: Vita S. Benedicti. Cap. 11, PL 66, Sp. 132; Friedrich (Anm. 56), S. 133–135.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
Die Episode demonstriert den Grundkonflikt zwischen Körper und Seele und zugleich eine mögliche Lösung für die Existenz des Heiligen, vielleicht sogar für die Kirche insgesamt: Im Heiligen wird der Grundkonflikt zwischen animalischem Körper und innerer seelischer Reinheit zugleich anschaulich und bewältigt. Der verwilderte Körper wird offenbar durch die reine Seele im Zaum gehalten. Dabei achtet Gregor darauf, dass Benedikt nur Tierkleidung trägt, also allein durch seine Kleidung verwildert erscheint: Er ist gewissermaßen äußerlich der Wildnis angepasst. Die Täuschung, ihn als Tier zu identifizieren, liegt allein bei den Hirten, die ihrerseits nicht nur rohe Gesinnung auszeichnet, sondern eine mens bestialis. Den Hirten, die mit Tieren umgehen, wird eine tierische Gesinnung attestiert. Die Legende ist raffiniert symmetrisch konstruiert. Es ist das klassische Bild vom Hirten und der Herde, die politische Metapher für die Gemeinde, die der Legende zugrunde liegt und die hier verkehrt ist: Während der Heilige äußerlich wild erscheint, innerlich aber rein ist, erscheinen die Hirten nur äußerlich als Menschen. Es sind also die Hirten selbst, die der Leitung bedürfen. Wie die Hirten konkret für ihre Tiere sorgen, so sorgt der geistige Hirte für seine ‚Hirtenschäfchen‘. So verweist noch der Prozess wechselseitiger Ernährung auf die Hierarchie von Körper und Geist: Dem realen Ernährungsprozess durch die Hirten vergilt der Heilige mit geistiger Nahrung für das Leben. Das Pastoralmodell gründet auf der Differenz von Mensch und Tier, zeichnet vor dem Hintergrund der Innen-Außen-Relation die Interferenzen im Geistlichen und im Hirten, ihre inverse Struktur, und erhält dadurch seine Legitimität als Instrument der sozialen Hierarchisierung.
Neben der Konfrontation des animalischen und des höfischen Körpers, des sündigen und des heiligen Leibs, existieren aber noch weitere Konfigurationen. In den zwei Körpern des Königs etwa, wie Ernst Kantorowicz sie skizziert hat, findet eine andere Spaltung statt. Hier werden der sterbliche Mensch und die ewige Institution in einem Konzept miteinander verbunden: Neben den animalischen, den höfischen und den sterblichen Körper tritt der institutionelle. 87 Auch das christliche Körperkonzept speist sich nicht nur aus dem Bildfeld des Tierischen, sondern auch des Menschlichen: Der alternde und verfallende Körper ist nur eine andere Ausdrucksform des Mängelwesens, gegenüber dem die Seele Position beziehen muss. Der Leib des Papstes in der inszenierten Spannung von Sterblichkeit und Ewigkeit, der Hinfälligkeit des natürlichen Leibs und Ewigkeit des institutionellen corpus ecclesiae, 87 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1994. Vgl. Wolfgang Ernst, Cornelia Vismann (Hrsg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. München 1998.
Grenzmetaphorik zeigt eine andere Spannung als der Leib des Anachoreten oder der des Mönchs. Der Leib des Papstes aber ist wie der des Königs ein besonderer, weil er auch als konkreter Leib Sterblichkeit und potentielle Unsterblichkeit zu repräsentieren hat, etwa in der Verfügung über das lebensverlängernde aqua vitae. 88 Solche Konzepte des Körpers akzentuieren die vertikale Dimension, der unsterbliche Körper als Abbild metaphysischer Macht. Der politische Körper des Königs und der Leib des Papstes haben ihren Grund letztlich in der Corpusvorstellung mittelalterlicher Gesellschaft: corpus rei publicae und corpus ecclesiae. 89 Auch der Organismus ist mehr als ein Bild, er ist die Substanz einer natürlich fundierten und hierarchisierten Gemeinschaft. Im politischen Feld kommen in den Entwürfen der beiden institutionalisierten Körper aber entgegengesetzte Programme zum Ausdruck. Die Marginalisierung der Sterblichkeit des Inhabers gegenüber der Ewigkeit des Amtes im weltlichen Bereich, die Verbindung von inszenierter Hinfälligkeit – memento mori – und institutionalisierter Ewigkeit, potentiell personalisierter Unsterblichkeit im geistlichen Bereich. Eine Geschichte des Körpers im Mittelalter hätte auch den Diskurs über Folgen des Sündenfalls einzubeziehen, der durch verschiedene Prozesse der Differenzierung und der Interferenzbildung geprägt ist: 90 zunächst im Aufkommen des Mythos vom Wilden Mann, der als eine Figur des Ausschlusses, der Überwindung und Versöhnung entworfen wird; sodann durch die Spaltung des Menschen in einen animalischen und einen nackten Körper, die Aufspaltung des animalischen seinerseits in eine wilde und eine zahme Variante, die Bestie und das Herdenvieh. Die Bestie selbst realisiert sich wiederum zum einen negativ im radikal Wilden, das sozial ausgelöscht oder isoliert werden muss, aber auch positiv im animalisierten Heros, der im feudalen Milieu zum Garanten politischer Stabilität in Krisenzeiten wird. Ordnung und Unordnung werden über den gleichen Parameter des Animalischen hergestellt. Bis in den Bereich politischer Metaphorik hinein grundiert das Bild vom zu beherrschenden und herrschenden Tier die Vorstellung. Die Strategie der gewaltsamen Überwindung des Animalischen gilt noch für den Anachoreten, der indes auf den eigenen Körper zielt. Das Herdenvieh als gewissermaßen passive Animalität steht für den Sünder, den Untertan, für Frauen und Kinder. Der nackte Mensch dagegen differenziert sich in eine passive und eine aktive Variante aus: eine frugale 88 Agostino Paravicini Bagliani: Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit. München 1997 [zuerst Turin 1994], S. 192–203 u. 216–224. 89 Gerhard Dohrn-van Rossum: Politischer Körper, Organismus, Organisation. Zur Geschichte naturaler Metaphorik und Begrifflichkeit. Bielefeld 1977. 90 Zur Geschichte des Körpers vgl. Klaus Ridder, Otto Langer (Hrsg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Berlin 2002; Jacques Le Goff, Nicolas Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Stuttgart 2007; Karina Kellermann (Hrsg.): Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Berlin 2003 (= Das Mittelalter 8, 2003); Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Körperkonzepte im arthurischen Roman. Tübingen 2007.
Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen
Bedürfnisnatur, die sich der ratio der Natur überlässt, und eine technologische Kultur, die aus den Potentialen der eigenen ratio resultiert. Aber auch der nackte Mensch bedarf der Prägung, er muss Widerstand gegen das innere und äußere Wilde leisten. In den geistlichen und politischen Körperkonzepten sind es Gewalt und Rationalität (Disziplin), die diesen Prozess steuern. In der Moderne wird der Körper nicht mehr einfach als Repräsentant des Natürlichen dem Geist bzw. der Kultur entgegengesetzt wie im Mittelalter. Die Moderne versteht den Körper mittlerweile auch als Medium der Kommunikation, als komplexen Träger kultureller Zeichen, die in sozialer Interaktion ausgetauscht werden, um etwa Macht, Geltung und Identität sichtbar zu machen. Der Körper wird weniger zwischen Natur und Kultur eingespannt als vielmehr selbst zum kulturellen Konstrukt, das zwischen Ich und Gesellschaft vermittelt. 91 Man hat den Eindruck, dass der Körper als Leitparadigma den Geist abgelöst hat und dass neben die Geistesgeschichte eine Körpergeschichte getreten ist, die die „kulturelle Signifikanz von Körpern“ untersucht. 92 Die Körpergeschichte löst überdies das traditionelle und einheitliche Bild vom Menschen zugunsten einer Pluralität von Identitätskonstruktionen auf: Geschlechteridentitäten, kollektive Identitäten, kulturelle Identitäten unter der Perspektive der Differenz und Alterität. Die Körpergeschichte macht den blinden Fleck der Geistesgeschichte sichtbar, sie lässt scheinbar bewältigte Energien an die Oberfläche dringen, offenbart elementare Mechanismen sozialer Kommunikation, bringt gegen die Abstraktion konkrete Gegebenheiten zur Geltung und verfolgt sie in ihren historischen Ausprägungen.
91 Die Genderforschung etwa hat gegenüber dem natürlichen Körper den kulturellen – konstruierten – Körper eigens zum Thema gemacht und in seinen sozialen Funktionen beschrieben. Ingrid Bennewitz, Ingrid Kasten: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanz nach Butler und Laqueur. Münster 2002; Ingrid Bennewitz: Der Körper der Dame. Zur Konstruktion von ‚Weiblichkeit‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Aufführung und Schrift in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart/Weimar 1996, S. 222–238; Monika Schausten: Der Körper des Helden und das ‚Leben‘ der Königin: Geschlechter- und Machtkonstellationen im Nibelungenlied. In: ZfdPh 118 (1999), S. 27–49. 92 Zum Terminus Schausten (Anm. 91), S. 28; Dietmar Kamper, Christoph Wulf: Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a. M. 1982.
Der Ritter und sein Pferd Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft zielt traditionell darauf, Texte aus übergeordneten – politischen, sozialen, mentalen – Kontexten zu erklären. Unter einer erweiterten semiotischen Perspektive kehrt sie das Verhältnis von Text und Kontext um, indem sie versucht, jenseits der klassischen Auffassung von Textualität allgemeinere kulturelle Zeichenarsenale zu greifen: Sprachstrukturen, historische Semantiken, Diskurse, Habitus, mithin symbolische Phänomene, die den Rahmen des literarischen Textes überschreiten.1 Diese symbolischen Ordnungen sind nicht gleichzusetzen mit Kunst und Literatur, vielmehr artikulieren sie sich gleichermaßen in Diskursen, Praktiken, Texten und Institutionen. Mit dem Begriff der symbolischen Ordnung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Strukturwirkung und Sinnkonstruktion ineinandergreifen, so dass der Leitbegriff als Brückenschlag zwischen Strukturalismus und Hermeneutik aufgefasst werden kann: so wie Topoi strukturierend wirken, so Strukturen sinnstiftend. Symbole, symbolische Formen und Symbolstrukturen sind längst kein genuiner Gegenstand der Literaturwissenschaft mehr, vielmehr erweist sich der ästhetische Symbolgebrauch nurmehr als ein besonderer Faktor in einem ganzen Netz symbolischer Praktiken. Es sind die Humanwissenschaften insgesamt, die neben und z. T. in Verbindung mit hermeneutischen, sozialhistorischen und strukturellen Ansätzen die Wirksamkeit symbolischer Operationen betonen.2 Symbolische Ordnungen konstituieren einen emphatischen, indes notwendigen Sinnhorizont für Subjekte, Gruppen, Klassen und größere Kollektive (Volk, Nation), ohne dass man ihnen ein fundamentum in re zusprechen kann, sie erweisen sich vielmehr als Produkte (Konstrukte) rivalisierender Sinnbedürfnisse. Die vielbeschworene Macht des Symbolischen von religiösen, ökonomischen und politischen Symbolen bis hin zu sozialen
|| 1 Fokus einer semiotisch orientierten Kulturwissenschaft ist daher primär der Kontext. Carsten Lenk: Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur. In: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Hrsg. von Renate Glaser, Matthias Luserke. Opladen 1996, S. 116–128. 2 Sprache, Mythos und Lebenswelt werden als eigenständige Symbolsphären neben dem rationalen Diskurs etabliert (Cassirer); die semiotische Funktion wird als genuin symbolische entworfen (Ricœur); selbst die Soziologie schreibt den zweckrational handelnden Menschen eine kalkulierte Rivalität an symbolischen Praktiken zu (Bourdieu), die kulturtheoretisch orientierte Psychoanalyse schaltet die Ebene der ‚Symbolischen Ordnung‘ als sinnstiftende Struktur zwischen das Reale und das Imaginäre (Lacan). Und auch die verstehende Ethnologie widmet sich dem selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe als spezifisch symbolischer Dimension gesellschaftlichen Handelns (Geertz). https://doi.org/10.1515/9783110772340-004
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Statussymbolen zeitigt eigenständige Effekte auf das Bewusstsein und spielt eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung, Strukturierung und Codierung von Wirklichkeit. So wenig die ‚Symbolwelt‘ mit dem klassischen Geist oder Weltbild gleichzusetzen ist, so sollte sie nicht als sich selbst genügende Größe betrachtet werden. Die symbolische Sphäre differenziert sich in eine Vielzahl von sich überschneidenden Sinnkonstruktionen aus, über die sich Macht, soziale Beziehungen und Ökonomie ausdrücken.3 Bilder, Topoi und Begriffe, Motivkomplexe, Wahrnehmungsformen und Erzählstrukturen entfalten eine symbolische Energie, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit steuert, von daher können sie als symbolische Ordnungen mit strukturierender Kraft begriffen werden. Für die höfische Kultur ist ein ganzes Ensemble solcher symbolischen Komplexe beschrieben worden: u. a. die Falkenjagd, die (Minne-) Dienstmetapher, die Begriffe der höfischen Ethik (maze, zuht) und Ästhetik, der Doppelweg des aventiure-Ritters, die Kreuzzugsidee. Sie alle bieten einem adeligen Publikum, wirft man einen Blick auf die Chroniken, einen imaginären Selbstentwurf von Zivilisiertheit, der weit über die Gegebenheiten einer feudalen Lebenswelt hinausweist.4 Daneben stehen indes heldenepische Symbolkomplexe wie die Figur des überlegenen Heros, die Brautwerbung, das Ethos der Rivalität, das Strukturschema von Verrat und Rache, die weniger die Vorstufe zum höfisch-zivilisierten Entwurf als sein notwendiges Komplement bilden. Als solch eine Einschreibefläche symbolischer Sinnstiftung, die gleichfalls die Spannung kultureller und ‚natürlicher‘ Konzepte offenbart, lässt sich für die anthropologische Selbstreflexion des Mittelalters das Verhältnis von Mensch und Tier beschreiben. Auch dieses ist nicht nur Gegenstand literarischer Reflexion, vielmehr wirkt es strukturierend in die verschiedensten Diskurse hinein. Theologische Vorstellungen vom Geschichtsverlauf (Sündenfall), an diesen orientierte Moral- und Erziehungsentwürfe, naturphilosophische Körperkonzepte, Modelle politischer Herrschaftslegitimation bis hin zu den mythischen Entwürfen einer feudalen Gewaltkultur: Stets werden die Spannungen eines binären Körperkonzepts (LeibSeele) verhandelt, dem letztlich der Antagonismus von Mensch und Tier zugrunde liegt. Je nach sozialer Perspektive wird die Opposition von Mensch und Tier anders bewertet, stehen sich Strategien theologischer Distanzierung und feudaler Assimilierung als kontroverse Pole gegenüber. Wie aber der theologische Blick immer schon durch das Phantasma der Überschreitung geprägt ist (der Sünder), so auch der feudale durch Nähe und Distanz gleichermaßen: z. B. der ‚zügelnde‘ Herrscher als zugleich stärkstes Tier. Ergänzt man die Kulturentwürfe der höfischen Epen um
|| 3 Pierre Bourdieu, Roger Chartier, Roger Darnton: Dialog über die Kulturgeschichte. In: Freibeuter 26 (1985), S. 22–37 u. 43. 4 Joachim Bumke: Die höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im Mittelalter. 2 Bde. München 1986.
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die zeitgenössischen kulturtheoretischen Rahmenbedingungen, wie sie vornehmlich von einer Klerikerkultur entworfen werden, so fügen sie sich in technologische, ethische und politische Zivilisationsprogramme ein, die die problematische Nähe des Menschen zum Tier zu bewältigen suchen. Die alternativen Programme bieten Antworten auf die aus dem Sündenfall resultierenden Folgen (Mangel, Verwilderung) für die conditio humana: erstens dem Mängelwesen Mensch durch Technik zur Selbstbehauptung gegen eine wilde Natur zu verhelfen; zweitens den Mangel als Schuld zu akzeptieren und durch ein asketisches Programm in eine Ethik der Entsagung zu überführen; drittens den vertierten Menschen (den Sünder, den dritten Stand, das Volk insgesamt) durch eine starke politische Gewalt zu zügeln.5 Alle drei Entwürfe bestehen nebeneinander. Die Konkurrenz von Modellen technischer Kompensation, asketischer Selbstbeschränkung und feudaler Gewaltlegitimation ist zugleich ein Index für die Schwierigkeit, rationale, ethische und politische Kulturkonzepte unter der Sündenfallprämisse zu harmonisieren. Lässt sich die strukturierende Funktion des Mensch-Tier-Paradigmas in zahlreichen Diskursen (Theologie, Politik, Ethik, Ethnographie), Praktiken (Jagd, Fehde) und Zeichenarsenalen (Metaphorik, Namen, Heraldik, Waffen, Physiognomik) nachweisen, so soll im vorliegenden Fall das zentrale (reale) Kennzeichen des Rittertums, das Gefüge Ritter-Pferd, unter der Perspektive der symbolischen Sinnstiftung betrachtet werden. Natürlich kann das Pferd eine symbolische Funktion innerhalb einer Erzählung, d. h. textimmanent annehmen. Darüber hinaus aber besitzt es einen strukturellen Symbolwert für die Feudalkultur insgesamt. Stellt man die Belege zusammen und befragt sie nach ihren impliziten kulturellen Semantisierungsstrategien, lassen sie sich nach den skizzierten Kulturmustern ordnen. Im Horizont technologischer, ethischer und politischer Kulturentwürfe erweist sich das Pferd als umkämpfte Einschreibefläche.
|| 5 Zur Mängelwesenthese vgl. Elspeth Withney: Paradise Restored. The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century. Philadelphia 1990. Zur Askesehaltung vgl. Hartmut Kugler: Das Streitgespräch zwischen ‚Zivilisierten‘ und ‚Wilden‘. Argumentationsweisen vor und nach der Entdeckung der neuen Welt. In: Formen und Formgeschichte des Streits – Der Literaturstreit. Hrsg. von Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann. Tübingen 1986, S. 63–72. Zur politischen Herrschaft vgl. Wolfgang Stürner: Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken. Sigmaringen 1987.
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1 Der Ritter Index eines sozialhistorischen Wandels Der Ritter kann als zentrale Chiffre einer kulturhistorischen Symbiose von Mensch und Tier interpretiert werden.6 Im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Analyse ist dieser weniger eine literarische Figur, d. h. Funktion eines Textzusammenhanges, als eine reale soziale Erscheinung, eine ‚kulturelle Form‘, die erst unter besonderen historischen Voraussetzungen in Erscheinung tritt.7 Als ‚kulturelle Form‘ verstanden, wird das Gefüge Ritter-Pferd mit symbolischem Gehalt aufgeladen und wirkt in die verschiedenen Felder sozialer Interaktion hinein. Nachweislich hängt die Genealogie des Rittertums mit dem Pferd zusammen.8 Das Aufkommen des berittenen Kriegers, des Panzerreiters (dextrarius), zur Zeit der Karolinger gilt sozialhistorisch als Katalysator einer wirkungsmächtigen Umschichtung innerhalb der Feudalstruktur, die zur Differenzierung von milites und pauperes innerhalb der militia führt.9 Auch wenn der Panzerreiter nicht notwendig aus militärischer Notwendigkeit entsteht, zieht seine Erscheinung im sozialen Feld ungeahnte strukturelle Veränderungen nach sich, die letztlich in einer elitären Gruppenideologie münden. Dieser Wandel wird in der Gegenüberstellung zweier Ereignisse aus dem Reichsgebiet deutlich: Während Widukind anlässlich der Errichtung der Heinrichsburgen im 10. Jahrhundert noch von agrariis militibus, freien Bauernkriegern, spricht, die sich zwar bereits arbeitsteilig ausdifferenzieren, doch wohl noch dem unberittenen Heerbann angehören, erhalten seit dem 12. Jahrhundert selbst die Ministerialen das verbriefte Recht auf berittenen Kriegsdienst.10 Mehr denn je wird Reiten zum Index
|| 6 Max Jähns: Ross und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der Deutschen. Eine kulturhistorische Monografie. 2 Bde. Leipzig 1872, I, S. 162. Heinz Meyer: Mensch und Pferd. Zur Kultursoziologie einer Mensch-Tier-Assoziation. Hildesheim 1975. 7 Lenk (Anm. 1), S. 117. 8 Seit dem 11. Jahrhundert markiert die Durchsetzung des miles-Begriffs auch sprachgeschichtlich den sozialen Wandel. Joachim Bumke: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert. Heidelberg 1964 (Beihefte zum Euphorion. 1), S. 28f. u. 35–40. Georges Duby: Die Ursprünge des Rittertums. In: Das Rittertum im Mittelalter. Hrsg. von Arno Borst. Darmstadt 1989 [zuerst 1968] (WdF. 349), S. 349–369, hier S. 354. 9 „Es ist ferner 3. eine allgemeine und, wie mir scheint, wohlbegründete Annahme, daß das Vordringen des Reiterdienstes ein zuvor nicht gekanntes Problem geschaffen hat, das sich in den Quellen seit Karl dem Großen deutlich widerspiegelt: das Problem der pauperes im Heer.“ Josef Fleckenstein: Adel und Kriegertum und ihre Wandlung im Karolingerreich. In: Ders.: Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge. Göttingen 1991, S. 287–306, hier S. 299. 10 Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae I, 35. Die Sachsengeschichte des Widukind von Corvey. Fünfte Auflage. In Verbindung mit Hans-Eberhard Lohmann neu bearbeitet von Paul Hirsch. Hannover 1935 (Script. rer. germ. in usum scholarum). Vgl. Josef Fleckenstein: Zum Problem der agrarii milites bei Widukind von Corvey. In: Fleckenstein (Anm. 9), S. 315–332, hier S. 329–332.
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einer ökonomischen und sozialen Privilegierung.11 In diesem Prozess wird in besonderer Weise die Interdependenz von Kriegstechnik und Sozialstruktur sichtbar, da die militärische Innovation auf ökonomische, soziale, rechtliche und politische Gegebenheiten ausstrahlt. Gehört zu den Prämissen eines universalen kulturanthropologischen Ansatzes, dass sich das Verhältnis von Mensch und Tier je nach Kulturstufe (Jagd-, Agrar-, Industriegesellschaft) in unterschiedlichen Konfigurationen von Mensch, Tier und Technik manifestiert, so sind für den agrarischen (mittelalterlichen) Gesellschaftstyp ganz spezifische ökonomische Gefüge kennzeichnend: Bauer-Ochse-Pflug bzw. Händler-Pferd-Wagen.12 In ihrem Zusammenhang fungiert das Tier primär als Energiequelle. Die historische Emergenz eines besonderen militärischen Gefüges RitterPferd-Lanze seit dem Frühmittelalter mitsamt seinen strukturellen und semantischen Effekten kann vor diesem Hintergrund vielleicht nicht nur als Markierung eines sozial-, sondern zugleich kulturgeschichtlichen Wandels gelesen werden. Gegenüber dem traditionellen Kulturmuster der Kleriker, dem Ackerbau (Orosius: ‚Schwerter zu Pflugscharen‘), dem auch weite Teile des Adels obliegen, beginnt sich zunehmend ein feudales Kulturmuster abzusetzen, das erneut zentrale Faktoren einer Gewalt- und Jagdkultur ins Spiel bringt (Pflugscharen zu Schwertern).13 In diesem Zusammenhang fungiert das Pferd zunächst als Instrument und Waffe, sodann als politischer Machtfaktor und sozial differenzierendes Zeichen. Bereits die klassische, vor allem an der Rekonstruktion von Realien interessierte Kulturgeschichte hat die Bedeutung des Pferdes für die höfische Reitkultur erkannt
|| 11 Ökonomisch zog der zunehmende Bedarf an Streitrössern erhebliche Bemühungen um die Züchtung und Multiplizierung des aus dem Arabischen importierten großen Pferdetyps nach sich, erforderte hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand, der sichtbar auf Ökonomie und Recht der Feudalzeit ausstrahlte. Ralph Henry Carless Davis: The Medieval Warhorse. In: Horses in European Economic History. A Preliminary Canter. Hrsg. von Francis Michael Longstreth Thompson/The British Agricultural Society. Leeds 1983, S. 4–20, hier S. 13–15. Wolfgang Christian Schneider: Animal laborans. Das Arbeitstier und sein Einsatz in Transport und Verkehr der Spätantike und des frühen Mittelalters. In: L’Uomo di Fronte al Mondo animale nell’ alto Medioevo. Spoleto 1985 (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’ alto medioevo. 31,1/2), S. 457–578, hier S. 518– 534. 12 „Tiere, Menschen und technische Gerätschaften bilden verschiedene Arten von maschinellen Ensembles zur Erzeugung und Verbreitung der wichtigsten Güter.“ Thomas Macho: Tier. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/Basel 1997, S. 62–85, hier S. 76. 13 Pauli Orosii: Historiarum adversus paganos VII, 41,7. Accedit eiusdem liber apologeticus. Recensuit et commentario critico instruxit Carolus Zimmermann. Wien 1882 [Nachdruck New York/London 1966] (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum. V), S. 554. Alsus sprach der kvnic for / Wir sullen sech vnd schar / Vnd phluc ysen gar / zu philen vnd zu swerten smiden. Herbort von Fritzlar: liet von Troye. Hrsg. von Georg Karl Frommann. Quedlinburg/Leipzig 1837 [Neudruck Amsterdam 1966] (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. 5), V. 3442–3445.
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und Pferdetypen, Ausrüstung, Schmuck sowie herausgehobene literarische Beschreibungen nachgezeichnet.14 Erweitert man den Kontext und rahmt man das Phänomen umfassender, so lässt sich die historisch spezifische Sinnstiftungsfunktion rekonstruieren, die die Feudalkultur konstitutiv mit dem Pferd verbindet. In diesem Kontext stellen die Texte, sowohl die literarischen wie auch Historiographie und Fachliteratur, zahlreiche Indizien bereit, die das Pferd als eine semantisch aufgeladene Sinneinheit zu beschreiben gestatten. Symbolkomplexe zeichnen sich durch Vielschichtigkeit aus, unterliegen rivalisierendem gesellschaftlichem Gebrauch und erfahren aus wechselnden Horizonten jeweils eigene Sinnzuweisungen.15 In diesem Zusammenhang erhält das Gefüge Ritter-Pferd, und das soll in der Folge expliziert werden, auf ganz unterschiedlichen Ebenen Bedeutung zugeschrieben. Grundlage ist die Funktion als militärisches Instrument (2); darüber hinaus wird diese reale Funktion mit Bedeutung angereichert, wenn vornehmlich in der volkssprachlichen Literatur Körperkonzept und Gewaltethos des Adels im Pferd gespiegelt werden (3/4/5); im politisch-sozialen Feld der Historiographie dagegen dienen die verschiedenen Inszenierungen des Ritter-Pferd-Gefüges der Darstellung von Gewaltüberlegenheit (6); schließlich erhält der Ritterstand über das Pferd Anschluss an kulturgeschichtliche und metaphysische Legitimationsmuster (7).
2 Instrumentalisierung Kompensation physischer Mängel Im theologischen Kontext wird das Verhältnis zum Tier primär unter biblischen Vorgaben abgehandelt bzw. unter textsortenspezifischen Gesichtspunkten. In exegetischen Schriften, Moraltraktaten und Abhandlungen über die Seele ist das Pferd vor allem Allegorie, und allenfalls in Bezug auf den sensus historicus finden sich Hinweise für eine nicht metaphorische, funktionale Einschätzung. Demgegenüber wird im De anima-Traktat des Wilhelm von St. Thierry das Verhältnis von Mensch und Pferd unter einer zivilisationsgeschichtlichen Perspektive gelesen, durch die der Mensch seine instrumentellen Fertigkeiten potenziert und seine Überlegenheit über die Natur demonstriert.16 Im Domestizierungsakt zähmt der Mensch das Pferd und eignet sich dessen physische Eigenschaften an, steigert Geschwindigkeit und Gewaltpotential und kompensiert mithin sein körperliches Defizit als Mängelwesen. Wenn der mittelalterliche Krieger in der Regel mit Reitpferd, Streitross und Pack-
|| 14 Jähns (Anm. 6); Bumke (Anm. 4), I, S. 236–240. 15 Bourdieu [u. a.] (Anm. 3), S. 36. 16 Tarditas namque corporis nostrae et ad movendum difficultas, equumque sibi servire imperavit et edomuit! Wilhelm von St. Thierry: De natura corporis et animae libri duo. PL 180, Sp. 716.
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pferd ein ganzes Ensemble von Pferden um sich versammelt,17 wird diese funktional ausgerichtete Herrschaft über das Pferd evident. Vor allem im Krieg aber offenbart sich der spezifische Vorteil der Nutzung: Ad hanc autem militiam equus idoneus est, cui miles insideat et eius agilitate et fortitudine securius fuget et fugiat.18 Die hier im Moraltraktat gelieferte militärische Funktionsbestimmung des Pferdes erfährt im politischen Schrifttum ihre ständespezifische Interpretation. Aegidius Romanus führt in dem auf Vegez fußenden Kriegsbuch seines Fürstenspiegels die Potenzierung adeliger Gewalt auf die Instrumentalisierung von Pferdekraft zurück: In equestri certamine vero magis eligendi sunt ipsi nobiles: eo quòd equorum ipsorum fortitudo supplet defectum, quem patiuntur nobiles in non posse tantos sustinere labores, quantos consueuerunt sustinere rurales.19
Sichtbar wird hier im politischen Rahmen herrschaftlicher Staatsorganisation die standesspezifische Nutzung des Pferdes. Doch nicht als Privileg bestimmt die Schrift die Leistung des Pferdes für den Adeligen, sondern im funktionalen Kontext staatlicher Kriegswissenschaft als Optimierung eines eher begrenzten Kraftpotentials. Insofern bleibt auch diese Position des Klerikers sichtbar der Mängelwesenthese verpflichtet. Aegidius greift für den Aufbau einer effektiven militia auf antike Quellen zurück, um gegen die elitäre Kriegsethik des Adels eine kollektiv orientierte Alternative aufzubieten. Unter der Prämisse antiker Kriegstheorie (Vegez) bildet eben die Qualität der Fußkämpfer das entscheidende Paradigma militärischer Strategie. Ein solches Konzept entspricht weniger den historischen Voraussetzungen einer feudalen Reiterkultur, vielmehr ist es Ausdruck einer konkurrierenden (symbolischen) Ordnung, die ihrerseits den feudalen Krieger in die Strukturen des Staates einzugliedern beansprucht.20
|| 17 Lutz Fenske: Der Knappe. Erziehung und Funktion. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-Planck-lnstituts für Geschichte. 100), S. 75–160, hier S. 105f. 18 Radulfus Niger: De re militari et triplici via peregrinationis lerosolimitane (1187/88). Einleitung und Edition von Ludwig Schmugge. Berlin/New York 1977 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. 6) I,13. 19 Egidio Colonna (Aegidius Romanus): De regimine principum libri III, recogniti et una cum vita auctoris per F. Hieronymum Samaritanium. Aalen 1967 [Neudruck der Ausgabe Rom 1607], III,3, 5, S. 568. 20 Udo Friedrich: Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und der Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 149–179, hier S. 157–160.
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3 Ethische Codierung Natürliches Komplement feudaler Tugenden Wird in diesem ständedifferenzierenden Blick des Klerikers das Pferd noch nüchtern als Kompensation einer körperlichen Schwäche aufgefasst, so fungiert es für Kirche und Adel zugleich als Metapher für soziale Sinnkonstitution. Die Aufladung des Tiers mit Bedeutung vollzieht sich dabei sichtbar kontrovers. Während die Klerikerkultur die kulturhistorische Unterwerfung des Pferdes zugleich als Metapher der Selbsterhebung der ratio über das Animalische deutet, indem das Pferd zum Negativindex körperlicher Affekte stilisiert wird, die der Reiter (ratio) zu ‚zügeln‘ hat,21 akzentuiert die feudale Perspektive vor allem die Körperdynamik des Pferdes, so dass dieses zum zentralen Index seiner kriegerischen Tugenden wird. Insbesondere die heroische und höfische Epik sind der Ort für solch eine zeichenbezogene Annäherung von Ritter und Pferd. Wenn dem Pferd etwa aggressive Attribute zugeschrieben werden, projiziert der Adel nurmehr sein kriegerisches Selbstverständnis auf das geborene Fluchttier: Equus animal erectum est atque exultans, in certando animosum, victoriae cupidum, non impatiens laboris.22 Theologische Disziplinierung und feudale Körperdynamik erfahren am Pferd ihre entgegengesetzte Wertschätzung. Wenn aus moralischer Perspektive das Pferd die negativen Attitüden der stürmischen Jugend repräsentiert,23 so markiert die positive Lesart indes präzise das Ethos des Adels. Eine metaphorische Analogisierung in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg macht genau diese Inversion des Disziplinierungsmodells sichtbar. Der in Frauenkleider gesteckte Achill empfindet sich als wildes Fohlen, dem wider siner art Zaumzeug angelegt wurde.24 Das zielt nicht auf unbändige Jugendlichkeit im besonderen, vielmehr auf || 21 Equus noster est iumentum nostre carnis, cui insidemus cum sensualitas obtemperat rationi. Radulfus Niger: De re militari (Anm. 18), I,13. Vgl. Alanus ab Insulis: Anticlaudianus IV,2–4, PL 210, Sp. 521–525. Friedrich Ohly: Die Pferde im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: L’Uomo (Anm. 11), S. 849–927, hier S. 853. 22 Anonymi de physiognomonia liber latinus. In: Scriptores physiognomonici Graeci et Latini, recensuit Richardus Forster. 2 Bde. Leipzig 1893, I, S. 1–145, Cap. 118, S. 137. Vincenz von Beauvais rekurriert gar auf einen biblischen Kontext: De vsu equorum in praeliis. AVctor. Equus autem (vt ait Salomon) ad diem belli paratur, cuius videlicet nobilitatem, & audaciam describit Dominus ad Iob, ita loquens. Vincentius Bellovacensis (Vincent de Beauvais): Speculum naturale. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Dvaci 1624. Graz 1964, XVIII,54. 23 Sicut superbia equi indomiti praecipitio prona est, ita lascivia adolescentis indisciplinati, peccati ruinae proxima est. Pseudo-Bernhard: De ordine vitae, Cap. V, PL 184, Sp. 573. 24 im was als einem wilden voln, / der gêt in sîner vrîheit. / daz dem ein zoum wirt an geleit / unde ein satel ûfe sich, / daz dunket in sô kumberlich, / daz er beswaeret drumbe wirt, / wan er der sprünge sîn enbirt / ungerne bi den stunden. / vil kûme er wirt gebunden, / wan er sîn ê was ungewon. / sus tete Achille diz gedon, / daz er dâ wider siner art / betwungen von der minne wart, / daz er wîbes bilde
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essentielle Zeichnung adeliger Art, die sich jeglicher Unterwerfung widersetzt.25 Die höfische Literatur nutzt auch ihre besonderen sprachlichen Möglichkeiten, um die Nähe von Ritter und Tier zu evozieren. Wolfram etwa zeigt mitunter die Möglichkeit dieser Spiegelung syntaktisch geschickt dadurch an, dass er den Bezug der Eigenschaften symmetrisch lesbar macht: dô reit der künec Purrel / starc, küene und snel / ein ors, gewâpent ûf den huof.26 Die Analogiesetzung mit den ‚wilden‘, d. h. feudalen Eigenschaften findet schließlich prägnanten körperlichen Ausdruck in der affektiven Angleichung an das Tier: Lancelot erhält beim Zornausbruch glühend blutrote Augen und gebart mit der nasen als ein roß das sere ist gerant, und beiß die zene zuhauff das sie krachten.27 Kraft, Schönheit, Stolz, Schnelligkeit, Mut und Zorn: Ein ganzes Ensemble feudaler Tugenden wird auf das Pferd projiziert. Das Pferd selbst signalisiert heroisches Affektpotential.28 Das theologische Kulturmodell der ethischen Selbstbeherrschung erhält in der Pferdemetaphorik des Feudaladels einen rivalisierenden Entwurf.
4 Symbiose von Ritter und Pferd Suggeriert wird die Möglichkeit einer natürlichen Beziehung zwischen Ritter und Pferd. Dass Reiten eine der Basistechniken feudaler Lebenspraxis darstellt, davon zeugen die zahlreichen historischen und literarischen Erziehungsverläufe, die gera-
|| truoc. Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Frommanns, Franz Roths zum erstenmal hrsg. durch Adelbert von Keller. Stuttgart 1858 (BLVS. 44), V. 15074–15087. 25 Vgl. Lancelot. Hrsg. von Reinhold Kluge. Berlin 1948 (DTM. 42), S. 277f. u. 292f., Alexanders Onkel (Straßburger Alexander, V. 112–124). 26 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters. 9), V. 429, 9–11. Da er ryten mocht, da gab im die jungfrauw ein schon pfert, schnell und starck, [...] heißt es von Lancelot. Lancelot (Anm. 25) I, S. 34. Beate Ackermann-Arlt: Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ‚Prosa-Lancelot‘. Berlin/New York 1990 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung. 19), S. 290. 27 Lancelot (Anm. 25), I, S. 35. Ackermann-Arlt (Anm. 26), S. 293. 28 Dietmar Peschel-Rentsch: Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein eines Ritters. In: Ders.: Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen/Jena 1998 (Erlanger Studien. 117), S. 12–47, hier S. 12–31. Ector vf ein ros saz / Harte gut man saget daz / Ez hieze galathea / Ez sante im pentesilea / Ein hubische iuncfrovwe / Mit slegen noch mit drouwe / Mochte man ez betwingen / Swa ez quam zv springen / Da enkvnde niht vor bestan / Ez enwolde follen sprunc han / Ez enwart nie dehein noz / Daz phert were so groz / So hoch noch so wol getan / So daz selbe kastellan. Herbort von Fritzlâr: liet von Troye (Anm. 13), V. 4791– 4804. Vgl. über Peleus’ Pferd Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg (Anm. 24), V. 3851–3857.
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de die Aneignung dieser Fertigkeiten in die früheste Jugend verlegen.29 Tristan lernt alle Techniken des Reitens nâch ritterlichem site und ebenso Achill bei Chiron: sîn meister lêrt in allez daz.30 Im Gegenteil, dort, wo aus einer pädagogischen Perspektive der richtige Zeitpunkt in der Jugend verpasst wird, vermag Erziehung nichts mehr: sô man dich danne gesiht / unbehendeclîchen rîten, / sô muostû zallen zîten / dulden ander ritter spot.31 Zwar wird Reiten sichtbar an Erziehung gebunden, doch dadurch, dass es der frühzeitigen Übung bedarf, wird die Gewohnheit als natürlicher Faktor (consuetudo altera natura) bereits ins Spiel gebracht.32 Adelige Art rekurriert aber in Bezug auf das Reiten auf noch tiefer liegende, natürliche Ressourcen. Bereits Chrétien zeichnet die Verbindung des jungen Perceval zu seinen ritterlichen Übungen zu Pferd als Effekt natürlicher Anlage.33 Dort, wo die art des Adeligen gegen alle Versuche der Verdrängung schließlich durchbricht, manifestiert sie sich außer durch Jagdtechniken auch durch eine angeborene Beherrschung des Pferdes. In diesem Sinn imaginiert Gregorius gerade gegen seine vergangene Sozialisation durch Bücher und gegen das Erziehungspostulat der Kleriker, Ritterschaft bedürfe vil wol gewizzenheit, seinen Geblütsadel nicht zufällig am Beispiel des Reitens: mit guoter gehabe ich reit / ânes lîbes arbeit: / ich gap im senften gelimph / als ez waere mîn schimph.34 Wie für den Kleriker Lesen und Schreiben ist für den Adeligen Reiten die zentrale kulturelle Basistechnik.35 Insofern die Ver-
|| 29 Tam velox autem factus est, ut equorum terga facili saltu transvolaret, heißt es von Gerald von Aurillac. Odo von Cluny: De vita sancti Geraldi. PL 133, Sp. 645. Vgl. Fenske (Anm. 17), S. 90. 30 Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von Karl Marold. Dritter Abdruck mit einem durch Friedrich Rankes Kollationen erweiterten und verbesserten Apparat besorgt und mit einem Nachwort versehen von Werner Schröder. Berlin 1969, V. 2103–2111, V. 2111. Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg (Anm. 24), V. 6244. 31 Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. von Hermann Paul. 11. Auflage besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1966 (ATB. 2), V. 1538–1541. Fenske (Anm. 17), S. 93. In diesem Sinn wird denn auch Lanzelets Erziehungsdefizit im Feenreich (wan er ûf ros nie gesaz) sogleich an seiner Reithaltung sichtbar. Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Eine Erzählung. Hrsg. von Karl A. Hahn. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman. Berlin 1965 [Neudruck der Ausgabe Frankfurt 1845] (Texte des Mittelalters), V. 298; V. 404–412, V. 461–499. [...] daz er sô kintlîche reit. Ebd., V. 477. Vgl. Ackermann-Arlt (Anm. 26), S. 288–290. 32 Technische und ethische Kultivierung folgen dem gleichen Prinzip: So verwandelt auch der Asket seine Natur durch Gewöhnung, wie etwa Bernhard von Clairvaux: consuetudo ei et ipsa quodammodo vertebatur in naturam. Acta Bollandiana de Sancto Bernardo. PL 185, Sp. 662. 33 [...] Car il li venoit de nature, / Et quant nature il aprant / Et li cuers del toi i antant, / Ne li puet estre riens grevainne / La ou nature et cuers se painne. Chrétien de Troyes: Der Percevalroman (Le Conte du Graal). Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer. München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. 23), V. 1480–1484. 34 Hartmann von Aue: Gregorius (Anm. 31), V. 1564, V. 1609–1612; vgl. V. 1582–1624. PeschelRentsch (Anm. 28), S. 12–47, hier S. 20f. 35 Curschmann hat auf eine Illustration im Vogeltraktat (De avibus) des Hugo de Folieto in der Handschrift Heiligenkreuz aufmerksam gemacht, in der nicht nur Taube und Falke gegenüberge-
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bindung von Ritter und Pferd aber nicht nur kulturell hergestellt, sondern auch natürlich fundiert wird, berühren ihre Modalitäten die ‚literarische Signifikanz des Körpers‘, im weitesten Sinn sogar eine historische Anthropologie des Körpers.36 Die enge Bindung von Reiter und Pferd wird auch im Regenerationsprozess des Ritters erkennbar. Die Wiederherstellung des verletzten, ausgehungerten und nur noch am Boden kriechenden Grafen Rudolf wird als eine Form innerlicher Angleichung beschrieben. Statt auf sein Streitross greift der Graf zunächst auf sein leichter zu handhabendes Reitpferd (Bonthard) zurück, um zu seiner Geliebten zu reiten. Der Akt des Reitens und die Stimmung des Pferdes strahlen sichtbar auf den Rekonvaleszenten aus.37 Die symbolische Nähe zeigt sich schon rein äußerlich in der Deskription, z. B. in der farblichen Anpassung von Rüstung und Pferdedecke sowie ihren Einschreibungen: der rote Ritter.38 Über die farbliche Tönung der Kleidung und ihre heraldische Signatur, seien es Tiere oder Gegenstände, verschmilzt der Ritter für den Betrachter mit seiner Waffe und seinem Tier zu einer signifikanten Einheit.39 Den gleichen Zweck kann die Reiter und Pferd umschließende Rüstung erfüllen. So empfinden die Araber während des Kreuzzuges die schweren fränkischen Panzerreiter als homogene, kaum auflösbare Einheit von Mensch und Pferd: ‚Mit dem Pferd ist der Franke || stellt werden, sondern darunter der lesende Kleriker und der reitende Ritter mitsamt dem ihm zugehörigen Ensemble adeliger Tiere. Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volksprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Hrsg. von Hagen Keller, Klaus Grubmüller, Nikolaus Staubach. München 1992 (MMS. 65), S. 211–229, hier S. 216. 36 Ursula Peters: Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota [u. a.]. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 63–84, hier S. 66f. 37 Bonifait reit wider in die stat, / Bontharden brachte her sime neven, / dar ůf saz der cůne degen / unde reit banechen an daz velt. / ja gienc vir wenentliche inzelt / Bonthart rechte alsame ein tier. / ja was virwenet unde fier / der helt die dar ůffe saz. / siner note her vile alda virgaz. / [B]onthart der was vrevele, / ouch vugete sich harte ebene / der greve in sin gereite. / sin stolze můt gap ime geleite / zu cůmende zu der kunigin, [...] Graf Rudolf. Hrsg. von Peter F. Ganz. Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen. 19), I,43–56. Zu Lancelot vgl. Ackermann-Arlt (Anm. 26), S. 300f. 38 Marlene Baum: Das Pferd als Symbol. Zur kulturellen Bedeutung einer Symbiose. Frankfurt 1991, S. 94. sîn ros was grôz unde hô, / starc rôt zundervar, / der varwe was sîn schilt gar: / sîn wâpenrock alsam was, / er selbe rôt, als ich es las, / gewâfent nâch sînem muote. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau, Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB. 39), V. 9015–9020. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin/Leipzig 1926, V. 145,15–146,3. Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Der Ritter mit dem Rade. Hrsg. von Johann M. N. Kapteyn. Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde. 9), V. 2841f., V. 2996f. Ohly (Anm. 21), S. 878. 39 Eine Übersicht über die verschiedenen heraldischen Zeichengebungen gibt Manfred Zips: Das Wappenwesen in der mittelhochdeutschen Epik bis 1250. Diss. Wien 1966, S. 69, 105f., 117f. u. ö.
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ein Block aus Eisen, gegen den alle Schläge wirkungslos sind [...]‘.40 Kulturanthropologisch gesprochen ist das Pferd weniger ein bloßes Instrument oder eine Metapher, vielmehr verweist es als ein konstitutiver Faktor feudaler Lebenswelt auf die körperliche Repräsentanz des Adels. Wie die Waffe mit ihren Einschreibungen an Namen und Zeichen wird das Pferd vielfältig codiert und offenbar in das Körperschema des Ritters integriert, gewissermaßen eine Verlängerung adeliger Signifikanz in die Außenwelt, sichtbar verschobene Grenze seines naturverhafteten Selbstverständnisses: dô stuont daz ors, dô stuont der man sô rehte wol ein ander an, als ob si waeren under in zwein mit ein ander und inein alsô gewahsen unde geborn.41
Dass das Pferd konstituierendes Element des Rittertums ist, lässt sich besonders an Situationen des Mangels erkennen: an der Schmach, wenn der Ritter vom Pferd gestochen wird oder er nach dem Verlust desselben zu Fuß gehen muss.42 Immer wieder kommen die Epen auf dieses Szenario ritterlicher Hilflosigkeit zurück. Verschiedene historische Indizien belegen, dass Schmähungen des Feindes etwa durch die Praxis des schandhaften Reitens oder durch Verstümmelung des Pferdes kenntlich gemacht wurden.43 Die literarischen Inszenierungen solcher Demütigungen, wie
|| 40 Abu Shama: Le livre des deux jardins, S. 271 zur Schlacht von Hattin 1187. Zitiert nach Rudolf Hiestand: Der Kreuzfahrer und sein islamisches Gegenüber. In: Das Ritterbild in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. vom Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1985 (Studia humaniora. 1), S. 51–68, hier S. 55f. 41 Gottfried von Straßburg: Tristan (Anm. 30), V. 6711–6715. Baum (Anm. 37), S. 57. 42 Jähns (Anm. 6), II, S. 51. Schneider (Anm. 11), S. 526. Nach Helmold von Bosau enthält die Demütigung Heinrichs IV. durch den Papst die Auflage, sich ein Jahr lang nicht aus Rom zu entfernen und kein Pferd zu besteigen: equum non ascenderet. Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Slavorum. Editio tertia. Post Johannem M. Lappenberg iterum recognovit Bernhardus Schmeidler. Accedunt versus de vita Vicelini et Sidonis epistola. In: MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarium 32. Hannover 1973, Cap. 28. Die von den Arabern bestaunte eiserne Einheit von Ritter und Pferd schlägt denn auch im Augenblick der Trennung in Hilflosigkeit um: ‚[...] wenn sein Pferd tot ist, wird er eine leichte Beute.‘ Hiestand (Anm. 40), S. 55f. 43 Aber darnach wem man schande oder laster thun wolt, den satzt man uff ein pfert dem der zagel und die oren abe gesneden waren, und der pferde hatt man in iglicher stat, an allen Porten eins, das daruff wartet, heißt es im Lancelot (Anm. 25), Bd. 2, S. 13. So können die alemannischen Fürsten Berchtolt und Erchanger den von ihnen gefangen gesetzten Bischof Salomon von Konstanz allein durch ein schlechtes Pferd demütigen. Sternitur viro Dei vilior interea equus. Ekkeharti (IV.): Casus sancti Galli. Hrsg. von Gerold Meyer von Knonau. St. Gallen 1877 (St. Gallische Geschichtsquellen, Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte N.F. XV, XVI, H. 5/6), Cap. 18. Klaus Schreiner: Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Entehrende Entblößung und schandhaftes Reiten im Spiegel einer Miniatur der Sächsischen Weltchronik. In: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche,
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die ausführliche Beschreibung des Schandmäres, auf das Gawein im Parzival und gesteigert noch in der Crône angewiesen bleibt, basieren auf dieser engen Prestigeverbindung von Ritter und Pferd.44 Missverhältnisse dienen entsprechend zur Markierung einer Störung und werden in Bezug auf die Protagonisten (Erec, Gawein) stets wieder korrigiert. Statur und Habitus des Pferdes einerseits, Tugend und sozialer Status des Reiters andererseits mussten offenbar in Übereinstimmung stehen, wie etwa bei Enites Pferd oder seiner Kontrafaktur, beim Schandmäre des wilden Knechts in der Crône.45 So zeigt sich schon hier, dass der Reiter ein kompliziertes soziales Zeichen darstellt, das eine natürlich-moralische, zumeist auch physiognomisch markierte Qualifizierung impliziert.46 Das Pferd ist immer auch ethische und ästhetische Einschreibefläche.47 Als literarische Strategie kann die enge Bindung von Ritter und Pferd sogar zum Rollentausch führen, so dass das Pferd anstelle des Ritters zum Agenten der Handlung wird.48
|| Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für Franz-Josef Schmale zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Berg, Hans-Werner Goetz. Bochum 1989, S. 155–202. Das Verbot, Pferde zur Schmähung des Gegners zu verstümmeln (z. B. durch Nasenschnitt), findet sich in den Volksrechten; Schneider (Anm. 11), S. 528f. 44 Wolfram von Eschenbach: Parzival (Anm. 38), V. 529,17f. Heinrîch von dem Türlîn: Diu Crône. Zum ersten Male hrsg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Stuttgart 1852 (BLVS. 27), V. 19787– 19948. 45 Hartmann von Aue: Erec (Anm. 38), V. 7264–7766. Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: FMSt 19 (1985), S. 1–30, hier S. 22f. Heinrîch von dem Türlîn: Diu Crône (Anm. 44), V. 19787–19948. 46 Ein Korrespondenzverhältnis von Reiter und Reittier gestaltet wiederholt auch Wolfram: sowohl im Verhältnis Gaweins zu Gringuljete wie auch in den Zerrformen von Kundrie und ihrem Maultier (vgl. Malcrêatiure). Während Gawein und Gringuljete „wie eine Einheit, eine sich wechselseitig stützende Vollkommenheit“ leben, sind letztere nach Auskunft des Textes sichtbare Folgen einer Animalisierung des Menschen als Folge des Sündenfalls. Ohly (Anm. 21), S. 882–885 u. 886. 47 Ir ros waren wol bedacht / Vf couverture / Riche vnd ture / Phellil vnd cindat / Arne Lewen dar in genat / Vnd ander zeichen da mite / Als ez noch ist site. Herbort von Fritzlâr: liet von Troye (Anm. 13), V. 4438–4444. Die Beschreibung von Enites Pferd, von Körper, Zaumzeug und Sattel, wird zum Dokument einer kleinen ritterlichen Kulturgeschichte, das Pferd selbst zum ‚vollkommenen Kunstwerk‘, seine Darstellung zum Spiel mit Fiktionalisierungsstrategien. Worstbrock (Anm. 45), S. 20– 27, hier S. 25–27. Vgl. Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg (Anm. 24), V. 25950–25955. Wolfram von Eschenbach: Willehalm (Anm. 26), V. 33,16f. 48 In seiner Minnekrise gelähmt, ist es das Pferd Partonopiers, das sich erfolgreich gegen einen Löwen zur Wehr setzt und die Rettung des Protagonisten betreibt. Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1871, V. 10516–10555. Susanne Rikl: Erzählen im Kontext von Affekt und Ratio. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Partonopier und Meliûr‘. Frankfurt a. M./Berlin [u. a.] 1996 (Mikrokosmos. 46), S. 153f. Willehalms Pferd Puzzat wird zum Stellvertreter von Willehalms Leiden auf dem Weg zum Königshof. Wolfram von Eschenbach: Willehalm (Anm. 26), V. 88,22f. Vgl. zum Parzival Ohly (Anm. 21), S. 916.
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5 Pferdemänner Das essentielle Aufeinanderangewiesensein von Ritter und Pferd verhandelt bereits die Heldenepik und kann als paradigmatisches Bezugsfeld dem Handlungsverlauf einzelner Epen unterlegt werden. Das Eckenlied erzählt auf der narrativen Oberfläche die Herausforderung des Musterritters Dietrich durch den Riesen Ecke. PeschelRentsch hat indes darauf aufmerksam gemacht, dass der Drang des Helden Ecke nach ritterlicher Ebenbürtigkeit mit Dietrich trotz aller heroischen Qualitäten bereits an seiner riesenhaften Statur scheitert, die es ihm unmöglich macht, ein Pferd zu reiten. Zwar wird er mit einer berühmten Rüstung ausgestattet und eignet sich somit ritterliche Insignien an, doch sind alle Versuche vergeblich, ihn zum Reiten zu bewegen.49 Der Riese Ecke, dessen Pferdemangel auch Hildebrand explizit einklagt,50 steht nach Peschel-Rentsch in der Mitte zwischen dem Kentauren, auf den er im Wald trifft und den er erschlägt, und dem vollkommenen Ritter Dietrich. Im Kentauren begegnet der pferdelose Riese seinem komplementären animalischen Zerrbild: Dô kêrte er mornunt in den tan. / dô sach der wunderküene man / ein wunder zuo im gâhen: / daz was halp ros und halbez man. / ez truoc hürnin gewaefen an. / als ez im kam sô nâhen, / ein gêren vuorte ez in der hant / mit wunderlîcher grimme, / den schôz ez sâ ûf den wigant. / vil griulîch was sîn stimme, / daz der walt vil gar erdôz ....51
Die Funktion der Erzählsequenz realisiert sich zugleich auf einer paradigmatischen Bezugsebene: Ein aus dem Maß geratener Mensch trifft auf ein seine Grenze überschreitendes Tier. „Es ist also ebenso misslich wie wichtig, dass die Einheit des Ritters in Mensch und Tier zerlegbar bleibt“.52 Das ideale Verhältnis zum Tier bildet ein Gefüge, ein Austauschverhältnis, keine Identität, die wiederholt in der Figur des Kentauren distanziert wird. Kentauren bilden in der mittelalterlichen Rezeption
|| 49 Sî hiez im ziehen dar zehant / daz beste ros übr alliu lant, / daz im diu wâfen trüege. / er sprach ‚daz ros sol hie bestân, / ich mac ze fuoze vil wol gân. / jô bin ich ze ungefüege: / ez treit mich doch die lenge niht / mit aller sîner krefte. / nu wizzent, vrowe, swaz mir beschiht, / daz ich mich niht behefte / mit rosse: ich gân vierzehen naht, / daz mir hunger noch müede / benimt wol mîne maht.‘ / Sie sprach ‚Ecke, lâ dich erbiten. / durch mînen willen wis geriten: / jô schiltet man mich sêre. / swar sô du nu der lande verst, / mîn lop du gânde mir verzerst. / wan sprichet mir kein êre, / wan ‚daz er gar verwâzen sî, / der dir gap die brünne / und dir niht rosses gap dâ bî. / phî im und sînem künne.‘ Ecken Liet. In: Deutsches Heldenbuch. Fünfter Teil. Dietrichs Abenteuer, von Albrecht von Kemenaten nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenezlan. Hrsg. von Julius Zupitza. Dublin/Zürich 1968 [Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1870] (Deutsches Heldenbuch. 5), S. 217–264, Str. 34,1–35,10. 50 ‚erkennet mînes herren site: / er viht mit den die sint geriten, / ir varent êrst von sprungen‘. Ebd., Str. 44,9–46,6. 51 Ebd., Str. 52,1–55,3. 52 Zur Szene allgemein bereits Jähns (Anm. 6), II, S. 279. Zur Deutung: Peschel-Rentsch (Anm. 28), S. 24.
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antiker Mythen weniger Chiffren einer positiven Natur-Kultur-Symbiose.53 Sie bevölkern vielmehr als eher dämonische Mischwesen die mittelhochdeutsche Epik, in der sie syntagmatisch eine Station im Bewährungsweg des Protagonisten repräsentieren, paradigmatisch die überschrittene Grenze zwischen Pferd und Mensch verhandeln. Dabei scheinen sie je nach Gattungsmuster unterschiedlich codiert zu sein. Im Eckenlied fungiert der Kentaur als wildes Naturwesen (merwunder), das unvermittelt aus einer dunklen und bedrohlichen Wildnis auftaucht. In einem antiken Kriegsepos wie Herborts liet von Troye wird er dagegen mit seinem unritterlichen Bogen als besonders tückischer Gegner in der Schlacht inszeniert, offenbar als Repräsentant eines entfernten Reitervolks, der nur durch kollektive Taktik besiegt werden kann.54 Schließlich wird der Kentaur in einem christlich gewendeten Artusroman wie Wirnts von Grafenberg Wigalois deutlich zum Funktionselement des Teufels: nunmehr ausgerüstet mit ‚infernalischem‘ Feuer.55 Als Mischwesen sind Kentauren stereotyp gezeichnet und bringen mit beinah undurchdringlichem Fell und zumeist mit unritterlichen Waffen – Speer, Bogen, Feuer – den Protagonisten in eine erste Verlegenheit. Die antike mythologische Figur des Pferdemenschen wird damit je nach Bedarf in germanisch-heldenepische, exotisch-ethnographische und christlich-dämonologische Sinnzusammenhänge transponiert: Tier, wilder Reiterkrieger, Teufel. Für den hofkritischen Kleriker verschmilzt sogar der adelige Jäger in seinem wilden Eifer mit der Figur des Pferdemenschen: Venatores omnes adhuc institutionem redolent Centaurorum. Raro inuenitur quisquam eorum modestus aut grauis, raro continens, et, ut credo, sobrius nusquam. Domi quippe Chironis habuerunt unde haec discerent.56
Und doch gibt es auch in mittelalterlicher Epik eine signifikante Ausnahme, die in positiver Hinsicht Mensch und Pferd in Beziehung setzt: Achills Erzieher Schyron in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Als physische Kombination von wildem Tier
|| 53 Roger Bartra: Wild Men in the Looking Glass. The Mythic Origins of European Otherness, translated by Carl T. Berrisford. Ann Arbor 1994, S. 11–18. 54 Herbort von Fritzlâr: liet von Troye (Anm. 13), V. 7685–7758. Herbort verzichtet dagegen darauf, Chiron, den Erzieher Achills, als Kentauren zu kennzeichnen. Vincenz zieht den Vergleich mit perfekten Reitern: Quos quidam fuisse equites Thessalorum dicunt, sed pro eo quòd discurrentes in bello velut vnum corpus equorum & hominum viderentur, inde centauros fictos assuerunt. Vincenz von Beauvais: Speculum naturale (Anm. 22), XXXI, 121, Sp. 2389. Vgl. zum Kentauren: Jacques Le Goff: Lévi-Strauss in Brocéliande. Skizze zur Analyse eines höfischen Romans. In: Ders.: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart 1990 [zuerst Critique 1974], S. 171–200, S. 176–179, hier S. 178f. 55 Wirnt von Grafenberg: Wigalois (Anm. 38), V. 6931–6962. 56 Ioannis Saresberiensis episcopi Carnotensis, Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII. Recognovit [...] Clemens C. I. Webb, tomus 1/2. Frankfurt a. M. 1965 [Nachdruck der Ausgabe London/Oxford 1909], I,4.
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und höfischem Menschen repräsentiert dieser Kentaur realiter jene ideale Grenze natürlicher Gewalt und kultureller Existenz, die im Ritter-Pferd-Gefüge auf komplexe Art inszeniert wird. So offenbart sich an dieser Kunstfigur letztlich doch der Traum einer symbiotischen Beziehung des Adels mit seinem wichtigsten Standesattribut.
6 Politische Institutionalisierung: Das Pferd als Herrschaftsindex Der soziale Abstand des Adels von der untergebenen Bevölkerung wird durch das Pferd auch räumlich sichtbar, der Standesunterschied manifestiert sich in der Erhöhung des Reiters: ir sult riten, ich sol gan, mit diesen Worten insistiert der Kaufmann trotz adeliger Abkunft gegenüber dem Herrscher Willehalm auf der Wahrung der etablierten Rangunterschiede.57 Ließ sich das Pferd für das feudale Körperkonzept als überlegenes Kraft- und Affektpotential in Anspruch nehmen, so nähert sich die Zeichenfunktion auf der politischen Ebene wieder dem Disziplinmodell der Kleriker an, verschoben indes vom inneren zum äußeren Tier: Der Reiter als reale Chiffre der Herrschaft über das Animalische. Diesen Horizont feudaler Herrschaftsauffassung entfalten vor allem historiographische Texte in einer Reihe von historischen Fallbeispielen. Sie legen nicht nur Zeugnis ab vom Bildreservoir mittelalterlicher Herrschaftsauffassung, sondern geben zugleich Einblick in konkrete Praktiken und ihre institutionellen Rahmungen. Die politische Metaphorik zehrt von einer Semantik der Zähmung. Wenn es von Herzog Heinrich dem Löwen heißt, dass dieser ‚mit dem Zügel seiner Herrschaft die Slawen gelenkt habe‘,58 so realisiert die Metapher für den Umgang mit dem Feind nur ein allgemeines Herrschaftsprinzip. Der Einritt Barbarossas in die eroberte Stadt Pavia wird repräsentativ von berittenen Kriegern begleitet, die noch einmal die || 57 Wolfram von Eschenbach: Willehalm (Anm. 26), V. 131,23. sy gen selten zu fusz über feldt, ist ouch yrm stand schendlich, so lässt sich noch im Spätmittelalter die herausgehobene soziale Stellung des Reitens belegen. Wolfgang Brückner: Roß und Reiter im Leichenzeremoniell. Deutungsversuche eines historischen Rechtsbrauchs. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 15/16 (1965), S. 144–209, hier S. 181. Ohly (Anm. 21), S. 888. Zur Spaltung des Heeres in Ritter und fuozgenger und zur sozialen Disqualifizierung der letzteren in Ulrich von Etzenbach: Alexanderroman. Hrsg. von Wendelin Toischer. Tübingen 1888 (BLVS. 183), V. 2447, V. 2455, V. 2459, V. 2465, V. 3680. 58 [...] freno dominii sui maxillas eorum constrinxerat. Arnoldi: Chronica Slavorum. In: MGH Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separati editi. Unveränderter Druck der Ausgabe von 1868. Hannover 1978, III, 5, S. 148; vgl. III,1. Wie die Herrschaft über die Slaven auszusehen hat, beschreibt Helmold am Beispiel des Dänenherzogs Waldemar, der die Kraft der Slaven (robur Slavorum) bricht: et misit frenum in maxillas eorum et quo voluerit declinat eos. Helmold von Bosau: Cronica Slavorum (Anm. 42), Cap. 109, S. 217.
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Domestizierung widerständiger Untertanen politisch inszenieren, indem sie ihre fauchenden Pferde zügeln und in eine sanfte Gangart zwingen.59 Die literarische Inszenierung des politischen Triumphs aktiviert zugleich den symbolischen Gehalt des Ereignisses. Dass der Status selbst von Ministerialen in dieser Analogie eines natürlichen ‚Instruments‘ aufgefasst wurde, zeigt eine signifikante Strafpraxis Barbarossas zu Worms 1155. Verurteilte Ministeriale hatten als zusätzliches Zeichen der Demütigung einen Sattel von einer Grafschaft bis zur nächsten zu tragen.60 Nicht nur lässt sich wie beim schandhaften Reiten die soziale Störung als Verkehrung von Reiter und Instrument (Pferd/Sattel) inszenieren, zugleich wird der Ministeriale auf seinen Dienststatus verwiesen. Als Zeichen ist das Pferd in prädestinierter Form der Herrschaft zugewiesen,61 die mit seiner Hilfe nicht nur konkrete Rituale politischer Unterordnung (u. a. Stratorendienst) und Überordnung (Krönungsritus) entwirft: Nachdem die Kaiserkrönung Barbarossas vollzogen war, bestieg allein der Kaiser ein Pferd: imperator cum corona solus equum faleratum insidiens, ceteris pedes euntibus [...].62 Im Königsumritt nimmt der Herrscher symbolisch sein Territorium in Besitz. Der reisende König, der vom Sattel aus regiert, ist für das Mittelalter eine vertraute Figur.63 Wie sehr mit der
|| 59 Signa crucis textusque sacros turisve vaporem / Prodierint, ut purpureo velamine passim / Belligeros instratus equos fulgencia late / Signa ferens faleratus eques fremebunda lupatis / Ora terat cogatque leves subsistere cursus. Guntheri Poetae Ligurinus. Hrsg. von Erwin Assmann. Hannover 1987 (MGH SS. 63), III, V. 195–199. 60 Vgl. Ottonis Episcopi Frisingensis et Rahewini: Gesta Frederici, seu rectius Cronica: Bischof Otto von Freising und Rahewin. Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica. Übersetzt von Adolf Schmidt. Hrsg. von Franz-Josef Schmale. Darmstadt 1965 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. 17), II,48. Bernd Schwenk: Das Hundetragen. Ein Rechtsbrauch im Mittelalter. In: Hist. Jb 110 (1990), S. 289–308. 61 Unter den großzügigen Geschenken, die zwischen Potentaten rituell ausgetauscht werden, nehmen Pferde eine herausragende Position ein. Arnold von Lübeck: Chronica Slavorum (Anm. 58), I, 9; VII, 15. 62 Otto von Freising: Gesta Frederici (Anm. 60), II, 34. Deme pavese is ok to ridene to bescedener tit op eneme blanken perde unde de keiser scal eme den stegerep halden [...]. Sachsenspiegel, Landrecht I. Hrsg. von Karl August Eckhardt, nach der Ausg. Göttingen 1955/56. Aalen 1973 (MGH. 1,1). Der an byzantinische Krönungsriten angelehnte Umritt Gregors IX. 1227 erfolgt auf einem „mit kostbaren Stoffen bedeckten Pferd, begleitet von den in Purpur gekleideten Kardinälen. Der Senator und der Präfekt der Stadt begleiteten ihn zu Fuß und hielten die Zügel des Pferdes.“ Agostino ParaviciniBagliani: Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit. München 1997 [zuerst Turin 1994], S. 48. Wenn Papst Coelestin V. 1294 auf einem Esel in Aquileia einreitet, bleibt das eine Ausnahme. Schreiner (Anm. 43), S. 177f. Vgl. Arnold von Lübeck: Chronica Slavorum (Anm. 58), VII,19. „Vom Bischof von Soisson wird berichtet, er habe im Jahre 1135 drei Männer und zwei Frauen für ein schönes Pferd gezahlt, um einen ‚feierlichen‘ Einzug in seine Metropole halten zu können.“ Meyer (Anm. 6), S. 169. 63 Zu Wipos Äußerung, dass Konrad II. vom Sattel aus regiert habe, vgl. Hans Kurt Schulze: Königsherrschaft und Königsmythos. Herrscher und Volk im politischen Denken des Hochmittelalters.
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Fähigkeit zu reiten der Anspruch auf soziale Geltung verbunden war, zeigt sich darin, dass nach dem Sachsenspiegel die Geschäftsfähigkeit eines Mannes, d. h. seine Befugnis über die Vererbung seines Besitzes zu entscheiden, von seiner Fähigkeit abhing, in Waffen ein Pferd zu besteigen.64 Nicht eine geistige Kompetenz entscheidet, wie in der Moderne, sondern eine körperliche Fertigkeit. Auch die Konstruktion von Geschichte (Sagen) folgt offenbar diesem Inszenierungstyp. Wie sehr sich gerade auf höchster Ebene Herrschaft an den Akt des Reitens bindet, belegt die Sage von Heinrich dem Vogler. Nach der Überlieferung Arnolds von Lübeck überraschen anlässlich der Königserhebung Heinrichs I. die Boten den Prätendenten beim Vogelstellen in der Scheune. Seine Frau bewirtet die Gäste und lässt nach ihrem Mann schicken: illa clam misit equos marito, ut equitando domum intraret, quasi de via venisset.65 Bereits vor der anstehenden Erhebung bedarf es der adäquaten Statusdemonstration. Geradezu als Wechsel einer Kulturstufe beschreibt Cosmas von Prag den politischen Gründungsakt des böhmischen Volkes, das wild und gewissermaßen im Einklang mit der Natur lebt bis zu dem Zeitpunkt, als ihnen mit Hilfe von Auguren ihr Herrscher zugewiesen wird, der als Ackerbauer auf dem Land lebt. Der überraschte Primyl wird noch an Ort und Stelle mit verschiedenen Herrschaftsinsignien ausgestattet und besteigt gewissermaßen als Inthronisationsakt ein Pferd: Post hec indutus veste principali et calciatus calciamento regali acrem ascendit equum arator.66 Deutlicher noch als im ersten Fall wird erkennbar, dass mit der Erhebung ein Statuswechsel sich vollzieht, durch den die Nähe zum bäuerlichen Milieu sichtbar abgewiesen wird. Die aufgeführten Fälle aus dem Feld mittelalterlicher Historiographie bezeugen deutlich den Statusindex des Pferdes. Im literarischen Kontext wird diese Form zum frei verfügbaren Darstellungsmittel. Gerade weil es ein zentraler Index von Herrschaft ist, ist das Pferd auch Erkennungszeichen für vorbildliche Herrscher. Die Fähigkeit, ein Pferd in seine Gewalt zu bekommen, wird zum Ausweis von Herrschaftstauglichkeit, wenn im Herzog Ernst der König der Cyklopen seinen Standes|| In: Festschrift für Berent Schwineköper. Zu seinem siebzigsten Geburtstag. Hrsg. von Helmut Maurer, Hans Patze. Sigmaringen 1982, S. 177–186, hier S. 181. 64 Sachsenspiegel: Landrecht, 52, §1; vgl. die Abbildung: Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, I. Faksimile. Hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin 1993, fol. 22r. 65 Arnold von Lübeck: Chronica Slavorum (Anm. 58), II, 18, S. 138. Arnold beschreibt auch ausführlich die Statusrivalität zwischen dem byzantinischen Kaiser und König Konrad. Letzterer widersetzt sich der Forderung nach einem Demutsgestus und erreicht nach komplizierten Verhandlungen, dass sich beide Herrscher zu Pferd auf gleicher Ebene begegnen: ut in equis se viderent, et ita ex parilitate convenientes sedendo se et osculando salutarent. Chronica Slavorum I,10, S. 122f. Ludwig der IX. von Frankreich (†1270) reitet mit Reliquien in Notre Dame bis zum Altar und übergibt sie der Kirche. Brückner (Anm. 57), S. 144–209, hier S. 182. 66 Cosmae Pragensis: Chronica Boemorum. Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag. In: MGH Scriptores rerum Germanicarum novae series, unter Mitarbeit von Wilhelm Weinberger. Hrsg. von Berthold Bretholz. Berlin 1923, tomus II, I,7, S. 17.
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genossen mit Hilfe einer Pferdeprobe erkennt.67 In Konrad Flecks Flore und Blanscheflur ist die Funktion des Pferdes als Herrschaftsindex auf komplizierte Art reflektiert. Das einzigartige Pferd, das in seiner Außerordentlichkeit und Farbigkeit an das bunte Pferd Enites erinnert, trägt auf seinem Körper eine Art Naturschrift: daz was von natûre schône / entworfen âne mannes list. Was auf dem Pferd in Schriftform erscheint, ist aber die natürliche Zuordnung von Herrschaftsanspruch und außerordentlichem Pferd: mich sol niemen rîten / wan der wert sî der krône.68 In der Fiktion entwirft der Adel seine eigene Art von Naturschrift. Doch unterscheiden sich die Formen der Übermächtigung, rivalisieren physische Gewalt, Naturmystik und Technologie miteinander. Heroen wie Thidrek oder Reinolt von Montelban erweisen ihre Überlegenheit auf rein physischer Ebene.69 Alexanders Macht zeigt sich in der Bezwingung und Instrumentalisierung des wilden Pferdes Bucephalus an, dessen Zähmung allein durch den Blick Alexander die Herrschaftsprophetie erfüllt.70 Diese naturmythische Form wird aber in der späteren Fassung des Ulrich von Etzenbach durch eine technische ersetzt: Der jugendliche König legt dem Pferd selbst Zaum und Sattel auf.71 Indem er seine Gewalt über das Tier sichtbar demonstriert, gibt der Herrscher zugleich ein Bild seiner primären Herrschaftsfunktion ab.72 In ihrer christlich gemilderten Version geht dieser Ge|| 67 der recken er sich underwant / und hiez dô ziehen sâ zehant / ein vil schoene castellân, / starc unde wol getân, / vür in ûf den hof dar. / dâ bî wolde er nemen war / welher der tiurste waere. / Ernest der degen maere / zehant nâch dem zoume greif. / er spranc dar ûf ân stegereif / und reit ez ritterlîche. Herzog Ernst. Hrsg. von Karl Bartsch. Hildesheim 1969 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Wien 1869], V. 4601–4611. Zu Belegen aus der Heldenepik vgl. Jähns (Anm. 6), II, S. 24. Zum Heldenross vgl. Baum (Anm. 38), S. 57–65. 68 Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Hrsg. von Emil Sommer, Quedlinburg Leipzig 1846 (Bibliothek der gesammten Deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. Abt. 1. 12), V. 2776f., V. 2774f. 69 Thidrek legt seine Rüstung ab, um Hertnits Pferd zu fangen: Da faßt der Koͤnig das Roß mit der Hand so fest, daß es fiel. Die Geschichte Thidreks von Bern. Übertragen von Fine Erichsen. Weimar 1942, S. 439. Auch Reinolt überwindet ein wildes Pferd: Und warff ine [Beyart] wider uff die erde, / Das er die füß uff kerte [...]. Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder. Hrsg. von Fridrich Pfaff. Tübingen 1885 (BLVS. 174), V. 855f. 70 Auch zwischen Reinald und seinem Pferd Bayart ist der Blick das entscheidende Band: Da sprach Karle, der degen fyn: / „Reynolt, ir ensolt nit umbsehen; / solang als uch der frene sicht, / so erdrynket er nicht.“ Reinolt von Montelban (Anm. 69), V. 13206–13209. Vgl. V. 13236–13241. 71 Alexander ergreift das Pferd bei den Ohren und stößt ihm seine Hand ins Maul. Ulrich von Etzenbach: Alexanderroman (Anm. 57), V. 1680–1683, V. 1693–1703. 72 Das kann bis zur sexuellen Vereinigung gehen. Gerald von Wales beschreibt einen irischen Krönungsritus mit vermutlich indogermanischen Wurzeln (Hierogamie), nach dem ein König in Anwesenheit seines Stammes ein weißes Pferd sodomisiert, sich selbst als Tier deklariert und anschließend gemeinsam mit seinem Stamm das Tier verzehrt. Gerald von Wales: Topographia Hibernie. Text of the First Version. Ed. by John J. O'Meara. Proceedings of the Royal Irish Academy 52. Sec. Dublin 1948/50, III, S. 168; Vgl. Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Wien 1997, S. 537–542.
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walthintergrund zugunsten einer providentiellen Ordnung verloren, nicht aber das instrumentelle Verhältnis zwischen Herrschaft und Volk. Wenn der Prosa-Lancelot die einzelnen Waffen des Ritters allegorisiert, so funktioniert zumindest die Allegorese des Pferdes nicht ohne reale Fundierung im Herrschaftsverständnis jener Zeit: Das roß da der ritter off siczt das muß yn tragen wo er hien wille. Das bezeichent das volck. Als glich als er das roß fúret war er will, also glich múßen sie yn tragen und muß er sie leyten war er wil zu allen nöten, umb das er sie beschirmen muß, und sie múßen im gewinnen alles das er bedarff.73
Hier hat die christliche Codierung die politische Semantik usurpiert. Statt als Index wilder Energien fungiert das Pferd als Repräsentant der Schwachen, die eine christlich-feudale Fürsorge zu schützen und zu lenken hat, aber auch als Ressource zu nutzen versteht: die feudale Adaptation der Mängelwesenthese.
7 Genealogie des Rittertums So wie der Ritter sich wortgeschichtlich vom Pferd ableitet, wird die Instrumentalisierung des Pferdes standesspezifisch lesbar: Omnis nobilitas ab equo.74 Die privilegierte Verbindung von Adel und Pferd lässt sich dadurch als feudaler Ursprungsmythos konstruieren, als ein historisch festmachbarer Gründungsakt des Rittertums. Jenseits der klassischen translatio imperii-Theorie, nach der auch der Transfer des Rittertums gedacht wird, entsteht ein Ursprungsmodell, das weit früher ansetzt.75 Der Prosa-Lancelot erzählt nicht nur die Geschichte vom Untergang des Artusrittertums, er bietet zu Beginn auch seinen Ursprungsmythos. Die Erzählung der Fee ist eine Hybridbildung christlicher und feudaler Standpunkte. In deutlicher Anspielung auf die Bibel – Wir hetten allesampt einen vatter und ein můtter von allererst – entwirft sie eine Art säkularen Sündenfall, nach dem das Rittertum als Ordnungsinstanz zu der Zeit notwendig wurde, als die ursprünglich gleichen Menschen begannen, durch Gewalt einander zu unterdrücken. Dem christlichen Autor wird nicht Gewalt zum genuinen Kennzeichen des Rittertums, wie manchem Kleriker, sondern eine ethische Haltung. Damit projiziert der Text das Ethos des miles christianus, wie es im 12. Jahrhundert aufkommt,76 in einen urzeitlichen Ursprung zurück.
|| 73 Lancelot (Anm. 25), I, S. 122. Ackermann-Arlt (Anm. 26), S. 295. 74 Jähns (Anm. 6) II, S. 55 (nach einem mittelalterlichen Sprichwort). Brückner (Anm. 57), S. 181. 75 Zur römischen Genealogie vgl. Moriz von Craûn. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Ulrich Pretzel. Übersetzung, Kommentar und Nachwort von Albert Classen. Stuttgart 1992, V. 108–125. Bumke (Anm. 8), S. 35. 76 Fleckenstein: Entstehung des niederen Adels und das Rittertum. In: Ders. (Anm. 9), S. 343.
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Christliche und feudale Argumentation werden sichtbar aufeinander abgestimmt. Indem sich einerseits nur Edelleute als Ritter eignen, andererseits ein plebiszitäres Wahlverfahren über die Eignung bestimmt, werden feudale und christlich-kommunitäre Anforderungen harmonisiert. Entscheidend sind entsprechend zum einen körperliche Voraussetzungen: Das waren alle die stercksten und die meysten und die schönsten und die könsten und die getruwesten, diß waren alles die byderbsten waren mit dem libe und mit dem herczen.77 Zum andern ein Ensemble christlicher Einstellungen. Zentral für das Verhältnis von Ritter und Pferd ist indes, dass der feudale Mythos auch die kulturgeschichtliche Schwelle der Domestikation usurpiert: ‚Nu wißent das‘, sprach sie, ‚das nye dheyn man uff pfert gesaß ee dann ritterschafft funden wart, das saget uns die schrifft, wann die ritter zu allererst begunden ryte, da von sint sie ritter geheißen‘.78 Die Figur genealogischer Legitimation, an der sich die Herrschaftslegitimation von Völkern und Sippen im Mittelalter so fasziniert orientiert, wird hier auf den Stand übertragen.79 Der feudale Ursprungsmythos macht dabei nicht nur sichtbare Anleihen beim biblischen. Zugleich imaginiert eine Gewaltkultur ihren Ursprung als kulturgeschichtliches Ereignis wie als moralisch legitimierten Auftrag. Die historisch-politischen Ursprünge, aus denen die Schutzfunktion des Rittertums gegenüber äußeren Invasoren im 8./9. Jahrhundert entstanden ist, transformiert sich in einen allgemeinen sozialen Ordnungsanspruch. Die Imagination des Standesursprungs, d. h. die ständespezifische Deutung des zivilisationsgeschichtlichen Faktums, lässt sich darüber hinaus umkehren und mit providentiellem Sinn aufladen. Dabei wird die Existenz des Pferdes nunmehr teleologisch mit der Notwendigkeit sozialer Differenzierung begründet: Quum inter cetera animalia a summo rerum opifice evidenter creata usui humani generis immediate subjecta nullum animal est equo nobilius, eo quod per ipsum principes, magnates et milites a minoribus separantur, et quia nisi ipso mediante dominus inter privatos et alios decenter discerni non posset.80
|| 77 Lancelot (Anm. 25), I, S. 120. 78 Ebd. I, S. 121. Ohly (Anm. 21), S. 888. Die Sequenz beinhaltet durchaus mehr als eine „profane Feststellung“. Ackermann-Arlt (Anm. 26), S. 296. 79 Zur Figur der Genealogie vgl. Ralph Howard Bloch: Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages. Chicago/London 1983. 80 Jordanus Ruffus: Hippiatrik. Hrsg. von Hieronymus Molin. Padua 1818, S. 1. Noch im 16. Jahrhundert kann die Genealogie des Pferdes mit seinem Zeichenwert als Index sozialer Differenzierung legitimiert werden: VNder allem zamen vihe [...] / ist das pferdt oder ross mit sunderlicherer schoͤne / form vnd gestalt / dapfferem adelichem gemuͤt / stoltzem geradem leib / sunderlichen begabt worden / darmit durch sollichs thier / die ehr vnd würdigkeyt hoher adelicher personen / scheynbarer würde [...] aber sunderlichen ist dises thier den hohen adelichen vnd fürtrefflichen personen / jrer ehrwürden vnd glori zů mehrerm scheyn geordnet / [...]. Was würde auch für ein vnderscheyd sein / so beyde Fürsten /
88 | Der Ritter und sein Pferd
Nicht das Pferd wird zur Ursache des Ritters, wie es der Ursprungsmythos des ProsaLancelots entwirft und wie es auch den historischen Voraussetzungen entspricht, sondern umgekehrt die Existenz des Adeligen wird zum Daseinsgrund des Pferdes. Ritter und Pferd lassen sich wechselseitig voneinander ableiten, wobei die invertierte Teleologie die feudale Ständeordnung mit einem providentiellen Mehrwert aus der Natur versieht. Der Adel konstituiert sich im Horizont einer allgemein anerkannten christlichen Teleologie der Natur als besonderer Zweck der Schöpfung, gewissermaßen als Auserwählte gegenüber den übrigen Menschen. Von daher ist es nicht zufällig, dass sich die feudale Bestimmung des Pferdes selbst in einem biblischen Text neben der landwirtschaftlichen plazieren lässt. Man merket wol des rosses craft / Wa man sol uben ritterschaft: / [...] / Job, besinne und vernym, / Sich, dise wunder [Kraft, Hoffahrt, Tapferkeit, Unerschrockenheit] hat an im / Das ros und ist also gekart / Von nature und von art / Und von den synnen, di im Got / Hat ingevlozzen sunder spot, / Der iz durch den menschen schuf: / Nicht alleine durch behuf / Den dorferen, di gar wacker / Sint mit pherden uf dem acker, / Sunder das man uf in ryte / Und durch rechten vride strite / Und durch di gerechtekeit, / Di aller dinge wage treyt.81
Die Semantisierungstrategien, denen das Pferd unterzogen wurde, betreffen zentrale ‚kulturelle‘ Positionen von Kirche und Adel. Im Horizont der Klerikerkultur werden vor allem technologische und ethische Positionen formuliert: das Pferd als Instrument, das die Defizite des Mängelwesens Mensch kompensiert; aber auch das Pferd als Zeichen des Körpers, als Inbegriff von Sinnendynamiken, die durch die ratio gezügelt werden müssen. Diese Positionen fügen sich in die dominanten Modelle theologischer ‚Kulturtheorie‘ ein, die als Form der Bewältigung des Sündenfalls entworfen werden: Nacktheit und Wildheit. Sie bilden gewissermaßen den historischen Diskursrahmen, aus dem heraus die einzelnen Argumente sich speisen: Demonstration von technischer und ethischer Herrschaft über das Tier, auch über das innere. Eine gegenläufige Position formuliert die Adelsliteratur, in der sich Spuren einer besonderen Nähe des Ritters zum Pferd, zu seinem zentralen Standesattribut, aufzeigen lassen. Das Pferd ist für den Adeligen nicht nur lebensweltliche Realität und konkretes Instrument politischer Macht, es wird auch zur komplexen Einschreibefläche für das ‚kulturelle‘ Selbstverständnis des Adels. Niederschlag findet solches Selbstverständnis nicht in gelehrten theoretischen Diskursen, vielmehr artikuliert es sich in eher topischen Bildentwürfen und Handlungsmustern, die Historiographie, Epik und bisweilen die programmatischen Passagen einzelner
|| Herren vnd der Adel / gleich dem gemeynen mann / zufůß laufen muͤßten? Michael Herr: Thierbuch. Straßburg 1546, Bl. 32r. 81 Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob aus der Handschrift des Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg. Hrsg. von Torsten E. Karsten. Berlin 1910 (DTM. 21), V. 14547–14588.
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Fachtexte durchziehen. Ganz unterschiedliche Ebenen adeliger Existenz sind davon betroffen: Reiten als kulturelle Basistechnik in Sozialisationsentwürfen, Affektsymbiose zwischen adeligem Reiter und Pferd; das Pferd als ethischer Spiegel, als demonstratives Herrschaftszeichen im politischen Zeremoniell, bisweilen sogar im Rechtskontext, schließlich als Garant genealogischer Auszeichnung. Die Semantisierung legt sich letztlich über die konkrete Funktion des Pferdes als reales Instrument. Während Theologen diese Funktionalisierung in eine Kulturtheorie einbetten, gewissermaßen sie mit einem übergeordneten Sinn ausstatten (Domestizierung), projiziert die feudaladelige Perspektive ihr eigene, vermeintlich genuine Verhaltensmuster, d. h. ihre symbolische Ordnung, auf das Pferd und phantasiert sie in literarischen Entwürfen aus. Beide Positionen stehen sich nicht absolut gegenüber, können sich vielmehr partiell überschneiden, wie an der politischen Herrschaftsmetaphorik sichtbar wird.
Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter 1 Adel und Gewalt Der Zweikampf erscheint dem heutigen Betrachter als eine archaische Einrichtung. Er ist offenbar fest verbunden mit einer vergangenen Adelskultur, die soziale Konflikte über Gewalt reguliert und deren Führungsanspruch allenfalls bis zum Ende des Ersten Weltkriegs reicht. Schon im 19. Jahrhundert bezeugt die Abdrängung des Duells in die Sphäre der Heimlichkeit eher die Marginalisierung adeliger Gewalt in einer institutionell gefestigten Gesellschaft. Zugleich aber gibt die sich behauptende Duellpraxis eine Vorstellung von der historischen Wirkungsmacht eines Konfliktlösungsmodells, das sich hartnäckig institutionellen Regulierungen widersetzt.1 Die Duellkultur des 19. Jahrhunderts und die Versuche ihrer Eindämmung können als Zeichen einer grundlegenden, wohl überzeitlichen sozialen Problematik gelesen werden. Das Duell selbst erscheint dabei nur als der historische Ausdruck eines allgemeinen Prinzips, das Vergesellschaftung herstellt und zugleich bedroht, und es legt deutlich sichtbar den Gewaltcharakter von Vergesellschaftungsprozessen offen. Rivalität und Konkurrenz bilden nicht nur im Feudalismus konstitutive Faktoren für die Verteilung sozialer Geltung.2 Was in der modernen Gesellschaft zu vielfältigen Formen disziplinierten ‚Wettbewerbs‘ etwa in Wirtschaft, Politik und Sport gedämpft und weitgehend institutionell und symbolisch kanalisiert wird, besitzt in der Feudalkultur des Mittelalters seine ungleich konkretere Vorgeschichte. Die archaische Praxis des Zweikampfs ist im Mittelalter noch fest verankert. Sie ist nicht nur eine elementare Form adeliger Kriegsführung, als Mittel der Konfliktlösung ist sie auch in den Volksrechten festgeschrieben, ja sie scheint geradezu die Ultima Ratio feudaladeligen Rechtsbewusstseins zu sein.3 Mittelalterliche Fehderechte wie der Sachsenspiegel dokumentieren, dass für lange Zeit Schlichtungsbemühungen letztlich immer in einer Zweikampfforderung münden konnten. Noch im || 1 Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991, S. 19–34; Friedhelm Guttandin: Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel der adeligen Ehre und zur Bedeutung von Duell und Ehre für den monarchischen Zentralstaat. Berlin 1993. 2 Georg Simmel: Der Streit. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 6. Aufl. Berlin 1983, S. 186–255; ders.: Soziologie der Konkurrenz. In: Ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme, Ottmar Rammstedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 173–193. 3 Der Zweikampf ist „die gehobene, die edle und adlige Form des Krieges“, so Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). Frankfurt a. M. 1988, S. 151. https://doi.org/10.1515/9783110772340-005
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13. Jahrhundert bringt Saxo Grammaticus in seiner Dänengeschichte das Grundprinzip feudalen Selbstverständnisses auf den Begriff, wenn er von König Frothos Gesetzgebung berichtet: Zwar ließ dieser Pfandsetzung und Eide als Mittel der Konfliktlösung generell zu, doch ‚bestimmte er, daß jede Rechtsfrage durch gerichtlichen Zweikampf entschieden werden dürfe; denn es sei rühmlicher, mit Körperkräften, als mit Worten zu streiten‘.4 Im festlichen Turnier schließlich ist der Zweikampf eine anerkannte Übung, über die Sozialprestige reguliert wird, wovon vor allem das spätmittelalterliche Turnierwesen Zeugnis ablegt. In der Fehde, im Rechtskonflikt und im höfischen Turnier zielt der Zweikampf aber schon im Mittelalter meist nur auf Ausnahmesituationen sozialer Konkurrenz und scheint mehr oder minder institutionell gerahmt zu sein. Überdies treten zunehmend friedliche Formen der Konfliktlösung neben ihn, und es ist unbezweifelbar, dass in einer langfristigen Perspektive das Gewaltmonopol des Adels gebrochen wird. Schon der höfische Roman propagiert bekanntlich eine christliche Politik der Disziplinierung adeliger Gewalt, sodass sich Konfliktlösungsmodelle der höfischen Kultur anbieten, um zivilisationsgeschichtliche Thesen zu bestätigen.5 Gegenüber der an Norbert Elias orientierten Perspektive, die Entwicklungslinien einer longue durée nachzeichnet, rücken neuere Arbeiten den Gewaltcharakter der Feudalkultur stärker in den Vordergrund.6 Sie sind außer an soziologischen an men-
|| 4 De qualibet uero controuersia ferro decerni sanxit, speciosius uiribus quam uerbis confligendum existimans, Saxo Grammaticus: Gesta Danorum. Hrsg. von Alfred Hodler. Straßburg 1886, V,86, S. 153, die Übersetzung in: Paul Herrmann: Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der Dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus. Tl. 1: Übersetzung. Leipzig 1901, S. 205. Zum Gerichtskampf Heinz Holzhauer: Der gerichtliche Zweikampf. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Fs. Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Bd. 1. Hrsg. von Karl Hauck [u. a.]. Berlin/New York 1986, S. 263–283; Leo Jordan: Das fränkische Gottesgericht. In: Archiv für Kulturgeschichte 6 (1908), S. 265–298; W[olfgang] Schild: Art. Zweikampf. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5. Hrsg. von Adalbert Erler. Berlin 1998, Sp. 1835–1847. 5 Die grundlegenden historischen und literarischen Rahmenbedingungen skizziert Rüdiger Schnell: Dichtung und Rechtsgeschichte. Der Zweikampf als Gottesurteil in der mittelalterlichen Literatur. In: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig 18/2 8 (1983), S. 53–62; ders.: Rechtsgeschichte, Mentalitäten und Gattungsgeschichte. Zur literarischen Autonomie im Mittelalter. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart/Weimar 1993, S. 401–430; ders.: Recht und Dichtung. Zum gerichtlichen Zweikampf in der Crône Heinrichs von dem Türlîn. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wien 1981, S. 217–229. 6 Peter Czerwinski: Das Nibelungenlied. Widersprüche höfischer Gewaltregulierung. In: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Adel und Hof – 12./13. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Frey [u. a.]. Opladen 1979, S. 49–87; Udo Friedrich: Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 149–179; Will Hasty: Art of Arms. Studies of Aggression and Dominance in Medieval German Court Poetry.
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talitäts- und diskursgeschichtlichen Theorien orientiert und betonen zum einen die Alterität der kulturellen Verhältnisse im Mittelalter, zum anderen die machtgestützte Basis feudaler Politik. Trotz aller Zivilisierung kommt Gewaltdemonstration in der Adelskultur ein zentraler Stellenwert zu: Krieg führen ist eine Herrschertugend,7 und Rechtsexekution basiert auf dem Abschreckungsprinzip. Der Zweikampf als Rechtsform entspricht einem elementaren Zug der feudalen Gesellschaft: der Auffassung von Recht als dem Recht des Stärkeren.8 Dieses archaische Prinzip der Konfliktlösung ist nur implizit aus den Quellen zu erschließen, doch akzentuieren Rechtshistoriker, Rechtsethnologen und Soziologen auf je eigene Art den Gewaltcharakter der feudalen Gesellschaftsordnung.9 Die Herausforderung zum Zweikampf ist ein Standesprivileg, das dem ständisch Höherstehenden reserviert bleibt, insofern er einen eigenen adeligen Rechtskreis verteidigt.10 Zwar basierte „Aristokratie [...] zuallererst auf der Fähigkeit, sich im Kampf, durch Kampf zu behaupten“11, das adelige Waffenprivileg aber schloss größere soziale Konflikte aus. Als grundlegendes politisches Prinzip einer mittelalterlichen Adelsgesellschaft gilt die Rivalität
|| Heidelberg 2002; Achatz von Müller: Schauspiele der Gewalt. Vom Zweikampf zum Duell. In: Das Duell. Der tödliche Kampf um die Ehre. Hrsg. von Uwe Schultz. Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 12– 33, S. 416–418. Vgl. auch Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch. Frankfurt a. M./New York 1996; Robert Bartlett: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350. München 1996. 7 Vgl. Thomas Scharff: Reden über den Krieg. Darstellungsformen und Funktionen des Krieges in der Historiographie des Frühmittelalters. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 65–80. 8 Wolfgang Schild: Verwissenschaftlichung als Entleiblichung des Rechtsverständnisses. In: Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Norbert Brieskorn [u. a.]. Paderborn [u. a.] 1994, S. 247–260. 9 Holzhauer (Anm. 4), S. 272. 10 Friedrich Barbarossa bestimmt im Reichslandfrieden von 1152, dass „der gerichtliche Zweikampf nur jenen Rittern erlaubt sein sollte, die ‚echte‘ Ritter von Geburt aus (milites natione legitimi) seien“, so Josef Fleckenstein: Rittertum und ritterliche Welt. Berlin 2002, S. 167. Noch im Sachsenspiegel heißt es: ‚Ein jeder kann demjenigen den Kampf verwehren, der niedriger geboren ist‘ (Ein iclich man mag kamphes weigern dem, der wers geborn ist. Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug./2. Textbd. Hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin 1993, 1,63, S. 154, künftig: Sachsenspiegel). Selbst wenn die Rechtsgrundlage mit dem Gewaltmonopol des Staates entfällt, erfüllt das Duell im Adel und im Offizierskreis diese sozial distinkte Funktion: Es integriert eine spezifische Gruppe (‚die Satisfaktionsfähigen‘) und errichtet ein Ritual der Unterscheidung gegenüber den ‚niedrigen‘ Rängen der Gesellschaft. Vgl. hierzu Norbert Elias: Zivilisation und Informalisierung. B. Die satisfaktionsfähige Gesellschaft. In: Ders.: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Schröter. Frankfurt a. M. 1989, S. 61–158, hier S. 98–100. 11 Müller (Anm. 6), S. 16f.
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Abb. 1: Zweikampf als Rechtsform, Sachsenspiegel (Ende 14. Jahrhundert). Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1. Aug. 2°, fol. 26r
„unabhängig bewaffnete[r] Haushalte[]“.12 Einer sippengestützten segmentären Gesellschaftsform wird bei einer großen Solidarität nach innen eine hohe Gewaltdynamik nach außen attestiert, sichtbar etwa an den Rechtsformen von Fehde und Zweikampf. So konstatiert der Rechtshistoriker Wolfgang Schild, dass der „Sieg im Kampf [...] die Rechtlichkeit des Siegers offenbar“13 mache, und er schließt daraus auf ein besonderes „leibliches Rechtsverständnis [...], das dem Stärkeren auch die stärkere Rechtsposition zuerkannte“.14 Soziologisch ausgreifender formuliert es Peter Czerwinski mit einem Zitat von Karl Marx über den Adel: „Sein Körper ist sein soziales Recht“.15 Mit den Bezeichnungen „Kampf als ‚materiale Kommunikation‘“ bzw. „Logik edler Körper im Mittelalter“ wird die Alterität mittelalterlicher Rechtsund Machtverhältnisse auf alternative Körperkonzepte zurückgeführt.16 Gewalt erweist sich innerhalb der feudalen Gesellschaft als ein eigenständiges Medium der Vergesellschaftung, über das Macht, Recht und Prestige reguliert werden. Bei aller Bemühung um Eingrenzung durch Gesetze bewahrt sich der Adel in Praxis und
|| 12 Niklas Luhmann: Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie und modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1989, S. 65–148, hier S. 69; auch Holzhauer (Anm. 4), S. 267. 13 Schild (Anm. 8), S. 248; außerdem Kurt-Georg Cram: Iudicium belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter. Münster/Köln 1955, S. 10. 14 Schild (Anm. 4), Sp. 1837. 15 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, zitiert nach Czerwinski (Anm. 6), S. 69, und: „Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie“. Wie sehr das Rechtsverständnis auf körperlicher Integrität basiert, wird in dem besonderen Klageverfahren sichtbar. Der Kläger trägt seine Herausforderung vor dem Richter vor und erhält von diesem die Erlaubnis, seinen Kontrahenten zu fordern, indem er ihn für einen vorbestimmten Zeitraum ‚am Kragen fasst‘ (Sachsenspiegel, 1,63, S. 152). 16 Peter Czerwinski: Kampf als ‚materiale Kommunikation‘. Zur Logik edler Körper im Mittelalter. In: Mediaevistik 9 (1996), S. 39–76; zur sozialen Funktion des Streits Simmel (Anm. 2).
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Recht ein Reservat der Gewalt. Recht stellt sich in diesem Sektor im Kampf selbst her und wird offenbar noch nicht konstant durch übergeordnete Normen ‚repräsentiert‘. Gewalt wird in der Feudalkultur nicht nur praktisch selbstverständlich ausgeübt, sondern ihre Notwendigkeit wird auch ständig in ritueller und symbolischer Form vor Augen geführt. Der Zweikampf ist dabei mehr ideologisches Medium als reales Instrument. Die Bedeutung agonaler Konfrontation für das adelige Selbstverständnis wird u. a. darin sichtbar, dass die zentralen Gattungen der mittelalterlichen Adelsliteratur – Heldenepos und höfischer Roman – geradezu obsessiv Zweikämpfe schildern. Die Serialität ihres Auftretens im Text und die topische Schilderung ihres Verlaufs wirken auf den modernen Leser oft nur noch ermüdend, für den zeitgenössischen Rezipienten aber eröffnen sie Spielräume für Identifikation und Reflexion. Im Handlungsverlauf der Epen nimmt der Zweikampf breiten Raum ein und markiert fast immer Schlüsselstellen wie die Bewältigung von Kontingenz, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Hierarchisierung sozialer Geltung oder die Verteilung von Frauen (Erec/Iwein). Für das Selbstverständnis des Adels bildet solche diskursive Gewaltinszenierung ein zentrales Signum seiner Standesidentität. Nicht zufällig steht mit dem Hildebrandslied ein Text am Anfang der deutschen Literaturgeschichte, der Geltung und Tragik des Zweikampfs in einer archaischen Kriegergesellschaft bezeugt, und entsprechend kann auch das Muspilli, ein religiöser Text, die Apokalypse nicht anders als in einem finalen Zweikampf zwischen Christ und Antichrist denken. Dieses Modell war offenbar so vertraut, dass es auch heilsgeschichtlich instrumentalisiert werden konnte. So wenig der Zweikampf als reale Praxis verschwindet, so wenig feiern die literarischen Entwürfe ihn umstandslos. Jenseits von Entwicklungsmodellen, deren Teleologie allenfalls über lange Zeiträume greift, sollen für den engeren historischen Ausschnitt konkurrierende Konzeptualisierungen des Konfliktlösungsmodells Zweikampf nachgezeichnet werden.17 Die literarischen Inszenierungen von Zweikämpfen sind weder Abbild einer realen Praxis noch deren fiktives Gegenbild, vielmehr spiegeln sie komplexe kulturelle Ordnungsmuster, die den Status von Gewalt legitimieren oder reflektieren. Der Zweikampf kann damit als Paradigma für die Wirksamkeit der symbolischen Ordnung aufgefasst werden, die ganz unterschiedlich kodiert sein kann.18 Jenseits der Alternative von Realität und Fiktion lässt sich mit der symbolischen Ordnung heuristisch eine Ebene einziehen, die vermittelnde Sinnschemata für soziales Verhalten liefert. Sie liegen der realen Praxis des Zwei|| 17 Müller (Anm. 6), S. 22f. 18 Ingrid Gilcher-Holtey: Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu. In: Kulturgeschichte Heute. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig, Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1996, S. 111–130; Thomas Mergel: Kulturgeschichte – die neue ‚große Erzählung‘? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft. In: ebd., S. 41–77; Philipp Sarasin: Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte. In: ebd., S. 131–164.
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kampfs – in Krieg, Gericht, Turnier – und seinen Imaginationen gleichermaßen zugrunde. Die symbolische Ordnung stiftet Deutungsschemata, die zwischen dem realen Faktum, dass es Gewalt gibt, dass der Zweikampf das Recht des Stärkeren zur Geltung bringt, und dem Traum von Gerechtigkeit und Selbstbehauptung vermitteln. Diese verbinden also Erfahrungen von Macht und Ohnmacht mit Projektionen von Sinn. In ihrer kruden Faktizität bezeichnet die Gewalt des Zweikampfs den Einbruch des Realen in die soziale Ordnung. Erst dadurch, dass die Gewalt spezifischen Symbolisierungen unterworfen wird, erhält sie einen Sinn, wird sie überhaupt verarbeitbar. Die einzelnen Texte artikulieren und diskutieren im Zweikampf rivalisierende zeitgenössische Modelle der Gewaltbewältigung. Die Muster können dem theologischen, dem rechtlichen, dem politischen oder dem kulturellen Feld entstammen, sie können einander aber auch überlagern. Die einzelnen Texte verhandeln ganz unterschiedliche Konstellationen, immer aber versehen sie den Zweikampf mit einem Mehrwert an Bedeutung. Im Folgenden werden verschiedene Muster vorgestellt, die diese Bedeutungsproduktion steuern und die so etwas wie eine symbolische Ökonomie des Zweikampfs umschreiben. Der Zweikampf erscheint geradezu als kulturelles Leitmedium, in dem soziale, politische und kulturelle Standpunkte ausgehandelt werden. Von der Auffassung sozialer Geltung über die Rolle des Königs, die Selbst- und Fremdbilder einer Gesellschaft, das kulturelle Selbstverständnis bis hin zu Diskursen über die Gerechtigkeit steuert die binäre Struktur des Zweikampfs das Nachdenken der Autoren. Der Zweikampf ist mehr als eine Form physischer Konfrontation, er ist immer auch eine Projektionsfläche sozialen Sinns.
2 Ehre als symbolisches Kapital Unter den Voraussetzungen einer feudalen Lebenswelt – Krieg, Gericht, Turnier – stehen im Zweikampf mit Leben, Freiheit und Ehre elementare Werte adeliger Existenz zur Disposition. Die Literatur greift stereotyp diese Risikoszenarien auf.19 Da|| 19 Die Crône Heinrichs von dem Türlîn bietet eine schier endlose Serie von Zweikämpfen, an denen immer wieder der hohe Einsatz hervorgehoben wird. Die Niederlage kann den Verlust der Freiheit nach sich ziehen: Gawein brüstet sich vor dem Zweikampf mit Laamorz von Janfrüege: ‚Auch besiegte mich niemals ein Schwert, / sodass ich Vasall geworden wäre‘ (Ouch betwanc mich nie kein swert, / Daz ich würt sîn muntman. Heinrich von dem Türlîn: Diu Crône. Zum ersten Male hrsg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Stuttgart 1852, V. 15446f., künftig: Crône). Später bietet dieser Gawein für die Schonung seines Lebens ‚sowohl Burgen als auch Länder‘ (Beidiu bürge unde lant, V. 15585). Das Ergebnis des Kampfes ist der Verlust der Freiheit: ‚Jetzt ist der Kampf beendet / und Gawein nahm ihn als Vasallen an‘ (Nu hât der strît ein ende / Und empfienc in Gâwein ze man, V. 15613f.). Der Riese Asselin zwingt die Ritter zum Zweikampf gegen seinen Zögling Galaas. Eine Niederlage zieht den Verlust des Standes nach sich (V. 5506–5509).
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rüber hinaus aber entwirft die höfische Epik zusätzliche Räume, um dem feudalen Anspruch auf Gewalt weiter Ausdruck zu verleihen. Im chevalier errant, dem klassischen Aventiureritter, tritt das agonale Moment feudaler Ethik am nachdrücklichsten als Selbstzweck in Erscheinung. So erklärt im Iwein Hartmanns von Aue der Ritter Kalogrenant dem staunenden Waldmann, was man unter Ritterschaft zu verstehen habe: Man nennt mich Ritter, und ich habe die Absicht auszureiten auf die Suche nach einem Mann, der mit mir kämpfe und der Waffen trägt wie ich. Schlägt er mich, so bringt ihm das Ruhm ein, siege aber ich über ihn, so sieht man einen Helden in mir, und meine Würde wächst.20
Der Drang zu ritterlicher Bewährung bedarf hier offenbar keines konkreten Anlasses.21 Ritterschaft, so wie die Dichter sie imaginieren, ist geradezu Synonym für gewaltsame Unterwerfung eines anderen. Der zentrale Wertbegriff, der die Zuteilung sozialer Geltung reguliert, ist hier Ehre. Sie ist ein „‚sozialer Begriff‘ par excellence“, ist „die ‚Figura‘ des adeligen Mannes“.22 Ihre Symbolik stellen die literarischen Entwürfe denn auch deutlich in den Vordergrund. Ludgera Vogt hat das Phänomen Ehre, an Pierre Bourdieu anschließend, mithilfe des soziologischen Begriffs ‚Symbolisches Kapital‘ zu fassen versucht und damit auf den elementaren Tausch- und Akkumulationscharakter von Ehrhandlungen verwiesen.23 Der Zweikampf bildet eine dieser Formen von Kommunikation, die Tausch und Akkumulation gleichermaßen implizieren. Jeder Zweikampf wie jedes Spiel überhaupt, auch das kulturelle des Schenkens, gründet letztlich in der Wette, wer mehr Ehre einzulegen vermag.24 Die Logik des Zweikampfs basiert auf einer Logik sozialer Hierarchisierung. Der Akkumulation von Ehre korrespondiert die Verausgabung der Kräfte. Wie sehr die
|| 20 ich heize ein riter und hân den sin / daz ich suochende rîte / einen man der mit mir strîte, / der gewâfent sî als ich. / daz prîset in, und sleht er mich: / gesige aber ich im an, / sô hât man mich vür einen man, / und wirde werder danne ich sî. Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. von Georg F. Benecke, Karl Lachmann, Ludwig Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer. 3., durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin/New York 1981, V. 530–537, künftig: Iwein. Vgl. Hasty (Anm. 6), S. 35. 21 Hasty (Anm. 6), S. 31. Vgl. Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer. 63.–65. Tsd. Frankfurt a. M. 1991, V. 4399–4403, künftig: Erec. 22 Müller (Anm. 6), S. 17. 23 Ludgera Vogt: Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des ‚Imaginären‘ am Beispiel zweier literarischer Texte. In: Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Hrsg. von ders., Arnold Zingerle. Frankfurt a. M. 1994, S. 291–314, hier S. 293–296. 24 Müller (Anm. 6), S. 21.
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Ökonomie der Ehre durch das Prinzip der Verschwendung geprägt ist, zeigt Vogt am Schlusszweikampf des Iwein. Im Rechtsstreit treten Gawein und Iwein gegeneinander an, und in bezeichnender Weise greift Hartmann auf eine Metaphorik zurück, die konkurrierende Ökonomien gegeneinander ausspielt: Sie teilten beide mit vollen Händen aus, und man brauchte doch nicht nach Geld zu schicken, denn sie hatten auf den Kampfplatz Kapital und Zinsen mitgebracht und zahlten auf der Stelle reichlicher und schneller zurück als man es haben wollte. [...] Sie erzielten Gewinn damit wie zwei Händler, aber sie machten ihren Profit auf äußerst befremdliche Weise. Hätte ein Kaufmann ihre Methode gehabt, so hätte er damit bankrott gemacht, sie aber wurden damit reich.25
Vogt kann zeigen, dass Verschwendung hier als symbolische Investition aufgefasst wird und dass sich gegen eine materielle Ökonomie des kaufmännischen Rechnens, die auf Äquivalenz und Profit basiert, eine symbolische des Adels feiert, die verschwendet.26 Die Logik der ,Gabe‘, die die feudale Praxis der Freigebigkeit (milte) steuert, wird zum Zweck sozialer Distinktion ironisch auf den Kampf übertragen. Sowohl der Akt der milte als auch der der Unterwerfung basieren auf Verausgabung, deren Ertrag in beiden Fällen Ehre ist. Der Kampf setzt der Verausgabung keine Grenzen, sodass sie den Einsatz des Lebens mit einbezieht: ‚Sie waren freigebig mit ihrem Leben‘27, heißt es in Wolframs von Eschenbach Willehalm. Der symbolische
|| 25 si entlihen bêde ûz voller hant, / und wart nâch gelte niht gesant: / wand sî heten ûf daz velt / beide brâht ir übergelt / und vergulten an der stat / mê und ê dan man sî bat. / [...] sî nâmen wuocher dar an / sam zwêne werbende man: / sî pflâgen zir gewinne / harte vremder sinne. / dehein koufman hete ir site, / ern verdurbe dâ mite: / dâ wurden sî rîche abe (Iwein, V. 7165–7170, 7193–7199). 26 Vogt (Anm. 23), S. 302f. 27 si waren ir lebens milte. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text und Übersetzung. Text von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. 3. durchgesehene Aufl. Berlin/New York 2003, V. 20,17, künftig: Willehalm. Solche Parallelen aus dem Bereich der Ökonomie finden sich wiederholt: ‚Du bist von Rechts wegen mein Schuldner, / aber ich werde dir die Schuld bezahlen‘ (du bist mîn rechter scol, / des zinses gewer ich dich wol. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993, V. 4053f., künftig: Rolandslied); ‚was er zuvor geliehen hatte, / das bezahlte er in ungleicher Weise‘ (daz er het geborget vor, / daz galt er mit ungelîcher wâge. Ulrich von Eschenbach: Alexander. Hrsg. von Wendelin Toischer. Tübingen 1888, V. 20172f., künftig: Ulrichs Alexander). Zur Logik der Gabe Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. 2: Gabentausch, Soziologie
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Mehrwert gründet in einer materiellen und körperlichen Überlegenheit, den beiden Stützen adeliger Macht. In der Prämierung des Stärksten aber, in der kollektiven Faszination an der Stärke, findet das Recht des Stärkeren letztlich sein soziales Fundament. Die Hintergrundmetaphorik des Verschwendens aktiviert Hartmann noch in einem anderen Zweikampf. Die Schilderung des Kampfes zwischen Erec und Îdêrs um den Schönheitspreis wird wiederholt von einer Metaphorik des Würfelspiels unterbrochen. Schlag auf Schlag erwidern die Kämpfer: Wenn er ihm etwas borgte, zahlte er das zurück wie einer, der noch mehr borgen will. Beide spielten sie ein Spiel, das leicht jemanden Siebzehn und vier auf den Kopf kosten konnte, und man zahlte ihnen auch mehrfach überallhin. Sie verbissen sich in den Kampf. Von einer ellenlangen Wunde hätte der sich schnell erholt, der die Befugnis zum Pfänden bekommen hätte. Viele Gebote wurden gemacht und alle wurden sie überboten.28
Auch die Spielmetapher ist Ausdruck feudaler Überbietungslogik, sie verweist überdies noch deutlicher auf den Grundvorgang der Wette. Da das Prinzip der Akkumulation die ‚Wette‘ an ihre Grenze treibt, da die Entfesselung physischer Energien prinzipiell zur Eskalation tendiert,29 bedarf es einer Gegensteuerung, soll der Gegner doch unterworfen und vergesellschaftet, nicht aber ausgelöscht werden.
|| und Psychologie, Todesvorstellungen, Körpertechniken, Begriff der Person. Frankfurt a. M. 1989, S. 9–144. 28 sît daz er im entlêch sîn guot, / daz galt er als jener tuot / der dâ mêre entnemen wil. / si beide spilten ein spil / daz lîhte den man beraubet, / der vünfzehen ûf daz houbet. / ouch wurden si eteswenne gegeben / beidiu dâ vür und ouch dâ eneben. / mit grimme si verbunden. / einer ellenlanger wunden / möhte er vil wol sîn bekomen / derz phantreht solde hân genomen. / dâ wart vil manec gebot geleit / und dem ein widergelt geseit (Erec, V. 864–877). Die Spielmetapher ist topisch. So heißt es im Wigalois: ‚so spielten sie ein tödliches Spiel‘ (sus spilten si des tôdes spil. Wirnt von Grafenberc: Wigalois, der Ritter mit dem Rade. Bd. 1. Hrsg. von J[ohannes] M[aria] N[eele] Kapteyn. Bonn 1926, V. 2132, künftig: Wigalois). 29 Im Kampf mit Mabonagrin greift Hartmann auf die Minnemetapher zurück, die auf paradoxe Art auf die Verschränkung von Minne, Kampf und Wette verweist (Erec, V. 9106–9109).
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„Bindung und Entfesselung bestimmten [...] das Verhältnis des waffenführenden Adels zur Gewalt. Das Medium dieser Konfrontation war die Ehre“.30 Sie bindet, indem sie die Gewalt des Adels an den Hof und in die regulierte Form des Turniers zwingt, sie entfesselt zugleich, indem die herausragende Tat immer noch Gegenstand höchster Wertschätzung bleibt und zum Motor des Ehrgeizes wird. Noch im regulierten Turnierkampf changiert die gewaltgestützte Kommunikation zwischen vorausgesetzter Friedenspflicht auf der einen und der immer möglichen Eskalation auf der anderen Seite.31 Im Anschluss an Johan Huizingas Spiel- und Kulturtheorie unterstreicht Achatz von Müller zum einen „die jedem Kampf inhärente Tendenz, sich durch ‚Spielregeln‘ zähmen zu lassen“, zum andern „das Bedürfnis der Kämpfer, sich showing respect zu verschaffen“.32 Es gehört zum Paradox der Gewalt, dass das Spiel aus sich heraus Regeln generiert, die Kultur stiftend wirken, zugleich aber die Konkurrenz antreibt. Während die Logik der Gabe die Verausgabung befördert, setzt der Spielcharakter dem Kampf Grenzen. Die Spannung zwischen Disziplinierung und Entfesselung wird am Beispiel des Kampfverhaltens auf komplexe Art durchgespielt. Rohe unkontrollierte Naturgewalt wird meist auf die Seite der Gegner ausgelagert, auf Tiere, Riesen, wilde Frauen oder affektgesteuerte Kämpfer. Roher Gewalt wird dabei mit kontrollierter Kampftechnik (list) begegnet. Gleichwertige Gegner kämpfen immer wieder mit kraft u n d kunst, verbinden also Gewalt und technische Geschicklichkeit. Der Erzähler hebt an Gawein und Iwein hervor, dass sie vorbildliches Kämpfen von Jugend an gelernt hätten: ‚Sie konnten in ritterlicher Übung / geradezu Schule halten‘.33 Wenn wiederholt betont wird, dass erfolgreicher Kampf auf der Handhabung überlegener Technik beruht, dann feiert der Adel seine eigene Kunstfertigkeit. Der ritterliche Kampf folgt aber nicht nur technischen Regeln, er ist auch moralisch gebändigt: So sitzt Erec ab, nachdem er Îdêrs vom Pferd gestochen hat, um sich keine Schande zuzufügen; auch zügelt er wiederholt seinen Zorn, nachdem er Îdêrs, Guivreiz und Mabonagrin besiegt hat und tötet seine Gegner nicht.34 Die Zweikämpfe der höfischen Epen zeigen deutlich eine Tötungshemmung auf Seiten des Siegers. Und noch die ästhetische || 30 Müller (Anm. 6), S. 19. Im spätmittelalterlichen Turnier wird diese Grenze immer wieder sichtbar, vgl. dazu: Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1985. 31 Müller (Anm. 6), S. 26f. Eine „Moral des Verbergens“ (S. 20), die den Krieger hinter seine Tat zurücktreten lässt, wie Müller postuliert, trifft für den mittelalterlichen Adel wohl noch nicht zu. Eher führt die Sucht nach individueller Auszeichnung zur Schwierigkeit, kollektive strategische und taktische Maßnahmen störungsfrei durchzuführen. 32 Ebd., S. 21. 33 sî mohten von rîterschaft / schuole gehabet hân (Iwein, V. 7004f.). ‚Sie verfügten beide über große Gewalt / und kämpften auch mit Kunstfertigkeit, / denn sie kannten sich beide darin aus‘ (si hêten beide ganze kraft / und vâhten ouch mit meisterschaft, / wan si kundenz beide wol, Wigalois, V. 559– 561). 34 Erec, V. 4439–4441, 1010 u. 9385f.
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Schauseite des Kampfes fordert die Einhaltung von Regeln, wenn Kämpfe in dem Augenblick unterbrochen werden, in dem die Kämpfer ermüdet sind und der ritterlichen Form nicht mehr genügen: ‚es ist nicht rühmenswert‘35, heißt es im Erec über den nur mühsam fortgeschleppten Kampf zwischen Erec und Îdêrs. Disziplinierung bindet den Zweikampf in technischer, ethischer und ästhetischer Hinsicht und wird durch das Publikum oder eine verinnerlichte soziale Kontrolle (Ehre) reguliert. Wie andere höfische Künste wird der Zweikampf zur ars, zur Schule der Ritterschaft im umfassenden Sinn, zum Medium kultureller Selbstdarstellung des Adels. Die Einbindung zentrifugaler Energien wird im Mittelalter als kulturelle Notwendigkeit angesehen. Die Regel des Hl. Benedikt liefert den Mönchen eine ars spiritualis, die über eine regulierte körperliche Zucht eingeübt wird, und sie macht das Kloster zu einer Werkstatt (officina) der Tugenden.36 Die höfische Erziehung stellt für ihren Raum, angepasst an ihre Ziele und ihre Medien, einen analogen Anspruch auf Regulierung adeligen Verhaltens, selbst im Kampf.
Abb. 2: Höfische Zweikampfszene, Codex Manesse (um 1300). Heidelberg, UB, Cpg 848, fol. 52r
|| 35 ez ist sunder prîs und âne ruom (V. 901). 36 Haubrichs (Anm. 3), S. 201.
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Wenn aber immer wieder die gefährdete Balance zwischen Bindung und Eskalation thematisiert wird, offenbaren sich die Grenzen der Disziplinierung. Die höfische Literatur entwirft immer auch Fälle missglückter Bändigung. Der ‚Glücksritter‘ Wigalois trifft auf einen Gastgeber, der den Brauch praktiziert, nur dem Gastfreundschaft zuteil werden zu lassen, der ihn im Zweikampf besiegt. Das höfische Spiel endet indes in der Katastrophe, als Wigalois seinen Gegner schon im ersten Tjost tötet. Eneas gerät in Zorn, als er am unterlegenen Turnus den Ring des Pallas erblickt und tötet ihn aus Rache, Willehalm erschlägt kaltblütig den um Gnade bittenden Arofel. Die kulturelle Selbstbeschränkung findet ihre Grenze in den Anforderungen der Rache. Umgekehrt stellen Gegner, die sich nicht ergeben, immer wieder die Geduld des Ritters auf die Probe. Selbst Trainingskämpfe balancieren auf einem schmalen Grat: um der höfischen Unterhaltung willen trieben sie [Hector und Paris, U. F.] das höfische Spiel, doch schlugen und stachen sie so aufeinander ein, dass schließlich ihre vergnügte Unterhaltung in Zorn umschlug.37
Der Einspruch des Ziehvaters rettet hier Paris. Nur der Zwischenruf der umstehenden Frauen verhindert auch, dass Hector im Zweikampf den unterlegenen Peleus tötet (Der Trojanische Krieg, V. 4236–4290). Inszeniert wird hier wiederholt die Grenze zur Eskalation, wenn der Ritter seinen Affekten zu erliegen droht. Im Zweikampf führt der Adel sich seine kulturellen Leistungen vor Augen, diskutiert aber immer wieder auch deren Grenzen. Der ritterliche Zweikampf eröffnet mithin beide Optionen, die zur Eskalation wie die zur Disziplinierung. Bekannt ist die Kontroverse über Iweins Kampf gegen Ascalon (âne zuht, Iwein, V. 1056), die wohl mehr noch als den Autor die Exegeten beschäftigt hat. Der These von der zivilisationsgeschichtlichen Entwicklung des feudalen Kriegers zum höfischen Ritter und der Gegenthese vom Perennieren feudaler Gewaltpotenziale stellt Vogt ein Modell gegenüber, das beide Positionen verbindet: Am Beispiel der Zweikämpfe des Iwein zeigt sie, wie der politische, eher moralfreie Ehrbegriff des ersten Teils mit einem moralisierten Zweikampfverhalten des zweiten Teils konfrontiert wird, wobei nicht von vornherein eine Bewertung vorgenommen wird. Die soziologische Perspektive entwickelt Skepsis gegenüber der ‚guten Tat‘ des Ritters, und so nimmt sie diese im zweiten Teil nicht wörtlich, sondern fasst sie
|| 37 durch hübsche kurzewîle / triben si daz hovespil. / iedoch gesluogens’ alsô vil / z’ein ander und gestâchen, / daz si ze jungest brâchen / mit zorne irn gemelichen schimpf. Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Hrsg. von Adalbert von Keller. Stuttgart 1858, V. 5028–5033, künftig: Der Trojanische Krieg.
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als eine interessegeleitete Strategie der Darstellung auf. Mithilfe der bourdieuschen ‚Verschleierungsregel‘ lässt sie sich durchaus als ideologische Praxis beschreiben: „Ehre als symbolisches Kapital funktioniert nur dann, wenn der nutzengeleitete Aspekt verschleiert wird“.38 Verzichtet man darauf, die Aussageintention des Textes auf eine Autorintention (Hartmanns) zurückzuführen, berücksichtigt man den Bedingungsrahmen seiner Aussagen und bezieht die Gegebenheiten der sozialen Realität mit ein, wird erkennbar, dass die Moralisierung der Handlung auch im zweiten Teil märchenhaft, d. h. ideologisch gesteuert wird.39 Das Verhältnis der Akkumulation von Ehre und ihrer sozialen Einbindung bleibt gespannt, selbst wenn die Texte Lösungen anbieten. Es betrifft aber wesentlich den Status der symbolischen Ordnung, wenn der Preis für die Moralisierung der feudalen Gewalt das Märchen ist.
3 Der Körper des Königs: Fürstenzweikämpfe Werner Goez kommt 1967 in einem Beitrag über Fürstenzweikämpfe im Spätmittelalter zu dem Ergebnis, dass trotz zahlreicher Belege von Herausforderungen unter Herrschern solche Zweikämpfe nie stattgefunden haben. Ausgehend von der gut dokumentierten Herausforderung Karls von Anjou durch Peter von Arragon im Jahr 1282, untersucht Goez Belege zwischen dem 10. und dem 16. Jahrhundert.40 Das Institut des Fürstenzweikampfes, so seine These, finde Eingang in die Historiographie als Reflex höfischer Literatur. Den Fall von 1282 führt er auf die Rezeption antiker Epen – Vergils Aeneis und des Alexanderromans – zurück, aber auch auf mittelalterliche Legenden wie den Eraclius. Seit dem 12. Jahrhundert stünden poetische Muster zur Verfügung, die einen Prozess anzeigten, der die Verritterlichung des Königtums signalisiere. Der Fürstenzweikampf imaginiert gewissermaßen die Urszene einer feudalen Verantwortungsethik. Die Herausforderung wurde in Situationen politischer Ohnmacht aber wohl mehr als Geste vorgebracht, als dass mit ihrer Realisierung gerechnet wurde.41
|| 38 Vogt (Anm. 23), S. 305, Anm. 10. 39 „Das Epos entwirft eine utopische Textwelt, die dem (neu codierten) Helden immer die ‚richtigen‘ Angebote unterbreitet: Iwein wird nie von ‚bösen‘ Menschen angesprochen, und es entsteht kein Konflikt zwischen Ehrerwerb und sozialem Engagement“ (ebd., S. 305). 40 Werner Goez: Über Fürstenzweikämpfe im Spätmittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 49 (1967), S. 135–163, hier S. 146. Müller (Anm. 6), S. 25, berichtet noch von der Herausforderung Philipps des Guten von Burgund an Humphrey von Gloucester im Jahre 1425. 41 Dass die Spannung von Person und Institution schon um 1200 reflektiert worden ist, davon zeugt das Nibelungenlied: Siegfrieds Auftritt in Worms, seine heroische Herausforderung Gunthers zum Zweikampf zu Beginn der dritten Aventiure, ist interpretiert worden als Gegenüberstellung zweier politischer Auffassungen von Herrschaft. Die Herausforderung versandet bekanntlich in einer höfischen Geste, indem Gunther Siegfried virtuell die Verfügung über seinen Besitz anbietet.
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Die Herausforderung zum Fürstenzweikampf ruft offenbar ein archaisches Kulturmuster auf. Dort, wo Institutionen erst rudimentär ausgeprägt sind wie in der frühmittelalterlichen Gesellschaft, wird das „Wohl und Wehe von Stämmen und Reichen“42 mit dem Handeln von Personen verbunden, insbesondere dem der Könige. Der König ist in letzter Instanz „Garant des Rechts, des Wohlergehens; sinkt sein Königsheil, so liegt das in seinen Fehlern begründet, was sich unter der Kategorie Sünde sogar christlich fassen“43 lässt. Historiographie und Heldenepik zeichnen immer wieder ein solches Bild vom Königsheil und konstruieren ein ideales Bild des Herrschers.44 Wenn in der Lebensgeschichte der Kaisergattin Mathilde aus dem 10. Jahrhundert der Sachsenkrieg Karls des Großen durch einen Zweikampf zwischen Karl und Widukind entschieden wird, dann wird hier zwar, darauf hat Friedrich Ohly aufmerksam gemacht, Geschichte nach legendarischem Muster stilisiert,45 zugleich aber wird ein archaisches Legitimationsmuster aufgeboten. Im 12. Jahrhundert bildet der Fürstenzweikampf dann eine privilegierte Form der Konfliktlösung, er findet sich in Geschichtsdichtung, Heldenepik, Legende und höfischem Roman. Die Konstellation entstammt der antiken Literatur und reicht christlich kodiert bis ins Mittelalter: Alexander und Porus, Turnus und Eneas finden ihre christliche Umbesetzung in Eraclius und Cosdras, Karl und Paligan, selbst in Artus und Rollo.46 Und auch der Pfaffe Lambrecht erzählt die Geschichte vom Sieg Alexanders über Dareius als direkte Konfrontation der Herrscher in der Schlacht, stilisiert also Alexanders Sieg als heilsgeschichtlichen Triumph in personaler Stellvertretung. In der Rezeption kann Alexanders Sieg dann auch als Triumph im Zweikampf aufgefasst werden.47 Der Fürstenzweikampf erscheint somit als kulturelles Muster, das nicht || Die personalisierte Gewaltherrschaft scheitert an der institutionellen und höfischen Ordnung. Partiell wurde um 1200 der Fürstenzweikampf offenbar schon als archaische Einrichtung reflektiert. Vgl. Jan-Dirk Müller: Sîvrît: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes. In: ABÄG 7 (1974), S. 85–124. 42 Haubrichs (Anm. 3), S. 136. 43 Ebd. 44 Schon einer der frühesten historischen Fälle, von dem Pseudo-Fredegar für das Jahr 604 berichtet, die Herausforderung des neustrischen Hausmeiers Landerich durch den austrasischen Hausmeier Bertoald, begründet die Zweikampfforderung u. a. damit, „Heil und Eignung eines von ihnen zu erproben“ (ebd., S. 150). 45 Konkret orientiere sich der beschriebene Zweikampf an der Eracliuslegende, so Friedrich Ohly: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. 2. Aufl. Darmstadt 1968, S. 181. 46 Geoffrey of Monmouth: Historia regum Britanniae. A Variant Version Edited from Manuscripts von Jacob Hammer. Cambridge, Massachusetts 1951, IX,11, S. 163–165; vgl. Cram (Anm. 13), S. 183– 185; Hermann Nottarp: Gottesurteilstudien. München 1956. 47 Friedrich Pfister: Dareios von Alexander getötet. In: Rheinisches Museum für Philologie 101 (1958), S. 97–104. Vgl. die Illustration aus Jansen Enickels Weltchronik aus dem 14. Jahrhundert: Jansen Enikel: Weltchronik. Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek MS. Perg. III, BI. 106vb (Abb. 3). Jan Cölln: Arbeit an Alexander. Lambrecht, seine Fortsetzungen und die handschrift-
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nur als Geste auf die reale Praxis der Herrscher sich auswirken, sondern auch Darstellung und Strukturierung von Geschichte beeinflussen kann, indem es den Herrscher zum unersetzlichen Agenten der Geschichte macht. Der Fürstenzweikampf ist damit mehr als ein literarisches Motiv, mehr auch als ein christlich funktionalisierbares Muster. Er gründet vermutlich in tieferen mythischen Vorstellungen der Identität von Teil und Ganzem, von einer Kraft, die dingartig, so Ernst Cassirer, in „machtbegabten Persönlichkeiten, im Zauberer und Priester, im Häuptling und im Krieger erscheint [und] gleichsam verdichtet“48 ist.
Abb. 3: Alexander erschlägt Dareius. Jansen Enikel: Weltchronik (Mitte 14. Jahrhundert). Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv, MS. Perg. III, fol. 106vb
|| liche Überlieferung. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hrsg. von dems. [u. a.]. Göttingen 2000, S. 162–207, hier S. 183–188. 48 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Tl. 2: Das mythische Denken. 3. Aufl. Darmstadt 1958, S. 74. Der König ‚verkörpert‘ das Recht, suspendiert etwa durch seine Anwesenheit lokale Rechte; seine Anwesenheit garantiert Frieden, seine Abwesenheit zieht soziale Unordnung nach sich. Der König nimmt im Königsumritt das Land in Besitz, so Hans Kurt Schulze: Königsherrschaft und Königsmythos. Herrscher und Volk im politischen Denken des Hochmittelalters. In: Fs. Berent Schwineköper. Zu seinem siebzigsten Geburtstag. Hrsg. von Helmut Maurer, Hans Patze. Sigmaringen 1982, S. 177–186.
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Verstehen lässt sich diese Macht des Königs nur vor einem kulturellen Horizont, der in letzter Instanz den Formen von Institutionalisierung und Repräsentation vorausgeht. Sie basiert auf der mythischen Vorstellung, dass das kollektive Schicksal von der Durchsetzungskraft des Einzelnen abhängt. Nachdem Alexander den Inderkönig Porus erschlagen hat, beginnen dessen Krieger trotz gegenteiliger Abmachung erneut den Kampf, sodass Alexander ihnen zuruft: ‚„Elende, was kämpft ihr noch nach dem Tod eures Königs?“‘49 Der sich seit dem 12. Jahrhundert etablierende Prozess der Trennung von Institution und Person, den Ernst Kantorowicz an dem Konzept der zwei Körper des Königs beschrieben hat, hatte die Bedeutung des sterblichen Königs gegenüber dem ewigen Amt relativiert.50 Geradezu gegenläufig wird offenbar im Institut des Fürstenzweikampfes die Person des Königs imaginär erhöht.51 Dass diese Vorstellung auf ältere Zeiten zurückgeht, bestätigt schon Otfrid von Weißenburg. Er nutzt zur Profilierung seiner evangelischen Botschaft das feudale Ideologem: Wenn Könige der Welt um ihrer Krieger willen sterben, in wie gewaltigem Kampf auch immer heldenhaft untergehen, so werden die in Verwirrung gestürzt und geben den Kampf auf, die ihnen in dieser Not folgten; und sie fallen leicht vor ihren Feinden, fallen in ihre Hände, fallen durch ihre Speere und Schwerter.52
Otfrid spricht eine Situation an, welche die Epen voraus-, aber nicht ins Bild setzen: die mögliche Niederlage des Königs. Wolfgang Haubrichs hat auf die christliche Alternative verwiesen, die Otfrids feudalem Exkurs explizit gegenübersteht: Der Opfertod Christi zieht das Heil des Volkes nach sich.53 Das Christentum formuliert seine neutestamentliche Ethik in direkter Anlehnung an die feudale Kriegsethik und bezieht aus ihrer Inversion seinen ideologischen Mehrwert.
|| 49 „Miseri, post mortem regis vestri ut quid pugnatis?“ Historia de preliis. In: Die Quellen zum Alexander des Rudolf von Ems. Im Anhange: Historia de preliis. Hrsg. von Oswald Zingerle. Breslau 1885, S. 127–265, hier III,89, S. 214, künftig: Historia de preliis. 50 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, S. 64–97. 51 Nach der Fürstenlehre Ulrichs von Etzenbach hat der Herrscher immer in vorderster Front zu kämpfen (Ulrichs Alexander, V. 1531f.). 52 Thanne wóroltkuninga stérbent bi iro thégena, / in wíge iogilícho dowent théganlicho: / So sint se álle gírrit, thes wíges gimérrit, / ther in thera nóti thar imo fólgeti; / Joh fállent sie ginóton fora iro fíanton, / úntar iro hánton spéron joh mit suérton. Otfrids Evangelienbuch. Hrsg. von Oskar Erdmann. 6. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1973, III,26,39–44, die Übersetzung in: Haubrichs (Anm. 3), S. 26f. 53 Haubrichs (Anm. 3), S. 26f.
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4 Kulturelle Differenzierung: Christ-Heide – Mensch-Tier Im Zweikampf kollidiert das Recht des physisch Stärkeren mit dem alten Rechtsgrundsatz, dass das Recht den Schwächeren zu schützen habe.54 In einer Zeit, in der der Schwache der überlegenen Gewalt anheim zu fallen droht, bedarf es einer besonderen Schutzinstanz. Für die christlich orientierten literarischen Entwürfe des Mittelalters gibt es zwei verschiedene Optionen. Die eine Lösung besteht in der Ethisierung des Stärksten: Der Stärkste ist auch der Repräsentant des Guten. Heldenepik und höfischer Roman gehen diesen Weg und lassen sich so einem tief verwurzelten Gerechtigkeitsempfinden zuordnen. Das andere Modell basiert auf dem Gedanken, dass auch der Schwächere zu seinem Recht gelangen kann, etwa im Gottesurteil. Sichtbar wird hier die feudale Schutzverpflichtung mit einem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit harmonisiert und gegen die Logik der Ehre in Stellung gebracht, die den Stärksten prämiert und eigenmächtig Recht setzt. Die Spannung zwischen physischer Herrschaftslegitimation und Verantwortungsethik wird in den Texten auf ganz unterschiedlichen Ebenen durchgespielt. Mit dem Rolandslied des Pfaffen Konrad und dem Alexanderroman Lambrechts entstehen um 1170 Kriegsepen, die einen entscheidenden Konflikt im Zweikampf lösen oder nachträglich aufarbeiten. Der eine lässt sich auf eine christliche, der andere auf eine antike Struktur zurückführen, und beide relativieren auf je eigene Art das Recht des physisch Stärksten. Während im Rolandslied Christen gegen Heiden kämpfen, ziehen im Alexanderroman Griechen gegen Barbaren. Zu den Stereotypen der Zweikampfschilderungen gehört, dass die Positionen der Kämpfer in der Regel nicht gleich besetzt sind. So stehen sich Heiden und Christen nicht gleichberechtigt gegenüber. Der sprachlichen Opposition liegt eine wertmäßige zugrunde, wenn das Heil aufseiten der Christen und die Verdammnis aufseiten der Heiden vorgegeben sind. Der Gegensatz konstituiert sich über eine asymmetrische Begrifflichkeit.55 Mithilfe solcher Begriffe formuliert eine jede Gesellschaft Bilder des Eigenen und des Fremden. Diese unterliegen dem historischen Wandel, erfüllen aber immer dieselbe Funktion der Identitätsstiftung nach innen und der Abgrenzung nach außen: Christ-Heide, Grieche-Barbar, Mensch-Unmensch.56 Der Zweikampf lädt geradezu zur narrativen Umsetzung paradigmatischer Oppositionen und ihrer Überkodierung ein. Er liefert damit ein Strukturmuster, über das komplexe kulturelle Konflikte ausgetragen werden können. Im Aktantenschema des Zau-
|| 54 Holzhauer (Anm. 4), S. 263. 55 Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 211–259. 56 Ebd., S. 212f.
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bermärchens steht überdies ein Erzählmodell zur Verfügung, das sich über binäre Oppositionen aufbaut und das mit variablen thematischen Konstellationen besetzt werden kann.57 In jedem Fall ist das Ergebnis einer solchen Schematisierung nicht Abbild einer realen Erfahrung, sondern primär ein Effekt diskursiver Strategien, mithin ein symbolisches Produkt. Die polemische Verwendung asymmetrischer Gegenbegriffe ist eben nicht nur Indikator für Fremdauffassungen, sondern mehr noch deren Faktor.58 An die Stelle einer konkreten Auseinandersetzung mit dem Fremden, die komplizierte Formen der Kommunikation und der Erfahrungsbildung nach sich ziehen würde, tritt die Evidenz eines ideologischen Musters, in dem die Wertigkeiten vorab verteilt sind. Im Rolandslied wird um 1170 im Kreuzzugskontext sowohl das Recht des Stärkeren wie das des Schwächeren ins Bild gesetzt. Beide Modelle kommen in der Schlacht und vor Gericht zur Geltung. In einer weit ausgreifenden Serie von Zweikämpfen in der Schlacht behaupten sich die christlichen Fürsten zunächst leicht gegen ihre heidnischen Gegner. Weit mehr als um Kampfbeschreibungen handelt es sich hier um Rededuelle, welche die weltanschauliche Asymmetrie zusätzlich im Redeagon diskursivieren. Im Namen des Glaubens setzt sich heroischer Habitus überlegen durch. Auch Roland repräsentiert zunächst dieses Ideal des klassischen Heros, doch unterliegt er schließlich dem Ansturm der heidnischen Heerscharen. Im Transfer des Märtyrermodells auf den Adel, im Opfertod, triumphiert aber hier noch der ‚Schwächere‘ über die Sieger.59 Im Fürstenzweikampf zwischen Karl und Paligan gewinnt der christliche Kaiser nur durch direkten Beistand Gottes. Das Verhältnis beider ist als lehnsrechtliches entworfen, indem der Lehnsherr gegenüber seinem Vasallen seine Pflicht erfüllt: ‚Da wollte Gott / seinen lieben Diener auf die Probe stellen‘60, heißt es über Karl. Das Modell des Fürstenzweikampfs wird umbesetzt und in einen übergeordneten metaphysischen Kontext verschoben.61 Das Rolandslied endet schließlich mit dem Prozess gegen den Verräter Genelun, der trotz seiner offensichtlichen Schuld gemäß mittelalterlichem Recht noch einen Zweikampf zugesprochen erhält. Rechtsförmig werden Stellvertreter bestellt, auf || 57 Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. In Zusammenarbeit mit Jean Frappier, Hans Ulrich Gumbrecht, Ulrich Mölk, Daniel Poirion und Aurelio Roncaglia hrsg. von Hans Robert Jauß, Erich Köhler. Bd. IV: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Teil 1: (Partie historique). Heidelberg 1978, S. 25–59, hier S. 30–33. 58 Koselleck (Anm. 55), S. 212. 59 G[ottfried] Baist: Der gerichtliche Zweikampf nach seinem Ursprung und im Rolandslied. Erlangen 1890; Marianne Ott-Meimberg: Kreuzzugsepos oder Staatsroman? Strukturen adeliger Heilsversicherung im deutschen Rolandslied. Zürich/München 1980, S. 235–239 u. 245–255. 60 dâ wollte got ersichern / den sînen lieben dienstman (Rolandslied, V. 8446f.). 61 V. 8439–8565. Paligan wird dagegen vom Teufel unterstützt: ‚Da faßte der Teufel noch einmal Fuß / und schlug auch ihm den Schild entzwei‘ (dô erhalt sich der valant. / er zehiu ouch im des schiltes rant, V. 8457f.).
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kaiserlicher Seite der junge Tirrich, auf Geneluns der kräftige Binabel (Rolandslied, V. 8785–8992). In der Asymmetrie der Kräfte wird noch einmal das generelle Kräfteverhältnis von Christen und Heiden sichtbar. Der Kampf selbst verläuft zwar zunächst auch erwartungsgemäß, sodass Tirrich gegen die Übermacht Binabels zu unterliegen droht, doch aufgrund von Gebet und kollektiver Fürbitte kehrt sich der Kampfverlauf um. Wirksam wird das biblische Muster von David und Goliath, das bekanntlich die archaische Rechtspraxis mit einem christlichen Gerechtigkeitsanspruch harmonisiert. Gerechtigkeit ist metaphysisch verankert, eine dritte Instanz garantiert das Recht der Christen: in der imitatio des Märtyrermodells, in der Stellvertretung Gottes im Fürstenzweikampf und in der (Halb-)Typologie des DavidGoliath-Musters. Das Rolandslied rekurriert auf drei verschiedene Muster feudaler Identitätsstiftung – den todesmutigen Heros, den Körper des Königs, das Recht des Stärkeren –, besetzt sie aber nach Maßgabe seines Symbolsystems um und verschafft damit dem christlichen Standpunkt des Schwächeren Geltung. Die symbolische Ordnung stellt also ganz unterschiedliche Muster zur Verfügung – ideologische Asymmetrie, biblische Typologie, soziale Konstellationen und politische Phantasmen –, die je nach Bedarf kombiniert und hierarchisiert werden können.
Abb. 4: David gegen Goliath, Stuttgarter Psalter (9. Jahrhundert). Stuttgart, WLB, Cod. Bibl. fol. 23, fol. 158v
Der Gedanke der Stellvertretung wird in der historischen Auseinandersetzung zwischen dem byzantinischen Kaiser Heraclius und dem persischen Kaiser Cosdras weiter entfaltet, die in mittelalterlichen Darstellungen in einen Zweikampf mündet.
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Im Pseudo-Fredegar, in der Legenda aurea, in der Kaiserchronik und in Ottes Eraclius folgt der Zweikampf dabei durchaus unterschiedlichen Ordnungen. Bei Fredegar handelt es sich noch um einen primär politischen Konflikt.62 Erst die Legendenversionen weiten ihn zu einem heilsgeschichtlichen zwischen christlich-römischem und heidnisch-persischem Reich. Der politische Konflikt wird in eine asymmetrische Struktur verschoben. Cosdras wird als Kreuzesräuber und Pseudo-Gott ins Bild gesetzt.63 Wenn er auch noch seinen Sohn in den Kampf gegen Heraclius als den Abgesandten Gottes schickt, verlagert sich der Konflikt auf die Ebene legitimer und illegitimer Stellvertretung.64 Je nach Rezeptionskontext aber wird der Status des Zweikampfes unterschiedlich akzentuiert. Die Legenda aurea ist primär an der theologischen Konstellation der Stellvertretung interessiert und geht daher nur kurz auf den Kampfverlauf selbst ein: ‚Der Kampf währte lange Zeit, doch gab Gott dem Eraclius den Sieg, sodass er das feindliche Heer ganz in seine Gewalt brachte‘.65 Die theologische Perspektive setzt sich noch stärker durch, wenn es in der Kaiserchronik schon gar nicht mehr zu einem richtigen Zweikampf kommt.66 Hier wird zwar nach der siegreichen Schlacht ein Zweikampf verabredet, in dem nun Heraclius ermitteln will, ‚was Gott über ihn verhängen wollte‘.67 Offenbar muss der Sieg in einem juristischen Verfahren nachgearbeitet werden. Doch als der herausgeforderte Sohn des Cosdras sich weigert, die Taufe zu empfangen, reagiert Heraclius unmittelbar: Das verdross den König, er zog das Schwert und schlug ihm sogleich den Kopf ab, dazu half ihm mein Herr selbst.68
|| 62 Statt zur Schlacht kommt es zur Verabredung eines Zweikampfs als Gottesurteil. Eraclius wird getäuscht, da Cosdras stellvertretend heimlich einen starken Kämpfer schickt, der aber seinerseits einer List des Eraclius zum Opfer fällt. Das Gottesurteil wird sichtbar rationalisiert. Vgl. Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar. In: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Unter der Leitung von Herwig Wolfram neu übertragen von Andreas Kusternig. Darmstadt 1982 (FSGA. 4a), S. 44–325, hier IV,64, S. 228–231. 63 Er thront in trinitarischer Pose unter einem künstlichen Himmel: links das geraubte Kreuz, rechts einen Hahn loco spiritus sancti: eine offensichtliche Karikatur der Trinität. Jacobus a Voragine: Legenda aurea vulgo historia lombardica dicta. Hrsg. von Theodor Graesse. 2. Aufl. Leipzig 1850, c. CXXXVII, S. 605–611, hier S. 606, künftig: Legenda aurea. 64 Ohly (Anm. 45), S. 180–188. 65 Ambobus igitur in conflictu durantibus, Eraclio victoriam dominus contulit et contrarium exercitum suo imperio subjugavit (Legenda aurea, cap. CXXXVII, S. 606). 66 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder (MGH A,1). 2. Aufl. Berlin/Zürich 1964, V. 11263–11265, künftig: Kaiserchronik. 67 swes got uber in verhengen wolte (V. 11271). 68 Daz wart dem chunige unwert: / ûz zuct er daz swert, / vil sciere sluoc er im ab den hals sîn; / und half im selbe mîn trehtîn (V. 11292–11295).
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Ganz im Sinne der Konzeption der Kaiserchronik ist der Zweikampf kein Entscheidungsfindungsverfahren im feudalen Verständnis. Es ist die Situation des Gerichts, die hier als Reflex des himmlischen Gerichts dient und gänzlich die Funktion des Zweikampfes als Kampfwette absorbiert. Der Herrscher wird in Stellvertretung Gottes weniger zum Kämpfer als zum Richter. Dass aber auch feudale Muster ihrerseits die Legendenstruktur usurpieren können, zeigt Otte in seiner Bearbeitung des Stoffs.69 Er setzt einen veritablen Zweikampf in Szene und inszeniert in über 300 Versen die Schauseite der höfischen Kampfkultur. Zwar legt Otte Wert auf eine asymmetrische Kontrastierung der Kämpfer, wenn in Cosdras Heer vor dem Kampf ausgiebig gefeiert wird, Cosdras überdies frühzeitig schlafen geht, während Eraclius wacht, betet und die Messe feiert. Auch kämpfen die Kontrahenten unter entgegengesetzten heraldischen Zeichen (Löwe/Adler-Kreuz). Doch verschiebt sich die ideologische Asymmetrie: Während Cosdras den herausgehobenen Selbstwert des Adeligen (übermuot) verkörpert, der nur auf seine eigenen Kräfte vertraut, vertritt Eraclius den Typus des miles christianus, der für einen höheren Zweck eintritt. Doch schon in der extensiven Beschreibung der Bewaffnung überschreitet die Darstellung die legendarische Funktion. Ausführlich wird die höfische Waffentechnik vor Augen geführt, werden Hose, Halsberg, Kettenhemd, Waffenrock, Fahne, Schwert, Sporen, Helm, Schild und Speer präsentiert. Der Kampf dauert lange, und die weltanschauliche Asymmetrie – Streiter Gottes versus Teufelsbündler – muss zwischenzeitlich wieder in Erinnerung gerufen werden, da sie gegenüber der Begeisterung für das Kampfgeschehen – ‚Schau, wie sie zuschlugen‘70 – aus dem Blick zu geraten droht. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei beiden Kämpfern um Repräsentanten einer Adelskultur: ‚Denn sie waren beide Helden‘.71 Der Kampf endet dann aber mit dem bekannten, von Gott unterstützten Sieg des Eraclius. Nach dem langen Exkurs in die feudale Kampfkultur kehrt die Erzählung zurück in das Handlungsmuster der Legende. Der Text schleift die traditionelle Asymmetrie Christ-Heide ein und besetzt sie zu einem innerfeudalen Konflikt um. Verschiedene Besetzungsoptionen können also in Spannung geraten und sich auf komplexe Art überlagern. Das ‚Recht des Stärkeren‘ und seine Problematik werden stereotyp durch eine physische Asymmetrie, durch den Gegensatz von groß/ stark und klein/schwächer repräsentiert, dem indes durch die werthafte Opposition von Christen und Heiden gegengesteuert wird. In diese Spannung kann mit der Gleichartigkeit der heroischen oder höfischen Kämpfer zugleich eine Symmetrie der
|| 69 Otte: Eraclius. Hrsg. von Winfried Frey. Göppingen 1983, Hs. A, V. 4816–5142, künftig: Eraclius. Vgl. Edith Feistner: Ottes Eraclius vor dem Hintergrund der französischen Quellen. Göppingen 1987, S. 180–185. 70 Warta wie sie slugen (Eraclius, V. 5227). 71 Wan sie bede helde waren (V. 5223).
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Gegner eingezogen werden, sodass in ein und demselben Zweikampf gegenläufige kulturelle Muster rivalisieren. Der Gegensatz von Christen und Heiden bildet wohl die zentrale kulturelle Asymmetrie, die auch zu begrifflicher Artikulation gelangt. Daneben stehen aber weitere Oppositionen, die ebenso die Struktur des Zweikampfes besetzen können, sich indes nicht im gleichen Maße begrifflich verfestigen: der Gegensatz etwa von zivilisiert (zam) und wild wie der von eigen und fremd, moralisch derjenige von Recht und Unrecht, Gut und Böse. Feudales Selbstverständnis kann sich über solche Oppositionen definieren. So knüpft der Prosalancelot die Entstehung des Rittertums an das Aufkommen von Tyrannei, und das Heldenbuch bindet die Existenz der Heroen an das Auftreten ordnungsstörender Riesen.72 Ritter und Heroen werden hier gleichermaßen als Repräsentanten ethischer Orientierung präsentiert, zum einen in einem kulturellen, zum anderen in einem juristischen Zusammenhang. Der höfische Ritter ist immer auch Kulturheros, er befreit bedrohte Länder von Monstern und Riesen, deren Gewalt sie hilflos ausgeliefert sind. Ein über ihm waltendes Geschick, nicht nur der Erzählordnung und ihrer thematischen Besetzungen, leitet den Ritter zielsicher auf seinem Aventiureweg. Gegen die kontingente Gewalt der Natur wird die feudale Gewalt als Ordnungsinstanz aufgeboten. Während die Rezeption der antiken Epen nur noch latent die Erinnerung an die Mythen vom Kulturheros transportiert (Herakles, Alexander), gestalten die höfischen Epen das Motiv wiederholt als Drachenkampf. Ins Bild gesetzt wird die Selbstbehauptung gegen die blinde Gewalt der Natur. Wilde wird zur Chiffre einer Gegenwelt, die es im Medium des Kampfes zu überwinden, aber auch anzueignen gilt. Wenn die Feudalkultur im Zweikampf den Stärksten prämiert, wird ,das Stärkste‘ zum faszinierenden Gegenstand der Imagination und zur ultimativen Herausforderung:73 Tristan befreit Irland aus den Zwängen eines Drachen, Wigalois das Land Korntin, Wolfdietrich besiegt die Drachen in Lamparten, Iwein rettet den Löwen, und Siegfried badet gar im Drachenblut. In Konrads von Würzburg Roman Partonopier und Meliur hat sich am
|| 72 Nach dem Prosalancelot leitet sich der Ursprung der Ritterschaft aus eskalierender Gewalt ab, und das Rittertum imaginiert sich einen ethisch begründeten Ursprung: ‚Als die schwachen Menschen sich vor den Starken nicht retten konnten, einigten sie sich darauf, den Schwachen Richter und Beschützer zu geben‘ (Da da kranck lút nicht kunden genesen vor den starcken, da machten sie under yn das man den krancken und den armen solt geben riechtere und schirmer. Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 hrsg. von Reinhold Kluge. Bd. 1. Berlin 1948, S. 120). Ähnlich: Das Deutsche Heldenbuch. Nach dem mutmaßlich ältesten Drucke neu hrsg. von Adalbert von Keller. ND Hildesheim 1966, S. 2, künftig: Heldenbuch; vgl. Hans Fromm: Riesen und Recken. In: DVjS 60 (1986), S. 42–59, hier S. 44. 73 In psychoanalytischer Diktion wäre es in die Formel ‚Es‘ lebt zu fassen. Das Motiv reicht vom Gilgamesch-Epos, in dem Gilgamesch und Enkidu gegen das Monster Chumbaba kämpfen, über den Beowulf, dessen Held gegen Grendel antritt, bis hin zu den Aliens des zeitgenössischen Genrefilms.
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Ende Anselm gegen einen wilden Bären zu behaupten, der das Reich verheert und von dem es heißt: zu keinen Zeiten war von einem derart wilden Tier gehört geworden, wie von diesem wilden Teufel, dem viele Menschen zum Opfer fielen.74
Wilde Tiere repräsentieren einen Grenzwert ritterlicher Bewährung. Auf sie trifft der Protagonist aber nicht nur in der Aventiurewelt des Waldes, sondern sie werden auch in der ‚zivilisierten‘ Welt der Burgen und Höfe als Opponenten im Zweikampf aufgeboten: ‚Wie ein großer Kämpfer / ging er gegen das Tier vor‘75, heißt es von Gawein in der Crône, in der sich der arthurische Musterritter wiederholt im Kampf gegen Drachen und Löwen bewähren muss. Der Sieg über das Wilde ist dem Ritter stets gewiss: Gawein ‚überwältigte kraftvoll / dieses wilde Tier‘.76 Der Ritter bleibt dabei in der Regel auf technische, magische und providenzielle Hilfe angewiesen. Mit dem Sieg über das Tier ist aber immer auch der Triumph des kulturellen Selbstverständnisses verbunden: die Befreiung der Gemeinschaft und die Bannung irrationaler Gewalt. Neben dem Tier sind Riesen Repräsentanten des Wilden und verkörpern eine Zerrform menschlichen Daseins. Schon die klassischen Artushelden Erec und Iwein befreien bedrohte Standesgenossen aus der Gewalt von Riesen.77 Diese entführen Ritter und Jungfrauen, stellen Zinsforderungen und verheeren die Landschaft. Sie verkörpern in ihrer Exorbitanz maßlose Gewalt und mit ihren unritterlichen Waffen – Keulen, Stangen oder Bäumen – die Gegenwelt der höfischen Kultur, das ‚Andere‘ der Zivilisation. In ihrer Monstrosität vertrauen die Riesen allein auf ihre Kraft, unterliegen aber stets der höheren Waffen- und Kampftechnik des Rittertums. Iwein greift den Riesen Herpin an: ‚Und sein Geschick / und seine Kraft und sein Mut verhalfen ihm dazu‘.78 Nach der Einleitung zum Heldenbuch leitet sich die Existenz der Heroen aus der urgeschichtlichen Notwendigkeit ab, die von Riesen und Tieren bedrohten Zwerge zu schützen: ‚Und deshalb sollten sie den Zwergen zu Hilfe kom-
|| 74 ez würde in keinen zîten / so rehte grimmez tier erkant, / sô dirre wilde vâlant, / der liutes hete vil verlorn. Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1871, V. 18178–18181. 75 Als ein tiurer wîgant / Gienc er gein dem tiere (Crône, V. 20913f.). 76 so krefteclîchen überwac / An disem tiere wilde (V. 20934f.). 77 Vgl. Mireille Schnyder: Erzählte Gewalt und die Gewalt des Erzählens. Gewalt im deutschen höfischen Roman. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 365–380. 78 unde gestiurt in des sîn sin / sîn kraft und sîn manheit (Iwein, V. 5042f.).
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men gegen die treulosen Riesen und wilden Tiere‘.79 In ihrem Aussehen und Verhalten haben die Riesen Teil am Animalischen und sind asymmetrischer Gegenpol zum Begriff des Menschen, der mit dem Ritter gleichgesetzt wird. Die Asymmetrie von Ritter und Riese kann in der Auseinandersetzung um den Status des Heroischen eingeebnet werden. In diesem Fall ersetzt die Figur des Heros die des Riesen oder fällt mit ihr zusammen. Das Eckenlied ist ein eindrucksvolles Beispiel solcher Überblendung.80 Erzählt wird die Geschichte der Konfrontation von Heroen, und Herausforderungen, Zweikämpfe und deren Folgen prägen den gesamten Erzählaufbau.81 Der Text, der zu weiten Teilen aus Dialogen besteht, erörtert geradezu diskursiv das Problem feudaler Statusrivalität und die fatale Dynamik der Ehrakkumulation, die offenbar nur im Sieg über den Besten zur Ruhe kommen kann. Ein einleitendes Heldengespräch kreist um die Frage des höchsten Ruhms, der Dietrich von Bern zugesprochen wird: ‚dieser sei der berühmteste aller Helden‘.82 Der Held Ecke erträgt den Ruhm des Dietrich von Bern nicht und lässt sich von der Königin Seburg darin bestärken, ihn herauszufordern. Soziale Geltung beruht auf heroischer Bewährung: nach ihm werde ich die Lande durchstreifen. Ich muss ihn finden und mich im Kampf mit ihm messen.83
Eine solche Herausforderung, die außer der Frage der Ehre keinen tieferen Grund besitzt, folgt dem gleichen Maßstab wie das Aventiureethos des höfischen Ritters: ‚So ist nun meine größte Sorge, daß / ich niemanden mehr finde, um mich mit ihm zu messen‘.84 Die Logik der Überbietung und der Akkumulation, der die ‚Ökonomie der Ehre‘ unterliegt, erwächst aus den innersten Regeln der feudalen Gewaltkultur:
|| 79 Vnd darumb soltent sie den zwergen zuo hilff kumen wyder die vngetrüwen risen, vnd wider diu wilden tier (Heldenbuch, S. 2); vgl. Fromm (Anm. 72), S. 44. 80 Das Eckenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von Francis B. Brévart. Stuttgart 1986, künftig: Eckenlied. Vgl. Hartmut Bleumer: Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des Eckenliedes. In: ZfdA 129 (2000), S. 125–153; Francis B. Brévart: Der Männervergleich im Eckenlied. In: ZfdPh 103 (1984), S. 394–406. 81 Die Erzählung basiert auf dem ‚Handlungsschema der Herausforderung‘, das als gattungskonstitutiv für die Dietrichepik bezeichnet worden ist. Es läuft auf die heroische Bewährungstat, läuft auf den Zweikampf zu und demonstriert noch einmal, dass das Prinzip der Agonalität ganze Erzählmuster usurpieren kann. Dazu Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München/Zürich 1978, S. 186 u. 236–242. 82 der waͤr ain helt úber allú lant (Eckenlied, Str. 2,11); vgl. Brévart (Anm. 80). 83 nach im erstrich ich / dú lant. ich ms in vinden / und striteclich im bi gestan (Eckenlied, Str. 3,9–11). 84 doch ist min groͤstú swaͤre, das / ich niht ze fehten han (Str. 15,12f.).
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Der Sieger setzt stets wieder den Mechanismus der Herausforderung in Gang, wird seinerseits zum Objekt kriegerischen Ehrgeizes. Das Eckenlied erzählt ausführlich von dem Zweikampf zwischen dem riesenhaften Heros Ecke und dem Vorbild ritterlicher Ethik Dietrich. Die Zweikampfkonstellation setzt im Entwurf der Kämpfer auf den ersten Blick eine Asymmetrie von Wildheit und Zivilisiertheit voraus: wilde und zuht/maze. Den Riesen Ecke vermag aufgrund seiner exorbitanten Größe kein Pferd zu tragen, sodass ritterlicher Habitus an seiner Statur scheitert; und nicht weniger an seiner Affektdisposition: ‚Er war so besessen (wilde), daß er / nicht darauf achtete, wo er hintrat‘.85 Wenn Ecke auf seinem Weg zu Dietrich einen Waffen tragenden Kentauren überwinden muss, wird er einem Zerrbild der Natur konfrontiert, das sein eigenes körperliches Defizit nur umso mehr hervorhebt.86 Der Heros Ecke bleibt physisch, psychisch und auch genealogisch der Sphäre der wilden Riesen verhaftet. Und doch repräsentiert er nur zum Teil exorbitante Gewalt, ist die Relation keine rein asymmetrische mehr. Ecke verkörpert nicht das ‚Andere‘ der Zivilisation wie die zahllosen Riesen der höfischen Literatur. Er ist selbst Teil der feudalen Ordnung, wie am Heldengespräch hör- und an seiner berühmten Rüstung sichtbar wird. Ecke erhält von der Königin Seburg die unzerstörbare Rüstung Ortnits, erscheint mithin in ritterlicher Kleidung. Umgekehrt partizipiert der Musterritter Dietrich über seine ausgezeichnete Körperlichkeit – Löwenbrust und Löwenmut – seinerseits an der Sphäre heroischer Exorbitanz. Das Eckenlied irritiert das Schema von Wildheit und Zivilisiertheit, das in der Welt der Aventiure so selbstgewiss ausgespielt werden kann, und demonstriert, dass Zweikämpfe immer auch Versuchsanordnungen darstellen, die kulturelle Muster reflektieren. Aufeinander treffen hier zwei gleichberechtigte Kämpfer: ‚Ich vermute, daß es nicht mehr so schnell / einen so harten Kampf zwischen zwei Helden geben wird‘.87 Entsprechend verschiebt sich auch die Asymmetrie Christ-Heide, die die Kreuzzugsliteratur steuert, auf eine der feudalen Werteordnung selbst. Wenn Ecke trotzig auf Gottes Beistand verzichtet, ist das Ausdruck der Kirchenfeindlichkeit weiter Kreise des Kriegeradels. Wechselseitig beschuldigen sich die Kämpfer, mit dem Teufel im Bund zu stehen, der Erzähler selbst enthält sich einer Bewertung.88 Indem der Heros zum exorbitanten Gegenspieler des Ritters wird, legt das Eckenlied
|| 85 er moht von rehter wilde / zen fuͤsen niht gesehen (Str. 41,12f.). 86 Str. 52,1–54,13; dazu Dietmar Peschel-Rentsch: Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein eines Ritters. In: ders.: Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen/Jena 1998, S. 12–47, hier S. 24; Georges Zink: Eckes Kampf mit dem Meerwunder. Zu Eckenlied L 52–54. In: Mediævalia litteraria. Fs. Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Hennig, Herbert Kolb. München 1971, S. 485–492. 87 ich waͤn, iht schiere werde / von zwain herren so herter strit (Eckenlied, Str. 126,6f.). 88 ‚Er ist das Verderben der Welt‘ (erst al der welte schúre, Str. 112,12) – mit diesen Worten ruft Dietrich Gott um Hilfe an. Ecke seinerseits spricht: ‚Der Teufel steckt in dir, / er kämpft in deiner Gestalt‘ (der tiefel ist in dir gehaft, / der fiht us dinem libe, Str. 123,9f.).
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Zeugnis ab von der Verfügbarkeit kultureller Asymmetrien und von ihrer Transformation auf das eigene soziale Stratum. Sie werden indes nur anzitiert, angespielt, ohne als solche noch zu greifen. Der heroischen Gewaltdynamik Eckes wird mit Dietrich ein Heldentypus konfrontiert, der sichtbar konträr angelegt ist. Der berühmteste Ritter teilt offenbar nicht mehr das heroische Kampfethos. Wenn Dietrich sich weigert, die Herausforderung zum Zweikampf anzunehmen, bezeichnet das weniger Feigheit als den Umstand, dass eine selbstlaufende heroische Aggression in ihre Grenzen verwiesen wird:89 Gewaltartikulation bedarf des zureichenden Grundes. Und doch kann Dietrich der Herausforderung nicht entgehen, will er selbst keine Einbuße an Ehre erleiden. Inwieweit der Zweikampf das Paradox feudaler Ehrakkumulation bezeichnet, wird darin sichtbar, dass die einander Bekämpfenden höchste Achtung füreinander entwickeln: ‚Gott ist mein Zeuge, daß ich dir dein Leben / äußerst widerwillig nehmen möchte‘90, klagt Dietrich. Alle Asymmetrien des Körpers und der Ethik treten letztlich hinter diesem gemeinsamen Kodex des ritterlichen Gewaltethos zurück. Das Eckenlied reflektiert die topische Zweikampfkonstellation, indem es sie mehrfach invertiert. Die Geschichte seiner Rüstung und die Stationen seiner Reise konfrontieren Ecke schon mit warnenden Zeichen, ohne dass er sie zu deuten versteht.91 Das Ethos der Herausforderung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der prototypische Held trifft auf einen exorbitanten Heros, der eine undurchdringliche Rüstung trägt, sodass der Zweikampf auf einen Grenzfall zugespitzt, zum narrativen Kasus wird. In paradoxer Umkehrung kämpft der Riese Ecke zwar überlegen, solange Dietrich unverletzt ist, doch als dieser verwundet wird und blutet, kehrt sich der Kampfverlauf um: In diesem Augenblick wurde der furchtlose Dietrich mutig wie ein Löwe. So verstärkte sich da seine Kraft.92
Heroische Überlegenheit speist sich aus innerer Beherztheit (zorn), nicht aus körperlicher Größe. Der Rekurs auf das Bild vom zornigen Löwen verweist auf den Geltungsanspruch der Ebene der Physis, auf der die Entscheidung dann fällt.93 Wäh-
|| 89 Jens Haustein: Die zagheit Dietrichs von Bern. In: Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser. Heidelberg 1998, S. 47–62. 90 got wais wol, das ich dir din leben / hie gar ungerne wende (Eckenlied, Str. 137,7f.). 91 Bleumer (Anm. 80), S. 142–145. 92 do hat her Dietherich unerforht / ains lwen můt gewunnen. / alsus do merte sich sin maht (Eckenlied, Str. 120,9–11). 93 In Strickers Karl heißt es: ‚ihr Kampfwille wurde sichtbar, / wie man am ergrimmten Löwen sieht, / wenn ihn der Zorn erfasst‘ (man sach ir willen schînen, / sô man des grimmen lewen tuot, / als im ergrimmet wirt der muot. Karl der Große von dem Stricker. Hrsg von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Berlin 1965, V. 5120–5122).
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rend die undurchdringliche Rüstung Eckes den Sinn des Zweikampfs infrage zu stellen scheint, stellt sich die Entscheidung – jenseits der Technik – in der direkten körperlichen Konfrontation, im Ringkampf, her. Auch wenn die Figuren andere Instanzen anführen (Gott, Minne, List), entscheidet in diesem Heroenkampf letztlich die überlegene körperliche Gewalt. Eine friedliche Lösung entfällt: Obwohl der überlegene Dietrich seinem Gegner einen ehrenhaften Frieden anbietet, provoziert Ecke weiterhin, sodass Dietrich ihn durch den Waffenrock hindurch ersticht. Nach seinem Sieg hebt Dietrich dann zu einer langen Klagerede an, einen derart trefflichen Helden erschlagen zu haben. So wie im Heldengespräch am Anfang der Herausforderung Ehre zentrales Thema war, so kreist Dietrichs abschließende Klage um den Verlust von Ehre: Was hab ich nun durch diesen Kampf an Ansehen eingebüßt, das ich im Laufe meines Lebens erworben hatte.94
Damit partizipiert Dietrich weiter an der ‚Logik der Ehre‘, wenn er vornehmlich den Makel fürchtet, den die Tötung Eckes beinhalten kann: Ecke wurde im Ringkampf erstochen und nicht erschlagen, zudem ohne Zeugen: Wenn mir nur geglaubt würde, daß ich dich nicht schlafend antraf, als ich dir diese Wunden zufügte, dann würde ich, Glücklicher, weit berühmt.95
|| 94 was hat min hant an mir verlorn / mit strite al die ere, / die ich bejagt in minen tagen! (Eckenlied, Str. 143,9–11). Auch: ‚Mein Sieg sowie dein junger Tod / machen mich ganz rot vor Scham. Ich darf mich mit keinem (mehr) vergleichen, / der in vollem Ansehen lebt‘ (min sig und ch din junger tot / machent mich dike schame rot. / ich darf mich nút gelichen / ze kainem, der mit eren gar / lebt, Str. 141,4–8). 95 „der nu des gelbte, / das ich dich slaffent niht envant, / do ich dir stach die wunden, / so wurd ich slik gar bekannt“ (Str. 148,6–9).
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Abb. 5: Alexander gegen Porus, Historia de preliis (Ende 13. Jahrhundert). Leipzig, UB, Cod. Rep. II. 143, fol. 68r
Noch im positiven Gegenbild zum exorbitanten Heros Ecke streiten gegenläufige Konfigurationen der symbolischen Ordnung. Das Eckenlied legt in Handlungsführung und gleichzeitiger Diskursivierung nachdrücklich Zeugnis davon ab, dass der Zweikampf als rhetorischer Topos fungiert, an dem das Problem der Gewalt und ihrer sozialen Einbindung verhandelt wird.
5 Varianz und Kulturmuster: Alexander gegen Porus Die Annäherung des Opponenten an die Sphäre des Animalischen erfolgt auch dort, wo die antike ethnographische Tradition hineinspielt: so im Zweikampf zwischen Alexander und Porus. Eine der frühesten Adaptationen stammt vom Archipresbyter Leo. Nach verlustreicher Schlacht verabreden auch hier die beiden Fürsten einen Zweikampf, auf ‚dass der König selbst seine Tugend‘96 zeige. Aus politischem Ver|| 96 ut per semet ipsum rex ostendat virtutem suam. Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo. Untersucht und hrsg. von Friedrich Pfister. Heidelberg 1913, III,4, S. 105, künftig: Leos Alexanderroman.
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antwortungsgefühl schlägt Alexander dem Porus einen Zweikampf vor, den dieser im Bewusstsein seiner überlegenen körperlichen Größe annimmt. Nachdem sich die Kämpfer vor ihren versammelten Heeren aufgestellt haben und zu kämpfen beginnen, geraten die Soldaten des Porus in Unruhe, woraufhin dieser ihnen seinen Blick zuwendet. Die Gelegenheit nutzend, springt Alexander rasch auf Porus zu und tötet ihn. Aufgrund einer Unaufmerksamkeit des Gegners kann Alexander den Kampf schnell beenden, von dem die antike Tradition immerhin behauptet, er habe lange unentschieden gestanden.97 Auch hier scheint der mittelalterliche Gelehrte nicht am Kampfverlauf interessiert zu sein. In der antiken Tradition steht der Zweikampf sichtbar im Zusammenhang der Barbarendiskussion. Dabei wird der kulturelle Gegensatz auf einen natürlichen zurückgeführt, wenn das Verhältnis der Griechen zum Fremden auf die Asymmetrie von Mensch und Tier bezogen wird. Der Schlacht und dem Kampf gehen einige provozierende Briefe voraus, gewissermaßen die verschriftete Form der Reizrede. Alexander vergleicht dort die Barbaren mit Tieren, die nur auf ihre wilde Kraft vertrauten, und tatsächlich führen diese in der Schlacht Elefanten gegen die Griechen, die erst durch Alexanders Klugheit besiegt werden. Der Alexanderroman des Julius Valerius bringt das kulturelle Muster noch auf den Begriff, das hinter dem Zweikampf gegen Porus steht: ‚dass nämlich der Drang der trotzigen Natur der Barbaren und die Gewandtheit ihres Körpers leicht durch menschliche Klugheit überwunden werden‘.98 Es ist denn auch die Diskrepanz zwischen roher Körperkraft und aufmerksamer Klugheit, die Differenz von Natur und Kultur, die den Zweikampf in eine übergeordnete Perspektive rückt und ihm seine Pointe gibt. Auch bei Leo heißt es: ‚Alle Barbaren sind wie wilde Tiere gesinnt, wie Tiger zum Beispiel, Panther und andere ungezähmte Bestien. So setzen sie auf ihre wilde Kraft; davon kommt ihre Tollkühnheit, und daher werden sie selten von den Menschen getötet‘.99 Der antike Bedeutungskontext wirkt indes fort, ohne sich begrifflich zu verfestigen. Er bietet dennoch Möglichkeiten paradigmatischer wie syntagmatischer Begründung: den Mensch-Tier-Gegensatz und die Überlegenheit der List. Deutlich werden die ungleichen körperlichen Voraussetzungen hervorgehoben, doch prägt die Asymmetrie Mensch-Tier weniger den Kampf selbst als den argumen-
|| 97 ‚Der königliche Kampf stand länger unentschieden‘ (fieretque pugna regalis, primitus quidem anceps. Julius Valerius: Res Gestae Alexandri Macedonis translatae ex Aesopo Graeco. Hrsg. von Michaela Rosellini. Stuttgart/Leipzig 1993, III,4, S. 131, künftig: Res Gestae Alexandri). Ähnlich ders.: Epitome. Hrsg. von Julius Zacher. Halle 1867, III,4, S. 54. 98 Solo illo naturae suae fretae impetu et corporis alacritate facile hominum sapientia subiugantur (Res Gestae Alexandri, III,2, S. 127). 99 Veritatem dico vobis, quia omnes barbari communem sensum habent; adsimilati sunt bestiis videlicet tigri, pardo et caeteris aliis; bestiae itaque confidentes in agresti virtute sua habent exinde audaciam et raro occiduntur ab hominibus (Leos Alexanderroman, III,2, S. 104); vgl. Historia de preliis, III,79, S. 202f.
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tativen Kontext. Gegenüber dem Rolandslied transportiert der lateinische Alexanderroman damit eine andere Legitimationsform für das Recht des physisch Schwächeren im Zweikampf. Thomas Zotz kann an einer Reihe von Beispielen zeigen, dass List im politischen Handeln des Mittelalters durchaus eine akzeptierte Form der Konfliktlösung war.100 Wenn der gelehrte Roman den heroischen Typus des Porus gegen den politisch-rationalen des Alexander stellt, dann werden auch spezifisch antike Natur- und Kulturkonzepte einander konfrontiert. Wie im Fall der Asymmetrie von Christen und Heiden kann diejenige von Mensch und Tier im Poruskampf vor dem Hintergrund anderer Kulturmuster umbesetzt werden. Die volkssprachlichen Versionen spielen in ein und demselben Kampf verschiedene Optionen durch. Das Interesse der adeligen Rezipienten liegt deutlicher auf der kämpferischen Auseinandersetzung. So setzt der Pfaffe Lambrecht in der gleichen Szene ganz andere Akzente. Ein ‚Zweikampf‘ (einwîch) soll entscheiden, ‚welcher von beiden das Heil erringt / und mit Gnade davonkommt‘.101 Unter der doppelten Wendung kann sowohl das alte Königsheil wie die christliche Gnade abgerufen werden. Der Kampf beginnt zunächst, wie es einem Heroenkampf ansteht: Die Fürsten zückten die Schwerter Und sprangen aufeinander zu. Oh, wie die Schwerter in den Händen der Fürsten klangen, als sich die Kämpfer wie die wilden Schweine schlugen.102
Lambrechts Text entfaltet den Zweikampf auch in seinem Verlauf ausführlich, sodass die Nachlässigkeit des Porus und die List Alexanders dahinter verschwinden. Erst als Alexander sich im Vorteil wähnt, so notiert Lambrecht, geraten die anwesenden Inder in Unruhe, weshalb Porus ihnen den Blick zuwendet. Diesen Augenblick nutzt Alexander, um Porus eine schwere Wunde zuzufügen, an der er stirbt. Triumphierend schlägt ihm Alexander den Kopf ab. Der Kampf gleicht sich wieder der alten Kampfwette an, da übergeordnete Prinzipien, etwa die Gegensätze Kultur-
|| 100 Thomas Zotz: Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels. In: Die List. Hrsg. von Harro von Senger. Frankfurt a. M. 1999, S. 212–240. 101 swer das heil gewinne / und mit gnâden comet hinne. Straßburger Alexander, in: Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen. Hrsg. und erklärt von Karl Kinzel. Halle/S[aale] 1884, S. 27–385, V. 4631–4633, künftig: Straßburger Alexander. Vgl. Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother. Tübingen 2002, S. 73–148, hier S. 103f. 102 di hêren zucten di sahs, / zesamene si dô sprungen. / woh wî di swert clungen / an der fursten henden, / dâ sih di wîgande / hiwen alse di wilde swîn (Straßburger Alexander, V. 4653–4658).
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Natur oder Christ-Heide, nicht abgerufen werden (Straßburger Alexander, V. 4639– 4643). Die paradigmatische Asymmetrie tritt in den Hintergrund zugunsten der Gleichrangigkeit der Gegner, sie wird ersetzt durch eine syntagmatische Motivierung, die sich aus dem heroischen Register speist. Der Zweikampf wird damit sichtlich den Erfordernissen einer feudalen Lebenswelt angepasst. Sobald die Gegner auf einer Ebene verortet werden, bedarf es zusätzlicher Gründe, um die Entscheidung im Kampfverlauf zu motivieren. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts dämpft Ulrich von Etzenbach den Konflikt zu einem höfischen Zweikampf: Nun waren die Fürsten mit prächtigem Aufwand, wie es ihrem Status entsprach, dazu bereit. [...] Da erging ein harter ritterlicher Zweikampf von beiden Fürsten.103
Syntagmatischer Grund für die Niederlage des Porus ist erneut eine Wunde, die er im Kampf erhält (Ulrichs Alexander, V. 20207–20213). Alexander kümmert sich aber sogleich um den Verwundeten (V. 20107–20246). Die höfische Perspektive fasst offenbar den Kampf in eine zivilisierte Form. Dass selbst die volkssprachliche Rezeptionsgeschichte dieses Zweikampfes wieder an die gelehrte Konfiguration anschließen kann, die Bedeutung der List sich aber verschiebt, zeigt die Fassung Johannes Hartliebs aus dem 15. Jahrhundert. Seine Bearbeitung trägt dem feudalen Kampfethos Rechnung, wenn ausführlich der Kampfverlauf beschrieben wird: Da wurde männlich gekämpft. Alexander war klein, Porus groß. Beide Heere vertrauten ganz auf ihren Herrn und König. Alexander war klug und wusste genau, dass die Rüstung des Porus stark war. Darum bemühte er sich, dass er wiederholt zwei, drei oder vier Schläge auf die gleiche Stelle schlug. Dadurch brach er die Rüstung des Porus und schlug ihm tiefe Wunden, aus denen unmäßig viel Blut floss.104
Alexander sucht offenbar nach einer geeigneten Stelle für den Angriff, Porus hingegen weicht aus.105 Porus’ Unaufmerksamkeit, das suggeriert die Sequenz, schuldet || 103 Nû wârn die fürsten dar bereit / mit micheler schônheit, / als es ir wirde tohte [...] ein ritterlich tjost sô herte / von beiden fürsten dô ergie (Ulrichs Alexander, V. 20137–20155). 104 Da wardt vast mändleich gestrytten. Alexander was klain, Porus gross; da hett yegleichs herr zu seinem herren vnd kunig ain gancz getrawen. Alexander was weyse vnd west wol, daz des Pori harnasch guett was. Darumb flayss er sich, daz er im alweg an ain statt zwen oder drey oder vier schleg thett. Damitt prach Alexander daz harnasch Pori und schluegen im thyeff wundten, daz vnmazzen vil pluettes daraus flss. Johann Hartliebs Alexander. Eingeleitet und hrsg. von Reinhard Pawis. München/Zürich 1991, S. 205. 105 Die Tradition hatte hier schon einen Hinweis gegeben, dass es in diesem Zweikampf ein taktisches Verhalten der Kämpfer gibt: ‚Während Alexander eine Stelle der Verwundbarkeit suchte, wendete Porus diese freilich ab‘ (Alexandro scilicet locum vulneris rimante, et Poro id ipsum declinante. Liber Alexandri Magni. Die Alexandergeschichte der Handschrift Paris. Bibliothèque Nationale,
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sich auch seiner Verletzung. Der Triumph der ratio über die Natur wird bei Hartlieb aber deutlicher in eine Kampftechnik überführt. Für den frühneuzeitlichen Gelehrten ist der Krieg, anders als für die Bearbeiter der Historia de preliis, eine strategische und taktische Angelegenheit, die auf Wissen basiert. Diese syntagmatische Motivierung entlastet Alexander nicht nur vom Makel der Unredlichkeit, indem sein Sieg nun durch einen Kampf errungen wird, sie illustriert auch sichtbarer das überlegene Prinzip der rationalen Kampfführung. Hartlieb versöhnt damit die feudale Kriegsethik mit dem antiken Klugheitsmodell.
6 Recht und Unrecht: symbolische Überkodierung Jenseits kultureller Differenzierung durch asymmetrische Gegenbegriffe oder durch unterschiedliche Kontextualisierung trägt die Feudalkultur unablässig Machtkonkurrenzen aus, die sich über das Recht des Stärkeren legitimieren. Das Ungleichgewicht der Kräfte setzt hier Rechtsförmigkeit nicht außer Kraft, im Gegenteil, es befördert vielmehr die innere Logik feudaler Vergesellschaftung, die sich über Unterwerfung unter den Stärksten konstituiert. Und doch erzählen die Geschichten meist gegen das absolute Recht des Stärksten an und harmonisieren das feudale Gewaltprinzip mit der alten Gerechtigkeitsforderung, wonach das Recht den Schwächeren zu schützen habe: auf seltsam neutrale Art noch der Moroltkampf in Eilharts Tristrant.106 Die Hierarchie der Kräfte ist hier eindeutig. Der Usurpator Morolt besitzt die Kraft von vier Männern und einen heroischen Expansionsdrang. Er ist geradezu der Inbegriff heroischer Exorbitanz.107 Wenn Morolt nun in einem rechtsförmigen Verfahren gegen den jungen Tristrant antritt, evoziert der Erzähler damit zugleich Gültigkeit und Problematik des Konfliktlösungsmodells: dass nämlich im Rahmen feudaler Machtpolitik Gewalt die Basis des Rechts darstellt, der Sieg des Schwächeren per se unwahrscheinlich und jede Herrschaft durch externe Gewalt bedroht ist. Eine christliche Perspektivierung fehlt hier noch. Der ungleiche Zweikampf erhält durch den Gegensatz von ‚jung‘ und ‚erfahren‘ die Form einer initiatorischen Tat. Der jugendliche Kämpfer wird erst durch die Bewährung am Gegner in die Gemeinschaft der Krieger aufgenommen. Tristrant und Morolt demonstrieren zunächst gleiche Entschlossenheit. Im Kampf gerät der junge Held gegenüber der wilden Gewalt dann doch schemagerecht in die Defensive:
|| n.a.l. 310. Untersuchungen und Textausgabe. Hrsg. von Rüdiger Schnell. München/Zürich 1989, S. 168). 106 Eilhart von Oberge: [Tristrant]. Bd. 2: Bearbeitung. Hrsg. von Franz Liechtenstein. Straßburg 1877, V. 351–931, künftig: Tristrant. 107 Klaus von See: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1–35.
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‚Morolt kämpfte gräßlich / wie ein Wildschwein‘.108 Doch obwohl Tristrant schemagemäß in die Knie geht, gelingt ihm der entscheidende Streich, mit dem er Morolt die Hand abschlägt. Der Text gibt sich einzig mit einer erzählstrukturellen Lösung zufrieden, nach der der Held handlungslogisch eben siegen muss: eine klassisch finale Motivation. Indem der Text aber auf jede syntagmatische Motivierung verzichtet, illustriert der Kampf am besten die Kontingenz, die dem gewaltsamen Entscheidungsverfahren seit je eignete. Während hier Gerechtigkeit allein an das Erzählschema delegiert wird, bemühen sich andere Autoren um zusätzliche Motivierungen. Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke zeigt eine besondere Form literarischer Kodierung des Gewaltproblems. Die Entscheidungsschlacht um Latium zwischen Trojanern und Latinern mündet in einen Zweikampf zwischen Turnus und Eneas als den Vertretern beider Stämme. Die bekannte Kampfwette wird auch hier in eine Rechtsform gefasst, auch hier handelt es sich nicht um einen Kampf unter gleichen Bedingungen. Obgleich beide Kämpfer über ein ähnliches heroisches Gewaltpotenzial verfügen, kann Turnus den Eneas aufgrund dessen überlegener Bewaffnung nicht verletzen.109 Eneas trägt die undurchdringliche Rüstung des Vulcanus, d. h. hier steht der Usurpator unter dem Signum des Heils (Eneasroman, V. 12463–12465). Der säkularisierte providenzielle Schutz wirkt aber nur defensiv. Es ist schließlich der Blick auf die geliebte Lavinia, der Eneas die nötige Energie vermittelt, um Turnus zu besiegen: Dadurch schöpfte der tapfere Held wütende Zuversicht, weil ihm das Mädchen lieb war.110
Im höfischen Roman ist bekanntlich die Schönheit der Minnepartnerin Bedingung männlicher Kampfkraft, und statt Providenz oder List garantiert hier die neue mythische Energie der Liebe den Sieg.111 Lavinia ist aber nicht nur Minnedame, sie ist als Frau zugleich Garantin einer erfolgreichen Genealogie. Der Anspruch auf Herrschaft, den Eneas in Latium vertritt, wird metaphysisch, psychologisch und genealogisch legitimiert, im Zweikampf kommen die entscheidenden Gründe noch einmal gebündelt zum Vorschein. Der Eneasroman verbindet damit schon früh ganz unterschiedliche Legitimationsmuster. Was im Zweikampf ausgehandelt wird, ist Kö-
|| 108 Môrolt gar freislîchin / vacht als ein wilde swîn (Tristrant, V. 890f.). 109 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, V. 12390–12394, künftig: Eneasroman. 110 des gewan der helt gût / grimmigen hôhen mût, / wand im diu maget lieb was (V. 12431–12433). 111 Bruno Quast: Getriuwiu wandelunge. Ehe und Minne in Hartmanns Erec. In: ZfdA 122 (1993), S. 162–180, hier S. 169.
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nigsheil, Rivalität um Frauen, schließlich Anspruch auf politische Führung insgesamt. Der Zweikampf ist sichtbar überdeterminiert: Providenz, Technik und Minne treten nun der heroischen Gewalt entgegen. Sie bleiben aber reichspolitisch instrumentalisiert, um den im Raum stehenden Makel der gewaltsamen Landnahme zu tilgen. Der Eneasroman ist damit der Ausgangspunkt für die komplexe Semantisierung von Zweikämpfen im höfischen Roman: Das Minnemotiv wird geradezu zum Stereotyp, gewissermaßen zur ethischen Chiffre, sodass der ,neue Mythos‘ Minne als zusätzliche syntagmatische Möglichkeit neben die anderen tritt. Erec gewinnt auf diese Art gegen Îdêrs und Mabonagrin.112 Die Zweikämpfe Erecs, die sich alle unter asymmetrischen Bedingungen vollziehen, lassen sich geradezu als Infragestellung des Rechtsprinzips des Stärkeren durch Rekurs auf unterschiedliche symbolische Muster lesen: Der Riesenkampf rekurriert auf den David-Goliath-Vergleich, Minne wirkt in den Ritterkämpfen, innere und äußere Physis in den Guivreiz-Kämpfen, hier indes ohne Rechtskonflikt. In Bezug auf die Zweikämpfe bietet der Erec geradezu einen ‚narrativierten Kasus‘. Komplexer noch ist die Überkodierung des Zweikampfes im Iwein angelegt. Hier wird die numerische Überlegenheit der Gegner durch eine Personifikation der Werte, in deren Zeichen der Protagonist kämpft, kompensiert: Gott, Wahrheit und Recht. Iwein stellt sich drei Gegnern: Was tut es, wenn Eurer drei sind? Glaubt Ihr ich sei allein? Gott und die Wahrheit standen noch stets auf der gleichen Seite. Mit diesen beiden bin ich hier. Ich weiß genau, daß sie mir zur Seite stehen, auf diese Weise bin ich zu dritt wie Ihr.113
Nicht mehr ein einfacher Rechtsfall steht zur Disposition, auch nicht die Rivalität symbolischer Kodierungen. Der Zweikampf wird zum Medium, die Problematik des gewaltgestützten Rechts selbst in den Blick zu nehmen. Recht erscheint offenbar als kontingent, wenn einer gegen drei antreten muss. So wird der Ritter zum Repräsentanten einer göttlich sanktionierten Gerechtigkeit: gewissermaßen zum Institutionenvertreter. Im Kampf selbst ist es dann aber der Löwe, der auf Iweins Seite in den Kampf eingreift und das Gleichgewicht der Kräfte herstellt: ‚Sie kämpften gegen sie auf beiden Seiten, / hier der Löwe und dort der Mann‘.114 Der Löwe aber ist weniger
|| 112 Christoph Huber: Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den Erec-Romanen Chrétiens und Hartmanns und zum Prosa-Lancelot. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner u. a. Tübingen 1996, S. 59–73. 113 waz von diu, sint iuwer drî? / wænet ir daz ich eine sî? / got gestuont der wârheit ie: / mit ten beiden bin ich hie. / ich weiz wol, si gestânt mir: / sus bin ich selbe dritte als ir (Iwein, V. 5273–5278). 114 sî vâhtens bêdenthalben an, / hie der lewe, dort der man (V. 5405f.).
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einfache Christusallegorie als eine komplizierte Chiffre übereinander gelagerter Zeichen: als Christusallegorie, als Rechts- und Treuesymbol, nicht zuletzt aber auch als reine Naturenergie synthetisiert er all jene Instanzen, die erst ein positives Recht schaffen und für die Iwein selbst eintritt.115 Der ganze Problemkomplex des legitimen Rechts wird im personifizierten Löwen konkret. Durch die rhetorische Personifikation und ihre Konkretisierung zum Agenten der Handlung werden die Sinnschemata der Zweikampfkonstellation komplizierter: Sie werden auf verschiedene Instanzen verteilt, die ihrerseits Zeichenträger sind. Der höfische Ritter kämpft nicht für sich, sondern für die Durchsetzung eines göttlich sanktionierten Rechts: Unser Sieg und unser Glück hängen von keiner Ritterschaft ab als allein von Gottes Macht116
– so spricht der kindesche man Tristan vor seinem Zweikampf gegen den starken Morolt; oberste Rechtsinstanz ist Gott: ‚der möge dem Recht zu seinem Recht verhelfen!‘117 Das ist angesichts des Kräfteverhältnisses die David-Goliath-Konstellation. Im Tristan kämpfen rohe Gewalt, vier manne craft (Tristan, V. 6879), gegen ein ganzes Bündel an Institutionen: eine Trinität aus Gott, Recht und Vasallität, schließlich ‚feste Entschlossenheit, / die in der Bedrängnis Wunder bewirkt‘.118 Damit wird aber die religiöse Rechtsgarantie überschritten. Anders als im Iwein werden hier die Instanzen nicht vervielfältigt, werden die Institutionen nicht auf eine Chiffre ausgelagert, sondern in die Personen hineinverlegt: Der Ritter selbst verkörpert das Recht und alle seine Faktoren. In einer Art allegorischem Verfahren wird der Zweikampf zur Auseinandersetzung zwischen roher Kraft und institutionell gebundenen ritterlichen Kräften.
7 Kritik und Spielformen In der höfischen Literatur wird der Zweikampf zum Medium der Reflexion komplexer sozialer und kultureller Probleme. Zweikampfschilderungen setzen somit nicht nur rhetorische Topiken in Handlung um, inszenieren nicht nur stereotype Hand-
|| 115 Eugene Vance: From Topic to Tale. Logic and Narrativity in the Middle Ages. Minneapolis 1987, S. 84. 116 unser sige und unser saelekeit / diu enstât an keiner ritterschaft / wan an der einen gotes craft. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke hrsg. und übersetzt von Rüdiger Krohn. Stuttgart 1981, V. 6764–6766, künftig: Tristan. 117 der bringet reht ze rehte! (V. 6780). 118 williger muot, / der wunder in den noeten tuot (V. 6887f.).
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lungsmuster, sie experimentieren mit ganz unterschiedlichen Orten (Wald, Gericht, Turnier etc.), Situationstypen (Schönheitspreis, Befreiung, Aventiure etc.) und Besetzungen (Ritter, Riese, Tier, Heros etc.), deren Kombination das kulturelle Feld der Gewalt umschreibt. Dabei sind je nach Perspektive des Verfassers unterschiedliche Akzentuierungen möglich. So hat die feudale Literatur seit ihren Anfängen (Hildebrandslied), verstärkt aber im höfischen Roman, auch die tragischen Dimensionen des Zweikampfs betont, etwa in Verwandten- (Vater gegen Sohn, Bruder gegen Bruder) oder in Freundeskämpfen. Wolfram akzentuiert wiederholt die Tragik der Zweikämpfe im Krieg. Im Willehalm ist die ideologische Asymmetrie zwischen Christen und Heiden derart relativiert, dass sie hinter verschiedenen tragischen Konstellationen verschwindet: hinter der von Kämpfen zwischen Verwandten, gleichgesinnten Minnerittern und höfischen Rittern allgemein. Der ‚kritische‘ Gedanke, dass im ehrenvollen Zweikampf die Kämpfer auch gegen sich selbst antreten, ist gerade bei Wolfram am deutlichsten formuliert. Entsprechend verzichtet er weitgehend auf extensive oder emphatische Kampfschilderungen und begnügt sich wiederholt mit lakonischen Bemerkungen:119 etwa im Zweikampf zwischen Willehalm und Arofel, den Willehalm gewinnt, weil schlicht Arofels Beinschutz verrutscht ist. Daneben kann der Zweikampf zugleich zum Bestandteil eines ironischen Spiels werden, und zwar nicht erst in seiner Hybridisierung im Spätmittelalter, wenn sogar Frauen und Hunde die Positionen der Kämpfer besetzen können120, sondern schon im 13. Jahrhundert. Im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven ist die Serie der Zweikämpfe ins Parodistische verzerrt. Sie haben kaum noch eine innere Dramaturgie und zitieren nur noch selbstreferenziell die bekannten kulturellen Muster. Im Rosengarten zu Worms prägt die Zweikampfstruktur Form und Gehalt der ganzen Erzählung und wird geradezu zum Instrument intertextueller Verhandlungen: Zwölf Protagonisten aus der Dietrich- und der Nibelungensage treten aus nichtigem Anlass, getrieben allein von Geltungsdrang, gegeneinander an. Die Serie der Kämpfe läuft auf eine Klimax zu: Unbedeutende Gegner – Riesen und anonyme Helden – werden getötet, namhafte Heroen und Sippenmitglieder dagegen werden besiegt oder fliehen, schließlich treffen im finalen Kampf Dietrich und Siegfried aufeinander. Zwar weigert sich Dietrich aufgrund der ungleichen Voraussetzungen und zählt Siegfrieds technische Vorteile auf – Schwert, Brünne, Hornhaut –, doch zwingt Hilde-
|| 119 ‚Da vergaß der Heide, länger zu leben‘ (der heiden lebens do vergaz, Willehalm, V. 24,30) bzw. ‚Dieser Zweikampf lehrte Tesereiz das Sterben‘ (diu tjost da sterben lerte / Tesereizen, V. 87,27f.). Zum Arofel-Kampf Christian Kiening: Reflexion – Narration. Wege zum Willehalm Wolframs von Eschenbach. Tübingen 1991, S. 103–105. 120 Zu den spätmittelalterlichen Hybridisierungen Ute von Bloh: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: Herzog Herpin, Loher und Maller, Huge Scheppel, Königin Sibille. Tübingen 2002, S. 354–406.
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brant ihn, den Kampf anzunehmen, indem er seinen Zorn weckt.121 Im Zorn als Katalysator überlegener Kraftentfaltung liegt dann auch schließlich der banale Grund für Dietrichs Sieg. Im Rosengarten zu Worms entfaltet sich das Zweikampfgeschehen nur mehr stereotyp, gerät dafür aber selbst schon in die Distanz der Diskursivierung: Das Reglement selbst wird zum Gegenstand ironischer Diskussion und öffnet sich auf spielerische Verfügbarkeit. Aber schon Strickers Daniel von dem Blühenden Tal parodiert das komplizierte Verhältnis von ritterlichem Ethos und seiner ultimativen Herausforderung: durch technisch hergestellte Mächte, unverletzbare Riesen und alles durchdringende Waffen aufseiten der Gegner.122 Die Asymmetrie wird an ihre Grenzen geführt: Nicht mehr der Heros, auch nicht die wilde Natur sind hier die Opponenten. Der überlegene Gegner ist zunächst ein künstlich hergestellter Riese, ein magischer GoliathTypus, der eben nicht mehr durch das Vertrauen auf göttliche Providenz besiegt werden kann.123 Der religiöse Diskurs wird hier durch einen Technikdiskurs abgelöst. Letzte Legitimationsinstanz ist im Daniel auch weniger Gottvertrauen als heroische Bewährung um der Ehre willen. Es ist aber dann nur der Zufall, der die verzweifelte Attacke des Ritters unterbricht und in eine Aventiure überleitet, die ihm die notwendigen Mittel für den Goliath-Kampf verschafft. Mit dem Zwerg Juran ist aber eine Kontrafaktur des David-Goliath-Motivs entworfen. Der äußerlich Schwächere erweist sich als der Stärkere. Der Zwerg ist im Besitz eines technischen Mittels, eines Zauberschwerts, das ihm erlaubt, die Werbung um seine Herrin vom Trüben Berge in eine gewaltsame Eroberung zu überführen. Erst ein rhetorischer Akt – list – bringt den Zwerg dazu, in eine Konkurrenz der Gleichrangigen einzuwilligen und sein Schwert niederzulegen: Ich will euch zeigen, dass sich meine Tüchtigkeit nicht dem Schwert verdankt, sondern dass ich sie an mir habe.124
|| 121 Der Rosengarten zu Worms A. In: Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Mit Unterstützung der Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften hrsg. von Georg Holz. Halle/Saale 1893, S. 3–67, c. XVI, S. 57–64. 122 Regina Pingel: Ritterliche Werte zwischen Tradition und Transformation. Zur veränderten Konzeption von Artusheld und Artushof in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal. Frankfurt a. M. [u. a.] 1994. 123 ‚darum hat seine Kunstfertigkeit / uns beide so hart gemacht, / dass keiner von uns je verletzt wurde‘ (darumbe hât uns sîn list / gemachet beidiu alsô hart / daz unser ietweder nie wunt wart. Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal. 2., neubearbeitete Aufl. Hrsg. von Michael Resler. Tübingen 1995, V. 768–770). 124 ich wil iuch lâzen sehen / daz dehein mîn frümekeit / an daz swert ist geleit, / daz ichz an mînem lîp hân (V. 1570–1573).
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Damit schlägt die künstliche Asymmetrie in eine natürliche um: Der Zwerg steht nun schutzlos dem Ritter gegenüber. In dem Augenblick, als sich der Zwerg dem Minnediskurs unterwirft, ist sein Schicksal schon besiegelt, was der Text selbst durch einen Erzählerkommentar deutlich macht. Er kann eben nicht einfach wie der höfische Ritter allein auf seine körperliche Stärke vertrauen. Der Stricker bietet damit eine doppelte Inversion der gültigen symbolischen Ordnungen des Zweikampfes: des David-Goliath- wie des Minneschemas.
Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. Immanuel Kant
1 Offene Fragen Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde der Mythos innerhalb der germanistischen Mediävistik privilegiert im heldenepischen Kontext diskutiert. Die Frage nach der Heldensage erfuhr mit wechselndem Akzent ihre Behandlung im Spannungsfeld von Geschichte, Mythos und Dichtung. Entweder die Heldensage entwickelte sich als Dichtung auf der Basis verblasster historischer Ereignisse, oder sie wurde als „degenerierter Mythos“ aufgefasst.1 Was moderne Methodendiskussion im Schema von Realismus und Fiktion, faktualem und fiktionalem Erzählen, allzu dichotomisch fasst, besaß in jener Zeit im Mythos offenbar eine weitere Ebene der Reflexion. Unter Mythos verstand man indes entweder ‚dichtenden Volksgeist‘ oder Göttergeschichten, schließlich pauschal Übernatürliches. Drohte der Mythos in jenem ‚romantischen‘ Paradigma im Unbestimmten, ja Völkischen zu verschwimmen, so wurde er seit den 60er Jahren – zumindest im Feld der Heldensage – zwischen Überlieferungs- und Sozialgeschichte zerrieben. Im Gefolge ‚Kritischer Theorie‘ war selbst die Aufklärung unter Mythosverdacht geraten, der seinerseits eine verstärkte Historisierungswelle auslöste. Es galt nunmehr, die Texte in ihren historischen Zusammenhängen zu beschreiben. Rationalitätsstandards verpflichteten sich mit einigem Gewinn auf den Horizont beantwortbarer Fragen.2 Der Zugewinn an empirischen Verfahren und abgezirkelten Erkenntnisobjekten erschöpfte aber kaum den Gehalt der Erzählungen, blendete vielmehr jene ‚drängenden Fragen‘ aus, die
|| 1 Klaus von See: Germanische Heldensage. Ein Forschungsbericht. In: Ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalter. Heidelberg 1981, S. 107–153, hier S. 107 u. 114f. 2 Diese Form von ‚Entmythisierung‘ und die ihr korrespondierende Konjunktur des christlichen Artusromans hatte nicht nur wissenschaftliche, sondern wohl auch wissenschaftspolitische Ursachen. https://doi.org/10.1515/9783110772340-006
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dem Mythos traditionell zugeschrieben werden.3 Der Mythos war überdies keinesfalls erledigt, er überlebte, nunmehr theoretisch transformiert, in anderen Disziplinen, die weniger dem Verdacht des Regressiven ausgesetzt waren: etwa in Religionswissenschaft, Ethnologie, Anthropologie und Philosophie, in Disziplinen mithin, die anstelle von empirischer Rekonstruktion theoretische Modelle setzten und in anthropologische Grenzbereiche des Befragbaren ausgriffen.4 Auch innerhalb der Mediävistik hielt sich die Frage nach dem Mythos. Schon früh hatte Jan de Vries mit wenig Erfolg versucht, Mircea Eliades Theorie der Kultpraxis auf die Heldensage zu übertragen.5 Seit den späten 60er Jahren verlagerten sich dann mythentheoretische Fragestellungen auf den Bereich des Geistlichen Spiels und des Höfischen Romans.6 Nähe und Distanz zum Mythenkomplex wird dabei in nicht geringem Ausmaß vom Wissenschafts- und Literaturbegriff determiniert. Dort, wo wissenschaftliches Fragen von empirischen Prämissen ausgeht, dominiert der induktive Zugriff, der den Gegenstand enger methodischer Verfügung unterwirft. Dort aber, wo ‚wissenschaftliche‘ Erkenntnis in anthropologische Dimensionen ausgreift, wo ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘, metaphysische Bedürftigkeit, strukturelle Determiniertheit oder Probleme der Sinnstiftung generell thematisiert werden, d. h. Fragen, die sich empirisch nur bedingt verifizieren lassen, dort haben Modelle Konjunktur, in denen das Mythische weiterhin seinen Ort besitzt. Mythos in diesem Sinn bezeichnet nicht mehr ‚völkisches Kollektiv‘ oder Götterwelt7, sondern Konfigurationen einer Daseinsproblematik: Archetypen, Strukturen und Denkformen, die zeitlos wirken und sich historisch stets neu konfigurieren.8 In diesem Verständnis vertritt der Mythos nicht nur Formen vortheoretischer Ordnungs- und Orientierungsleistungen für letztlich unbeantwortbare Fragen, sondern auch Wiederholungen elementarer Daseinskonstellationen. Schon in der Antike tritt Mythos dort als Substitut ein, wo Rationalität an ihre Grenzen kommt, ja er verkörpert selbst eine Form von Rationalität: aber eben keine
|| 3 Harald Weinrich: Erzählstrukturen des Mythos. In: Ders.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. München 1986, S. 167–183, hier S. 169. 4 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 31958 [zuerst 1923]; Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt a. M. 1977 [zuerst 1958], S. 226–254. Ders.: Mythologica I–IV. Frankfurt a. M. 21980 [zuerst 1964–1971]; Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Frankfurt a. M. 1984 [zuerst 1965]; Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Christoph Jamme: „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1991. 5 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage. München 1961, S. 303–320. Vgl. von See (Anm. 1), S. 114f. u. 137–140. 6 Hierfür stehen Namen wie Hugo Kuhn, Rainer Warning, Ulrich Wyss, Elisabeth Schmid u. a. 7 Von See (Anm. 1), S. 163. 8 Z. B. Bedeutsamkeit, Heiligkeit, Schicksal, Ursprung, Allmacht etc.
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wissenschaftliche.9 Das macht Aktualität und Reiz des Mythischen, aber zugleich seine Gefahr aus. Dass Mythisches nicht der Vergangenheit angehört, ist beinah Gemeinplatz aller Mythentheorien, dass es sich stets wandelnd neuen Verhältnissen anpasst, dass jede Zeit neue Mythen produziert, schon fast Gemeingut. Der Mythos greift auf Fragen aus, über die Sicherheit nicht zu gewinnen ist, deren Dringlichkeit sich aber als zeitlos erwiesen hat und die nur vorübergehend stillgestellt werden. Dazu gehören metaphysische Fragen, etwa solche nach Ursprung und Jenseits, aber auch solche nach sozialen Grundmustern: Mythenanfällig sind Familienkonstellationen und Generationenverhältnisse, Geschlechterbeziehungen (Liebe, Macht), Sozialisationsprozesse (Initiation) und soziale Profilierungsformen (Rivalität, Prestige), die sich historisch stets neu konfigurieren und doch immer die gleichen Probleme enthalten. Das komplizierte Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, die ewige Spannung von individuellem Geltungsdrang und sozialer Verantwortung gehört ebenso zu den Themenkomplexen, die zeitlos gestaltet werden und, etwa im Heldentypus, mythische Potentiale aktivieren. Das Verhältnis von Literatur und Mythos gestaltet sich nicht weniger schwierig als das von Literatur und Geschichte, Fiktion und Realität, vor allem in Zeiten, in denen Literatur noch ein ganzes Bündel an sozialen Funktionen zu erfüllen hatte. Schon Homers Götter sind literarisch gebrochen. Für die mittelalterliche Literatur, speziell für die Heldenepik ist der Status des Mythischen noch nicht ausdiskutiert: Bricht literarische Reflexion vor dem Hintergrund einer Autonomieästhetik den Mythos (Haug)? Funktioniert Heldensage ‚mythosanalog‘ (Weber)? Unterliegt mittelalterliche Literatur weiterhin den Bedingungen spezifischer ‚Mytho-Logiken‘ (Strohschneider)? Oder kann man mit Juri Lotman den modellbildenden Status des Kunstwerks insgesamt gegen seine historische Referenzebene dadurch profilieren, dass man ihm eine ‚mythologisierende Funktion‘ zuweist?10 Das aber ist der Gegenpol von sozialgeschichtlicher Rekonstruktion, und zwischen diesen beiden Extremen, der konsequenten empirischen Historisierung des Kunstwerks einerseits und der ‚kulturellen Mythologisierung‘ andererseits gilt es methodisch abgesicherte Positionen zu entwickeln. Am Beispiel des Eckenliedes ist kürzlich der Versuch unternommen worden, in einer Verbindung narratologischer und sozialhistorischer Verfahren den historischen Gehalt des Textes präziser zu bestimmen.11 Nicht der Nachweis historischer Referenz war dabei das Ziel, sondern zeitgenössischer Handlungsmuster, sogenann|| 9 Vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a. M. 1966, S. 33f. 10 Lotman ist wohl am weitesten gegangen, wenn er das Kunstwerk als ein Modell von Welt entwirft, dessen Strukturen und Zeichenhaushalt historisch spezifischen Kulturmodellen folgt, die ihrerseits Ausdruck von Weltbildern sind. Juri M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 303. 11 Hartmut Bleumer: Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des Eckenliedes. In: ZfdA 129 (2000), S. 125–153.
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ter „historischer Kommunikationsformen“, (etwa Botendienst, Gruß, Vasallität), deren narrative Umsetzung Kohärenzprobleme der Handlungsführung verstehen half. Der folgende Versuch kann als Ergänzung aufgefasst werden, indem er den mythischen Implikationen des Erzählens nachgeht. Neben „historischen Kommunikationsformen“ sind auch mentale Vorstellungen, kulturelle Muster, an der Kohärenzbildung beteiligt, die jedoch auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein können. Das Eckenlied steht für die Auseinandersetzung einer sich formierenden höfischen Kultur mit einer Dimension archaisch mythischer Kräfte, die zwar schon in Rivalität mit dem christlichen Symbolsystem stehen, von ihm aber noch nicht gänzlich absorbiert werden. Anstatt Motivkomplexe inhaltlich als gattungstypisch oder pauschal als mythisch zu qualifizieren, wird der Versuch unternommen, einzelne Felder auf mythische Gehalte hin zu befragen sowie Formen und Funktionen mythischen Denkens aufzuzeigen und unter einer kultursemiotischen Perspektive zu fassen. Beschrieben wird ein Ensemble mentaler Archaismen, die der Feudaladel sich in historischen und epischen Darstellungen immer wieder ‚vergegenwärtigt‘.
2 Transformation von Mythologemen: Eckenlied Eine mythengeschichtliche Betrachtung ist im Motivbestand des Eckenliedes seit je fündig geworden: Ob die Figuren als Transformationen germanischer Götter, Haare als mythisches Kraftreservoir oder Dietrichs Zorn und Feueratem als „feststehende mythische Attribute“ bezeichnet werden12, das Geschehen enthält eine Fülle wundersamer Elemente, die aus dem historischen Koordinatensystem herausfallen und eine mythenspezifische Interpretation nahe legen. Das Eckenlied spielt überdies in heterogenen Räumen, die historisch-geographische und mythische Koordinaten verbinden. Neben Rittern und Heroen versammelt es ein ganzes Ensemble an Übergangsfiguren – Riesen, Zwerge, Kentauren und Waldmaiden –, Figuren, die sich aus dem Reservoir der ‚niederen germanischen Mythologie‘ ableiten, ohne deren transzendenten Horizont noch zu teilen.13 Die historische Welt der Sagengestalt wird
|| 12 Vgl. dazu Nachwort u. Kommentar von Francis B. Brévart: Das Eckenlied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von Francis B. Brévart. Stuttgart 1986, S. 316f.; vgl. John L. Flood: Dietrich von Bern and the Human Hunt. In: Nottingham Medieval Studies 17 (1973), S. 17–41. 13 Rudolf Simek: Religion und Mythologie der Germanen. Stuttgart 2003, S. 165–172. Die ältere Forschung hat gerade in solchen Erscheinungen Indices des Mythischen gesehen. Vgl. Andreas Heusler: Geschichtliches und Mythisches in der germanischen Heldensage. In: Ders.: Kleine Schriften 2. Berlin 1969, S. 495–517, hier S. 513f. Schon für Albrecht von Halberstadt war der Anschluss an die vertraute ‚Niedere Mythologie‘ eine Strategie der Adaptation mythologischer Figuren aus Ovids
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durch Elemente einer Gegen- und Anderwelt herausgefordert, die traditionell mit dem Etikett ‚aventiurehaft‘ bezeichnet werden. Aventiure und Mythos aber teilen durchaus gemeinsame Züge, nicht nur die Semantik der Erzählung und den Raum des Magischen, sondern auch die Drohung der Unverfügbarkeit. Das, was ereignishaft auf den Ritter zukommt, sei es Gefahr, Schicksal, Heil oder nur eine Frage, partizipiert am Mythischen, wird aber in eine Prüfung überführt, konkretisiert und dadurch allererst beherrschbar. Eine Aventiure kann bewältigt werden, der Mythos nicht. Die Aventiure ist insofern eine depotenzierte und literarisierte Form des Mythos. Sie kann wie das Mythische Wirkungen des Arkanen zwischen Transzendenz und Immanenz umfassen, Relikte der Götterwelt einerseits und der Naturmagie andererseits.14 Zwar treten Götter im Eckenlied nicht auf, wohl aber Übergangsfiguren, Restbestände eines Arkanum, das in das Diesseits hineinragt. Das Eckenlied erzählt die Geschichte einer gescheiterten Herausforderung und ihr sich anschließenden Rachehandlungen, und das Erzählmodell realisiert auf den ersten Blick eine harsche Kritik heroischer Exorbitanz.15 Man hat den Text als einen Kasus gelesen, in dem zentrale Werte der feudalen Gewaltkultur (Kraft, Ehre) aus der Perspektive des Heroischen, Höfischen und Christlichen kontrovers verhandelt werden.16 Das politische Thema des Höfischen Romans, das Verhältnis von Gewaltethos und Ethik, wird in komplexer Form durchgespielt, so dass konstitutive Aporien feudaler Existenz sichtbar werden. Der polaren Thematik korrespondiert ein doppelter Gattungsbezug: Da die offene Struktur der aventiurehaften Dietrichepik Elemente des Höfischen Romans adaptiert, kollidieren Konfliktstrukturen mit und ohne Option auf Versöhnung. Dem Heldennarrativ mit seiner Erfolgslogik wird eine „Untergangsstruktur“ des Herausforderers vorgeschaltet17, die die ethische Opposition von Gut und Böse unterläuft. Resultat ist eine dramatisierte Kasuistik über den Status des Helden, in der Held und Gegenspieler zwar als entgegengesetzte Typen inszeniert werden, hier der exorbitante, dort der verritterlichte Heros, letztlich aber
|| Metamorphosen; vgl. Max Wehrli: Antike Mythologie im christlichen Mittelalter. In: DVjs 57 (1983), S. 18–32, hier S. 22. 14 Vgl. zum Gralskomplex Hugo Kuhn: Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung im Mittelalter. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 151–180. 15 Zum Begriff der Exorbitanz vgl. Klaus von See: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1–35, hier S. 22f. 16 Michael Egerding: Handlung und Handlungsbegründung im Eckenlied. In: Euphorion 95 (1991), S. 397–408, hier S. 407f. 17 Matthias Meyer: Zur Struktur des Eckenliedes. In: Heldensage – Heldenlied – Heldenepos. Ergebnisse der II. Jahrestagung der Reineke-Gesellschaft Gotha 16.–20. Mai 1991. Hrsg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1992 (Wodan. 12), S. 173–185, hier S. 183–185.
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die Geschichte als die zweier Helden erzählt wird, deren Wertesystem bei aller Differenz auch zentrale Faktoren (Ehre, Gewalt) teilt.18 Handlungsschemata können selbst mythischen Gehalt annehmen, etwa in Schöpfungsmythen, Genealogien, Vater-Suche, Initiation etc. Das Mythische läge dann im ‚Ur-Sprung‘, in schicksalhafter Rekursivität (z. B. Rache, Zyklik) oder Archetypik, sofern diese nicht einfach Wiederholung, sondern darüber hinaus Begründung leisten. Nun sind auch Herausforderung und Zweikampf nicht nur elementare Handlungsmuster heldenepischer und höfischer Literatur, sondern bilden auch ein zeitloses universelles Muster sozialer Profilierung. Sie stehen von ihrer Struktur her in enger Verbindung zu einem uralten Narrativ: zur „mythischen Bahn des Helden“, der als Kulturheros, Gründungsvater oder Befreier auftritt: Kampf gegen den Antitypus ist seine Aufgabe.19 Dass dabei nicht nur Krise und Sieg, sondern auch Untergang dem kollektiven Sinnhorizont eingefügt werden kann, zeigen Geschichten von Gilgamesch über Beowulf bis hin zu Roland. Aber selbst dort, wo aus neuzeitlicher Perspektive der bewusste Weg in den Untergang nur mehr schwer nachvollziehbar ist wie im Nibelungenlied (Atlakviða), wo das heroische Opfer um der subjektiven Ehre Willen erfolgt, realisiert sich im feudalen Verständnis ein kollektiver Wert.20 Ostentative Todesbereitschaft der Helden und die topische Überstürzung des iuvenis zeugen noch von der sozialen Funktion dieser ‚irrationalen‘ Opferhaltung. Gregor von Tours sind solche Archaismen noch ganz vertraut: Cur humiliasti genus nostrum, ut te vincere permitteris? Melius enim tibi fuerat mori, so zitiert Gregor Chlodwig, den Gründer des Merowingerreiches, als er einem in die Falle gelockten Verwandten gegenüber tritt.21 Der christliche Chronist steht staunend vor dieser Einstellung, die Heldenepik feiert sie. Den Zweikampf kennzeichnet überdies ein Moment des Rekursiven, wenn die Opponenten nicht mehr Repräsentanten von Gut und Böse, sondern gemeinsamer Werte sind: Verwandte (Vater-Sohn, Brüder), Standesgenossen (Ritter, Heroen), Waffenbrüder. Dietrich bietet im Moment des Sieges Ecke geselleschaft an und beklagt nach dessen Tod laut das Schicksal. Die Widersprüchlichkeit des Eckenliedes || 18 Das Verhältnis von Held und Gegenspieler wird spiegelbildlich arrangiert, indem dieser zunächst als Agent der Handlung, jener nur als fama eingeführt wird, nach dem Kampf dagegen Dietrich zum Agenten und Ecke zur fama wird. 19 Kuhn (Anm. 14), S. 171. 20 Vgl. Kuhn (Anm. 14), S. 151–180. Gerd Wolfgang Weber: „Sem kunungr skyldi“. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur. In: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hermann Reichert, Günter Zimmermann. Wien 1990, S. 447–481; vgl. Ludgera Vogt, Arnold Zingerle (Hrsg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Frankfurt a. M. 1994. 21 ‚Warum demütigst du unser Geschlecht, dass du es zugelassen hast, dich zu fangen? Besser wäre es für dich gewesen, zu sterben.‘ Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichte (Historia libri decem), Bd. 1. Aufgrund der Übersetzung U. Giesebrechts neubearbeitet von Rudolf Buchner. Berlin o. J. 11,42 (S. 138).
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liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es zwei Heldenmodelle verbindet. Es konfrontiert die endlose Dynamik des Heros mit dem sozial integrierten Ritter und bringt sie an ihm zum Stillstand. Es wäre zu leicht, die Konfrontation ethisch zu vereindeutigen und Dietrich allein zum Korrektiv Eckes zu machen, gewissermaßen die Ethik das Artusromans auf das Eckenlied zu projizieren. Indem zwei Heldengeschichten gegeneinander geführt werden und eine moralische Bewertung von Seiten des Erzählers entfällt, zeigen sich zwei Ausprägungen der mythischen Bahn des Helden: Opfer und Befreiung. Gewiss tritt der ideale Dietrich in dem Riesen Ecke seinem Antitypus gegenüber. Ecke ist aber nicht nur der exorbitante Held, wie Dietrich nicht nur den christlichen Ritter verkörpert. Noch in Eckes hartnäckiger Weigerung, sich zu unterwerfen, werden elementare Werte der feudalen Gesellschaft verteidigt, deren zentrales Kriterium ist, nur den Stärksten zu prämieren. Umgekehrt brechen bei Dietrich bisweilen Züge einer archaisch-heroischen Haltung durch. Bei aller Differenz ist der Erzähler bemüht, die Kontrahenten einander anzunähern. Dass die Textgeschichte durchaus entgegengesetzte Optionen realisiert, zeigen die unterschiedlichen Fassungen des Eckenliedes mit ihren alternativen Schlusspartien. Während die Fassung e5 das Geschehen ethisch vereindeutigt, indem Dietrich am Ende in Jochgrimm als Retter gefeiert wird, arbeitet die Fassung E2 die Interferenzen der beiden Heldenmodelle heraus.22
3 Waffenmythos Im Eckenlied streiten zu Beginn die drei Heroen Ecke, Vasolt und Ebenrot über den Ruhm Dietrichs von Bern.23 Dem Musterritter der Dietrichepik wird allgemein der höchste Ruhm attestiert, auch wenn Ebenrot ihm einen ehrenrührigen Sieg über Hilde und Grin nachsagt. Ecke fühlt sich herausgefordert und wird zugleich von der Königin Seburg darin bestärkt, den Berner zu stellen und lebend zu ihr zu bringen. Als Lohn für die bevorstehende Aufgabe übergibt sie ihm eine kostbare Rüstung: die berühmte undurchdringliche Rüstung Ortnits. Erzählt wird ausführlich die Einkleidung des Riesen mit den Waffen. Nichts an der Rüstung ist aus Stahl, alles aus arabischem Gold: zwei goldene Beinschienen, Schuhe, ein mit Gold und Edelsteinen
|| 22 Die Episodenfolge des Eckenliedes erscheint nicht zwingend, wird in den verschiedenen Fassungen ergänzt, und zahlreiche Brüche in der syntagmatischen Motivierung sind konstatiert worden. Vgl. Bleumer (Anm. 11), S. 139–153. Zur These von der Umbesetzung einer heldenepischen Untergangsstruktur (NL) in eine personale vgl. Meyer (Anm. 17), S. 175–183. 23 Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München/Zürich 1978; vgl. Bleumer (Anm. 11), S. 139–153; Francis B. Brevart: Der Männervergleich im Eckenlied. In: ZfdPh 103 (1984), S. 394–406.
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verziertes Schwert, einen Helm, hart wie Diamant, schließlich einen Schild, an dem tausend Schellen hängen. Gegenüber dem vorangehenden Gesprächsverlauf fokussiert sich das Interesse kurzzeitig auf die Rüstung. Handlungslogisch stellt die Ausrüstung Eckes durch Seburg eine ambivalente Praxis dar: Die Königin kommuniziert die Botenrolle an den Helden, der sie seinerseits missversteht.24 Überdies scheitert der Repräsentationsakt, da Ecke aufgrund seiner riesenhaften Gestalt auf das Pferd verzichtet. Die Ausrüstung fügt sich offenbar in einen Verweisungszusammenhang ein, der im Vorfeld Probleme signalisiert. Die Undurchdringlichkeit der Rüstung steigert gewiss die Dramatik der bevorstehenden Konfrontation. Auch erklärt sich der Umfang ihrer Beschreibung aus dem Register rhetorischer descriptio-Technik. Der Zeichenwert der Rüstung erschöpft sich aber weder im Zitat traditioneller Ausrüstungstopik noch handlungslogisch in der Funktion epischer Vorausdeutung. Die Rüstung indiziert zugleich ein kulturelles Aussagefeld. Gehärtet wurde sie in Drachenblut, was ihr offenbar eine unvergleichliche Qualität verleiht: ‚got welle dir dan den tot / under die brúnne senden, / so blibst du harte wol gesunt. / du maht von kainem waffen / da durch werden wunt.‘ (33,9ff.), äußert Seburg.25 Die Beschreibung der Waffe evoziert Unverletzbarkeit und damit den Grenzwert physischer Resistenz, die dem Menschen genuin mangelt.26 Die außerordentliche Rüstung steht für ein Versprechen, das im epischen Kontext wiederholt beschworen wird: Eneas göttliche Rüstung, Wolfdietrichs Taufhemd, die Steinmagie von Feirefiz Rüstung, Wigalois Glücksgürtel, Hectors und Peleus Tierrüstungen, schließlich als ultimativer Grenzwert Siegfrieds Drachenhaut, sie alle beziehen ihre besondere Qualität aus unterschiedlichen ‚mythischen‘ Räumen. In der privilegierten Ausrüstung partizipieren die Helden an höheren Mächten, und sie verleiht ihnen eine über das Maß des Normalsterblichen hinausgehende Durchschlagskraft. Die Feudalkultur, die realiter der Gewalt im Kampf noch unmittelbar ausgeliefert ist, mit all ihren grausamen Kontingenzen, konstruiert sich ein Imaginäres, das die Heroen in die Nähe von Übermenschen rückt.27 Während Eckes || 24 Bleumer (Anm. 11), S. 141f. 25 Emil Ploss: Wielands Schwert Mimung und die alte Stahlhärtung. In: PBB 79 (1957), S. 110–128; vgl. Hans-Peter Hils: Von dem herten. Reflexionen zu einem mittelalterlichen Eisenhärtungsrezept. In: Sudhoffs Archiv 69 (1985), S. 62–75; Martin Schrenk: Das Blut in der alten Heilkunde. In: Einführung in die Geschichte der Hämatologie. Hrsg. von Karl-Georg von Boroviczény, Heinrich Schipperges, Eduard Seidler. Stuttgart 1974, S. 1–17; Heinrich Schipperges: Blut in Altertum und Mittelalter. In: ebd, S. 17–44; Günter Siebel: Harnisch und Helm in den epischen Dichtungen des 12. Jahrhunderts bis zu Hartmanns Erek. Hamburg 1969, S. 77–79. 26 Anthropologische Theorien akzentuieren noch im Mittelalter dieses Defizit der conditio humana. Vgl. Egert Pöhlmann: Der Mensch – das Mängelwesen? Zum Nachwirken antiker Anthropologie bei Arnold Gehlen. In: AKG 52 (1970), S. 297–312. 27 Die ‚strahlende‘ Aura, die von Eckes und Dietrichs Rüstungen ausgeht, beutet den Gedanken der Epiphanie noch für die Erscheinung des Ritters aus. Rüstungen verwandeln die Helden geradezu in Lichtgestalten: den blik wir muosen vliesen (61,8).
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physische und psychische Exorbitanz die Grenzen der Maßlosigkeit umspielt, wird von Dietrichs gewaltiger Körpergröße bewundernd gesprochen: ze solcher lenge so er hat, / so kann im niht genossen. (60,7f.). Als Ecke auf seinem Weg zu Dietrich auf dessen letzten Gegner trifft, sieht er eine derart zerstörte Rüstung, dass er nur staunend äußert: ‚enkain swert es getuon enmak: / es hat getan von himel / der wilde dunrslak.‘ (57,11/13). Die „Stilisierung ins Übermenschliche, Halbmythische“ eignet Heroen seit der Antike, und findet sich noch spurenweise in der nordischen Heldensage (Atlakviða).28 Zwar stammen die kontinentalen Epenhelden in der Regel nicht mehr von Göttern ab wie z. T. die antiken Heroen, doch zeichnet auch sie nicht selten eine Nähe zum Geheimnis aus.29 Nicht als Umbesetzungen germanischer Götter fungieren die Helden dabei, wohl aber als metonymische Teilhaber am Arkanen. Anstelle der Person wird indes die Waffe zur Projektionsfläche magischer oder metaphysischer Auszeichnungen. Die Übergabe der Rüstung durch Seburg wird begleitet von der Erinnerung an das Schicksal zweier ihrer Träger. Während Ortnit schlafend von einem Drachen überrascht wurde, der den Ritter in sein Nest schleifte und von seinen Jungen aus der Rüstung saugen ließ, hat Wolfdietrich sie nach seiner Konversion zum Mönch einem Kloster gestiftet. Seburg schildert zugleich die Sündenqualen Wolfdietrichs, der offenbar für sein Ritterdasein hart büßen musste. Die Geschichte der Waffe, wie sie hier an zwei berühmten Protagonisten der Dietrichepik eingespielt wird, besitzt zwei paradigmatische Bezugspunkte, die die klassischen Pole mittelalterlicher Anthropologie markieren und zugleich die Spannung, in der die Protagonisten des Eckenliedes je für sich stehen: Die Rüstung ist zum einen defensives Instrument in der Auseinandersetzung mit der wilden Natur. Der Drachenkampf ist in mittelalterlicher Epik Inbegriff dieser kulturellen Selbstbehauptung.30 Die Rüstung steht andererseits konträr zum Pazifismus der Religion. In der conversio des Heros wird ein entscheidenderer Kampf sichtbar: der mit den Seelen seiner Gegner. In Ortnit und Wolfdietrich werden zwei entgegengesetzte Exempel ins Bild gesetzt, die die klassische Aitiologie der Waffe unterlaufen. Während diese traditionell die Bedeutung der Waffe steigert, demonstriert die Wunderrüstung des Eckenliedes, so emphatisch sie auch eingeführt wird, eine doppelte Wirkungslosigkeit: Die Rüstung wird eingespannt zwischen einen mythischen und einen christlich codierten Raum: Drachennest und Kloster. Dem Versprechen der Allmacht folgt die Erfahrung
|| 28 Klaus von See: Was ist Heldendichtung? In: Ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung (Anm. 1), S. 154–193, hier S. 177. 29 Zum „mythischen Hintergrund“ des antiken Heroentums und seiner ‚kulthaften Verehrung‘ für die mittelalterlichen Helden und Heiligen vgl. de Vries (Anm. 5), S. 302–320. 30 J. Engelmann, G. Bindung, K. Onasch: Art. Drache. In: LMA 3 (1999), Sp. 1339–1346; Max Burkolter: Der Drache. Das Symbol und der Mensch. Bern/Stuttgart 1981; vgl. de Vries (Anm. 5), S. 296– 300; vgl. von See (Anm. 1), S. 119. Zum Drachenkampf als „Archetypus urmenschlicher Geschichtsdeutung“ vgl. ebd., S. 118f.
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elementarer Ohnmacht, so dass der ‚Wunschform von Technik‘ sichtbar Grenzen gesetzt werden: Teilhabe an der Sphäre des Mythischen (Drachenblut) bringt zwar eine außerordentliche Waffe hervor, schützt aber nur bedingt gegen dessen Macht, schon gar nicht gegen die der Transzendenz. Erzählt wird denn auch nicht die Erfolgsgeschichte der Waffe, erzählt werden signifikante Stationen ihres Versagens. Zwar behauptet die Sphäre der niederen Mythologie ihre Geltung – die Waffe funktioniert –, doch wird sie – immanent und transzendent – mit Bedingungen konfrontiert, die generell die Ohnmacht des Menschen akzentuieren: Physische Erschöpfung und geistliche Sünde. Zwischen mythischem und metaphysischem Pol vollzieht sich die Handlung, deren Protagonisten in Bezug auf Heil und Unheil sichtbar in den Sog ihrer Vorgänger geraten: Dietrich als Streiter im Namen christlicher Ethik gegen den exorbitanten Heros Ecke und seine wilde Verwandtschaft.31 Noch in Eckes und Dietrichs Physis artikuliert sich diese Spannung. Die beiden Exempel transportieren mehr als eine epische Vorausdeutung in symbolischer Verkleidung, sie stecken die Koordinaten für eine Standortbestimmung des Heros zwischen Himmel und Erde ab: ein genuin mythisches Thema. Der Verweis auf Ortnit und Wolfdietrich akzentuiert ein Thema mit zusätzlichen mythischen Implikationen. Im Eckenlied wird am Verhältnis des Heros zu seiner Waffe die Selbstreflexion feudaler Identität auch als mythische Spannung von Animalität und Technik durchgespielt. Sie offenbart sich an Eckes Rüstung ebenso wie an Dietrichs Körper. Am deutlichsten aber zeigt sie sich am Phänomen des Pferdemannes, auf den Ecke zu Beginn seiner Suche trifft.32 Der Kentaur, der einen Hornpanzer besitzt und Waffen trägt, das hat Peschel-Rentsch gezeigt, steht in der Mitte zwischen dem Riesen Ecke, den kein Pferd zu tragen vermag, und dem Musterritter Dietrich, auf den Ecke am Ende trifft und von dem es explizit heißt, dass er nur gegen Berittene antrete.33 Die Szene mag spätere Interpolation sein, syntagmatisch entbehrlich, doch zeugt ihr paradigmatischer Status davon, dass die Handlung auch im Spannungsfeld von Natur und Kultur sich aufbaut und auch von den Bearbeitern || 31 In der Rabenschlacht tritt Dietrich gegen Siegfried, den hürnen Siegfried mit seinen Wunderwaffen, an, und es sind einzig die metaphysischen Bestandteile von Dietrichs Hemd, die ihn vor Verletzungen schützen. Zwischen die inkorporierte Hornhaut seines Gegners und die äußere Rüstung tritt hier ein Seidenhemd, das durch Reliquien geschützt wird. Wie Dietrich aber in der Gattungstradition sowohl einen Feueratem wie ein schützendes Taufhemd zugewiesen wird, so trägt der vorsichtig, aber deutlich animalisierte Riese Ecke eine naturmagisch imprägnierte Rüstung (Drachenblut!). Die Rabenschlacht. In: Deutsches Heldenbuch. Zweiter Teil. Hrsg. von Ernst Martin. Berlin 1866, Str. 651f. 32 Georg Zink: Eckes Kampf mit dem Meerwunder. Zu Eckenlied L 52–54. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Hennig, Herbert Kolb. München 1971, S. 485–492; Dietmar Peschel-Rentsch: Pferdemänner. Kleine Studien zum Selbstbewußtsein eines Ritters. In: Ders.: Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen/Jena 1998, S. 12–47. 33 Peschel-Rentsch (Anm. 32), S. 23f.
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offenbar so aufgefasst wurde. Die Szene hat ihr Vorbild im Chevalier de Papegau, in dem Artus einen langen Kampf gegen einen Fischritter austrägt, der eine leibhaftige Identität mit seinen Waffen bildet: „Als Artus [nach dem Sieg] sich ihm nähert, stellt er fest, daß alles, Roß und Reiter, Helm, Schild und Waffen nur ein Wesen bilden – deshalb das Blut aus dem Schilde floß –, das von einer schwarzen Haut, ähnlich der Haut einer Schlange, überzogen ist.“34 Der Bearbeiter des Eckenliedes profiliert die Relation von Mensch, Pferd und Waffe weniger pointiert, zudem vor dem Hintergrund eines anderen Bildfeldes, doch werden auch hier gegenüber dem Idealritter problematische Konfigurationen eingespielt. Wenn gleich zu Beginn die Rüstung ausschnitthaft eine eigene Geschichte erhält, folgt das Eckenlied einem bekannten Muster. Für die Feudalkultur ist die Waffe nicht nur ein elementares Mittel der Selbstbehauptung, sie ist zudem in einer komplexen Weise mit Sinn aufgeladen. Gerade weil sie ‚notwendig‘ für das Überleben ist, wird sie in vielfacher Hinsicht auratisiert. Die Waffe ist zu allererst Garant und damit Zeichen der Macht: Waffentragen ist Vorrecht des Adels, ist Ausdruck seines Gewaltmonopols und markiert den sozialen Unterschied. Sie ist Bestandteil ritueller gesellschaftlicher Akte.35 Macht und Identität der adeligen Person konkretisieren sich in der Waffe. Rüstung und Waffen des Ritters erweisen sich damit als komplizierte Einschreibeflächen von Zeichen. Erst durch die Ausstattung mit der Rüstung Ortnits wird der Held Ecke „überhaupt zu einer sichtbaren Erscheinung“36, und Eckes Vasall Eggenot wird später gleichfalls weitgehend über die Beschreibung seiner Waffen eingeführt (208,12ff.). Indem die Vorstellung des Heros primär über seine Waffen sich vollzieht, die descriptio der Waffen die der Person ersetzt, wird nicht nur die Typik mittelalterlicher Personendarstellung sichtbar, sondern auch, wie die Person hinter der Waffe zurücktritt. In ihrer Personalisierung wird sogar ein besonderer Modus dieser symbiotischen Beziehung sichtbar. Die Waffe wird in der Apostrophe dem einsamen ‚strahlenden‘ Heros zum Ansprechpartner. So heißt es über Dietrich: wie dik er sprach zem helme sin: wie bistu hint geschoenet! dem smide muos zergan sin pin, des hant dich hat gekroenet: des wúnschet im min zunge gar.
|| 34 Zink (Anm. 32), S. 487. 35 Der Herrscher thront unter dem Zeichen des Schwertes, und der Richter spricht in seinem Namen Recht. Machtübergabe und Herrschaftstransfer werden im Mittelalter durch Schwertübergabe öffentlich inszeniert, und die Initiation des jugendlichen Ritters wird im Vorgang der Schwertleite zum gesellschaftlichen Ereignis. Wilhelm Erben: Schwertleite und Ritterschlag. Beiträge zu einer Rechtsgeschichte der Waffen. In: Zeitschrift für historische Waffenkunde 8 (1919), S. 105–167. 36 Bleumer (Anm. 11), S. 142.
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so du ie elter wirdest, so wirst ie liehter var. (71,7ff.)
Wie eine Person erhält die Waffe in der Heldenepik auch einen Namen – Balmunc, Durandart, Anteclerc etc. Dietrichs Helm trägt im Eckenlied den Namen Hiltegrin (71,1). Der Name bewahrt die Namen der Vorbesitzer – Hilte und Grin –, denen Dietrich die Rüstung im Kampf abgewonnen hat, und damit zugleich einen Teil seiner Heldengeschichte. Als Ecke im Wald Dietrich herausfordert und seine Rüstung als Beute anbietet, verlangt dieser Auskunft über die Waffe: ‚die solt du mir nennen [...] ob ich si mug erkennen‘ (75,3/6), ja Dietrich fragt explizit nach ihrem Namen: ‚nu sag mit iren namen gar‘ (75,7). Rüstungen bilden Einschreibeflächen, die die Geschichte ihres Ruhmes transportieren. Indem der Heros sich der Rüstung seines Gegners bemächtigt, eignet er sich zugleich dessen Namen an, so dass dieser im metonymischen Sinn zum Bestandteil des Siegers wird.37 An Eckes Schwert wird in der Dietrichepik ein ähnlicher Transfermechanismus sichtbar. Eckes Schwert erhält von seinen Herstellern den Namen sahs, und im Verlauf der Handlung wird dieser Name zum Gegenstand eines Spiels. Nach seinem Sieg über Ecke tritt Dietrich nicht nur gegen dessen Bruder Vasolt an, er wendet nach Aussage des Erzählers auch Eckes Schwert gegen ihn, das beinah selbstständig agiert: hern Eggen sahs da wider galt; / es húw die ringe gerne (185,5f.). Indem der Erzähler deutlich macht, dass Vasolt mit der Waffe seines Bruders besiegt wird, spielt er im Hintergrund die mythische Konstellation des Bruderkampfes ein. Wenn Dietrichs Schwert in späterer Heldendichtung den Namen „Eckesachs“ erhält, schlägt sich auch Dietrichs Sieg im Namen der Waffe nieder, und das Eckenlied liefert eine mögliche Aitiologie.38 In der weiteren Sagengeschichte schlägt dann aber die possessive Wendung hern Eggen sahs in eine eponyme um, die nunmehr den Ruhm des Siegers nicht nur vergegenständlicht, sondern auch im Namen des Gegners kondensiert. Wie der Heros an der Geschichte der Waffe partizipiert, schreibt auch er seinen Namen in diese ein. Dass Epenhandlung und ihre soziale Resonanz hier auf zwei verschiedenen Ebenen verlaufen, wird daran sichtbar, dass in beiden Fällen der Denomination (Hiltegrin/ hern Eggen sahs) nicht die Figuren, sondern der Erzähler die Namen der Waffen nennt, der Erzähler
|| 37 Dass die beiden Namen Hilte und Grin je für sich noch eine kriegerische Konnotation nahe legen (hilt = Kampf; grin = schreien), unterstützt die memoria an den Kampf. Vgl. Hildebrant, Hadubrant, Heribrant. 38 Auch wenn Priebe darauf verweist, dass der Name im Eckenlied selbst nicht fällt, auch keine nachweisbare Verbindung zwischen Eckenlied und Dietrichs topischer Waffe besteht, über die Namensanalogie und das vertraute kulturelle Muster des Waffentransfers befördert die Dietrichepik zumindest die Suggestion. Vgl. Ulrich Priebe: Altdeutsche Schwertmärchen. Stettin 1906, S. 11–17; vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/New York 1999, S. 120f.
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mithin schon aus dem übergeordneten Horizont der vertrauten Dietrichsage spricht.39 Verfügung über den Namen des Gegners ist ein altes mythisch-magisches Motiv. Das Mittelalter kennt Namenmagie im weltlichen wie im geistlichen Sinn.40 Was der Transfer der Waffen im Eckenlied anzeigt, folgt indes weniger den Mechanismen eines magischen Animismus, wie er traditionell im Blut verkörpert wird. Während das Trinken des Blutes den Gegner inkorporiert, wird mit dessen eroberter Rüstung vor allem sein Ruhm attribuiert, ‚angezogen‘. Darin läge der Abstand zum mythischen Denken archaischer Provenienz: Technik und Aura,41 nicht aber die Magie der Person gehen mit den Waffen und dem Namen auf den Sieger über. Funktion und Repräsentation überlagern bereits die alte animistische Auffassung. Keinesfalls aber ist der Name damit schon arbiträres Zeichen. Er besitzt noch für die Feudalkultur einen besonderen Status. Wie an Dietrich sichtbar, stellt der Name den Träger in übergeordnete genealogische (Dietmar) und herrschaftliche (Bern) Zusammenhänge.42 Solcherart transportiert der Name des Vaters das proprium des Geschlechts, formuliert „der Akt der Namengebung [...] die eigentliche soziale Geburt des Menschen“.43 Zu dieser aber gehört nicht nur die Herkunft, sondern auch der erworbene Ruhm, der sich an den Namen anlagert. Jörg Jarnut hat an Isidors Etymologie von Adel diesen Leistungsaspekt des Namens aufgezeigt: Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur.44 Insofern umrahmen die Waffennamen, die auf den Helden übertragen werden, seinen Herkunftsnamen, befördern seinen Ruhm und transportieren die mit ihm verbundene Geschichte: Name und Ruhm sind hier Synonyme.45
|| 39 Der Erzähler überblickt die Geschichte als Ganze, zieht Fäden zu anderen Dietrichepen, kennt auch die eponyme Funktion der Waffen. Die Figuren selbst verhalten sich demgegenüber neutral. 40 Mitterauer hat darauf verwiesen, dass etwa christliches Namenspatronat durch Heilige nicht nur ein ethisches Programm signalisiert, sondern mehr noch einen Schutz durch den Heiligen beschwört. Michael Mitterauer: Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel „heiliger Namen“. In: Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten. Hrsg. von Edith Sauer. Köln/Weimar 1995, S. 45–72, hier S. 68. 41 Genelun gerät in den Besitz einer besonderen Waffe, die ihm Naimes von Baiern und Karl, sehr zum Schaden der Christen, übergeben haben. Hagen eignet sich Siegfrieds Schwerts Balmung an und maßt sich eine Richterpose an. 42 Jan-Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs Willehalm, dem Nibelungenlied, dem Rosengarten zu Worms und dem Eckenlied. In: Alltag der Symbole. Festschrift Harry Kühnel. Hrsg. von Gertrud Blaschitz [u. a.]. Graz 1992, S. 87–111, hier S. 106. 43 Mitterauer (Anm. 40), S. 45f.; vgl. Jörg Jarnut: Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur. In: Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen. Hrsg. von Dieter Geuenich, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut. Berlin/New York 1997, S. 116–126, hier S. 126. 44 Ebd., S. 116f. u. 121f. 45 Daher fürchtet Helferich allein schon den Namen Dietrichs (61,12f.), und daher sorgt sich Dietrich selbst nach seinem problematischen Sieg vor allem um die Qualität seines Namens. Des muos ich mich von schulden schamen. / und waer ich nuwan von dem namen / – ichn ruochte, wie ich hiesse – / das ich eht anders waer genant [...]. Eckenlied (Anm. 12), 143,1–4.
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Die Denomination der Waffe beutet jenseits aller Namenmagie mythische Vorstellungen aus. Dietrichs Neugierde auf die Geschichte der Waffe setzt die Legitimität der Beutegier voraus. Immerhin ist er mit dem Helm Hiltegrin schon durch eine Trophäe ausgezeichnet, die das Muster vorprägt. Die Rüstung als legitime Beute ist primär Relikt archaischer Praxis, erst sekundär heldenepisches Moment, die Infragestellung dieser Praxis bereits christliche Distanzierung. Beide Positionen aber, die archaische wie die christliche, werden im Eckenlied nicht eindeutig hierarchisiert, eher gegeneinander ausgespielt. Dietrich eignet sich auch Eckes Rüstung und Schwert an, und er schwankt in seiner Haltung sichtbar zwischen selbstkritischer Klage und ostentativem Stolz. Nachdem Dietrich Eggenot mit Eckes Schwert getötet hat, hebt er zu einer emphatischen Apostrophe auf sein Schwert an:46 Her Dietrich wust sin schoenes swert: der eron was es vil wol wert. er sprach: ‚sit ich dich gewunnen han, so schaf ich, swas ich will. da von so han ich vroeden vil, und ist mir lait zerrunnen; won ich wais kaines me so guot. von gold ist rot sin schaide. da von so gestet sich mim muot [...]‘ (222,1–9).
Der Akt des reroup scheint vergessen und die Perspektive umgeschlagen. Der Erfolg im Kampf wird auch als Effekt der Waffen gewertet. Bei aller Ethisierung bleibt noch der Musterritter archaischen Praktiken verhaftet, die auf alten mythischen Vorstellungen aufruhen. Mehr als der Held partizipiert die Rüstung am Arkanum der Natur und transportiert überdies ein negatives Fatum. Wenn sie sich letztlich gegen die ganze Sippe Eckes wendet, gerät das Schicksal unter den Bann einer mythischen Figur: der Wiederholung. Was als Schutzmittel in einem Akt der Fürsorge übergeben wurde, besitzt nicht nur eine belastete Vorgeschichte, es wird zugleich zur ‚UrSache‘ eines schmachvollen Todes – Ecke wird notgedrungen erstochen – und des Untergangs der Sippe. Als Produkt magischer Kunstfertigkeit repräsentieren Rüstung und Schwert Eckes schon für sich mythische Qualität. Dietrich insistiert wiederholt, als Ecke den Beutewert der Rüstung preist: er enrette mit im niht me, / e das der degen lobesam / im saite von dem waffen [...] (76,6–8). Kenntnis über die Waffe und ihre Geschichte verrät wie Name und Herkunft der Person etwas vom Status des Kämpfenden. Die Begegnung der Heroen ist vor allem eine Begegnung der Rüstungen.47 Vor dem Kampf entfaltet Ecke denn auch umfangreich die Herkunftsgeschichte seiner Rüs|| 46 Vgl. Priebe (Anm. 38), S. 13. 47 Müller (Anm. 42), S. 103–109; Bleumer (Anm. 11), S. 147.
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tung: Sie besitzt keinen gewöhnlichen Ursprung: den Helm haben Zwerge mit Eifer hergestellt, den machton zwelf mit flis ein jar, das Schwert, das smittont vil getwerge (79,3); die aventiure ist Zeuge, dass si worhtont wunders gar genuok / in ainem holen berge / von menger liehter sarewat. (79,4–7). Die Bearbeitung ist damit noch nicht abgeschlossen. Zwei wilde Zwerge tragen das Schwert zum Fluss Drau, der durch Troja fließt, und härten es in dessen Wasser. Nur durch Diebstahl gelangt es aus der Zwergenhöhle und wird dem König Ruodlieb übergeben, der es seinerseits seinem Sohn Herbort zur Schwertleite weiter reicht. Dessen Hand führt es zum Sieg über den Riesen Hugebold, der als ein Feind der Christen wütete. Die lange Aitiologie der Waffe ist konventionell und setzt sich aus topischen Elementen zusammen. Dabei wird ihr Entstehungsprozess mit „Bedeutsamkeit“ unterschiedlichster Sphären angereichert. Verweisen der abgelegene Ort der Herstellung und die geheimnisvollen Zwerge auf einen Ursprung im Grenzbereich der Natur, so verbindet der Hinweis auf Troja das Arkanum mit heroischer Geschichte. Die folgende genealogisch bedingte Tradierung betont die soziale Auratisierung der Waffe, während ihre Bewährung im Heidenkampf sie auf der rechten ideologischen Seite verortet. Die Aitiologie bündelt geradezu bedeutungsstiftende Funktionsbereiche der Feudalgesellschaft: Ursprung, Geschichte, Genealogie, Wirkung. Welche Rolle aber spielt die Aitiologie an dieser Stelle im Erzählzusammenhang jenseits des vorgeblichen Beutediskurses? Wenn Dietrich und Ecke aufeinandertreffen, stehen sich in mehr als einem Sinn asymmetrische Gegner gegenüber: der Bote dem Herren, der Fußgänger dem Reiter, vor allem aber der Namenlose der Berühmtheit. Von daher bringt Ecke nach seinem Botenauftrag sogleich seine Rüstung ins Spiel, von daher interessiert sich auch Dietrich nicht für Ecke, sondern zunächst nur für dessen Rüstung. Wie in der descriptio personae vertritt auch hier die Rüstung den Helden und über ihre Einschreibungen wie über ihre Geschichte steigert sich dessen Rang. Im vorliegenden Fall überbrückt die Erzählung eine Lücke im Motivationshaushalt des Geschehens. Das Dilemma Eckes besteht darin, dass er selbst keinen Namen und keine Geschichte hat – allenfalls eine marginale –, wohl aber seine Waffen. Nur über den Beutediskurs kann Ecke den sichtbaren Makel tilgen und Gleichrangigkeit suggerieren. Die Waffenmythe fungiert als Substitut der Wahrheit. Als Dietrich nach der Waffe fragt, will er auch wissen, wie Ecke in ihren Besitz gekommen ist. Die Waffenmythe aber verdeckt nun gerade Eckes Defizit: Er hat keinen signifikanten Ursprung, keinen Namen, keine Geschichte, und er hat anders als Dietrich seine Rüstung auch nicht erkämpft. An die Stelle der Person tritt wieder die Waffe. Die Form der Aitiologie partizipiert an einem Narrativ, das genuin der Frage nach dem Ursprung verpflichtet ist und dem traditionell mythischer Gehalt zugewiesen wird. André Jolles hat gar eine Erzählform Mythe postuliert, in der der ‚Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus Schöpfung werde‘, am eindringlichsten in
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Schöpfungsmythen.48 Sie setzt sich in verschiedensten Formen, angefangen von genealogischen Erzählungen, in Gründungsmythen von Reichen, Stämmen und Geschlechtern, fort und nimmt auch literarische Gestalt an. Die Waffenmythe transferiert Momente dieses genealogischen Diskurses auf eine Sache, ihre Funktion aber bleibt dieselbe: Im Akt des Erzählens wird Bedeutsamkeit gestiftet. Die Waffen werden nicht einfach hergestellt, sie erhalten eine Geschichte wie eine Person, die im Lauf der Zeit immer neue Bedeutungselemente aufnehmen kann. Geschlechter lagern sich an die Waffen an wie auch herausragende Taten, ja anstelle von Ecke besitzt die Waffe Ruhm: daz man ir lop so witen trait. (77,9). Im Durchlaufen der einzelnen Felder wird demonstriert, dass die Waffe über alles das verfügt, was Ecke mangelt.49 Was vom narrativen Schema her vorentschieden ist und im Vorfeld vielfach signalisiert wird – die Niederlage Eckes und der Sieg Dietrichs –, bedarf im Einzelfall der Motivierung. Die Waffen bestätigen ihren Sonderstatus und steigern zunächst syntagmatisch die Spannung der Auseinandersetzung.50 Ihre besondere Qualität lässt offenbar keine rechte Entscheidung zustande kommen. So wird der Kasus auf die Spitze getrieben, wenn die beste Waffe gegen den besten Helden ins Feld geführt wird.
4 Mythische Körper Die Dramaturgie des Zweikampfs kennt ihre obligatorischen Krisen und Peripetien. Wenn der Held im Kampfverlauf stets in die Defensive gerät und eine Phase der
|| 48 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1999 [zuerst 1930], S. 101; vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin 2004 (TMP. 2), S. 1–18, hier S. 4f. Lotman führt die Betonung des Anfangs im Textmodell auf ein ihnen entsprechendes Kulturmodell zurück: „Eine Erscheinung erklären, hieß: auf ihre Herkunft verweisen.“ Lotman (Anm. 10), S. 305. 49 Ort und Funktion der Aitiologie verfehlen im Eckenlied aber zunächst das herkömmliche Ziel. Dient die Genealogie der Waffe in der Regel der Steigerung ihres Wertes, der Beschwörung ihrer Qualität vor dem Kampf, so setzt Ecke sie provokativ als Reizmittel ein. Der kalkulierte Effekt kehrt sich um, als der beeindruckte Dietrich dem Kampf ausweichen will. Ecke nimmt daraufhin sogar die gesamte Geschichte zurück, so dass im Prozess der Darstellung die Ursprungsmythe der Waffe zum rhetorischen Trick degradiert wird. Zu Dietrichs Kampfverweigerung vgl. Jens Haustein: Die zagheit Dietrichs von Bern. In: Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur. Hrsg. von Gerhard K. Kaiser. Heidelberg 1998, S. 47–62. 50 Nur mit Eckes Schwert kann Dietrich später auch die eroberte Rüstung so kürzen, dass sie ihm passt. Und als Vasolt Dietrich vor Eggenot warnt, beruft sich dieser explizit auf die Qualität von Eckes Rüstung! (212,6ff.).
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Schwäche überwinden muss, wird jene elementare Wertebene sichtbar, für die er einsteht und die soziale Ordnung garantiert. In mittelalterlichen Epen sind solche Instanzen der Letztberufung in der Regel mythisch codiert: Gott, Minne, Natur. Im Kampf steht Dietrich lange Zeit hilflos der geballten Kraft Eckes gegenüber, so dass die Frage aufkommt, auf welche Weise er letztlich doch triumphieren wird. Eine höhere Macht, etwa Gott, bemüht nicht der Erzähler, sie bleibt allein Berufungsinstanz der Figuren. Christliche und dämonologische Positionen lassen sich hier offenbar wechselseitig instrumentalisieren.51 Daneben rekurrieren die Kämpfer in ihren Reden auf unterschiedliche Ressourcen. Die Zweikämpfe versammeln geradezu Argumente aus verschiedenen naturmagischen Kontexten. Erzähltechnisch haben sie die Funktion, Motivierungslücken zu füllen und syntagmatisch Kohärenz zu stiften. Helferich von Lune hatte Ecke schon angekündigt, dass Dietrich vor allem im Zustand des Zorns unüberwindbar sei (63,1ff.). In dem Augenblick, als Dietrich der Gewalt Eckes zu unterliegen scheint und viel Blut verliert, gewinnt er einen Löwenmut mit unerwarteter Folge: alsus do merte sich sin maht (120,11). Das ist gewiss Rekurs auf topische Bildlichkeit – der Zorn des verwundeten und in die Ecke gedrängten Tiers –, für die in der Adelsliteratur immer wieder Löwe und Eber einstehen. Das Löwenmotiv ist im Eckenlied früh eingeführt. Die Figuren, denen Ecke auf seinem Weg zu Dietrich begegnet, rekurrieren wiederholt darauf. Der Fahrende schreibt Dietrich eingangs eine breite Löwenbrust zu (29,7f.), Helfrich erfährt am eigenen Leib seinen louwen muot (13), identifiziert auch das Löwenwappen auf Dietrichs Schild (56,10f). Wenn Dietrich in der entscheidenden Kampfphase gegen Ecke durch einen Zornausbruch den Kampf wendet, konkretisiert sich das heraldische Zeichen nicht nur physiognomisch sondern auch psychologisch: Dietrich verkörpert das Zeichen. Körper, Waffe und Affekt definieren sich über das gleiche animalische Register. Während die Namensgenealogie den Bezug zur patriarchalen Erbsubstanz aufrecht erhält (Dietmar-Dietrich), die Namen seiner Waffen die Geschichte seiner Taten transportieren, drückt der Naturbezug im heraldischen Zeichen eine weitere transpersonale Qualität aus.52 Heroisches Identitätsmuster stellt sich hier nicht über eine Kommunikationsform her, sondern über ein archaisches Kulturmuster. In dem elementaren mythischen Kraftreservoir, durch das der Heros an der Natur partizipiert, liegt der eigentliche Grund seiner Stärke. So wird neben der Waffe der Körper des Heros zum Medium überlegener Gewalt. Zwar schützt Eckes Rüstung im Zweikampf, doch gewinnt Dietrich schließlich im Ringkampf.
|| 51 Etwa wenn Ecke selbstgewiss auf Gottes Beistand verzichtet und Dietrich sich unter dessen Schutz stellt. Andererseits vermutet Ecke in Dietrichs plötzlichem Kraftzuwachs die Unterstützung des Teufels. 52 Zur transpersonalen Qualität von Name und Waffe vgl. Müller (Anm. 42), S. 106. Zur mythischen Funktion von Name und Bild vgl. Cassirer (Anm. 4), S. 54.
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Dem Mythos der Waffe wird durch einen des Körpers gegengesteuert, ohne dass es zu einer schlichten Opposition von Natur und Technik käme. Im Zweikampf zwischen Dietrich und Vasolt ergibt sich dieser überraschend, nachdem ihm seine langen Zöpfe abgeschlagen wurden.53 Zwar tritt er später noch einmal gegen Dietrich an, doch hat es den Eindruck, als spiele der Text auf die enge Verbindung von Haarwuchs und Machtanspruch an.54 Syntagmatisch wird die Aufgabe Vasolts nicht motiviert. Der zweite Kampf gegen Vasolt spielt das animistische Motiv der Seelenwanderung ein: Nachdem Vasolt vom Tode seines Bruders erfahren hat, stellt er Dietrichs Ehre in Frage, und es kommt erneut zum Kampf. Den enormen Widerstand Vasolts erklärt sich Dietrich dadurch, dass nun offenbar Eckes Herz in ihn gefahren sei. Vasolt nimmt diese Begründung wie selbstverständlich auf und verweist auf Dietrichs toten Bruder, dessen Herz vor Ravenna gleichfalls auf Dietrich übergegangen sei: do fuor sin kraft in dinen lip (198,5). Das Herz ist in der Heldenepik u. a. der Sitz der Tapferkeit. Wie der Name die Kontinuität der genealogischen Substanz anzeigt, so verweist auch die Seelenwanderung des Bruders auf die transpersonale Macht der Sippe. Der Rekurs auf das Register psychophysischer Energien dient gewiss der Steigerung der Dramatik, doch aktiviert auch er ein archaisches Kulturmuster, das den Einzelnen in einem größeren Zusammenhang verortet. Auch wenn es für die Entscheidung keine Rolle spielt, da Dietrich sich letztlich überlegen durchsetzt, wird das Prinzip diskursiv verhandelt und anerkannt. Vor einer Höhle trifft Dietrich dann auf Eckes treuen Vasallen Eggenot, der ebenfalls durch seine Waffen – Halsberg, Rüstung, Sporen, Schwert Siegfrieds, Schild, Speer – repräsentiert wird (208,12–210,13). Nachdem Dietrich niedergeschlagen wird, bricht im Zorn sein gattungstypischer Feueratem hervor – da von sin munt in zorn enbran (219,11), der ihm die nötige Kraft verleiht, seinen Gegner zu töten:55 In all diesen Fällen speist sich die Kraft des Kriegers aus den verschiedenen Instanzen des Körpers: Aktivierung animalischer Ressourcen, Haare als Kraftquelle, Animismus der Herzenskraft, schließlich Zorn als Katalysator. Neben der mythischen Technologie der Waffen werden letztlich die mythischen Energien des Körpers in Anschlag gebracht. Jenseits der christlichen Codierung und auch durchaus im Einklang mit ihr, wird die Identität des Heros in mythischen Instanzen verankert. Im idealen Helden Dietrich aber fallen im Lauf der Erzählung beide Instanzen zusammen.
|| 53 er sluog im ab den andern / zoph, das er fuor von dan. / Vasolt sprach: ‚ich wil mich ergeben! [...]‘. Eckenlied (Anm. 12), Str. 186,12f.–187,1. 54 Vgl. R. Rolle, H. Seemann: Art. Haar- und Barttracht. In: RGA 13 (1999), S. 232–240, hier S. 233f. 55 Zur Diskursgeschichte des Zorns vgl. Klaus Grubmüller: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. Stephen Jaeger, Ingrid Kasten. Berlin/New York 2003 (TMP. 1), S. 47–69, hier S. 51–54.
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Der Versuch, das Eckenlied aus der Gegenläufigkeit von sich vollziehendem Geschehen – Eckes blindem Kampfethos – und seiner gegenläufigen narrativen Aufbereitung – der zahlreichen mahnenden Exempel – heraus zu verstehen, vermag die Teleologie des sich abzeichnenden Verhängnisses zu beschreiben, erfasst aber nicht die Funktion der mythischen Elemente. In narratologischer Perspektive werden diese gar nicht erst zum Thema, selbst die Geschichte der Rüstung wird hier auf eine Erzählfunktion reduziert. Während die Einbeziehung sozialhistorischer Handlungsmuster (z. B. Vasallität, Rache) die Motivationsstrukturen des Erzählvorgangs aufdeckt, erlaubt die Berücksichtigung zusätzlicher historischer ‚Ordnungen des Wissens‘ eine zusätzliche kulturelle Kontextualisierung. Eine solche Ordnung wäre die mythische. Texte stehen in komplexen übergeordneten kulturellen Zusammenhängen, die ihren Erzählverlauf steuern. Erzähllogisch mag Ecke ein Handlungstypus mit negativem Ausgang sein, Dietrich einer mit positivem: Kultursemiotisch ist Ecke als unproportionierter Heros eine Grenzfigur zum Tierreich wie Dietrich als idealer, ‚strahlender‘ Held eine Grenzfigur zum Heiligen darstellt. Und doch – und darin liegt das Faszinierende der Konstellation – bilden beide Figuren trotz des vorprogrammierten Schicksals eben keine rein polaren Typen. Der animalisierte Heros erscheint in vollkommener technischer Einkleidung, der Streiter im Namen Gottes dagegen mobilisiert letztlich mythisch-physische Ressourcen! Das Eckenlied betreibt keine Entmythisierung heroischer Exorbitanz, vielmehr wird diese im Verlauf der Erzählung immer wieder durch Rekurs auf mythische Gehalte ins Spiel gebracht. Die kurzen Exempel von Ortnit und Wolfdietrich, die Seburg anlässlich der Bewaffnung Eckes erzählt, bilden geradezu Inversionen des Normalfalls: Sie beschwören nicht den Erfolg, sondern nehmen vielmehr den Misserfolg vorweg, sie dienen als Zeichen des negativen fatums, das über Ecke waltet. Die Funktion der Mythe wird durch eine christliche Exemplarik ersetzt. Eckes eigene Waffenmythe entfaltet dagegen die Rahmenbedingungen für soziale Geltung, für Ruhm, für einen Namen überhaupt. Die Aitiologien sind daher mehr als nur Vermittler mythischmagischer Kräfte, sie stecken zugleich die Koordinaten von elementaren Daseinsproblemen ab.
5 Kulturelles Gedächtnis Für die Pragmatik rituellen Handelns, sei es religiöser Art im Hymnus oder medizinischer im Zauberspruch, dienen narrative Inserate dem beschwörenden Vorgriff auf den beabsichtigten Zweck: Die Erzählung bietet einen Fall, dessen Analogie der Einflussnahme auf die transzendente Macht dienen soll, um gewissermaßen das
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archetypische Ereignis durch die Erzählung zu vergegenwärtigen.56 In solchem Kontext ist der Mythos als Erzählung eng an Kultpraxis gebunden. Der frühen Mythenforschung nun galt das Epos, vor allem das antike, als literarisierter Mythos und eng verbunden mit Kultpraxis. Unter Rekurs auf antike Vorbilder und auf Eliades Konzept von der Vergegenwärtigung des mythischen Ereignisses im Ritus, wurden analoge Spuren im Feld germanischen Heldensage gesucht (de Vries). Der Ruhm des Heros werde im perennierenden Ritus der gesellschaftlichen memoria gesichert. Zwar hat die Kultthese aufgrund fehlender historischer Nachweise wenig Anklang gefunden, doch lässt sich fragen, ob die heldenepischen Texte in abgestufter Form daran partizipieren können? Substituiert man Kult durch memoria, entfällt zwar der religiöse Kontext und damit der rituelle Gehalt, nicht aber der Aspekt der Vergegenwärtigung. Gegenwärtige Namenlosigkeit (es weiz noch niemen / wer ich bin; 14,5f.) einerseits und Ruhmstreben andererseits, Verstetigung der eigenen exorbitanten Tat im Gedächtnis der Gemeinschaft, treiben Ecke an: so hoert man in dem lande sagen und sprechen / seht: her Egge hat den Berner erslagen (14,14f.). Es kommt bekanntlich anders: und doch nicht ganz. Die Tat ist zum Zeitpunkt ihrer schriftlichen Fixierung offenbar schon länger Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Nicht nur wird Helferich von Lune im Fortlauf der Handlung als Zeuge für den Zweikampf bemüht: Erst sait von Lune Helferich, / wie zwene fúrsten lobelich / im walde zesamen kament: / her Egge und ouch her Dietherich (69,1–4). Mehr noch verweist der Erzähler an späterer Stelle auf die Bekanntheit der Geschichte: das wissint von den lieden: sich bruoft ir baider [!] herzelait, / da von man noch singet unde sait, [...] (106,3–5). So sehr Ecke in seinem Vorhaben gescheitert sein mag, so sicher hat sich seine Tat in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Doch nicht als Bestandteil eines Ritus inszeniert sich die Geschichte, sondern innerhalb der Aufführungssituation der feudalen Memorialkultur. Die Vergegenwärtigung im Heldenlied ist nicht mythisch, vielmehr analog zum Mythos.
6 Fazit Das Eckenlied betreibt keine Säkularisierung germanischer Mythologie im Sinne der Substitution von Göttern durch Personen. Zwar setzt sich das Figurenrepertoire auch aus Elementen der niederen Mythologie – Riesen, Zwerge, Waldmaiden – mit ihren besonderen Fähigkeiten (heilen/wissen) zusammen, sie sind aber schon weitgehend an die Feudalkultur angenähert. Das Eckenlied geht auch nicht in den Formeln Entmythisierung und Remythisierung auf, lässt sich nicht auf der einen oder
|| 56 Jolles (Anm. 48), S. 56–59; vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachlicher Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). Königstein/Ts. 1988, S. 412–436.
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anderen Seite verorten. Sichtbar wird eher ein verwickelter Befund. Jenseits religiöser Mythosvorstellungen enthält das Eckenlied verschiedene mythische Konfigurationen, die zwar, gemessen an ihren archaischen Ausprägungen, depotenziert erscheinen, nichtsdestoweniger aber mythische Funktionen weiter transportieren. So erscheint in Ecke einerseits die bedrohliche Natur der Vorzeitriesen zu heroischer Exorbitanz gemildert, andererseits ritterliche Existenz sichtbar ins Maßlose überdehnt zu sein: Verhandelt werden Grenzen und Paradoxien feudaler Gewaltexistenz. Die Magie des Blutes wird in einem technisch-magischen Sinn auf die Waffe übertragen und befördert damit die mythische Vorstellung übermenschlicher Handlungsoptionen; die ‚Aneignung‘ des Gegners erfolgt über die Waffe und beutet Muster der Namenmagie aus, auch hier aber sind Namen und Waffen schon weitgehend rationalisiert zur Trophäe. Allein die Aitiologie der Waffe und die Mobilisierung körperlicher Ressourcen partizipieren deutlicher an mythischen Dimensionen, transportieren mythischen Überschuss: Magische Ressourcen wie Animalität, Seelenwanderung und Affektausbrüche verweisen auf elementare Felder adeliger Identitätskonstitution (Natur und Körper neben familia), sie zeitigen Wirkungen und lösen Peripetien aus. Solche Umbesetzung bezeichnen jenseits des Säkularisierungstheorems zugleich Entmächtigung und Fortwirkung des Mythos in einer archaisch-christlichen Mischkultur. Das Eckenlied bewahrt Restbestände einer Konkreszenz der Daseinssphären (Cassirer), ohne in einer reinen Präsenzkultur aufzugehen: Technik und Natur, Name und Person, Leben und Tod sowie Mensch und Tier gehören nicht analytisch getrennten Bereichen an, sondern besitzen Möglichkeiten des Übergangs. All diese mythisch-magischen Phänomene sind auf den Zweikampf hin fokussiert, und noch die Zweikampfkonstellation selbst enthält mythische Implikationen. Der Handlungsverlauf des Eckenliedes folgt mit Herausforderung und Zweikampf einem einfachen, geradezu elementaren Modell feudaler Selbstbehauptung: gegen die Natur, gegen den Feind, gegen den Standesgenossen. In der Heldenepik findet diese Selbstbehauptung ihren signifikantesten Ausdruck in der „heroischen Urfabel“ des Drachenkampfes.57 Der Drachenkampf steht für die drohenden Mächte der Natur, denen der Mensch ausgeliefert ist, denen er sich stellt und die er entweder überwindet oder an ihnen scheitert.58 Die Anspielungen auf Ortnit und Wolfdietrich
|| 57 Walter Haug: Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung. In: Studien zum Altgermanischen. Festschrift für Heinrich Beck. Hrsg. von Heiko Uecker. Berlin/New York 1994 (Ergänzungsband zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 11), S. 303–326, hier S. 313. 58 Man mag, wie Haug es unter gattungstheoretischer Perspektive tut, den Drachenkampf als Index für den Eintritt der Heldensage in die Geschichte lesen, als Bewältigungsform des ‚Dämonisch-Ungeheuren‘ (ebd.). Seine Verlaufsform, wie Haug sie beschreibt, transportiert dennoch sichtbar mythische Gehalte: Der Kampf mit dem übermächtigen Anderen führt zur Assimilierung an den dämonischen Gegner; die Notwendigkeit entsteht, die vom Heros assimilierte Gewalt sozial
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spielen diesen Komplex im Hintergrund ein. Herausforderung, Krise und Sieg bilden das positive Schema des Kampfes, Herausforderung, Krise, Untergang das negative, beide aber führen gleichermaßen zur Heroisierung des Protagonisten. In der Standhaftigkeit gegenüber den Kräften der Natur, des Feindes oder des Schicksals wird noch der Untergang mythisiert zum tragischen Akt heroischer Selbstbehauptung: ein Narrativ, das von zahllosen Kriegsgeschichten bis in die naiven Erzählmuster etwa der Western und der Seefahrer- und Bergsteigermythen wirksam ist: Im Ringen mit einem übermächtigen Gegner bedarf vor allem das Scheitern, das schlichte Walten der Kontingenz, der Mythisierung.59 Bei allem markierten Vorbehalt gegenüber dem aggressiven iuvenis, den die Erzählung deutlich macht, partizipiert Eckes Unnachgiebigkeit noch an dem Mythologem der Standhaftigkeit im Kampf. Das Eckenlied verweigert die eindeutige Zuordnung der Protagonisten zu den bekannten Asymmetrien von Natur-Kultur, Heide-Christ, obwohl sie im Text thematisiert werden. Der mythische Konflikt mit dem Antitypus ist ins Innere der Feudalkultur verlegt, indem er auf zwei Formen der Heroisierung aufgespalten ist. Zwei Paradigmen des Krieges werden personalisiert und mit mythischen Mustern unterlegt. Jenseits von Moralisierung ergeben beide Heldenentwürfe wie bei einer Kippfigur Sinn. Das Eckenlied führt heroische Exorbitanz gegen ritterliche Idealität in den Kampf und damit Positionen, die die innere Spannung der Feudalkultur offenlegen. Noch in der erzwungenen Tötung Eckes wird die Gegenläufigkeit der Erzählstrategie realisiert: Die Niederlage schlägt in Ehre um, der Sieg in potentielle Unehre.
|| (durch Frauen) zu bändigen. Im Sieg über den Drachen scheint ein latenter Schuldzusammenhang fortzuwirken. 59 Vgl. Michael Ott: In der Todeszone. In: Süddeutsche Zeitung 30.11./1.12. 2002.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit Das Narrativ der Wissenschaftsgeschichte Die Wissenschaftsgeschichte besitzt ihr eigenes Narrativ, dessen Axiologie geprägt ist durch die Werte falsch und wahr, die zugleich Anfang und Ende eines Erzählprogramms vorgeben. Die Geschichte der Wissenschaft wird als Beseitigung des Irrtums und fortschreitende Annäherung an die Wahrheit erzählt. Die Ereignisse, die eine elementare Bedingung der Erzählung darstellen, sind die Entdeckungen als entscheidende Wendepunkte oder gar Paradigmenwechsel: der Umschlag von Geound Anthropozentrik in Heliozentrik, die Ablösung der Humoralpathologie durch Physiologie und Genetik, der Alchemie durch die Chemie, der klassischen Physik durch Mechanik, Quantenphysik und Relativitätstheorie, der Schöpfungslehre durch die Evolutionstheorie. So setzt sich die Geschichte der Wissenschaften aus einer Vielzahl von kleinen disziplinären Erzählungen zusammen, die auf die ‚Große Erzählung‘ von der allmählichen Durchsetzung der Wahrheit perspektiviert werden: vom Mythos zum Logos. 1 Dieses Narrativ prägt die Moderne und ist in seiner stupenden Erfolgsgeschichte zum Paradigma auch anderer Felder erhoben worden. 2 Modernisierung als Prozessform wurde zum Leitparadigma, das alle vergangenen Erkenntnisstufen zugunsten eines je aktuellen Standes entwertete. Geschichte gilt in diesem Programm nur noch als Vorstufe, und der teleologische Blick wird zum Maßstab der Auseinandersetzung mit historisch vorgängigen Wissensutopien. Während die vormoderne Utopie des Wissens in der Rekonstruktion eines verlorenen Wissensbestandes, sei es christlicher oder antiker Provenienz, festgemacht wurde, und diejenige der Klassik in der allmählichen Vervollständigung eines dereinst abschließbaren Wissensbestandes, hat die moderne Wissenschaft auf Unendlichkeit umgestellt. 3 Indem der Prozess der theoretischen Neugierde ganz im Sinne der Evolutionstheorie kein Ziel mehr voraussetzt, 4 hat er sich aber auch jeglicher Erzählung beraubt, die über die Perspektive der aktuellen Gegenwart hinausweist. Was als methodische Vorsicht interpre-
1 Vgl. Alistair Crombie: Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft. München 1977. 2 Zur Kritik: Jean François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1986 [zuerst 1982]; Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, 2. Aufl. Wien 2008, S. 17–62. 3 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1980. 4 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Teil 3. Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a. M. 1973. https://doi.org/10.1515/9783110772340-007
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit tiert werden mag, birgt aber nicht zu unterschätzende Risiken. Kritik am Optimismus des wissenschaftlichen Fortschrittsnarrativs ist denn auch schon früh erhoben worden, nicht erst mit den Konzepten der Dialektik der Aufklärung und der Ökologie, die statt wissenschaftliche Preise zu bilanzieren die sozialen Kosten und die Folgen für die Natur hinterfragen. 5 Solche Kosten zieht auch die Monopolisierung der Logik nach sich, die andere Typen von Rationalität – z. B. Mythos, Religion, Sprache, Kunst –, die sich der geschichtlichen Dimension der Erfahrungsbildung widmen, ausblendet und in ihren Leistungen ignoriert. 6 Bereits vormoderne Formen des Wissens scheinen aber schon einer immanenten Rationalität zu folgen. Der Emphase, mit der die Aufklärung den Mythos als eine irrationale Form der Welterklärung diskreditiert hatte, ist schon länger einer Besinnung auf seine Leistungsfähigkeit gewichen. Der Mythos als Denk-, Anschauungsund Lebensform folgt zwar Regeln der „Konkreszenz“, die zentrale Differenzierungen – Teil – Ganzes, Traum – Wirklichkeit, Zeichen – Ding, Leben – Tod usw. – unterläuft, die für die moderne Wissenschaft unhintergehbar sind, doch sind sie alles andere als irrational. 7 Über metonymische und metaphorische Verfahren ‚erklären‘ Mythen etwa strukturelle Differenzen (Claneinteilungen) der Gesellschaft und demonstrieren ihr reflexives Potential. 8 Mythisches Wissen folgt nicht den strengen methodischen Anforderungen moderner Wissenschaft, sondern ist stets sozial eingebettet. Wenn dem Mythos auch eine besondere Ursprungsfixierung unterstellt wird, die über einen Gründungsakt die Frage nach dem Sinn des Anfangs still stellt, so geht seine Funktion doch nicht darin auf. 9 Hans Blumenberg hat auf die erstaunliche Persistenz mythischer Konstellationen in der Geschichte verwiesen. 10 Die Umstellung von der Ursprungsfunktion des Mythos auf die wechselnden Formen seiner Rezeption verlagert die „Arbeit am Mythos“ als produktive Reflexion auf jene Sinnfragen, auf die Wissenschaft per definitionem keine Antworten geben kann und will. Eine solch produktive Wirkungsgeschichte zeichnet auch eine Reihe von biblischen Mythen aus. Im sich immer weiter beschleunigenden Prozess des wissenschaftlichen Fortschritts werden sie zwar schließlich ihres historischen Geltungsanspruchs beraubt. Ehe aber ihr reflexives Potential in den Status von Metaphern übergeht, orientieren sie als historische Narrative ihr Sinnpotential noch dort, wo 5 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1969. 6 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Teil 2. Das mythische Denken. Darmstadt 1958. 7 Ebd. 8 Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M. 1965. 9 Zur Ursprungsfixierung vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1999. 10 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit
der wachsende Wissensbestand ihre Erklärungsleistung bereits herausfordert. Solch kritische Reflexion beginnt schon im Mittelalter, verschärft sich aber bis ins 18. Jahrhundert hinein. 11 Im Folgenden soll an ausgewählten Wissensdiskursen der Frühen Neuzeit gezeigt werden, dass sich der historisch verändernde Erkenntnisanspruch, wie er z. B. durch Antikerezeption und Entdeckungsfahrten motiviert wird, nicht gegen die biblischen Mythen (Paradies, Babel, Sintflut) formiert, vielmehr mit einer „Arbeit am Mythos“ einhergeht, die nicht einfach nur ihren Geltungsanspruch aufrecht erhält, sondern die Flexibilität der Mythen bezeugt und ihr Reflexionspotential weitertreibt.
Der Mythos der Schöpfungsgeschichte Die Bibel überliefert in der Genesis einen Schöpfungsmythos, der die zentrale Position des Menschen in der Welt ‚erklärt‘ und eine bis ins 19. Jahrhundert hinein mächtige Wirkungsgeschichte besitzt. 12 Der Mythos setzt kein Entwicklungsmodell, sondern einen absoluten Anfang, der schon ein Ideal darstellt. André Jolles hat die besondere Funktion des Mythos in der gemeinsamen Etymologie der Begriffe ,heil‘, ‚heilen‘ und ‚heilig‘ aufgespürt und für den Mythos die Schlussfolgerung gezogen: „Alles was Bestand haben soll, muss in seinem Anfang heilig gedeutet werden.“ 13 Der Mythos verfolgt einen Ansatz von Weltdeutung, der auf den Sinn des Ganzen zielt, und er beschwört diesen durch zyklische Vergegenwärtigung des Anfangs. 14 Der Paradiesmythos erzählt dann schon vom Verlust dieses Heils und folgt einem Erzählprogramm von Gesetz, Übertretung und Strafe, das den Umschlag von der dignitas in die miseria hominis beschreibt. In Verbindung mit dem heilsgeschichtlichen Narrativ des Neuen Testaments, dem Programm von Buße und Erlösung, zeigt der Mythos aber auch einen Weg aus der Misere auf und öffnet sich auf die Geschichte hin. Die Geschichte vom Verlust der Ebenbildlichkeit Gottes gab zugleich das Ideal vor, das es wiederzugewinnen galt: Dieses Narrativ wurde auch mit einer Geschichte des Wissens synchronisiert, deren locus classicus sich in Genesis 2,19 (Lutherübersetzung) findet: Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der
11 Vgl. exemplarisch Arno Seifert: ‚Verzeitlichung‘. Zur Kritik einer Frühneuzeitkategorie. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 447–477. 12 Claudia Benthien, Manuela Gerlof (Hrsg.): Paradies. Topografien der Sehnsucht. Köln [u. a.] 2010. 13 Jolles (Anm. 9), S. 14. 14 Fritz Stolz: Paradiese und Gegenwelten. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 1 (1993), S. 5–23.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen.
Die Schöpfung Gottes war auf den Menschen ausgerichtet und ihr gesamter Bestand war zu seinem Nutzen bestimmt, und allein über die Namengebung war Adam im Besitz universalen Wissens. 15 Namengebung bezeichnet im religiösen Kontext mehr als bloße Denomination, sie ist implizit als Schaffung von „Bedeutsamkeit“ auch eine Verfügungsgewalt über die Objekte. 16 Im biblischen Mythos wird Namengebung auch zur Urszene des Wissens. Dem Verlust des vollständigen Wissens über die Dinge korrespondierte das Programm seiner Rekonstruktion, das in ganz verschiedenen Genealogien des Wissens mündet. Wie die Frage nach dem Ursprung des Wissens sich aber in der Rezeption verändert und jeweils nach den historisch kulturellen Kontexten neu modelliert wird, lässt sich schon an einem kurzen Beispiel aus der Genesisrezeption exemplarisch studieren: Der biblische Satz „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte“ (Gen 2,8), kann im 16. Jahrhundert zur Legitimationsinstanz für ganz unterschiedliche wissenschaftliche Einstellungen werden. Für den Schweizer Naturforscher Conrad Gessner bleibt sowohl die Ursprungsfixierung als auch die anthropozentrische Perspektive verbindlich, er reichert sie aber um die Metaphorik des Theaters an, die in seiner Zeit auch zu einer prominenten Wissensmetapher avanciert: 17 Als nämlich zu Beginn der Schöpfung Gott den Menschen schuf, damit er in dieser Welt gewissermaßen wie in einem Theater alles betrachten und von allem, was jede Art von Tier hervorbringt, Gebrauch machen solle, wurde der Mensch in einen vollkommenen Wohnsitz gesetzt. 18
Neben dem biblischen Auftrag zur Nutzung der Tiere akzentuiert Gessner auch schon die Betrachtung der Welt. Hieronymus Cardanus dagegen muss gar nicht mehr auf die Bibel referieren, um die Anthropozentrik der Schöpfung zu markieren, er zieht aber schon einen bemerkenswert anderen Schluss:
15 Vgl. Anne-Charlott Trepp: Adam benennt die Tiere. Von der Bedeutung der Namen für die Kenntnis der Dinge. Genesis 2,19-20 als ein Erkenntnisdispositiv der Frühen Neuzeit. In: Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung, Mutterschaft, Passion. Hrsg. von Steffen Patzold [u. a.]. Paderborn 2019, S. 143–181. 16 Blumenberg (Anm. 10), S. 40–126. 17 Horst Bredekamp, Jochen Brüning, Cornelia Weber (Hrsg.): Theatrum naturae et Artis. Theater der Natur und Kunst. Essays. Wunderkammern des Wissens. Berlin 2000. 18 Primum igitur in ipso mundi exordio, Deus hominem creaturus, qui in hoc mundo quasi theatro quodam spectaret omnia, omnibus uteretur, omne prius animalium genus produxit, ut in domicilium undiquaque instructum & absolutum homo ingrederetur. Conrad Gessner: Historia animalium […]. Basel 1551, Bd. I, Bl. a 4v.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit
Jn einem herrlichen triumph vnnd spil / seind etliche so handlend / die andere herrschend / die dritten sehen zuo. Seind aber nit diese wlche zuo sehend am aller glückseligesten / dieweil sie aller sorgen vnd geschefften ledig seind? Dann die überigen seind zům theil mit sorgen / die andere mit müe vnd arbeit treffenlich beladen. Deßhalben bedaucht mich daß dieser gantzenn welt triumph vnnd schauwspil/ fast allein vmb aller weysen vnd geleerten willen erschaffen seye.19
Cardanus’ Deutung legt ein Zeugnis davon ab, wie sich die Rezeptionsgeschichte der paradiesischen Urszene des Wissens von ihrem Ausgangspunkt löst und verselbständigt. Gegenüber der praktischen und kontemplativen Welteinstellung wird die theoretische prämiert, die aber nicht mehr den Schöpfer in den Werken bewundert, vielmehr im Anschluss an den ersten Satz der aristotelischen Metaphysik – „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“ (Met I,1) – den Gelehrten und seine Neugierde an die Stelle des Gläubigen setzt. 20 Die Metaphorik des Theaters ermöglicht es eben auch, die Rolle des Zuschauers umzubesetzen. Noch in der Selbstverständigung des Theoretikers aber bewahrt der biblische Mythos seinen Geltungsanspruch. 21 Verbreiteter aber sind Rezeptionsformen, die direkt an den Ursprungsmythos anknüpfen und aus ihm eine Geschichte des Wissens und der Wissenschaften abzuleiten versuchen.
19 Hieronymus Cardanus: Offenbarung der natur Vnd Natürlicher Dingen. Übers. von Huldrych Froelich. Straßburg 1591, Bl. + vr. 20 Udo Friedrich: Universalmetaphorik. Metapher und Ordnung des Wissens in der Frühen Neuzeit. In: Enzyklopädistik zwischen 1500 und 1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Mediatisierungen des Wissens. Hrsg. von Martin Schierbaum. Münster 2009 (Pluralisierung & Autorität. 18), S. 193–248, hier S. 208f. 21 Anthony Crafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin 1999.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit
Abb. 6: Hartmann Schedel, Schedelsche Weltchronik. Nürnberg 1493, fol. Xr
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1493, ein Jahr nach der Entdeckung Amerikas, erscheint in Nürnberg die Übersetzung der Schedelschen Weltchronik (Abb. 6). In ihrem geographischen und historischen Horizont ist sie noch stark christlichen Narrativen verpflichtet.22 Die Entfaltung der Menschheitsgeschichte geht von Adam und seinen Söhnen aus, sie folgt einem genealogischen Modell, an das sich auch die Erfindung der Künste anlehnt.23 Dass diese bereits auf einem Zeitfaktor beruht, geht aus dem hohen Alter der Patriarchen vor der Sintflut hervor, die annähernd 1000 Jahre erreichen: vnd die selb lenge des alters ist gewest durch goetlichs wunderwerck das menschlich geschlecht zemeren. vnd die anfenge der kunst zeerfinden.24 Die von Adam ausgehende Linea cristi teilt sich aber durch den Brudermord Kains in eine gerechte und sündhafte, und es sind die ungerechten Söhne Lamechs, denen die Erfindung der Künste zugeschrieben wird: Man list das alle werltlich frey hantwercks oder natuͤrlich kunst menschlicher hflichkait dienende von den kindern Lamechs erfunden worden seyen vnd also sind die Eebrecherische kinder zu erst subtiler gewessen dann die anderun […].25 Pastorat (Jabel), Musik (Tubal), Schmiede- (Tubalcayn) und Webkunst (Noema), später noch Astronomie (Ionichus) erhalten ganz im Sinne einer Mythologik ihre ‚Spitzenahnen‘, die der Genealogie Noahs folgen. Im Gefolge der mittelalterlichen Tradition versichert sich eine Agrarkultur ihrer Gründungsmythen, die aber gegenüber dem Akt der adamitischen Namengebung ein konkurrierendes Modell, eine kulturelle Entwicklungsgeschichte des Wissens, in Anschlag bringen. Obwohl in dieser Traditionslinie Wissen über das Konzept der Illegitimität noch ein Stigma besitzt, ist neben der Anerkennung menschlicher Kreativität aber auch schon ein Interesse an Institutionalisierung auszumachen. Vor der drohenden Sintflut sichert Tubalcayn den Bestand des Wissens, indem er ihn einer steinernen Säule einschreibt. Erfindung, Vergessen und Erinnerung, die ein elementares Problem von Wissenskulturen darstellen, werden also schon für die vorsintflutliche Zeit reflektiert. Sie bilden denn auch die Brücke für spätere Wissensgenealogien, die an die biblischen Ursprungsmythen anknüpfen. Dass das Ursprungsdenken in der Frühen Neuzeit nicht nur auf die Geschichte im engeren Sinn, auf die menschliche Genealogie, beschränkt war, zeigt sich an der Konjunktur von Werken, die den Ursprung der Künste oder Wissenschaften verfolgen: etwa De inventionibus rerum des Polydorus Vergilius aus dem Jahr 1499, auf Deutsch: Eigentlicher bericht / von der Erfindung aller ding; oder die Cyclopaedia Paracelsica Christiana. Drei bücher von dem
|| 22 Hartmann Schedel: Weltchronik 1493. Das Buch der Chroniken. Kolorierte und kommentierte Gesamtausgabe der Weltchronik von 1493. Nach dem Original der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar. Hrsg. von Stephan Füssel. Köln 2013. 23 Howard Bloch: Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages. Chicago 1983. Kilian Heck, Bernhard Jahn (Hrsg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 2000. 24 Schedel (Anm. 22), Bl. Xv. 25 Ebd., Bl. Xr.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit wahren Ursprung und herkommen der freyen künste von 1585. Kaum eine Darstellung von disziplinärer Wissenschaft verzichtet auf eine Herkunftsgeschichte, die mal mehr historisch, mal mythisch-mythologisch begründet ist. Otto Brunfels bestätigt sogar explizit die Übertragbarkeit der genealogischen Argumentation auf die Wissenschaften, indem er ein allgemeines (topisches) Prinzip formuliert, das dem Alter grundsätzlich Priorität zuschreibt, mithin Erkenntnis weiterhin mythisch fundiert: Dann ein yedes ding so vil dester würdiger ist / so vil sein anfang […] vnd erfindung würdiger. 26 In jedem Fall sichern sich die neu aufkommenden Disziplinen ihren Rang im Wettstreit der Wissenschaften dadurch, dass sie auf ihr hohes Alter verweisen: Adam als erster Botaniker oder Zoologe, Salomon als erster Astronom. Georg Agricola sichert seiner neuen Disziplin der Montanwissenschaft ihren Rang durch eine indirekte Argumentation. Von den Wissenschaften scheint zwar keine älter zu sein als der Ackerbau, dennoch sei aber das Bergwesen tatsächlich älter als dieser oder wenigstens gleich alt, denn kein Mensch habe je ohne Werkzeug den Acker bebaut. 27
Humanismus: Geschichte und Offenbarungswissen Der Geltungsanspruch von Weltbildern kann durch Historisierung und Pluralisierung infrage gestellt werden. 28 Was in mittelalterlichen Religionskonflikten und Reformbestrebungen seine Vorläufer besitzt, findet noch einmal eine eigene Ausprägung in Reformation und Humanismus, die nicht wenig dazu beigetragen haben, die orthodoxen Interpretationen des christlichen Weltbildes zu unterminieren, ohne aber von seinen Grundlagen Abschied zu nehmen. 29 Die Rezeption antiker Literatur und ihre Distribution durch den Buchdruck etablierten einen konkurrierenden Wahrheitsdiskurs, der das biblische Offenbarungswissen herausforderte. Antike Schöpfungsmythen konnten in bewährter Form eingemeindet werden, wie es in der Ovidallegorese des Johann Spreng (1564) oder in der Pliniusallegorese des Johannes Heiden (1565) geschah, sie konnten aber auch in ihrem historischen Bestand präsentiert und lediglich behutsam christlich kommentiert werden.
26 Otto Brunfels: Contrafayt Kreüterbůch […]. Straßburg 1532, Bl. a iijv. 27 Georg Agricola: De re metallica libri XII. Vorrede: Etenim Agricultura scientiarum nulla sine dubitatione uetustior, tamen hac res Metallica est antiquior, uel saltem aequalis & coaeua […]. Basel 1556, Bl. a 2r. 28 Hans Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle. In: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), S. 67–75, hier S. 72. 29 Ebd.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit
Indem der antike Schöpfungsmythos durch den biblischen ersetzt wird, sind Prozesse der Ent- und Remythisierung beobachtbar, indem der antike Stoff auch in seinem faktischen Bestand präsentiert und unter Rückgriff auf antike Traditionen erklärt wurde, lassen sich Techniken der Historisierung erkennen. Beide Verfahren, dem Ursprung der Welt und des Wissens auf den Grund zu gehen, müssen nicht in Opposition zueinander stehen, sondern können durchaus miteinander verbunden werden. Sie können aber auch in Konflikt geraten. Ein Text, an dem exemplarisch die Spannung zwischen christlicher und humanistischer Wissensgeschichte beobachtet werden kann, ist das 1499 veröffentlichte Werk De inventionibus rerum des italienischen Humanisten Polydorus Vergilius, in dem er Künste und Disziplinen auf ihre Gründerfiguren hin befragt. Das Werk entwickelt sich im 16. Jahrhundert, wie Helmut Zedelmaier gezeigt hat, zu einem Bestseller, der in mehreren Auflagen, in verschiedenen vermehrten Ausgaben, schließlich in zahlreichen Übersetzungen sich über ganz Europa verbreitet. 30 Polydorus’ Absicht ist es zunächst, die Priorität der christlichen gegenüber der antiken Kultur nachzuweisen. So identifiziert er in den meisten Fällen unter Rückgriff auf Flavius Josephus biblische Gründerfiguren. Im 2. Kapitel über den ‚Anfang der Dinge‘ führt er antike Ursprungsthesen über das Wasser (Thales), die Dunkelheit (Heracletus Ephesus), die vier Elemente (Empedokles, Lukrez), das Feuer (Anaximenes) und Atome (Epikur, Demokrit) an. Die Übersicht über die antiken Ansätze wird jedoch letztlich durch ein religiöses Argument zurückgewiesen. Seyend die ding von den Weißgelerten leüt maynung gesagt: Nu wllen wir jetzt anzeygen / was die heyligen geschrifften innhaltend / auf das man nicht achte / wir seyend der vernunfft / oder warheyt gar vnthailhafftig. Derhalben hat gott alle ding erstlich auß nichte gemacht / wie Moses bezeügt / vnd auß dem mose / der Josephus im ersten bůch der alt Jüdischen geschichten auch genůgsam leret. Auch Johannes der Euangelist spricht. Alle ding sint durch jn gemacht worden etc. [...]. 31
Dennoch: Polydorus verleiht der Frage nach dem Ursprung eine andere Geltung. Zwar heißt es in der Vorrede: Erfinden ist das erst vnd fürnembst; Erfindung trage Ruhm ein: also das jeglicher / gern vrheber oder anfnger genennt wurd / wenn es gesein mcht. 32 Polydorus’ Werk wächst sich aber aus zu einer recht umfangreichen Geschichte der Kultur- bzw. Zivilisationstechniken anhand antiker und mittelalterlicher Quellen. Sein Verfahren dokumentiert in Zeiten rivalisierender Diskurse humanistische Methodik: Zusammenstellung des Materials, Kollationierung der Aussagen, Erstellung einer historischen Chronologie. Die Ansichten der antiken Autoren 30 Helmut Zedelmaier: Karriere eines Buches. Polydorus Vergilius’ De inventionibus rerum. In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Frank Büttner, Markus Friedrich, Helmut Zedelmaier. Münster 2003, S. 175–203. 31 Polydorus Vergilius: Von den erfyndern der dyngen. Augsburg 1537, Bl. IIIv. 32 Ebd., Bl. a iijr.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit werden diskutiert, alternative Meinungen werden vorgeführt, auf Widersprüche wird hingewiesen. Als Resultat ergibt sich ein weitgehend historisch argumentierender Wahrheitsdiskurs. Die Frage nach dem Ursprung der Schrift etwa führt Thesen über die Schriftkultur der Ägypter, Phönizier und Griechen an und erörtert auch die Transferwege. Wie in vielen anderen Fällen werden auch hier die Gründungsansprüche letztlich durch das höhere Alter der biblischen Belege relativiert: Bestätigt werde Das Moyses […] Am ersten den Jden die Buchstaben gegeben hab. Vnd die Phnicier nachmals von den Juden empfangen / Aber die Griechen am aller letzten / von den Phniciern. 33 Die Entwicklung des Wissens wird weitgehend als historischer Transferprozess zwischen Völkern aufgefasst. Indem Polydorus die antiken Quellen nicht allegorisiert, sondern historisiert, verfährt er in seiner Haltung zum Gegenstand rational. So gibt es eine Hierarchie der Autoren. Historiker und Philosophen haben gegenüber Poeten den höheren Wahrheitsgehalt, obwohl wiederholt Poetenmeinungen zur Bestätigung herangezogen werden. Die antike Mythologie wird in euhemeristischer Weise historisiert und säkularisiert. Der historische Duktus führt auch dazu, dass die Bibel als historisches Dokument aufgefasst wird. Historisierung führt hier aber nicht zur Pluralisierung von Weltbildern, sondern zur Demonstration der Überlegenheit christlicher Quellen. Die Parallelisierung antiker und christlicher Ansichten, ja ihre Unterordnung unter eine historische Perspektive, hat zum Ergebnis, dass das Alte Testament zum Reservoir kulturgeschichtlicher Rekonstruktionen wird. Aber selbst unter dem veränderten methodischen Blickwinkel behauptet sich der Vorrang der Bibel. Was sich bei Polydorus Vergilius in der Genealogie aller Disziplinen artikuliert – die historische Wahrheit der christlichen Religion –, nimmt in den Einzeldisziplinen komplexere Formen an. Der Transfer des biblischen Ursprungswissens verläuft auch hier zunächst über ein Überlieferungsmodell, das sich am Leitfaden biblischer Genealogie orientiert. Nach dem Sündenfall sei es zum Verfall des Wissens gekommen, doch bleiben Spuren des Wissens übrig. Adam Lonitzer resümiert in seinem Kräuterbuch: Darauß zuerachten / daß neben andern dingen / die erkandtnuß der Kreuter vnd jrer krafft jren Ursprung von vnserm ersten Vatter Adam haben. 34 Das adamitische Wissen setzt sich in einem Generationenmodell fort: So notiert Otto Brunfels 1532 in seinem Kreüterbůch: Es haben auch Adam vnd Heuah die erkantnüssz der gewchß gehebt / desgleychen der Thyer / denen er ire nammen geben / vnd yngesetzt. […] dar nach sye ire kinder weiter daruon berichtet. 35 Auch hier wird die Unmittelbarkeit des Wissenserwerbs in der Patriarchenzeit vom Akt der Tradierung an die Nachkommen 33 Ebd., Bl. 16V. 34 Adam Lonitzer: Kreüterbůch. Frankfurt 1573, Bl aa ijv; Aleida Assmann: Die Weisheit Adams. In: Weisheit. Hrsg. von ders. München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 3), S. 305– 324, hier S. 312f. Zum adamitischen Wissen vgl. Agostino Paravicini Bagliani (Hrsg.): Adam le premier homme. Textes réunis par Agostino Paravicini Bagliani. Firenze 2012. 35 Brunfels (Anm. 26), Bl. a iiijv.
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getrennt. Brunfels erklärt den Ursprung des Wissens mittels Inspiration: Vnd also acht ich / das der geyst Gottes Adam vnd Heuah / die Altutter vnd Patriarchen / erstlich geleert habe. 36 Hieronymus Bock verfolgt die Gründungsgeschichte sogar bis in die dritte Generation der Enkel, und Adam Lonitzer greift in seinem Kreüterbůch in signifikanter Wendung zur organischen Metapher: daß also solche erkandtnuß fr vnd fr fortgepflantzet / vnd erhalten worden. 37 All das wiederholt typisch mittelalterliche Konstellationen, sie dienen aber nun dazu, historisch-philologische Verfahren zu legitimieren. Im 16. Jahrhundert existiert in der beschreibenden Naturkunde aber zugleich ein deutliches Bewusstsein von der Unvollständigkeit der Wissensbestände. Begründet wird sie einerseits mit Datenverlusten, die im Laufe der Überlieferung eingetreten sind, andererseits mit den begrenzten Kapazitäten der älteren Autoren, die eben nicht alle Informationen erfasst hätten, schließlich mit der Erkenntnis zunehmender lokaler Binnendifferenzierung der Natur, die nicht in jeder Region die gleichen Arten biete. Relativierung historischer Wissensbestände und regionale Differenzierung werden zum Argument und zum Impuls weiterer Forschung. Der Bestand an zu beschreibenden Arten wächst weit über das bekannte Maß hinaus, und nur zu deutlich tritt die Diskrepanz von Überlieferung und Beobachtung ins Bewusstsein. Das von Otto Brunfels propagierte Programm, über der Alten erfarung etwas weiters vnderston zů erfinden / vnnd vnseren nachkommen [zu] verlassen, 38 kennzeichnet die Situation der frühneuzeitlichen Naturgeschichte insgesamt. Das Neue wird aber nicht weniger in den alten korrumpierten Überlieferungen gesucht. Dass das Erkenntnisproblem jener Zeit auch sprachlich fundiert war, zeigt Hieronymus Bock, wenn er Nachlässigkeiten im Sprachunterricht des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen für die defizitäre Erkenntnissituation der Botanik verantwortlich macht: Der Niedergang sei eingetreten, dieweil man der gemelten rechten grndtlichen Sprachen / auß welchen gleich wie auß einem Schrein alle gte Knst vnd Lehr funden vnd geschpfft werden […] nicht geachtet habe. 39 Das bezeichnet mehr als die Verteidigung einer gelehrten und buchfixierten Naturforschung. Gegen die theoretisch orientierte scientia ist die historia naturalis auf die singularia / sensata fokussiert, die sie über philologische Verfahren zu ermitteln versucht. 40 An die Stelle der katastrophalen Einschnitte der biblischen Wissenskrisen (Vertreibung, 36 Wir leßen auch von Salomone / das ym der geyst Gottes geben hat die recht ware kunst / von beschaffung der welt / welches wir nennen / Philosophiam naturalem / die kunst des hymmels lauffs / der gestyrn / der thyer / vnd der wind / gedancken der menschen / vnd der gewchß / vnd der wurtzeln / von welchen dingen allen / er im Künig bůch von ym beschriben / gedisputiert […]. Ebd., Bl. a iiijv. 37 Lonitzer (Anm. 34), Bl. aa ijv. 38 Brunfels (Anm. 26), Bl. a 6r. 39 Hieronymus Bock: Kreüterbůch, Straßburg 1539, Bl. b iiijr. 40 Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit Sintflut, Babel) tritt in humanistischer Perspektive ein längerer sprachlicher Prozess der Degeneration, der aber seinerseits dem mythischen Geltungsanspruch des Hebräischen verpflichtet bleibt. Namengebung dient in der deskriptiven Naturkunde weniger taxonomischen als identifizierenden Zwecken, und sie zielt darauf, in den heterogenen Sprachstand über Rekurs auf die drei heiligen Sprachen Ordnung in die Überlieferung zu bringen. Die humanistische Methode reformuliert auf ihrem genuinen Feld, der Sprachgeschichte, den biblischen Mythos. Auch Konrad Gessner schließt in seiner Historia animalium den zeitgenössischen Sprachstand an die biblische Vorzeit an. Das Hebräische als Ursprungssprache findet daher besondere Aufmerksamkeit. Wenn sie als die älteste Sprache beschrieben und außerhalb der historischen Degeneration situiert wird, befindet sich Gessner im Einklang mit zeitgenössischen Sprachtheorien. 41 Als eine der drei heiligen Sprachen besitzt das Hebräische nicht nur eine besondere Nähe zu den Heilswahrheiten, es ist zugleich durch einen besonderen Wahrheits- bzw. Erkenntnisstatus gekennzeichnet. 42 Auch wenn Gessner weitgehend philologische Verfahren der Wortrekonstruktion anwendet, gewinnt er manchen Namen noch einen ursprünglichen Sinn ab, wie dem Storchennamen, der auf das Griechische Pelargus oder Hebräische Chasida, d. h. Dankbarkeit, zurückgeführt wird. 43 Der Zusammenhang der Sprachen, ausgehend von ihrem Ursprungszustand, wird hier ähnlich substantialistisch gedacht wie der genealogische Zusammenhang von Geschlechtern. Nicht nur wird ein Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnis der Sprachen untereinander entworfen, sondern auch die eigentliche ‚Wertstiftung‘ in den Ursprung projiziert. 44 Wie noch zu Gessners Zeiten Wahrheitsbesitz allein an die Ursprungssprache Hebräisch gekoppelt werden konnte, demonstriert Carolus Figulus in seinem Botanologicon von 1540. 45 Der Lehrdialog über die richtige botanische Methode erörtert auch das Problem der Namen. Figulus, selbst Gesprächspartner in dem Dialog, berichtet von einem jüdischen Arzt, der sowohl die Namen aller Pflanzen als auch deren Wirkkräfte kannte, obgleich er niemals Hippokrates, Galen oder Avicenna gelesen hatte. Allein die Kenntnis der etymon vocabuli versetze ihn in die Lage, die Temperatur der Pflanzen und daraus deren Wirkkräfte zu erkennen. Hier triumphiert nicht Erfahrung über Bücherwissen, sondern Sprachkompetenz. So wie Spra-
41 Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Stuttgart 1963–1975. 42 Konrad Gessner: Mithridates […] Neudruck der Ausgabe Zürich 1555. Hrsg. u. eingel. von Manfred Peters. Aalen 1974, BI. 3V. 43 Udo Friedrich: Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft. Conrad Gessners Historia animalium und ihre volkssprachliche Rezeption. Tübingen 1995, S. 92–105. 44 Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992. 45 Carolo Figulus: Dialogus qui inscribitur Botanomethodus sive herbarum methodus. Coloniae 1540, Bl. b ijr/v.
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che hier mehr als ein Kommunikationsmedium ist, so ist Wissen nicht vom historischen Transfer abhängig, der durch Überlieferungslücken und Sprachverwirrung beeinträchtigt wird. Wissen erscheint allein schon über Sprachkompetenz gesichert. In diesem Modell hat Genealogie weniger als Prozess, denn als Urstiftung einen Platz, sie fungiert als unmittelbare Präsenz der Wahrheit. In Gessners Zugriff verbinden sich historisch-philologische Rekonstruktion des Wissensstandes und der überlegene Geltungsanspruch der drei heiligen Sprachen, die für ihn eine historisch lokalisierbare Einheit des Wissens garantieren. In Figulus’ Exempel hingegen vermitteln schon die sichtbaren Zeichen der Sprache den Erkenntniswert, d. h. die unmittelbare Sprachkompetenz. Beide Verfahren aber, so unterschiedlich sie sind, operieren vor dem Hintergrund des biblischen Verfallsmodells. Arbeit am Mythos der Schöpfungsgeschichte leisten vor allem die theologischen Bemühungen um die Ursprache Hebräisch im 16. Jahrhundert. Wolf Peter Klein hat dieses Feld am Beispiel des Hebraisten Konrad Pelikan herausgearbeitet. Differenzerfahrungen wie die Stärkung der Nationalsprachen auf Kosten des Lateins und die zunehmende konfessionelle Spaltung lenkten den Blick zurück auf den Mythos vom Turmbau zu Babel, der als Folgeereignis des Sündenfalls die allgemeine Sprachenverwirrung hervorgerufen hatte. 46 Die Ursprache Hebräisch wird bei Pelikan zum Integral von Sprach-, Vernunft- und Naturordnung, jener Einheit von res und verba, die mit dem Sündenfall verlorengegangen war. 47 Historische Sprachforschung wird ausgebaut zu einem methodus, der das Misstrauen gegen die Sprachenvielfalt zugunsten einer ratio communis beseitigt und die Einheit zurückgewinnt. 48 Sprache als Wissensspeicher (veluti publico thesauro) und Kommunikationsmedium (veluti publica moneta) wird zum Instrument, Geschichte wieder in die Bahn der Heilsgeschichte zu überführen. Pelikan betreibt damit nicht nur wie die Botaniker und Zoologen historische Sprachwissenschaft, indem er an alte verlorene Sprachbestände anknüpft, er inseriert sein sprachhistorisches Forschungsprogramm in ein mythisches Narrativ mit heilsgeschichtlicher Dimension: der Wiedergewinnung des paradiesischen Ausgangspunktes. Sprachliches Wissen, Sprachwissenschaft, steht nicht in Opposition zum Offenbarungswissen, es wird vielmehr mit dessen Koordinaten synchronisiert.
46 Klein (Anm. 44), S. 232 u. 240. Zu Pelikan vgl. auch: Christoph Züricher: Konrad Pelikans Wirken in Zürich 1526–1556. Zürich 1975. 47 Klein (Anm. 44), S. 238–244. 48 Ebd., S. 240 u. 244.
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Theosophie / Paracelsismus: Unmittelbarkeit statt Vermittlung Ausgehend vom biblischen Schöpfungsmythos entstehen aber auch andere Entwürfe, wie und in welcher Form an die Weisheit Adams angeschlossen werden kann, wie dieses Wissen beschaffen, wie es erworben und vermittelt worden ist. 49 Vor allem im Kontext christlich-platonischer, kabbalistischer und paracelsischer Spekulation kommt es zu rivalisierenden Vorstellungen, zu universalistischen Modellen, die als Reaktion auf die zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaften aufgefasst werden können. Carlos Gilly hat am Beispiel der Buchproduktion Basels herausgearbeitet, wie es in diesem Raum zu einer „Konvergenz kultureller und religiöser Motive“ kommt, die Ausdruck einer zeitgenössischen Krise ist. Die neue Konzeption der Wissenschaft entwickelt sich zwar gegen die akademische Orthodoxie, nicht aber gegen die Religion selbst. Vielmehr importiert sie aus einer Theologie der Unmittelbarkeit Elemente, um das neue wissenschaftliche Ethos gegen das alte Ideal der Buchgelehrsamkeit zu formulieren. 50 Wolf Peter Klein hat unter sprachtheoretischer Perspektive gezeigt, wie in diesen Modellen das Wort Gottes als zentrale Instanz der Integration firmiert: 51 Das Wort, das am Anfang der Schöpfung und der Inkarnation, d. h. der Erlösung, stand, wird zum vermittelnden Band zwischen Gott und der Welt. Das verbum aeternum, das den ganzen Kosmos durchwaltet, kann für die Wahrheit einer prisca theologia oder theologia perennis stehen; es kann seine Spur im Hebräischen hinterlassen und Ausgangspunkt universalsprachlicher Ambitionen sein; es kann sich aber auch materialisieren und die Korrespondenz von Mikro- und Makrokosmos garantieren: Den direkten Zugang zum Ursprungswissen über das Hebräische vertritt zur gleichen Zeit auch Paracelsus, der vor dem Hintergrund seiner Signaturenlehre in Adam den ersten Signator der Dinge sieht. 52 Der Paracelsist Oswald Crollius formuliert in seinem Traktat von den innerlichen Signaturen, Gott habe allen Kreaturen eine geheime Kraft vermittelt, deren ein jeder rechtschaffener Medicus erstlich durch die Signaturen oder Zeichen vnd die angeborne verwandschafft der Kräuter vnd Menschlichen Glieder fleissig nachforschen sollen […]. 53 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Idee 49 Assmann (Anm. 34), S. 304–324. 50 Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 77 (1977), S. 57–137 u. 79 (1979), S. 125–221, hier S. 161. 51 Klein (Anm. 44), S. 57–202. 52 Kurt Goldammer: Die Paracelsische Kosmologie und Materietheorie in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Stellung und Eigenart. In: Medizinhistorisches Journal 1 (1966), S. 5–35. 53 Oswald Crollius: De signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623). Hrsg. u. eingel. von Wilhelm Kühlmann, Joachim Telle. Stuttgart
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stellt den Menschen in eine universale Verwandtschaft mit der ganzen Welt: ein allgemeiner Zusammenhang, die Anthropozentrik der Natur, wird mit Hilfe des Verwandtschaftsmodells illustriert. Spekulative Theologie, Sprachphilosophie, Sprachgeschichte und selbst die Naturgeschichte können ihre Ziele, ausgehend vom schöpferischen Wort Gottes, auf die sprachliche Gegebenheit der Welt, auf die Weltordnung als Sprach- und Zeichenordnung, fokussieren. Samuel Siderocrates beschreibt in seiner Cyclopaedia Paracelsica Christiana von 1585 den Ursprung aller freien Künste, auch den der Naturkunde, die bei ihm Physiognomia heißt. Siderocrates’ Darstellung zeichnet sich dadurch aus, dass er die geschichtliche Dimension des Wissens, die bisher aus der Schöpfungsgeschichte des Menschen und der Geschichte der Patriarchen resultiert, zugunsten eines unmittelbaren Zugangs relativiert: EHe dann der Mensch auß dem rhoten Laimen vnd Erdstaub gemacht ward, hat Gott der HERR ein unuermßlichs Bůch gemacht / darein die heyligen Bůchstaben verzeichnet / und damit der Schůler / den er hiernach machen würt / inn demselben Bůch lesen solte lehrnen / vnnd auß denselben Bchstaben die geheimnussen Gottes herfür bringen […] Das Bůch aber ware der vbergrosse Himmel. […] Da nun jemand auff dise Stellung der Sternen fleißig sicht / so findet er darinn rechte Himmlische Bůchstaben / die dann noch durch etliche verstndige zu unsern zeyten deutiglich gelesen unnd gebraucht werden / gleich wie auch der gantz Erdboden mit sonderen bůchstaben vberschriben ist. Keine andere bůchstaben / kein anders Bůch ja keine andere Pleiltafel hat Adam gehabt […] welches Bůch auch er und seine Nachkommenen haben lesen und brauchen gelehrnet […]. 54 So hat Adam alle die geschpff / ohne alle menschliche vnderweisung / vnnd allein auß Gottes erleuchtigung / jnnerlich vnd eusserlich an jrer gestalt / natur vnd eygenschafft vollkmmlich gekennet / vnd dieselben / wie jhm es Gott der HErr frgestellet hat / bey jhrem wesentlichem natrlichem namen genennet / dabey es auch Gott der HErr selbst bleiben lassen / vnd jm keinen andern namen gegeben hat. […] An diesem allem hat sich Adam gantz wol bengen lassen / Jnn disem Buch hat er gelesen / nach disem Buch hat er gearbeitet / auß disem Buch hat er seine Kinder gelehret / vnd jhnen knfftige ding verkndigt / […]. 55
Das Wissen Adams steht auf der Grenze von unmittelbarem und mittelbarem Wissen. Einerseits wird ihm Wissen bei seiner Erschaffung von Gott eingehaucht, so dass seine augen gngig und durchglinstert sind. Während er mit den Augen das eusserlich Liecht gesehen hat / [habe] der Geist […] seinen ursprung gewst / vnd die augen haben jhres gleichen am Himmel erkent. 56 Namengebung ist ein Akt der direkten Lektüre und der Inspiration zugleich, Erkenntnis der Natur folgt dem Modus 1996, S. 167f.; vgl. Wilhelm Kühlmann: Oswald Crollius und seine Signaturenlehre. Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära Rudolph II. In: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance. Hrsg. von August Buck. Wiesbaden 1992, S. 103–123. 54 Samuel Siderocrates: Cyclopaedia Paracelsica. Brüssel 1585, Bl. S 1 (b ijr). 55 Ebd., Bl. 152f. 56 Ebd., Bl. 151.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit religiöser Unmittelbarkeit. Die Hermeneutik der Buchmetapher, die Natur- und Gotteserkenntnis zusammenbindet, geht aber in Distanz zur Buchkultur der Gelehrten, da sie unvermittelt in den Zeichen der Natur liest. 57 Das Lehrer-Schülerverhältnis ist als eines der unmittelbaren Unterweisung entworfen, wobei die Differenz von Lehrer und Schüler durch eine gemeinsame Disposition überbrückt wird, die Sender, Botschaft und Empfänger – Gott, Welt und Mensch – zusammenbindet. Neben die unmittelbare Lektüre im Buch der Natur und die lehrhafte Vermittlung tritt als dritter Modus des Lernens aber auch die Erfahrung auf. zu erlehrnung derselben gestirnkunst hat Gott der Allmchtig den Ertzvttern jhr leben vber sechs hundert Jar zu derselben zeyt erstreckt / dann keiner hat mgen die leuff hindersich vnd frsich / auch abseitig / vnd jhr wrkung hinder sechs hundert Jaren erlehrnen / biß ers ergriffen hat / dann da es gleich Adam zustundan / als bald jhm Gott die geschpff zeiget / vnd mit jhm redet / erlehrnet vnd erkennet hette / so hat doch Gott mit seinen Encklen vnd Vrencklen / nicht gegenwrtig geredet / daruon sie auch dermassen wie Adam hetten mgen erleuchtigt werden / vnd alle ding ohne menschliche lehr erlehrnet haben […]. 58
Der Zugang zur Erkenntnis wird hierarchisiert in unmittelbare Inspiration (Adam), langjährige Erfahrung (Erzväter) und generationenübergreifende Vermittlung. Was professionelle Astronomen nur über Generationen beobachten und fixieren können und daher Wissenschaft zur Kollektivanstrengung macht – wiederkehrende astronomische Zyklen –, ist für die Patriarchen noch innerhalb einer Lebensspanne beobachtbar. Der Transfer des Wissens auf die zukünftigen Generationen erfolgt zunächst unmittelbar über Gott, später erst über direkte Unterweisung. Seth und Enoch, Sohn und Enkel Adams, erwerben das Wissen von unserem ‚ersten natürlichen Vater‘. Solche Privilegierung nimmt in den Folgegenerationen ab, verschwindet aber doch nicht gänzlich und wirkt sogar bis in die Gegenwart fort: wie auch etliche verstndige zu unsern zeyten deutiglich gelesen haben. Voraussetzung für privilegiertes Wissen ist, in Anlehnung an das Paradies, die moralische Disposition des Probanden. Gegenüber der klassischen Wissensskepsis, die die Erfindung der Künste an die Ungerechten delegiert, sind es nun die Gerechten, die in Verantwortung genommen werden. Adams Wissen erstreckte sich nicht nur auf die Gestirnkonstellationen, auf die großen astronomischen Zyklen, sondern er besaß auch prophetische Gaben, durch die er die kommenden Katastrophen vorhersehen und seine Enkel warnen konnte, so dass diese aus Sorge um den Verlust des Wissens bei ihren Nachkommen zwei starke Säulen errichten. Eine dieser Säulen habe 1500 Jahre überdauert und sei noch vom Geschichtsschreiber Josephus in Syrien gesehen worden. Wissensvermittlung läuft in jener Zeit über eine kleine Gruppe privilegier-
57 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981, S. 68–85. 58 Siderocrates (Anm. 54), S. 154.
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ter verwandter Personen, und doch verliert sich die Präsenz der Wahrheit allmählich in ihre Repräsentation: inn denselben fnff zehen hundert Jaren ist die gestirnkunst / sampt andern natrlichen Knsten / durch des Seths vnd Enos Kinder / vnd derselben Kinds Kinder / beharrlich gebraucht / vnnd die zwo Seulen auffrecht stehen gelassen / vnd vnder halten worden / dann da der Geyst des lebens inn denselben Kindern sein wrckung nicht gereget hette / So hetten sie ohne zweiffel / inn derselben zeit da die boßheit der menschen hefftig vberhand name / solche Seulen vor lengst verstrt / zerbrochen / zerrissen / verwstet / vnd nidergeworffen / welches aber nicht beschehen / dann / Enos Enoch vnd Noah fhreten einen Gttlichen wandel / vnd rüffeten Gott den HERREN an / inn denen der heilig Geyst des lebens vberflssig von Gott dem Herren gewürckt / also das Gott der HERR den Enoch hinweg genommen / das er nimmer ward gesehen. 59
Indem der Zugang zum Wissen moralisch präformiert wird, verlängert sich die Spaltung des Sündenfalls in die Geschichte hinein. Es folgt der Übergang zu Noah, dem gleichfalls unter Berufung auf die Bibel attestiert wird, alle natrliche knst gewißt zu haben. 60 Als Übergangsfigur zwischen vor- und nachsintflutlicher Zeit fungiert nun Noah als Vermittler der Wahrheit, der seinen Kindern Sem, Ham und Japhet das schriftlich niedergelegte Wissen erläutert. Die positive Valorisierung des Wissens geht einher mit einem im Lauf der Zeit zunehmenden Verfall der Vermittlungsinstanzen. Hatte Adam noch die astronomischen Wahrheiten unmittelbar geschaut, verfügten seine Kinder und Enkel zumindest noch über die entsprechende Lebensspanne, um astronomische Wahrheiten zu erfahren, so sind die Kinder Noahs schon auf fragmentiertes Wissen, auf Schriftzeugnisse und ihre Vermittlung durch die Lehre des Vaters angewiesen. Caros Gilly hat am Beispiel des Adam von Suchten, Anhänger des Paracelsus, darauf hingewiesen, dass das Programm der ‚Erfahrenheit‘ auch an der Leitmetaphorik praktischer Wissenschaften eingefordert werden kann. 61 In seinem Werk De tribus facultatibus, das handschriftlich in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts verbreitet war und erst 1608 gedruckt wurde, zeichnet Suchten in kluger defensiver Strategie keinen realhistorischen Prozess der Wissensgenese nach, vielmehr entwirft er in allegorischer Form ein Modell, das den Weg des ersten Menschen zur Erkenntnis Gottes und der Natur führt. Nicht über Inspiration, schon gar nicht über Lektüre, sondern über die alchemische Kunst des Scheidens stößt der die Geheimnisse der Schöpfung Suchende auf die drei paracelsischen Grundsubstanzen Wasser, Salz und Schwefel.
59 Ebd., S. 155. 60 Ebd. 61 Gilly (Anm. 50), S. 76–82, hier S. 77.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit Das gleiche tat er mit dem Menschen, brauchte seine Kunst, scheidete und vergleichte eins mit dem anderen: findet daß des Menschen Prima Materia mit der Materia Prima der großen Welt ein Ding sey, siehet es mit seinen Augen, greiffet es mit seinen Händen. 62
Analysis und Synthesis als Verfahrenstechniken der Alchemie werden zugleich zu Instrumenten der Gotteserkenntnis. Wenn aber die zunehmende Zerlegung der Grundsubstanz Salz den Urmenschen in Verlegenheit stürzt, weil sich ein zentrales Element immer wieder entzieht, stößt der Probant auf die Grenze von Physik und Metaphysik, von Wissenschaft und Offenbarung. Die Lösung des Rätsels erfolgt denn auch durch göttliche Erleuchtung, die dem ersten Alchemisten die Geheimnisse der Schöpfung offenbart. Wie Natur- und Gotteserkenntnis im theosophischen Ansatz nicht getrennt sind, so lassen sich auch die neu entwickelten Verfahren der Alchemie mit den Vorgaben des Offenbarungswissens synchronisieren. Sowohl in der Wissenschaft wie in der Theologie tragen sie einem Bedürfnis Rechnung, sich von den Vorgaben einer autoritätsfixierten Buchgelehrsamkeit zu emanzipieren. 63
Kosmographie: Offenbarung – Geschichte – Erfahrung Auch die Weltbeschreibung des 16. Jahrhunderts steht vor der Herausforderung, das überlieferte wie das aktuelle Wissen an die Vorgaben der Offenbarung anzupassen. Als Sebastian Münster 1544 seine Cosmographia veröffentlicht, hat er zwei Herausforderungen zu bewältigen: zum einen, ganz im humanistischen Sinn, den Anschluss an die antike Kosmographie, der er mit einem umfangreichen Resümee aus der Trigonometrie des Ptolemaeus Rechnung trägt und die mathematischen Grundlagen der Raumvermessung darlegt; zum andern die Entdeckung neuer Länder durch die zeitgenössische Seefahrt. 64 Den Konflikt zwischen Alt und Neu verhandelt Münster nicht am Maßstab des Offenbarungswissen, sondern des antiken Wissensstandes. 65 Dass die alten Karten des Ptolemaeus bei aller Vorbildlichkeit der geometrischen Methode durch neue ersetzt werden müssen, ergibt sich aus den Entdeckungen der zeitgenössischen Seefahrt: So weit die antiken Seefahrer auch herum-
62 Ebd., S. 78 63 Ebd. 64 Sebastian Münster: Cosmographia. Bschreibung aller Lender […]. Basel 1548, S. j–vj. 65 Jan-Dirk Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zu einer kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea. 5), S. 121–144, hier S. 137–140. Zu Münster vgl. Sebastian Burmeister: Sebastian Münster. Versuch eines biographischen Gesamtbildes. Basel/Stuttgart 1969.
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gekommen seien, so findt man doch nit daß man solche grosse vnnd weyte reysen daruff gethan hab / wie jetzund zů vnseren zeiten / do auch schier nichts onerfaren in dem weyten mre ist überbliben. 66 Die Ostroute nach Indien und die Entdeckung der amerikanischen ‚Inseln‘ fordern das autoritative Buchwissen der Antike heraus. Jenseits des religiösen Diskurses leistet Münster eine Kritik antiker Autoritäten am Maßstab zeitgenössischer Erfahrung, die er auf 30–40 Jahre zurückrechnet. Die aus der Antike übernommene mathematische Methode der Landvermessung und die Entdeckungen der zeitgenössischen Seefahrt erschüttern aber das theologische Weltbild des Hebraisten Münster keinesfalls. Münster geht von der Schöpfungsgeschichte aus, der Trennung von Wasser und Land, verfolgt dann die Ausbildung der Landmassen nach der Sintflut und erklärt das große Wunder der Inseln, die auf Gottes Geheiß nicht überflutet werden können: Dann Gott hat dem mre ein zyl gesetzt / spricht der Prophet im Psalter / darüber jm verbotten ist zu gehen. 67 Gegenüber den Sprachhistorikern und Medizinern fokussiert der Theologe und Kosmograph Münster mit der Relation von Erde und Wasser nicht nur den Gegenstandsbereich seiner Disziplin: Hie findest du nu wie das Erdtreich gar nahe ein grosse Insel ist / vnnd schwebt in eitelem Wasser. 68 Er orientiert sich mit der Sintflut auch an einem anderen Ursprungsmythos: Die Sintflut beschreibt zwar primär einen Bruch in der moralischen Disposition der Menschheitsgeschichte, sie erklärt für Münster darüber hinaus aber auch die heterogene Verteilung der Land- und Wassermassen, die Entstehung von Binnenmeeren, Seen, Meerbusen und Flüssen, sie ist überdies durch den Auszug der Söhne Noahs der Grund für die Ausdifferenzierung der Populationen auf den verschiedenen Kontinenten, schließlich, nach dem doch alle winckel der Erden erfunden vnd beschrieben sind, 69 für das Verschwinden des Paradieses als realem Ort auf Erden. Münster widmet den vielfältigen Auswirkungen der Sintflut jeweils eigene Kapitel und schreibt damit zum einen der Menschheitsentwicklung die biblische Geschichte ein, zum andern verleiht er der Natur und der Kultur eine genuin historische Dimension. Das Narrativ der Sintflut wird zum Paradigma des Wandels und der Ausdifferenzierung, das nicht nur auf das mythische Ursprungsereignis begrenzt ist, sondern als Prinzip in der Geschichte fortwirkt. Von daher motiviert sich auch das Kapitel über die Unbeständigkeit der Reiche, ihren Auf- und Abstieg in der Geschichte, der nahtlos einhergeht mit den Veränderungen der landschaftlichen Topographie, dem Wechsel von Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit in den Ländern und Regionen. Zeitgenössische Katastrophen wie Überschwemmungen in Holland oder Erdbeben in Italien,
66 Münster (Anm. 64), S. xxiiij. 67 Ebd., S. iij. 68 Ebd., S. xlj. 69 Ebd., S. xxxvij.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit die ganze Landschaften auslöschen, werden damit zu Epiphänomenen der Sintflut, die letztlich Ausdruck der Vergänglichkeit sind. Vnd also geht es in der Welt auf vnd ab / das es je war; 70 vnd der verenderung seind so vil in der welt / das niemand sie erzellen mag / vnnd das noch erschrcklicher ist / wir verfellen mit der verfallenden welt / vnnd verderben mit jrem verderben. 71
Der Vanitastopos Salomons, den Münster beinah anthropologisch mit dem Wachsen und Vergehen des Menschen unterlegt, bildet noch einmal ein allgemeineres Narrativ, in das sich die Sintflut und ihre historischen Folgen einfügen. Wenn letztlich auch immer wieder die Providenz Gottes in Verantwortung genommen wird, so führt Münster doch eine Reihe von Sekundärursachen – z. B. Erdbeben, Überschwemmungen, astronomische Konstellationen – als Gründe auf. Das Offenbarungswissen füllt sich mit rationalen Erklärungen auf, ohne mit ihnen in Widerspruch zu geraten. Die Sintflut stand nicht nur für die Auslöschung der verwerflichen Menschheit, sie legte mit der Rettung Noahs und seiner Söhne auch Zeugnis von der Gnade Gottes ab. Noah und seine Söhne als Schwellenfiguren haben noch beide Welten gekannt und sie garantieren einen bedingten Wissenstransfer. Untergang und Rettung sind wie im Paradiesmythos auch elementare Bestandteile des Sintflutnarrativs. Münster spürt diese Struktur auch noch in der Natur auf, wenn er von den verborgenen Schätzen der Erde (Nahrung und Metallen) handelt: Ausgehend von der Scheidung der Elemente Wasser und Land, fügt er kürzere Kapitel über die Seefahrt und die Fruchtbarkeit der Erde an. Ist das nit ein groß benedeiung Gottes / der sein milte hand auff thůt vnnd durch das mittel des ertrichs allen creaturen zessen? Wer kann hier ermessen was für schetz im ertrich verborgen ligenn / die sich doch tglich vnd on vnderlaß ja on alle verschwechrung des ertrichs hrfür thůn? Vnd ob schon das ertrich anfencklich vmb des menschen willen verflůcht ist worden / ist doch seiner krafft nichts genommen worden / sunder der flůch streckt sich mere auff den menschen oder auff seine arbeit / wie dann die geschrifft sagt: Verflůcht sey das ertrich in deinem werck. 72
Anders als im Paradies liegen die Schätze nicht mehr offen zutage, sondern sind verborgen, um über Arbeit hervorgeholt zu werden. In seiner Einleitung der Cosmographia hatte Münster einen frühen Menschheitszustand vor aller Kultur entworfen, in der die Menschen ohne jede Technik selbstgenügsam von den Gaben der Natur lebten. Diese an das Goldene Zeitalter angelehnte Vorstellung geht historisch mit zunehmender Not und Bedrängnis (durch den Teufel, durch wilde Tiere und durch
70 Ebd., S. xxxviij. 71 Ebd. 72 Ebd, S. iiij.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit
Feinde) verloren und zwingt den Menschen, Kulturtechniken zu seinem Schutz zu entwickeln. 73 Auch dieses Modell lässt sich durchaus noch in das später entfaltete Sintflutnarrativ einfügen. Es steht auch für einen optimistischen Blick auf die Technik, die das Dasein des Menschen erleichtert. Wenn Münster in späteren Auflagen (1569, 1578 usw.) das Kapitel über die Fruchtbarkeit der Erde zu einer umfangreichen Abhandlung ausbaut und Unterweisungen über die Metalle und die Techniken des Bergbaus inseriert, feiert er auch hier Mutter Natur (und Gott) für ihre Vorsorge. 74 Die Providenz Gottes manifestiert sich nun aber im Verborgenen. Der Status der Natur wie auch der des Menschen aber hat sich verändert und den gewandelten Bedingungen angepasst. Für seine Ergänzungen über die Metalle greift Münster explizit auf Georg Agricolas Bergwerksbuch zurück. Was Agricola aber feiert, die Technik der Metallverarbeitung als Bedingung jeglicher Kultur gegen einen vermeintlich idealen Naturzustand, unterdrückt der Theologe Münster. Er denkt im Horizont eines anderen Narrativs. Münsters Synkretismus verbindet humanistische Orientierung am antiken Vorbild (Ptolemaeus’ Trigonometrie), emphatisches Entdeckungspathos seiner Zeit (Seefahrt), Anerkennung technischer Naturausbeutung zum Vorteil des Menschen und eine geschichtliche Perspektive. Die kaum harmonisierbaren Perspektiven repräsentieren wirkungsmächtige zeitgenössische Diskurse. Zusammengehalten werden sie über das mythische Narrativ der Sintflut, das zum Paradigma für Wandel und Differenzierung ebenso avanciert wie für kulturellen Fortschritt. Das Offenbarungswissen bietet in seiner weiträumigen Interpretation Platz, um die zeitgenössischen Diskurse in einen Sinnhorizont zu stellen. Der Beitrag ist der Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und biblischen Narrativen (Mythen) in der Frühen Neuzeit nachgegangen. Vorausgesetzt wurde ein epistemischer Bruch in der Postmoderne: das vielfach konstatierte Ende der großen Erzählungen – z. B. Aufklärung, Emanzipation, Zivilisation –, wie es u. a. im Gefolge der Evolutionstheorie sichtbar wird, die zwar einen Anfang, aber kein Ziel mehr kennt und mithin keine narrativen Konfigurationen zu entwerfen erlaubt. Im Verzicht auf narrative Rahmung und Orientierung wissenschaftlicher Erkenntnis wurde aber zugleich ein blinder Fleck im sozialen Selbstverständnis der Wissenschaften identifiziert. Für den Status religiösen Wissens spielt die Spannung zum faktischen Wissen traditionell eine wichtige Rolle, hatte jenes dieses doch lange Zeit auf Orientierung verpflichten können. Nicht nur die Rezeptionsgeschichte antiker, sondern auch biblischer Mythen hatte dieser Spannung aber seit je ihre Sprengkraft genommen, da Mythen sich im historischen Prozess als anpassungsfähige Reflexionsmedien des Wissens und seiner sozialen Einbindung erwiesen haben. Für die Frühe Neuzeit wurde an ausgewählten Beispielen aus dem Feld der 73 Vgl. Müller (Anm. 65), S. 137–140. 74 Sebastian Münster: Cosmographey oder beschreibung aller lender […]. Basel 1569, S. vij–xiiij.
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit Wissenschaften die ‚Arbeit an den Mythen‘ der Paradieserzählung, des Turmbaus zu Babel und der Sintflut beschrieben. In Anlehnung an die mittelalterlichen Traditionen wird die Paradieserzählung nicht nur zur Urszene des Wissens, werden aus ihr nicht nur rudimentäre Genealogien des Wissens entfaltet (Schedel), die Paradieserzählung enthält auch Anschlussmöglichkeiten an sich verändernde Wissenschaftskonzepte: theoretische in der Naturphilosophie (Cardanus), philologische in der Historia naturalis wie Botanik und Zoologie (Brunfels, Gessner u. a.), alchemische in der Medizin (Paracelsus, Adam von Suchten). Indem die sich ausdifferenzierenden ‚Wissenschaften‘ auf jeweils unterschiedliche Art auf den Paradiesmythos Bezug nehmen können, demonstrieren sie dessen Flexibilität für die Integration und Orientierung neuer Wissensformen. Wissenschaft formiert sich hier nicht gegen die biblischen Mythen, vielmehr vermögen sich diese an die veränderten fachspezifischen Konstellationen anzupassen. Das betrifft auch noch den Mythos von der Sintflut, der bei Sebastian Münster nicht nur zum Paradigma der Vanitas, sondern auch zum historischen Erklärungsmodell für geographische und noch geologische Befunde seiner Zeit und daraus resultierendem Providenzdenken wird. Es ist die Erzählung von der Sintflut, die z. B. die Verbindung von Kosmographie, Geographie, Kulturgeschichte und Montanwissenschaft in einen narrativen und damit sinnvollen Zusammenhang stellt. Das Sinnpotential der biblischen Mythen erlaubt es zugleich, Fragen der Legitimität und Illegitimität des Wissens, der Relation von Glauben und Gelehrsamkeit, von Präsenz und Repräsentation, Kontinuität und Diskontinuität, Tradition und Innovation zu verhandeln. Auch wenn sie sich im Horizont der großen christlichen Erzählung situieren, bezeugen die biblischen Mythen jenseits streng funktionaler Logik eine ihnen inhärente Rationalität.
Providenz – Kontingenz – Erfahrung Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit Das schöne Gefühl, Geld zu haben, ist nicht so intensiv wie das Scheißgefühl, kein Geld zu haben. Herbert Achternbusch
1 Ebenen der Sinnbildung Die Frage nach der kulturellen Signifikanz frühneuzeitlicher Erzählliteratur zielt auf die Beziehung, die das Erzählen zu seinen möglichen Horizonten besitzt, auf die Relationen der Inhalte, Formen und Strategien des Erzählens zu übergeordneten Kontexten. Die Kohärenzbildungsverfahren des Erzählens sind nicht nur von narratologischen Kriterien abhängig, nicht allein von Gattungsmustern oder von literarischen Traditionen, sondern auch von textübergreifenden Instanzen.1 Solche Kontexte sind immer wieder als homogene Einheiten entworfen worden, vor deren Hintergrund die Texte gelesen wurden: als Weltbild oder Epochengeist, als Sozial- oder Wissensstruktur (Episteme), als Diskurs oder Dispositiv. Sie lassen sich letztlich auf drei elementare Begriffe reduzieren, die ihren theoretischen Ort und seine jeweilige Sinnbildungsfunktion fixieren: auf das Bild, die Struktur und die Strategie. Signifikant ist die Verschiebung der Blickrichtung, die wissenschaftsgeschichtlich mit der Zeit eingetreten ist. Weltbilder entwerfen Einheits- oder Totalitätskonzepte aus einer subjekttheoretischen Perspektive. Gedacht wird vom Wahrnehmungsapparat eines Subjekts aus, das auf Homogenisierung komplexer Erfahrungsgehalte ausgerichtet ist, anders gesagt: auf Orientierung und Sinn. Im Rahmen von Struktur- und systembasierten Konzepten dagegen wird der Gegenstand aus einer relationalen Perspektive wahrgenommen. Das Subjekt fungiert hier nurmehr als Funktionselement übergeordneter Strukturen, in die der Sinn nunmehr gewandert ist, sei es die Sozial, die Sprach- oder die Symbolstruktur und deren Funktion.2 Der Foucaultsche Begriff des Diskurses dagegen versucht mit der Einbeziehung der pragmatischen Perspekti-
|| 1 Vgl. Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik. 3), S. 85–118. 2 Vgl. François Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Bd. 1: Das Feld des Zeichens. 1945–1966. Bd. 2: Das Zeichen der Zeit. 1967–1991. Frankfurt a. M. 1999. https://doi.org/10.1515/9783110772340-008
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ve eine neue Dimension (Macht) einzubringen, die überdies kritisch ausgerichtet ist. Der Sinn ist nicht mehr hermeneutisch im Inhalt lokalisiert, auch nicht mehr in der Struktur, sondern in der Strategie.3 In diesem Koordinatensystem hermeneutischer, strukturaler und pragmatischer Theorien und Methoden hat sich die Analyse der frühneuzeitlichen Literatur zu verorten, will sie nicht nur Texte, Autoren und die immanenten Funktionsmechanismen des literarischen Systems, etwa Poetologien, untersuchen, sondern auch die kulturelle Signifikanz ihres Gegenstandes im Blick halten. Unterstützt wird diese Ausweitung des Blicks auf Kontexte durch die nicht gerade hohe ästhetische Elaboriertheit des literarischen Systems im 15. und 16. Jahrhundert. Der Prosaroman der Frühen Neuzeit etwa hat weniger als literar- denn als sozialhistorisches Phänomen gewirkt; sein Gehalt erscheint stark von pragmatischen Rahmenbedingungen determiniert.4 Eine kulturwissenschaftliche Perspektive bemüht sich, die verschiedenen Ansätze aufgreifend, den literarischen Text im Schnittpunkt sowohl von Strukturen zu betrachten, die nicht nur soziologische sind, als auch von diskursiven Praktiken, die Strategien der Normierung verfolgen. Es gilt dabei den funktionalen Status des Textes zu bestimmen, seine Spielräume der Reaktion und Aktion: Normierung, Kritik, Reflexion, Subversion und anderes. Die kulturelle Signifikanz des Textes ergäbe sich mithin aus dessen Status in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen, in den komplexen inhaltlichen, strukturellen und pragmatischen Sinnhorizonten seiner Zeit.
2 Ordnung und Kontingenz Die Frühe Neuzeit gilt als Übergangsepoche, die sich durch tief greifende Veränderungsprozesse in Sozialstruktur, Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Technik, selbst innerhalb der religiösen Orientierung auszeichnet. Vertraute Verhaltensformen und Denkweisen werden durch eine Fülle neuer Erfahrungen herausgefordert. Aus hermeneutischer Perspektive ist der Schwund metaphysischer Sicherheit und der Verlust eines homogenen Welt- und Menschenbildes zu konstatieren. Unabhängig davon, ob diese Einheit jemals existiert hat, wird die Notwendigkeit unabweisbar, den aktuellen Erfahrungsdruck mit den tradierten Gewissheiten zu harmonisieren und sinnhaft zu bewältigen.5 Die Geistesgeschichte hat diesen Prozess empha-
|| 3 Vgl. ebd., Bd. 2. 4 „Ohne einen im weitesten Sinne praktischen Orientierungsanspruch scheint Erzählen undenkbar“. Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: IASL, Sonderheft 1 (1985), S. 1–128, hier S. 78. 5 Vgl. zu solchen Prozessen bes. die Publikationen des SFB 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“; zum Erfahrungsdruck vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel
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tisch als Überwindung des mittelalterlichen Traditionalismus beschrieben, als Aufbruch in eine neue Zeit, die das Individuum allererst hervorbringt.6 Aus strukturalistischer Sicht bedeutet der Wandel vor allem Auflösung und Neuformierung sozialer Hierarchien, die Entstehung von institutionellen Ordnungen sowie den Wandel von Wissensstrukturen, in denen das Subjekt verortet wird. Soziologie und Sozialgeschichte haben diesen Prozess nüchtern als Umstellung von einem stratifikatorisch organisierten Gesellschaftstyp auf einen der funktionalen Differenzierung beschrieben. Während dabei lange das soziale, ökonomische und politische Feld im Zentrum des Interesses stand, wird mittlerweile auch der Raum kulturellen Wissens einbezogen.7 Die Diskursanalyse untersucht in diesem Zusammenhang kritisch die verschiedenen Prozesse der Regulierung. Institutionen und Disziplinen etwa gelten ihr als Regulatoren offiziellen Sprechens, als Grenzen ziehende Normierungsinstanzen gegen das Eindringen von widerständigen Kräften, aber auch von inkriminierten Wissensformen. So entsteht im Rahmen des frühneuzeitlichen Verschriftungsprozesses an den Höfen nicht nur ein neues Ordnungsschrifttum; auch in den Städten kommen zunehmend Polizeyordnungen auf, die das öffentliche Leben zu kontrollieren und zu normieren versuchen.8 Die pragmatische Ordnung des Wissens ist also eine regulierende. Zu den unerlässlichen Bemühungen des Diskurses, unbeherrschbare Einflüsse auszuschalten, gehören auch die Auseinandersetzungen um das Problem der Kontingenz: Nicht nur Wahnsinn (Rausch), Gewalt und Sexualität unterminieren die Ordnung der Gesellschaft, sondern auch der Zufall. In der Frühen Neuzeit tritt er
|| kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1978 (stw. 227), S. 16–20. 6 Vgl. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 10. Aufl. durchgesehen von Walter Goetz. Stuttgart 1976 (Kröners Taschenausgabe. 53), Kap. 2 u. 4, S. 121–157 u. 261–331; Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Birgit Recki. Bd. 14: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Die platonische Renaissance in England und die Schute von Cambridge. Text und Anmerkungen bearbeitet von Friederike Plaga und Claus Rosenkranz. Hamburg 2002 [zuerst 1929], S. 1–7. 7 Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1980–1995. Die Wissensgeschichte erkennt einen Epistemewechsel, der das Wissen von der Sprache, der Natur und der Ökonomie tief greifend verändert; vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1974 (stw. 96), S. 46–77, und Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 20. Aufl. Frankfurt a. M. 2004. 8 Etwa Hof-, Münz-, Forst- oder Hochzeitsordnungen. Zur Polizeyordnung vgl. Jörg Jochen Berns: Utopie und Polizei. Zur Funktionsgeschichte der frühen Utopistik in Deutschland. In: Literarische Utopie-Entwürfe. Hrsg. von Hildtrud Gnüg. Frankfurt a. M. 1982 (Suhrkamp Taschenbuch. 2012, Materialien), S. 101–116, hier S. 106f., und Bettina Dietz: Utopie und Polizey. Frühneuzeitliche Konzeptionen eines idealen Ordnungsstaates. In: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 591–617.
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sowohl in Folge eines Schwunds metaphysischer Ordnung als auch durch ihre Potenzierung9 zunehmend ins Bewusstsein. Als Schicksal und Verhängnis ist der Zufall jedoch nicht direkt mit einer Personengruppe identifizierbar wie die sozialen Störungen, seine Effekte sind nicht durch offizielle Regulierungen kanalisierbar, er wird nicht über Mechanismen der Kontrolle, sondern über solche der Adressierung bewältigt: konventionell an paradoxe Konzepte wie das von der doppelten Providenz, nach der jedwedes Unglück nicht nur vorgesehen, sondern auch verdient ist; dann aber auch über Metaphern wie die vom Theatrum Mundi und Allegorien des Todes, vor allem aber der Fortuna, mit denen Kontingenzerfahrung in Sinnbilder überführt wird. Die Frühe Neuzeit bringt geradezu einen eigenen Diskurs über Fortuna hervor. Er findet primär abseits der Universität seine Wirkung, das heißt: die Theoretiker der Fortuna kommen weniger aus der Sphäre des akademischen Diskurses als aus der des Handelns,10 und es ist der publizistische Markt, der diesen Erfolg befördert. Monographien mit mehr oder minder ausgedehnter Fortuna-Thematik erscheinen im Druck, etwa die Übersetzung der Trostschrift des Boethius (1500), Poggios lateinischer Traktat über das Elend der conditio humana (1513), Petrarcas Glücksbuch (1532) oder Giovanni Pontanos De Fortuna (1538). Druckgraphik und Malerei verbreiten das Thema visuell,11 in zahlreiche Felder wie Politik und Moralphilosophie dringt es zunehmend ein. In den Fabel- und Sprichwortsammlungen der Frühen Neuzeit ist Glück ein breit belegter Topos.12 Neben den theologischphilosophischen Diskursen über Providenz und Weisheit, ja selbst in Konkurrenz zu ihnen formiert sich die Erfahrung der Kontingenz als eigenständiger Macht. Das frühneuzeitliche Verständnis von Fortuna hat sich gegenüber dem Mittelalter gewandelt. Eine Schnittstelle bildet bekanntlich Boethius’ Schrift De consolatione philosophiae, in der die antike Fortuna-Vorstellung auf die Philosophia trifft und sich behauptet.13 Die klassische Thematik von Zufall und Notwendigkeit entfaltet
|| 9 Etwa in Gestalt des scholastischen Willkürgottes; vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1996 (stw. 1268), S. 159–204. 10 Vgl. Cassirer (Anm. 6), S. 89. 11 Vgl. Hans Holländer: Die Kugel der Fortuna. In: Das Mittelalter 1 (1996), Heft 1: Providentia – Fatum – Fortuna. Hrsg. von Joerg O. Fichte, S. 149–167. 12 Vgl. z. B. Erasmus Alberus: Die Fabeln. Die erweiterte Ausgabe von 1550 mit Kommentar sowie die Erstfassung von 1534. Hrsg. von Wolfgang Harms, Herfried Vögel in Verbindung mit Ludger Lieb. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit. 33), S. 48, 55, 135, 137f.; Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 11: Sprichwörter. Text-Redaktion Peter Klaus Knauer. Bern [u. a.] 1993 (Berliner Ausgabe, Sektion Philologische Wissenschaften), S. 33.25–35.6, 36.6–37.11, 52.9–53.25, 96.1–7, 102.25–28, 113.4–11 u. ö. 13 Vgl. Alfred Doren: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 2,1 (1922/1923), S. 71–144, hier S. 83f.; Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna: Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997, S. 30–36; Jan-Dirk Müller: Fortuna. In: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Bd. 3: Zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. von Almut Schneider, Michael Neumann. Regensburg 2005, S. 144–168, hier S. 146f.
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sich in der Frühen Neuzeit nun als dreigliedrige Relation im Spannungsfeld von Providenz, Kontingenz und freiem Willen, der Klugheit oder Tatkraft erfordert. Hatte das Mittelalter die Fortuna gewissermaßen moralisiert und domestiziert, indem es sie bei aller scheinbar waltenden Willkür der göttlichen Ordnung unterstellte, scheint die Frühe Neuzeit diese Bindung wieder aufzulösen.14 Ein solcher Prozess ist nicht als lineare Ablösung zu beschreiben, sondern als Tradierung alter und Aufkommen neuer Motive sowie deren Vermischung.15 Attribut der Fortuna ist nun weniger das Rad als wieder das Segel und die Kugel.16 Fortuna wird mit spezifischen Feldern sozialer Praxis assoziiert: traditionell mit der Seefahrt, nun auch mit Ökonomie und Politik. Es sind bevorzugt jene Felder, in denen die zeitgenössische Kontingenzerfahrung dramatisch wird. Traditionell ist noch die religiös motivierte Vereinnahmung der Fortuna. Sebastian Franck bezeichnet die Welt als bewegliche welt, als wanckele, hinfllige welt.17 Franck greift nicht nur auf die Theatrum Mundi-Metaphorik zurück, wenn er die Welt als Gottes faßnacht spil bezeichnet,18 er rekurriert auch auf das Glücksmotiv: hab acht wie dz alles mit dem glück / nach Gottes ordnung hin vnd her far / v in keim wesen bleibt.19 Theatrum Mundi, Vanitas und Glück werden zusammengedacht, die Bildfelder der Kontingenz verbinden sich in Zeiten religionspolitischer Kontroversen zu einem resignierenden Befund über die Welt. Dem Schwärmer bleibt als Haltung allein, sich nur bedingt auf die Welt einzulassen beziehungsweise der Rückzug auf sich selbst. Und doch: Mit dem Entzug von Vermittlungsformen zwischen Gott und Mensch, mit der nunmehr auch theologisch fundierten ‚Unberechenbarkeit‘ Gottes, fallen Kontingenz und Providenz zusammen. Selbst der Wissenschaftler entkommt dem Paradox nicht: Wenn Sebastian Münster sich in seiner Cosmographia von 1544 den historischen Wandel in der Topographie der Länder und die Veränderung ihres Klimas vor Augen führt, einen Wandel, der über Jahrhunderte sich einstellt und die Fruchtbarkeit der Landschaften verändert, rekurriert er zwar auf die Ansicht der Menschen, die den ‚Klimawandel‘ an Fortuna und Zufall delegieren – ex fortuna vel casu, daz ist / von Glck oder Vnglck –, doch vertraut auch er weiter auf die Macht einer höheren Gerechtigkeit: auf die ordnungen Gottes.20 Kontingenzerfahrung und metaphysische Ordnung werden auseinandergehalten, um sie wieder zusammenzuführen. Der vermeintliche Zufall erweist sich auch hier als Bestandteil der Vorse-
|| 14 Doren (Anm. 13), S. 83f., Cassirer (Anm. 6), S. 85–114. 15 Ebd., S. 87ff. 16 Ebd., S. 89; Holländer (Anm. 11); Müller (Anm. 13), S. 161. 17 Sebastian Franck: Weltbůch: spiegel vnd bildtniß des gantzen erdbodens [...]. Tübingen: Ulrich Morhart d.Ä. 1534, Bl. a iijv. 18 Ders.: Chronica. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Ulm 1536. Darmstadt 1969, Bl. a viv. 19 Ebd., Bl. a vir. 20 Sebastian Münster: Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt. Basel: Henricpetri 1628, Widmungsvorrede, Bl. ):( ijv (vgl. in der Ausgabe 1544: Bl. a ijv).
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hung. Selbst die Kontingenz der Pestepidemien, die ganze Länder heimsuchen, wird so noch in eine Regel überführbar, für die traditionelle Metaphern eintreten. Englands üppige und rühmenswerte Natur etwa wird durch periodische Pestepidemien in Schranken gehalten.21 Die beigefügte Allegorie des Todes stellt den regelhaften Umschlag schon in die Spannung zwischen theologischem und natürlichem Prinzip (Abb. 7).
Abb. 7: Sebastian Münster, Cosmographia. 1628, S. 80
Auch im Feld der Geschichtsschreibung stellt sich das gleiche Paradox ein: Wenn François Baudouin 1561 nach einer Regel im Gang der Geschichte, einem ordo temporum, forscht, versucht er, sie zwischen dem ewigen Kreislauf der Planeten und den Kontingenzen der sublunaren Sphäre zu verorten. Kreis und Theater stehen einmal für die ideale kosmische Ordnung – theatrum naturae, orbis coelestis –, das andere Mal für den planlosen, zufälligen Wechsel der Ereignisse – mundi amphitheatrum, fortuna –, der die menschlichen Angelegenheiten zu beherrschen scheint: cæco & fortuito casu omnia ferri voluíque videri.22 Der römische Zirkus wird Baudouin zum Paradigma für das Spiel der Fortuna: für das fortunæ ludibri[um].23 Kreis- und Theatermetaphorik implizieren sowohl den Inbegriff von Ordnung als auch das Spiel der Kontingenz. Nicht die Kontingenz wird hier durch Providenz eingefangen, sondern der Hiat zwischen ihnen wird selbst zum Thema, und es wird eine relative Ordnung zwischen ewigem Kreislauf und kontingentem Wechsel etabliert. Sichtbar
|| 21 Ebd., S. 80: Also weißt Gott der Allmchtige nach seinem allweisen Raht das ssse mit dem bitteren zu temperieren / vnd die Vlcker so sonsten etwan durch den vberfluß vnd vlle aller Lfte vnd Gtern diser Welt sich versteigen mchten / fein artig in dem Zaum zu halten. 22 François Baudouin [= Balduinus]: De Institutione historiae universae, et eius cum iurisprudentia coniunctione προλεγομενον libri II. Paris 1561, S. 7. 23 Ebd.
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wird zum einen die zunehmende Sensibilität für Kontingenz, zum andern das Bemühen, diese in symbolische Sinnfiguren zu bannen.24 Klassisches Element der Fortuna aber ist das Meer.25 In der Seefahrt der Frühen Neuzeit werden exemplarisch Grenzen ins Unbekannte überschritten. Dass Fortuna aus der Perspektive der Praxis schon deutlicher als Gegeninstanz zur Providenz aufgefasst wird, bestätigen die Berichte über die Gefahren frühneuzeitlicher Entdeckungsfahrten, etwa der Bericht des Amerigo Vespucci: Nach einer Reise von 67 Tagen, jn welchen das vnfrntlich vnd halsstarrig glck wider vns wtet, werden die Seefahrer nur durch die Gnade Gottes gerettet, treffen die Verzweifelten, die [...] yetzt erlst waren von dem rachen des widerwertigen glcks, endlich auf Land.26 Eine solche Vorstellung ist eng verbunden mit der Fortuna der Ökonomie: Die prosperierende Geldwirtschaft wird im zeitgenössischen Diskurs über das blindwütige Walten des Zufalls definiert.27 So heißt es in Clemens Senders Bericht über den Bankrott des Augsburger Handelshauses Hochstetter: und aber berierte Hochsteter und Baumgartner aus widerwertigem glick und zuogestandem unfall in [...] so grose arenmuot komen.28 In der ökonomischen Praxis fungiert Fortuna aber auch schon als Chance, die sich bei günstiger Gelegenheit ergibt:29 Tatkraft, Entscheidungsfreude und Skrupellosigkeit sind hier entscheidend. In Seefahrt und Handel beginnt sich Fortuna als autonome Instanz zu etablieren. Gegenüber solch weit verbreiteten Vorstellungen ist die Propagierung der Fortuna im Feld der Politik, wie Machiavelli sie vertritt, diskursgeschichtlich eine Randerscheinung. Die politische Rezeption Machiavellis erfolgt in der Frühen Neuzeit noch weitgehend unter moralischer Perspektive. Während die Geistesgeschichte die Ablösung der Politik aus den Vorgaben der Theologie, Ethik und selbst der aristotelischen Naturvorstellung als ein wesentliches Resultat der Frühen Neuzeit aus-
|| 24 Es muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, die stabilisierenden Diskurse der Wissenschaften auf solche Bildbrüche im Umgang mit der Kontingenz zu untersuchen. 25 Vgl. Jan-Dirk Müller: Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen. In: Fortuna. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna Vitrea. 15), S. 216–238, hier S. 234f. 26 Zitiert nach der deutschen Version des Berichts in [Simon Grynaeus:] Die New welt, der landschaften vnnd Jnsulen, so bis hie her allen Altweltbeschrybern vnbekant / Jungst aber von den Portugalesern vnnd Hispaniern jm Nidergenglichen Meer herfunden. [Deutsche Übersetzung des lateinischen Originals von Michael Herr]. Straßburg: Georg Ulricher 1534, Bl. 38v–41v, hier Bl. 39r CD. 27 Vgl. Müller (Anm. 25), S. 234; Beate Kellner: Das Geheimnis der Macht. Geld versus Genealogie im frühneuzeitlichen Prosaroman ‚Fortunatus‘. In: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. von Gert Melville. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 309–333, hier S. 318. 28 Zitiert nach Walter Raitz: Fortunatus. München 1984 (Uni-Taschenbücher. 1225; Text und Geschichte. 14), S. 101. 29 Vgl. Müller (Anm. 25), S. 234f.
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macht und dafür exemplarisch Machiavelli anführt,30 kann die Diskursgeschichte zeigen, dass jener aristotelische Bezugsrahmen noch lange Zeit die politische Theorie beziehungsweise deren Diskurs bestimmt.31 Als epochenspezifischer Typus wird der „durch eigene Tüchtigkeit (virtù) oder durch Gunst des Zufalls [...] zum Herrscher aufgestiegene Privatmann“, dem „alles Vorgegebene [...] zur bloßen Materie [wird], der er die Form seiner Entschlüsse aufprägt“,32 weniger auf dem Feld der Politik als auf dem der Ökonomie sichtbar. Der Fortuna-Diskurs profiliert sich schließlich anthropologisch gegen den fest etablierten Weisheitsdiskurs. Hans Rudolf Velten hat an Poggios Schrift De miseria humanae conditionis, die 1513 und 1538 gedruckt vorlag, herausgearbeitet, dass die humanistische Diskussion selbst den Stellenwert der Weisheit als remedium gegen die Schläge der Fortuna nur noch eingeschränkt akzeptiert.33 Damit gewinnt Fortuna selbst dort an Boden, wo sie traditionell über das Konzept der Weisheit in Schach gehalten wurde: in der Kunst der Lebensführung. In allen beschriebenen Feldern jenseits der Theologie, in Geographie und Geschichtstheorie, in Seefahrt, Ökonomie und Philosophie scheint sich ein ähnlicher Erfahrungstyp zu artikulieren: Fortuna kann anders als Providenz nicht mehr auf eine Absicht, auf einen übergeordneten Sinn zurückgeführt werden. Die irritierende Wirkung, die der Erfahrungsdruck akkumulierter Datenmassen und die Pluralisierung der Wissensformen, die frühkapitalistische Geldzirkulation und ihre sozialen Folgen, die Machtverschiebungen im politischen Feld, schließlich die Dynamisierung der Vorstellungen von Gott, Welt, Natur und Geschichte zeitigten, lässt sich auch an der Konjunktur des Weisheitsdiskurses festmachen. Sein institutioneller Ort ist die Moralphilosophie. In ihrem Rahmen spielen gemäß aristotelischer Tradition aber nicht nur Fragen der individuellen Ethik eine Rolle, sondern nicht weniger der Ökonomik und der Politik. Der Diskurs über die Weisheit ist auf das Individuum als Einzelnes – bona corporis, bona animi, bona fortunae – und auf das Gemeinwesen hin ausgerichtet. Die Diskussion wird auch nicht nur akademisch und politisch, also institutionell geführt, sondern dringt im Gefolge des Buchdrucks schon in den Markt ein, wird publizistisch wirksam. Eine Fülle von didaktisch ausgerichteter Weisheitsliteratur findet den Weg noch in volkssprachige Druckausga-
|| 30 Vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie. In: Schweizer Monatshefte 48 (1968/1969), S. 121–146, bes. S. 124f. 31 Ebd., S. 125: „Materialisierung dessen, was zuvor noch wie Natur ausgesehen hatte und damit die Sanktion aller Selbstverständlichkeiten beanspruchen konnte, zum Substrat demiurgischer Prozesse ist ein Grundzug der Neuzeit, der sich hier abzuzeichnen beginnt.“ 32 Ebd. 33 Hans Rudolf Velten: Die verbannten Weisen. Zu antiken und humanistischen Diskursen von Macht, Exil und Glück im ‚Lalebuch‘ (1597). In: Daphnis 33 (2004), S. 709–744, hier S. 727–738; Franz Josef Worstbrock: Petrarcas De remediis utriusque fortunae. Textstruktur und frühneuzeitliche deutsche Rezeption. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hrsg. von Achim Aurnhammer. Tübingen 2006, S. 39–57.
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ben und dient der Orientierung in lebensweltlich, politisch und ökonomisch unsicheren Zeiten: Weisheit wird in Relation nicht nur zum Laster, etwa zu Reichtum und Dummheit, sondern auch zur politischen Macht, zum Wissen, zum Leben und zur Fortuna gesetzt.34 Zahlreiche Drucke distribuieren die Weisheitsthematik in den entstehenden öffentlichen Diskurs, etwa auch Kompilationen antiker Tugendlehren wie das Buch von den Vier Angel tugent (1515), das unter anderem Positionen von Aristoteles, Sokrates, Platon, Seneca und Boethius zusammenfasst und christlich rahmt: Wie sehr Weisheitskonzepte sich von rein ethischen Fragen entfernen, wird etwa darin sichtbar, dass zu ihren konstitutiven Bestandteilen gedchtnüß, verstentnüß, fürsichtigkeit, behendigkeit und lerhafftigkeit, mithin allgemeine Strategien der Orientierung zählen.35 Aber auch konservativ als Fortsetzung religiöser Weisheitstradition, etwa in Dye Sprüch Salomon (1529), wirkt der Weisheitsdiskurs, sodann als Medium humanistisch motivierter Gesellschaftskritik in Sebastian Brants Narrenschiff (1494),36 als Rezeption antiker Fabeln in Sebastian Münsters Spiegel der wyßheit (1520) und in Erasmus Alberus’ Fabelsammlung (1534), die in erweiterter Form als buch von der Tugent und der Weißheit (1550) erscheint, aber auch schon früh als Medium der Selbsterkenntnis in Carolus Bovillus’ Schrift De sapiente (1510), die den Stellenwert der Weisheit nicht mehr moralisch, sondern schon anthropologisch behandelt.37 Weisheit ist auch nicht mehr vom Wissen getrennt, wie an der Konjunktur der Reise- und Wissensliteratur sichtbar wird, die sich gegen allen Curiositasvorbehalt an den Weisheitsdiskurs anzubinden vermag: Dann der weyßheit ssse ist also hoch [...] daß alle mēschen auß nateürlicher begird darnoch stellen – so rekurriert Cardanus in seinem naturkundlichen Werk auf den ersten Satz der aristotelischen Metaphysik.38 In der politischen Theorie nicht erst des 16. Jahrhunderts fun-
|| 34 Gegen die neu aufkommende Ökonomie formiert sich der Weisheitsdiskurs, sichtbar in polemischen Werken gegen das Geld; vgl. Hans-Jürgen Bachorski: Geld und soziale Identität im ‚Fortunatus‘. Studien zur literarischen Bewältigung frühbürgerlicher Widersprüche. Göppingen 1983 (GAG. 376), S. 191–251. 35 Dis sind die vier Angel tugent [...]. Straßburg: Mathias Hüpfuff 1515, Bl. A vjv. 36 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hrsg. von Manfred Lemmer. 4., erweiterte Aufl. Tübingen 2004 (Neudrucke deutscher Literaturwerke NF. 5), Kap. 22, S. 57f.; Kap. 107, S. 286–289; Kap. 112, S. 314ff. 37 Charles de Bovelles: Le livre du sage. Texte et traduction par Pierre Magnard. Paris 1982 (De Pétrarque à Descartes. 42). Zu Bovillus vgl. Cassirer (Anm. 6), S. 103–108. 38 Hieronymus Cardanus: Offenbarung der Natur vnnd Natürlicher dingen auch mancherley subtiler würckungen [...]. Alles durch Heinrich Pantaleon [...] verteütschet. Basel: Heinrich Petri 1559, Bl. + iiijr: Dann der weyßheit ssse ist also hoch / jre besitzung also ehrlich / jr bung also nutzlich / jr frucht also ein Gttliche liebe / v jr contemplation vnd betrachtnus also ein sichere rw / daß alle mēschen auß nateürlicher begird darnoch stellen. Vgl. Klaus Krüger (Hrsg.): Curiositas. Welterfah-
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giert Weisheit ohnehin als topische Herrschertugend.39 Weisheit gilt als stabilisierender Faktor gegen beinah alle Widrigkeiten des Schicksals: gegen Verbrechen, Armut, Krankheit, Tod und politische Gewalt. Ein Diskurs über das Verhältnis von Weisheit und Macht wird überdies noch in der volkssprachigen Erzählliteratur geführt. Im Redewettstreit der Sieben weisen Meister gegen Diocletian (Erstdruck 1470), im Briefwechsel zwischen Alexander und Dindymus in Hartliebs Alexander (gedruckt 1503/ 1514),40 im Disput zwischen Salomon und Markolf (Erstdruck 1473), im Wettstreit zwischen Esopus und seinem Herrn Xanthus bei Erasmus Alberus (1550), schließlich in der Utopia-Übersetzung (1524) und am Ende des 16. Jahrhunderts im Lalebuch (1597) wird Weisheit als rhetorisches Instrument der Selbstbehauptung gegenüber allzu selbstgewisser Macht vorgeführt.41 Geradezu Symptomwert für das Wirkungsfeld des Weisheitsdiskurses kann Sebastian Brants Narrenschiff reklamieren, welches das ganze Spektrum zeitgenössischer Irritationen im kulturellen Feld auf die Inversionsfigur des Narren bezieht: Gelehrsamkeit, Weltneugierde, Geldgeschäfte, Druckgewerbe und so weiter. Ganz unterschiedliche Strategien zur Restitution der Ordnung, christliche, humanistische, wissenschaftliche und politische Positionen, konvergieren im Begriff der Weisheit. Die zahlreichen Schriften über die Weisheit, all die Traktate, Lehrgespräche, Dialoge, Lieder und Erzählungen, finden ihren pragmatischen Ort im Dispositiv öffentlicher Ordnung. Institutionell gesehen sind sie Bestandteil der Moralphilosophie, denn wie Weisheit traditionell unter den Kardinaltugenden rangiert, so ist Politik noch fest an Ethik gebunden. Es geht um Fragen nach dem guten und schlechten Herrscher, nicht grundsätzlich um die Legitimität des Systems, schon gar nicht um die Realität des Politischen, die Machiavelli thematisiert hat.42 Wie die politische Theorie versucht der Weisheitsdiskurs das Allgemeingültige zu fassen, nicht das relativ Allgemeine, das der Erfahrung zuzuordnen wäre. Von daher wird die Bedeutung der Weisheit meist hierarchisch deduktiv abgeleitet: von Gott oder vom idealen Herrscher. || rung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. 15). 39 Vgl. Johannes Hartlieb: Alexander. Eingeleitet und hrsg. von Reinhard Pawis. München/Zürich 1991 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 97), Z. 13ff., S. 96: Darumb sol ain fuerst nichtt allain die coronicken lesen, sunder auch alles, daz zu weyshaitt sich czewchet vnd vbett. 40 Ebd., Z. 4514–5350, S. 238–265. 41 Noch die Historiographie partizipiert an dieser Selbstbehauptung, etwa im Gespräch Solons mit Krösus, wie es in der volkssprachigen Übersetzung von Herodots Historien tradiert wird (Herodotus: [...] von dem Persier / vnd vilen andern kriegen vnd geschichten / etc. Durch Hieronymum Boner / Oberster Mayster z Colmar / Auß dem Latin inn das nachuolgende Teütsch gebracht. Augsburg: Steiner 1535, Bl. VIIr–VIIIv). 42 Zum Politischen als neu entdeckter Realität vgl. Blumenberg (Anm. 30), S. 124f., und Luhmann (Anm. 7), Bd. 3, S. 65.
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Die frühneuzeitliche Literatur steht auf der Grenze zwischen offiziellem Diskurs und Erfahrungswissen, sichtbar etwa in der Spannung zwischen exemplarischem Anspruch der Literatur einerseits und ihren reflektierenden, kritisierenden oder ironisierenden Erscheinungsformen andererseits. Im Zusammenhang des Wissens über das Schicksal oder den Lauf der Dinge fungiert Literatur je nach vorausgesetztem Ordnungsrahmen als Reflexionsraum. Hier werden nicht nur zentrifugale Energien in eine praktische Ordnung gespannt, sondern Kontingenzerfahrung in Ordnungsmuster überführt und reflektiert, wird eher die Not zur Tugend gemacht. Welche Strategien stehen zur Verfügung, um die immer sichtbarer werdenden Formen der Kontingenz zu bewältigen? Weisheit bietet traditionell der gelehrte religiöse Diskurs an, Klugheit der praktische. Welche Lösungen hat die Literatur?
3 Fortuna und Erzählung Bei jeglichem Dinge muß man auf das Ende sehen, wie es hinausgeht; denn vielen hat die Gottheit das Glück vor Augen gehalten und sie dann gänzlich zu Grunde gerichtet. Herodot I 32.
Erzählen als eine spezifische Form von Sinnbildung steht selbst schon aufgrund der damit verbundenen Anforderungen an Kohärenz in Spannung zur Kontingenz: „Es bestimmt den Charakter der Narration und ihren Erfahrungsgehalt wesentlich mit, wie diese Spannung des narrativen Textes zwischen narrativer Ordnung und Kontingenz aufgelöst wird.“43 Während die Erzähltheorie die Erzählung als Ordnungsund Sinngefüge, das heißt: als Funktionszusammenhang definiert, in welchem Sinnlosigkeit per definitionem keinen Ort hat, steht die Erzählung doch immer auch in übergeordneten Bezugshorizonten, in Kontexten, die das Problem der Kontingenz virulent machen.44 Ideal, aber unwahrscheinlich ist die Konvergenz von textuellen und kontextuellen Sinngefügen. Clemens Lugowski hatte diese homologe Relation am Beispiel von Weltbild und Erzählform beschrieben und als „mythisches Analogon“ bezeichnet.45 Beiden liegt als mythischer Indikator eine vorausgesetzte „Ab-
|| 43 Stierle (Anm. 1), S. 96. 44 Der Strukturalismus hatte die Erzählung als Funktionsgefüge aufgefasst: Demnach existiert eine Erzählung als Strukturzusammenhang aus nichts als Funktionen: „‚Alles‘ bedeutet darin in unterschiedlichen Graden. [...] In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert: [...] entweder ist alles sinnvoll oder nichts. Anders ausgedrückt könnte man sagen, daß es in der Kunst kein Rauschen (im informationstheoretischen Sinn) gibt“. Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988 (Edition Suhrkamp. 1441), S. 109f. 45 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1994 [zuerst 1932] (stw. 151), S. 21–51. Vgl. dazu die Beiträge in
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sicht“ zugrunde. Lugowski greift auf den „Fundamentalsatz der mythischen Weltansicht“ zurück, nach dem „nichts in der Welt durch Zufall, sondern alles durch bewußte Absicht geschieht“.46 Weltgeschehen und Textorganisation fallen hier unter dem Begriff der Funktionalität in idealer Weise zusammen. So wie der Welt des Mythos (Christentum) eine Absicht unterlegt wird, so auch der Erzählung. In Zeiten sich auflösender Weltbilder und zunehmender Kontingenzerfahrung muss diese Einheit fragil werden. Die Konjunktur der Fortuna-Thematik ist unter anderem ein Indiz dafür. Der Diskurs über die Wirkkräfte des Schicksals, der sich auf verschiedenen Feldern artikuliert, dringt auch in den Prosaroman der Frühen Neuzeit ein. Verschiedene Instanzen der Determination wie Sterne, Vererbung oder Fortuna treten neben die Providenz, sie werden unabhängig von den zugrunde liegenden Gattungsmustern zur Anschauung gebracht und können in Konkurrenz zueinander treten. Astrologie und Genealogie bilden sogar wirkungsmächtige Diskurse aus.47 Eine Gattung mit erhöhtem Kontingenzpotential wie der höfische Aventiureroman scheint sich aber aufgrund ihrer Erzählstruktur eher zu sperren. So wird im Wigalois-Druck von 1493, einer Prosaauflösung mit indizierter Glücksmotivik, die „Sinnerfüllung im Zufall“48 noch deutlich providenziell gesteuert, so dass mythisches Analogon und Mythos weiterhin konvergieren. In Liebesromane wie den Prosatristrant oder die Magelone dringt die Glücksthematik dagegen schon deutlicher ein. Was man gemeinhin mit narrativer Exposition von Kontingenz bezeichnet, scheint der Prosatristrant ansatzweise umzusetzen.49 Anders als Eilhart koppelt der Verfasser signifikante Situationen an die Instanz der Kontingenz: Durch vngefert verbleibt das Schiff mit der schwangeren Blancheflur zu lange auf See,50 so dass sie bei der Geburt
|| Matías Martínez (Hrsg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn [u. a.] 1996 (Explicatio. 8). 46 Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Birgit Recki. Bd. 12: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Hamburg 2002 [zuerst 1923], S. 59. 47 Vgl. zu ersterer Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1985 (Sudhoffs Archiv, Beihefte. 25), S. 33–134; zu letzterer Kilian Heck, Bernhard Jahn (Hrsg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 80). 48 Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. I: Généralités. Hrsg. von Maurice Delbouille. Heidelberg 1972, S. 107–138, hier S. 116. 49 Schon der Tristanstoff selbst kann bekanntlich unter einer Fortuna-Perspektive gelesen werden; vgl. Franz Josef Worstbrock: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds ‚Tristan‘. In: Fortuna. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna Vitrea. 15), S. 34–51. 50 Tristrant und Isalde. Prosaroman. Nach dem ältesten Druck aus Augsburg vom Jahre 1484 [...] hrsg. von Alois Brandstetter. Tübingen 1966 (ATB, Ergänzungsreihe. 3), Z. 32, S. 2.
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stirbt. Das eintretende Leid bezieht der Erzähler nicht auf Providenz, sondern auf einen Erfahrungssatz: wenn es geet ye nach sß saur das sicht man gemeinklich in allen dingen.51 Als es den todwunden Tristrant später auf die See treibt, ist die Motivation zwar ähnlich wie bei Eilhart, sie wird aber in einen anderen Wissenshorizont gestellt: er wolt auf den see faren ob in gelück ettwa brcht da jm geholffen wurde.52 Das ist das Meer sowohl als Element des Risikos als auch der Chance. Zwischen der textinternen Erzählfinalität – der Held muss ankommen – und der textexternen Providenz – Gott rettet ihn – eröffnet sich ein Spielraum für Alternativen.53 Die Konkurrenz der Schicksalsinstanzen tritt signifikant in Thürings von Ringoltingen Melusine hervor, in der neben die klassische Providenz die Sterne, das Glück, die Genealogie und die menschliche Willensschwäche treten, der Mensch also in die Spannung rivalisierender Determinationen gestellt wird. Zum einen wird Fortuna aus der göttlichen Providenz herausgelöst und als Instanz etabliert, die jenseits von Moral als „abstraktes Gücks-Prinzip“ waltet:54 Obgleich Fee und Christin, macht Melusine gelückes zuoualle verantwortlich für die ‚notwendigen‘ Folgen des Tabubruchs.55 Demgegenüber bleibt der Umschlag des Glücks aber auch weiterhin an die Providenz rückgekoppelt: In dieser Zeit schlägt notwendig Glück in Jammer um, so kommentiert der Erzähler das eingeführte Augustinexempel: ob das nit beschicht so ist es doch ein gewißheit der ewigen verdamnuß.56 Anders als im Prosatristrant und eher wie in Münsters Fortuna-Auffassung wird Glückswechsel hier weniger als Erfahrungsbefund denn als providenziell sinnvolle Regel etabliert. So wie das Erzähl-
|| 51 Ebd., Z. 45f., S. 3. Oder die Konfrontation des Helden mit exorbitanter Gewalt: Die Entscheidung wird im Zweikampf mit Morolt noch an das Gottesurteil delegiert, obwohl hier kausal reine Kontingenz waltet; im Fall des Drachenkampfes aber wird schon an das Glück appelliert: ob jm gelück fget. das er in tten mchte (ebd., Z. 682, S. 27). 52 Ebd., Z. 440ff., S. 18. 53 Die Fortuna-Thematik ist ein Beispiel, das zeigt, dass der lineare und der finale Verlauf der Handlung immer durch Alternativen unterbrochen werden kann – mit Barthes: dass sich „Kardinalfunktionen“ anschließen (Barthes [Anm. 44], S. 112f.). 54 Bruno Quast: ‚Diß kommt von gelückes zuoualle‘. Entzauberung und Remythisierung in der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP. 2), S. 83–96, hier S. 86. 55 Vgl. ebd., S. 83 u. 94f.; außerdem Max Wehrli: Strukturen des mittelalterlichen Romans – Interpretationsprobleme. In: Ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich/Freiburg i.Br. 1969, S. 25–50, hier S. 26; Müller (Anm. 4), S. 95f. 56 Thüring von Ringoltingen: Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker. 54; Bibliothek der Frühen Neuzeit, erste Abteilung. 1), S. 9–176, hier S. 95.7f. Sichtbar wird solche Vergänglichkeit an den Ruinen, die zu Erinnerungszeichen nicht nur der Wahrheit der Geschichte, sondern auch der Hinfälligkeit alles Irdischen werden: Die Ruinen von Lusignan stehen zu Thürings Zeiten ebenso noch wie die des Wirtshauses, aus dem Augustinus geflohen ist: man sicht noch heẅt z tagen die grben desselbigen hawß (ebd., S. 95.26f.).
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geschehen zunehmend an externe Systeme wie Moral, Recht und Ökonomie rückgebunden und damit pragmatisiert wird, so vervielfältigen sich auch die nicht greifbaren Instanzen der Determination.57 Die allmähliche Herauslösung der Fortuna aus dem Geltungsraum der Theologie und der Moral ist das entscheidende Moment, das das literarische Feld mit dem politischen Fortuna-Entwurf teilt, hier nur bezogen auf politische Durchsetzbarkeit, dort auf das Leben allgemein.58 Die Entwicklung läuft aber nicht homogen. In Georg Wickrams Erziehungsromanen etwa zeigen sich überall dort, wo dem Protagonisten Außerordentliches widerfährt, zwar verstärkt Spuren der Fortuna-Thematik, doch wird das Motiv des Glücks erneut mit einer providenziell gelenkten Ordnung versöhnt.59
4 Fortunatus: Fortuna und Erfahrung Der 1509 in der oberdeutschen Handelsmetropole Augsburg erschienene Fortunatus ist ein Text mit ausgemachter Kontingenzthematik. Unter den Prosaromanen der Frühen Neuzeit wird sein sozialhistorischer Rang als Schwellentext im Übergang von adeliger zu bürgerlicher Lebensform dadurch markiert, dass er erstmals die ökonomischen Bedingungen frühneuzeitlicher Existenz reflektiert: Geld unterminiert hier alle sozialen Beziehungen und Systeme.60 Aus hermeneutischer Perspektive werden die Auswirkungen der neuen Ökonomie als Umkehrung tradierter Wert-
|| 57 Vgl. Müller (Anm. 4), S. 92–98. 58 Aus geistesgeschichtlicher Perspektive markiert eine solche Darstellung die Herauslösung des Subjekts aus metaphysischen Ordnungen und die Andeutungen einer anthropologischen Einsicht. Aus strukturalistischer Sicht würde das Koordinatensystem zwischen Gott, Welt und Mensch neu konfiguriert. 59 In Wickrams Goldtfaden wird die Handlung durch ein Aventiure-, Märchen- und Legendenschema strukturiert: Der Held ist providenziell gezeichnet, die Glücksklagen der Figuren sind immer schon providenziell eingefangen (vgl. zum Goldtfaden auch den Beitrag von Julia Richter: Genealogie und sozialer Aufstieg in Georg Wickrams Goldtfaden. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hrsg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider. Berlin/New York 2011 [Frühe Neuzeit. 136], S. 157–175). Zugleich aber wird das Geschehen sowohl vom Erzähler als auch von den Figuren auf die Wirkung der Fortuna bezogen; vgl. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bd. 5: Der Goldtfaden. Berlin 1968 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. 5), S. 2.9f, 8.7, 19.16f., 22.7, 42.4, 42.14f., 55.4, 103.2f., 104.21f., 110.17–22, 131.3–132.24, 166.34f. u. ö. 60 Zur systemtheoretischen Interpretation vgl. Detlef Kremer, Nikolaus Wegmann: Geld und Ehre. Zum Problem frühneuzeitlicher Verhaltenssemantik im ‚Fortunatus‘. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentags 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin/New York 1985, S. 160–178; Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit. 60), S. 52–113.
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vorstellungen in Szene gesetzt, wird ein Weltbildwandel als Gefährdung althergebrachter Formen sozialer Orientierung ausgemacht: Reichtum statt Weisheit. Diskurstheoretisch gesehen bleiben auf der Oberfläche zwar die Positionen des offiziellen, auf Stabilisierung der sozialen Ordnung ausgerichteten Weisheitsdiskurses in Geltung, doch unterminiert der Fortunatus bereits den Diskurs, da Kalkül und Erfahrung zu probaten Mitteln sozialer Interaktion werden und da Moral erfolgreich durch Politik, das heißt durch Strategie, abgelöst wird. Gegenüber dem traditionellen Weisheitsdiskurs, wie er etwa im Buch von den Vier Angel tugent oder in Brants Narrenschiff vorliegt, verfügt der Fortunatus nicht mehr über einen homogenen Bewertungshorizont. Literaturgeschichtlich gehört der Fortunatus zu den wenigen eigenständigen Erzählungen der Frühen Neuzeit und bezeichnet durch die enge Verbindung von Realismus und Literarizität in der Geschichte des Romans den Übergang zu einer neuzeitlichen Ästhetik.61 Zwar orientiert sich der Verfasser noch an tradierten Erzählmustern, doch passt er seinen Gegenstand schon nicht mehr in eine feste Gattungskonvention ein, verlässt also die institutionalisierten Formen sprachlichen Handelns zugunsten eines neuen Erzählentwurfs, der ein aktuelles Problem aufgreift. Als Klassiker unter den Prosaromanen kann der Fortunatus sowohl aufgrund der Modernität seiner Thematik (Geld) und Erzählform (Kasus) gelten als auch aufgrund der zeitgemäßen Reformulierung des zeitlosen Themas von der Glückswahl, das den Kern menschlicher Wunschökonomie betrifft. Egal, was gewählt wird – Weisheit, Liebe, Geld, Macht oder anderes –, es bleibt immer ein Mangel: nach Weisheit (Salomon) und Liebe (Paris) nun also Reichtum. Der sozialhistorischen Brückenfunktion und dem narratologischen Experiment korrespondiert eine innovative geistesgeschichtliche Perspektive. Der Fortunatus, das ist wiederholt beschrieben worden, ist voller Fortuna-Symbolik, angefangen beim Namen des Protagonisten über die Personifikation der Glücksjungfrau und das Glückssäckel, über die zahlreichen kreisförmigen Handlungsmuster, die Peripetien der Figuren, ihre Auf- und Abstiege, bis hin zu dem Titelblatt der späteren Ausgabe, das die Fortuna-Ikonographie explizit aufnimmt.62 Die Fortuna des Fortunatus scheint aber nicht mehr die christlich imprägnierte Schicksalsinstanz zu sein, ihr mangelt gerade jene moralische Qualität, die Glück und Providenz verbunden und
|| 61 Vgl. Raitz (Anm. 28), S. 84–92; Walter Haug: Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelaltes. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ludger Grenzmann, Hubert Herkommer, Dieter Wuttke. Göttingen 1987, S. 21–37, hier S. 32. 62 Fortunatus. Fassung von 1509. In: Müller (Anm. 56), S. 383–585, Abb. 8; vgl. Hannes Kästner: Fortunatus – Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit. Freiburg i.Br. 1990 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae), S. 39–48; Müller (Anm. 25).
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in die Ordnung einer geometrischen Figur überführt hatte.63 Der Fortunatus exponiert Kontingenz im positiven wie im negativen Sinn. Er rekurriert aber nicht nur inhaltlich auf Elemente des Fortuna-Diskurses, er beutet ihn auch für die Erzählstruktur aus.64 Der Dominanz der Fortuna-Motivik entspricht, dass sich die Erzählung offensichtlich einer exemplarischen Aussage versagt. Eine ganze Serie von Einzelbiographien, zum Teil nur in Umrissen angedeutet, wird vorgeführt und bricht dramatisch ab. Zwar sind als Grundriss der Erzählung die Handlungsmuster des mittelalterlichen Aventiureromans aufgedeckt worden, doch teilt er mit dessen Märchenschema nicht mehr die „Sinnerfüllung im Zufall“, die den Aventiureritter so sicher durch alle Gefahren gelenkt hatte.65 Wenn „Ziellosigkeit und Kontingenz“66 als diejenigen Faktoren ausgemacht werden, die den Lebensentwurf des Fortunatus bedrohen, verweist das gegenüber mittelalterlichen Sinnordnungen auf ein weiteres Moment von Modernität. In diesem Sinn stirbt der Protagonist, anders als seine Söhne, einen Tod, der sich nicht mehr auf eine exemplarische Formel bringen lässt. Der Erzähler entwirft seine Handlung im Horizont eines bekannten genealogischen Musters, das die Biographie des Helden über die Geschichte der Eltern und der Söhne mit einer Vor- und einer Nachgeschichte versieht. Nachdem der Bürger Theodorus das Erbe seiner Eltern in ritterlichem Statuskonsum vertan hat, fehlen ihm die nötigen Mittel, seinen Sohn adäquat auszustatten. Wie ein Märchenheld zieht Fortunatus in die Welt, um sein Glück zu machen: es ist noch vil glüks in diser welt / ich hoffen zu got mir werd sein auch ain tail.67 In die Obhut Gottes aber entlässt ihn der Erzähler nicht. So holt ihn denn auch sogleich die Realität ein, indem ökonomische Not ihn zu Dienstleistungen verpflichtet. Diese ermöglichen Fortunatus zwar wiederholt bedingte Aufstiege, doch führen die Dienstverhältnisse aufgrund von Intrigen jeweils in die Katastrophe und treiben ihn in die Isolation. Gefahren begegnen ihm weniger in sichtbarer Gestalt als in unsichtbaren Strategien. In seiner tiefsten Krise trifft Fortunatus in einem Wald auf die Jungfrau des Glücks, die ihm eine Reihe von Glücksgütern offeriert: Schönheit, Gesundheit, Stärke, langes Leben, Weisheit und eben Reichtum.68 Fortunatus zögert nicht lang und entscheidet sich für Geld und damit für den wohl wirkungsmächtigsten Kontingenzfaktor seiner Zeit. Der Text selbst lässt auf der Erzähloberfläche, im Pro- und Epilog sowie in wiederholten Figurenkommentaren keinen Zweifel daran, dass diese Wahl falsch war:
|| 63 Müller (Anm. 25), S. 218–222. 64 Vgl. Müller (Anm. 4), S. 96; und ders. (Anm. 25). 65 Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2006 (Kölner Germanistische Studien. N. F. 7), S. 215: Die mit ihren „impliziten Formen der Sinngebung“ aufgerufenen Intertexte werden von der Erzählung „in ihrer Funktion für die Identitätskonstruktion“ des Fortunatus verworfen. 66 Ebd. 67 Fortunatus (Anm. 62), S. 391.6ff. 68 Ebd., S. 430.12f.
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Rekurriert wird dafür immer wieder auf die klassische Opposition von Weisheit und Reichtum.69 Nun herrscht jedoch breiter Konsens in der Forschung, dass die Erzählung von Fortunatus und seinen Söhnen nicht in dieser schlichten Lehre aufgeht.70 Am eindeutigsten vielleicht stehen Theodorus und Andolosia für sie ein, besitzen sie doch Reichtum ohne Weisheit und gehen zugrunde. Kaum aber gilt sie für Fortunatus selbst, der nicht nur als Alternative zu Vater und Sohn, sondern auch zu dem im Epilog aufgeführten Salomon bezeichnet werden kann.71 Hatte dieser Weisheit gewählt und als Konsequenz auch Reichtum geerntet, so wählt Fortunatus Reichtum und erlangt im klugen Umgang mit ihm Weisheit: Aus Erfahrung wird Fortunatus klug, so dass die Alternative von falscher und rechter Wahl eine zusätzliche Option erhält.72 Die ehemals feste Opposition von Weisheit und Reichtum gerät ebenso in Bewegung wie die Möglichkeiten ihrer Exemplifizierung an ihre Grenzen geraten. Neben deutlich exemplarische Handlungen treten solche, deren explizite Moralisierung schon nicht mehr die Komplexität des Geschehens trifft. Die einzelnen Handlungstypen erhalten über das Kalkül Spielräume der Reaktion. Die Erosion des Moral- und Sozialsystems spiegelt sich im Aufbrechen der exemplarischen Erzählform selbst, durch das zugleich eine traditionelle mittelalterliche Denkform in Frage gestellt wird. Ein derartiger Befund, der sich bereits an der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Novellistik beobachten ließ, bestätigt sich auch in den Exempelreihen des Fortunatus. Die pragmatische Sprachhandlung des Exempels wird über ihre narrative Inszenierung problematisiert und damit reflektierbar.73 Impliziert die Sprachhandlung des Exempels den Appell zur Nachahmung oder Unterlassung, so der Kasus die Aufforderung zur Bewertung des Falls.74 Der Fortunatus erzählt nicht mehr exemplarisch vom Erwerb einer Herrschaft, nicht von idealen Erziehungsprogrammen, auch nicht von unauflösbaren Liebes- oder Freundschaftsbindungen oder von Opferbereitschaft im Dienst der Gemeinschaft. Pragmatisch tritt an die Stelle der imitatio die Reflexion der angebotenen Maximen. Die ethische Maxime von Weisheit statt Reichtum dient nur noch als Hintergrund || 69 Vgl. Dieter Kartschoke: Weisheit oder Reichtum. Zum Volksbuch von Fortunatus und seinen Söhnen. In: Literatur im Feudalismus. Hrsg. von Dieter Richter. Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. 5), S. 213–259. 70 Hans Geulen: Erzählkunst der Frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und -formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975, S. 23; Müller (Anm. 4), S. 76f. 71 Dietrich Huschenbett: Fortunatus und Salomo. In: ZfdA 133 (2004), S. 226–233. 72 Vgl. Kartschoke (Anm. 69), S. 221f.; Haug (Anm. 61), S. 23; Huschenbett (Anm. 71), S. 226–233. 73 Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347–375, hier S. 362f. Vgl. HansJörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 8). 74 Stierle (Anm. 73), S. 363.
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für eine Zeit, die deren Umkehrung schon selbstverständlich praktiziert. Nur ein Märchenheld, ein Fortunatus, kann schadlos durch eine solche Welt wandern. Der Fortunatus betreibt die Verabschiedung des Märchens mit den Mitteln des Märchens. Wie der Abenteuerwelt die „Sinnerfüllung im Zufall“ verloren geht, so wird die Finalität des Geschehens durch komplexe, aber berechenbare Kausalitäten, durch Strategien, abgelöst. Die ethische Maxime von Weisheit statt Reichtum, die für den hermeneutischen Gehalt einsteht, wird denn auch, wie Kremer und Wegmann herausgearbeitet haben, durch eine mächtige soziale Relation ersetzt, die auf die Korrespondenz von Ehre und Geld zielt, eine Konstellation, die geradezu symptomatisch für den Epochenwechsel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit steht.75 Sie zeigt die Auswirkungen der neuen prosperierenden Geldwirtschaft auf die Strukturen und Verhaltensformen einer feudalständischen Gesellschaft, von Mechanismen des Tauschs und der Kalkulation, die alle Lebensbereiche zu durchdringen scheinen. Die Serie von Lebensläufen, die der Fortunatus einspielt, wird weniger über den Protagonisten als über das Funktionselement des Geldes zusammengehalten. Das Geld und seine Auswirkungen auf die Menschen werden dabei unmittelbar auf die Idee der Fortuna bezogen. Fortuna wird geradezu durch das Geld substituiert, sie kann daher problemlos aus der Erzählung verschwinden, weil das Geld auf analoge Art die Gedanken und Handlungen der Menschen bestimmt.76 Nicht das Glück als unkalkulierbare Macht spielt mit den Menschen, sondern das Geld. Gerade die Koppelung der Personifikationen von Märchenfee und Schicksalsgöttin macht die Ambivalenz des Geldes zwischen Glück und Fluch durchsichtig: Beide gewähren Glück traditionell unter Vorbehalt. Die Allegorie wird in das generalisierte Kommunikationsmedium Geld transformiert, das die Menschen selbst in die Verantwortung setzt. Indem Fortuna durch das Geld ersetzt wird, wird sie sowohl entmythisiert und säkularisiert als auch materialisiert. Es sind fürderhin die Menschen selbst, die Glückswechsel bewirken. Fortuna als Schicksal erweist sich als beobachtbarer Effekt sozialer Rivalität und ihrer perfiden Strategien, so dass sich anders als in antiker und mittelalterlicher Tradition die Ursachen für ihr Wirken rekonstruieren lassen. Die Sinnstruktur der meisten Lebensläufe wird nicht durch eine anonyme Fortuna, sondern durch die gewandelte Struktur sozialer Interaktion und durch die Geldgier ihrer Teilnehmer determiniert. Das Wirken der Fortuna als letztlich christlich fundierte „Sinnerfüllung im Zufall“ wird in komplexe Strategien der Menschen transformiert.
|| 75 Kremer, Wegmann (Anm. 60). Vgl. dazu auch die Beiträge in Klaus Grubmüller, Markus Stock (Hrsg.): Geld im Mittelalter. Wahrnehmung – Bewertung – Symbolik. Darmstadt 2005. 76 Die Konkurrenz der Werte, die mit der Wahl notwendig entsteht, ist auch nur eine scheinbare, da das Geld in alle anderen Werte (mit Ausnahme der Weisheit?) konvertierbar ist. Fortunatus’ Wahl erweist sich als zeitgemäß.
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Die Forschung hat wiederholt gezeigt, wie der beschriebene Rationalisierungsprozess auch an der Depotenzierung der traditionellen Schicksalsinstanzen vorgeführt wird.77 Eine Hierarchie ist hier nicht mehr auszumachen: Gott, die Sterne und das Glück sind in ihrem Verhältnis zueinander nicht mehr eindeutig bestimmbar.78 Zwar wird Gott von Seiten der Figuren immer wieder als maßgebliche Instanz angerufen, doch wirken real schon andere Kräfte.79 Einerseits wird das Glück providenziell kontrolliert, indem Gott und das Glück zusammengebunden werden, andererseits treten sie in Konkurrenz zueinander: Während Fortunatus in Konstantinopel die Tochter eines armen Mannes mit den Worten haiß sy kommen es ist ir gelück herbeirufen lässt,80 delegieren die Eltern das Glück an die Providenz: got hat den man von hymel gesant.81 Konkurrierende Instanzen treten neben die Providenz;82 Empirie tritt an die Stelle des Wunders.83 Die religiöse Motivierung des Geschehens, wie sie vor allem aus der Sicht der Figuren geboten wird, wird in ihrer Ambivalenz durchsichtig gemacht.84 Für die Frage nach der Episteme bedeutet dies, dass die religiöse Wissensordnung durch andere Ordnungen unterwandert wird: durch Ökonomie, durch Technik, durch Natur oder Erfahrung. Während aber die Figuren blind dafür sind, legt das Erzählverfahren die Ablösung offen. Der Fortunatus zeichnet sich überdies durch die Erosion der sozialen Systeme aus, die ihre naturale Grundlage zugunsten künstlicher Strategien einzubüßen beginnen. Das trifft noch nicht für den Bereich der Politik zu: Herrschaft gründet noch in der Natur des Menschen.85 Der englische König sieht seine Herrschaft noch
|| 77 Müller (Anm. 25), S. 223–227. 78 Ebd. 79 St. Patricius gelangt mit Gottes Hilfe wieder aus der Höhle (Fortunatus [Anm. 62], S. 444.18f.), und die Entfernung der Hörner von Agrippina wird von Nonnen als Wunder Gottes bestaunt (ebd., S. 561.20–29). Die Ironisierung der Klosterlegenden ist jedoch offensichtlich, denn die Patriciushöhle ist zu Fortunatus’ Zeiten anders als in ihrem Gründungsmythos längst ausgemessen (ebd., S. 446.30ff.), das heißt: Ihre mythische Qualität ist mittlerweile rationalisiert, und Agrippinas Hörner verschwinden aufgrund von Naturwirkung (ebd., S. 560.28ff. u. 561.16–20). 80 Ebd., S. 455.16f. 81 Ebd., S. 457.1f. 82 Z. B. ebd., S. 447.10f.: Mit der hylff gots vnd des alten mans / kamen sy wider zu den leüten [...]; S. 459.24f.: [...] so wolten wir mit der hilff gots vnd mit parem gelt / vnser leben fristen. 83 Jan-Dirk Müller: Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände. 5), S. 252–271, hier S. 256f. 84 Ebd. 85 Die aristotelische Politik leitet den Staat aus der menschlichen Natur ab, indem sie einen Hylemorphismus unterstellt, nach dem die Geschichte der „alten, historisch oder geistlich legitimierten Staatsgebilde [...] wie Wachstum aussieht“ und diese „so etwas wie Natur angenommen“ haben (Blumenberg [Anm. 30], S. 125). Ähnlich kann Erasmus Alberus noch 1534 die Fabel vom Magen und den Gliedern erzählen und in organologischer Tradition mit folgender Moral versehen:
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selbstverständlich metaphysisch durch Gott und das Glück legitimiert,86 und auch der Waldgraf empört sich darüber, von jemandem finanziell überboten zu werden, der kein geborner edelman ist.87 Und doch ist die Bindung von Herrscher und Untertan schon von finanziellem Kalkül durchwirkt, wenn Dienstleitungen finanziell kalkuliert werden und der Adelstitel käuflich erworben werden kann. Die natürliche Basis der sozialen Systeme beginnt sich aufzulösen. Vor allem die Ökonomie beruht nicht mehr nur auf naturaler Subsistenzwirtschaft, sondern zunehmend auf der Zirkulation von Gütern, auf finanziellem Mehrwert. Dass Macht und soziale Geltung von Besitz, von der Verfügung über Land und Leute abhängen, sieht Fortunatus früh ein,88 und selbst als er beides nach seiner Rückkehr in Famagusta käuflich erwirbt, äußert der Adel Zweifel an der Solidität seines Reichtums.89 Alle Vorbehalte aber werden mit Geld aus dem Weg geräumt. Als naturale Basis der Vergesellschaftung erodiert in besonderem Maß die Familie. Die Erzählung entfaltet sich zwar vor dem Hintergrund eines alten genealogischen Erzählschemas, die Genealogie spielt aber keine zentrale Rolle mehr.90 Unter den Bedingungen des Geldes – und der Kontingenz als Chance – kommt es auf einen generationenübergreifenden Zusammenhang nicht mehr an. Wie wenig der Status von Eltern noch gilt, wird schon am Anfang klar, als Fortunatus ohne Probleme und Abschied in die Welt zieht. Lüpoldus beruft sich zwar auf natürliche liebe, die ihn nach langer Wanderschaft wieder nach Hause zieht.91 Was ihn aber bewegt, diesen Plan zu verschieben, ist das Geld des Fortunatus, und ebenso nimmt seine Familie aufgrund der Geldgeschenke seinen erneuten Abschied bereitwillig hin. Wenn unter den Bedingungen der Geldwirtschaft jeder seinen ‚Schnitt‘ machen kann, agieren nicht mehr natürlich fundierte Stände oder Familien, sondern Berufsgruppen, also ausdifferenzierte soziale Funktionseinheiten: Kaufleute, Juristen, Hofräte, Wirte, Zuhälter und Prostituierte, Kriminelle, nicht aber Söhne. Die Erosion familialer Beziehungen spiegelt sich in besonderer Weise im gestörten Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen: Theodorus und Fortunatus, Andrean und sein Vater und auch die portugiesischen Kaufmannssöhne in London – sie alle bestätigen die Störung des Generationenverhältnisses. Die Genealogie als natürliche Ordnungsform der Geschlechter ist nicht mehr auf Kontinuität angelegt, sondern auf Ab-
|| So wenig als wir knden sein / | on brot / on wasser / vnd on wein. | So wenig knden wir empern / | der Knig / Fürsten / vnd der Herrn (Alberus [Anm. 12], U 16, V. 87–90, S. 251). 86 Fortunatus (Anm. 62), S. 550.17ff. 87 Ebd., S. 434.8. 88 Ebd., S. 437.1–6. 89 Ebd., S. 467.7–15. 90 Vgl. Müller (Anm. 25), S. 220 u. 230; Kellner (Anm. 27), S. 320ff. Genauso wenig kommt es auf Nachkommen an: Fortunatus zeugt Kinder weniger um der Genealogie willen als um die Kraft des Glückssäckels zu verstetigen. 91 Fortunatus (Anm. 62), S. 440.18.
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bruch, weniger um das Walten der Fortuna als das des Geldes zu dokumentieren. Selbst die Gräfin lässt sich die emotionale Bindung an ihre Tochter abkaufen. Traditioneller Werthorizont und ökonomisches Kalkül der Figuren dissoziieren nicht nur, sie werden in ihrer Widersprüchlichkeit vorgeführt, kommentiert und dem Leser zur Bewertung anheim gestellt. Erzähltechnisch zeigt sich auch daran der Wandel traditioneller Erzählformen: Indem der Text nicht nur die Umbesetzung der Wertesysteme vor Augen führt und sie mit kritischen Kommentaren begleitet, sondern die Figuren in der Spannung alter und neuer Wertesysteme vorführt, verschiebt sich die Darstellungsform vom Exempel hin zum Kasus.
5.1 Inklusion: Philosophia moralis Wie aber reagiert die Erzählform, die per se auf Sinnhaftigkeit ausgerichtet ist, auf den permanenten Einbruch von Kontingenz? Welche Orientierungen stehen überhaupt noch zur Verfügung? Will man zeitgenössische Wissensformationen benennen, die das Leben des Fortunatus in wesentlichen Zügen steuern, so sind es zum einen die klassischen Felder der Moralphilosophie, zum andern die Erfahrung – mit anderen Worten: das Diskurswissen der Zeit und die unmittelbare Konfrontation mit der Realität. Das Verhalten des Fortunatus verortet sich im weiteren Horizont von Ethik, Ökonomik und Politik. Die Philosophia moralis zielt traditionell auf die Fähigkeit, sich selbst und sein Haus (familia) zu regieren und zur Gesellschaft in ein spannungsfreies Verhältnis zu treten. Am Ende seines Lebens reüssiert Fortunatus auf allen Feldern der Moralphilosophie. Er hält nach ersten negativen Erfahrungen seine eigenen Bedürfnisse im Maß und lässt sie nicht über die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen hinauswachsen. Das könnte man als die implizit stabilisierende und regulierende Diskurswirkung innerhalb der Erzählung bezeichnen, die einer Wucherung der Wünsche (wie bei Faustus) angesichts der doch unbegrenzten Möglichkeiten vorbeugt. Es ist erstaunlich, dass Fortunatus angesichts seines Reichtums kaum Wünsche entwickelt, schon gar keine riskanten.92 Nach den abschreckenden Erfahrungen in London und beim Waldgrafen bewegt er sich ganz in den Bahnen der vorgegebenen Handlungsmuster und Werte seiner Zeit: Er lernt sich zu disziplinieren, er gründet eine Familie, wird zum verantwortungsvollen Hausvater und erwirbt in seiner Heimatstadt Ansehen durch Feste, karitative und mäzenatische Aktionen. Die Lehren, die Fortunatus aus seinen Abenteuern zieht, münden in eine vorbildliche soziale Integration. Voraussetzung für all das ist – das sollte nicht vergessen werden – das nicht verdiente, sondern geschenkte Geld oder Glück. Was die Erzählung Schritt für Schritt unterminiert, die stabilisierende Funktion von sozialen
|| 92 Darin unterscheidet er sich von seinem Sohn Andolosia.
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Systemen – Religion, Politik, Recht, Moral, Familie –, das wird in Fortunatus’ Hausgründung restituiert.
5.2 Exklusion: Erfahrung und Reisen Gegen die normativen Instanzen der Moralphilosophie tritt zunehmend der Anspruch der Erfahrung. Der Stellenwert der Erfahrung schlägt sich zunächst in einer konventionellen Instanz sozialer Orientierung nieder: im Rat. Rat einholen ist topische Forderung der Tugendlehre und der politischen Theorie.93 In traditionalen Gesellschaften gewährleistet die Instanz des Rates überdies die Kontinuität von Wissen und Werten im Verhältnis der Generationen. So ist es Aufgabe der Jüngeren, noch zuolgen der alten weysen rth / die jr langwirig alter weiser vnd erfarner gemacht hett.94 Bis in die Psyche des Subjekts hinein wird Rat zum Paradigma der Orientierung: Also ist da reych der selen besetzt / so die edel vernunfft recht vnnd nach wyßheit ratet. So der will gebeütet / da ist nach rat der vernunfft.95 Der Staat, die familia und das Subjekt selbst sind also auf eine Instanz der Erfahrung angewiesen, die jenseits abstrakter Norm sich etabliert. Das Einholen des Rates insbesondere von erfahrenen Personen wird denn auch für Fortunatus zum sicheren Halt in den stürmischen Gewässern der Fortuna: So kauft er sich den Erfahrungsschatz des Lüpoldus, der ihm zum Führer und Ratgeber auf seinen Reisen wird. Seine Erfahrungen verdankt er hier Lüpoldus hilff vnd radt / der die land vor alle durchfaren was.96 Dass Fortunatus überhaupt auf fremden Rat setzt, das rettet ihn zum Beispiel auch aus der Lebensgefahr in Konstantinopel: Nach dem Tod des diebischen Wirts entwirft Fortunatus imaginär alternative Szenarien, ehe er sich resigniert an Lüpoldus wendet: wißte er ettwas gts zuradten das er das thte.97 Und auch den Modus seiner Heirat überlässt er seinem Herrn, dem König von Zypern: Fortunate du bist mein hindersß vnd vermain / was ich dir radt.98 Die Integration in die Gesell-
|| 93 Vgl. z. B. Vier Angel tugent (Anm. 35), Bl. A iijr: Salomon: Harumb so von den rten recht geraten würt / vnnd von dem der do gebietten sol / recht gebotten würt / vnd die do da vnderthnig sollen sein gehorsam seind /dann heißt das reych wyßlich vnd wol geordnet. Ebd., Bl. A ijjr: Also ist da rych der selen besetzt / so die edel vernunfft recht vnnd nach wyßheit ratet. So der will gebeütet / da ist nach rat der vernunfft. Vnd do die sinnlichen lyplichen kreffte vnderthnig seind / das würckend die tugent in dem rych der selen. 94 Herodotus (Anm. 41), Bl. ijr. Vgl. Vier Angel tugent (Anm. 35), Bl. A viijr: Wer do verschmahet den rat seines nchsten / der kommet selten z eren / wann es vallen vil sachen dem menschen z / das er notturfftig ist des rats. 95 Ebd., Bl. A iijr. 96 Fortunatus (Anm. 62), S. 464.2f. 97 Ebd., S. 460.26f. 98 Ebd., S. 469.1f.
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schaft mittels Ehe vollzieht sich unter Anleitung der Herrschaft. Und noch anläßlich der Brautwerbung, bei der Entscheidung über die drei Kandidatinnen, zieht er erneut den Rat des Lüpoldus heran.99 Erfahrung und Rat erweisen sich als die bewährten Mittel, den Eventualitäten der Kontingenz vorzubeugen. Dass auch diese Instanz der gemeinschaftlich kontrollierten Lebensplanung ihre Grenzen besitzt, zeigt ironisch die eingeschobene Erzählung von den wieder gefundenen Kleinodien: Die Erzählung endet zwar mit der topischen Formel darumb so ist es gt wer weiser leüt radt volget,100 doch der Rat der Gevatterin über die Bewältigung der Trauer und der Rat des Freundes über den Umgang mit den aufgetauchten Kleinodien geht in dieser klassischen Wahrheit nicht mehr vollständig auf. Zumindest könnte dies einen Leser irritieren, und er mag sich aufgefordert sehen, beide Ratsszenen auf die Logik der Moral hin zu befragen und damit das Exempel zum Kasus zu machen.101 Andolosia wird später scheitern, weil er sich vom Rat des Vaters, des Bruders, des spanischen Königs und von der Instanz des Rates überhaupt verabschiedet. Rat als exemplarische Erfahrung artikuliert auch auf übergeordneter Ebene der Erzähler selbst, wenn er bei gegebenem Anlass das Geschehen auf einzelne soziale Gruppen hin ausmünzt: auf Söhne, die ihre Väter ruinieren,102 auf verschwenderische Bürger, die sich durch Festivitäten finanziell übernehmen,103 auf Gäste, die ihre Rechnung nicht bezahlen,104 auf Adelige, die ihre Untertanen auspressen,105 oder auf Juristen, die aus Streitigkeiten Nutzen ziehen.106 Der jeweilige Einzelfall wird ganz nebenbei zum Exempel einer übergeordneten Wahrheit: Als noch maniger sun tt [...];107 als man ir noch vil findet [...].108 Solche Erfahrungen demonstrieren in ihrer Summe zum einen die Wirkung des Geldes als eine Macht, die herkömmliche Verhältnisse auf den Kopf stellt: Vasallität, Generationenverhältnis, Dienstverhältnis, Ehe, Freundschaft und Liebschaften – sie alle unterliegen der Infiltration des Geldes und finden dort als Wert ihre Grenze; alles ist in Geld konvertierbar. Als Wissensform aber stellen die Erfahrungen zum andern der ethischen Norm – wie beispielsweise der Dankbarkeit gegenüber den Eltern – einen induktiven Befund gegenüber. Indem der Erzähler den Rezipienten auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont
|| 99 Ebd., S. 473.6f. 100 Ebd., S. 426. 101 Vgl. Anna Mühlherr: ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘. Verrätselter und verweigerter Sinn. Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea. 10), S. 115; Müller (Anm. 25), S. 221f.; Burkhard Hasebrink: Die Magie der Präsenz. Das Spiel mit kulturellen Deutungsmustern im ‚Fortunatus‘. In: PBB 126 (2004), S. 434–445. 102 Fortunatus (Anm. 62), S. 409.16–19. 103 Ebd., S. 437.17–21. 104 Ebd., S. 438.5ff. 105 Ebd., S. 436.21f. 106 Ebd., S. 513.25ff. 107 Ebd., S. 409.17f. 108 Ebd., S. 436.21.
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verweist, bindet er das fiktive Geschehen an den Status von historia, an Eigenerfahrung an. Nicht als Fabel kommt hier die moralische Wahrheit daher, sondern als Erfahrungsbefund. Die Pragmatik solch exemplarischer Verweise rekurriert auf Erfahrung, zielt auf Rat und setzt auf den Wiedererkennungseffekt, auf Geschichte als Wiederholung.109 Dem Verweis auf die Eigenerfahrung korrespondiert, dass der Erzähler das Erzählgeschehen immer wieder mit Hilfe von Sprichwörtern veranschaulicht, die ebenfalls weitgehend auf das Thema Geld fokussiert sind: Wer das Geld verliert, verliert den Verstand;110 wem ward der hett;111 wenn es an das Geld geht, ist die Freundschaft aus;112 wer bringt, wird eingelassen; wer haben will, muss warten.113 Auch solche Sprichworte kondensieren Erfahrungswissen, fassen es in eine prägnante, memorierfähige Formel. Sprichwörter realisieren anders als Normen keine absolute Wahrheit, keine Allgemeingültigkeit, sondern Allgemeinheit, das heißt: situationsspezifische Erfahrungsgehalte. Deshalb kann es Sprichworte mit entgegengesetzten Lehren geben, ohne dass diese ihre – relative – Gültigkeit verlieren.114 Sie basieren auf einem wahr/scheinlichen rhetorischen Syllogismus (Enthymem), nicht auf einem logischen.115 Im Rahmen des Weisheitsdiskurses aber bilden sie ein eigenes Stratum an Orientierungswissen, das sich als nicht offizielles empirisches Wissen formiert. Ihr Wissen über die Mechanismen des Glücks ist nicht weniger treffend als das der gelehrten Traktate, und die aufkommenden Sprichwortsammlungen zeugen von ihrer Popularität.116 Die Ausmünzung des Geschehens auf Sprichworte hin lässt sich als Rat begreifen, durch den der Erzähler den Leser lenkt. Je weniger die Gesamterzählung von Fortunatus und seinen Söhnen noch durch eine übergeordnete Moral orientiert wird, desto mehr nisten sich Rat und Lehre als okkasionelle Erfahrungswahrheiten in die Erzählung ein. Es ist aber primär der Erzähler, der gegenüber seinen Figuren die Handlungen als typische offenlegt. Ein zentrales Moment, durch das sich Fortunatus signifikant von seiner Umgebung unterscheidet, bilden seine Reisen. Erfahrung wird hier generell zum Parameter erhoben. Bis in die Binnenstruktur der Erzählung hinein tritt die Erfahrung an die Stelle von Metaphysik und moralischer Norm. Eine neue induktive Wissensform,
|| 109 Vgl. Stierle (Anm. 73), S. 357f. 110 Fortunatus (Anm. 62), S. 453.24 u. 530.14f. 111 Ebd., S. 422.12. 112 Ebd., S. 417.12ff. 113 Ebd., S. 486.7ff. Vgl. auch: sy wolten den fuchß nit beyssen (S. 498.3); Als man gemainklich spricht. Gleich vnd gleich gesellet sich gern [...] (S. 568.21f.); todter man macht kainen krieg (S. 576.19f.). 114 Alois Hahn: Zur Soziologie der Weisheit. In: Weisheit. Hrsg. von Aleida Assmann. München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 3), S. 47–57, hier S. 49. 115 Barthes (Anm. 44), S. 60–66. 116 Vgl. z. B. Franck (Anm. 12).
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die sich gegen die abstrakte Norm – Weisheit statt Reichtum – Geltung verschafft, beginnt sich zu etablieren. Wiederholt rekurriert Fortunatus auf Erfahrungswissen: Er wägt seine Schicksalsschläge – Flandern, London – gegeneinander ab,117 aus der Waldgrafenepisode zieht er einen Schluss für zukünftiges Verhalten: jm lag an wie ym der waldgraff gethon [...] het,118 und auch seine Bautätigkeit stützt sich auf Erfahrung: Wann er gar vil kostlicher gepew gesehen het.119 Fast im aristotelischen Sinn bildet sich so über Erinnerung die Erfahrung aus.120 Im unmittelbaren Sinn tritt Erfahrung in Fortunatus’ Reisen zutage: Er kommt mit seinem Gefolge überein, wie sy die lnder vnd küngreich durchfaren vnd wolten das rmisch reich tzu dem ersten besehen.121 Die Länder zu erfahren aber nimmt Zeit in Anspruch, so dass sie für eine Wegstrecke von acht Tagen ein Vierteljahr benötigen: da mügend ir wol mercken das es lange weil brauchte / der all sttt durchschen wlt / doch die namhafftigsten vnd wo bistumb warend da korten sy zu / vnd besahen alle ding /das schrib fortunatus alles gar eben an.122
Nach seiner Familiengründung langweilt er sich mit der Zeit und bittet seine Frau um eine ‚Weltreise‘: ich hab das halb tayl der welt gesehen. so will ich das ander tayl auch besehen Vnnd soltte ich mein leben darumb verlieren.123 Gegenüber den symbolischen Raumtopiken des Aventiureromans öffnet sich im Fortunatus ein geometrischer Raum mit realen Orten und Entfernungsangaben.124 Dieser Raum wird weniger Gegenstand der Bewährung als der Erfahrung, er wird ausgeschritten und vermessen, und der Ertrag wird schriftlich fixiert. Und doch besitzen Neugierde und Erfahrung eines Fortunatus ihre epochenspezifische Signatur. In Fortunatus reist zwar nicht mehr das mittelalterliche Subjekt der curiositas, das der concupiscentia oculorum verfällt,125 aber auch noch nicht das Renaissancesubjekt, in dessen gesteigerter
|| 117 Fortunatus (Anm. 62), S. 421.23–26 u. 459.18–21. 118 Ebd., S. 437.8ff. 119 Ebd., S. 465.22. 120 Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Übersetzt und hrsg. von Franz F. Schwarz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1984 (RUB. 7913), 980b, S. 17: „Es entsteht aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung.“ 121 Fortunatus (Anm. 62), S. 441.22f. 122 Ebd., S. 441.27–442.1. 123 Ebd., S. 482.28ff. 124 Vgl. Müller (Anm. 83), S. 254 u. 256; Christian Kiening: ‚Erfahrung‘ und ‚Vermessung‘ der Welt in der frühen Neuzeit. In: Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne. Hrsg. von Jürg Glauser, Christian Kiening. Freiburg i. Br. 2007 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae), S. 221–251, hier S. 221f.; vgl. Krüger (Anm. 38). 125 Zum Verbot der curiositas vgl. Kästner (Anm. 62), S. 93–107.
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Aufmerksamkeit sich die neuen Erfahrungsmöglichkeiten spiegeln.126 Fortunatus’ Erfahrung steht in seiner mechanischen Form der Registrierung eher den humanistischen Apodemiken nahe, die nach der Mitte des 16. Jahrhunderts aufkommen und den Erfahrungsraum und seine Sehenswürdigkeiten topisch verzetteln.127 Mehr noch aber speist sich sein Verfahren aus den Itineraren von Kaufleuten und Pilgern, die eher kartographischen Verzeichnissen ähneln und eine pragmatische Orientierung im Raum geben wollen.128 Nicht die Figur ist Bezugspunkt der Erfahrung, sondern der Leser. Der Fortunatus partizipiert mit seinem geographischen Grundriss der Welt am Diskurs der aufkommenden Reiseliteratur und mit seinen Registrierungsformen – Erfahrung, Vermessung, Verschriftung – an den sich wandelnden Wahrnehmungsformen seiner Zeit. Dass Reisen auch bildet – nämlich einen Reflex auf die Erfahrung des Subjekts selbst zeitigt –, deutet der Text erzählerisch immerhin rudimentär an: Auf die Zweifel des zyprischen Adels an der Solidität von Fortunatus’ Bonität äußert der König sich folgendermaßen: so hr ich souil von jm sagen wie er souil land vnd künigreich durchfaren hat. halt yn darfür / wißte er nit sein Sachen tzu ainem gtten end zubringen Er hette nit so ainen kostlichen palast gebawen [...].129
Der Weitgereiste als Prototyp der Erfahrung, der auch seinen Ort im Rat der Herrschenden besitzt, ist eine Figur, auf die sich Sebastian Münster in seiner Cosmographia (1544) berufen wird.130 Erfahrung impliziert schließlich eine anthropologische Dimension. Thüring von Ringoltingen hatte ein Exempel in seine Melusinenbearbeitung inseriert, mit dem er den Umschlag des Glücks als providenziellen und vorhersehbaren Akt ausweisen wollte: Der Kirchenvater Augustinus flieht in dem Augenblick aus einem Wirtshaus, als der Wirt sich und sein Haus glücklich preist.131 Allein das schon gilt ihm als Zeichen der Verdammnis, die auch kurz darauf das glückliche Haus trifft. Im Fortunatus dagegen setzt die negative Macht der Fortuna nicht erst mit dem Schicksal der Söhne ein. Sie ist den vielen kleinen Episoden mit ihren kontingenten Umschlägen eingeschrieben, ohne indes finale Auswirkungen zu zeitigen. Jede einzelne
|| 126 Auch liegen zur Entstehungszeit des Fortunatus, also vor 1509, offenbar noch kaum gedruckte Nachrichten aus der Neuen Welt vor, wie sie dann seit den 30er Jahren in volkssprachigen Sammeldrucken auf den Markt drängen. 127 Vgl. Justin Stagl: Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt a. M. 1989 (Suhrkamp Taschenbuch 2097. Materialien), S. 140–177. 128 Vgl. Marjatta Wis: Zum deutschen ‚Fortunatus‘. Die mittelalterlichen Pilger als Erweiterer des Weltbildes. In: Neuphilologische Mitteilungen 63 (1962), S. 5–55. 129 Fortunatus (Anm. 62), S. 467.18–21. 130 Münster (Anm. 20), Vorrede, Bl. ):( iijv (vgl. in der Ausgabe 1544: Bl. a iijr). 131 Thüring (Anm. 56), S. 95.17–22.
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Krise motiviert erneut die Sinnfrage und hält sie weiter in der Schwebe. Sinn wird zum Problem, vor allem im Angesicht der Gefahr. Erst am Ende seines Lebens kommt es für Fortunatus zu einem finalen Umschlag. Dabei wird, anders als in der Melusine, nicht auf die mittelalterliche Fortuna, auch nicht auf die Fortuna velox, sondern auf eine avancierte frühneuzeitliche Vorstellung zurückgegriffen: In Fortunatus’ Leben tritt der Umschlag ins Unglück nicht an der Stelle höchsten sozialen Glücks ein, sondern eher natürlich am Ende des Lebens.132 Der Umschlag wird langsam vorbereitet: Erst Lüpoldus, dann Cassandra und schließlich Fortunatus selbst erkranken unvermittelt, und die Krankheiten lassen sich trotz allen finanziellen Aufwands nicht kurieren. An die Stelle der Moral tritt hier mit dem Tod die elementarste Erfahrung von Kontingenz, an der die Macht des Geldes ihre letzte Grenze findet.133 Fortunatus klagt hier auch nicht Gott oder das Glück an, seine Apostrophen wenden sich vielmehr ganz existentiell an sich selbst und an den Tod: Oh fortunate [...]. Oh du grymer tod [...].134 Fortunatus reflektiert auf den Stellenwert von Zeit: vnnd lag allso zu betrachten die gewißhait des tods / vnd die vngewißhayt sines kommens.135 Das ist wohl noch keine intensive Reflexion über die Endlichkeit des Menschen, wie sie etwa bereits im Ackermann aus Böhmen vorliegt, schon gar kein modernes Bewusstsein von Zeitlichkeit, eher die Einspielung der christlichen Memento mori-Tradition:136 Der Wert alles Irdischen relativiert sich im Angesicht des Todes. Und doch wird das Leben des Protagonisten bis an das Ende verfolgt, stellt sich an diesem Ende stärker denn je die Sinnfrage. Der Tod ist hier keine abstrakte Größe, über die wie in den Memento mori-Traktaten reflektiert wird, er wird gerade in seiner Wiederholung – Lüpoldus, Cassandra, Fortunatus – als eine konkrete Erfahrung inszeniert. Fortuna wirkt hier weniger als Providenz denn als natürliche Kontingenz – Krankheit – in das Leben ein und setzt Erfahrung von Zeitlichkeit frei, die in säkularisierter Form dann zu den Konstitutionsbedingungen des modernen Romans werden wird.137 Kontingenzerfahrung ist hier am Ende des Lebens kein Effekt des Geldes mehr, sie erhält eine anthropologische Grundierung.
|| 132 Vgl. Kästner (Anm. 62), S. 107–114. 133 Schon Petrarca hatte sein Buch von der Artzney bayder Glück (Erstdruck der deutschen Übersetzung 1532) mit einem Kapitel über die Endlichkeit des Menschen eingeleitet. 134 Fortunatus (Anm. 62), S. 504.27f. u. 504.33. 135 Ebd., S. 505. 136 Vgl. Kartschoke (Anm. 69). 137 Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 2000 [zuerst 1920] und Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 438–465.
200 | Providenz – Kontingenz – Erfahrung
6 Weltbild – Struktur – Strategie Der Fortunatus löst hermeneutisch die Verbindung von kulturellem Sinnhorizont und Erzählzusammenhang, von Mythos und mythischem Analogon von beiden Seiten her auf. Weder dem Weltbild noch der Erzählform liegt eine homogene Absicht, ein gerichteter Sinn zugrunde. Christliche Providenz wird symbolisch durch Fortuna, real aber durch das Geld ersetzt, so dass Gemeinschaftssinn zwischen traditionellen Wertordnungen und Tauschwert changiert. Wie die soziale Ordnung nicht mehr fest metaphysisch oder moralisch fundiert ist, so gehen auch der Erzählzusammenhang insgesamt und die einzelnen Binnenerzählungen nicht mehr im Exemplarischen auf. Zwar beschwören die Figuren in Notlagen immer wieder hilflos die traditionellen Instanzen (Gott) und Werte (Weisheit), der Erzähler selbst aber lässt durch Kommentare und Sprichworte ihren Geltungsverlust aufscheinen. Der Text erhält seinen Sinn nicht mehr über eine ihn steuernde Idee. Gerade das macht den Realismus des Fortunatus aus und rückt ihn in die Nähe moderner Texte. Nur dort, wo sich der Einzelne der Vergesellschaftung entzieht, im Eremitentum, ist noch Raum für christliche Predigt, schon nicht einmal mehr im Kloster. Der Gemeinschaftssinn erodiert selbst innerhalb der Sozialstruktur mit ihren Interaktionsregeln. Die einzelnen Figuren mit ihren Lebensläufen werden in den Horizont von Ständen, Berufsgruppen und Familien gestellt: Schnittstellen und Reibungsflächen zwischen Bürgertum und Adel, Ausdifferenzierung und Konkurrenz von Berufsgruppen, Erosion traditioneller Familienstrukturen. Unterhalb der alten Sinnstrukturen mit ihrem transzendenten oder natürlichen Fundament – Herrschaft, Gemeinschaft (Kloster), Freundschaft, Familie – wird die harte Funktionalität sozialer Systeme sichtbar: Politik, Recht, vor allem aber Ökonomie, die zum neuen Leitsystem geworden zu sein scheint und die Menschen zu ihren Funktionselementen macht. Während die noch geltende ständische Differenzierung die Menschen unterscheidet, befördert der Faktor Geld ihre Gleichheit und Interaktion. Dadurch kollidieren aber alte und neue Ökonomie, altes und neues, ökonomisch funktionalisiertes Recht, alte Stände und neue Berufsgruppen. Die Figuren handeln hier nicht als eigenständige Subjekte, sondern als Funktionselemente, sie können aber schon in verschiedenen symbolischen Ordnungen agieren wie Fortunatus, der erfolgreich das feudale wie das bürgerliche Register beherrscht, oder wie Andolosia, der mehrfach seine Rollen wechselt. Das neue Kommunikationsmedium ermöglicht märchenhafte Aufstiege, aber auch dramatische Abstürze. Geld als Katalysator sozialer Interaktion etabliert eine Fortuna-Struktur, die sich auch in der Erzählstruktur abbildet: ein kontingentes Auf und Ab innerhalb einer Biographie und Genealogie, die serielle Anordnung von riskanten und fragmentarischen Lebensläufen, die Biographie als Spielball sozialer Konkurrenz und ihrer Strategien. Erzählt wird aber nicht, um, wie beispielsweise bei Sebastian Franck, die Sinnlosigkeit des Weltlaufs zu demonstrieren oder sich – wie der Eremit oder Ampedo –
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in die Isolation zurückzuziehen. Der Schwund stabiler Sinnhorizonte und die Auflösung traditionaler Sozialstrukturen wird durch pragmatische Strategien aufgefangen. Das illustriert nicht nur Fortunatus durch sein Handeln, das macht vor allem der Erzähler deutlich, der die Ereignisse immer wieder auf Erfahrungsbefunde rückbezieht und soziale Risikofelder absteckt: erpresserische Adelige, verschwenderische Bürger, gierige Juristen, Gauner, selbst unzuverlässige Kinder und dubiose Freunde. Der Text führt auf verschiedenen Ebenen Strategien der Orientierung in einer von Kontingenz bedrohten Welt vor: naive (Ampedo), verschlagene (Ruppert, Andrean), raffinierte (Andolosia) und kluge (Fortunatus). Erfolgreich sein können die Figuren nur noch über Strategie, so dass Verstellung im negativen wie im positiven Sinn zum elementaren Instrument sozialer Interaktion wird: um zu betrügen, um Erfolg zu haben und um zu überleben.138 Die Mittel der Orientierung zielen aber nicht mehr auf die Anwendung abstrakter Maximen, sondern auf situationsgerechtes Verhalten. Gerade weil der Text sich nicht ernsthaft als Lehre anbietet, bezieht er eine andere Position als der offizielle Weisheitsdiskurs, in dem Weisheit gegen alle anderen Werte profiliert wird: etwa gegen Reichtum und Neugierde. Fortunatus richtet sich nicht an den Lehren der Theologie oder der Philosophie aus, sondern an der Erfahrung: traditionell am Rat, aber auch schon an der Erinnerung. Fortunatus erfährt das Gefühl, kein Geld zu haben, so intensiv, dass er sich mit Hilfe des Glückssäckels eine gesicherte, risikoarme, aber zeitgemäße Existenz aufbaut. Die daraus resultierende Langeweile kompensiert er durch eine aktuelle Form der Erfahrungsbildung: durch Reisen. Durch Erfahrung wird Fortunatus weise in einem pragmatischen Sinn. Er agiert sowohl im Horizont traditioneller symbolischer Ordnungen wie Moralphilosophie (Ethik, Ökonomik, Politik) und Ständeordnung (Turnier, Dienst, Repräsentation, Rat, Gabe und anderes) als auch neuer Ordnungen (Welterfahrung und Ökonomie). Der Weise, so lautet eine Standardlehre der Moralphilosophie, hört nicht nur auf den Rat seiner Vertrauten, er ist nicht nur bedächtig im Reden, sondern bedenkt auch sorgfältig zukünftige Handlungen: Du weyser solt auch vorbetrachten künfftige ynfelle die dir begegnen [...]. Wann sollich fürsichtigkeit ist ein mtter der rychtumb [...]. Darumb wer nit künfftige sachenn betrachtet / der
|| 138 Als Fortunatus dem Waldgrafen entkommen ist, geht er für zwei Tage betteln, um keinen Verdacht mehr mit seinem Geld zu erwecken (Fortunatus [Anm. 62], S. 436.24–27); als Lüpoldus den Wirt in Konstantinopel getötet hat, reflektiert Fortunatus alternative Handlungsmöglichkeiten (ebd., S. 460.1–18), und es ist die Kaltblütigkeit des Lüpoldus, die ihn rettet. Kalkulation und Verstellung sind zu notwendigen Handlungsformen geworden, wo Geld das zentrale Ziel des Handelns wird und jeder auf seine finanziellen Ressourcen abgeschätzt wird. Ständig werden Geschichten fingiert, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Kontingenz wird also auch narrativ im Durchspielen alternativer Handlungsmöglichkeiten rational bewältigt.
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ist vnsicher vnd mag nit wol vermyden kümmernüß. Wann es ist ein selige weyßheit / die do ist ein sorgsam fürsichterin der zkünfftigen zuflle.139
Erst in der Kombination traditioneller Weisheitslehren und neuer Erfahrungen stellt sich eine stabile Situation ein. So erweist sich Weisheit nicht als natürliche Qualität der Person, sondern als Resultat eines Erfahrungsprozesses, womit sich der Text einer Konfiguration von Weisheit nähert, die Carolus Bovillus 1510 in seinem Liber de sapiente entwirft.140 Die Kategorie der Weisheit verschmilzt mit der der Erfahrung und nimmt eine zeitliche Dimension in sich auf. So lehrt die Erzählung von Fortunatus auch, dass man unter realen Bedingungen Weisheit nicht wählen, sondern nur in einem langen Prozess erwerben kann.
|| 139 Vier Angel tugent (Anm. 35), Bl. A viiijrf. 140 Vgl. Cassirer (Anm. 6), S. 105: „Denn Freiheit bedeutet für ihn [= Bovillus] nichts anderes, als daß der Mensch sein Sein nicht, gleich dem der übrigen Wesen, fertig von der Natur erhält und es gleichsam von ihr dauernd zu Lehen trägt, sondern daß er es sich erwerben, daß er es durch virtus und ars gestalten muß.“
Teil II: Wissen der Rhetorik
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer Die Diskussion um die mittelalterlichen Mären kreist vornehmlich um Fragen der Überlieferung, der Gattungsbestimmung, der narrativen Muster, schließlich um solche des sozialhistorischen Gehalts. Zwar werden Mären gegenüber der idealen Welt des Romans nicht mehr als realistischer Ausdruck volkstümlicher Kultur gelesen. Dem höfischen Roman als positivem Entwurf feudaladeligen Lebens stehen sie dennoch als eher verdächtige Gattung gegenüber. Gerade solche Texte, die sich in Thema und Motivik konventionellen Erwartungen widersetzen, deren Didaxe über die Thematisierung von Obszönität erfolgt (priapeiisches Märe), verblieben lange am Rande der Forschung. 1 Demgegenüber erfreuten sich die Mären eines Stricker gerade ob ihrer didaktischen Einsinnigkeit des ausgesuchten Interesses. Ein höfischer Autor handhabt das Genre meisterhaft zur Verteidigung höfischer Wertmaßstäbe. Seit den grundlegenden Arbeiten Hanns Fischers hat die Diskussion um den Gattungscharakter des Märe lange die Forschung bestimmt. Auf die erste Phase der Materialerschließung folgte eine Reflexion über die Gattungskonstituenten, deren Ergebnis war, daß weder quantitative noch klassifikatorische Kriterien (Fischer) für eine Abgrenzung von benachbarten Gattungen ausreichten. 2 Ebensowenig aber führte der Weg über die Überlieferungsgeschichte (Heinzle) zu einem hinreichenden Instrumentarium für die Analyse von Erzählfunktionen. Setzt man dagegen am Erzählmodell und an dessen unterschiedlichen Besetzungen an (Neuschäfer, Müller, Ziegeler), lassen sich Textvarianten auf andere Art funktionalisieren. Ein und Für ausführliche Diskussionen danke ich Herrn Prof. Dr. Jan-Dirk Müller, Frau Dr. Ute von Bloh und Herrn Martin Schierbaum. 1 Ausnahmen: Heribert Hoven: Studien zur Erotik in der Märendichtung. Göppingen 1978; Rüdiger Schnell: Der Spiegel. Überlegungen zur Herkunft eines spätmittelalterlichen Schwankmäres. In: Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters. Hrsg. von Karl-Heinz Schirmer. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung. 558), S. 256–280; Jan-Dirk Müller: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‚Halber Birne‘. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 3 (1984/85), S. 281–311; Peter Strohschneider: Der trney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium. Hrsg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett, William Harry Jackson. Tübingen 1987, S. 149–173. 2 Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 21983. Vgl. Joachim Heinzle: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. In: ZfdA 107 (1978), S. 121–138; Joachim Heinzle: Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Wolfram-Studien 5 (1979), S. 41–62; Joachim Heinzle: Altes und Neues zum Märenbegriff. In: ZfdA 117 (1988), S. 277–296. https://doi.org/10.1515/9783110772340-009
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer dasselbe Erzählmodell kann sich dann, je nach Besetzung, von seiner einfachsten Form (Exempel) durch Anlagerungen variierender Situationstypen und Handlungskonstellationen oder durch Verarbeitung impliziter sozialer Normen zu komplexeren Formen (Kasus, Novelle) entwickeln. 3 Dem entspricht eine Verschiebung seiner Funktion von der Stabilisierung sozialer Normen hin zu deren Reflexion, gar Kritik. Die Diskussion über den Gattungscharakter des Märe und seine Kriterien hat gewiß eine zunehmende Differenzierung der methodischen Prämissen gezeitigt, für die konkrete Analyse einzelner Texte hingegen blieb sie eher randläufig. Verlagert sich das Interesse von der Gattungsfrage auf die literarische Technik und hier auf die narrative Praxis, kann die Analyse von Mären, heuristisch verstanden als eine Art Übergangsform zwischen Exempel und Novelle, auf andere Art an Komplexität gewinnen. 4 Im Blick auf die Organisation des Erzählens und auf den Einsatz narrativer Mittel läßt sich eine Aussageebene fokussieren, die jenseits der Handlungsebene Verfahren literarischer Selbstreflexion offenlegt. Howard Bloch hat die Fruchtbarkeit einer ‚rhetorischen Lektüre‘ mittelalterlicher Texte aufgezeigt. In einer an dekonstruktive Interpretationsverfahren angelehnten Untersuchung zu den altfranzösischen Fabliaux arbeitet er verschiedene Ebenen der Literarisierung heraus, die auf ein hohes Maß an Formbewußtsein schließen lassen. 5 Gegen die These vom mangelnden artifiziellen Charakter der Fabliaux (poetic naturalism) insistiert Bloch auf ihrem poetisch-reflexiven Potential. Er konzentriert sich in seiner Analyse auf Sprachbewegungen der Textoberfläche und bezieht Erzählmomente verschiedenster Art (subversive Sprachspiele, Kommunikationsstörungen, das Verhältnis von Kleidung und Körper, die Zirkulation von Körpern und Körperteilen etc.) auf das Spiel mit Repräsentationsformen der Sprache
3 Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. 8); Karlheinz Stierle: Exemplum als Geschichte – Geschichte als Exemplum. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347–375; Jan-Dirk Müller: Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionen von den ‚Drei listigen Frauen‘. In: Philologische Untersuchungen. Festschrift Elfriede Stutz. Hrsg. von Alfred Ebenbauer. Wien 1984 (Philologica Germanica. 7), S. 289–311; Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 87); Hans-Joachim Ziegeler: Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ‚The Tale of the Cradle‘. In: Kleine Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium. Hrsg. von Klaus Grubmüller, L. Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff. Paderborn [u. a.] 1988 (Schriften der Universität-Gesamthochschule Paderborn; Sprachund Literaturwissenschaft. 10), S. 9–31. 4 Zum Versuch, eine Erzähltypologie jenseits von Gattungen zu fassen, vgl. Walter Haug: Entwurf zu einer Theorie mittelalterlicher Kurzerzählungen. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von dems., Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea. 8), S. 1–36. 5 R. Howard Bloch: The Scandal of the Fabliaux. Chicago/London 1986.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
(Zeichen-Referent), insbesondere des literarischen Sprechens. 6 Eine derartige ‚rhetorische‘ Lektüre entfernt sich gewiß von den praktizierten Verfahren mediävistischer Forschung. Sie operiert auf der Basis eigener theoretischer Prämissen nicht nur in bezug auf literarisches Sprechen, sondern vor allem in Hinsicht auf den zugrundeliegenden Sprachbegriff. 7 Auch wenn das von Bloch praktizierte Verfahren bisweilen nicht der Versuchung einer allzu ‚metaphorischen‘ Lesart entgeht, so hat es doch die gesteigerte Sensibilität für die formalen, im engeren Sinn literarischen Aspekte, die nicht selten durch die Maschen der literar- bzw. sozialhistorischen Interpretation fallen, allemal wieder stärker ins Spiel gebracht. Heinrich Kaufringer gehört erst seit jüngster Zeit nicht mehr zu den vernachlässigten Autoren des Märengenres. 8 Nicht zuletzt, weil sich einige seiner Texte einsinnigen Didaktisierungen entziehen und herkömmliche Rezeptionsmuster und Rezeptionserwartungen irritiert werden. 9 Weder läßt sich an diesen Mären eine 6 Bloch versucht etwa zu zeigen, wie in den Fabliaux die Verkleidungsthematik und das Thema des Körpers in seiner Materialität – der zerstückelte Körper, der zirkulierende tote Körper – Repräsentationsbrüche der Sprache selbst (Zeichen-Referent) abbilden. Die Handhabung der Verkleidungsund Körperthematik ist gekoppelt an Phänomene wie Abbiegung, Kontextverschiebung, fehlende Fixierung. 7 Die Auffassung von der Arbitrarität des Zeichens (Saussure) und seiner metaphorischen und metonymischen Struktur (Jakobson) bildet die Basis für die Kritik des Repräsentationsgedankens. Dort, wo das Zeichen nicht mehr eine Realität repräsentiert, sondern sich durch Differenz zu anderen Zeichen bestimmt, treten Kontextbeziehungen (Metonymie) und Kontextwechsel/Similaritätsbeziehungen (Metapher) in den Vordergrund. Repräsentation jeder Art (sprachlich, literarisch, politisch) wird dagegen in eins gesetzt mit Identität und Totalität. Sprachlich-literarisch wird Repräsentation gar als illegitime Begrenzung des Sprechens aufgefaßt: All das sind fundamentale Prämissen einer ‚rhetorischen‘ Lektüre, für die die Konzentration auf Differenz dagegen zum unerläßlichen Instrument der Analyse wird. 8 Heinrich Kaufringer: Werke. Hrsg. von Paul Sappler. 2 Bde. Tübingen 1972/74; Paul Sappler: Heinrich Kaufringer. In: ²VL 4 (1983), Sp. 1076–1085; Fischer (Anm. 2), S. 148–152; Kurt Ruh: Kaufringers Geschichte von der unschuldigen Mörderin. In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift John Asher. Hrsg. von Kathryn Smits, Werner Besch, Victor Lange. Berlin 1981, S. 164–177; Ingmar ten Venne: Heinrich Kaufringer, ein bürgerlicher Spruchdichter des ausgehenden 14. Jahrhunderts – Forschungsstand und Forschungsprobleme. In: Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1982, S. 86–104; Hedda Ragotzky: Das Märe in der Stadt. Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringers. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin/New York 1985, S. 110–122; Rüdiger Krohn: Die Entdeckung der Moral oder: Ehebruch und Weisheit. Das Märe von der ‚Suche nach dem glücklichen Ehepaar‘ und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/87), S. 257–272; Klaus Grubmüller: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Haug, Wachinger (Anm. 4), S. 37–54; Marga Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer. Trier 1993 (Literatur, Imagination, Realität. 5). 9 Stede (Anm. 8), S. 217. Z. B. die Mären Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar; Die Rache des Ehemannes; Bürgermeister und Königssohn; Der zurückgegebene Minnelohn; Der feige Ehemann.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer kohärente Lehre ablesen, noch sind sie wie diejenigen des Stricker einer homogenen, gesellschaftliche Ordnung stabilisierenden Perspektive zuzuordnen. 10 Am ehesten eignet ihnen noch ein kasuistisches Darstellungsprinzip, wie es Jan-Dirk Müller vor dem Hintergrund der Drei listigen Frauen beschrieben hat. 11 Dabei variiert Kaufringer vorgegebene Typen (Fischer), operiert sichtbar mit komplexeren Erzählmustern als seine Vorlagen (Müller, Ziegeler, Stede), bemüht sich durch Rückgriff auf „implizite soziale Normen“ um situationsspezifische Motivierungen (Müller) und entwirft Lösungsstrategien jenseits stereotyper Didaxe (Ragotzky). „NichtIntegration“ scheint geradezu „künstlerisches Prinzip“ zu sein; Didaxe und Erzählverlauf, Konfliktlösung und Erzählung fallen vielfach auseinander. Die „Pluralisierung plausibler Handlungs- und Deutungszusammenhänge“ führt Kaufringers Mären an jene „offene Struktur“, die Kennzeichen des Novellentypus ist. 12 Soziale Handlungsmuster bilden in einigen Mären Kaufringers aber nur zum Teil eine hinreichende Integrationsebene. Kaum auch wird Kohärenz nur durch konventionalisierte Erzählschemata, die entsprechende didaktische Handlungskonstellationen und Typisierungen vorgeben, garantiert. Gewiß handhabt Kaufringer auch das Repertoire des schwankhaften und didaktischen Erzählens. Daneben entwirft er indes einen Freiraum, in dem Normen diskutiert und neue Alternativen durchgespielt werden. Darüberhinaus reflektiert er die Darstellungsmodalitäten seines Erzählens, wenn er Gattungsschemata kombiniert und anreichert, Konfliktlösungsmodelle einander gegenüberstellt und sie mit sozialen Verhaltensschemata konfrontiert. Das Erzählen entfernt sich von einer funktionalen Lehre und referiert zunehmend auf sich selbst. Selbstreferentialität kennzeichnet aber nicht nur die Möglichkeiten des Erzählens, sie ist zugleich zentrales Kriterium von Spiel. Sie bietet damit dem Erzählen wie dem Spiel eigenständige Optionen und Freiräume der Gestaltung. Im folgenden wird der Versuch unternommen, eine Interpretationsebene für zwei reichlich ‚unwahrscheinliche‘ Geschichten aufzuzeigen, die sich statt auf den Handlungsverlauf auf das Paradigma des ‚Spiels‘ bezieht. Das Märe als Sprachspiel scheint zwar vorab von Wahrscheinlichkeitsansprüchen entlastet zu sein, doch zeugt Kaufringers Streben, lineare Motivierungslücken aufzufüllen, von dem Bemühen um Zusammenhang. 13 Kohärenzdefizite der Handlungsebene vermag das 10 Zur Vervielfältigung von Perspektiven vgl. Müller (Anm. 1), S. 305f. Klaus Grubmüller: Tiere, Bauern, Pfaffen: Typisierung und kritische Distanz in der Kleinepik. In: Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200–1500. Hrsg. von James F. Poag, Thomas C. Fox. Tübingen 1989, S. 35–51; Grubmüller (Anm. 8), S. 37–54. 11 Müller (Anm. 3), S. 290–311. 12 Ebd., S. 310, 305. Die Kombination und Variation von ähnlichen Handlungsmustern ist bis in die Anlage der Handschrift (Cgm 270) verfolgt worden, die eine geordnete Folge von einander thematisch entsprechenden Mären enthält. Krohn (Anm. 8), S. 257–272. 13 Müller (Anm. 3), S. 298.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
Märe aber nicht nur durch implizite soziale Muster zu überspielen, sondern auch mit Hilfe der poetischen Technik (z. B. Metaphorik). 14 In diesem Fall stellt sich Kohärenz, die auf der syntagmatischen Ebene suspendiert wird, erst über paradigmatische Beziehungen her. In Kaufringers Mären – so meine These – wird eine Spannung erzeugt zwischen Verfahren der Literarisierung einerseits und der sozialen Referenz andererseits. Daß sich im Märengenre schon innerhalb eines Textes die Narration an verschiedenen Registern orientieren kann, zeigt Rosenplüts Knecht im Garten. Zu Beginn wirbt ein Knecht wortreich um die Frau seines Herren. Die Pointe der folgenden Handlung besteht darin, daß der hintergangene Mann durch die List der Frau noch von der Unschuld der ‚Ehebrecher‘ überzeugt wird. Blamires hat auf die sexuelle Metaphorik verwiesen, die das rhetorisch stilisierte Streitgespräch zwischen der Frau und dem werbenden Knecht lenkt. 15 Vom Umfang her nimmt es immerhin ein Drittel des Textes ein und folgt einem anderen Organisationsprinzip als der Rest der Erzählung. Das Gespräch operiert mit doppeldeutigen Bildfeldern des Kampfes und der Belagerung und entfaltet ein hyperbolisches Metaphernspiel. Noch das Nachgeben der Frau – ich ger der stangen –, das dem modernen Leser als ein plötzlicher Umschlag des metaphernreichen Dialogs in direkte sexuelle Gier erscheint, erweist sich als turniertechnische Unterwerfungsformel und damit als kalkulierter Bestandteil der Kampfmetaphorik. 16 Die Formel, die ursprünglich auf das Absperren des Kampfplatzes auf Wunsch des Unterlegenen zielt, erfährt allein vor dem Hintergrund der Werbungssituation ihre drastische Konnotation. Zumindest als ein Verfahren der Kohärenzbildung läßt sich die Metaphorisierung des Sprechens aufzeigen. Das gegeneinander Ausspielen homonymer Begriffe oder Formeln erweist sich dabei als einfache Form des metaphorischen Sprachspiels. Metaphorisieren lassen sich aber nicht nur Bestandteile der Rede, sondern auch auf übergeordneter Ebene Requisiten und ganze Handlungskonstellationen. Die Metaphorik erweist sich dabei als Mittel, den Aussagerahmen der Handlung zu überschreiten, indem das Konnotationsfeld der Metaphern weitere Bezugsfelder für die Interpretation stiftet. Damit wird sie jenseits ihrer illustrativen rhetorischen oder auch psychologischen Funktion als literarisches Gestaltungsmittel wirksam.
14 Hoven (Anm. 1), S. 186 schreibt, daß Kaufringer das „breite Spektrum erotischer Darstellungsweisen“ inszeniert, „wobei ihm die ästhetische Wirkung, kaum jedoch die Moral zum Maßstab wird“. 15 David Blamires: Sexual comedy in the Mären of Hans Rosenplüt. In: Trivium 2 (1976), S. 90–113, hier S. 95f. 16 Hans Rosenplüt: Der Knecht im Garten. In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1966 (Münchener Texte und Untersuchungen zur mittelalterlichen Literatur. 12), S. 178–187, V. 73: hör auf, ich ger der stangen [...]. Vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Wörterbuch II. Leipzig 1876, Sp. 1137. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 17. Berlin/Leipzig 1960, Sp. 802f. (zum turniertechnischen terminus technicus).
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
Kohärenz durch Metaphorik Unter den verschiedenen, mitunter recht drastischen Mären des Kaufringer nimmt Die Rache des Ehemannes gewiß einen Sonderstatus ein. 17 Ein tüchtiger Ritter wird von seiner Frau mit einem Pfarrer betrogen. Dieser verlangt unvermittelt von seiner Geliebten als Liebespfand zwei Zähne ihres Ehemannes. Nachdem die Frau durch eine List ihren Mann dazu gebracht hat, sich die beiden Zähne ziehen zu lassen, läßt der Pfarrer diese zu zwei kostbaren Würfeln verarbeiten. Im betrunkenen Zustand verrät sich der Pfarrer während eines Würfelspiels mit seinem ritterlichen Freund und verursacht eine fürchterliche Rachehandlung. Der Ritter lauert dem ehebrecherischen Paar eines Nachts auf und kastriert seinen schlafenden Nebenbuhler. Die abgetrennten Geschlechtsteile läßt er nun seinerseits zu einem nicht weniger kostbaren Beutel verarbeiten. Nachdem er diesen später dem leidenden Pfaffen überreicht hat, zwingt er ihn unter Todesdrohungen zugleich, die Rache an der Ehefrau zu vollziehen. Der Pfaffe muß der Frau während eines Kusses die Zunge abbeißen. Nach einiger Zeit lädt der Ritter, in der Absicht sich von seiner Frau zu trennen, seine Verwandten ein, um ihnen einen sonderlichen – seinen eigenen – Fall vorzutragen. Nachdem die Verwandten das Urteil sprechen, verstößt der Ritter letztlich die nur noch stammelnde Frau.
Die Geschichte ist gewalttätig, grotesk und von kaum nachvollziehbarer Erzähllogik. In ihrer Grundstruktur vertritt sie einen verbreiteten Typus mittelalterlicher Schwankerzählung: die Revanchehandlung nach ertapptem Ehebruch. Verschiedene Deutungsversuche hat sie erfahren. Unter erzähltechnischen Aspekten erweist sich das Märe als narrative Expansion eines schlichteren Schwankschemas, wie es im Zahn vorliegt. 18 Von der Handlung her entspricht dieser Schwank nur dem ersten Teil des Kaufringerschen Märe und dient der „Demonstration der Verkehrung des Ordo“. Während im Zahn die Figuren typisiert und überzeichnet (übeles wîp, tumber man) werden, überdies der Zahnraub als eine Probe auf die Grausamkeit der Frau inszeniert wird – der Liebhaber verstößt die Frau nach der Tat –, sieht Marga Stede im Kaufringer-Märe die komische Dimension durch einen moralisierenden Diskurs überlagert. 19 Indem die Personenbeziehungen stärker akzentuiert und in ihrer moralischen Problematik durchsichtig gemacht werden, werden soziale Bezugsfelder eigens thematisiert. Kaufringer hebe zudem die typischen Oppositionen des Schwanks auf und füge als Replik eine korrespondierende Strafe hinzu, indem „gleichsam die Körperteile versehrt werden, mittels derer die Zerstörung der Ehe des Ritters vorangetrieben wor-
17 Heinrich Kaufringer (Anm. 8), S. 140–153. Stede (Anm. 8), S. 105. 18 Stede (Anm. 8), S. 100–108. Unter ‚Schwank‘ fasse ich heuristisch die einfache exemplarische Form gegenüber der komplexeren des Märe. 19 Stede (Anm. 8), S. 104f. Vor allem in der positiven Zeichnung des Ehemanns: triuwe-Handlung, Leiddarstellung, Freundschaft.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
den ist“. 20 Überdies liege dem Märe ein stärkerer moralischer Ordnungsappell zugrunde als dem Schwank. 21 Stede sieht geradezu eine Dichotomie zwischen resignativer Diagnose über die Realität und moralischem Anspruch Kaufringers. Im Vergleich der Erzählmodelle und Figurenentwürfe und auch in der Hinterfragung der sozialen Normen arbeitet Stede die Distanz des Märe zum Schwankschema und die komplexere soziale Referenz heraus. Beim Versuch, dem Handlungsverlauf eine Diagnose über die soziale Realität zu entnehmen, fallen indes signifikante Merkmale des Textes aus dem Blick. 22 Zwar liegt die grausame Rache des Ehemannes in der „Logik des fiktionalen Entwurfs“ begründet, nicht aber die Art ihrer Inszenierung. Der Aussagegehalt des Märe überschreitet gerade hierin die ordnungspolitische Funktion, auf die sich der Schwank beschränkt hatte. Das betrifft vor allem die Requisiten. Naheliegend erscheint hier eine psychoanalytische Interpretation. Aglaja Hildenbrock sieht im Anschluß an Freuds Theorie der latenten Traumsymbolik in den gezogenen Zähnen Symbole der Kastration: „Nicht für den Ehebruch also, sondern für die Kastration straft der Ritter seine Frau und den Pfarrer.“ 23 In einer Art Motivdoppelung folge der symbolischen Entmannung des Ritters die konkrete des Pfarrers. Auch die Würfel bildeten bekannte Symbole für Sexualität. Aus dem Rahmen falle allerdings die Zunge, die als Symbol für die Sprache, das Verstummen als symbolischer Tod gelesen wird. Die Interpretation des Metaphernfeldes referiert letztlich auf konstante Theoreme der Psychoanalyse, indem psychische Grundkonstellationen in immer erneuertem Bildpotential an die Oberfläche dringen. 24 Die Deutung der Metaphorik bleibt damit begrenzt. An ihr
20 Ebd., S. 106. 21 Negiert würden zwar im fiktionalen Entwurf des Märe die Normen der Institution Kirche – die Ehe ist und bleibt gestört –, doch halte Kaufringer an der ordnungspolitischen Funktion der Ehe fest; vgl. Stede (Anm. 8), S. 108. Die Verkehrung der Ordnung läßt sich aber noch nicht als Negierung zeitgenössischer Normen auffassen. 22 Vor dem Hintergrund sozialer Referenz, etwa eines problematischen adeligen Selbstverständnisses, streift Rüdiger Krohn das Märe nur am Rande: Rüdiger Krohn: Zeugnisse des Niedergangs. Zum Wandel des Ritterbildes in der deutschen Märendichtung. In: Uf der mâze pfat. Festschrift Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rößler. Göppingen 1991, S. 255– 276, hier S. 267f. 23 Aglaja Hildenbrock: Heinrich Kaufringers ‚Die Rache des Ehemanns‘ in psychoanalytischer Betrachtung. In: Schirmer (Anm. 1), S. 281–291, hier S. 286; anhand von weiteren Erzählungen Kaufringers wie Die drei listigen Frauen oder Der zurückgegebene Minnelohn kann Hildenbrock auf parallele Bildfelder mit analoger Funktion verweisen. 24 Analog argumentiert Wolfgang Beutin (Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance. Würzburg 1990, S. 436f.), wenn er in der Rache des Ehemanns die „Urangst der Kastration“ gestaltet sieht. Das Zahnausbrechen bereits sei [repräsentiere] Ehebruch. Die Verarbeitung der Körperteile belege überdies, daß sich die Aggression mit der phantasierten Kastration nicht erschöpft, sondern daß in den Körperteilen der jeweilige Akteur verspielt und verschenkt, d. h. prostituiert werde.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer interessiert aus diesem Fragehorizont nicht der Konnotationsrahmen der Metaphern, sondern allein die Fixierung auf vorab bekannte psychische Größen. Auf einer anderen Ebene, nämlich im Rahmen einer „Skizze zu einer historischen Gattungspoetik“ behandelt Klaus Grubmüller das sonderbare Märe. Vom Typus her sieht er hierin ein Muster vorliegen, wie es schon im gewissermaßen gattungskonstituierenden Märenschema des Stricker realisiert ist. 25 Im Unterschied dazu aber erkennt Grubmüller eine „Sorgfalt an den Einzelheiten seiner grotesken Geschichte“, insbesondere an den Verarbeitungen der abgetrennten Körperteile (Würfel, Beutel), die „nicht in erster Linie der Präzisierung der Handlungsbezüge“ diene. 26 Eher die „Lust an der Pointe, der Spaß an der genauen Parallelität, das Bemühen um artifizielle Qualität auch an wenig günstigen Materialien“ löse die strenge Funktionalität à la Stricker auf und schaffe „den Freiraum, in dem das Sonderbare und Abstruse seinen zeichenhaften Zusammenhang verliert und ins Groteske isoliert wird.“ 27 Für das in Frage stehende Märe Kaufringers möchte ich versuchen, Grubmüllers Beobachtung aufgreifend, die Funktionalität der „Körperteile“ zu diskutieren. Ihre Bedeutung stellt sich weniger auf der moralisch-exemplarischen Ebene ein, auch nicht vor dem Hintergrund sozialhistorischer Konstellationen. Erst recht aber läßt sich die Funktion der zu Schmuckstücken verarbeiteten Körperteile nicht aus einer irgend gearteten Psychologie der Akteure ableiten. Für die Frau etwa wird die Forderung des Pfaffen gar nicht erst zum Problem. „Ohne weiteren Grund fordert der Pfarrer von der Dame Beweise ihrer Liebe, und damit nimmt das grausige Geschehen seinen Lauf [...]“, so leitet Grubmüller seine Interpretation ein. 28 Gleich zu Beginn wird der Leser mit einer Kohärenzzumutung konfrontiert. Eine Verkehrung der Verhältnisse ist – in typischer Schwanklogik – schon in der Umkehrung der Beweisforderung angezeigt: Nicht die Frau fordert im Minnediskurs die Zeichen ‚echter‘ Zuneigung vom Geliebten, sondern der Ehebrecher, zudem der Pfarrer (das ewer herz ist trewe vol; V. 22). Entsprechend vollzieht die Frau bereitwillig den Dienst (wie ewch mein dienst werden erzaigt; V. 30). Auch wird schon hier eine Formel verwendet, die in zahlreichen Mären als
25 Grubmüller (Anm. 8), S. 40f. (Der Kluge Knecht [Doppelung der Erzählung], Der betrogene Ehemann [Verkehrte Geschlechterrollen]), S. 47. 26 Grubmüller (Anm. 8), S. 47f. 27 Grubmüller (Anm. 8), S. 48. Was hier an mittelalterlichen Versnovellen beobachtet wird, ist nicht zu verwechseln mit dem, was von Wolfdietrich Rasch (Realismus in der Erzählweise deutscher Versnovellen des 13. und 14. Jahrhundert. In: Schirmer [Anm. 1], S. 15–30) als „Realismuselement“ beschrieben worden ist: die Überschreitung der funktional ausgerichteten Erzählstruktur im Hinblick auf realistische Genreszenen. Hier dagegen geht es um das Nicht-Funktionale als Freiraum für literarisches Spiel. Schon Fischer hatte konstatiert, daß im Märe das intellektuelle Vergnügen häufig die moralische Haltung außer Kraft setze (vgl. Krohn [Anm. 8], S. 262). 28 Grubmüller (Anm. 8), S. 37.
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Kennzeichen für das Eheverhältnis fungiert, die hier allerdings der Liebhaber für sich reklamiert: 29 daran tüet ir den willen mein (V. 38). Die Besetzung der Minnebzw. Ehekonstellation hat sich verschoben und wird durch sprachliche Formeln und durch die Besetzung der Rollen signalisiert: Der Pfarrer nimmt illegitim den Platz des Ehegatten und Minneherren ein. Der Erwartungsbruch ist also abgeleitet aus der ‚verkehrten Welt‘ der Geschlechterbeziehung. Die Forderung nach den Zähnen des Ehemanns erklärt sich aus dieser Verkehrung aber noch nicht. Es gehört geradezu zu einem Kennzeichen des Märengenres, daß häufig Körperlichkeit und Körperfunktionen ostentativ zur Schau gestellt werden. 30 Für die vorliegende Erzählhandlung erfüllen Körperteile als Requisiten nicht nur eine etwaige psychoanalytische Funktion. Das Märe handelt gewissermaßen vom Körper (auch dem der Ehe). Der entlarvende Reim leib/weib, der wiederholt auftaucht und auf dessen destruktive Signalfunktion Grubmüller aufmerksam gemacht hat, rückt schon gleich zu Beginn das Körperthema in den Blick. Mit dessen Akzentuierung setzt auch das Märe ein (da suocht er die ritterschaft / mit seins werden leibes kraft; V. 5f.). Dem Ritterdienst, der öffentlichen Bewährung des Körpers im Ritterkampf, steht der heimliche Anschlag auf den Körper des Ritters gegenüber. Verletzungen des Minne- oder Eheverhältnisses werden über das Körperthema entfaltet. 31 Es ist auffällig, welchen narrativen Aufwand Kaufringer gerade den Verletzungs- und Verarbeitungsszenen widmet. Eine Kultur, die sich noch stark über körperliche Signale definiert, reagiert auf Verletzungen des Körpers entsprechend aggressiv. 32 Der Verbindung von Ehe-/Minnethema und Körpermotiv korrespondiert in der Folge ein Mechanismus von Verletzung und Spiel. Dem minne spil (V. 226) des ehebrecherischen Paares, mit dem das Märe einsetzt, entspricht die Verletzung der legitimen Ehe, die in der extensiv auserzählten Extraktionsszene vorgeführt wird. Dem gehörnten Ehemann werden auf Veranlassung des Liebhabers zwei Zähne aus dem Mund gebrochen, die der Pfaffe bei einem Würfelmacher und einem Gold 29 Die rechtlich geforderte Unterordnung der Frau wird in zahlreichen Mären illustriert. Vgl. Ingrid Bennewitz-Behr: Darumb ein fraw jrem mann nit kan zu viel gehorsam seyn. Zur Konstituierung von Weiblichkeitsidealen im ‚Ritter vom Thurn‘ des Marquart von Stein. In: Festschrift Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter K. Stein [u. a.]. Göppingen 1988, S. 545–564; vgl. Der Stricker: Die eingemauerte Frau. In: Der Stricker: Verserzählungen I. Hrsg. von Hanns Fischer, Johannes Janota. Tübingen 1979 (ATB. 53), S. 50–65: do wolde si ir willen han / und den sînen niht begân (V. 314); Kaufringer: Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar. In: Ders.: Werke (Anm. 8), S. 92– 104: er hett gar ain selig weib [...] sie was auch in dem willen sein (V. 63, 150, 311). 30 Müller (Anm. 1), S. 308–311; Hans-Jürgen Bachorski: Ehe und Trieb, Gewalt, Besitz. Diskursinterferenzen in Mären und Schwänken. In: Der Hahnrei im Mittelalter. Le cocu au moyen age. Hrsg. von Danielle Buschinger [u. a.]. Greifswald 1994, S. 1–21. 31 Vgl. Bachorski (Anm. 30), S. 8f. 32 Dem verdeckten Minneverhältnis zwischen dem Pfarrer und der Frau wird eine spontane Aggression gegenüber dem Ritter konfrontiert, die vonseiten der Ehebrecher ausführlich gestaltet wird.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer schmied zu kostbar verzierten Spielwürfeln verarbeiten läßt. Diesem ‚Spiel‘ des Pfaffen mit dem Ritter (Zähne/Würfel) korrespondiert eine Verletzung seines Körpers und seiner Ehre. Wenn der Ritter später vor der Verwandtschaft die Ereignisse vorträgt, koppelt er in seiner Beschreibung den Ehebruch explizit an den Spielbegriff: es was ain ritter wolgeborn; der hett ain weib auserkorn; die was im lieber dann sein leib. nun hett das selbig vaig weib ainen pfaffen lieber vil mit der cluogen minne spil dann den werden ritter vest. (V. 443–449)
Mit der Herstellung der Würfel überführt Kaufringer das die Ehe (zer-)störende Minne-Spiel, das der Pfaffe mit der Frau real spielt, auf eine metaphorische Ebene. Das Schicksal der Zähne, die durchaus auch als Zeichen für Sexualität und Kastration gesehen werden können, offenbart im Präparat die Verbindung von Körper und Spiel. 33 Die ausführlich geschilderte Verarbeitung der Zähne zu Würfeln (V. 119– 140) läßt Kaufringer in eine konkrete Spielszene münden, in der das Spiel selbst zum Interpretament der Situation wird: Der Pfarrer gesellt sich – in typischer Strategie der Liebhaber, wie ausdrücklich betont wird (V. 144) – nach der Gewalttat zu dem Ritter und erwirbt dessen Freundschaft. Die Harmonie der Oberfläche, die durch die Arglosigkeit des Ritters garantiert, aber auch latent bedroht ist, offenbart sich im gemeinsamen Brettspiel: also komen sie zesamen, der ritter und der pfaff mit namen, und lebten gar geselliclich. der ritter nit verstuond sich in den sachen kainr gevär zwischen dem weib und dem pfarrer. der ritter und der pfaff gescheit spilten in dem pret oun neit durch kürzweil und in fraintschaft. (V. 149–157)
Unmerklich geht der Erzählerkommentar über die Freundschaft und die Ehebruchsituation in eine Szene von geselligem Spiel über. Das Spiel impliziert zwei
33 Die Frau verweigert sich dem Beischlafwunsch ihres Mannes und raubt ihm in einer über 70 Verse geschilderten Szene zwei Zähne. Die Verbindung von Ehebruchsituation und Zahnraub ist verbreitet: Vgl. die Beispiele von Boccaccio (Dekameron VII,9) Jaques de Vitry (Exempla, Nr. 248) und Kaufringer (Die drei listigen Frauen) bei Stith Thompson: Motif-Index of Folk-literature 4. Copenhagen 1957, J 2324 (S. 203).
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Aspekte: den der gemeinschaftlichen Unterhaltung wie den der Konkurrenz. Beide Aspekte prägen zugleich das Verhältnis der Männer zueinander. Die Parallelisierung zweier Beziehungen (Frau – Pfarrer; Ritter – Pfarrer; V. 154f.), von verdecktem Minnespiel und vordergründiger Spielsituation wird zugleich in Form eines Chiasmus ausgedrückt, der auch formal die Kreuzung der Verhältnisse anzeigt. Der Übergang in die neue Szene der konkreten Brettspielsituation läßt diese zur Metapher für die Ehebruchssituation werden. Den konnotativen Rahmen für die Deutung liefert bereits ein anderes Märe Kaufringers. Im Zurückgegebenen Minnelohn setzt Kaufringer die Spielmetaphorik explizit als Mittel zur Erklärung der Ehebruchsituation ein.34 Entsprechend spielen hier beide Männer in doppelter Hinsicht im gleichen Brett und zwar in Freundschaft und kurtzweil. Mit dieser Metaphorisierung des Ehebruchs im gemeinsamen Brettspiel ist zugleich die Krisis der Konfliktgestaltung vorbereitet, die in der Folge die Aufdeckung und Rachehandlung in Gang setzt. Wenn der Pfaffe nun, durch übermäßigen Weingenuß allzu kühn geworden, ‚seine‘ kostbaren Würfel in das Brett wirft, erfährt die Metaphorik des Spiels eine metonymische Konkretisierung, indem nicht nur der Ehebruch, sondern auch die Verletzung des Ritters in die Szene ‚eingespielt‘ wird. Auch hier ist die syntagmatische Motivierung (Weingenuß) blaß. Statt dessen erklärt eine strukturell-metaphorische mehr, indem nach der anfänglichen Ehebruchsituation (Pfarrer – Frau) und der folgenden Eheszene (Ritter – Frau) nun die Opponenten einander konfrontiert werden: In dem Augenblick, in dem die besonderen Würfel im Spielbrett liegen, setzt der Mechanismus der Aufdeckung ein, ist die Versinnbildlichung der Konfliktsituation auf die Spitze getrieben: In dem Brett (Frau) liegen ein Paar Würfel (metaphorisch: Hoden), die in ihrer Substanz den Ehegatten mit seinem substantiellen Anspruch repräsentieren (Zahn), in ihrer Verkleidung (Würfel) das illegitime Minne-Spiel des Pfaffen. Noch das Besitzverhältnis spiegelt die Verkehrung der Situation. Die Würfel sind im Besitz des Pfarrers, sie gehören aber rechtmäßig dem Ritter. Natürliche Zahnsubstanz und verzierte Oberfläche stehen metonymisch für die vergangene Brutalität und vordergründige Geselligkeit. Der Pfaffe brüstet sich geradezu mit dem kostbaren adeligen Gehalt der Würfel, dem gegenüber der Überzug sekundär erscheine. Einkleidung und Substanz, Spiel und Ernst, Verkennung und Einsicht sind in dem Bild der Würfel konzentriert. Von daher erklärt sich auch die Akribie, die Kaufringer auf die Schilderung der Verarbeitung legt. Sie markiert die Spielform der Darstellung und fungiert als metaphorisches Signal. Der Umschlag in die Erkenntnis des Ritters und die Blindheit des Pfaffen finden genau an der Stelle statt, an der die Würfel ihren Weg in das Brett finden.
|| 34 Kaufringer: Der zurückgegebene Minnelohn. In: Ders.: Werke (Anm. 8), S. 53–72, V. 697–722. Zur metaphorischen Note von ‚Entkleiden‘ bei Kaufringer vgl. Ragotzky (Anm. 8), S. 115f.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer Als Gegenreaktion erfolgt nun die nicht minder brutale Kastration des Pfaffen. Für dieses Handlungsmoment kann Kaufringer auf den Situationstyp „Heimliches Überraschen“ zurückgreifen. Der Ehemann, einmal skeptisch geworden, stellt den Liebenden nach und vollzieht seine Rache, die nach spiegelndem Prinzip erfolgt. Aber auch hier impliziert das Bild mehr als einen narrativen Überschuß. Die ausführliche Beschreibung der Verarbeitung der abgeschnittenen Geschlechtsteile (gerben, nähen, dörren, verzieren) zu einem kostbaren Beutel ist gewiß einmal Replik für die Tat des Pfaffen, zugleich sicherlich eine zeichenhafte Bestrafung an signifikanter Stelle. Der Beutel selbst illustriert aber zudem die Situation des Pfaffen nach der Strafe. Der Inhalt (gedörrte Hoden) des nunmehr geleerten Scrotums wird nach außen gekehrt und als Verschluß instrumentalisiert. Der Ehebruch wird am männlichen Part dadurch gestraft, daß die Hoden zu Knöpfen verarbeitet werden, die die Quelle der Lust verschließen. Der goldene Überzug dient nunmehr als Replik für die Gewalttat des Pfaffen, als Spiel des Ritters mit den Geschlechtsorganen seines Widersachers. Eine Replik mit Interpretationswert: Der Wandel vom schützlich[en] Sexualorgan (V. 235) zum schön[en] und kostlich[en] pütelein (V. 310) nimmt seinerseits Bezug auf das Vergehen des Pfaffen und den Wert der erzwungenen Abstinenz. Metapher und Synekdoche (Metonymie) sind hier sichtbar auf die Pflicht des Pfaffen bezogen. Die Trennung der Geschlechtsteile vom Körper bezeichnet nicht allein die Rache: Sie signalisiert zugleich jene Verpflichtung zur Enthaltsamkeit, die dem Pfaffen qua Profession hätte eignen müssen. Erst als ‚abgelöste‘ ist die Sexualität des Pfaffen wertvoll. 35 Die inszenierte Geste der Überreichung besitzt nun – wie das Würfelspiel – eine doppelte Semantik. Die Strafe, die schließlich die Frau selbst erfährt, korrespondiert mit den körperlichen Verletzungen der Männer. Die Verletzung des Ehemanns erfordert vor dem Hintergrund der Ehe/Leibkonstellation geradezu eine Verletzung der Frau. In zeitgenössischen Erzählungen und Gerichtsdokumenten ist das Recht des Mannes auf drastische Körperstrafen (Verstümmelung) belegt. 36 Der Pfaffe wird unter Todesdrohungen gezwungen, der Frau die Zunge abzubeißen. Die Zunge fungiert dabei einerseits als Sexualorgan, als Instrument des Ehebruchs (küßt und züngelt oun endes
35 In diesem Sinn werden auch die Worte des Pfaffen neben ihrer konkreten Bedeutung (Wunsch nach dem kostbaren Gegenstand) metaphorisch doppelt lesbar. Unerkannt wünscht sich der Pfaffe seine wiederhergestellte Sexualität. Zugleich aber feiert er im Wunsch nach dem Beutel seine abgelöste Sexualität: ‚all mein ungemach / ist geringert worden mir; / nach dem pütel stet mein gir, / wann der ist so schön und guot, / das er mir sterket den muot.‘ (V. 320–324). 36 Susanne Burghartz: Ehebruch und Eheherrliche Gewalt. Literarische und außerliterarische Bezüge im ‚Ritter vom Thurn‘. In: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe, Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1991 (Literatur, Imagination, Realität. 1), S. 123–140, hier S. 127–129 u. 132.
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zil; V. 344), aber auch als Instrument der eidbrüchigen Rede (Stede). 37 Indem das hilflose Stammeln der Frau wiederholt beschrieben wird, wird zugleich die gestörte Kommunikation zwischen den Ehepartnern vorgeführt: eine Replik auf die erste Rede zwischen den Partnern, ein Zeichen schließlich für die fundamentale Störung der Ehe. Der Ausschluß der Frau aus der Ehegemeinschaft beginnt damit, daß ihr die Sprache geraubt wird. Nicht ohne Ironie läßt Kaufringer das Ende der Erzählung mit einem Hinweis auf die sprachlose Frau zusammenfallen: die sprach nichtz dann: ‚läll läll läll.‘ also puost si ir missitat. damit die red ain ende hat. (V. 514–516)
Das Spiel des Pfaffen war einerseits Minnespiel mit der Frau, andererseits aber auch scheinbar unmotiviertes Spiel mit dem Ritter, der zum Objekt seiner Aggression wird. Der Pfarrer spielt also mit dem Ritter auch real in doppelter Hinsicht (Zähne/Würfel, Brettspiel). Kaufringer inszeniert mit den Requisiten ein raffiniertes Spiel von Ersetzungs- und pars pro toto-Beziehungen, die sich auf die Konfliktsituation abbilden lassen: In den Würfeln ist der Ritter als Objekt des Spiels (Zähne) metonymisch [würfel – gebain – ritter; V. 181f.] ebenso anwesend wie es die Hoden des Pfaffen metaphorisch sind. Umgekehrt ist in dem Beutel der Pfarrer metonymisch anwesend, der Ritter dagegen metaphorisch (extrahierte Hoden/Zähne). Die Requisiten erfüllen damit sowohl syntagmatisch eine metonymische Funktion innerhalb der linearen Handlung als auch paradigmatisch eine metaphorische durch Kontextwechsel. Das Märe besitzt damit in der Metaphorik einen konsistenten Spielraum, der zentrale Konfigurationen der Handlung abbildet. Die lineare syntagmatische Organisation verbindet demgegenüber einzelne (Körper-)Teile zu einer Aggressionsund Rachegeschichte. Aus der Metaphorik heraus mildert sich auch der Kohärenzbruch des unmotivierten Anfangs. Nicht weil der Pfaffe oder die Frau unmotiviert böse sind, wird die Forderung des Pfaffen plausibel, sondern weil die Metaphorik des (Minne-)Spiels entsprechende Requisiten erfordert, also als Motivation von hinten. Der konnotative Rahmen des (Minne-)Spiels wird in die konkrete Spielsituation überführt. Die Kohärenzbildung verläuft an dieser Stelle primär über die Bildlichkeit und nicht über psychologische (Kastration) oder soziale Faktoren (gestörte Ehe). Daher erklärt sich auch die Forderung nach zwei Zähnen gegenüber dem Schwank, in dem der ganze (metaphorische) Spielhintergrund fehlt. Eben deshalb verrät sich der Pfaffe auch so wenig überzeugend, denn der Mechanismus von Aktion und Reaktion muß in Gang 37 Der Verlust der Zunge als Strafe für Meineid und falsche bzw. betrügerische Rede entspricht dem ‚spiegelnden‘ Rechtsverständnis des mittelalterlichen Strafrechts. Jacob Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer II. Darmstadt 1955 (zuerst 1899), S. 297f. u. 343. Vgl. Justiz in alter Zeit. Katalog. Rothenburg 1989, S. 334.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer gesetzt werden. Die Metaphorik spiegelt nicht nur den Ehebruch und den jeweiligen Zustand der Beteiligten, sie organisiert auch größere Teile der Narration. Benutzt Kaufringer in einem anderen Märe für das Institut der Ehe das biblische Bild von den zwei Seelen in einem Leib, so wird deutlich, daß die Frau mit ihrer Tat nicht nur den Körper des Ritters verletzt, sondern auch den „Leib der Ehe“. 38 Daraus folgt als letzter Schritt die Auflösung der Ehe. Der Ritter lädt die Verwandten ein und zwar explizit beide Parteien: das er den frainden kund tät, wie die frau gefaren het, damit er ir wurd entladen, wann er hett des weibs nur schaden, schand und laster und gar kain er; (V. 419–423)
Das Problem der öffentlichen Reputation, der Ehre, setzt die Handlung erneut in Gang. Die Bestrafung erfolgt hier nicht gewaltsam oder metaphorisch, sondern als Rechtsakt. 39 Über die replikartige private Rache des Ritters hinaus wird die Erzählung fortgesetzt, weil der einzelne als Rechtsinstanz für die Auflösung der sozialen Beziehung nicht ausreicht. 40 Einzelner und Sozialverband sind in Fragen sozialer Reglementierung noch nicht getrennt. 41 Gemäß mittelalterlicher Rechtsordnung bedarf es des Kollektivs, der letztlich verantwortlichen Instanz der Verwandten, um das ‚öffentliche‘ Urteil über die immerhin ‚sichtbar‘ gestrafte Frau fällen zu können. Die Auflösung der Ehe erfolgt über eine Erzählung. Letztlich wird dabei die Erzählhandlung des Märe selbst zum Gegenstand von Erzählung. In geselliger Runde entfaltet sich zunächst eine Art Feststimmung, die ganz gegen die erwartete Rechtshandlung von kürzweil, fraudenspil und hüpsch tagalt (V. 431–436) erfüllt ist. da si nun ze tisch gesassen, all getrunken und auch gassen,
38 Gen. I,2: [...] et erunt duo in carne uno. Vgl. Heinrich Kaufringer: Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (Anm. 29), V. 1–8. Es ist ain altes sprichwort; / das haun ich vil oft gehort: / ain man und auch sein eweib / zwuo sel und ainen leib / süllen mit ainander haun. / was ir ainem wirt getaun, / es seie guot oder pein, / das sol in baiden gschehen sein. 39 Grubmüller (Anm. 8), S. 38. 40 Das Gericht der Verwandten bestätigt nur noch öffentlich, was sich nach der privaten Rache bereits ergeben hatte: die fundamentale Störung der Ehe: doch die frawen er nun mait / und het fürbas nimer me / mit ir kain geschäft als ee (V. 410–412). Hier scheint es sich um die Trennung von Tisch und Bett zu handeln. Vgl. Wolfgang Graf: Der Ehebruch im Fränkischen und Deutschen Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung des weltlichen Rechts. Würzburg 1982, S. 289. 41 Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft. Frankfurt/Berlin 1982 [zuerst 1939], S. 159. Der Ritter folgt zwar nicht dem Urteilsspruch der Verwandten, versichert sich aber ihres Urteils: nun habt ir die urtail geben (V. 499).
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da wurden si all wolgemuot, als man ze wirtscheften tuot. da het man oft kürzweil vil mit mangerlei fraudenspil. also ward da vil gesait von manger frawen gemait und von mangem manne cluog hüpsch tagalt mit guotem fuog. (V. 427–436)
Der Hausherr selbst beginnt überraschend seine Erzählung in Form eines Scherzes: Der haußwirt zelest began / auch in schimpf weis vahen an, / in ze sagen ain tagalt (V. 437–439). Die Erzählung trägt nicht nur einen alten Fall vor, sie bestätigt überdies die traditionellen Vorbehalte gegenüber der Frau. 42 Im geselligen Kreis der vriunde entsteht offenbar eine konventionelle Situation exemplarischen Erzählens. Erzählt wird vor allem die Gewalttat der Frau, während auf die narrative Ausgestaltung der Requisiten verzichtet wird. Im Sinne klassischer Exemplarik scheinen die Protagonisten des Exempels anonym und das Geschehen ohne besondere Referenz zu sein. 43 Was als Scherz beginnt, wendet sich erst gegen Ende in einen das Publikum empörenden Fall. Vor den versammelten Verwandten mündet die Erzählung des Ritters in einem Rechtskasus: Der betrogene Ehemann offenbart schließlich den gemeinsamen Verwandten seinen eigenen Fall und holt deren Urteil ein. Die Binnenerzählung des Ritters vor den Verwandten, die immerhin 42 Verse umfaßt, wird damit selbst zum Interpretament der Gesamterzählung. Wie der Pfaffe mit dem Ritter spielt, wie der Text selbst ein korrespondierendes Metaphernspiel mit Requisiten bietet, entfaltet auch die Binnenerzählung ein Wechselspiel von Spiel und Ernst, Verkleidung und Enthüllung. Gesellige Erzählrunde und Rechtsgemeinschaft, hübsch tagalt im Sinne (anonymer) exemplarischer Geltung und biographisch fundierte Erfahrung stehen in Opposition zueinander. Kaufringer markiert mit der doppelten Gegenüberstellung von Unterhaltungsspiel und Rechtskasus (innerhalb der Binnenerzählung und im Verhältnis Binnenerzählung – Rahmenerzählung) die Differenz von unterschiedlichen Erzählformen: hier das Exempel, der Rechtskasus, dort die freiere, metaphorisch ausgedehnte Fiktion. 44 Die Binnenerzählung fungiert hier also nicht wie beim Stricker als selbstreflexives didaktisches Instrument (Der kluge Knecht), sondern als Reflexion des Erzählverfahrens insgesamt. Nicht nur die Moral leitet das Erzählen im ersten Teil. Im Gegenteil, das metaphorische Spiel des Erzählers suspendiert geradezu die lineare Konzentration auf die Handlungsfüh 42 er sprach: ‚merkent, jung und alt, / was ich ietzo haun erfaren: / das ist geschehen in kurzen jaren [...] wann frawen selten tuond das pest, / als die alten haund geseit.‘ (V. 440–451). 43 Grubmüller (Anm. 10), S. 37–40; Stierle (Anm. 3), S. 356 u. 361–366. 44 Exempel und Rechtskasus differieren durch die Pragmatik ihrer Realisierung, die sich hier überschneidet: einmal die feiernde Erzählrunde, das andere Mal die Rechtsgemeinschaft.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer rung, schafft in den ausphantasierten Requisiten eine spielerische Überschreitung. Wohl nicht zuletzt deshalb verzichtet Kaufringer gegenüber den anderen Mären auf das bekannte ‚widerständige‘ Pro- oder Epimythion. 45 Der Gegensatz ist hier durch den Erzählverlauf einerseits, durch die reduzierte Kasusform am Ende andererseits hinreichend markiert. In einer weitergehenden ‚rhetorischen‘ Entfaltung der Interpretation ließe sich Kaufringers Darstellungsform als eine Art ‚Einkleidung‘ beschreiben, die für die Gesamterzählung das praktiziert, was bereits im Schicksal der Zähne enthalten ist: 46 die Ummantelung einer Gewalttat durch eine spielerische Form. Die verschiedenen Verweise auf den geselligen Rahmen der Binnenerzählung gegenüber dem ernsthaften Rechtskasus wären in diesem Fall auf das Märe insgesamt zu übertragen. Kaufringers Entfaltung des plots faßt ein didaktisches Exempel, eine typische Dreiecksgeschichte, in eine Spielform ein, die mit Hilfe von Requisiten, Metaphern und einander entgegenstehenden Erzählformen die eigene literarische Referenz reflektiert. Durch deutliche Spielsignale (Würfel, Brettspiel) wird die Fiktionsebene signalisiert. Erzählen in geselliger Runde (Exempel) und im rechtlichen Kontext (Kasus) unterscheidet sich vom Erzählen in literarischer Form (Märe) mit seinen spezifischen Gestaltungsmitteln. Insofern ist Kaufringers Märe primär eine Geschichte über das Geschichtenerzählen.
Das Spiel mit Erzählschemata Das Märe von dem Zurückgegebenen Minnelohn erzählt ebenfalls einen Ehebruchschwank und kann als komplementärer Entwurf zum vorausgehenden Märe gelesen werden. 47 Die Handlungsstruktur gleicht derjenigen der Rache des Ehemannes (Dreiecksgeschichte, Ehebruch, Überführung, Binnenerzählung), abweichend dagegen verläuft die Konfliktlösung. Gegenüber der Rache des Ehemannes löst sich der Konflikt im Zurückgegebenen Minnelohn in überraschend friedlicher Weise. Das Märe dokumentiert im Verhältnis zum voraufgehenden Kaufringers kasuistisches Verfahren, das verschiedene Konfliktmodelle und Konfliktlösungen, selbst entgegengesetzter Art, durchspielt. Einem jungen armen Ritter ist aufgrund der Verschwendungssucht seiner Vorfahren die Möglichkeit ritterlicher Bewährung genommen. Ein reicher Nachbar stattet ihn aus Mitleid und
45 Keinesfalls wird in diesem Märe gegenüber dem Schwank die Komik durch den moralisierenden Diskurs überlagert. Vgl. Stede (Anm. 8), S. 104f. Eher umgekehrt behauptet im metaphorischen Spiel der literarische Diskurs neben dem moralisierenden seinen Platz. 46 Vgl. zur Metapher der ‚Einkleidung‘ Bloch (Anm. 5), S. 22–58. 47 Heinrich Kaufringer: Werke (Anm. 8), S. 53–72.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
Standessolidarität mit den notwendigen Mitteln aus. Unterwegs zu einem Turnier wird der Ritter von der Nacht überrascht und trennt sich von seinem Knecht, um auf aventiure in den Wald zu ziehen. Dort trifft er auf eine Burg, in deren Baumgarten die Burgherrin, der von ihrem Mann geleuchtet wird, unter dem Vorwand von Zahnschmerzen ihren Geliebten erwartet. Der Ritter ergreift die Gelegenheit, schläft zunächst unerkannt mit der Frau, die jedoch Verdacht schöpft und sich ihrer Ehre beraubt sieht. Nachdem ihr der Ritter als Wiedergutmachung seine gesamte Barschaft von 60 Gulden übergeben hat und dafür von ihr einen Ring erhält, kehrt er, nun erneut ökonomisch gefährdet, zu seinem Knecht zurück. Auf der Weiterreise trifft er auf einen zweiten Ritter, den Ehemann jener Burgfrau, der ihn erneut mit finanziellen Mitteln versorgt, so daß beide zusammen auf das Turnier ziehen können. Nachdem der junge Ritter das Turnier gewonnen hat, gibt er in geselliger Runde seine ‚Baumgartenepisode‘ zum besten. Der alte Ritter erkennt die Situation, schweigt zunächst und lädt den Ritter zu sich nach Hause ein. Die Ankunft bringt den jungen Ritter und die Burgherrin in Verlegenheit. Während beide die Rache des Ehemannes fürchten, verlangt dieser von der Frau lediglich den Geldbetrag zurück und teilt ihn gerecht in drei Teile, je nach Anteil an dem Ehebruch. Auf Vermittlung des jungen Ritters kommt es schließlich noch zur suone zwischen den Ehepartnern.
Das Märe kombiniert einen Ehebruchschwank mit dem Handlungsmuster eines Aventiureromans und verbindet damit nicht nur zwei entgegengesetzte Erzählmuster, sondern auch zwei Wertebenen. 48 Aneinander gekoppelt werden jene beiden Seiten höfischer Literatur, die Licht und Schatten, Stabilisierung und Gefährdung von Normen, letztlich in ihrer literarischen Funktion Repräsentation und Entlastung/Subversion vertreten. Die Geschichte ist in ihrer rudimentären Handlungsstruktur später auch von Claus Spaun überliefert, der sich allerdings auf eine reduzierte Schwankpointe beschränkt. 49 Überdies handelt Spauns Schwank im bürgerlichen Milieu, in dem denn auch der materielle Aspekt von Geld und Minne die zentrale Rolle spielt. Die Bürgersfrau läßt sich bewußt auf das Angebot des Studenten ein, so daß Minne hier jenseits aller Ehrproblematik als Tauschgeschäft inszeniert wird. Wie im ersten Fall hebt sich die Gestaltung des Märe deutlich von derjenigen des Schwanks ab. Der Wandel des sozialen Rahmens zieht in Kaufringers Märe eine veränderte Konfliktgestaltung nach sich. Seine Version erweitert und verkompliziert den Handlungsverlauf, indem er das Geld- und Minnethema des Schwanks mit der Ehrethematik des höfischen Romans verbindet. Thema ist das Verhältnis von Ehre und Geld, bzw. das Verhältnis von materiellen und ideellen Grundlagen ritterlicher Kultur. Die Disziplinierung des höfischen Ritters, auf die mehrfach angespielt wird (zucht und adel, V. 52, 202), wird mit der Subversion des Minnediskurses konfrontiert, die ihrerseits von der Form des Schwanks überlagert wird. Das Märe ist sichtbar darauf angelegt, durch Bildung von Oppositionen die Erwartungen des Zuhörers zu durchbrechen. Schon das Promythion baut einen Rezep 48 Vgl. Ziegeler (Anm. 3), S. 306f. 49 Einen Vergleich bieten Hoven (Anm. 1), S. 371f.; Ziegeler (Anm. 3), S. 306–310; Stede (Anm. 8), S. 48–58.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer tionshorizont auf, in dem, wie häufig bei Kaufringer, allenfalls ein Teil der Geschichte aufgeht: Es ist gar ain sälig man, dem got sölich eren gan, das im von got beschaffen ist ain frommes weib on argen list, die in mit ganzen trewen maint und sich zuo im so veraint, das alles, sein er und guot, besorget ist und wohl behuot. [...] ain aubentür pin ich ankomen, die vor zeiten beschehen ist; die wil ich sagen ze diser frist. (V. 1–12)
Gleich zu Beginn seines Märe suggeriert Kaufringer durch die Maxime eine Exempelform. Einer solchen Didaxe würde eher Spauns Geschichte entsprechen. Kaufringers Erzählsituationen und Handlungsverläufe weisen demgegenüber weit über die vorgegebene Ehebruchthematik hinaus. Erzählanlaß und Erzählverlauf dissoziieren schon zu Beginn und lenken die Aufmerksamkeit des Zuhörers von vornherein auf die Darstellungsform. Immerhin thematisiert das Promythion bereits das Zentralthema: Ehre und Gut, allerdings noch in einem eingeschränkten, ehelichen Kontext. Was für das Eheverhältnis entworfen wird, wird auf den Ausgangspunkt adeliger Lebensführung projiziert und als Grundproblem feudaladeliger Gesellschaft beschrieben. Die Durchbrechung der Erwartung erweist sich in der Folge als Prinzip der Erzählung und wiederholt sich im Handlungsverlauf wie im Aufbau der Szenen. Was Kaufringers Erzählung gegenüber derjenigen Spauns auszeichnet, ist das Spiel mit bekannten Gattungselementen des Aventiureromans. Ihnen eignet dabei eine spezifische Zeichnung, eine Ambiguität, die dadurch entsteht, daß sie aus jeweils wechselnden Perspektiven in den Blick genommen werden. Ain junger ritter hochgemuot / saß auf ainer veste guot (V. 13f.), mit dieser Anspielung auf einen typischen feudalepischen Erzählbeginn setzt die eigentliche Erzählung ein und skizziert in kurzen Wendungen die Vorzüge des Ritters und die aventiure-Erwartung, die jedoch sogleich irritiert wird: 50 und hett des guotes nicht zevil (V. 17). Konventionelle Erwartung und aktuelle Umstände der Erzählwelt treten schon zu Beginn in Konflikt. In der Folge interpretiert Kaufringer die Situation des
50 Zum formelhaften Erzähleinsatz vgl. Nibelungenlied Str. 326,1: Ez was ein küniginne gesezzen über sê; Eilhart von Oberge: Tristrant, V. 54: ein konig hie bevor saz [...]; Jan-Dirk Müller: Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe? In: Il romanzo di Tristano nella letteratura del Medioevo. Der ‚Tristan‘ in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Paola SchulzeBelli, Michael Dallapiazza. Trieste 1990, S. 19–37, hier S. 21f.
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Ritters weiter nach dem Muster des höfischen Romans, wenn er aus der Warte des alten Ritters die ökonomisch bedingte Untätigkeit des jungen als verligen (V. 35) bezeichnet (daz du dich also verligst / und nit der ritterschefte pfligst; V. 47). 51 Gegenüber der literarischen Folie, die auf die subjektive Verantwortung des Ritters (Erec/Iwein) zielt, wird das materielle Motiv zum Ausdruck gebracht. Die Bindung der Bewährung in der aventiure an ihre ökonomischen Bedingungen (ich will dir leihen geltz genuog, / ist es nur dein will und fuog, / das du aubentür suochen wilt; V. 65–67) verweist die Feudalkultur auf ihre gern ignorierten Grundlagen. Bleiben im frühen höfischen Roman derartige Faktoren im Rahmen adeligen Statuskonsums ausgeblendet, bzw. werden sie in exzessiver Prachtentfaltung geradezu negiert, so werden sie im 14./15. Jahrhundert zunehmend mit thematisiert. Die typische Situation des Romans, die für den Leser mit einer aventiure-Erwartung verbunden ist, wird geradezu auf den Kopf gestellt. Erneut markiert der Text damit eine Lektürerichtung, die im Hintergrund mit eingespielten literarischen Konventionen rechnet, vor deren Folie allererst signifikante Aussagen möglich werden. Dem Schema des höfischen Romans entspricht auch der aventiure-Aufbruch (so wil ich gan, / aubentür suochen in dem tan; V. 121f.), doch auch dieser ist gebrochen durch den Zeitpunkt und schließlich durch die schwankhaft-amouröse Begegnung. 52 Der Zufall, traditioneller Katalysator von aventiure, wird innerhalb der Reise in die Stadt als Instanz beschworen und in der Begegnung mit der Frau bestätigt. Und auch hinter dieser Begegnung steht eine bekannte Konstellation. Das (zufällige) Treffen mit der Burgherrin im boumgarten evoziert die Vorstellung vom typischen Ort für heimliche Minnetreffen, selbst unter den Augen des Ehemanns (Tristan): Der Minnediskurs, als höfisches Ausnahmeereignis vorausgesetzt, bleibt im Hintergrund präsent und wird nun unter schwankhaften Bedingungen in Szene gesetzt. Das Ehebruchschema des Schwanks besetzt hier eine analoge Position wie das heimliche Minnetreffen im Erzählschema des höfischen Romans. Nur wird die Spannung der drohenden Entdeckung in die Komik der günstigen Gelegenheit überführt (ain ritter edel und auch zart / solt mich hier haun beslafen; V. 184f.). Die Schwankszene besitzt zwar schon für sich Komik. Ihre Pointe erfährt diese aber in ihrer Kontrafaktur zur höfischen Szene. Der Austausch der Liebhaber ironisiert die Kontingenz der aventiure, das wiederholt beschworene, von Gott gesandte gelück. 53
51 Ziegeler (Anm. 3), S. 306–308; Stede (Anm. 8), S. 49. Turnierfahrt als Prophylaxe gegen verligen bietet schon der höfische Roman (Iwein) an. 52 Hoven (Anm. 1), S. 180f. 53 Metaphorisch ist der verschlungene Weg des Ritters in den topischen Liebesort bereits als Vorwegnahme des Sexualaktes lesbar: [...] hie unden bei des zaunes ort. / er gieng aber bas hinumb / ainen weg scharpf und krumb, / bis er zelest ain türlin vand; / das stuond offen sa zehand. / da gieng er ze dem türlin ein. / da vand er die frawen fein / [...] (V. 152–158).
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer Wenn der Ritter auf die Vorwürfe der Frau – und entgegen der drastischen Szene – geradezu topisch das Ritterethos bemüht, wird erneut die literarische Folie gegen die Handlungsebene abgehoben. Ritterliche Norm und Handlung können nicht weiter auseinanderliegen. ich haun gesuocht aubentüre ie; die haun ich auch gefunden hie. ritterschaft hat mich außpracht; auch haun ich mir des gedacht, verzeren meinen werden leib ze dienst durch alle raine weib. (V. 193–196)
Die Verse könnten in jeder aventiure-Bestimmung des höfischen Romans stehen. Hier im Schwankkontext verlieren sie ihren Anspruch und dokumentieren erneut das Schema, vor dem die Geschichte sich profiliert. Der Sprachgestus des „grand chant courtois“ und die Klage der Frau um ihre verlorene Ehre kontrastieren mit der Vergewaltigung und der ehebrecherischen Ausgangsposition. 54 Durch ein Geschenk (60 Gulden) kann der Ritter seinen ‚Dienst‘ retten. Und erneut werden in der Reaktion der Frau heterogene Größen, materielles Kalkül und Minnediskurs, aneinander gekoppelt: ‚die gebt mir her! / ich vergiß ewer nimmer mer‘ (V. 207f.). Umgekehrt wird ihr Pfand, der Ring, vom Ritter als Minnepfand aufgefaßt (darbei gedenk ich ewer eben; V. 212), vom Erzähler dagegen materiell gegengerechnet: doch was der wechsel ungeleich; / es was bei acht guldin wert (V. 216f.). Das moralische Problem wird in ein standesethisches abgebogen, das sich seinerseits materiell regulieren läßt. Schwank und Handlungsmuster des höfischen Romans werden wechselseitig ineinander geschoben. In den aventiure-Rahmen schiebt sich an signifikanter Stelle der Schwank, in den Schwank seinerseits das höfische Ethos. Die komische Wirkung entsteht dadurch, daß die höfischen Figuren ihre Rollen durchhalten, auch wenn der Kontext des Handelns sich ändert. Ehre bleibt auf seiten aller Beteiligten Regulativ des Sprechens, wohingegen das Handeln weitgehend anderen (z. B. materiellen) Bedingungen unterliegt. Schließlich wird im aventiure-Ziel, dem Turnier in der Stadt, die Bewährung in der Fremde durch das disziplinierte Kampfspiel ersetzt. 55 Nicht die gefahrvolle Be-
54 Die Reaktion von Ritter und Frau mögen als Anspielung auf die Pastourellensituation zu verstehen sein, in der das verführte Mädchen sich den Verlust ihrer Ehre bisweilen mit einem Geschenk vergelten läßt. Gemeinsam ist der Pastourelle wie auch dem vorliegenden Märe eine Kontrafaktur höfischen Frauendienstes. Gerhard Wolf: Norm und Spiel. Zur Thematisierung der Sexualität in Liebeslyrik und Ehelehre des späten Mittelalters. In: Bachorski (Anm. 36), S. 477–509, hier S. 484. 55 Thomas Zotz: Adel, Bürger und Turniere in den deutschen Städten des 13. bis 15. Jahrhunderts. In: Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1985 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 80), S. 450–499.
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währung in der Wildnis, wie sie die Epik entwirft, vielmehr die Unterhaltung im ritterlichen Spiel (schimpf; V. 361), die eher der zeitgenössischen Realität entspricht, prägt die aubentür. 56 Gegenüber dem adeligen Turnierritual als Bestandteil des höfischen Festes, mit festen Regeln, kommt es hier zum Wettbewerb innerhalb der Stadt, der als Ertrag einerseits vom Adel Ehre, andererseits vom Bürgermeister Kost und Logis einbringt. Auch das Turnier als Form adeliger Selbstdarstellung wird auf seine materiellen Bedingungen hin durchsichtig gemacht. Weitere Belege für höfische Handlungssequenzen ließen sich anführen, vom Empfangszeremoniell über das Festmahl bis hin zum unterhaltsamen Brettspiel. Auf die Funktion des ritterlich-höfischen Bereichs als „dialogisierender Hintergrund“ haben Ziegeler und Stede aufmerksam gemacht. 57 Er dient nicht nur der Komik. Die Geschichte behält bei aller latenten Spannung die Oberfläche des höfischen Comments bei. Sie vollzieht sich über Phasen geradezu auf zwei Ebenen und ist zudem ambivalent entworfen. Die Szenenfolge des Aventiureromans gibt die Struktur des Textes vor, die durch Reflexion auf die materiellen Bedingungen untergraben wird. Ritterliche Existenz, aventiure-Begriff, helfe, Minne und Turnier: all die Elemente höfischer Kultur werden ‚materialisiert‘. Die Kontrafaktur höfischer Elemente läßt sich einmal sozialhistorisch ausmünzen. Thematisiert werden die veränderten materiellen Lebensbedingungen des Adels, der Ende des 14. Jahrhunderts zunehmend in ökonomische Not gerät, seine lockere Moral, die Verlagerung von Turnier und Fest in die Stadt. Gewiß reflektiert das ständig präsente Geld-Thema aus einer städtischen Perspektive die unbekümmerte ökonomische Lebensform des Feudaladels. Doch auch hier eher die ‚gedachten‘ (literarischen) Ordnungen als die realen. Die Kontrafaktur läßt sich zugleich als Auseinandersetzung mit literarischen Klischees auffassen, die vor dem Hintergrund materieller Notwendigkeiten ihren elitären Status verlieren. Kaufringers Text wäre demnach ein subversives Spiel mit tradierten Versatzstücken des Aventiureromans, und in der Tat bildet der Spielkontext eine Konstante der Erzählung. Die Abfolge der einzelnen Handlungssequenzen gruppiert sich um einen Zentralbegriff ritterlicher Existenz. Das Märe entfaltet geradezu das semantische Spektrum von aventiure. So charakterisiert der Erzähler seinen Gegenstand eingangs als Abenteuer: ain abentür pin ich ankomen […] die wil ich sagen zu diser frist (V. 10–12). Aventiure, das ist zunächst das besondere, erzählenswerte Ereignis. Zudem steht schon die Erwartung des alten Ritters über die adäquate ritterliche Lebensform unter dem Zeichen von aventiure (das du abentür suochen wilt; V. 67). Sie vollzieht sich programmatisch als Frauendienst: durch frawen zart und gemait / frölichen da ze
56 Josef Fleckenstein: Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland. In: Fleckenstein (Anm. 55), S. 229–256, hier S. 235–237, zum Turnierspiel als großartigste Demonstration von Rittertum. 57 Stede (Anm. 8), S. 49; Ziegeler (Anm. 3), S. 307f.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer hofieren / mit stechen und turnieren (V. 106ff.). Der Weg des jungen Ritters spielt in der Folge zwei Arten von aventiure gegeneinander aus. Die schicksalhafte Begegnung (aubentür suochen in dem tan; V. 122) und die geordnete Reise zum Turnier zum Zweck des Frauendienstes. 58 Die Begegnung mit der Frau überführt das ritterliche aventiure-Programm in den Schwank, und damit verlagert sich die Semantik von aventiure hin zum amourösen Spiel. Der Knappe des Ritters resümiert später prägnant die Verschiebung innerhalb der ritterlichen Ethik: die aubentür ist pesser vil, / die also mit der minne spil / ainem werden ritter zuogat (V. 253ff.). Nicht nur wird hier programmatisch eine Hierarchie von materiellen und erotischen Werten betont, ganz gemäß adeligem Selbstverständnis, zugleich wird schon der Spielkontext an den aventiure-Begriff angebunden. Sich nicht der Kalkulation zu überlassen und mit Vertrauen auf Gott seinen Weg suchen: diese aventiure-Haltung prägt zum einen die Weiterreise nach der amourösen Baumgartenszene. Zum andern ist das Turnier das Ziel der Reisenden, und auch hier vollzieht sich die ritterliche Bewährung eher in einem spielerischen Rahmen (des er in dem turnai / und zuo dem schimpf muoste haun; V. 360f.). Im städtischen Turnier verbindet Kaufringer die gesellige Szene erneut mit einer Unterhaltungssituation. Nach dem sich an das Turnier anschließenden öffentlichen Fest (fraudenspil; V. 402) kommt es in geselliger Runde (ze sagen manig tagalt; V. 417) zum Austausch von denkwürdigen Geschichten (aubentür ward vil gesait; V. 413), zu der auch der junge Ritter in Anwesenheit seines Freundes seine Baumgartenaffaire beiträgt (guot aubentür mich anstieß; V. 432). In einer langen Erzählung (52 Verse) wiederholt sich für den Leser noch einmal die vorausgehende Episode, so daß auch hier das Märe seinen eigenen Inhalt narrativ spiegelt. Aventiure ist hier nicht Minnespiel oder Turnier, sondern Erzählung einer außerordentlichen Geschichte. Wieder ist in der Binnenerzählung der Handlungsverlauf komprimiert zur schwankhaften Szene, die eine Reflexion auf die Bedingungen von Erzählen insgesamt erlaubt. Die Bedingungen haben sich indes gegenüber der klassischen Situation (z. B. Artusroman) gewandelt: statt vor dem Hof findet das Erzählen im Wirtshaus statt, statt auf ritterlich vorbildliche Taten bezieht es sich auf eine komische Affaire (tagalt). Was aber die Rezeptionserwartungen des Wirtshauspublikums erfüllt, gerät unter den Bedingungen des aventiure-Rahmens zur Unehre. Wie in der Rache des Ehemannes kippt die Erzählsituation der Binnenerzählung, indem zwei entgegengesetzte Rezeptionsweisen miteinander verbunden werden: die öffentlich unterhaltsame der Gruppe und die privat betroffene des alten Ritters. Analog zur aventiure (Baumgarten, Turnier) wird auch das Erzählen von ihr gebrochen. Im 58 Thematisiert werden hier außer dem eingewobenen Schwank Probleme der Übernachtung, Wegzehrung und der Einkehr.
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geselligen Kreis realisiert sich offenbar ein Erzählen fern von didaktischen Ansprüchen und frei von etwaigen Prestigerücksichten, steht doch die Erzählung des Ritters für alles andere als für ritterliche Ehre. Hier im privaten geselligen Rahmen scheint die Exempelfunktion zugunsten der Komik suspendiert. Der nunmehr aufgeklärte alte Ritter lädt schließlich den jungen auf sein Schloß ein. Wie das ganze Märe eine Kontrafaktur typischer Verhaltensmuster des höfischen Romans darstellt, so insbesondere die große Empfangsszene am Ende. Sie folgt dem herkömmlichen Muster und fungiert angesichts der bereits erfolgten Aufklärung als retardierendes Moment. 59 In ihrer Ausführlichkeit ist die Empfangsszene zugleich nachdrücklicher Beweis für die Ehrhaftigkeit des Gastes. Als Gegenbild zur Baumgartenszene (nachts, Ehebruch) zeichnet der Empfang die offizielle Seite höfischer Lebensform. Seine Spannung erfährt er vor dem Hintergrund einer erwarteten Rachehandlung. 60 In der Folge spitzt sich die Notlage des Ritters zu, der die veste wiedererkennt und kommendes Unheil befürchtet. Nach Empfang und folgender Übernachtung kommt es zur erneuten Begegnung der ‚Ehebrecher‘, bei der der Ritter von der Frau beim gemeinsamen Brettspiel (so süllen wir / mit dem pretspil kürzweil haun; V. 604f.) an dem Ring wiedererkannt wird. Das höfische Spiel, das in der Regel als Zeichen entstehender Liebe fungiert und die Liebenden einander näher bringt (si sassen zesamen do / und spilten in dem pret also; V. 607f.), ist hier ironisch plaziert: es folgt auf den Ehebruch und wird zum Ort einer peinlichen Erinnerung. Erneut wird das Brettspiel, bei dem es sich zwar nicht explizit, aber angesichts der späteren Lösung wahrscheinlich um ein Würfelspiel handelt, zu einer metaphorischen Reinszenierung des Ehebruchs. Doch wieder bildet das Schema nur den Hintergrund für die veränderte Situation. Das klassische Spiel (Schach, Mühle) des Liebespaares im höfischen Roman verschiebt sich zum metaphorischen (Würfel-) Spiel der einander kaum bekannten und dennoch ehebrecherischen Personen. 61 Nach reicher Beköstigung ordnet und löst der alte Ritter die komplizierte Situation, indem er mit Hilfe des Würfelspiels die finanziellen Verhältnisse, die sich aus dem Beischlaf ergeben haben, zu gleichen Teilen regelt. Das Spiel dient hier zum Abschluß der Geschichte als metaphorisches Lösungsinstrument, indem es die Situation des Minnespiels illustriert: ‚es ist recht ob allem spil, wer die würfel legen wil, der hat seinen tail da zwar.
59 Die Heimkehr mit dem Gast folgt den bekannten höfischen Empfangsszenen: Vorausschicken der Boten, Vorbereitungen, Entgegenreiten, gemeinsames Einreiten, Entwaffnung, Mahlzeit etc. 60 Haug (Anm. 4), S. 24. 61 Vgl. Eilhart von Oberge: Tristrant, V. 6355–6374 (Mühlespiel zwischen Tinas und Isalde); Prosalanzelot (Schachspiel).
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer wer das pret dann leihet dar, seinen tail der haben sol. wer dann darzuo lüchtet wol, dem sol man in das liecht geben. […] […] er sprach: ‚nun nement hin in die würfel den gewin, die ir gesprengt habt in das pret.‘ den andern tail der wirt het der frawen auch gepotten dar. er sprach zuo ir: ‚fraw, nimm war, so nimm hin das rote gold! das sol auch wesen dein sold von deinem guoten spilpret, das du im hast dargelet, darin er kurzweil hat getriben. der tritte hauf ist mir beliben in das liecht davon ze lon, damit ich haun gelüchtet schon.‘ (V. 697–722)
Die Konfliktlösung auf die Motivation der beteiligten Figuren zu beziehen oder auf sozialhistorischer Grundlage gar eine neue Handlungsethik zu konstatieren, bringt die Geschichte um ihr Raffinement. 62 Die lange Explikation und die herausgehobene Inszenierung der Metapher markieren den Status des Spiels in Kaufringers Erzählung. Die Geschichte mündet in ein Spiel, das offenbar die Regeln der Lösung vorgibt und die Rollen der Beteiligten zu beschreiben hilft. 63 Brett, Würfel und Spiel fügen sich metaphorisch in den dargestellten Minnespielkontext. Während die Rollen der ‚Ehebrecher‘ mit Hilfe der Spielmetapher expliziert werden, wird die des betrogenen Ehemannes anders aufgewertet. Zwar ist dieser auch metaphorisch ‚aus dem Spiel‘, doch wird seine Rolle durch eine Verschiebung des Bildfeldes positiv besetzt. Innerhalb der metaphorischen Lösung wird der alte Ritter nun zum Komplizen eines Gewinnspiels, aus dem er seinen Anteil einfordert. Seine unfreiwillige Hilfestellung am heimlichen Ehebruch mit Hilfe der Lampe wird durch die Erklärung als ins Bild gesetzte sprichwörtliche Redewendung für dubiose Hilfsdienste (Das Licht zu etwas halten 64) erkennbar und wird umgedeutet zur Komplizenschaft an einer unrechtmäßigen Handlung. So löst sich der Konflikt über die Metaphorik in ein Spiel auf, das die drei Protagonisten zu gleichberechtigten Partnern macht und 62 Weder handelt der alte Ritter nach Maßgabe eines „pragmatischen Besitzstrebens“, vgl. Krohn (Anm. 8), S. 262, noch spiegeln sich in der Konfliktlösung veränderte städtische Rezeptionsvoraussetzungen, vgl. Ragotzky (Anm. 8), S. 120f. 63 Ragotzky (Anm. 8), S. 120. 64 Zur sprichwörtlichen Bedeutung von Leuchten (Er hat das Licht dazu gehalten) als Ausdruck für rechtswidrige Hilfe vgl. Karl Friedrich Wander: Deutsches Sprichwort-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Bd. 3. Leipzig 1873, Sp. 117, Nr. 184.
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dem alten Ritter erlaubt, die Rolle des betrogenen Ehemanns zu umgehen. Die Metapher bietet Lösungsoptionen, die vom zugrunde liegenden moralischen Konflikt gänzlich absehen. Gegenüber der materiellen Lösung des Konflikts erfolgt die moralische nun weniger aus der Spielmetaphorik heraus als aufgrund von Standessolidarität. 65 Erst auf die Ermahnung des jungen Ritters hin, den Appell an die Standessolidarität, verzeiht der Gastgeber seiner Frau. Der friedliche Ausgleich, der durch die ‚Komplizenschaft‘ der Spiellösung vorbereitet ist, irritiert angesichts der erzählerisch aufgebauten Racheerwartung. Walter Haug hat sie entsprechend als von außen kommend beschrieben, die die Logik der ‚sinnfreien‘ Kurzerzählung nachträglich mit Sinn auflade. 66 Offenbar genügt die ‚spielerische‘ Lösung des Konflikts nicht. Wie im ersten Märe wird an die Spiellösung eine solche angefügt, die auf sozialen Verpflichtungen aufruht. Vor allem aber ist dadurch die Differenz beider Lösungsformen markiert. Beide Mären spielen zwar fiktive Lösungen eines Ehekonflikts durch, doch nicht ohne diese letztlich in sozialen Konfliktlösungsmodellen aufzufangen. Die abschließende Lösung des Konflikts mit Hilfe der Brettspielmetapher läßt noch einmal den Aspekt des Spielerischen insgesamt hervortreten. Kaufringers Märe entfaltet einen ganzen Spielhorizont: Aventiure als Spiel (schimpf und ernst = Turnier; V. 91, 361), Fest (fraudenspil), Minnespiel, geselliges Unterhaltungsspiel im Wirtshaus und Brettspiel mit der Frau finden im metaphorischen Würfelspiel ihren Fluchtpunkt. Die verschiedenen Formen adeliger Statusrepräsentation, von der aventiure als Unterhaltung, dem Turnier, dem Frauendienst, der Jagd und dem Brettspiel werden gebündelt und mit dem Spiel der Darstellungsmittel kombiniert. 67 Und dennoch restituieren Kaufringers Mären nach einer Phase der Unordnung die Ordnung, die aus den Fugen geratene private Welt. In der Rache des Ehemannes auf öffentlich-rechtliche Art, im Zurückgegebenen Minnelohn auf private. Von Fall zu Fall, je nach Situation, stellen sich andere Lösungen ein. Der Erzählverlauf selbst, das zeigen die Beschreibungen der bildlichen Ausdrucksmittel, der Motive und Requisiten, der verarbeiteten literarischen Muster, ist in weitem Umfang durch einen Bezug auf das literarische System und seine Darstellungsmittel bedingt.
65 Ziegeler (Anm. 3), S. 309f. 66 Im friedlichen Schluß verleugne die Kurzerzählung sich selbst, setze sie „willkürlich sinnstiftende Schlußmotive in ihre an sich sinnverneinende Erzählstrategie“ ein. Haug (Anm. 4), S. 24f. Beide Mären Kaufringers lassen sich aber nur eingeschränkt als Replik-Erzählung auffassen. Jenseits der Handlungsreplik werden zahlreiche andere, auch darstellungstechnische Größen gegeneinander ausgespielt. 67 Auch die Jagd des Hausherrn, auf die nur kurz verwiesen wird (V. 589–594), verzichtet nicht auf die Markierung des Unterhaltungscharakters: der kurzweil sie nicht verdroß (V. 594).
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Spiel und Fiktionalität Kaufringers Mären bieten aufgrund ihrer Verbindung von Spiel und Fiktionalität Gelegenheit, sie mit Hilfe von Wolfgang Isers Fiktionalitätstheorie zu beschreiben, die auf der Basis von Spieltheorien die Fiktionalitätsthematik anthropologisch zu fundieren sucht. 68 Isers Theorie ist zwar für die komplizierten Textbewegungen (post)moderner Literatur konzipiert, sie erlaubt dennoch, die besonderen Aspekte der beiden Mären gegenüber einem Erzählen älteren Typs zu profilieren. Der Spielbegriff ist bei Iser gewiß umfassender entworfen und bezieht sich gar nicht auf das Vorkommen von Spielen bzw. Spielfaktoren im Text. Dennoch kann ihr Auftreten Signalcharakter besitzen. Beide Mären thematisieren den Spielfaktor, indem sie die Differenz von Spiel und Realität, von freiem und instrumentellem Spiel in Szene setzen: Metaphernspiel mit Körperteilen versus Exempel/Rechtskasus im ersten, Spiel mit Gattungsmustern und einem Konfliktlösungsmodell (Brettspielmetapher) versus Akzentuierung von sozialen Bedingungen (Geld, Freundschaft) im zweiten Fall. Beide Ebenen bleiben aber noch aneinander gebunden und werden gerade in ihrer Gegenläufigkeit signifikant. Das freie Spiel hat sich nur partiell von seiner Referenzwelt (instrumentelles Spiel) emanzipiert. Die Spielelemente, -phasen, -lösungen suspendieren nur vorübergehend die sozialen Regeln und werden immer wieder an die Normen der Referenzwelt rückgebunden. Die subversive Wirkung von Gewalt, Komik und Heimlichkeit bedarf letztlich der Korrektur durch die Ordnungsraster der sozialen Welt (Recht, Freundschaft, Öffentlichkeit). Mären wie diejenigen Kaufringers bilden Wirklichkeit nicht ab, sie operieren mit Elementen der Wirklichkeit, mit nur ‚gedachten Ordnungen‘ (sozialen Stereotypen, literarischen Verhaltensmustern) und mit verschiedenen Schemata der Realitätsan 68 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. Main 21993, S. 426–480. Iser faßt das Spiel als anthropologische Dimension auf, die gestatte, Wirklichkeit in doppelter Hinsicht zu überschreiten: als Nachahmung (instrumentelles Spiel) dienen Spielschemata (z. B. Puppenspiel) der Anpassung an die Realität (Piaget); als Symbolisierung, die in jedem Spiel potentiell angelegt ist, überschreite das Spiel den Realitätsbezug im Sinne einer freien Verfügung über die ritualisierten Schemata (freies Spiel). Zentral ist, daß das Spiel nie gänzlich auf etwas außer ihm liegendes zurückgeführt werden kann (Initiation, Training, Sozialisation), sondern immer zugleich Überschreitungsoptionen bietet. Die Selbstreferenz ist wesentlicher Bestandteil von Spiel. Damit besitzt das Spiel nicht nur anthropologischen Wert, es enthält zudem die gleichen Spezifika wie die Fiktion. Auch sie ist ein Instrument der Aneignung von Realität durch Distanzierung und schafft ein eigenes „Vorstellungsterritorium“, das es mittels Imagination zu formen gilt. Die Möglichkeit der Sprache (Literatur), Realität nicht nur verfügbar zu machen (Bezeichnungsfunktion), sondern mittels des gespalteten Signifikanten zu transzendieren (Selbstreferenz) und zugleich jenseits des konventionsstabilisierten Codes Vorstellungsräume für das [noch] Unverfügbare zu entwerfen, weist ihr eine dem Spiel analoge anthropologische Dimension zu. Durch den fiktionalisierten Signifikanten rückt das Verhältnis Sprache – Welt unter Spielbedingungen.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
eignung (Minne, Ehe, Turnier, Recht, aventiure). Dient das Spielschema nach Iser als Instrument der Anpassung und als deren Transzendierung zugleich, so wären die Schemata der Mären auf ihr Überschreitungspotential hin zu befragen. 69 Weniger auf der Ebene der Handlung als auf der der Darstellung, der Metaphorik und der Komposition nutzt Kaufringer die Suspendierung von Wahrscheinlichkeit zugunsten einer Freiheit des Spiels, wie sie erst spätere fiktionale Literatur wieder besitzen wird. In der Rache des Ehemannes wird die schon zu Beginn entworfene „verkehrte Welt“ zum Zeichen. Das, was erzählt wird, differiert vom Normalcode und signalisiert diese Differenz zugleich (Besetzung der Rollen). Die Kontrafaktur konventionalisierter sozialer Handlungsmuster (Minne, Ehe) läßt sich als Spielanzeige begreifen, die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern durch das Spielschema soziale Werte einfordert. 70 Im Schema ist die konventionsstabilisierte Verwendung von Zeichen (Ehenorm) zugunsten von Spielmöglichkeiten suspendiert. Zwar dient die spielerische Verkehrung der Stabilisierung von Normen (instrumentelles Spiel). Zugleich bietet sie aber als Fiktionssignal Spielräume für Variationen. Der normale Ehebruchschwank wird nun zusätzlich mit Spielelementen (Würfel, Beutel, Brettspiel) angereichert, deren Metaphorik Teile der Erzählung organisiert. Im Zurückgegebenen Minnelohn umgekehrt: In den ‚Spielraum‘, den der Text mit der eingangs geschilderten Aventiuresituation vorgibt, werden Determinanten der Realsphäre (Geld) und einer weiteren Spielwelt (Ehebruchschwank) eingespeist. In doppelter Hinsicht unterläuft Kaufringer damit das Muster des Aventiureromans: in bezug auf die Referenz (Geld) und in bezug auf den karikierten Frauendienst. Ritterliche Existenz, das machen die beiden Pole deutlich, wird materiell und ideell ‚eingeklammert‘. Demgegenüber löst sich der Konflikt um den eingeschobenen Ehebruch in einer fingierten Spiellösung auf. Damit unterscheidet sich das Erzählen Kaufringers vom Erzählen im „gattungsfreien“ Raum, wie es Walter Haug in seinem Entwurf zu einer Theorie der Kurzerzählung für die Replikerzählungen vorgeschlagen hat. 71 Gewiß: Wesentliche subversive Faktoren des Erzählens (Zufall, Gewalt, Lust, Intellekt), die nach Haug Sinnvorgaben vorab suspendieren, walten auch in den beiden vorgestellten Mären. Sie nutzen dadurch Freiheiten der Subversion, die normativem Erzählen in dieser Form nicht zur Verfügung stehen. Aber auch wenn der Sinnentwurf des neuen Romans im Hintergrund konstitutiv für ein Erzählen ist, das „programmatisch [...] auf jede prägnante Sinnvorgabe“ zu verzichten scheint, so erschöpft sich dessen Leistung keinesfalls im „Protest gegen jede Art erzählerischer Sinnbildung“. 72 Kaufringers
69 Iser (Anm. 68), S. 437ff. 70 Iser (Anm. 68), S. 426–450. 71 Haug (Anm. 4), S. 1–36. 72 Haug (Anm. 4), S. 7.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer Erzählen etwa verläuft nicht nur in einem selbstgenügsamen replikgesteuerten Rahmen. Die Spielelemente und Oppositionen besitzen eine Aussage und Funktion innerhalb der Darstellung. Sie setzen eine Reflexion auf Inhalt und Form von Erzählen frei, die nicht mehr von den Sinnvorgaben, wie sie auf der Handlungsebene entworfen werden, allein reguliert werden. Indem Iser anthropologische Spielmodi zugleich auf die Möglichkeiten von Sprach- (und Text-) Spielen überträgt, gewinnt er ein Arsenal an Spielformen (agon, alea, mimikry, illynx), mit deren Hilfe sich Textbewegungen beschreiben lassen. Texte sind demnach gekennzeichnet durch verschiedene Spielmodalitäten. Agonal als Konfliktstrategie (Oppositionen), die entweder zu einem Ergebnis (Sieg, Synthese) kommt oder offengehalten wird. Aleatorische Faktoren betreffen gerade nicht berechenbare Größen, ein sich Überlassen an den Zufall. Mimikry bezeichnet jede Form von illusionärer Nachahmung, während illynx speziell rauschhafte Spiele meint: Subversion, Karnevalisierung. Während agon und alea auf ein Ergebnis ausgerichtet sind, so mimikry und illynx auf Unendlichkeit. Ist Agon vor allem die Grundstruktur einfacher Erzählungen (Exempel), so zeichnen sich komplexere nach Iser durch die kalkulierte Überlagerung der verschiedenen Spielmodi aus. Agonal verhalten sich in der Rache des Ehemannes und im Zurückgegebenen Minnelohn in typischer Schwanklogik zunächst die Protagonisten zueinander, wobei Oppositionen auf verschiedenen sozialen Ebenen (ständisch: Ritter–Pfaffe; Ehe: Mann–Frau; Freundschaft: Ehemann–Geselle) errichtet werden. Was auf der Handlungsebene in beiden Mären ausgespielt wird – der Konflikt kommt zum Ergebnis, bzw. zur Synthese – verkompliziert sich im Zurückgegebenen Minnelohn auf übergeordneten Textebenen. Hier sind auch Wertebenen (Ehre–Geld; Ehre–Schande), Handlungsräume (privat–öffentlich; aventiure–Turnier), Handlungsoptionen (milte–Geiz; Gewalt–Frieden) und psychische Dispositionen (Freude–Leid; Disziplin– Affekt) bis in die Szenenregie, die Versabfolge und z. T. in die Versgestaltung (z. B. der zu schimpf und ernst reit, V. 91; der kurzweil sie nicht verdroß; V. 594) in Opposition zueinander angelegt. 73 Das agonale Prinzip prägt auf verschiedenen Ebenen die Darstellung und vermag sich jenseits der Handlungsebene zu verkomplizieren, wobei nicht mehr ausgemacht ist, zu wessen Gunsten die Entscheidung fällt. Die Offenheit der Entscheidung und die Vervielfältigung agonaler Ebenen unterscheiden die Mären Kaufringers sowohl von den typisierten und linearen Exempeln wie auch von den replikgesteuerten Kurzerzählungen. Zudem spielt Kaufringer Erzählmuster und deren Handlungsschemata gegeneinander aus. Konfrontiert er im ersten Fall narrativen Überschuß (Metaphorik) und funktionale Darstellung (Exempel/Kasus), so im zweiten in einer Art Doppelsinnstruktur Aventiureroman und Ehebruchschwank, die sich wechselseitig unterlaufen. In der Regel sind die Positionen in diesen Gattungen fest verteilt. Tendieren 73 Kurzweil und Ernst sind geradezu die Pole, zwischen denen die Handlung hin- und herpendelt.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer
Ehebruchschwank und Aventiureschema zum Ergebnis (Unehre/Ehre), so produziert ihr gegeneinander Ausspielen wie im Zurückgegebenen Minnelohn eine Spannung, die bis in die Spiellösung hinein aufrechterhalten wird. 74 Auch das Promythion evoziert eine Rezeptionshaltung, auf die ein Großteil der Erzählung nicht beziehbar ist. Das ist keineswegs als eine unbeholfene nachträgliche Moralisierung aufzufassen. Vielmehr gehört schon diese Irritation zur Strategie der Abbiegung, der das ganze Märe folgt. Und auch die Figurenentwürfe werden komplexer: So sind die Rollen des alten Ritters, der nacheinander Ehemann, Geselle und Wirt ist, Ergebnis der Überschneidung von Erzählmustern. Diese lösen zum einen die Typik der exemplarischen Figur auf, ohne daß sie dadurch schon zum ‚problematischen‘ Charakter wird, und ermöglichen zum anderen durch Register (Rollen-)Wechsel die unvermutete Lösung. 75 Gegenüber den typisierten Figuren im ersten Märe sind die des zweiten schon nicht mehr so einfach greifbar. In das agonale Spiel von Personen, Werten, Räumen, Handlungsoptionen, Erzählformen und Bildern d. h. in den sichtbaren Konflikt, schießt Aleatorisches (aventiure / Gott/Glück, Würfel/Brettspiel) ein. Der Zufall der aventiure wird ebenso beschworen (guot abentiur mich anstieß; V. 432 bzw. ob dir von got ist beschert / das dir gelück widerfert; V. 75f.), wie das Brettspiel der Handlung jeweils eine unvermutete Wendung gibt. In beiden Mären dienen nicht zufällig Würfelspiele als Umschlagpunkt der Handlung bzw. als metaphorisches Lösungsinstrument. Würfel (alea) und Brett bilden nicht nur Metaphern für den Ehebruch und Signale für eine metaphorische Darstellung, sie markieren zugleich den Kontingenzfaktor innerhalb des agonalen Spiels der aventiure. Und auch dies dient der Verkomplizierung der literarischen Strategien, deren agonales Muster mit zusätzlichen Bedingungen angereichert wird. 76 Subversiv-karnevalistisch (illynx) schließlich unterlaufen Geld und Komik die agonalen und aleatorischen Positionen. Das ritterliche Ethos der Bewährung in der aventiure wie im Frauendienst, das durch Leistung eingefordert wird, wird durch die materielle helfe-Tat des alten Ritters ebenso erst möglich, wie es durch die ‚Baumgartenszene‘ in Frage gestellt wird.
74 Zwar kommt der Ehebruch ans Licht, doch wird er nicht gerächt, sondern im Aventiurerahmen aufgelöst; zwar erwirbt der Ritter öffentlich Ehre, doch zeigt sich privat ein anderes Bild. 75 Vgl. Ragotzky (Anm. 8), S. 116f. zum Rollenwechsel Ritter – Wirt im Bürgermeister und Königssohn, der die friedliche Lösung ermöglicht. Zum ‚problematischen‘ Charakter vgl. Neuschäfer (Anm. 3), S. 12–32. 76 Haug und Iser thematisieren ähnliche Faktoren, die im Text strukturierend wirken: Zufall (alea), Gewalt, Lust (agon), subversiver Intellekt (illynx). Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Bewertung. Während Haug sie als Faktoren eines sinnuntergrabenden Erzählens interpretiert, sind sie für Iser Faktoren, die der Verkomplizierung fiktionaler Textbewegungen dienen.
Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer Wenn man schließlich anerkennt, daß Kaufringers Mären Konfliktlösungsmodelle durchspielen, sowohl innerhalb einzelner Mären (Suche nach dem glücklichen Ehepaar), vor allem aber im Verhältnis der einzelnen Mären zueinander, dann bestätigt sich die These Isers vom „Überspielen von Finalität durch Endlosigkeit“, die als Signatur für komplexes Erzählen fungiert. Das Spiel der Bezugsebenen ist prinzipiell unendlich und findet sein Ende lediglich in der Grenze des Textes. Der Ehebruchschwank liefert bereits eine Struktur für unendliche narrative Realisierungen von sozialen Normen. Sobald der feste Bezugsrahmen – Norm – aufgelöst ist, gibt es nicht nur unendliche Geschichten für immer die gleiche Lehre, sondern unendliche Geschichten für ganz verschiedene Lösungen. Kaufringers Ehebruchschwänke lassen sich demnach als offene Textspiele um das Thema Ehebruch verstehen.
Trieb und Ökonomie Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
Methodische Zugänge zur ‚Märendichtung‘ Die mittelalterliche Kurzerzählung ist seit Hanns Fischers Arbeiten ein fest etablierter Gegenstand mediävistischer Forschung. 1 In Bezug auf seine methodische Erschließung gehen indes die Ansichten auseinander. Nicht in ihrer Textbezogenheit unterscheiden sich die Ansätze, wohl aber im Grad der Kontextualisierung ihres Gegenstandes. Naturgemäß beschäftigten anfangs gattungsbezogene Fragen die Forschung: Zum einen wird die von Fischer markierte Differenz zur Novelle schlichtweg geleugnet und werden Zeugen novellistischen Erzählens bereits im Mittelalter gesucht (Heinzle); zweitens wird aus narratologischer Perspektive Fischers Klassifikation einer ‚rettenden Kritik‘ unterzogen und modifiziert (Ziegeler); drittens wird der Versuch unternommen, unter philologischer Aufarbeitung der Überlieferungszeugen eine historische Gattungspoetik zu erstellen (Grubmüller); viertens wird die evidente Variationstechnik, die den Erzählvorgang kennzeichnet, als ein „Erzählen im gattungsfreien Raum“ qualifiziert (Haug). 2 Die verschiedenen Positionen geben wissenschaftsgeschichtlich Aufschluss über methodische Alternativen innerhalb des Forschungsfeldes. Trotz ganz unterschiedlicher Argumentation aber ist man sich offenbar einig, dass es eine eigenständige Gattung ‚Märe‘ nicht gibt. Entsprechend werden alternative Benennungen – ‚Novellistik‘, ‚Erzählform Märe‘, ‚Kurzerzählung‘ – vorgeschlagen, um den klassifizierenden Gattungsansatz zu umgehen und Phänomene der Überlieferung und der literarischen Evolution in
1 Hanns Fischer: Studien zur mittelalterlichen Märendichtung. Tübingen 1968. 2 Joachim Heinzle: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik (1978). In: Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters. Hrsg. von Karl-Heinz Schirmer. Darmstadt 1983 (WdF. 558), S. 91–110; ders.: Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Wolfram-Studien 5 (1979), S. 41–62; Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 (MTU. 87); Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hrsg. von Nigel F. Palmer, HansJoachim Schiewer. Tübingen 1999, S. 193–210, bes. S. 201–204; ders.: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea. 8), S. 37–54; Walter Haug: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Ebd., S. 1–36, hier S. 6. https://doi.org/10.1515/9783110772340-010
Trieb und Ökonomie den Blick nehmen zu können. Man könnte sagen, der Versuch, das Märe als Gattung zu fassen, mündet letztlich in seiner Auflösung. Für überlieferungsgeschichtliche, gattungstheoretische und narratologische Perspektiven bilden Textreihen den primären Bezugspunkt der Analyse. Während erstere konkrete Filiationen rekonstruiert, so dass Kontinuitäten und Differenzen der jeweiligen Rezeptionsprozesse sichtbar werden, ist Gattungstheorie vornehmlich auf klassifikatorischen Textvergleich ausgerichtet. Die strukturalistische Narrativik schließlich operiert funktional und unterstellt einen eigenständigen Sinngehalt von Erzählstrukturen und Gattungsmustern. Sinn konstituiert sich hier nicht erst durch individuelle Rezeption und bewusste Variation überlieferter Themen, sondern bereits durch die Erzählstruktur selbst, die als Symbolstruktur gefasst und konstitutiv für Gattungen angesehen wird. 3 Wo eine solche Symbolstruktur nicht nachgewiesen werden kann, wird ein Erzählen im gattungsfreien Raum postuliert, eine spezifische Konfrontation mit dem Sinnlosen. Index für Sinnlosigkeit sind dann die Bedrohungsinstanzen einer wohl geordneten Gesellschaft: Kontingenz, Gewalt und Trieb, d. h. privilegierte Themenfelder der Kurzerzählung. 4 Erzählen aber, das hat nicht nur die pragmatische Erzähltheorie herausgearbeitet, ist immer schon auf einen Sinn hin ausgerichtet. 5 Sinnhaftigkeit ist geradezu die funktionale Bedingung von Narration. 6 Klaus Grubmüller perspektiviert denn auch seine historische Gattungspoetik primär von der exemplarischen Funktion her. Mären sind ihm Veranschaulichungen von Lehrhaftem, das nach didaktischen Mustern klassifiziert werden kann. Die narrativ entfalteten Lehren lassen sich qua Abstraktion auf verschiedene Modelle reduzieren: z. B. auf das Sprichwort als Index eines allgemeinen Erfahrungswissens oder
3 Innerhalb der Mediävistik hat hier vor allem die Form des Doppelwegs Karriere gemacht. Zusammenfassend: Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 45 (1971), S. 668–705. 4 Vgl. Haug (Anm. 2), S. 7. Haug gewinnt seinen Maßstab für die Analyse der mittelalterlichen Kurzerzählung aus der Symbolstruktur des klassischen Artusromans. Dass er die gestörte Ehe des Ehebruchschwanks als Beleg für die Sinnlosigkeit anführt, offenbart, dass er nicht von der historischen Form der Ehe, vielmehr von der Fiktion der arthurischen ‚Liebesehe‘ aus auf die Kurzerzählungen blickt. 5 Zum grundsätzlichen Verhältnis von Erzählen und Sinnkonstitution vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347–375; ders.: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Theorie der Geschichte. 3), S. 85–118. 6 Vgl. Stierle: Erfahrung (Anm. 5), S. 90 u. 94f., ferner S. 95: „Jede Geschichte hat Sinn vermittels ihrer eigenen konzeptuellen Organisation und zugleich jener Momente, die über die narrative Immanenz hinausweisen.“
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
auf die Normen einer christlichen Sündenlehre, schließlich auf eine vermeintliche Naturordnung. Dort aber, wo die exemplarische Funktion überschritten wird, setzt Grubmüller eine Art Eigenzwecklichkeit der literarischen „Stringenz“ an. So handelt es sich dann um Geschichten, deren generatives Modell nicht mehr greifbar ist, um Erzählungen, aus denen eben nichts mehr zu lernen ist. Resultat ist eine Negativdiagnose gerade in den Fällen, in denen ein Bezug zur exemplarischen Tradition verblasst oder gar fehlt. Die Funktion der Erzählung erschöpfe sich etwa im Witz, in einem selbstgenügsamen replikorientierten Erzählen: in „einem intellektuellen Spaß“. 7 Grubmüllers historische Gattungspoetik tritt sichtbar gegen Haugs Theorieentwurf an, indem sie einerseits von den konkreten Überlieferungszeugen ausgeht und jeden einzelnen Fall als besonderen analysiert, andererseits im Exemplarischen die zentrale Funktion der Gattung festmacht. Bei aller Gegensätzlichkeit des Verfahrens besitzen Grubmüllers und Haugs Ansätze auch gemeinsame methodische Implikationen: Sie gehen zum einen von der Binnenlogik der Geschichten aus und blenden den spezifisch kulturellen Kontext aus, der allenfalls als allgemeines Normensystem (christliche Funktion, Erfahrungswissen) in Anschlag gebracht wird: „der Erzählstrategie der Texte zu folgen und nicht im Nicht-Erzählten den Sinn zu suchen“ bzw. das „autonom-narrative Potential“ zur Grundlage der Analyse zu machen, das ist bei aller markierten Differenz der gemeinsame Ausgangspunkt beider Ansätze. 8 Damit wird aber geradezu ausgeblendet, worauf es einer kontextorientierten Perspektive ankommt: der sozialhistorische bzw. kulturelle Horizont des Erzählvorgangs selbst. Zum anderen akzentuieren beide Ansätze das Verhältnis von prodesse und delectare weitgehend alternativ und setzen damit implizit eine Trennung von Exempelfunktion und literarischem Anspruch voraus. So legen sie zwar von entgegengesetzten Standpunkten aus die paradoxe Struktur der Kurzerzählung offen, ohne indes die Pole zu vermitteln. Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz bietet dagegen die Chance, die Kontextbezüge von Texten selbst zum Thema zu machen, indem er die Komplexität des kulturellen Zusammenhangs zu fassen sucht, in dem Texte entstehen und rezipiert werden. Die narrative Struktur eines Textes ist stets vermittelt mit einer „narrativen Perspektivik, die die herausgehobene Geschichte auf den unabschließbaren Kontext ihrer vorauszusetzenden Welt bezieht“. 9 Erzählen entsteht generell unter kompli-
7 Klaus Grubmüller: Der Tor und der Tod. Anmerkungen zur Gewalt in der Märendichung. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten, Frank Shaw. Tübingen 1996, S. 340–347, hier S. 343, 344 u. 346. 8 Ebd., S. 346; Haug (Anm. 2), S. 9. 9 Stierle: Erfahrung (Anm. 5), S. 94f.
Trieb und Ökonomie zierten kulturellen Bedingungen, die die Texte selbst nur z. T. reflektieren. 10 Die Kohärenz des narrativen Zusammenhangs kann sich je nach Komplexität zugleich aus ganz unterschiedlichen Kontexten aufbauen. Der Begriff Kontext bezieht sich auf produktionsästhetische Verfahren (Rhetorik, Poetik), auf das jeweilige literarische System mit seinem Formenrepertoire (Gattungsmuster), auf epochenspezifische Wahrnehmungsbedingungen (historische Semantik, Mentalitäten, Zeichenordnungen etc.) und auf pragmatische Funktionszusammenhänge (soziale Ordnungen, Diskurse). Die mittelalterliche Kurzerzählung ist nicht nur in Gattungskontexten zu verorten, sondern in komplexeren Rahmenbedingungen, die Form und Funktion des Erzählens beeinflussen. Der Begriff des Kontextes nimmt dabei ganz unterschiedliche Bedeutungen an, konfiguriert sich jeweils anders. An der Diskussion über den historischen Rang des Decameron lässt sich ablesen, dass die theoretischen Versuche der Romanistik, Epochenkriterien zu entwickeln, vor allem das Problem der Kontextualisierung und seiner Reichweite betreffen. Am Decameron ließ sich zunächst rein gattungsgeschichtlich eindrucksvoll der Übergang vom Exempel zur Novelle darstellen, indem die Spezifik des Erzählvorgangs vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Vorlagen untersucht wurde. Als zentrales Kennzeichen der neuen Novellistik wurde eine neue Komplexität der Figurengestaltung und Handlungsführung beschrieben, die sich deutlich von der Linearität des Exempels unterschied. 11 In einem weiteren Schritt wurde die Novellensammlung in eine pragmatische Perspektive gerückt, die sie von der Erzählsituation aus in den Blick nahm. Von hier aus erkannte man nunmehr eine grundlegende Veränderung der mittelalterlichen Geschichts- und Erzählkonzeption, worunter weniger die Emanzipation der Erzählung aus metaphysischen Bindungen verstanden wurde als die bewusste Problematisierung der exemplarischen Handlungsmuster: vom Appell zur imitatio hin zur distanzierten Beurteilung eines gegebenen
10 Vgl. Jan-Dirk Müller: Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hrsg. von Martin Huber, Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 461–481, hier S. 464. Zur Diskussion vgl. Walter Haug: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: DVjs 73 (1999), S. 69–93; Gerhart von Graevenitz: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung. In: Ebd., S. 94–121; Das Mittelalter 5,1 (2000) (= Hans-Werner Goetz [Hrsg.]: Mediävistik als Kulturwissenschaft?); Claudia Benthien Hans Rudolf Velten (Hrsg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg 2002; Ursula Peters: Text und Kontext: Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie (2000). Wieder in: Dies.: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000. Hrsg. von Susanne Bürkle, Lorenz Deutsch, Timo Reuvekamp-Felber. Tübingen/Basel 2004, S. 301–334. 11 Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 8). Zur Kritik vgl. Heinzle: Boccaccio (Anm. 2), S. 41–62.
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
Falls. 12 Diskursanalytisch reformuliert wurde der Befund dann zur These erweitert, das Decameron sei historischer Index für die Ausbildung einer neuen pragmatischen Erzählsituation: einer „Vollzugsform von Geselligkeit“. 13 Ein weiter dimensionierter Diskursbegriff sieht Boccaccios Neuerung nicht in der spezifischen Form seines Erzählverfahrens begründet, sondern in der Kombination seiner Novellen, die nicht mehr auf eine homogene Aussage zulaufen. Zentral sei die Art, wie sie die analogische Episteme des Mittelalters entwerten und einer neuen Renaissanceepisteme verpflichtet seien. 14 Schließlich wird in einer hermeneutischen Konzeption von Epochenwechsel die Innovation Boccaccios mit Veränderungsprozessen innerhalb der spätscholastischen Philosophie relationiert. Innerhalb eines Diskurses, der Position der Moralphilosophie, der Leistungsfähigkeit der Rhetorik wie der spätscholastischen Philosophie vereint, nimmt Boccaccios Text eine originelle Position ein, indem er die Auflösung des scholastischen Moralsystems reflektiere. 15 Die Auseinandersetzung um Boccaccio macht deutlich, dass in der Epochendiskussion einfache Sortierungen nur schwer möglich sind, selbst Texte wie das Decameron immer im Spannungsfeld von Tradition und Innovation stehen. Doch bleibt es ein und derselbe Text, an dem auf unterschiedlichen Ebenen die Epochensignatur festgemacht wird. Bei allen Unterschieden im theoretischen Zugriff geht es stets um die Auflösung starrer Ordnungsformen. Die einzelnen Aufsätze ziehen immer weitere Kontextlinien um den Text, um seinem Verständnis im Horizont der zeitgenössischen Kultur näher zu kommen. Der diskursanalytische Ansatz, der sich vom direkten Nachweis der Rezeption entlastet, zieht dabei die größten Kreise. Dadurch werden etwa Homologien von rhetorischen Verfahren, Gattungsmustern, ethischen Diskussionen (z. B. Ehe-, Minne-, Freundschaftsdiskussionen) und allgemein philosophischen Theorien beschreibbar, die offenbaren, in welche Dimensionen Kontextbezüge ausgreifen können.
12 Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 357f. 13 Winfried Wehle: Novellenerzählen. Französische Renaissancenovellistik als Diskurs. München 1984, S. 12f. 14 Vgl. Joachim Küpper: Affichierte ‚Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios „Decameron“ und die Episteme der Renaissance. In: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst. Hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 1993 (Text und Kontext. 10), S. 47–93, hier S. 78f. 15 Vgl. Andreas Kablitz: Boccaccios „Decameron“ zwischen Archaik und Modernität. Überlegungen zur achten Novelle des zehnten Tages. In: Literaturhistorische Begegnungen. Fs. zum 60. Geburtstag von Bernhard König. Hrsg. von dems., Ulrich Schulz-Buschhaus. Tübingen 1993, S. 147– 181. Boccaccios Novelle vom integren Freund (Decameron X 8) erweise sich schon im Anschluss an das mittelalterliche Vorbild (Athis und Prophilias) als eine Inszenierung brillanter rhetorischer Argumentationstechniken, die nicht mehr in einem homogenen Ergebnis aufgehen. Freundschaftsund Minnediskurs werden auf komplizierteste Art miteinander verbunden, und es ist der Diskurs der moralischen Kontroversität der Zeit, an den sich die Gestaltung Boccaccios anbindet.
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Innerhalb der mediävistischen Märenforschung haben sich vor allem zwei Ansätze dezidiert kontextorientierten Verfahren gewidmet. Jan-Dirk Müller geht unter sozialgeschichtlicher Perspektive dem Zusammenhang von Erzählform und Realitätserfassung nach. Erzählformen basieren auf Handlungsschemata, und die sind eingelassen in einen „Kontext historischer Selbstverständlichkeiten“: „implizit vorausgesetztes Wissen, Ordnungen, Selbstverständlichkeiten einer historischen Lebenswelt“.16 An die Stelle eines moralischen oder rechtlichen Normensystems treten soziale Handlungsmuster und kulturelle Sinnkonstellationen: z. B. Vorstellung vom Geschlechterkampf, ein misogynes Bild der Frau, historische Auffassungen von Ehe, Verwandtschaft und sozialer Identität, nicht zuletzt religiöse Vorstellungen vom Leib-Seele-Verhältnis. Solche Kulturmuster liegen jenseits funktionaler Normensysteme, sie bilden eher Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses, die sich in den Erzählvorgang einnisten. Es handelt sich weitgehend um imaginäre, symbolische Ordnungen, die Orientierung in der zeitgenössischen Wirklichkeit leisten. Sie als eigenständige Organe der Sinnstiftung zu begreifen und als explizite oder implizite Faktoren des Erzählaufbaus zu beschreiben, darin liegt der Gewinn dieses Ansatzes. Müllers Verfahren lässt sich ohne weiteres als ein kulturwissenschaftliches bezeichnen, da es Texterklärung aus dem Horizont soziokultureller Konstellationen betreibt.17 Gegenüber dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansatz bietet Hans-Jürgen Bachorski einen Kontextualisierungsversuch, der auf das kritische Potential der Kurzerzählungen abhebt.18 Er verbindet Ansätze diskursgeschichtlicher Provenienz mit solchen, die dem besonderen Profil des Erzählens nachgehen. Diskursanalyse zielt hier anders als bei Wehrle nicht auf den historischen Zeitpunkt der Etablierung einer neuen Erzählform und ihrer Modalitäten, sondern auf eine sozialpolitische Problematik. Wie jede Literatur steht die Kurzerzählung in vorgegebenen Diskurs-
|| 16 Jan-Dirk Müller: Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den „Drei listigen Frauen“. In: Philologische Untersuchungen, gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Alfred Ebenbauer. Wien 1984 (Philologica Germanica. 7), S. 289–311, hier S. 290 u. 311, Anm. 44; vgl. ferner Jan-Dirk Müller: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.Konrads „Halber Birne“. In: JOWG 3 (1984/85), S. 281–311. 17 Vgl. Thomas Mergel: Kulturgeschichte – die neue große Erzählung? In: Kulturgeschichte heute. Hrsg. von Wolfgang Hartwig, Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1996, S. 41–77; Jan-Dirk Müller: Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46,4 (1999) (= Germanistik als Kulturwissenschaft), S. 574–585; Mark Chinca: The Body in Some Middle High German Mären: Taming and Maiming. In: Framing Medieval Bodies. Hrsg. von Sarah Kay, Miri Rubin. Manchester/New York 1994, S. 187–210. 18 Hans-Jürgen Bachorski: Das aggressive Geschlecht. Verlachte Männlichkeit in Mären aus dem 15. Jahrhundert. In: ZfG 7 (1998), S. 263–281; ders.: Ein Diskurs von Begehren und Versagen. Sexualität, Erotik und Obszönität in den Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts. In: Eros – Macht – Askese. Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in Kunst und Literatur. Hrsg. von Helga Sciurie, Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1996, S. 305–341.
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
zusammenhängen, unterliegt etwa historischen Vorstellungen von Geschlechteridentität, personaler Bindung, sozialer Machtverteilung und Wertehierarchie. Diskurs- und Genderperspektive zielen auf den Status des Körpers, auf seine zentrifugalen Energien und deren Disziplinierung. Vorausgesetzt wird eine anthropologisch fundierte Affektdynamik, die historisch jeweils unterschiedliche Modelle der Bewältigung nach sich zieht. Bachorski fokussiert seinen Ansatz auf die ordnungsstörenden Kräfte: Sexualität, Gewalt, Dummheit (‚Wahnsinn‘). Er interpretiert das „Diskursfeld Ehe“ aber nicht nur als politischen Ordnungsfaktor, als gezieltes Machtinstrument herrschender Institutionen, sondern im Anschluss an die Feldtheorie Bourdieus zugleich als komplexes „Kräfte-, Kampf- und Spielfeld“. 19 Der Diskurs über die Ehe erweist sich als ein Konfliktfeld, auf dem unterschiedlichste Positionen und Kräfte rivalisieren: die Darstellung des Menschen als Triebwesen, die Ehe als Ort der sozialen Kanalisierung von Triebenergie, aber auch schon Liebe als Instanz affektiver Bindung innerhalb und außerhalb der Ehe. Die Kurzerzählung stiftet einen Raum, in dem soziale Normierungsansprüche durchgespielt werden können.
Erzählen und Wiederholung Mittelalterliches Erzählen orientiert sich in großem Umfang an vorausgehenden Erzählungen. Es folgt aber nicht einfach fest umrissenen Traditionsreihen, sondern zugleich einer spezifisch historischen Auffassung von Literatur, der Erfindung und Neuerung suspekt, Wahrung der Tradition indes Verpflichtung und Variation Aufgabe zu sein scheint. Unter technisch-rhetorischer Perspektive ist dies geradezu als Prinzip mittelalterlichen Erzählens bestimmt worden. 20 Wiedererzählen bildet den Maßstab für eine Erzählhaltung, die einen vorgegebenen Stoff als Herausforderung für rhetorische variatio und Überbietung auffasst. 21 Identität der materia und Differenz der Formgebung kommen hier im gleichen Akt des Erzählens zum Ausdruck. Unter geschichtsphilosophischer Perspektive ist Wiederholung von weiterreichender Bedeutung. Für die exemplarische Geschichtsauffassung des Mittelalters ist ein solcher Horizont wiederholt beschrieben worden. Die antike Formel von der 19 Hans-Jürgen Bachorski: Diskursfeld Ehe. Schreibweisen und thematische Setzungen. In: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von dems. Trier 1991, S. 511–545, hier S. 513f. 20 Vgl. Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea. 16), S. 128–142. 21 „Das gesamte Tun des Dichters wird verstanden als Verfahren eines Artifex, der eine alte Materia neu formt“, konstatiert Worstbrock (ebd., S. 137) über die Anleitungen der Poetria Nova des Galfred von Vinsauf; vgl. ferner ders.: Dilatatio materiae. Zur Poetik des „Erec“ Hartmanns von Aue. In: FMSt 19 (1985), S. 1–29.
242 | Trieb und Ökonomie
Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens (historia magistra vitae) bezeichnet noch für das Mittelalter einen engen „Zusammenhang von Geschichte und Moralphilosophie“, der in Form und Funktion des Exempels seinen prägnantesten Ausdruck findet. „So benennt das Exemplum einen Zusammenhang von Situation und Ausgang der Situation, der als immer wiederkehrender von allgemeiner Bedeutung ist.“22 Darin liegt die Appellfunktion der Wiederholungsstruktur begründet. Geschichte wie auch das Erzählen von ihr konstituieren sich als Wiederholung exemplarisch oder typologisch vorgegebener Grundmuster. Einzelne Gattungen sind prägnanter Ausdruck solch kultureller und moralischer Gewissheiten. Fabel-, Legenden-, Exempelsammlungen wie die exemplarisch ausgerichtete mittelalterliche Chronistik legen von der Geltung der Wiederholungsstruktur eindrucksvoll Zeugnis ab. Das Arsenal ihrer Exempel produziert endlose Serien von Aussagen für ein konstantes Set von Wahrheiten. Die einzelnen Gattungen transportieren einen ihnen vorgelagerten Sinn der Geschichte.23 Der Akt des Wiedererzählens besitzt aber noch einen tieferen Gehalt. Wiedererzählen ist ganz allgemein Kennzeichen oraler Kulturen, essentielles Instrument zur Sicherung nicht nur ihres moralischen, sondern auch ihres kulturellen Gedächtnisses. Eine Vielzahl anonym überlieferter Kunstformen – Lieder, Epen, Spiele – zeugt von diesem Prozess kollektiver Gedächtnisleistung. Walter Benjamin hat ihn auf die Tradierung kultureller Erfahrungen bezogen. Der Vorgang des Wiedererzählens wird als Schichtung einzelner Erinnerungsspuren aufgefasst, die die Erzählung mit der Zeit zum Reservoir eines besonderen kulturellen Gedächtnisses, zum Sediment kollektiver Erfahrung macht.24 Nicht nur Wiederholung exemplarischer Konstellationen, sondern auch Akkumulation von Erfahrungen, mithin Komplexitätssteigerung, ist hier das Resultat. Benjamins Reflexion über den Zusammenhang von Erzählen und Erfahrung referiert wiederholt auf mittelalterliche Erzählsituationen, auf den Handwerker und den Chronisten als exemplarische Vertreter vorindustrieller Erzähltraditionen. Was er ihnen an Leistung zuschreibt – gegen die ,farblose‘ Wahrheit des Wissens –, besitzt seinen historischen Index in christlichen Sinnvorgaben, enthält aber zugleich Elemente eines überzeitlichen Kunstverständnisses, das auf
|| 22 Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 138; vgl. auch Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin frühneuzeitlicher Empirie. Berlin 1976 (Historische Forschungen. 11), S. 79–88. 23 Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 357: „Was sich geschichtlich ereignet, ist seinem Charakter nach nicht einmalig, sondern wiederkehrend.“ 24 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Leskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 438–465; vgl. auch Stierle: Erfahrung (Anm. 5), S. 85–92; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997.
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
Erklärung zugunsten von Mehrdeutigkeit verzichtet. 25 Die „Musterstücke des Weltlaufs“, die nach Benjamin die „wahre Erzählung“ herzeigt, ähneln in ihrem Sinnanspruch denen der mittelalterlichen Chronistik oder christlichen Exemplarik, sie sind aber von einer komplexeren ,Weisheit‘, die Erfahrung statt Lehre vermittelt. Das Hildebrandslied und das Nibelungenlied, Texte, die eine Sagentradition fortsetzen, wiedererzählen, könnten diesen Platz „wahrer Erzählung“ vertreten. 26 Sie sind signifikanterweise christlich nur schwer einzufangen. Die narrative Ökonomie der Kurzerzählung dagegen kombiniert weitgehend stereotype Muster und reflektiert soziale Ordnungsvorstellungen an einem eher trivialen Gegenstand. Ihre historische Leistung besteht vor allem in der Anlagerung von Kontexten an exemplarische Erzählformen. Nicht nur der Inhalt der Erzählung bewahrt Erinnerung, sondern auch die Gestaltung des narrativen Zusammenhangs. Form und Struktur der Erzählung enthalten selbst schon eine Bewertung des erzählten Vorgangs, nicht nur als Symbolstruktur. Das Formen- bzw. Gattungsspektrum einer Epoche lässt immer auch Rückschlüsse auf historische Erwartungen an das Erzählen zu. André Jolles hat zuerst solche pragmatischen Implikationen am Beispiel ,Einfacher Formen‘ beschrieben. 27 ‚Einfache Erzählformen‘ werden als Sedimente kultureller Erfahrungen lesbar, als sprachliche Äquivalente von ‚Geistesbeschäftigungen‘: etwa in Legende, Mythe und Sage als historisch spezifischen Formen, denen jeweils ein elementares Bedürfnis nach Vorbild, Ursprung und Gründung korrespondiert. 28 Was der Novelle als elementare Leistung gegenüber dem Exempel auf methodisch unterschiedlichste Art zugeschrieben wurde und was unter dem Begriff ‚Problematisierung‘ gefasst werden kann, hat Jolles als Kasus bezeichnet und gleichfalls der ‚Einfachen Form‘ zuge-
25 Was unter narratologischer Perspektive als Gewinn verbucht wird, die historische Entwicklung kausaler oder gar psychologischer Motivierung, qualifiziert Benjamins ästhetischer Blick als Verlust von Mehrdeutigkeit (Benjamin [Anm. 24], S. 445f.). 26 Die finale Ausrichtung des Erzählens fundiert Benjamin nicht narratologisch, sondern anthropologisch, wenn er den Tod als den entscheidenden Fluchtpunkt setzt, von dem aus alles vorhergehende Geschehen seinen Sinn erhält, prägnant gefasst in dem allegorischen Bild des Erzählers, dessen Blick nicht von dem Zifferblatt der Turmuhr weicht, vor dem der Reigen der Kreaturen, vom Tode angeführt oder gefolgt, seinen Weg nimmt (ebd., S. 452). In diesem Sinn transportieren Hildebrandslied und Nibelungenlied einen Sinn jenseits christlicher Sinnvorgaben, aber auch jenseits historischer Determinationen. 27 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1930. Zur textpragmatischen Perspektivierung dieses Ansatzes vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 350f. 28 Nüchterner formuliert das die pragmatische Erzähltheorie, für die sich das Erzählen in typisierte Situationen von Sprachhandlungen auffächert. Diese pragmatischen Sprechsituationen und ihre Funktionsräume zeitigen Auswirkungen auf die Erzählform, so dass die epochenspezifische Praxis des Erzählens zum Indikator kultureller Veränderungen wird: zum Diskursphänomen vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 350f.
Trieb und Ökonomie rechnet. Es handle sich um eine Erzählform, die widersprüchliche Normansprüche thematisiere und verhandle. 29 Der Kasus stehe aber schon auf der Grenze der ‚Einfachen Formen‘, da er vielfältige Möglichkeiten der Variation erlaube. Die mittelalterliche Kurzerzählung teilt schon bei aller weitertradierten Exemplarik mit der Novelle diese Öffnung auf eine kasuistische Form. Sie artikuliert sich zeittypisch in einer neuen Diskursformation, in der ‚Vollzugsform von Geselligkeit‘, die Moral und Erzählform zugleich zur Diskussion stellen kann.
Serialität und Kombinatorik Die verschiedenen Funktionen von Wiederholung, seien sie rhetorisch-poetisch, moraldidaktisch und geschichtsphilosophisch oder kulturell erinnernd motiviert, sind in einem seriellen Produkt wie der mittelalterlichen Kurzerzählung jeweils unterschiedlich akzentuiert. 30 Auch hier liegt in nicht geringem Ausmaß ein anonym überlieferter Vorrat an Erzählungen vor, der wiedererzählt wird, z. T. aber schon eine deutliche Autorsignatur trägt. 31 Tradiert wird ein historischer Ausschnitt kulturellen Wissens und sozialer Problemkonstellationen – Geschlechterkampf, die zerstörerische Macht des Triebes –, aber auch Bilder von Ehe, Zucht und Treue, die in moralische Erzählungen übersetzt werden: soziale Phantasmen einer verkehrten oder einer idealen Welt. Sie können weitgehend nur als Vorstufe von Literatur gelten, als handwerkliche Leistung, die sich erst allmählich aus der Fessel sozialer Stereotypen zu lösen beginnt: weniger durch die Qualität einer Erfahrung als durch die Raffinesse einer spielerischen Kombinatorik. Die Aufgabe besteht offenbar darin, entweder den gleichen Plot neu zu fassen oder dieselbe Moral in veränderter Erzähldisposition zu illustrieren. Wiederholung wird zum zentralen Instrument einer Kombinations- und Variationskunst, die von stereotypen Situationen über topische Muster bis hin zu analogen Erzähldispositionen reicht. Das Verhältnis von Beispieleidetik und Kunstanspruch, Exemplarik und Literarizität, ist hier nicht vorab gattungstheoretisch zu entscheiden, sondern wäre an jedem Einzelfall neu zu bestimmen. Das Produktionsprinzip der mittelalterlichen Kurzerzählung basiert auf einer komplexen Kombinatorik. Schon als Erzählform ist sie nicht fixiert, sondern offen hin zu Elementen der Legende und Fabel, des Minnesangs und des höfischen Romans. Das „Erzählen im gattungsfreien Raum“ ist aber nicht Index für Sinnlosig 29 Jolles (Anm. 27), S. 171–199. 30 Vgl. Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich. Göppingen 1971 (GAG. 49). 31 Arend Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967 (Germanische Bibliothek. 3. Reihe: Untersuchungen und Einzeldarstellungen. 12).
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
keit 32, vielmehr werden traditionelle Bausteine literarischer Sinnstiftung kombinierund befragbar. Wenn Wunder und Personifikationen, Werbungsreden und höfische Bewährungsmuster an den Rändern eines solchen prägnanten Erzählens auftreten können, verfügt die Fiktion über elitäre Sinnbildungsmuster und stellt sie in den Dienst einer durchaus weiter moralisch orientierten Kasuistik. Die Bausteine der geistlichen und der höfischen Literatur sind als Spielmaterial in der Unterhaltungskultur angekommen, und ihr Sinnpotential wird zur Diskussion gestellt. Die Kurzerzählung ist darüber hinaus der Ort einer spezifischen Narration, an dem mehr als in jeder anderen mittelalterlichen Gattung Geschlechter und Stände ,kommunizieren‘: Ritter, Kleriker, Bauern, Kaufleute. Sie ist mithin keine ständisch exklusive Textsorte, demonstriert vielmehr bei aller Typisierung essentielle Reibungsflächen in der Begegnung der Stände. Mit deren Repräsentanten treten zugleich ihre symbolischen Kommunikationsmedien in Konkurrenz: Ehre, Moral und Geld. Sie werden herausgefordert von Sexualität als körperlichem Medium der Kommunikation. Sexualität fungiert in vielen Kurzerzählungen als elementares Substrat des Geschlechterverhältnisses, als primärer An-Trieb, der mit Geld, Rhetorik und Gewalt in Austausch tritt: gekaufte und überredete Frauen und – eher selten, aber doch präsent – sexuelle Nötigung. Auch mit dieser Form der Kombination wird Exemplarität überschritten, werden zentrale soziale Wertkategorien verhandelt und reflektiert. In das Register der Figurenkombinatorik fällt noch das Spiel mit dem Geschlechterrollenwechsel: Verkleidungen, verkehrte Naturen, der Mann als Frau und die Frau als Mann. 33 Serialität kennzeichnet auch die Figurenzeichnung, die unterschiedliche Typen für dieselbe Triebdynamik entwirft. So zeichnet sich die Kurzerzählung durch eine Reihe von Figuren aus, die stereotype soziale Vorurteile transportiert. Die prinzipielle Affektverfallenheit der Frau tritt in ganz unterschiedlichen Repräsentanten auf: häufig im übelen wîp, Inbegriff von List, Bosheit und Begierde; aber auch in moderateren Figuren wie der generösen Minnedame, in der unbedarften Ehefrau, dem naiven Mädchen und noch in der ihrem Trieb erliegenden Nonne 34: Sie konstituieren 32 Haug (Anm. 2), S. 6. 33 Zur Genderperspektive: Ralf Schlechtweg-Jahn: Geschlechteridentität und höfische Kultur. Zur Diskussion von Geschlechtermodellen in den sog. priapeischen Mären. In: Manlîchiu wîp, wîplîche man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh. 9), S. 85–109; Ute von Bloh: Heimliche Kämpfe. Frauenturniere in mittelalterlichen Mären. In: PBB 121 (1999), S. 214–238; dies.: Die Sexualität, das Recht und der Körper. Kontrollierte Anarchie in vier mittelalterlichen Mären. In: Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittealters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ulrike Gaebel, Erika Kartschoke. Trier 2001 (LIR. 28), S. 75–88; Mireille Schnyder: Märenforschung und Geschlechterbeziehungen. In: JOWG 12 (2000), S. 123–134. 34 Beispiele: daz übele wîp (Drei listige Frauen. In: Neues Gesamtabenteuer. Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. Berlin 1937, S. 63–74), die generöse
Trieb und Ökonomie geradezu einen Diskurs über Sexualität, der von der natürlichen Regung über den vagabundierenden Trieb bis hin zur verzehrenden Gier sich erstreckt. Aber auch die erlösende Minne findet ihren Ort wie die treu liebende Gattin. 35 Stereotype Ansichten und realistische Reflexionen über Sexualität stehen nebeneinander. 36 Das betrifft aber nicht nur das Frauenbild. Analog entfaltet sich auch auf Seiten der Männer ein ganzes Spektrum an Figuren, die ihrer Triebhaftigkeit erliegen – der Pfaffe als privilegierter Liebhaber, der libertinäre Student, der geile Knecht, der abenteuernde Ritter, selbst der fremdgehende Ehemann: Die potentielle Bedrohung der sozialen Ordnung spiegelt sich auch hier fast ausnahmslos in exemplarischen Figuren. Es ist die Triebnatur des Menschen generell, deren unkontrollierte Dynamik am Beispiel aller Stände und beider Geschlechter immer wieder durchdekliniert wird. Die stände- und geschlechtsneutral zirkulierende Sexualität führt dazu, dass die Figuren in Konflikt mit ihren sozialen Rollenmustern geraten und das Wertesystem der Gesellschaft herausgefordert wird. Einer komplexen Kombinatorik unterliegt schließlich die Grundkonstellation des Ehebruchschwanks, das Dreiecksverhältnis. Es zeigt eine überraschende Variabilität der Besetzungen. Die Normalform besteht in der Rivalität zweier Männer um eine Frau, mit dem Eindringling von außen: dem Pfaffen, dem Studenten, dem Ritter, dem Diener etc. 37 Je nach ständischer Besetzung und ständischer Konfrontation ergeben sich unterschiedliche Handlungsmuster und Konfliktkonstellationen. Innerhalb der Dreieckskonstellation kann die Spannung zwischen den Ehegatten (Geschlechterkampf) oder die Beziehung zwischen den Ehebrechern stärker akzentuiert werden, so dass die dritte Position jeweils in den Hintergrund tritt. Aber auch die Rivalität der Männer kann das Narrativ dominieren, so etwa ständisch codiert in Kaufringers Zehntem der Minne, in dem ein Bauer sich an einem Pfaffen rächt, oder im Feigen Ehemann, in dem Bürger und Adeliger konfrontiert werden. In beiden
Minnedame (Der Schreiber. In: Ebd., S. 109–112); die unbedarfte Ehefrau (Das Almosen. In: Ebd., S. 25f.; Der Zehnte der Minne. In: Heinrich Kaufringer: Werke. Hrsg. von Paul Sappler. Bd. 1: Text. Tübingen 1972, S. 131–139); das naive Mädchen (Das Häslein. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg. übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996 [Bibliothek des Mittelalters. 23; Bibliothek deutscher Klassiker. 138], S. 590–617); die triebhafte Nonne (Das Nonnenturnier. In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1966 [MTU. 12], S. 31–47). 35 Es handelt sich überwiegend um typisierte Figuren, die Grenzen abbilden und im Lotmanschen Sinn letztlich der Bestätigung des Normensystems, der Klassifikation, dienen (vgl. Juri M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1976, S. 338). 36 Vgl. Stephen Wailes: The Hunf of the Hare in „Das Häslein“. In: Das Seminar 5,1 (1969), S. 92– 101; Hedda Ragotzky: „Der Sperber“ und „Das Häslein“. Zum Gattungsbewußtsein im Märe Ende des 13., Anfang des 14. Jahrhunderts. In: PBB 120 (1998), S. 36–52. 37 Eher selten findet sich die Variante des Mannes zwischen zwei Frauen: Säcklein Witz. In: Eine schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. Tübingen 1965 (ATB. 65), S. 22–27.
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
Fällen rückt die Frau in den Hintergrund und wird überdies moralisch entlastet. Wie weit der Kombinationsspielraum der Dreieckskonstellation gehen kann, zeigt sich, wenn der Ehemann durch einen zweiten Liebhaber ersetzt wird, so dass die Geschichte ihre Spannung weniger aus der Überführung der Frau als aus der Rivalität der Werber erhält. Diese kann z. B. zusätzlich ständisch codiert sein wie in Rosenplüts Hasengeier, in dem Pfaffe und Ritter um die Gunst der Frau konkurrieren, ersterer mittels ökonomischer Potenz zum Erfolg kommt, letzterer mittels physischer Gewalt seine Rache vollzieht. Im Ehebruchschwank wird hier zugleich Ständerivalität mit jeweils spezifischen Mitteln ausgehandelt. 38 Auch wenn meist die gleiche Lehre von der schwachen (untreuen) Frau vermittelt und so das misogyne Frauenbild einer patriarchal-christlichen Gesellschaft fundiert wird, so liegt der Akzent solchen Erzählens auf der Kombinatorik der Typen, Situationen und Motive, überdies in der Konfrontation sozialer Werte und Handlungsmuster. Auf die Spitze getrieben ist der klassische Dreieckskonflikt in der berühmten Erzählung vom geschlagenen und zufriedenen Ehemann, die vielfach überliefert ist und in jedem Stand verortet worden ist. 39 Das Spiel mit der Inversion ist nahezu vollständig, wenn der Liebhaber von der Frau direkt am Ehebett versteckt wird, sie in dessen Anwesenheit ihrem Mann die Werbung beichtet und diesen als Frau verkleidet in den Garten schickt, wo er abschließend Prügel vom Liebhaber einstecken muss. Der Erzählvorgang bezieht hier seine Motivation nicht nur daraus, den allgemeinen Fall als Besonderen zu inszenieren oder ihn auf die Spitze zu treiben, sondern den klassischen Motivbestand umzukehren. Der Ehebruchschwank lebt vom Spielraum der Variation. Freigesetzt wird eine kombinatorische Phantasie, mit Mustern zu operieren, die literarische Schemata, soziale Rollen und Figurenrelationen gleichermaßen betrifft.
Kulturelle Codierung Im Folgenden werden einige Kurzerzählungen vorgestellt, die bei gleicher Dreieckskonstellation eine analoge Moral transportieren. Die Geschichten sind sozial situiert im bürgerlichen Raum, speziell in einer bürgerlichen Handelsmentalität. Ausgelotet werden hier Möglichkeiten und Grenzen in einer Tauschlogik, der Substitution und
38 Hans Rosenplüt: Der Hasengeier. In: Fischer (Anm. 34), S. 162–173; vgl. Ingrid Kasten: Erzählen an der Epochenschwelle. Boccaccio und die deutsche Novellistik im 15. Jahrhundert. In: Haug (Anm. 20), S. 164–186. 39 Der Plot ist in verschiedenen Fassungen überliefert: Im Schwank Der Koch. In: Eine Schweizer Kleinepiksammlung (Anm. 37), Nr. 14; im Märe Der Schreiber, in Hans Rosenplüts Knecht im Garten. In: Die deutsche Märendichtung (Anm. 34), S. 178–187, und in avanciertester Form in Boccaccios Novelle (Decameron VII 7).
Trieb und Ökonomie Kombination, bezogen auf die Ebene des Handelns wie die des Erzählens. Die Geschichten besitzen einen exemplarischen Grundriss, weisen aber in ihren narrativen Mitteln je für sich darüber hinaus. Stierle unterscheidet zwischen blinden und thematisierten Implikationen, die Raum für Neugestaltung geben. 40 Ein einfaches Beispiel dafür kann das Schneekind sein: Ein Mann wird von seiner Frau betrogen. Während er über Jahre auf Geschäftsreise unterwegs ist, bekommt sie ein Kind. Bei seiner Rückkehr behauptet sie, sie habe, als sie aus Sehnsucht nach ihm in den Garten gegangen war, Schnee gegessen und sei dadurch schwanger geworden. Der Mann nimmt das ohne weitere Nachfrage hin. Nach einigen Jahren geht er erneut auf Geschäftsreise in den Orient, dort verkauft er das Kind und erklärt nach seiner Rückkehr seiner Frau, es sei in der Sonne geschmolzen. 41
Haug und Grubmüller beziehen sich auf dieses Märe, Haug, um anhand der Leere des Ehelebens die Sinnlosigkeit der Erzählform Kurzerzählung zu demonstrieren, Grubmüller, um die Replik- bzw. Witzstruktur der List zu illustrieren. 42 Zu Recht wird der Versuch abgewiesen, die Geschichte ‚politisch korrekt‘ zu lesen und das Schicksal des Kindes einzuklagen. 43 Das Schneekind erzählt die Konstellation des Ehebruchschwanks auf originelle Art. Die Erzählung bewahrt dabei die Dreieckskonstellation des Schwanks, doch ersetzt das Kind den Liebhaber. Indem der Ehemann das Kind aus dem Weg schafft, tilgt er zugleich die Spur des Rivalen. Die Geschichte funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Ohne eigens thematisiert zu werden, fungiert die vorausgesetzte Untreue der Frau als ethisches Substrat. Indem die Ehepartner im Bereich der inventio rivalisieren, wird der Geschlechterkampf zugleich auf die Sprachebene verlagert. 44 Fassung A des Schneekindes reichert das Exempel nun mit einer sorgfältigen Erziehung des Kindes an, die auch quantitativ akzentuiert wird. Eine derartige Schaffung von Atmosphäre bildet erzähllogisch weder eine Störung, die der Ökonomie der Witzstruktur zuwiderläuft, noch zeugt sie notwendig von Unverständnis für den „intellektuellen Spaß“. 45 Konzentriert man sich nicht nur auf die immanente Hand 40 Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 362. 41 Das Schneekind. In: Novellistik des Mittelalters (Anm. 34), S. 81–93. Zusammengefasst nach Grubmüller (Anm. 7), S. 344. Zur Interpretation vgl. Frosch-Freiburg (Anm. 30), S. 42–61; Helmut Weidhase: Das aktualisierte Lachen. Zum mittelalterlichen Märe vom Schneekind. In: Sprache und Sprachhandeln. Fs. Gustav Bebermeyer. Hrsg. von Jochen Möckelmann. Hildesheim 1974, S. 61–88; Ziegeler (Anm. 2), S. 187–195; Volker Schupp: Art. Schneekind. In: 2VL 9 (1995), Sp. 774–777. 42 Haug (Anm. 2), S. 16; Grubmüller (Anm. 7), S. 344f. 43 Vgl. Ziegeler (Anm. 2), S. 193f.; Grubmüller (Anm. 7), S. 344f. 44 Deshalb kann die Erzählung auch Eingang in ein mittelalterliches Rhetorikhandbuch finden (vgl. Grubmüller [Anm. 7], S. 344f.). In das Feld konkurrierender Inventionen fällt noch die unterschiedliche Begründung für den Verlust des Kindes, das einmal im Wasser, das andere Mal in der Sonne zerfließt. 45 Grubmüller (Anm. 7), S. 344 (im Anschluss an Ziegeler).
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
lungslogik, sondern kontextualisiert das Geschehen, d. h. bezieht man auch soziokulturelle Determinanten ein, ergibt sich ein anderes Bild: Die Profession des Kaufmanns und die finale Pointe motivieren die Explikation des Geschehens. „Jede Geschichte ist charakterisiert durch eine spezifische Ungleichgewichtigkeit der narrativen Expansion, die ihren Grund hat im je verschiedenen pragmatischen Konnex, in den die Geschichte gehört.“ 46 Aus der Sicht patriarchaler Herrschaft obliegt der Muntgewalt des Mannes die besondere Sorge um den Nachwuchs, sie reagiert indes kalt auf ‚natürliche‘ Kinder. Dieses soziale ‚Wissen‘ bildet den Hintergrund für die zusätzliche Schwankpointe, gewissermaßen neben der ethischen und rhetorischen die dritte kulturelle Bezugsebene: für die hier wirksame Logik der Ökonomie. Sie kann das ‚natürliche‘ Kind in die Nähe einer Sache rücken, es lediglich als Investitionsobjekt begreifen. Fassung A konzentriert sich weitgehend auf diese rationale Haltung und verzichtet auf jegliche Darstellung affektiver Beziehung zwischen den Eheleuten. Die kalte Ehebruchslist vom Schneekind erfährt ihre Replik durch eine kühl kalkulierende Rationalität. Die früher überlieferte Fassung B verzichtet auf das Motiv ökonomischer Akkumulation, aber auch sie gestaltet eine zusätzliche Aussageebene. Sie konstruiert die Replikhandlung über die Affektökonomie, indem sie eine Gegenläufigkeit von emotionaler Bindung und ökonomisch nüchternem Kalkül inszeniert, mithin die Pointe aus einer anderen Spannung bezieht. Wiederholt wird nicht nur die Anhänglichkeit der Frau an das Kind thematisiert: wan ich stirb von rüwen, / ob im geschaech arges icht (B, V. 48f.), sondern auch die vorgebliche Sorge des Mannes. Indem in beiden Fassungen des Schneekindes unterschiedliche Implikationen thematisiert und ausgebaut werden, schreiben sie dem funktionalen Exempel zusätzliche Bedeutungsebenen ein. Kohärenzbildung beschränkt sich nicht auf die Ebene der Handlungslogik allein, sondern kann, wenn auch unterschiedlich gewichtet, von verschiedenen Ebenen aus gesteuert werden. Für die Fassungen des Schneekindes bedeutet das, dass die Geschichte vom schlichten rhetorischen oder moralischen Exempel auf weitere Kontexte bezogen werden kann, dass der Witz dadurch ausgebaut wird, dass die Narration expandiert, indem sie einmal die Profession des Kaufmanns, das andere Mal den Raum familialer Emotionalität motivierend einbezieht und für die Pointe nutzt. Jenseits der moralischen und rhetorischen Funktion öffnet sich ein Spielraum für narrative Expansionen, die Diskussionsstoff bieten.
46 Stierle: Geschichte als Exemplum (Anm. 5), S. 360.
Trieb und Ökonomie
Exempelkombinatorik Die Variation der Dreieckskonstellation kann sogar darin bestehen, dass an die Stelle der vorausgesetzten Feindschaft von Ehemann und Nebenbuhler soziale Beziehungsmuster treten, die Nähe implizieren: Gastfreundschaft, geselleschaft, gar Freundschaft etc. 47 Wie das Schneekind A mündet auch die Erzählung von den Fünfzig Gulden Minnelohn in einem ökonomischen Kalkül. 48 Die Handlung spielt im bürgerlichen Milieu, ihre Ausgangssituation ist ein Bildungsproblem: Der Sohn eines reichen Bürgers soll studieren und zum Doktor promovieren. Die Geschichte beginnt als Exempel über die Versuchungen der Stadt. Gleich nach seiner Ankunft erliegt der angehende Student den Reizen einer schönen Frau und setzt sein gesamtes Kapital aufs Spiel. Der Student träumt von der Liebe und verschwendet in Gedanken seine fünfzig Gulden. Durch Zufall hört die Magd das Selbstgespräch und betätigt sich als Kupplerin. Der schönen Frau gelingt es nicht nur, sich in den Besitz des Geldes zu bringen, sie arrangiert den Ehebruch sogar in Anwesenheit ihres Mannes – er schlägt die Trommel –, wenn sie sich in der Nacht gleich dreimal dem Studenten hingibt. Wenn mit Geiz, List und Trieb ein ganzes Bündel von Lastern auf die Frau konzentriert wird, formuliert der Text den Topos vom übelen wîp, wie er in unzähligen Exempeln verbreitet wird. Die Frau oder die Geliebte rechnen auf Geld und handeln ihre Gunst gegen materielle Werte. 49 Aus dem Untergrund ehelicher Normalität bricht unvermittelt eine beängstigende Gier und Bosheit hervor. Die Erzählung weist aber über einen schlichten Ehebruchschwank hinaus und geht in eine Replikerzählung über. Nachdem der Student sein Geld verloren hat, verfällt er in eine verzweifelte Gemütslage und irrt umher. Durch Zufall trifft er auf den Ehemann. Als er diesem sein Abenteuer erzählt, ahnt der Bürger, dass es sich um seine Frau handelt, er beruhigt indes überraschend den jungen Mann. Er lädt ihn ein, bewirtet ihn in Gegenwart der erschrockenen Frau und zwingt diese schließlich, die fünfzig Gulden herbeizutragen. Nüchtern teilt der Ehemann den Betrag unter den Beteiligten auf und erstattet dem Studenten einen Großteil seines verlorenen Geldes, so dass dieser sein Studium aufnehmen kann. Erzählt der Schwank das
47 Vgl. Hedda Ragotzky: Das Märe in der Stadt. Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringer. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. Teil 2: Ältere deutsche Literatur – Neuere Deutsche Literatur. Berlin/New York 1985, S. 110–122. 48 Claus Spaun: Fünfzig Gulden Minnelohn. In: Die Deutsche Märendichtung (Anm. 34), S. 351– 361; vgl. dazu Rolf Max Kully: Art. Claus Spaun. In: 2VL 9 (1995), Sp. 32–35; Ziegeler (Anm. 2), S. 306–310; Marga Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer. Trier 1993 (LIR. 5), S. 48–58. 49 Deutlich im Säcklein Witz (Anm. 37).
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Exempel vom übelen wîp und vom Ehemann als Hahnrei 50, so überführt die Fortsetzung das Geschehen in eine Erzählung, die die patriarchale Ordnung wieder restituiert. Die Geschichte verbindet somit zwei Exempel. Ehemann und Student werden hier einander angenähert und erhalten eine eigene, zufällige, Geschichte, die sich zwischen Schwank und Replik einnistet. Strukturell gesehen, sind es die beiden betrogenen Männer, die gegen die Frau, hier gegen die beiden Frauen, in Position gebracht werden. Neben der Möglichkeit, die Figurenkonstellation variabel zu akzentuieren, eröffnet sich auch ein Spielraum, narrative Implikationen zu explizieren, Erzählsequenzen zu dehnen und zu kombinieren. Die Frau ist nicht mehr alleiniger Akteur, sondern nur mehr einer von dreien, so dass der Schwank, auch wenn er fast die Hälfte der Erzählung einnimmt 51, nur noch Teil einer übergeordneten Geschichte ist. Die Typik der Figurenbeziehung, wie sie das Exempel kennzeichnet (Mann-Frau bzw. Bauer, Ritter, Pfaffe), wird weniger aufgehoben als multipliziert. Die Figuren erhalten ein rudimentäres Profil. So ist der Student nicht nur Liebhaber, sondern zum einen unerfahrener Jüngling in der Stadt, zum andern bemitleidenswerte Kreatur. 52 Indem sein Profil über die Rolle des typischen Buhlen hinausreicht, erhält er im Ansatz eine eigene Geschichte. Entsprechend ist der Ehemann nun auch väterlicher Freund, ja, er übernimmt gewissermaßen die Position des abwesenden Vaters. Wie sehr das Handeln der Figuren nicht mehr linear festgelegt ist, demonstriert das Beispiel des Bürgers. Schon die Reaktion auf die Erzählung des Studenten eröffnet verschiedene Arten des Verhaltens. Zwar erkennt er sofort, dass es sich um seine Frau handelt, doch unterdrückt er offenbar den Schmerz zugunsten anderer Optionen: der burger lacht der guten schwenk / und tet in sein ellend erbarmen (V. 246f.). 53 Die Erzählung des Studenten lässt sich als Schwank und als traurige Geschichte zugleich rezipieren, überdies noch mit doppelter Betroffenheit. Spauns Fünfzig Gulden Minnelohn macht den Ehebruchschwank auch zu einer Geschichte von Ehemann und Liebhaber. Die Kombinatorik erfasst neben den Rollen auch die Handlungsmuster, 54 die sich aus drei Grundkonstellationen speisen: Ineinander verwoben werden die Bildungsgeschichte des Studenten, der Ehebruchschwank und die Ausgleichshandlung des Ehemanns, die mit der Geschichte des Studenten sich verbindet. Neben die Lehre von den Lastern der Frau treten weitere Handlungszüge mit eigenständiger 50 Vgl. Hans-Jürgen Bachorski: Ehe und Trieb, Gewalt, Besitz. Diskursinterferenzen in Mären und Schwänken. In: Der Hahnrei im Mittelalter. Le cocu au moyen age. Hrsg. von Danielle Buschinger [u. a.]. Greifswald 1994, S. 1–21. 51 Vgl. Stede (Anm. 48), S. 54. 52 Vgl. ebd., S. 55. 53 In Kaufringers Erzählung vom Zurückgegebenen Minnelohn verstummt der Ritter vor Schmerz: haimlich laid er darumb pein (Heinrich Kaufringer [Anm. 34], S. 53–72, V. 484). 54 Vgl. Stede (Anm. 48), S. 55.
Trieb und Ökonomie Funktion. 55 Im Einzelnen weisen sie nicht über eine exemplarische Aussage hinaus, in ihrer Kombination aber eröffnen sie einen kasuistischen Spielraum: z. B. der Student als Täter und Opfer. Die Geschichte des verirrten Bürgersohnes, der in Not gerät und gerettet wird, steht quer zum Ehebruchschwank. Narratologisch bezieht die Geschichte ihren Reiz aus dem verzögerten Finale, aus dem Umstand, dass sich zwischen Schwank und Replik eine Sequenz schiebt, die die Erwartung des Lesers/Hörers in Spannung hält, indem sie die Rivalen zusammenführt. 56 Die finale Struktur des Exempels, die funktionale Relation von Vergehen und Strafe, wird durch kausal motivierende Ergänzungen (Explikationen) gedehnt und letztlich aufgehoben. Die Kurzerzählung erhält ihre Komplexität also primär dadurch, dass sie mehrere Exempelhandlungen ineinander verwebt. Das Stilprinzip der Variation und Kombination betrifft neben der Figurenkonstellation, der Rollenkomplexität und den Handlungsschemata, d. h. den genuin narratologischen Kategorien, auch den Bereich der kulturellen Besetzung, die Kontextdetermination. Die Handlung des übelen wîps motiviert sich primär aus ökonomischen Gründen. An die Stelle der Liebe oder selbst des Triebes tritt der nüchtern kalkulierte Einsatz von Sexualität. 57 So nutzt die Frau ihre Attraktivität primär zum Zweck der Akkumulation. Das Verhältnis der Ehebrecher ist also nicht auf Dauer gestellt, sondern ist ein einmaliger asymmetrischer Tauschakt ohne innere Beteiligung: Geld gegen Trieb, wobei auch der Student investiert. Die Stadt als Raum abstrakter Tauschvorgänge usurpiert das Minneverhältnis. So wie der Ehebruch ohne tiefere innere Beteiligung sich vollzieht, so auch die Replik. Das ökonomisch bedingte Vergehen der Frau wird vom Ehemann überraschend auf eine Logik der Ökonomie, auf einen Geschäftsvorgang zurückgeführt. 58 Die Störung der sozialen Beziehung durch die Zirkulation libidinöser Energien, die so viele Ehebruchschwänke steuert 59, greift hier offenbar nicht. Entsprechend sind nicht mehr Ehe, Liebe und Rache Thema, sondern an ihre Stelle treten ökonomische Relationen. Der Ehemann erniedrigt seine Frau, indem er ihr Verhalten auf das Geschäft der Prostitution be 55 Wieder kommt es zu einer symmetrischen Konstellation: Wurde die Verschlagenheit der Frau noch dadurch gesteigert, dass sie den Ehebruch in Anwesenheit des unwissenden Mannes arrangierte, gestaltet der Kaufmann seine Replik in Anwesenheit seiner sich unwissend stellenden Frau. 56 Was Ziegeler (Anm. 2), S. 308f. und Stede (Anm. 48), S. 56, für die Version Kaufringers (Der zurückgegebene Minnelohn [Anm. 53]) konstatieren, die Dehnung von Sequenzen und den Aufbau von Spannung, ist prinzipiell schon bei Spaun angelegt. 57 Die Relation der Werte ist dabei asymmetrisch angeordnet: hier übermäßige Hingabe an den Trieb und Geringschätzung des Geldes, Vernachlässigung des Verstandes; dort Geringschätzung des Affekts und des Triebes gegenüber der Wertschätzung des Geldes und der überlegenen Anwendung des Verstandes. 58 Vgl. Stede (Anm. 48), S. 51f. Claus Spaun verzichtet auf Erklärungen, die die Reaktionsweise des Mannes plausibilisieren. 59 Vgl. Hans Folz’ Wiedervergeltung. In: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Bd. 1. München 1961, S. 1–3 oder Heinrich Kaufringers Rache des Ehemanns (Anm. 34), S. 140–153.
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zieht: es ist in dieser statt auch sitt, / wann ein gsell ainer frauen tailt fraintschaft mit, / so gibt er ir zwen pfenning zu lon (V. 337–339). Im Sinn einer alten Auffassung von Gerechtigkeit, nur verschoben auf eine andere Ebene der Vergeltung, wird Gleiches mit Gleichem vergolten. Eine solche Lösung muss nicht gleich sozialhistorisch begründet werden, etwa mit den Auswirkungen aufkommender merkantiler Lebensformen auf das Sexualverhalten oder mit der nüchternen Eheauffassung vormoderner Zeiten. Zwar stiften diese Faktoren weitere Horizonte für die Interpretation, doch hat das besondere Geschehen nur bedingt etwas mit der Realität spätmittelalterlichen Stadtlebens zu tun, dieses ist allenfalls kultureller Hintergrund, der konnotativ genutzt wird. Unabhängig von ihrer sozialhistorischen Fundierung basieren Sexualität und Ökonomie auf Tauschakten. So wie der Student Geld gegen Lust tauscht, so die Frau Lust gegen Geld. Das Minneabenteuer wird auf einer Ebene vergolten, auf der beide traditionell zusammentreffen: auf der der Prostitution. Die Erzählung bezieht ihre Pointe aus einer Inversion der Werte und folgt damit geradezu einem Grundprinzip des Schwanks. Der Prestigewert materieller Verausgabung um der Minne Willen, ein Topos der Minnewerbung, der auch auf die Frau ausstrahlt, wird vom Ehemann vernichtet durch Rekurs auf die Verrechnungseinheiten der Prostitution, auf ein billiges Geschäft. Indem die Geschäftslogik penibel durchgehalten wird, der Bürger das Geld anteilig zuweist, wird Minne auf Trieb reduziert und wird über die exakte Verrechnung die soziale Hierarchie wiederhergestellt. Die Frau erhält am Ende den geringsten Anteil am Geschäft, sie ist moralisch und ökonomisch der Verlierer. Geld wird hier anstelle der Moral zum Index, der die Verkehrung anzeigt. Der kulturelle Konnotationsspielraum reicht aber noch weiter. Trieb und Kalkül erweisen sich nur als Varianten der übergeordneten Spannung von Affekt und Rationalität, ein uraltes Thema mittelalterlicher Erziehungstraktate. Gelehrsamkeit als Ziel der Erziehung gerät in Konflikt mit der Libido des jungen Mannes. Im Studenten ist das Stereotyp des Jugendlichen entworfen, der seinem Trieb unterliegt, über eine noch nicht ausgebildete Rationalität verfügt und dem Geld wenig bedeutet, weil er es noch nicht erwerben musste. In Bezug auf die Frau steht Zucht als eheliche Pflicht in Kontrast zu Geldgier und Trieb. Im Entwurf ihrer Figur halten Kalkül und Trieb sich die Waage. In Bezug auf den Ehemann werden Racheimpuls und Rationalität einander konfrontiert. Im Bürger wird das Ideal des sozial Verantwortlichen gestaltet, der seinen Affekt im Griff hat, gar auf Null fährt, der über eine überlegene Rationalität verfügt und der in Bezug auf das Geld das Verhältnis von Leistung und Lohn adäquat einschätzen kann. Während Student und Frau die negativen Auswirkungen der Relation Trieb-Kalkül vertreten, steht der Ehemann für die positive Bewältigung des Affekts durch Rationalität. Die einzelnen Figuren sind also durch sehr unterschiedliche Formen der Spannung von Vernunft und Affekt gezeichnet. In der Kombination der drei Konstellationen liegt der Mehrwert gegenüber einem rein funktionalen Exempel vom übelen wîp. Die Geschichte setzt am Ende eine prakti-
Trieb und Ökonomie sche Form der Rationalität gegen die angestrebte theoretische: Aus Erfahrung wird man klug. Es geht in den Kurzerzählungen nicht um Liebesehe wie im Artusroman, es geht immer wieder um die Stabilität der patriarchalen familia, die die Unterordnung der Frau und die Sorge für die Kinder verlangt. Die Handlung setzt spezifische soziale und kulturelle Konstellationen voraus. Will man dem Text überhaupt eine weitergehende Qualität im Sinne einer Benjaminschen Erfahrung abgewinnen, dann läge sie in der Relationierung von Libido, Geld und Rationalität auf engem Raum. In diesem Sinn lassen sich die Energien, denen die Figuren unterliegen oder für die sie eintreten, im weitesten Sinn noch auf die zeitlose Konstellation des Paris-Urteils beziehen, nur verteilt auf drei Figuren: Der Student entscheidet sich für die Liebe, die Frau für das Geld und der Mann für die Rationalität, die letztlich für seine Macht einsteht. Er stabilisiert seine Macht durch eine milte-Geste gegenüber dem jungen Studenten 60, und er befördert die Unterwerfung der Frau weniger durch Gewalt als durch einen Schuldkomplex: Der burger straft sein frauen allain und kam an si in solcher maß, das si in treulich bat umb das, er sölt ir das ietzmals vergeben, si wölt allweg in seim willen leben, und es auch fürbaß nimmer tet, plib allzeit an iren eren steet [...] (V. 376–382).
Und noch in die zeitlose Konstellation schreiben sich die historischen Bedingungen einer mittelalterlichen Ideologie ein. Keine wirkliche Wahloption besteht hier, vielmehr unterliegen die Figuren ihren zeittypischen Determinanten, den von ihnen erwarteten Reaktionsmustern. Die Konstellationen, in denen Libido, Geldgier und Rationalität vorgestellt werden, sind durch und durch exemplarisch; dass sie aber an drei Figuren vorgeführt werden, setzt sie in ein Verhältnis zueinander und eröffnet anstelle der einfachen Relation Vergehen-Strafe einen Spielraum für Diskussion, der allerdings gleich wieder geschlossen wird. So endet der Fall hier nur bedingt in der privaten Katastrophe – einen Preis zahlt jeder –, da allein die männliche und väterliche Rationalität nicht die Kontrolle verliert. Es ist das mittelalterliche Familienmodell, in dem der Mann – der Vater – die ratio verkörpert und Kinder und Frauen die Affektposition zugewiesen bekommen, die beinah providentiell das Geschehen steuert. Durch die rationale ökonomische Lösung wirkt ein weiterer sozialer Kontext, der der patriarchal geführten Familie, auf den schlichten Ehebruchschwank ein. Am Tisch sitzt damit nicht nur das Dreieck des Ehebruchschwanks,
60 Sogar das Argument, das Geld nicht nötig zu haben (V. 318f.), entstammt dem bürgerlichen Kaufmannsethos.
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sondern auch das familiale Dreieck. Die Erzählung enthält eben auch eine Aussage über das Geschlechter- und Generationenverhältnis. Wie weit Exposition und Lösung auf Kosten des Ehebruchschwanks ausgedehnt werden können, demonstriert Heinrich Kaufringer im Zurückgegebenen Minnelohn. 61 Hans-Joachim Ziegeler und Marga Stede haben die unterschiedlichen narrativen Strategien Spauns und Kaufringers herausgearbeitet. 62 Die Kombination der Gattungen, Situationen und Handlungsmuster gewinnt hier eine höhere Qualität. Kaufringer situiert das Geschehen bekanntlich im Adelsmilieu und verbindet Elemente des höfischen Romans mit denen des Ehebruchschwanks, reduziert den Schwankteil aber beträchtlich. Bei gleich bleibender Struktur verändert er grundlegend die Besetzung des Modells und die Motivierung der Handlung: Hier ist es ein Aventiureritter, der nächstens durch Zufall auf eine Frau trifft, die in einem Baumgarten auf ihren Liebhaber wartet, während ihr Mann am Burgfenster eine Leuchte hält. Der Ritter ,beschläft‘ die Frau und gibt ihr zum Trost und als Ausweis seines Adels die Barschaft von 60 Gulden. Später trifft er auf den Ehemann, der den Ruinierten materiell für ein Turnier ausstattet. Beide sind in enger geselleschaft verbunden. Nach dem Turniersieg erzählt der Ritter dem Alten die absonderliche Geschichte, und analog zu Spauns Erzählung nimmt der alte Ritter den jungen mit auf seine Burg. Hier zieht sich die Erkennung hin, da Bewirtung, Nächtigung und morgendliche Jagd die Zeit dehnen. Das ehebrecherische Paar erkennt einander beim Brettspiel und gerät unterdessen in Not. Doch der zurückkehrende Hausherr löst die angespannte Situation, indem er das Geld in drei Teile aufteilt, überdies aufgrund der engen geselleschaft seinem Freund verspricht, sich nicht an seiner Frau zu rächen.
An die Stelle des Studiums und der Gefährdung durch die Stadt treten die Aventiure und ihre Gefahren. Der Zufall der Begegnung wird durch eine Parodie des Aventiure-Musters motiviert. Infrage steht nicht das Verhältnis von jugendlicher Libido und rationalem Kalkül, sondern von Aventiuredrang und ständischer Disziplin. Die ritterliche Aventiure wird auf drei Ebenen zum trivialen Abenteuer depotenziert: zum drastischen Schwank im Baumgarten, zum städtischen Turnier, zur burlesken Erzählung in geselliger Runde. Kaufringer fokussiert das Geschehen nicht nur stärker als Spaun auf die ,Geschichte eines Helden‘, führt diesen nicht nur stärker in verschiedenen Rollen vor, er kombiniert auch konkurrierende Ordnungs- und Deutungsmuster. 63 Die exemplarische Funktion wird durch immer weitergehende Kon 61 Vgl. Anm. 34. 62 Ziegeler (Anm. 2), S. 306–310; Stede (Anm. 48), S. 48–58; vgl. ferner Udo Friedrich: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21 (1996), S. 1–30, hier S. 16–25; André Schnyder: Abenteuer, Liebe, Geld. Zu Heinrich Kaufringers Märe „Der zurückgegebene Minnelohn“. In: Euphorion 91 (1997), S. 397–412; Klaus Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft. Zur Fragmentierung des Ritters im Märe. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Fs. Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2003, S. 193–207. 63 Vgl. Ziegler (Anm. 2), S. 310; Stede (Anm. 48), S. 58.
Trieb und Ökonomie textualisierung und narrative Expansionen relativiert. So passt schon die Eingangssentenz über die treue Frau nur noch auf einen kleinen Teil der Erzählung. Junger und alter Ritter werden hier stärker als bei Spaun durch geselleschaft verbunden, die Männersolidarität dominiert die Ehebeziehung. 64 Der feudale Wert der Solidarität (geselleschaft) bleibt, so sehr der Erzählverlauf ritterliche Ideale relativiert, erhalten. Und auch die Lösung erfolgt nicht mehr nach rein ökonomischen Gesichtspunkten. Wenn der alte Ritter auf die Metaphorik des Brettspiels zurückgreift, des Würfelspiels mit seinen sexuellen Konnotationen, und den Einsatz der 60 Gulden gleichberechtigt verteilt, wird der Akt des Verrechnens von der ökonomischen hin zur symbolischen Ebene verschoben. Kaufringer legt gegenüber Spaun weitaus mehr Gewicht auf Kontextualisierung und Motivierung. Dennoch kann man an seiner Behandlung des Themas studieren, dass solche Strategien ihre Grenzen haben. Die klare Relation von Trieb, Geldgier und Rationalität, die Spauns eher karge Erzählung auszeichnet, geht bei Kaufringer verloren, und die Parodie ritterlicher Existenzform reicht nicht an deren Gehalt.
Kalkül und Kasuistik Ein ökonomisches Kalkül anderer Art liegt der Erzählung Von zwei Kaufleuten zugrunde. 65 Nicht die Folgen eines Ehebruchs, auch nicht die Spannung von Trieb und Geld werden hier durch einen Geschäftsvorgang bewältigt, sondern das Verhältnis von Tugend und Geld. Erzählt wird die Geschichte einer Treueprobe, und diese bildet geradezu die Umkehrung des Ehebruchschwanks. Die Pointe besteht gerade in der Vermeidung des Schwanks. Hatte die Erzählung vom mari battu et content die Raffinesse der treulosen Frau auf die Spitze getrieben, so führt die Treueprobe die Tugend der Frau an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Beide Geschichten aber illustrieren nur auf entgegen gesetzte Art den gleichen Wertekonflikt. Während im Ehebruchschwank ein soziales Bedrohungsszenario entworfen wurde, das die unabän-
64 Boccaccios Novelle vom integren Freund (Decameron X 8) treibt die Nähe der beiden Rivalen an ihre Grenzen, wenn er in der Dreieckskonstellation das Freundschaftsmotiv ausspielt, der zukünftige Gatte seine Braut dem Freund abtritt: Freundschaft triumphiert über Liebe: allerdings vor der Ehe (vgl. Kablitz [Anm. 15], S. 147–181). 65 Ruprecht von Würzburg: Die zwei Kaufleute. In: Neues Gesamtabenteuer (Anm. 34), S. 161–172. Zur Interpretation vgl. Christoph Gutknecht: Die mittelhochdeutsche Versnovelle „Von zwein koufmannen“ des Ruprecht von Würzburg. Hamburg 1966; Ziegeler (Anm. 2), S. 301–305; ders.: Art. Ruprecht von Würzburg. In: 2VL 8 (1992), Sp. 418–421; Winfried Frey: Tradition und bürgerliches Selbstverständnis. Zu Ruprechts von Würzburg Märe „Von zwei Kaufleuten“. In: Mittelalterliche Texte im Unterricht. Teil 2. Hrsg. von Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh. München 1976, S. 93–129.
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derliche Lasterhaftigkeit der Frau inszeniert, wird hier ihre Tugendhaftigkeit zur Geschlechterharmonie und zu einem Ideal sozialer Stabilität hochgerechnet. In der französischen Stadt Verdun festigt der reiche Kaufmann Gilot die Herrschaft über die Stadt, indem er sich mit seinem Freund, dem ärmeren Kaufmann Gillam, verbindet. Zeichen des Bündnisses ist die Hochzeit der beiden Kinder Irmengart und Bertram, die Gilot gegen den Widerstand seiner Frau durchsetzt. Die Verhältnisse sind stabilisiert, und die zweite Generation prosperiert. Als Bertram auf Handelsreisen in eine Kaufmannsrunde gerät, werden misogyne Geschichten von Ehefrauen zum Besten gegeben. Bertram hält dagegen eine Eloge auf seine Irmengart, erntet aber nur Spott in der Männerrunde. Der Wirt Hogier schlägt eine Wette um den gesamten Besitz vor, dass er Irmengart innerhalb eines halben Jahres verführen könne. Bertram willigt ein und verzögert seine Rückkehr. Hogier unternimmt nun alle Anstrengungen, die Aufmerksamkeit Irmengarts zu erringen, doch helfen weder Geschenke noch Bestechung des Personals. Er bietet darauf 100, 200, schließlich 1000 Mark, so dass die Umworbene in Konflikt mit ihrer Familie gerät und zur Annahme genötigt wird. In größter Not besticht sie schließlich ihrerseits ihre Magd Amelin, die sich bereitwillig eine Nacht für das Geschäft hergibt. Als Beweis schneidet Hogier seiner Geliebten einen Finger ab. Als es beim abschließenden Fest zur Auflösung der Wette kommt, erwartet den vermeintlichen Sieger eine Enttäuschung. Er verliert mit seinem Besitz seinen sozialen Status und wird mit 100 Mark sowie mit der Magd Amelin abgefunden.
Man kann die Geschichte als Treueexempel lesen, man kann sich angesichts ihrer Komplexität aber auch fragen, ob man es noch mit einem Exempel zu tun hat. Nahe liegt überdies, der sozialhistorischen Verortung der Geldproblematik nachzugehen. 66 Geschildert wird das patrizische Bürgertum des Spätmittelalters als politisch relevante Klasse, die auf Akkumulation von Geld und auf politische Macht aus ist, die Strategien zur Sicherung ihrer Zukunft entwirft. Überraschend ist indes das Risiko, den gesamten Besitz in einer Wette aufs Spiel zu setzen. Unter sozialkritischer Perspektive ist damit ein gesellschaftlicher Zustand markiert, in dem alles zur Ware werden kann und selbst der moralische Gewinn am Ende noch mit Betrug behaftet ist. 67 Aus der Perspektive der narrativen Kombinatorik dagegen handelt es sich um einen komplizierten Kasus, der auf zeitgenössische Werte reflektiert und der bei aller vorgeblichen Lehre Diskussionsbedarf hinterlässt. Neu konfiguriert wird schon die Figurenkonstellation. Das konstitutive Dreieck des Ehebruchschwanks ist hier erneut anders besetzt, die Rivalität der Männer ist rein ökonomisch bedingt. Die Rivalität der Geschäftspartner ersetzt die der Nebenbuhler. Der Wirt und der Bürger schließen eine Wette über die Treue der Bürgersfrau ab. Der Affekt ist vollständig durch das Kalkül ersetzt, Irmengart selbst Inbegriff der Tugend und ihrerseits durch eine ethische Rationalität gesteuert. Trieb, Geld und Rationalität verteilen sich nicht mehr übersichtlich auf drei Figuren wie in Spauns Erzählung. Und doch bleibt die negative Konstellation implizit und explizit präsent. Nicht nur wird in den misogynen Erzählungen das Narrativ vom übelen wîp entfal 66 Vgl. Frey (Anm. 65), S. 104–119. 67 Vgl. ebd., S. 111f. u. 115f.
Trieb und Ökonomie tet, treten Dienerschaft und Verwandtschaft offen für den Ehebruch ein, in der Magd Amelin wird das Prinzip der käuflichen Minne sogar als Handlung realisiert. Das Gegenbild zur Norm wird allerdings auf untere Schichten, auf die Dienerschaft, ausgelagert. 68 Kombiniert werden in der Erzählung auch verschiedene literarische Muster. Für die Darstellung der Hochzeit wird auf Motive aus dem höfischen Bereich zurückgegriffen, die den herausgehobenen Status des städtischen Patriziats belegen: Die Festschilderung imitiert höfisches Verhalten, 69 und in die Eheverbindung zwischen Bertram und Irmengart werden Elemente einer, indes christlich gefärbten, Minneterminologie eingespielt: vil minnecliches wip [...] der liebe got dich mir behüete! (V. 283 u. 286). Wohl mehr ironisch dagegen ist die Anlehnung an religiöse Muster, wenn Irmengarts Gegenlist Ergebnis einer Wendung an Maria um Fürbitte ist: got an ir groze triuwe sach / und gap ir einen guoten rat (V. 689f.). 70 Dass die Erzählform die narrative Entfaltung der Szenen determiniert, lässt sich zum einen an den misogynen Erzählungen in der Männerrunde zeigen, die sichtbar Anleihen beim Schwank machen, vor allem aber in der Beschreibung der beiden Liebesszenen. Während die Hochzeitsnacht zwischen Bertram und Irmengart nur angedeutet wird und der Erzähler sich schamhaft Schweigen verordnet – damite si der rede gedaget (V. 189) –, inszeniert er die nächtliche Begegnung zwischen Amelin und Hogier, wenn auch metaphorisch verkleidet, ausführlich als Wettkampf. 71 Ruprecht stehen offenbar ganz verschiedene narrative Register zur Verfügung, aus denen er die Geschichte zusammensetzt. Die Geschichte kombiniert sichtbar zwei Erzählmodelle. Die Handlung spielt im patrizischen Milieu und entfaltet einleitend über fast 300 Verse eine Familiengeschichte, die in die Treueprobe, in ein narrativ entfaltetes Exempel übergeht. Die Errichtung einer Kaufmannsdynastie und ihre Stabilisierung durch Filiation werden breit entfaltet, bevor alles in einer Wette aufs Spiel gesetzt wird. Die beiden Erzählmodelle stehen zunächst für die Unvereinbarkeit zweier Wertsysteme: hier die verlässliche Welt der patrizischen familia, die über Solidarität, triuwe und staete, vor allem aber Prophylaxe gekennzeichnet ist: Die Frau ordnet sich unter und die Kinder folgen dem Willen des Vaters, der souverän die Zukunft plant: ein patriarchales Modell. Dort aber die Welt des Geschäfts, die über Tausch, Kalkulation und Risiko sich definiert. Die Atmosphäre der Geschäftswelt ist geprägt durch misogyne Erzählungen in geselliger Runde und durch offensichtliche Konkurrenz. 68 Vgl. ebd., S. 112 u. 116. 69 Vgl. ebd., S. 109f. 70 Vgl. ebd., S. 116. 71 Vgl. Ziegeler (Anm. 65), Sp. 421. Keinesfalls flüchtet sich Ruprecht, wie Frey (Anm. 65), S. 116, meint, bei der Beschreibung der Hochzeitsnacht von Irmengart und Bertram in Metaphern. Er verstummt vielmehr, während er die klassische Schwanktechnik, den Sexualakt mittels Metaphern auszumalen, für die Liebesnacht zwischen Hogier und Amelin anwendet.
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
Die Konfrontation der beiden Erzählmodelle führt sogleich die soziale Tragweite vor Augen, die die Untreue der Frau nach sich ziehen kann, der potentielle Ehebruch wird sozial kontextualisiert und auf seine Folgen hin perspektiviert. Die Dreieckskonstellation wird öffentlich verortet. Die Gegenüberstellung verändert aber zugleich den Status des einzelnen Modells. Die Familiengeschichte wirft ihr Licht voraus auf den Kasus, nimmt ihm gewissermaßen einen Teil seiner Spannung, der Kasus wiederum entlarvt retrospektiv die idyllische Familiengeschichte als Trugbild. Herrschen in der Familiengeschichte Ordnung, Eintracht und Wohlstand, so offenbart sich im zweiten Teil mit einer bestechlichen Dienerschaft und einer geldgierigen Verwandtschaft auch die Fragilität des engeren sozialen Gefüges. Offenbar wird das Handeln der Figuren durch die Art des Erzählens, durch das Erzählmodell, gesteuert. Fingierte historia und Kasus geraten in Spannung. Markiert ist die Grenze durch die inserierten misogynen Erzählungen. Die Erzählung treibt aber vor allem einen Wertekonflikt auf die Spitze. Tugend und Ehre stehen zur Disposition, ihnen gegenüber stehen Geld als Wert und Sexualität als Mittel zum Zweck. Das städtische Patriziat synthetisiert offenbar traditionell heterogene Größen, verbindet finanzielles Kalkül, feudalen Statuskonsum und christliche Ethik: Geld, Ehre und Moral harmonisieren sichtbar miteinander 72, zumal Sexualität als Versuchung weitgehend ausgeschaltet, verdrängt wird. Psychologisch gesprochen: In der Welt des Handels ist Sexualität durch das Geschäft ersetzt, Lustgewinn zum Profit sublimiert. Die Umkehrung der Werte besteht gerade darin, dass Geld an die Stelle des Triebes treten kann und den sozialen Frieden ebenso stört. Anders als bei Spaun ist Geldgier hier aber nicht nur als soziales Stereotyp, als weibliches Laster, verortet, sondern als kollektives Syndrom eines Berufsstandes, das bis auf zwei die ganze familia ergreift. Während das Denken des Ehepaars – anders als in Fünfzig Gulden Minnelohn – nicht durch ökonomisches Kalkül bestimmt wird, ist das der Verwandtschaft und Dienerschaft davon beherrscht. Hatte die einleitende Familiengeschichte demonstriert, dass dem reichen Kaufmann Gilot nicht an ständischem Aufstieg gelegen ist, so demonstriert der Kasus, dass Bertram und Irmengart Moral nicht gegen Geld verrechnet sehen wollen. Wie sich Freundschaft und Treue als unverrückbare Prinzipien des Handelns im ersten Teil gegen die Versuchung ständischen Aufstiegs behaupten, so im zweiten gegen die Versuchung finanziellen Gewinns. In der Welt des Geschäfts werden Geld und Ökonomie zum Motor des Geschehens. Die Spannung von Ehre und finanziellem Gewinn wird dann an mehreren Stellen selbst thematisiert, wird zum Diskurs innerhalb der Handlung selbst: So verweist Amelin auf den öffentlichen Geltungsverlust, sollte sich die Weigerung Irmengarts herumsprechen (V. 572ff.), die zu Rate gezogene Verwandte unterscheidet zwischen öffentlicher Reputation und privat kaschierter Unehre (V. 604ff.), die Eltern und Schwiegereltern stellen den ökonomischen Vorteil über die familiäre Soli 72 Vgl. Frey (Anm. 65), S. 112f.
Trieb und Ökonomie darität (V. 622ff.). Dienerin, Verwandte, Eltern und Schwiegereltern, d. h. die familia als Instanz sozialer Sicherheit, zeugen davon, dass triuwe und Ehre als zentrale Werte sozialer Gemeinschaft verrechenbar geworden sind: 73 Mit Geld und Ehre aber stehen damit zwei Wertebenen zur Diskussion; der Text nimmt ein kasuistisches Prinzip in sich auf, ohne im Kasus zu münden: Die Entscheidung steht vorab fest, obwohl beide Seiten diskutiert werden. Verhandelt wird in Ruprechts Erzählung, eingelagert in zwei Erzählmodelle, der Status der Frau als Garant oder höchstes Risiko sozialer Ordnung. Was verbindet, was trennt die Erzählungen? Sie alle entfalten ihre Narration um die Ehebruchskonstellation herum, mal als vergangenes Ereignis, mal als gegenwärtiges, mal als zukünftige Drohung. Sie vermitteln exemplarische Lehren über die Frau: daz übele wîp und die ideale Gattin. Die Grundkonstellation des Ehebruchschwanks wird variiert, indem die Dreieckskonstellation, die Rollenentwürfe, die Erzählmuster und die Kontexte immer neu entworfen und kombiniert werden. Wiedererzählen desselben Plots realisiert sich primär in rhetorischer variatio und exemplarischer Vervielfältigung der Fälle, vollzieht sich als Handwerk einer Kombinationskunst. Die einzelnen Erzählungen rekurrieren dabei auf unterschiedliche narrative Mittel, um das Exempel in eine Geschichte zu überführen und um ,blinde‘ Implikationen zu explizieren: Schichtung exemplarischer Aussageebenen und Kontextvariation im Schneekind, Kombination mehrerer Handlungsstränge und Rollentypen in Claus Spauns Fünfzig Gulden Minnelohn, schließlich Einbettung des Skandalons in einen größeren familialen Horizont, kasuistische Relationierung von Erzählmodellen und Werten in Ruprechts von Würzburg Erzählung Von zwei Kaufleuten. Zwar nimmt die Organisation des Erzählvorgangs immer komplexere Formen an, doch bleibt der jeweilige Gehalt exemplarisch, gewinnt allenfalls Züge einer kasuistischen Form. Den Möglichkeiten, narrative Elemente und Strategien zu kombinieren, korrespondieren solche, die Kontextelemente variabel relationieren. Tauschverhältnisse unterschiedlichster Reichweite prägen die drei Erzählungen, die die Relation Sexualität und Geld betreffen. Im Schneekind wird Ökonomie zu einem Instrument der Rache (Fassung A). Das Vergehen der Frau wird überboten, indem das Resultat des Triebes, das Kind, nicht nur zu Geld gemacht wird (Fassung B), sondern sogar Gewinn einträgt. Wie das Vergehen verschafft sich die Replik einen Mehrwert an Lustgewinn: wird zur Vergeltung im wörtlichen Sinn. 74 Finanzielle und sexuelle Ökonomie sind schon hier hinsichtlich ihrer Funktion austauschbar. Der Kaufmann kompensiert den Fehltritt seiner Frau mit Geld.
73 Vgl. ebd., S. 115f. 74 gelt bezeichnet im Mittelhochdeutschen auch noch Vergeltung, Ersatz (vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Stuttgart 1992 [1872], Sp. 825).
Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen
In Claus Spauns Fünfzig Gulden Minnelohn wird Ökonomie zum Katalysator von Vergehen und Vergeltung. Hier werden Geld und Trieb real getauscht, doch motiviert die Asymmetrie des Tauschs zur Korrektur durch den Ehemann. Diese schafft aber keinen Mehrwert, verschiebt vielmehr die Vergeltung auf die symbolische Ebene. Erst die Umkehrung der Wertverhältnisse von Minne und Geld, ihre Reduktion auf Prostitution, verschafft nicht nur Ausgleich, sondern auch symbolischen Mehrwert: ,Lustgewinn‘. Der Ehemann rückt vor dem Hintergrund ökonomischer und auch familialer Relationen die Verhältnisse zurecht. Ökonomie wird dann zur professionellen Technik in Ruprechts von Würzburg Von den zwei Kaufleuten. Die Ökonomie macht die Sexualität der Frau zum Objekt des Handels, eines Kalküls, das Sexualität in die Spannung von Geld und Ehre stellt. Gewettet wird hier um soziale Geltungsansprüche. Geld ist innerhalb der Gesellschaft offenbar zum akzeptierten Wertmaßstab für alles andere geworden. Die Erzählung zeigt, dass mit beiden Möglichkeiten zu rechnen ist, doch die Standhaftigkeit der Moral selbst in der öffentlichen Meinung eher schon die Ausnahme ist. Auf verschiedene Art setzen die Erzählungen das Verhältnis von Trieb und Ökonomie in Szene. Sie geben kein Abbild historischer Verhältnisse und doch nutzen sie die Handlungsmuster der Ökonomie aufgrund ihrer realen und metaphorischen Analogie zur Sexualität, um narrative Prozesse zu gestalten. Mit seinen Elementen, Techniken und Zielen stiftet Ökonomie für die Kurzerzählung einen weiteren Raum der Interaktion, der als Spielraum in die Kombinationskunst integriert werden kann.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen Mittelalterliche Kurzerzählungen, sogenannte Mären, sind seit Hanns Fischers erstmaliger Erfassung dieses Korpus zunächst unter überlieferungs-, gattungs- und motivgeschichtlichen Aspekten untersucht worden. Das Korpus ist weitgehend erfaßt, vieles publiziert, und um seine gattungstheoretische Einordnung kreist bekanntlich eine kontroverse Diskussion.1 Gestritten wird über die Grenzen der exemplarischen Funktion, über die der Gattung, ja sogar über den Gattungsstatus als solchen.2 Die Bemühungen, den spezifisch literarischen Gehalt der Kurzerzählungen zu bestimmen, münden immer wieder in die Frage nach der Grenze zwischen funktionaler Bindung des Erzählens und seinem literarischen Mehrwert, wobei als privilegierter Bezugspunkt für den Übergang in die literarische Form die Novelle fungiert.3 Einmal wird die Neuerung in der narrativen Expansion als solcher lokalisiert, das andere Mal in komplexeren Figurenentwürfen, dann wieder wird der literarische Status in der kritischen Reflexion pragmatischer Sprachhandlungen festgemacht.4 Gegenüber diesen Merkmalen novellistischen Erzählens wird den mittel|| 1 Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 1968; Joachim Heinzle: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. In: ZfdA 107 (1978), S. 121–138; Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 87); Karl-Heinz Schirmer (Hrsg.): Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späten Mittelalters. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung. 558). 2 Erst in jüngerer Zeit treten Arbeiten hinzu, die soziale Kontexte, Diskursstrategien und Kulturschemata in den Blick nehmen und die soziale Einbettung der Erzählungen thematisieren: Jan-Dirk Müller: Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den ‚Drei listigen Frauen‘. In: Philologische Untersuchungen. Hrsg. von Alfred Ebenbauer, gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Wien 1984 (Philologica Germanica. 7), S. 289–311; Hans-Jürgen Bachorski: Diskursfeld Ehe. Schreibweisen und thematische Setzungen. In: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von dems. Trier 1991 (Literatur, Imagination, Realität. 1), S. 511–545; ders.: Das aggressive Geschlecht. Verlachte Männlichkeit in Mären aus dem 15. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S. 263–281; Jan-Dirk Müller: Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hrsg. von Martin Huber, Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 461–481. 3 Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 8). 4 Fischer (Anm. 1); Neuschäfer (Anm. 3), S. 12–32; Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347–375. https://doi.org/10.1515/9783110772340-011
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hochdeutschen Kurzerzählungen allenfalls ein Spiel mit sozialen Handlungsmustern attestiert, aber auch eine relevante Literarizität überhaupt bestritten, da diese an die sinntragende Struktur eines Gattungsmusters gebunden sei.5 Die mittelalterliche Kurzerzählung kann damit als ein bevorzugtes Demonstrationsfeld dienen, einige Fragen über die historische Ausprägung dessen, was Geltung von Kunst genannt wird, zu diskutieren.
1 Ebenen der Textkonstitution: Ethik – Rhetorik Die Diskussion über die Gattungspoetik bzw. Literarizität der mittelalterlichen Kurzerzählung hat ihren notwendigen – historischen wie systematischen – Bezugspunkt in den zeitgenössischen Rahmenbedingungen literarischer Produktion: in ihrer Herkunft aus der Exempeltradition.6 Als eine funktionale Form der Narration, die ihren festen Platz im Register rhetorischer Überzeugungsmittel – historia, argumentum, fabula – hat, schreibt das Exempel noch der entfalteten Kurzerzählung ein didaktisches Substrat ein. Typisiertes Personeninventar, Pro- oder Epimythien, die Lehrhaftigkeit proklamieren oder suggerieren, und stereotype Lasterkonstellationen zeugen von diesem pragmatischen Zusammenhang. Die Figuren sind hier weitgehend auf Funktionen sozialer (Un-)Ordnung reduziert.7 Exemplarität wird dabei nicht nur syntagmatisch über einen funktionalen Erzählaufbau organisiert, sondern mehr noch über die paradigmatische Ebene der Figuren- und Wertekonstellation, d. h. über die kontextuelle Besetzung der Erzähleinheiten. Solche Besetzungen aber besitzen stets ihren sozialen Normenhorizont. Indem die Kurzerzählung immer wieder den Einbruch von Trieb und Gewalt in den familialen ordo thematisiert, wird sie zum Ort sozialer Werteversicherung, im besten Fall Wertediskussion. In ihrer Uniformität transportieren die Kurzerzählungen einen pragmatischen Appell und konstituieren einen Diskurs patriarchaler Ordnung.8 Selbst die Komik fungiert nicht nur als Distanzierungsindex – Ausgrenzung eines Spielraums befreiten Lachens –, sie ist immer auch ‚Instrument einer persuasiven Wirkungsstrategie‘.9 Man kommt für die mittelalterliche Literatur nicht recht weiter, wenn man auf dem Umschlag|| 5 Müller: Noch einmal (Anm. 2); Walter Haug: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von dems., Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea. 8), S. 1–36. 6 Klaus Grubmüller: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Ebd. (Anm. 5), S. 37–54. 7 Sie haben kein Innenleben, keine Krisen, sondern funktionieren stets nach den gleichen Affektmechanismen (Trieb, Zorn); vgl. Neuschäfer (Anm. 3), S. 12–16. 8 Bachorski: Diskursfeld Ehe (Anm. 2), S. 511–545. 9 Winfried Wehle: Novellenerzählen. Französische Renaissancenovellistik als Diskurs. 2. korrigierte Aufl. München 1984 (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen. 37), S. 14.
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punkt von Funktionalität in Literarizität beharrt. Noch wo im Einzelfall die Belehrungsfunktion durch eine subversive Darstellung unterlaufen wird, bewahren die verwendeten sozialen Stereotype einen Restbestand pragmatischer Normierung. 10 Gegenstand dieses Erzählens bleiben entsprechend zentrale Felder des Geschlechterverhältnisses wie Ehebruch und patriarchale Herrschaft sowie ihre positiven Gegenbilder Liebe, Treue und Unterordnung. In ihrer Funktion bleiben die weitaus meisten Kurzerzählungen ideologisch. Mittelalterliches Erzählen folgt noch nicht der Alternative von Funktionalität und Autonomie, sondern bindet stets soziale Normierung und Literarizität aneinander. Letztere realisiert sich weitgehend im Horizont rhetorischer Vorgaben. Die Rhetorik liefert den literaturtheoretischen Rahmen für das Erzählen, indem sie ein System von Anleitungen zur Verfügung stellt, in dem pragmatische und ästhetische Funktionen miteinander verbunden sind. 11 Mittelalterliches Erzählen folgt überwiegend dem Prinzip des Wiedererzählens. Franz Josef Worstbrock hat für die höfische Epik auf die rhetorischen Implikationen dieses Anspruchs verwiesen: Der mittelalterliche Dichter bearbeitet eine vorgegebene materia, die er mit Hilfe des rhetorischen Repertoires in eine neue Form überführt. 12 Veränderung der Disposition, Erweiterung und Kürzung sowie stilistische Formulierung bilden die zentralen Operationen der Bearbeitung. 13 Was aber für die höfische Epik als elaborierter und gehobener Form des Literarischen zutrifft – der Befund der rhetorischen Signatur –, gilt umso mehr für die mittelalterliche Kurzerzählung. Es überrascht daher nicht, daß ein Ehebruchschwank wie das Schneekind auch als rhetorisches Musterbeispiel aufgefaßt werden kann und seine Pointe – sichtbar in der Form des Exempels – schon in die Poetria nova des Galfred von Vinsauf Eingang findet. 14 Wenn neben dem sozialen Stereotyp der untreuen Frau noch eine rhetorische Form illustriert wird, kann der Text zumindest auf zwei Ebenen gleichzeitig exemplarisch ausge-
10 Bachorski: Diskursfeld Ehe (Anm. 2), S. 511–545. 11 Wehle (Anm. 9), noch für die Novellistik; vgl. auch Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101, hier S. 25. 12 Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea. 16), S. 128–142, hier S. 138. 13 Ebd., S. 138. Fragen der dispositio und der elocutio stehen im Vordergrund. 14 Galfred von Vinsauf: Poetria nova. In: Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen age. Hrsg. von Edmond Faral. Paris 1958, S. 219 (V. 714–717); vgl. Klaus Grubmüller: Der Tor und der Tod. Anmerkungen zur Gewalt in der Märendichtung. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten, Frank Shaw. Tübingen 1996 (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London. 63), S. 341– 347, hier S. 344. Zu den rhetorischen Techniken in der Kurzerzählung vgl. Karl-Heinz Schirmer: Stilund Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969 (Hermaea N.F. 26).
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen wertet werden. 15 Das narrative Schema bedient zugleich ein ethisches und ein rhetorisches System. Wiedererzählt werden kann zunächst derselbe plot, d. h. die realisierte Geschichte selbst mit ihrer je spezifischen Konfiguration. Das wäre auf der Ebene der Kurzerzählung das Analogon zur rhetorischen Variationskunst der Epiker. Von zahlreichen Kurzerzählungen existieren mehrere voneinander abweichende Fassungen. Das Schneekind liegt in zwei Fassungen vor, die Drei listigen Frauen in drei, und von dem beliebten plot des marie battu et content existieren ungleich mehr Versionen. 16 Auch hier scheint die Leistung darin bestanden zu haben, konkurrierende Fassungen zu überbieten. Die Herausforderung zum Wiedererzählen kann zum einen darauf hinauslaufen, neue Situationskontexte für den Ehebruch zu erfinden, zum anderen, die Handlung auf eine variable Art zu motivieren. Neu zu motivieren aber bedeutet im rhetorischen Anforderungsprofil, andere Argumente zu finden und Handlungszüge neu zu disponieren. Die Erzählung profiliert sich in diesem Fall gegenüber konkurrierenden Fassungen weniger auf der Ebene der Moral als auf der der Darstellung. Nicht nur der Vorgang der Produktion, sondern auch der der Rezeption ist weitgehend rhetorisch determiniert. Noch für die entstehende Novellistik des 15. Jahrhunderts konstatiert Winfried Wehle, daß Formales und Poetologisches weniger einer ästhetischen als einer funktionalen, rhetorischen Signatur unterworfen seien. Gegenüber den traditionellen Gebrauchszusammenhängen des pragmatisch orientierten Erzählens in Lehre, Predigt und Brief konstituiere sich eine neue „Vollzugsform von Geselligkeit“, die zwar entlastet sei vom funktionalen Argumentationsdruck der genera causarum, doch nichts desto weniger zweckbestimmt bleibe. 17 „Geselligkeit“ bezeichnet hier nur die veränderte Kommunikationssituation, den Sachverhalt, daß Erzählen in einem anderen Diskussionsrahmen als in Kirche, Gericht und Fest verortet wird, noch nicht eine Autonomie des Literarischen. Von daher ist es nicht zufällig, daß novellistisches Erzählen zunehmend in die Spannung
15 Schon die antike Fabel besitzt diese Option zur rhetorischen bzw. poetischen Funktion. Einen berühmten Fall für die rhetorische Technik der Schlagfertigkeit bietet die Fabel des Phädrus Gladius et viator. „Wer ließ dich fallen“, sprach ein Wanderer zu einem vor ihm liegenden Schwert und erhält zur Antwort: „Mich einer, ich viele“ (me unus quidem, at multos ego). Die grammatische Pointe der Übersetzung stammt von Hans Blumenberg: Glossen zur Fabel. In: Akzente 28,4 (1981), S. 340–344, hier S. 340f. 16 Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich. Göppingen 1972 (GAG. 49), S. 43–61 u. 177–192. Zu Doppelfassungen vgl. Klaus Grubmüller (Hrsg.): Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek deutscher Klassiker. 138, Bibliothek des Mittelalters. 23), S. 1014f.; Ziegeler (Anm. 1), S. 187–195 u. 334–389. 17 Wehle (Anm. 9), S. 12f.
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von Exemplarität und Kasuistik gerät. 18 Innerhalb des geselligen Kontextes, der textimmanent als Rahmenhandlung inszeniert wird, werden soziale Normen, kulturelle Muster und selbst rhetorische Strategien disponibel und reflektierbar. In der geselligen Enklave wird diskursivierbar, was sozial tabuisiert ist. Themen, Motive und Formen geraten aber nicht erst dort in die Diskussion, wo sie wie in der Novellistik innerhalb einer Rahmenhandlung erörtert werden, sondern schon dort, wo ein Erzähler sich dem Publikum gegenüber der eindeutigen Bewertung enthält, etwa wenn Heinrich Kaufringer im Feigen Ehemann eine Geschichte erzählt, die nicht zu der einleitenden Sentenz paßt: etwie vil und doch nit gar, also einen Spielraum der Bewertung aufmacht. 19 Die Diskrepanz zwischen normativem Anspruch und Erzählvorgang betrifft schon viele Kurzerzählungen. Aber auch dort entsteht Raum für Kasuistik, wo einander widersprechende Handlungsmuster inszeniert werden, schließlich, wo innerhalb des Textes selbst kontroverse Sachverhalte zur Diskussion gestellt werden. Das ist vor allem dort der Fall, wo die Narration in erheblichem Maße von Reden getragen wird. Eine Erzählung wie die von den Drei listigen Frauen illustriert eine solche Strategie. Die Geschichte handelt von der Wette dreier Frauen, welche von ihnen ihren Mann am besten übertölpeln kann. Die erste redet ihm ein, er sei von der Gemeinde zum Abt gewählt worden, die zweite dem ihren, er sei gestorben, der dritten gelingt es, ihren Mann nackt in die Kirche zu schicken. Die Erzählung liegt in verschiedenen Fassungen vor und ist schon dadurch ein Beispiel für Wiedererzählen par excellence. 20 Sie läßt sich als pervertierte Ehrkonkurrenz in Analogie zum Turnier oder als sadistische Gewaltphantasie erzählen. 21 Darüber hinaus demonstriert die Erzählung aber, wie dasselbe Strukturmuster variiert wird, wenn alle drei Frauen zu unterschiedlichen Täuschungsmanövern greifen. Die Erzählung bündelt gewissermaßen drei Einzelexempel, bringt sie in ein Verhältnis der Konkurrenz und legt damit das kasuistische Prinzip solchen Erzählens offen. 22 Der Spielraum der Kasuistik aber, den der Text selbst entwirft, verweist zugleich auf den Kommunikations 18 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 7. Aufl. Tübingen 1999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 15), S. 171– 199, hier S. 196; Neuschäfer (Anm. 3), S. 52–75; Stierle (Anm. 4), S. 362–366. 19 Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Paul Sappler. Tübingen 1972/1974, S. 73–80, hier S. 73 (V. 24). 20 Von den dreyen frawen. In: Codex Karlsruhe 408, bearbeitet von Ursula Schmid. Bern/München 1974 (Bibliotheca Germanica. 16), S. 135–145; vgl. Müller: Noch einmal (Anm. 2), S. 289–311; Francis Raas: Die Wette der drei Frauen. Beiträge zur Motivgeschichte und zur literarischen Tradition der Schwankdichtung. Bern 1983 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur. 58). 21 Vgl. Müller: Noch einmal (Anm. 2), S. 289–311. 22 So endet die erste Geschichte mit dem Fazit: Also wart dez mannes leip / Gelestert von seins selbes weip, / Wann weib vil zú pringet; / Waz man saget oder synget, / So výndet man so vngeheúres nicht, / Als von weiben geschicht. (V. 105–110); die zweite Geschichte wird folgendermaßen ausgewertet: Also hat daz túmme weip / Betrógen ires mannes leip (V. 244f.).
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen rahmen, auf die „Vollzugsform von Geselligkeit“: Nú solt ir an schaúwen, / Welch vnder den dreyn fraúwen / Aller meinst habe[n] betrógen / Vnd iren man an gelógen, mit dieser Aufforderung an das Publikum endet die Geschichte. 23 Während die einzelnen Exempel je für sich die Botschaft vom übelen wîp formulieren, lenkt ihre Multiplizierung und Relationierung die Aufmerksamkeit auf das ‚Wie‘ der Umsetzung, d. h. auf die rhetorischen Strategien. Schon das Sinnpotential der relativ einfachen Kurzerzählungen realisiert sich zugleich auf unterschiedlichen Ebenen und verweist damit auf das Problem der Textkonstitution. Für die Textmodelle von Strukturalismus und Pragmatik ist es selbstverständlich geworden, daß Erzählen auf ganz verschiedenen Ebenen sich konstituiert: Geschichte und Diskurs (Todorov), Funktion, Handlung und Narration (Barthes), Textpragmatik, Textsemiotik und Textpoetik (Stierle). Erzählen vollzieht sich stets in Handlungszusammenhängen und Diskursstrategien, unterliegt zugleich komplexen kulturellen Zeichensystemen und kann sich gar auf sich selbst beziehen, kann reflexiv auf seinen eigenen Vorgang rekurrieren. Alle drei Felder – Moral, Kultur, Rhetorik – erschließen verschiedene Konstitutionsebenen des Textes. Renate Lachmann hat darüber hinaus, anschließend an Roland Barthes, ein dreigliedriges Textmodell skizziert, das von den officia oratoris ausgeht und sich nach den Funktionsebenen der inventio, der dispositio und der elocutio aufbaut. 24 Auf die Ebenen des Textes übertragen, ergeben sich eine Inhaltsebene, eine der Sequenzbildung und eine stilistische. In diesen drei textkonstituierenden Funktionen sieht Lachmann die kulturelle Wirksamkeit der Rhetorik bis in die Gegenwart reichen. Auch entwirft nach Lachmann schon die Rhetorik mit der Einteilung ihrer drei Redesituationen eine Vorstellung von der Polyfunktionalität der Sprache: beweisen, bewegen und erfreuen. 25 Verweist die Textpragmatik auf das komplizierte Feld der textexternen Handlungs- und Diskurskontexte, so liefert die Rhetorik selbst schon rein immanent die Register für einen komplexen Textbegriff. Unter der Perspektive eines solchen Systems von Konstitutions- und Kontextebenen erfahren selbst die Kurzerzählungen eine erhöhte Komplexität. Die Geschichten geben vor, etwas zu demonstrieren (beweisen), sie zielen mit ihren drastischen Inszenierungen und Redepartien auf den Affekthaushalt der Beteiligten, und sie präsentieren ihren Gegenstand durchaus unter dem Einsatz spezifisch rhetorischer Stilmittel. Was sich innerhalb des rhetorischen Registers als isolierte Sprachfunktionen der genera causarum ausdifferenziert – beweisen, bewegen, erfreuen –, kann in der literarischen Inszenierung auf komplexe Art gebündelt, kombiniert und 23 Von den dreyen frawen (Anm. 20), S. 145, V. 408–411. 24 Renate Lachmann: Rhetorik – alte und neue Disziplin. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (1981), S. 21–29. 25 Ebd., S. 23. Rhetorik ist also nicht nur ein technisches Instrumentarium zur Verfertigung von Reden, sie erweist sich als ein komplizierter Funktionsmechanismus, in dem grundlegende kommunikative Verhältnisse einer Gesellschaft sich abbilden.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen
hierarchisiert werden. Als Kunstwerke im modernen Verständnis müssen sie deswegen noch nicht gelten. Zu wenig reflektieren sie die Normen ihrer Zeit, zu sehr partizipieren sie an den zeitgenössischen Ordnungsmustern, die sie nur im Ausnahmefall kritisieren, zu gering ist selbst im besten Fall ihre ästhetische und sprachliche Durchformung. Während ihr Erzählen unter den Prämissen einer historischnormativen Rhetorik (Poetik) durchaus hohen kunsthandwerklichen Anspruch besitzt, mangelt ihnen aus der Perspektive einer modernen Verfremdungsrhetorik eine spezifisch ästhetische Qualität. 26 Und nicht zufällig beginnt diese sich dort zu artikulieren, wo die Provokation der Geschichten eine andere, kritische Qualität erhält: bei Boccaccio.
Pragmatik des Diskurses Rhetorik spielt aber schon ganz unmittelbar eine besondere Rolle in mittelalterlichen Kurzerzählungen. Der Rang performativer Inszenierung wird rein äußerlich darin sichtbar, daß immer wieder längere Redepartien den Erzählvorgang unterbrechen. Die Erzählungen sind vielfach durchsetzt mit Dialogen und Monologen, mit längeren Disputen und Vorträgen. Einzelne Erzählungen bestehen sogar vollständig aus Dialogen, indem etwa ein Ehepaar in einen Streit oder ein Minnepaar in ein Werbungsgespräch gerät. 27 Der Übergang zur Gattung Rede kann fließend sein. Rhetorisierung aber bezeichnet das Einfallstor des Diskurses in die Narration und prägt noch die Novellistik Boccaccios. 28 Am Beispiel der Erzählung Von den drei listigen Frauen läßt sich zeigen, daß eine Rhetorisierung des plots immer auch eine Option war, der Vorgang entweder eher narrativ oder performativ inszeniert werden konnte. Heinrich Kaufringer erzählt die Geschichte in einer deutlich syntagmatisch motivierenden Handlungsfolge mit kurzen Dialogpartien, sie existiert im Codex Karlsruhe aber auch als rhetorischer Konflikt, in dem die Frauen mit abstrusen Argumenten ihre Männer ins Unglück stürzen. 29 Es gehört überdies zu den pragmatischen Implikationen der inserierten Reden, daß sie zugleich als Sprachhandlungen wirken: überreden, belehren, streiten, verhören, beichten u. ä. bilden privilegierte Handlungsformen innerhalb der Kurzer-
26 Zur Dichotomie von Rhetorik und Poetik einerseits und Ästhetik anderseits vgl. ebd., S. 25f. 27 Z. B. Der Knecht im Garten, Zwei Beichten, Ehescheidungsgespräch, Frauenlist. 28 „Boccaccio gestaltet und analysiert mit Vorliebe Reden.“ Kurt Flasch: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron. München 2002, S. 162. Vgl. etwa die Erzählung vom integro amico in Decameron X,8, die in erheblichem Umfang durch diskursive Rede geprägt ist. 29 Müller beschreibt die unterschiedlichen ‚Argumentationsweisen‘, mit denen die Frauen ihre Männer übertölpeln; Müller: Noch einmal (Anm. 2), S. 292–311.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen zählungen. 30 Damit knüpfen die Erzählungen an elementare Handlungsmuster des sozialen Lebens, an reale Sprachhandlungen an, und deren Evokation ruft immer auch die Instrumentarien des patriarchalen Ordnungsdiskurses auf. Sibotes Frauenzucht, die von der gewaltsamen Zurichtung einer widerspenstigen Tochter und ihrer Mutter durch den Schwiegersohn erzählt, enthält zahlreiche Dialogpartien zwischen den Beteiligten, diskursiviert also den Erzählgegenstand Erziehung nicht unerheblich: ‚Tohter, diner muoter site wonent dir ze lange mite‘, sprach der vater eines tages. ‚swenne du mir hernach klages und hast genomen einen man der enwil noch enkan dine erge vertragen, so wirstu dicke zeslagen; so geriuwet dichs ze spate‘. 31
Die agonale Grundstruktur des Geschlechterkampfes in der Kurzerzählung realisiert sich auch auf der Ebene der Performanz. Das ist zunächst gewiß Reflex einer Kultur der Mündlichkeit. In ihrer Appellfunktion weisen viele Ordnungsreden dabei über die immanente Redesituation der Erzählung hinaus und mahnen zugleich den Rezipienten, den Gefahren gegenzusteuern. Im erheblichen Anteil an diskursiven Strategien offenbart sich der Diskurscharakter solchen Erzählens. In den Erzählungen widersetzen sich Frauen den Lehren der Männer oder sie überreden sie und übernehmen dadurch die Herrschaft im Haus, Männer verführen naive Frauen durch die Macht der Rede. In den Kurzerzählungen wird unablässig überredet, wird die Wirkungslosigkeit oder die negative Wirkung der Rhetorik vor Augen geführt und damit das Scheitern des rationalen Diskurses, der mit dem Mann identifiziert wird. Ein man sprach ze sînem wîbe, so beginnen verschiedene Kurzerzählungen des Stricker und demonstrieren in der Folge, daß die Verteilung der Redekompetenz in der Gesellschaft hierarchisch, d. h. geschlechtsspezifisch geordnet sein sollte. Die rhetorische Überlegenheit der Frau, die sich dann in der Folge einstellt, markiert dabei ebenso die Verkehrung der sozialen Ordnung wie der Minnediskurs im Mund des
30 Einige Beispiele: Überreden: Drei listige Frauen. Belehren: Die faule Frau, Der Widerspenstigen Zähmung. Verhören: Der Pfaffe und die Ehebrecherin, Der verklagte Bauer. Streiten: Ehescheidungsgespräch. Beichten: Die zwei Beichten. 31 Sibote: Die gezähmte Widerspenstige. In: Neues Gesamtabenteuer. Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. Berlin 1937, S. 1–11 (V. 121–129); Hans-Joachim Ziegeler: Art. Sibote. In: 2VL 8 (1992), Sp. 1134–1138; vgl. Müller: Der Widerspenstigen Zähmung (Anm. 2), S. 461–481.
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Bauern. Umfang und pragmatischer Status der Redepartien lassen sich auf die Vorgaben des Ordnungsdiskurses beziehen.
Redeagon: Rhetorische Selbstreferenz und Metaphernspiel Über die pragmatische Funktionalisierung hinaus können sich die inszenierten Sprachhandlungen auch selbstreflexiv zum eigentlichen Thema verhalten. Bei allem pragmatischen Appell sind dann Referenzbezug und Ernst der Argumente auf komplexe Art suspendiert, sie sind selten realistisch, vielmehr greifen sie auf erfundene, vielfach irrwitzige Begründungen, auf raffinierte sprachliche Wendungen und auf literarische Muster oder Metaphern zurück. Auch die Suspendierung der Wahrscheinlichkeit kann sich in gewissem Umfang auf Vorgaben der Rhetorik berufen. Unter den rhetorischen Formen der Narration steht das argumentum in Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch zwischen der historia und der fabula, den beiden beliebtesten Formen exemplarischer Rede. 32 Das argumentum ist erfunden und doch prinzipiell möglich. Damit ist aber ein Spielraum abgesteckt, der den Kurzerzählungen eignet und den sie imaginativ ausbauen: der zwischen der inventio eines außerordentlichen Falls bei gleichzeitiger prinzipieller Wahrung des Realitätsbezugs. Die Phantastik des außerordentlichen Falls wird dabei zum einen paradigmatisch an allgemeingültige Überzeugungen rückgebunden, etwa über die Natur der Frau, zum anderen syntagmatisch mit Plausibilisierungsstrategien verschiedenster Art unterlegt. 33 Die rhetorische Praxis kann dabei in Konkurrenz zum ethischen Register treten. In der Erzählung von den Zwei Beichten entlockt ein Mann seiner Frau, daß sie sich eine Unzahl von Liebhabern hält, nimmt dieses aber bei aller Schande hin, weil die Frau ihm den jeweiligen Nutzen für die Familie erklärt. Die Frau selbst hingegen nimmt die Beichte des Mannes, der nur eine unabsichtliche Berührung der Magd bekennen kann, zum Anlaß erheblicher Empörung. 34 Der Witz solcher Reden zehrt von einer Logik des Kontrastes: Promiskuität – Keuschheit, Nachsicht – Zorn. Die Erzählung stabilisiert damit zum einen ein negatives Frauenbild und zeigt die Folgen einer falschen Machtverteilung in der Ehe auf, sie demonstriert zum anderen 32 Arno Seifert: Historia im Mittelalter. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1971), S. 226–284, hier S. 228–231. 33 Müller: Noch einmal (Anm. 2), S. 293. 34 Die zwei Beichten B. In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1966 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 12), S. 268–273; Werner Schröder: Art. Die zwei Beichten A. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1615f.; Alwine Slenczka: Art. Die zwei Beichten B. In: ebd., Sp. 615f.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen aber auch einen Modus der Findung rhetorischer Argumente: Indem die Serie der Liebhaber rationalisiert wird durch Verweis auf deren soziale Funktion, wird das gesamte Spektrum sozialer Beziehungen zum topischen Feld der Invention für die Ehebruchkonstellation: u. a. Hirte, Pfaffe, Richter, Meßner, Nachbar, Bote, Koch. Die Position des Liebhabers in der Dreiecksstruktur wird mehrfach besetzt, zur Serie hin geöffnet. 35 Die rhetorische Funktion kann aber auch gänzlich entsemantisiert sein. Im Ehescheidungsgespräch des Stricker wird der verbale Geschlechterkampf ausschließlich durch das rhetorische Prinzip der gegenläufigen Steigerung (amplificatio) inszeniert: Während der Mann in immer neuen Anläufen droht, den Zeitpunkt der bevorstehenden Trennung zu verkürzen, befördert die Frau im Gegenzug die Aussicht auf ein gemeinsames Zusammenleben. Das Thema des Streits reduziert sich auf die Inszenierung einer symmetrischen Form, die nicht inhaltlich, sondern nur formal und rhetorisch gefüllt wird. 36 Beide Erzählungen, die sich weitgehend über einen Dialog realisieren, münden schließlich in einer Versöhnung und spielen damit noch die positive Gegenwelt des Geschlechterkampfes ein. Strickers Erzählung von dem Armen und dem reichen König mündet in einen Disput, der in der Tradition des Streitgesprächs zwischen dem Klugen und dem Mächtigen steht. 37 Doch triumphiert hier der Kluge nicht durch eine ethische oder rationale Argumentation, sondern primär über eine rhetorische. Als der reiche König vorgibt, von einer Beleidigung durch den armen geträumt zu haben, bietet dieser ein Sühnetreffen auf einer im Grenzfluß gelegenen Insel an. Dort überantwortet er dem Beleidigten als Wiedergutmachung das Bild seiner Ritter, wie sie sich im Wasser spiegeln. Die Konfrontation erfolgt auf realer, die Lösung auf rein imaginärer und rhetorischer Ebene. Der politische Konflikt verlagert sich auf das Feld der Bildlichkeit. Jenseits aller rhetorischen Plausibilität und vor aller Metaphorisierung
35 Das serielle Prinzip wird in der Überlieferung unterschiedlich besetzt und fortgeführt. Zu den verschiedenen Versionen mit Abdruck der handschriftlichen Überlieferung vgl. Werner Schröder: Niewöhners Text des bîhtmaere und seine überlieferten Fassungen. In: PBB 91 (1969), S. 260–301 (zur Karlsruher Handschrift 408 und Donaueschinger Handschrift 104); ders.: Additives Erzählen in der Mären-Überlieferung. In: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Fs. für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Karl-Heinz Schirmer, Bernhard Sowinski. Köln/Wien 1972, S. 187–202 (zur Wiener Handschrift 3027). 36 Der Stricker: Ehescheidungsgespräch. In: Ders.: Verserzählungen. Bd. 1. 4. revidierte Aufl. besorgt von Johannes Janota. Hrsg. von Hanns Fischer. Tübingen 1979 (ATB. 53), S. 22–27. Vgl. Der Stricker: Erzählungen, Fabeln, Reden. Mhd./Nhd. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Otfrid Ehrismann. Stuttgart 1992, S. 265. 37 Der Stricker: Der arme und der reiche König. In: Ders.: Verserzählungen. Bd. 2. 3. revidierte Aufl. besorgt von Johannes Janota. Hrsg. von Hanns Fischer. Tübingen 1984 (ATB. 68), S. 24–30; vgl. Alexander und Dindymus, Salomon und Markolf. Hedda Ragotzky: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in den Texten des Strickers. Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 1), S. 122–128. Zur Tradition der Schattenbuße vgl. Grubmüller (Anm. 16), S. 1051f.
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handelt es sich hier um eine Konkurrenz der Repräsentationen: Traumgesicht versus Spiegelbild. Die Kollision der verschiedenen Geltungsebenen hat indes ihren Preis. Damit die rhetorische Pointe funktioniert, muß die Realität erzähltechnisch suspendiert, muß eine Zusatzbedingung eingeführt werden. Am Ende trägt der Stricker nach, daß die erwartbare Rache des Mächtigen fehlschlägt, da der Fluß zwischen den beiden Heeren nicht zu überschreiten war. Der Sprachwitz geht sichtbar auf Kosten der syntagmatischen Kohärenz. 38 Die Kurzerzählung präsentiert sich aber nicht nur als künstliches Arrangement von Argumenten, sondern auf einer Ebene auch als Spiel mit Sprache und Erzählmustern, das auf ganz unterschiedliche Stilebenen ausgreifen kann. 39 Im literarischen System ihrer Zeit verortet sie sich auf einer mittleren Ebene. Einerseits beutet sie bereits in ihren Anfängen Handlungsmuster und Motivarsenal der höfischen Literatur aus. Die Komik schon einzelner Strickermären basiert auf der parodistischen Überlagerung von Minne- und Ehediskurs, d. h. auf der Konfrontation eines tradierten literarischen Musters mit den geltenden sozialen Ehenormen. 40 Andererseits tendiert ein nicht geringer Teil der Kurzerzählungen zur narrativ reduzierten Zote, die nur mehr kruden Sexualphantasien Ausdruck verleiht und diese im Wortspiel obsessiv ausagiert. Einzelne Erzählungen können geradezu auf eine rhetorische Pointe, einen Witz, zusteuern, so daß das Ziel der Geschichte primär ein rhetorisches, ein sprachliches, ist. Im Spannungsfeld dieser Optionen realisiert sich ein geselliges Erzählen, das Motive und Gattungsmuster unterschiedlichster Art frei kombiniert und einer rhetorischen Strategie unterwirft. Indem dieser Erzähltyp sich aber zwischen hoher und niederer Stilebene verortet, sprachlich wie thematisch, zehrt er auf unterschiedliche Art vom rhetorischen Register. In solcher Ausrichtung auf unterschiedliche Stilebenen ist das Spiel mit dem Gegensatz von wörtlicher und übertragener Bedeutung ein geläufiges Darstellungsmittel. In der Erzählung Der Pfaffe und die Ehebrecherin stellt ein Pfarrer eine Frau zur Rede und wirft ihr vor, die Ehe gebrochen zu haben. Die Frau findet keinen Fürsprecher – offensichtliches Zeichen ihrer Schuld –, so daß sie sich selbst verteidigt: Sie will ir wort selbe sprechen. 41 Es entspinnt sich eine längere Wechselrede, in
38 Unter semiotischer Perspektive aber kann es schon ein poetischer Mehrwert sein, wenn die rhetorische Grenze noch einmal durch eine topographische bestätigt wird. Zur literarischen Funktion der Raumgrenze und der Grenzüberschreitung vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rudolf Dietrich Keil. 4. Aufl. München 1993, S. 311–340. 39 Udo Friedrich: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21 (1996), S. 1–30 (in diesem Band S. 205–234). 40 Aber auch ganze Inserate von höfischen Handlungssegmenten können vorkommen, etwa die Inszenierung von Fernminne (Ritter Alexander), Aventiuremustern (Der zurückgegebene Minnelohn) oder von Minnepathologie und Minnerede (Der Schreiber); vgl. Ragotzky (Anm. 37), S. 83–140. 41 Pfaffe und Ehebrecherin. In: Niewöhner (Anm. 31), S. 21f., V. 23; Codex Karlsruhe (Anm. 20), S. 580f.; vgl. Hans Folz: Pfaffe und Ehebrecherin. In: Ders.: Die Reimpaarsprüche. Hrsg. von Hanns
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen der die Frau die Anklage des Pfarrers entkräftet, indem sie in Sprachspiele ausweicht: So habe sie nicht die Ehe gebrochen, schließlich stehe ihr Mann gesund und ungebrochen neben ihr, auch lasse sie sich nicht mit fremden Männern ein, da sie alle, die sie geliebt habe, gekannt habe, schließlich könne sie nicht an einem Überfluß an Minne leiden, da sie noch nie genug bekommen habe. Indem die Frau Metaphorik wörtlich nimmt, semantische Kontexte verschiebt und gegeneinander ausspielt, legt sie zugleich den rhetorischen Gehalt der Alltagsrede offen. Entsprechend reagieren die Zuhörer: Do begunden die liute lachen / und grozen schimpf druz machen. 42 Das Urteil des richtenden Pfarrers wird durch das Lachen des Publikums ersetzt, so daß der moralische Konflikt zwar nicht verschwindet – er wird sogar noch verschärft –, zugunsten des Sprachspiels aber in den Hintergrund tritt. Die Schlußsentenz zielt bezeichnend auch auf eine rhetorische Lehre, die die Macht der Rede propagiert: daz man merke dabi, / wer noch wol geredet si, / daz der dicke mac beliben, / so man in wil vertriben. 43 Der rhetorische Gehalt usurpiert auch in der Auswertung den moralischen. Das narrative Schema wird durch das rhetorische Register organisiert, das ethische liefert nur noch die Stereotypen für die Besetzung der Rollen. Die Rede der Ehebrecherin verweist auf die Möglichkeit des Spiels mit Metaphorik, und gerade dieses Spiel wird im Bereich der niederen Ebene stereotyp an die Grenze der Zote getrieben. Das Erzählverfahren selbst ist ein metaphorisches, indem schlicht zwei Kontexte aufeinander projiziert und semantische Doppeldeutigkeiten genutzt werden. Die Erzählungen können hier auf ganz unterschiedlicher Ebene Handlungskontexte konnotativ ausbeuten, immer aber verdoppelt sich im metaphorischen Prozeß die Sinnebene hin auf einen zweideutigen Bezug. Alltagshandlungen erhalten so einen sexuellen Nebensinn. Die Erzählung von der Nonne im Bade öffnet den Akt der Massage im Bad auf sexuelle Konnotationen. Über den suggestiv wiederholten Begriff des Reibens werden beide Handlungskontexte aufeinander bezogen. 44 Das Almosen erzählt von einer Frau, die von ihrem geizigen Mann äußerst kurz gehalten wird. 45 Als ein Bettler an ihrer Tür um ein Almosen bittet, kann sie ihm außer ihrer Minne nichts anbieten. Der erstaunte Bettler geht freudig auf das Angebot ein, und die Frau selbst ‚spendet‘ nun großzügig: mit vlize gap si ime daz. 46 Die Geschichte erhält ihre Pointe durch Interferenz und Widerspruch von Fischer. München 1961 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 1), S. 140–145; Karl-Heinz Schirmer: Art. Pfaffe und Ehebrecherin A und B. In: 2VL 7 (1989), Sp. 544–546. 42 Pfaffe und Ehebrecherin (Anm. 41), V. 63f. 43 Ebd., V. 77–80. 44 Peter Schmieher: Die Nonne im Bade. In: Fischer (Anm. 34), S. 89–92. 45 Das Almosen. In: Niewöhner (Anm. 31), S. 25f.; Hedwig Heger: Art. Das Almosen. In: 2VL 1 (1978), Sp. 255f. 46 Das Almosen (Anm. 45), V. 64.
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sexueller und karitativer Ökonomie, d. h. durch die Überlagerung zweier Kontexte: durch ein metaphorisches Verfahren. Viele solcher Metaphorisierungen finden sich in den Kurzerzählungen: in der Tasche spielen, im Forst jagen, den Acker pflügen, den Durst stillen etc. 47 Die Fokussierung der Handlung auf eine metaphorische Aussage hin aber rückt die sprachliche Dimension des Textes in den Vordergrund. Die metaphorische Pointe kann schließlich in eigenständigen Redeformen zugespitzt und konnotativ ausgebeutet werden, kann sogar selbst wieder diskursiv entfaltet werden. In Heinrich Kaufringers Erzählung vom Zehnten der Minne läßt sich eine einfältige und gutgläubige Bauersfrau vom Pfarrer drohen und überreden, doch endlich den ausstehenden Zins zu entrichten, und dieser bezieht die Forderung selbstredend auf ihre Minne. 48 Der Gedanke der kirchlichen Teilhabe wird überdehnt und auf die Frau ausgeweitet. Nach vollzogener Verführung rächt sich der Ehemann in einer Replikhandlung, indem er dem Pfarrer anstelle des Weines einen Becher Urin von seiner Frau vorsetzt. Die Pointe dieser drastischen Geschichte liegt in der Moralpredigt, die der Bauer dem Pfaffen abschließend hält und in der er den ganzen Vorgang metaphorisch darlegt: Er wundere sich über die Reaktion des Pfarrers, der Wein sei aus einer feinen Rebe gewachsen, aus der er – der Pfarrer – selbst noch vor kurzem den Zehnten genommen habe. Ihm selbst habe der Weingarten, der im übrigen kein Lehen, sondern sein Eigentum sei, bisher viel Liebes und Gutes eingetragen. 49 Im verhüllten Sprechen wird nicht nur ein Sprachwitz realisiert. Die Metaphorisierung des Geschehens besitzt einen eigenen konnotativen Spielraum. Der Bauer rächt sich sprachlich geschickt, indem er die Zinsmetaphorik des Pfaffen aufnimmt, sein Handwerk – den Weinbau – als Instrument der Rache einsetzt und zugleich damit seinen Besitzanspruch bekräftigt. Es sind Wahl und Konnotationsspielraum der Metapher, primär rhetorische Operationen also, auf denen die Pointe der Replik beruht. Einen weiteren Schritt hin zur Literarisierung stellen die konkretisierten Metaphern und Chiffren dar. Sie machen Bestandteile der Handlung selbst zum Sprachbild, mitunter gar zu veritablen Akteuren, etwa wenn Genitalien personifiziert werden (Das Nonnenturnier). In Kaufringers Erzählung von der Rache des Ehe-
47 Vgl. Hans Folz: Der fahrende Schüler. In: Ders.: Die Reimpaarsprüche (Anm. 41), S. 188–201, I,13 und II,12. Im Minnedurst wird die ‚durstige‘ Braut von ihrem Liebhaber an der Wasserstelle erwartet, der denn auch gleich den schaffenstil, – eigentlich Bezeichnung für die Schöpfkelle – ansetzt. Die Braut ruft unterdessen ihrem wartenden Mann zu: ‚ich will mich e ergetzen / mins durstes und ansetzen / als dicke unz ich erlesche in gar.‘ / der knabe bot ir aber dar / sinen schaffenstil als e. / vil lute si do aber schre: / ‚gehoerstuz? Ich setz aber an / zem andern mal, wan ich niht kann / minen durst erleschen noch‘. Minnedurst. In: Niewöhner (Anm. 31), S. 85–88, V. 221–229. 48 Heinrich Kaufringer: Der Zehnte der Minne. In: Ders.: Werke (Anm. 19), S. 131–139; Marga Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer. Trier 1993 (Literatur, Imagination, Realität. 5), S. 95–99. 49 Kaufringer: Der Zehnte der Minne (Anm. 48), V. 265–290.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen manns werden die Zähne des Ritters und das Skrotum des Pfaffen zu Requisiten der Handlung und damit zeichenhaft aufgeladen. 50 Beliebte metaphorische Chiffren stellen Tiere dar, die meist auf das animalische Substrat in der Natur der Frau verweisen. Hans-Jürgen Bachorski hat auf den Wolf aufmerksam gemacht, der in der Erzählung von der Wolfsgrube zusammen mit dem Pfarrer, der Magd und der Ehefrau in die Falle geht und der für den vagabundierenden Trieb stehen soll. Nachdem alle in die Falle gegangen sind und ihre Strafe erhalten haben, werde allein das Schicksal des Wolfes nicht thematisiert. Bachorski deutet diesen Umstand als ein Zeichen für den nicht zu bezwingenden weiter wirkenden Trieb. 51 Dem schlichten Schwank wird damit eine irritierende Chiffre eingeschrieben. Auf andere Art zeigt sich der Transfer in Jörg Zobels Fauler Frau. Ein Edelmann verzweifelt an der Widerspenstigkeit einer seiner Töchter und verheiratet sie mit einem Roßtäuscher in der Absicht, ob er si auch gezämen müg / und si nach sinem wilen züg. 52 Der Ehemann spricht hier mit seiner widerspenstigen Frau nur vermittelt über die faul daliegende Katze und droht dieser drastische Konsequenzen an. Als das Verhalten seiner Frau sich nicht ändert, vollzieht er auch die Strafe an dem Tier: Aber erst nachdem er es seiner Frau in den Schoß gelegt hat, so daß die geprügelte Katze die Strafe weitergibt und die Ehefrau zerkratzt. 53 Die Katze steht metaphorisch und metonymisch für die Frau, sie spiegelt deren Eigenschaften und vertritt sie als Objekt der Erziehung. Der kulturelle Kontext der Domestizierung, der dem Erziehungsgedanken im Mittelalter zugrunde liegt, scheint durch die Chiffre der Katze deutlich auf. Nicht zufällig aber handelt es sich um einen Roßtäuscher, ist die Pferdemetapher doch generell ein beliebtes Requisit, die Dienstverpflichtung der Frau zu illustrieren. So zeigt sie in der Allegorie vom Wilden Roß des Stricker ebenso die ‚Pervertierung‘ der Geschlechterrollen an wie in der Erzählung von Aristoteles und Phyllis, in der der Philosoph der Minne verfällt und sich freiwillig zum Reittier erniedrigt. 54 In der Widerspenstigen Zähmung des Sibote wird dagegen die Frau selbst kurzzeitig zum Reittier des Ritters, um sie zu domestizieren. 55 Sie wird damit an ihre Pflichten ermahnt. Am drastischsten aber konkretisiert der Teichner die Pferdeme 50 Friedrich (Anm. 39), S. 6–16. 51 Bachorski: Das aggressive Geschlecht (Anm. 2), S. 266–269 u. 268f. 52 Jörg Zobel: Die faule Frau. In: Fischer (Anm. 34), S. 286–293, V. 39f.; vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Art. Zobel, Jörg. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1571–1579, hier Sp. 1573f. 53 Jörg Zobel: Die faule Frau (Anm. 52), S. 286–293. 54 Der Stricker: Das wilde Roß. In: Die Kleindichtung des Strickers. Bd. 3. Hrsg. von Wilfried Moelleken [u. a.]. Göppingen 1975 (GAG. 107, III,1), S. 94–99; Aristoteles und Phyllis. In: MaerenDichtung. Bd. 2. Hrsg. von Thomas Cramer. München 1979 (Spätmittelalterliche Texte. 2), S. 21–35; Claudia Brinker-von der Heyde: Weiber – Herrschaft oder: Wer reitet wen? Zur Konstruktion und Symbolik der Geschlechterbeziehung. In: Manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren. Berlin 1996 (Beihefte zur ZfdPh. 9), S. 47–66. 55 Müller: Der Widerspenstigen Zähmung (Anm. 2), S. 471f.
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tapher in seiner Erzählung von der Roßhaut. Die geltungssüchtige Frau eines Dienstmannes will mit ihrer Herrin konkurrieren und fordert von ihrem Mann ein teures Kleid für eine öffentliche Feier. Als sie sich nicht davon abbringen läßt, schlachtet ihr Mann ein wertvolles Pferd, zieht ihm das Fell ab und zwingt seine Frau unter Todesdrohungen, dieses auf dem Fest anzuziehen: also twang er daz weib / daz sew in der roshaut gie. 56 Die Figur der Metapher als ‚Kleid‘ der Sprache wird hier substantialisiert. In all diesen Konkretisierungen von Metaphern wird ein Requisit der Handlung zum Zeichen im Geschlechterkampf: Wolf, Katze und Pferd verkörpern jeweils ‚negative‘ Eigenschaften der Frau: Trieb, Faulheit, Herrsch- und Geltungssucht. Eine solche Operation der Konkretisierung aber geht schon über den rein rhetorischen Akt hinaus, vielmehr rückt eine rhetorische Figur (Metapher, Allegorie) aus dem Bereich der elocutio in den der inventio und der dispositio ein.
Rhetorische Diskursivierung Neben ihrer stereotypen Personenkonstellation bieten Ehebruchschwänke zugleich feste Situationstypen, die jeweils neu imaginiert werden müssen: Verführungsphase, Vollzug des Ehebruchs, listige Rettung oder Bestrafung. All diese Handlungsmuster bieten das Basisgerüst der Narration. Je nach Bedarf können einzelne dieser Szenen die Narration dominieren, andere in den Hintergrund treten. Der gleiche plot erlaubt ganz unterschiedliche Akzentsetzungen. Eine weitgehende Fokussierung des plots auf die rhetorische Ebene liefern zwei Erzählungen, die eine Werbungssituation ins Bild setzen und die durch lange Werbungsreden ausgezeichnet sind: Hans Rosenplüts Knecht im Garten und die Erzählung von der Frauenlist. 57 Die beiden Erzählungen bündeln insofern das bisher Entfaltete, als sie sowohl das gleiche Strukturmuster jeweils anders besetzen als auch beide dem rhetorischen Register und damit der Sprachebene der elocutio privilegierte Aufmerksamkeit widmen. Dabei sind sie auch in der sprachlichen Umsetzung diametral unterschiedlich ausgerichtet. Beiden Erzählungen liegt das Handlungsmuster vom mari battu et content zugrunde, in dem der Ehebruchschwank an seine Grenzen geführt wird. Die Geschichte handelt von der List einer Frau, die nicht nur erfolgreich einen Ehebruch
56 Der Teichner: Von prangen mit der roshaut. In: Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Bd. 2. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. Berlin 1954 (Deutsche Texte des Mittelalters. 46), S. 109–111, V. 60f. 57 Hans Rosenplüt: Der Knecht im Garten. In: Fischer (Anm. 34), S. 178–187; vgl. Ingeborg Glier: Art. Hans Rosenplüt. In: 2VL 8 (1992), Sp. 195–211; Ingeborg Glier: Hans Rosenplüt als Märendichter. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Kolloquium 1987. Hrsg. von Klaus Grubmüller, L. Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff. Paderborn 1988 (Schriften der Universität, Gesamthochschule Paderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft. 10), S. 137–149; Frauenlist. In: Niewöhner (Anm. 31), S. 43–50.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen einfädelt, sondern zugleich noch ihren Mann von der Unschuld der Ehebrecher überzeugt. Die Inversionsstruktur des Ehebruchschwanks, die verkehrte Welt, ist hier auch noch handlungslogisch invertiert: der Liebhaber im Schlafzimmer, der Ehemann am Gartentor, zumal als Frau verkleidet, die Offenlegung der illegitimen Werbung, schließlich Prügel für den Ehemann vom Liebhaber. Die Geschichte ist vielfach erzählt, die Rollen sind unterschiedlich besetzbar. Der plot liegt als Schwank vor (Der Koch), aber auch in höfischer Einkleidung (Der Schreiber), und noch Boccaccio literarisiert ihn im Dekameron (VII,7). 58 Hans Rosenplüt erzählt die Geschichte mit einem eigenen Akzent. Er reduziert bekanntlich die Handlungselemente auf ein Minimum und stellt die Werbungsrede in den Mittelpunkt, verlagert das Geschehen also von vornherein auf die rhetorische Ebene. Indem er die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Machart der Rede lenkt, zieht er dem Schwank eine zusätzliche Ebene ein. Der Knecht bietet seiner Herrin seinen Minnedienst an und wird von ihr entrüstet zurückgewiesen. Die Komik der Szene zehrt von dem schlechten Stil der Verse (fünt ir einen funt), von den gezwungenen Reimen, vor allem aber von der unbeholfenen Hyperbolik der Vergleiche und Metaphern: So wird das gebrochene Herz zum gespaltenen, das die Herrin wieder zusammenbinden soll. Einige der Metaphern transportieren einen eindeutigen sexuellen Nebensinn. 59 Schon der Topos, seiner Herrin mit Leib und Gut zu dienen, kippt durch erweiternde Versprechen ins Anzügliche: mit kraft, mit macht, mit fleisch, mit plut (V. 10). Auch die Rede von der Frau als Burg, die der Knecht belagert, ist sichtbar zweideutig: darumb sliesst auf euers herzen tor / (mit großer wart stee ich davor) / und laßt euer lieb do pfortner sein, / so würd ich schier gelassen ein (V. 61–64); oder die Frau: darumb reiß ab dein geschoß. / es ligend hunderttausend schloß / vor dem, das du host begert (V. 19–21). Die Frau zeigt sich trotz ihres Widerstands nicht nur angetan von der Redegabe des Knechts – dein zung ist wol gesmirt, / die mir mit worten so suß hoffirt (V. 37f.) –, sie erliegt letztlich auch seiner Rhetorik: si sprach: hör auf, ich ger der stangen. du erreichst, das nie keiner kunt erlangen. deine wort haben mich so gar durchweicht, dein zung hat mir so süß gesmeicht
58 Der Koch. In: Eine Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. Tübingen 1965 (ATB. 65), S. 56–63; Der Schreiber. In: Niewöhner (Anm. 31), S. 109–112. Zu Boccaccio VII,7 vgl. Neuschäfer (Anm. 3), S. 16–26; Joachim Heinzle: Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Wolfram-Studien 5 (1979), S. 41–62, hier S. 43–57. 59 David Blamires: Sexual Comedy in the Mären of Hans Rosenplüt. In: Trivium 11 (1976), S. 90–113, hier S. 95f.
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mit worten hüpsch, klug und subtil, das ich mich dir ergeben will. 60
Der Eingangsvers offenbart einen doppelten Sinn, wenn man erfährt, daß es sich bei ihm um eine zeitgenössische Unterwerfungsformel aus dem Turnierwesen handelt. Auf dem Turnierplatz waren in der Regel Stangenträger anwesend, deren Aufgabe es war, auf Wunsch eines der Kämpfer den Kampf zu unterbrechen und mit den Stangen den Kampfplatz zu sperren. 61 Hier, im Kontext eines burlesken Minnediskurses, transportiert die Unterwerfungsformel erneut durch die Überblendung zweier Kontexte einen obszönen Nebensinn. Deutlich rückt Rosenplüt die Sprachebene in den Vordergrund und formuliert den plot zu einem Sprachspiel um. Entsprechend fordert die Frau den Knecht denn auch in offener Metaphorik zum Beischlaf auf: ‚nu kreuch herfür, es ist zeit, / der acker ungeschnitten leit, / und tracht, das er werd geschniten.‘ 62 Damit mündet die Geschichte, die sichtbar auf einer niederen Stilebene angesiedelt wird, in der Zote. Anders als beim Stricker mißrät der Minnediskurs nun auch sprachlich im Munde der nicht höfischen Akteure. 63 Noch die Funktion der Minnemetaphorik wird auf den Kopf gestellt, indem ihre verhüllende Leistung durch ihren hyperbolischen Einsatz ins Gegenteil umschlägt. Sie wird mehr zum Ausdruck der Triebdynamik als eines Minneverhältnisses. Die moralischen Restriktionen des Ehebruchdiskurses und die Lizenzen des Minnediskurses werden nicht nur gegeneinander geführt, sondern über das rhetorische Register noch zusätzlich verzerrt. Schwankschema und rhetorische Form sind aufeinander abgestimmt. Ganz anders verfährt die Erzählung von der Frauenlist, die sich gleich im ersten Vers als hübschez maer, als höfische Erzählung, vorstellt. 64 Ein Schüler, dessen Tugend nachdrücklich beschrieben wird, verliebt sich in eine verheiratete Frau. Nach langem Ringen entschließt er sich, um ihre Gunst zu werben, kreuzt ihr wiederholt den Weg und grüßt sie aufdringlich. Die Frau weist ihn mehrmals hochmütig ab, doch versteht sie schließlich eine seiner Metaphern nicht: swer den vogel vahen wil, / der muoz im legen stricke vil. 65 Neugierig bestellt sie den Schüler ein, der denn auch sogleich die Gelegenheit zu einer ausführlichen Werbungsrede nutzt. Wie in Rosenplüts Erzählung, indes erst nach langem Widerstand, gibt sich die Frau schließlich
60 Der Knecht im Garten (Anm. 57), V. 73–78. 61 Fischers Übersetzung „Ich gebe mich besiegt“, trifft nur den abstrakten Sachverhalt; Fischer (Anm. 34), S. 539 u. 536. 62 Der Knecht im Garten (Anm. 57), V. 135ff. 63 Höfisch vorbildlich wird der Minnediskurs in der Erzählung vom Schreiber inszeniert. 64 Frauenlist (Anm. 57), S. 43, V. 1; vgl. Karlheinz Schirmer: Art. Frauenlist. In: 2VL 2 (1980), Sp. 864–865; Heribert Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung. Göppingen 1978 (GAG. 256), S. 127–129; Ziegeler (Anm. 1), S. 329–332. 65 Frauenlist (Anm. 57), V. 213f.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen geschlagen und verspricht dem Schüler die Erfüllung seiner Wünsche, doch weicht die Art der Inszenierung deutlich ab. Erst gegen Ende geht die Erzählung in den Schwank über, wenn die Frau dreimal zusammen mit dem Schüler ihrem Mann begegnet und diesen mit unterschiedlichen Erklärungen abspeist. Gegenüber dem rhetorischen Aufwand wird die Schwankhandlung fast auf eine Nullstufe reduziert. Die Erzählung lebt von den langen Redepartien der Beteiligten, die einen versierten Rhetoriker erkennen lassen. Karl-Heinz Schirmer hat auf die verschiedenen Redetypen verwiesen: „der Konfliktmonolog des Studenten“, „die Werbungsdialoge mit zunächst spöttischem Vorbeireden der Frau und der anschließenden überlegenen Dialogführung durch den Studenten“, schließlich „der in den Konfliktmonolog der Frau hineingenommene fingierte Dialog zwischen ihr und ihrem Herzen“. 66 Das Werbungsgeschehen entfaltet sich vor dem Hintergrund des geltenden moralischen Systems, das in Figurenrede, Sentenzen und Erzählerkommentar präsent gehalten wird. Im ‚inneren Monolog und Dialog‘ wird das Ringen des Schülers wie das der umworbenen Dame vorgeführt, wodurch die „moralische Kontroversität“ des Geschehens zum Ausdruck kommt. 67 Zwar setzt der Text mit einem Tugend- und einem Frauenpreis ein, doch ‚beweist‘ die Erzählung weder die ethischen Prämissen noch ‚widerlegt‘ sie sie, vielmehr schildert sie einen Fall, der komplizierter ist. Die Reden relativieren die strikte moralische Perspektive. Die Figuren inszenieren gewissermaßen einen Kasus und betreiben darüber hinaus je für sich kasuistische Selbstrhetorik, indem sie soziale Normen und Risiken gegenüber ihrem Begehren abwägen. An die Stelle der einfachen Triebdynamik, wie Rosenplüt sie inszeniert hatte, tritt Minne als positiver Wert. Sie eröffnet eine Innenperspektive als Reflexionsraum, der seinerseits rhetorisch strukturiert ist. Die Gegenläufigkeit von Minnediskurs und Ehebruchschwank produziert aber selbst schon Konfliktpotential und eröffnet einen Spielraum für Kasuistik. Der hervorgehobene Status der verschiedenen Redegattungen akzentuiert aber neben dem moralischen Kasus noch einen rhetorischen Funktionszusammenhang. Die Erzählung inszeniert gewissermaßen den Diskurs der Rhetorik im Spektrum seiner Möglichkeiten. Das Wiedererzählen rekurriert auf das komplexe Arsenal rhetorischer Argumentations- und Ausschmückungsfiguren. So sind die Argumente des Schülers in seinem inneren Monolog topisch: ethischer Vorbehalt, ständischer Minderrang, Armut und Entdeckung. All das kann ihn aber von seinem Vorhaben nicht abhalten. Seine Argumentation orientiert sich überdies, rhetorischen Vorschriften 66 Schirmer (Anm. 64), Sp. 864. 67 „Moralische Kontroversität“ wird als ein spezifisches Kennzeichen der Novellistik Boccaccios zugeschrieben, obgleich sie als Gestaltungsform schon im Mittelalter nachweisbar ist. Vgl. Andreas Kablitz zur Novelle X,8 vom integro amico; Andreas Kablitz: Boccaccios ‚Decameron‘ zwischen Archaik und Modernität. Überlegungen zur achten Novelle des zehnten Tages. In: Literarhistorische Begegnungen. Fs. zum 60. Geburtstag von Bernhard König. Hrsg. von dems., Ulrich SchulzBuschhaus. Tübingen 1993, S. 147–181, hier S. 153.
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folgend, an der Wahrheit von Sentenzen.68 Es ist die Figur des Enthymems als wahrscheinlicher Prämisse für einen Beweisgang, auf die die umworbene Frau und der Schüler wiederholt rekurrieren. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang der raffinierte Einsatz zahlreicher Metaphern, die wiederholt Ausgangspunkt neuer Argumentation sind. Daß die Geschichte einem höfischen Register verpflichtet ist, zeigt etwa der Umstand, daß an die Stelle offener Sexualmetaphorik der Verschwiegenheitstopos tritt, der Erzähler mithin auf krude Effekte verzichtet. Die besondere Raffinesse der Gestaltung, „das Spiel mit den Sprichwörtern und die semantische Uminterpretation von Begriffen durch distinctiones“,69 demonstriert tiefergehende rhetorische Kompetenz. So appelliert der ethisch Tugendhafte an die Minnetugend seiner Dame, wodurch der Begriff der tugent semantisch doppeldeutig wird. Solche Ambiguisierung der Semantik wird durch die Gegenläufigkeit zweier Wertsysteme erreicht, die nicht mehr hierarchisiert sind: Ehebruchschwank und Minnediskurs. Die Begriffe beziehen ihre Semantik aus jeweils unterschiedlichen Kontexten. Vor aller Individualisierung der Figuren verschiebt sich der Topos der listigen Frau signifikant. Während das Schwankschema das Stereotyp des üblen wîps inszeniert – sust wart geaft der tumbe man, / als noch maneger wirt getan –, zeigt sich die List der Minnedame in der sorgfältigen Prüfung des Schülers, als die sich der Konfliktdialog schließlich präsentiert: Do daz gepruofte diu vrouwe guot / daz sin herze und ouch sin muot / in ganzer lieb so staete was, da kommt sie zu dem Entschluß, daß es ihr nicht anstände, den werbenden Schüler zugrunde gehen zu lassen.70 Der Schüler selbst hatte diese Art von List schon zum Anlaß genommen, potentiellen Widerstand der Frau nicht allzu ernst zu nehmen.71 Moralisch anfechtbare List aber gerät in Spannung zur rhetorisch umgesetzten Klugheit im Dienste der Minne. Die Verantwortung für die Handlung wird denn auch an das Herz delegiert: ich kan wol so manegen list [...].72 Eine eigene Reflexionsform auf der elocutio-Ebene artikuliert sich in den verwendeten Metaphern und Vergleichen. Es ist vor allem die Frau, die schon in der ersten Werbungsphase wiederholt in Rätseln spricht, den Schüler geradezu mit absurden Sprüchen herausfordert. Auch sonst greift sie immer wieder zu topischen Vergleichen: der Esel, der aufs Glatteis geht, der Vogel, der zu früh flügge wird, der
|| 68 Frauenlist (Anm. 57): ich horte daz der siget / der ze hohe stiget. (V. 89f.); ich han davon gehoeret vil: / swar nach der man mit staete ranc, / daz im des ein teil gelanc, / obz im niht allez werden kann (V. 120–123); vil ofte ein dinc verdirbet / daz man niht enwirbet (V. 133f.). 69 Schirmer (Anm. 64), Sp. 864. Zur Figur der distinctio vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart 1990, S. 335–337. 70 Frauenlist (Anm. 57), V. 615f. u. 435–437. Vgl. Ziegeler (Anm. 1), S. 329. 71 etslichiu sich ein wile vrist / mit worten, allez durch den list / daz si werde inne, / wie des mannes sinne, / sin muot und ouch sin herze ste [...] ob erz mit triuwen meine. Frauenlist (Anm. 57), V. 157–163. 72 Ebd., V. 510.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen Dorn schöner Rosen usw. 73 Sie scheitert bezeichnenderweise an der wohl geläufigsten Metapher für Minne: der des Vogelfangs. Indem der Schüler seiner Angebeteten den Gehalt des Bildes vor Augen führt, erklärt er ihr die Figur der Metapher: wie ichz darzuo bringe / daz ich iuch in der minne stric / würre, daz ich behabe den sic. 74 Der Schüler scheint zum Lehrer zu werden. Das Motiv der Fesselung taucht an späterer Stelle im Kontext der Minnevereinigung wieder auf und offenbart den Erfolg der metaphorischen Logik: diu liebe stricket unde bint (V. 540). Es gehört zum raffinierten Einsatz rhetorischer Mittel, daß die Vogelfangmetapher offenbar selbst zum Köder wird: das Sprachbild vertritt den Minneaffekt, der den Liebenden klassisch überfällt und ‚bindet‘. Zahlreiche weitere Metaphern durchziehen den Text: So blüht die Tugend des Schülers aus der Gruft seines Herzens (V. 59), er wünscht sich, in ihres Herzens Schrein zu gelangen (V. 103) oder daß sein Glück flügge werde (V. 126). Die Frau antwortet mit einem Bildfeld, das die Diskrepanz von Süße und Schmerz ausdrückt: Rosen und Dornen, Honig und Galle. Das Moment der Ambiguität der Bedeutung prägt neben der Wort- auch die Bildebene. Einzelne Metaphern werden aufgegriffen und weiter ausgebeutet. So wird das Kind zum Bild der Eigenwilligkeit und der Wahrheit gleichermaßen, Züchtigung zur Strafe und zugleich zum wunnespil. Das Kontroversgespräch über Minne ist auch eines der rhetorischen Konkurrenz, der Findung von Argumenten. 75 Das Werbungsgespräch verhandelt sogar das alte Thema der Wahrhaftigkeit der Rhetorik. Der klassische Vorwurf lautet, die Wahrheit der Rhetorik sei Schein, und das Werbungsgespräch widerlegt und bestätigt diesen Vorbehalt gleichermaßen. 76 So weist die Umworbene wiederholt die Werbungsrede des Schülers zurück, indem sie ihm Taktik unterstellt: ich gibe niht ein ber / umb iuwer rede. 77 Demgegenüber insistiert der Schüler auf dem substantiellen Gehalt seiner Worte: ez sol mir sin unmaere / daz ich rede mit dem munt / daz dem herzen si unkunt. (V. 352ff.) oder: vrouwe, ich rede an valschen list / daz mir umbez herze ist (V. 413f.). Gegen den Vorwurf rhetorischer Manipulation wird eine Rhetorik der Aufrichtigkeit ins Feld geführt. Der Disput eröffnet damit ein Feld, auf dem Geltungsansprüche der Rhetorik verhandelt werden. Kenntnis von rhetorischer Technik schützt nicht nur davor, zum
73 Ebd., V. 282–285, 295–299, 343f., 346f. 74 Ebd., V. 260–262. 75 Dem Vorwurf, daß er dem Vogel gleiche, der zu früh zu fliegen beginne und damit den Kindern als Spielzeug anheim fällt, ja daß er überhaupt einem Kind gleiche, begegnet der Schüler mit freudigem Einverständnis: Kinder sagen die Wahrheit. Auf die Gegenhaltung, daß Kinder gezüchtigt würden, wenn sie nicht Frieden gäben, entgegnet der Schüler: Ihr zuliebe wolle er alle Schmerzen leicht ertragen. So entfaltet sich der Redeagon, indem die jeweiligen Argumente aufgenommen und abgebogen werden; ebd. V. 295–335. 76 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104–136. 77 Frauenlist (Anm. 57), V. 363f.; vgl. V. 290, 348, 409.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen
Opfer zu werden, sie ist zugleich ein probates Instrument der Personenerkenntnis. Der Schüler setzt explizit auf seine Redegabe, um die Absicht der Frau zu eruieren: daz het ich schiere an ir vernomen, / waere ich mit ir ze rede komen. / darufe kan ich mich verstan, / sint ich michs mer genietet han. 78 Und auch die Frau beruft sich auf ihre Versiertheit in der Lehre von der Minne. 79 Wenn der Frau aber letztlich die Strategie zugeschrieben wird, ihrerseits nur die Aufrichtigkeit des Schülers geprüft zu haben, dann demonstriert auch sie eine virtuose Handhabung rhetorischer Strategie. Die Grenze zwischen Aufrichtigkeit und Strategie wird auf beiden Seiten eingeschliffen. Wie im Minnesang fängt offenbar nicht der Schüler die Frau, sondern diese ihn. Das Werbungsgespräch reflektiert seinen Gegenstand und seine Inszenierungsform. Der Umgang mit ihrem Mann am Ende der Geschichte treibt dann den Gedanken von Schein und Sein auf die Spitze. Als ihr Ehemann schließlich wiederholt auf das Liebespaar trifft und sich nicht mehr mit Erklärungen abspeisen läßt, unterwirft ihn die Frau einer drastischen Probe. Sie führt ihn vor ein Wasserbecken, in dem sich beider Antlitz spiegelt, und bringt ihren Mann dazu, Zweifel an dem Spiegelbild zu hegen, indem sie ihn auffordert danach zu greifen: ‚warta waz darinne si!‘ [...] er sprach: ‚ich sihe mich und dich.‘ / do sprach diu vrouwe minneclich: / ‚grif dar! Warta! ist da iht?‘ / er greif dar und sprach: ‚nein ez, niht.‘ 80 Die Erzählung endet in einer Demonstration der Macht der Rhetorik, die selbst den Augenschein negiert. Noch die schwankhafte Pointe der Erzählung wird auf einen rhetorischen Trick zugespitzt. Rhetorik steuert in nicht unerheblichem Ausmaß den Vorgang der Produktion und Rezeption mittelalterlicher Kurzerzählungen. Im Akt des Wiedererzählens stiftet Rhetorik ein komplexes Arsenal an Techniken und liefert den literaturtheoretischen Rahmen für die Neugestaltung des Werks. Noch die Ausdifferenzierung der Ebenen der Textkonstitution kann sich auf die Funktionshierarchie der Rhetorik berufen. Das narrative Schema kann sich über verschiedene Ebenen – Moral, Kultur, Rhetorik – gleichzeitig konstituieren. Im geselligen Rezeptionsakt öffnet sich die demonstrative Exempelfunktion auf eine kasushafte Problematisierung, die sowohl den ethischen wie den rhetorischen Aspekt betreffen kann. Bei aller rhetorischen Selbstreferenz aber geht die Exemplarität nicht verloren, verlagert sich allenfalls auf die sozialen Stereotypen, mit denen die Rollen besetzt werden. Am Beispiel einer Reihe von Erzählungen wurden Spielräume rhetorischer Gestaltung sichtbar. Vor allem solche Erzählungen, die durch einen hohen Anteil an Reden gekennzeichnet sind, greifen auf unterschiedliche Optionen des rhetorischen Registers zurück: symmetrisch gegenläufige Argumentationen, Konkurrenz von Bildfeldern, sprachliche Pointen, vor allem aber Metaphernspiele, die ihren Reiz aus der Über-
78 Ebd., V. 165–168. 79 Ebd., V. 387f.: ‚ja bin ich ouch ze schuole gewesen / und han der minnen buoch gelesen.‘ 80 Ebd., V. 604–610; vgl. Ziegeler (Anm. 1), S. 329–332.
Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen blendung gegenläufiger Kontexte beziehen, sodann konkretisierte Metaphern, in denen Zeichen zu Handlungsträgern werden. Schließlich ließ sich an zwei vom plot her ähnlichen Erzählungen demonstrieren, wie das rhetorische Register durch Rekurs auf unterschiedliche Wertkontexte determiniert wurde. Während Rosenplüts Schwank vom Knecht im Garten die Sprache der Akteure an das burleske Handlungsmuster anpaßte, indem er sie gleichfalls über das Prinzip der Inversion bloßstellte, konfrontiert die Erzählung von der Frauenlist zwei gegenläufige Wertsysteme – Ehebruchschwank und Minnediskurs –, ohne eine eindeutige Hierarchisierung vorzunehmen. Diese Erzählung nutzt neben der Exempelfunktion und dem Minnekasus am weitesten den eigenen Spielraum der Rhetorik: durch Inszenierung unterschiedlicher Redetypen – Frauenpreis, innerer Monolog, Streitgespräch, innerer Dialog; durch rhetorische Argumentationsformen – Enthymem, Topoi und durch Redefiguren. Wie die Konfrontation der Gattungsmuster die Moral ambiguisiert, so der Rekurs auf die Register der Rhetorik die Sprache. Doch die Spannung von Aufrichtigkeit und rhetorischer Strategie, die im Werbungsgespräch verhandelt wird und die Ausdruck eines Grundvorbehalts rhetorischer Weltaneignung ist – res und verba –, wird letztlich nicht aufgelöst. Die vom Handlungsverlauf her eher schlichte Erzählung erhält erst durch die Schichtung rhetorischer Strategien ihren ‚literarischen‘ Gehalt.
Topik und Narration Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik Unter den frühmittelhochdeutschen Erzählwerken nimmt die Kaiserchronik in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Sie ist nicht nur die älteste deutsche Geschichtsdichtung, sie verbindet mit römischer Kaisergeschichte, deutscher Reichsund bayerischer Landesgeschichte sowie christlicher Heilsgeschichte auch mehrere Geschichtskonzepte. 1 Zwar bestimmt sie sich als crônicâ (V. 17) und stellt sich in den Horizont mittelalterlicher Weltchronistik, doch wählt der Verfasser ein Darstellungsverfahren, das jeder Person nur eine oder wenige Geschichten zuordnet. 2 Die Kaiserchronik bietet mithin keine Viten- oder Ereignisgeschichte, vielmehr eine Abfolge von exemplarischen Erzählungen über Kaiser und Päpste. Die Geschichten finden ihren übergeordneten Bezugspunkt zum einen im translatio-imperii-Modell des Danieltraums, zum andern im Schicksal der Seele, das auf Verdammung oder Erlösung sub specie aeternitatis hin fokussiert ist. Die Kaiserchronik kombiniert mithin serielle Narrative unterschiedlichster Ausdehnung mit ,Großen Erzählungen‘: die Erzählstruktur des Exempels, die Geschichte der Kaiser und des Reichs sowie das heilsgeschichtliche Modell. Der Reihung von Personen und Ereignissen und ihrer gerichteten Integration in einen (heils)geschichtlichen Prozess von Anfang und Ende, d. h. der syntagmatischen Ordnung, korrespondiert überdies eine paradigmatische, die weit auseinander liegende Episoden aufeinander bezieht und dadurch die heidnische und christliche Geschichte in einen Bezug von Ankündigung und Erfüllung setzt. Friedrich Ohly hat diese halbtypologische Relation als das zentrale Struktur- und Sinngefüge der Kaiserchronik bestimmt. 3 Ohlys Versuch, eine einheitliche Konzeption des Werkes nachzuweisen, ist nicht unwidersprochen geblieben, zu heterogen sind die Quellen, auf die der Verfasser zurückgreift, zu inhomogen ist auch die narrative Faktur des Textes. 4 Die Organisation der Erzählung weist eine ganze Reihe von Ei-
1 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder. München 2002 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Hannover 1892), Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe; Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übers., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Mathias Herweg. Stuttgart 2014. 2 Eberhard Nellmann: Art. Kaiserchronik. In: 2VL 4 (1983), Sp. 949–964. 3 Ernst Friedrich Ohly: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. Münster 1940. 4 Wolfgang Mohr: Lucretia in der Kaiserchronik. In: DVjs 26 (1952), S. 433–446; Christian Gellinek: Die Deutsche Kaiserchronik. Erzähltechnik und Kritik. Frankfurt a. M. 1971; Karl-Heinz Hennen: Strukturanalysen und Interpretationen zur Kaiserchronik. Monheim 1977; Karl Stackmann: Erzählhttps://doi.org/10.1515/9783110772340-12
Topik und Narration gentümlichkeiten auf. So ist schon früh, auch von Ohly, konstatiert worden, dass der Verfasser nicht nur eine Auswahl aus der römischen Kaisergeschichte vornimmt, diese bisweilen auch eigenmächtig umstellt und selbst eine Reihe von Kaisern erfindet, sondern auch sein Darstellungsverfahren im Verlauf der Erzählung ändert. 5 Ab Karl dem Großen entfallen weitgehend jene Rückgriffe auf Sagenmaterial, die zuvor weite Teile des Textes bestimmt hatten; auch nimmt die heldenepische Stilisierung der Vorgänge deutlich ab. Der kritischen historiographischen Attitüde, die der Erzähler mitunter an den Tag legt, entspricht überdies keine kritische Praxis. Und auch der heilsgeschichtliche Bezug ist in einer ganzen Reihe von Erzählungen nur leicht, indirekt oder gar nicht markiert. Nicht zuletzt unterläuft der Verfasser das funktionale Prinzip exemplarischen Erzählens, indem er einzelne Geschichten weit ausmalt, mithin auch andere Figuren als Kaiser und Päpste in den Vordergrund rückt und zu Akteuren macht, schließlich lange diskursive Passagen – Reden, Dialoge, selbst ganze Disputationen – in die Erzählung einschiebt. Von einer einheitlichen narrativen Organisation kann folglich keine Rede sein. Für die Frage nach der Organisation des Erzählens in der Kaiserchronik sind denn auch eine Reihe von alternativen Vorschlägen gemacht worden. Folge der Autor in einem Fall einem ,abgezogenen Schema‘ der Heldensage (Mohr), so lege er in anderen Fällen ein Triadenmodell zugrunde (Gellinek), in jedem Fall etabliere er jenseits der geistlichen Botschaft auch „sinnstiftende Gegenüberstellungen“ (Pézsa) oder „sinnstiftende[] Strukturen“ (Stackmann). Narratologisch reformuliert, nutzt er neben den Mitteln der syntagmatischen und finalen auch solche der „kompositorische[n] Motivation“ (Martínez), er praktiziert so etwas wie ,korrelative Sinnstiftung‘ (Stock). 6 Die Serie von politischen Kaisergeschichten einerseits und geistlichen Papstgeschichten andererseits verbindet nicht nur zwei heterogene Diskurse, beide postulieren über ihre privilegierten Darstellungsmittel – Exempel und Legende – auch unterschiedliche Geltungsansprüche. Zwar stellt sich der Eindruck ein, dass die politischen Historien nur als Komplement oder Kontrafaktur an den heilsge strategie und Sinnvermittlung in der Deutschen Kaiserchronik. In: Erscheinungsformen kultureller Prozesse. Jahrbuch 1988 des Sonderforschungsbereichs „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Hrsg. von Wolfgang Raible. Tübingen 1990, S. 63–82; Tibor Friedrich Pézsa: Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ,Kaiserchronik‘. Frankfurt a. M. 1993; Alastair Matthews: The Kaiserchronik. A Medieval Narrative. Oxford 2012. 5 Ferdinand Urbanek: Herrscherzahl und Regierungszeiten in der Kaiserchronik. In: Euphorion 66 (1972), S. 219–237. 6 Mohr (Anm. 4), S. 438; Gellinek (Anm. 4), S. 100f.; Pézsa (Anm. 4), S. 150; Stackmann (Anm. 4), S. 81; Matías Martínez: Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustiniangeschichte der Kaiserchronik. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von dems., Paderborn [u. a.] 1996, S. 83–100, hier S. 96; Markus Stock: Möglichkeiten korrelativer Sinnstiftung: Fallstudien zur ,Kaiserchronik‘. In: Ders.: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ,Straßburger Alexander‘, im ,Herzog Ernst B‘ und im ,König Rother‘. Tübingen 2002, S. 34–72.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
schichtlichen Wahrheitsanspruch der Legende angepasst werden, doch tritt das Exempel – ganz im klassischen Sinn – zugleich in den Dienst rhetorischer Wahrscheinlichkeitskalküle und eröffnet einen eigenen Spielraum an Geltungsansprüchen. Während die Typologie auf die geistliche Denkform der Allegorese rekurriert und immer wieder auf das gleiche heilsgeschichtliche Signifikat zielt, stellt das Exempel eine rhetorische Kategorie dar, die den paradigmatischen Status der Erzählung betrifft. Als methodische und zugleich historische Kategorie scheint sie flexibler handhabbar zu sein. Im Folgenden sollen daher an wenigen Beispielen Geltungsansprüche des Exemplums jenseits von Typologie nachgezeichnet und aus dem rhetorischen Register der Topik abgeleitet werden. 7 Die Fragestellung verortet sich im Horizont einer „Epistemologie des Exemplarischen“, die den Funktionsmechanismen des Exempels jenseits des einfachen Regel-Fall-Mechanismus nachgeht: Unter epistemologischer Perspektive verfährt die Argumentationsform des Exempels im strengen Sinn weder deduktiv noch induktiv, die Regel scheint auch eine besondere Beziehung zur Ausnahme zu implizieren, wie auch die narrativen Formen des Exempels je für sich eine besondere Beziehung zur Metapher besitzen. 8 Die Rhetorik ist die Disziplin, die nicht nur verdächtige Techniken der Überredung, sondern auch der gewachsenen Überzeugungen zur Verfügung stellt. Innerhalb ihrer Argumentation stützt sich die Rhetorik nicht auf ein wissenschaftliches Schlussverfahren, den Syllogismus, sondern auf ein analoges, das Enthymem, d. h. auf Prämissen nicht absoluter, sondern mittlerer Reichweite. Nicht auf das Gesetz der Natur oder die Wahrheit der Offenbarung bezieht sich die rhetorische Argumentation, sondern auf die in der Geschichte gewachsenen kulturellen Überzeugungen. Diese sedimentieren sich nach Aristoteles in der Gewohnheit, die eine fast natürliche Geltung reklamiert, weil das Enthymem auf Grundüberzeugungen rekurriert, „die im θυμός wirken, Gedanken, mit denen der Mensch geistig verwachsen ist wie mit seinem Leib“. 9 Moderne Theoretiker wie Clifford Geertz nennen es Common Sense, Niklas Luhmann nennt es Institutionalität, Pierre Bourdieu „Habitus“ und 7 Zur rhetorischen Basis und Entwicklung der Typologie vgl. Northrop Frye: Typologie als Denkweise und rhetorische Figur. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt a. M. 1988, S. 64–96. 8 Vgl. Stefan Willer, Jens Ruchatz, Nicolas Pethes: Zur Systematik des Beispiels. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hrsg. von dens. Berlin 2007, S. 11–59, hier S. 27f. Giorgio Agamben: Was ist ein Paradigma? In: Ders.: Signatura rerum. Zur Methode (2008). Übers. von Anton Schütz. Frankfurt a. M. 2009, S. 9–39. 9 Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68–91, hier S. 81. In der Rhetorik (I.11) erklärt Aristoteles die Differenz von Logik und Rhetorik: „Denn die Gewohnheit ist etwas der Natur Ähnliches. So steht nämlich das Oft dem Immer nahe. Es gehört aber die Natur in den Bereich des Immer, dagegen die Gewohnheit in den Bereich des Oft.“ (Aristoteles: Rhetorik. Übers., mit einer Bibliographie, Erläuterung und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1980, I.11,3, S. 58f.).
Topik und Narration Lothar Bornscheuer „gesellschaftliche Einbildungskraft“. 10 Wie eng Gewohnheit als Institutionalität des Rechts firmiert, lässt sich bereits an der Kaiserchronik studieren. Der deutsche Bearbeiter muss die überlieferte römische Geschichte nicht nur mit der Wahrheit der Heilsgeschichte synchronisieren, sondern auch an die gewachsenen Überzeugungen (Topoi) einer deutschen Adelskultur anpassen: an die politischen Vorstellungen von gerechter Herrschaft und Gefolgschaft, von Treue und Rache, von Rat, Eid und Opfer. Das Recht der Vorfahren zu wahren etwa ist oberste Pflicht eines jeden Herrschers, ist Common Sense, der die institutionelle Form des Rechts reklamiert. Wiederholt berufen sich Figuren auf die Gewohnheit der Vorfahren: nû rihte, hêrre, nâh dîner alten gewonhait (V. 5896), fordert eine Witwe vom Kaiser Trajan; als die Römer ihr Recht auf Rache begründen, heißt es: dô uobten Rômære / ir alte gewonhait (V. 14251f.). Die Bayern berufen sich auf eine alte Sitte, um die Geschlossenheit des Kollektivs zu unterstreichen: ‚auch ist unser gewonhait dâ haime: / swaz ainem gescihet ze laide, / daz muozen wir alle samt doln, / [...] daz tragen wir alle gelîche. / unser sit ist alsus.‘ (V. 6770–6776). 11 Sätze dieser Art, dass alle für einen einstehen, rekurrieren auf das Recht der Gewohnheit, das nicht umstandslos in Typologie aufgeht. Die Regeln politischen Handels haben ihr Fundament mehr in den Registern des Common Sense als im System geoffenbarter Wahrheit. Solche Regeln mittlerer Reichweite gilt es im Exempelgebrauch der Kaiserchronik aufzuspüren und auf ihre argumentative Struktur zu befragen. Das topische Archiv kollektiv geteilten Wissens besitzt aber gerade nicht die feste oder systematische Gestalt einer Lehre, das soziale Wissen lässt sich topisch nach ganz unterschiedlichen Parametern ordnen. Entsprechend erfolgt die Auseinandersetzung mit der Geschichte in der Kaiserchronik nicht nur unter religiösen, sondern auch unter juristischen, politischen und moralischen Prämissen einerseits, den Regeln des Common Sense andererseits. Das Reservoir nun, aus dem die Rhetorik ihre Prämissen und Schlüsse bezieht, ist die Topik: Topik nicht nur im Sinne von Curtius als Stereotyp, sondern vor allem im klassischen Verständnis als Argumentations-, Dispositions- und Stofflehre. 12 Als 10 Clifford Geertz: Common Sense als kulturelles System (1975). In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers. von Brigitte Luchesi und Rolf Bindermann. Frankfurt a. M. 1999, S. 261–288; Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart 1973, S. 17–23; Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972). Übers. von Cordula Pialoux, Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 1979, S. 171; Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976, S. 36. 11 ‚Auch pflegen wir in unserer Heimat den Brauch, / gemeinsam zu dulden, / was einem zum Leide geschieht [...]. Wir tragen es alle gleichermaßen. / So ist es bei uns üblich.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 6770–6776. 12 Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer (1985). Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101, hier S. 65–70. Vgl. Uwe Hebekus: Topik/Inventio. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos [u. a.]. Stuttgart/Weimar
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
Argumentationslehre rekurriert die Topik statt auf wahre logische Schlüsse auf das Enthymem als wahrscheinliche analoge Schlussform: etwa vom Gegenteil oder von der unvollständigen Induktion her. Topoi in diesem Sinn bilden formale Schlussfiguren (wenn-dann-Relationen) nicht logischer Art: so auch, wenn man vom Mehr auf das Minder bzw. vom Ganzen auf das Teil schließt oder umgekehrt. 13 Ihren Ort finden topische Argumentationsfiguren in der Kaiserchronik naturgemäß in Streitgesprächen. In der großen Religionsdisputation der Konstantingeschichte etwa bestreitet der Jude Jûbal die glorreiche Höllenfahrt Christi, und er argumentiert dabei genuin topisch (V. 9702–9724): Niemand könne jemals in die Hölle gelangen außer denen, die das Leben und das Himmelreich verwirkt hätten (Prämisse). 14 Wenn sie aber aus der Welt scheiden, führt der Teufel ihre Seelen in die Hölle und martert sie. Wenn Jesus also in die Hölle fuhr, so musste er dem Teufel gehorsam sein. 15 Die Argumentation suggeriert eine allgemeine Prämisse und subsumiert im korrespondierenden Schluss noch Jesus Christus unter das Allgemeine. 16 Der rhetorische Syllogismus wird hier natürlich durch den Wahrheitsanspruch der Heilsgeschichte gebrochen, die Jesus Christus immer schon als Ausnahme voraussetzt. Als Dispositionslehre liefert die Topik Ordnungsschemata unterschiedlichster Art: z. B. die Beschreibung einer Person nach dem Schema quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando? (wer, was, wo, wodurch, warum, auf welche Weise, wann) oder das Muster des locus amoenus (Wald, Wiese, Blumen, Vögel, Brunnen etc.). Roland Barthes bestimmt diese Ordnungsleistung der Topik mit der Wendung: einen „Gegenstand über einen Raster von Leerformen ‚gleiten‘ [lassen]“. 17 Aber auch solche Raster können einfacher oder komplexer Gestalt sein. Gerade die Erzählform der Legende bietet, wie schon André Jolles beobachtet hat, keine historische Vita des Heiligen, sondern die Abstraktion eines Lebens, das nach variablen
1995, S. 82–96; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Was ist eine probable Argumentation? Beobachtungen über Topik. In: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Kolloquium. Hrsg. von Thomas Schirren, Gert Ueding. Tübingen 2000, S. 243–256. 13 Ein Beispiel: Wenn sich die Alten schon nicht benehmen können, wie soll man es dann von den Jungen verlangen? Wenn sich die Menschen als Jugendliche schon nicht benehmen können, wie sollen sie es dann als Alte können? 14 nie niemen chom ze helle, / wan aine di sich verwurchent, / daz si got hie niene vurhtent, / daz si ze himele werdent vertailet (V. 9707–9710). 15 muose dîn got dô ze helle varn, / sô wart er dem tievel gehôrsam (V. 9714f.). 16 Die Topik stellt ein ganzes Reservoir solcher Argumentationsfiguren zusammen, die dem Redner zu Gebote stehen, um vor dem Hintergrund des Common Sense zu argumentieren. Indem Aristoteles die Topoi als rhetorische Argumentationsformen von streng logischen Verfahren absetzt und klassifiziert, unterscheidet sich seine Rhetorik von anderen Rhetoriken, die mehr als Handbücher technischer Stilfiguren konzipiert sind. Vgl. Villwock (Anm. 9), S. 80f. Was er an Argumentationstechniken mittlerer Reichweite herausarbeitet, gilt immer, unabhängig davon, ob man Aristoteles gelesen hat oder nicht. 17 Barthes (Anm. 12), S. 68.
Topik und Narration Elementen der Christusvita modelliert wird, sie folgt mithin einem christlich formatierten topischen Raster. 18 Als Stofflehre schließlich inventarisiert die Topik die Bestände kulturellen Wissens und verleiht ihnen Archivform. Ihr klassischer Ort sind Sprichwort-, Exempel-, Emblem- oder Legendensammlungen, mithin enzyklopädisch angelegte Textsorten. Die Kaiserchronik selbst schöpft, wie Friedrich Ohly gezeigt hat, aus einem umfassenden zeitgenössischen Archiv kurrenter Legenden. Indem sie diese vielfach synthetisiert, nimmt sie selbst wieder die Form eines topischen Archivs an. Definiert die Rhetorik ihren Ort jenseits des streng logischen Wahrheitsdiskurses einerseits dadurch, dass sie formale Argumentationsfiguren (Enthymeme) nutzt, so andererseits dadurch, dass sie Geschichten und Geschichte zum Argument macht und mithin der narrativen Argumentation durch Exempla Geltung verschafft. Sie tut dies bekanntlich mit Hilfe der drei genera narrationis historia, argumentum und fabula, d. h. mit der Geschichte, dem Gleichnis und der Fabel, die auf unterschiedliche Wahrheits- und Wirklichkeitsbezüge rekurrieren. Während die historia wirkliche und wahre Ereignisse bietet, imaginiert das Gleichnis nicht wirkliche, aber mögliche Geschichten. Die Fabel schließlich erfindet nicht wirkliche und unwahre Geschichten. 19 Historia, argumentum und fabula bilden nur unterschiedliche Ausprägungen exemplarischer Narration, so dass die paradigmatisch aufgefasste Geschichte und Fiktion in den Dienst der Überzeugungsrede treten können. Der Verfasser der Kaiserchronik rekurriert in der Regel auf vorgeblich wahre Geschichten, er geht zwar sparsam mit Gleichnissen um, aber auch sie finden sich innerhalb seiner narrativen Argumentation. In der Geschichte des Heraclius führt der König innerhalb einer Heeresansprache eine historia (V. 11209) an, in der Silvesterlegende findet sich innerhalb eines rhetorischen Agons ein Gleichnis: dannen sage ich dir ain gelîche (V. 9071), in der Adelgergeschichte im Rahmen einer Beratungsszene ein Grenzfall von Historia, Gleichnis und Fabel (V. 6854f.). In solchen Fällen erfüllen die verschiedenen Exempelformen ihre klassisch rhetorische Funktion in ganz unterschiedlichen pragmatischen Redesituationen. Aristoteles definiert noch das historische Exemplum über die Kategorie der Ähnlichkeit und bindet sie an die Gewohnheit: „denn für gewöhnlich ist das, was geschehen soll, dem Geschehenen ähnlich.“ 20 Schlüsse aus historischen Beispielen zu ziehen, ist logisch unzulässig, psychologisch aber höchst wirksam, und sie haben in dem Topos historia magistra vitae selbst wieder topische Form angenom-
18 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 7. Aufl. Tübingen 1999 (11930), S. 23–61. 19 Arno Seifert: Historia im Mittelalter. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 226–284, hier S. 229. 20 Aristoteles (Anm. 9), II.20,8, S. 136.
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men. 21 In der Heracliusgeschichte fungiert entsprechend eine biblische historia als exemplum: ich sage iu ze aim bîspelle (V. 11209). Um seine Kämpfer zur Tapferkeit zu motivieren, führt Heraclius ihnen ein Beispiel der Feigheit vor Augen, argumentiert topisch mithin ex contrario. Hatte Gott den Hebräern auch das gelobte Land gewiesen, und hatten die Boten nicht nur eine riesige Weintraube heimgebracht, sondern auch von Milch und Honig führenden Flüssen (als in dem pardîse, V. 11231) berichtet, so waren sie doch aus Furcht verzaget (V. 11237), haben den Kampf gescheut und aufgrund ihrer Zweifel Gottes Beistand verloren. Das historische Exempel lehrt offenbar, dass nur denen, die Gottes Gebot folgen, sein Reich zuteilwird. Der Kontrastlogik des Negativbeispiels entsprechend, appelliert Heraclius an die Tapferkeit seiner Kämpfer und daran, das göttliche Gebot nicht aus den Augen zu verlieren: ‚er lônet es iu mit sînem rîche‘ (V. 11251). Der Erzählung liegt sichtbar eine topische Argumentationsstruktur zugrunde, deren Geltungsanspruch sich aus der Autorität der Geschichte speist: ‚ain liut haizet Hebrêî, / dâ sult ir nemen pilde bî[;]‘ (V. 11210f.). 22 Was für die Kämpfer des Kaisers aber als historischer Fall und Negativexempel für die anstehende Befreiung Jerusalems ausgegeben wird, besitzt für den kenntnisreichen Leser/Zuhörer sein Fundament in der Heiligen Schrift. Für ihn ist rîche sowohl horizontal auf das Heilige Land wie auch vertikal auf das ewige Leben lesbar. Wenn ein bilde nemen in der Kaiserchronik auch zur rekurrenten Formel für das exemplarische Erzählen insgesamt wird, vollzieht das Exempel einen Wechsel von der intradiegetischen zur extradiegetischen Funktion: Nû suln alle werltkunige / dâ bî nemen pilede (V. 6083f., 5679f., 11339); mit solchen und ähnlichen Wendungen schließt der Erzähler wiederholt seine Geschichten ab und adressiert seine Botschaft an den Rezipienten. 23 Er rekurriert dabei auf unterschiedliche Erzählformen und variiert sowohl das klassische Spektrum der genera narrationis wie er es auch erweitert. Indem der Verfasser auch ganze Kaisergeschichten erfindet, sie auf den Status wirklicher Historien bringt, speist er zugleich die Erzählform des argumentum (Gleichnis) in die Geschichte ein, ohne sein Verfahren offenzulegen. Wenn gegenüber der antiken Vorstellung aber auch die Legende als historia firmiert, kollidieren rhetorisches Wahrscheinlichkeitskalkül und christliche Offenbarungswahrheit. So kann schon gleich zu Beginn in die Schilderung Roms das nur 23 Zeilen lange
21 Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 38–66; Uwe Hebekus: Geschichte als Ort und Figur. Retopikalisierung historischen Wissens im Historismus. In: Rhetorik. Figuration und Performanz. DFG-Symposion 2002. Hrsg. von Jürgen Fohrmann. Stuttgart/Weimar 2004, S. 152–175. Vgl. Manfred Fuhrmann: Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973, S. 449–452. 22 ‚An dem Volk der Hebräer / sollt ihr euch ein Vorbild nehmen.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 11210f. 23 ‚Nun sollen alle Könige der Welt / daran ein Beispiel nehmen‘ (V. 6083f.).
Topik und Narration Exempel des Bonifatius inseriert werden, das von der Austreibung der heidnischen Götter aus dem römischen Pantheon erzählt: daz buoch saget uns daz: der guote sancte Bonifâtîus der wîhete sît daz selbe hûs, ain vil heiliger hêrre, dem almehtigen gote ze êren, dar nâch sancte Marîen und allen gotes hailigen. Dô der vil hailige man ze Rôme an den stuol chom – der was der vierde bâbest nâch sancte Gregorjen –, dô was er in grôzzen sorgen, daz diu unchûsce bî im solde gestân. do besante sich der heilige man nâch allen den guoten christen die er ze Rôme inder weste. si macheten sich wullîn unde barefuoz, sîn saminunge wart vil grôz. ze vorderst er an die ture gie, ze wîhen er sâ vie, dem wâren gote gemahelte er daz hûs, die tievel brâsten oben ûz, sumelîche in daz abgrunde. des ist ze Rôme noch hiute urchunde. (V. 186–208) 24
Das Zeugnis des Bonifatius bezieht seinen Geltungsanspruch zwar auch aus der Geschichte – des ist ze Rôme noch hiute urchunde (V. 208) –, mehr aber noch erhält es seine Autorität aus einem zentralen Element der Legende, das in das exemplum inseriert wird und auf das die Pointe der Erzählung zusteuert: dem Wunder: die tievel brâsten oben ûz (V. 206). 25 Folgt der demütig seiner christlichen Gemeinde voranschreitende vil hailige man (V. 193) schon dem Vorbild Christi, so macht erst das Wunder als höchste Instanz göttlicher Intervention das historische Exempel zu einem Instrument nicht mehr der topischen Wahrscheinlichkeit, sondern der provi 24 ‚Die Quelle erzählt uns dies: / Der edle Sankt Bonifatius, / ein ausgesprochen heiliger Herr, / weihte später diesen Tempel / zu Ehren des allmächtigen Gottes, / sowie der heiligen Maria / und allen Heiligen Gottes. / Als der hochheilige Mann / auf den römischen Bischofsstuhl gelangt war / – er war der vierte Papst nach Sankt Gregor –, / da hegte er große Sorgen, / dass ihn Unreinheit umgeben könnte. / Darauf schickte der heilige Mann / nach allen edlen Christen, / die er in Rom wusste. / Sie folgten dem Ruf in Wollgewändern und barfuß. / Der Prozessionszug war sehr lang. / Ganz vorne trat Bonifatius an die Tempeltüre. / Sogleich begann er zu segnen, / und vermählte den Bau dem wahren Gott. / Die Teufel stieben oben hinaus, / etliche stürzten in den Abgrund. / In Rom ist das Ereignis noch heute bezeugt.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 186–208. 25 Zum Status des Wunders in Bezug auf den Heiligen vgl. Jolles (Anm. 18), S. 31.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
dentiell gesicherten Wahrheit. In der Erzählform der Legende wird aber hier und in der Folge die Ausnahme zur Regel. Der exemplarische Rekurs auf die Geschichte erfolgt aber auch jenseits der Heilsgeschichte. Eine Geschichte mit einfacher, aber ausformulierter Exempelstruktur bietet der Erzähler gleich zu Beginn in der Cäsar-Erzählung. Die Eroberung Triers durch Cäsar gelingt, weil zwei mächtige Herren, Dulzmar und Signator, in der Stadt um die Macht rivalisieren. Zusammen mit seinem Bruder Labian schließt sich Signator Cäsar an und ermöglicht die Einnahme der Stadt. Erzählt wird aber nicht nur die Geschichte von der Eroberung Triers, das Ereignis wird überdies auf eine Regel bezogen, so dass es seinen exemplarischen Status im Rahmen einer (extradiegetischen) Argumentation erhält: Nû wil ih iu sagen wie ez kom, daz Juljus Triere gewan. si werten sih dâ vor, daz ist wâr, mêr denne vier jâr. in der burc wâren dô zwêne gewaltige hêrren, der eine hiez Dulzmâr, der ander Signâtôr. di begunden sih zwaien, under in ze strîten umbe di grôzen hêrscaft diu ze Triere was in der stat. Signâtôr wart Cêsaris man und sîn bruoder Lâbîân. von ir ræten iz bechom daz Dulzmâr wart erslagen und daz Juljus Triere uberwant. er vant dar inne manigen tûrlîchen wîgant. Die wîle di hêrren mit triwen samt wâren, wie dike si rieten daz si wider den chaiser tæten mit grimmem volcwîge! do bestuont si der zwîvel: vil michil volc ze scanden gât dâ si der zwîvel bestât, di dâ wol sint ainmuote
Topik und Narration die werdent dike stâte. durch zwîvel der hêrren sô nam in Juljus alle ir êre. (V. 405–434) 26
Das kurze Exempel, das zum einen mit Rivalität ein Grundprinzip politischer Herrschaft vor Augen führt, zum andern die außenpolitischen Folgen innerer Konflikte thematisiert, erhält eine längere diskursive Auslegung, die das topische Argumentationsverfahren offenlegt. Die Werterelation lautet Eintracht versus Zwietracht, die wahrscheinlichen Prämissen der Erzählung liefern einfache Erfahrungssätze, dass nämlich Eintracht stark macht, Zwietracht dagegen in den Untergang führt. Die hier formulierte Regel mittlerer Reichweite zielt auf eine politische Logik und bestätigt in den weiteren Geschichten wiederholt ihre Gültigkeit, explizit formuliert im römischen Bürgerkrieg, wenn Caesar mit Hilfe der Deutschen – gewissermaßen in Umkehrung der Eroberung Triers – Pompejus und Rom besiegt: want er aine habete den gewalt / der ê was getailet sô manicvalt. / den site hiez er ze êren / alle Dûtisce man lêren (V. 522–525). 27 Die Sitte basiert auf Erfahrung und wird explizit als Lehre weiter tradiert. Diese Erfahrungsregel, die wohl nicht zufällig am Anfang expliziert wird, lässt sich in der Folge auf viele Exempel der Kaiserchronik anwenden, ohne noch ausdrücklich formuliert zu werden. 28 Die Kaiserchronik kombiniert paradigmatische Register verschiedenster Art. Ihnen lassen sich Geschichten ganz unterschiedlicher Ausdehnung und Komplexität zuordnen. Aufgrund ihrer komplexen Erzählstruktur gehen solche Exempel nicht mehr in einer homogenen Lehre auf. Aus narratologischer Perspektive wird die Regel-Fall-Relation des Exempels zum einen dadurch aufgebrochen, dass es sich aus mehreren Sequenzen zusammensetzen kann, zum andern dadurch, dass die Zahl der Aktanten vervielfältigt wird. Nicht nur der Christ (Papst) kämpft gegen den Heiden (Kaiser), der Gute (z. B. Simon Petrus) gegen den Bösen (Simon Magus), 26 ‚Nun will ich euch berichten, wie es kam, / dass Julius Trier gewann. / Die Trierer hatten sich zuvor wahrhaftig / mehr als vier Jahre gewehrt. / In der Stadt gab es damals zwei / mächtige Herren, / der eine hieß Dulcmar, / der andere Signator. / Diese gerieten in Streit / und begannen miteinander / um die große Macht zu kämpfen, / die in [der Herrschaft über] Trier lag. / Signator und sein Bruder Labian / wurden Caesars Gefolgsleute. / Auf ihre Intrigen hin geschah es, / dass Dulcmar erschlagen wurde / und Julius Trier überwandt. / Er fand in der Stadt viele vortreffliche Krieger. / Wenn die Edlen der Stadt / einträchtig beisammensaßen, / berieten sie immer wieder, / ob sie sich zu entschlossenem Krieg / gegen den Kaiser vereinigen sollten. / Dann aber fasste sie Argwohn gegeneinander. / Wie viele Völker enden in Schande, / wenn sie Zwietracht befällt! / Die aber in guter Eintracht leben, / sind oft von langer Dauer. / Aufgrund des Zwistes unter den Edlen / nahm ihnen Julius all ihren Ruhm.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 405–434. 27 ‚[...] weil er nun ganz allein jene Machtfülle besaß, / die zuvor auf so viele verteilt gewesen war. / Diese Sitte ließ er als Ehrenbezeugung / auch bei den deutschen Gefolgsleuten einführen.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 522–525. 28 An der geteilten Herrschaft von Galba und Piso (V. 4835–4846) wird die Gültigkeit des Prinzips denn auch weniger narrativ entfaltet als knapp berichtet.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
sondern häufig werden Aktanten auf der Handlungsebene verdoppelt, um komplexere Relationen zu modellieren und zusätzliche Argumente zu generieren: Könige und Ratgeber/Senat, Held und Gefolgsleute, Väter/Mütter und Söhne, Männer und Frauen, und immer wieder Brüder, d. h. die Exempelstruktur wird mit politischen und sozialen Konstellationen aufgefüllt. Je mehr Aktanten das Exempel aber in sich aufnimmt, umso komplexer werden die politischen und sozialen Relationen. Die „Explikation ,blinder Implikationen‘“, die das entfaltete Exempel auszeichnet, wird genutzt, um weitere Semantiken und Axiologien in die Erzählung einzuspeisen. 29 Damit geht aber die funktionale Rhetorik des Exempels in die Poetik des Exempels über. Die lineare Erzählfunktion des rhetorischen Exempels, mit Roland Barthes gesprochen ihre ,Kardinalfunktion‘, lässt sich sowohl syntagmatisch wie paradigmatisch weiter anreichern, lässt sich ,katalysieren‘ (Barthes), so dass jenseits des Regel-Fall-Mechanismus komplexe Erzählgefüge mit entsprechenden poetischen Funktionen entstehen. 30 Die Kaiserchronik ist durchzogen von Rachegeschichten, die ein Grundprinzip politischer Herrschaft jener Zeit zum Ausdruck bringen: dass Vergehen gegen die Ordnung Strafe nach sich ziehen muss. Rache wird geübt gegenüber aufständischen Provinzen, gegenüber Konkurrenten, Verrätern, politischen Intriganten, Betrügern, Magiern und Mördern. Einen komplexen Fall bietet die Geschichte des Titus, die in zwei Teile geteilt ist. Unter seinem Vater Vespasjan erweist er sich als loyaler Sohn und legt in heldenepisch ausgemalten Kämpfen Zeugnis von seiner Tapferkeit ab. Titus wird im ersten Teil seiner Geschichte aber nicht nur in Kontrast zu seinem Vater gestaltet, auch an den Gegnern, gegen die er kämpft – die Brüder Mîlîân und Hylas aus Babylon – werden gegenläufige Strategien veranschaulicht. Während Mîlîân in offener Schlacht erschlagen wird, wird Hylas durch einen Hinterhalt, eine List, gefangen, aber gegen die Racheforderung des römischen Kollektivs von Titus begnadigt (V. 5183–5359). Die Relationen von Gewalt und List einerseits, von Rache und Gnade andererseits, die hier am äußeren Feind verhandelt werden, werden im zweiten Teil dann als innenpolitisches Problem modelliert. Das Exemplum gewinnt bereits durch eine zusätzliche Kontrastrelation sichtbar an Komplexität. Die eigene Geschichte des Titus steht unter den Leitworten Weisheit und Gerechtigkeit. Die Erzählung besitzt nach Ohly typologischen Wert, da sie den rex iustus als Vorschein himmlischer Gerechtigkeit ins Bild setzt. 31 Indem die Geschichte des Titus narrativ seine Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit entfaltet, stilisiert sie 29 Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung (Anm. 21), S. 47–375, hier S. 356 u. 362 (Zitat). 30 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer (Anm. 12), S. 102–143, hier S. 109–116: „die Erzählung ist, wie der Satz, endlos katalysierbar“ (S. 115). 31 Ohly (Anm. 3), S. 109f.
Topik und Narration ihn zum Träger der Kardinaltugenden und verortet ihn im System der Moralphilosophie. Aus topisch-strukturaler Perspektive läuft die Geschichte des Titus gewissermaßen durch das Raster der drei Kardinaltugenden. Narrativ ausgestaltet wird indes Titus’ Reaktion auf ein politisches Komplott. Als er erfährt, dass eine Intrige gegen ihn geplant ist, bestellt er die Verschwörer der Reihe nach ein, führt ihnen ihre Illoyalität vor Augen, beschenkt sie aber reichlich: ‚wil dû mir den lîp nemen, / sô wil ih dir mîn golt geben‘ (V. 5421f.). Der Kontrast suspendiert die Rache zugunsten der Gnade, in der Tat ein christliches Motiv, aber nicht nur. Die beschämten Verräter fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt und starten einen neuen Versuch, der aufgrund Titus’ kluger Vorausschau indes scheitert. Delegiert wird die Warnung ganz im antiken und mittelalterlichen Verständnis an einen Traum, der in die Form eines Gleichnisses gehüllt wird (V. 5451–5474). Titus sieht sich im Wald von wilden Löwen verfolgt und seine Bemühungen, sich auf Bäume zu retten, scheitern daran, dass deren dürre Äste abbrechen, bis er endlich an einen Baum mit grünen Zweigen gerät, auf den er fliehen kann. Rettung aus der Gefahr, so wohl die Botschaft des Naturgleichnisses, bringt allein ein lebendiger staatlicher Organismus. Die gestellten Täter werden nicht nur hingerichtet, sondern auf der Titussäule zum ewigen Gedenken ausgestellt, so dass sie als Exempel im kulturellen Gedächtnis verankert werden: swer daz zaichen iemer dâ ersæhe, / daz er bilde der bî næme (V. 5545f.). Dass Titus’ Klugheit aber in einer doppelten Intrige veranschaulicht wird, auf die er einmal milde und einmal streng reagiert, zeigt, dass das Gesetz Spielräume besitzt, in seiner harten Geltung je nach Situation relativiert werden kann, d. h. pragmatisch oder politisch gehandhabt werden muss. Die typologische Relation zum rächenden Gott des Alten und zum gnädigen Gott des Neuen Testaments verkehrt sich unter den Bedingungen politischen Handelns. Während andere Geschichten der Kaiserchronik daraufhin angelegt sind, ganz im christlichen Sinn den Impuls der Rache zugunsten der Gnade aufzuheben, wird unter der konkreten Situation des Titus die Gnade durch die Rache suspendiert. Die exemplarische Geschichte des Titus erschöpft sich aber nicht in diesem Befund, sie lässt sich auch auf weitere Argumente beziehen, die im Common Sense verankert sind. Dass hinter der Rache ein altes juristisches Prinzip steht – Gleiches mit Gleichem vergelten –, wird nicht hier, sondern in einer späteren Geschichte offenbar. Als Kaiser Galienus von seinem Schenken vergiftet werden soll und die Intrige durchschaut, zwingt er ihn, das Gift selbst zu trinken und fügt als Begründung an: dû hâst mir aine gruobe gegraben: / dû muost selbe den scaden haben (V. 7512f.). Wie in diesem Fall lässt sich das Argument auch auf die Verschwörer der Titusgeschichte anwenden. Das Rechtsprinzip der Vergeltung ist über die hier nur anzitierte metaphorische Sentenz in den Common Sense übergegangen und wird zum Regulativ des politischen Handelns, unabhängig davon, ob es als Regel zitiert wird oder nicht. Es hat den Status einer geradezu natürlichen Überzeugung angenommen.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
Darüber hinaus demonstriert die Titusgeschichte durch die doppelte Probe noch einen weiteren topischen Satz: dass man nicht zweimal den gleichen Fehler machen soll. Die Regel, die gleichfalls als topischer Erfahrungssatz bezeichnet werden kann, formuliert die Kaiserchronik wiederum nicht hier, sondern an anderer Stelle, in der Geschichte des Adelger (V. 6622–7135). Zweimal wird der widerständige Vasall nach Rom einbestellt, zweimal folgt er dem Rat eines weisen Gefolgsmanns. Sein erster Gang nach Rom endet mit einer Demütigung, ihm werden Haare und Hosen gestutzt, aber er überlebt. Die Warnung, dass der zweite Gang nach Rom ins Verderben führt, lässt der Ratgeber seinem Herrn durch ein Gleichnis übermitteln, einer elementaren narrativen Argumentationsform. Er erzählt die Geschichte von einem Hirschen, der einen Garten verwüstet und nur mit knapper Not und unter Verstümmelung entkommt. Beim zweiten Versuch sind die Besitzer gewarnt, fangen und töten ihn (V. 6854–6921). Rekurriert die historia auf analoge historische Präzedenzfälle, um aus ihnen eine Lehre zu ziehen, so ist hier die Wiederholungsstruktur dem Gleichnis selbst eingeschrieben. Gegenüber dem Exempel als Anschauungsform einer Regel wird hier die Regel aus dem Exemplum gewissermaßen in actu erst extrapoliert. 32 Das Gleichnis wird nicht ausgelegt und fügt sich in die Erzählstrategie des Verfassers, außer im theologischen Feld mit regulativen Auswertungen sparsam umzugehen. Weder der Kaiser noch der Bote verstehen die Botschaft, nur der weise Adelger erkennt die Lehre und verzichtet auf den zweiten Gang nach Rom. Was aber in der Adelgergeschichte in der verhüllten Form des Gleichnisses artikuliert wird, die Forderung, dass man aus Erfahrung klug wird, liegt auch der doppelten Intrige gegen Titus zugrunde. Die topische Lehre kann dabei sowohl auf die Verschwörer als auch auf Titus bezogen werden. Und noch eine weitere topische Regel ließe sich auf die Titusgeschichte beziehen, eine Regel, die auch in anderen Geschichten, etwa der des Justinian, exemplifiziert wird: dass man den Herrscher mehr lieben als fürchten soll. Plus amari quam timeri lautet das topische Sprichwort, das sowohl im politischen wie im religiösen Feld gilt. 33 Die Kaiserchronik verhandelt das Verhältnis von Furcht und Minne an verschiedenen Stellen auf ganz unterschiedliche Art, d. h. sie nutzt den flexiblen topischen Argumentationsspielraum. In der Karlsgeschichte wird das Verhältnis in der Rede des Engels an Karl ausbalanciert: ‚wil dû got vurhten unt minnen, / die me-
32 Willer, Ruchatz, Pethes (Anm. 8), verweisen in ihrer Einleitung auf unterschiedliche Exempelfunktionen: Gegenüber dem rhetorischen Exempel wird hier das Exempel als Belegbeispiel (S. 22– 25) oder Ausgangsbeispiel (S. 31–33) wirksam. 33 Karl Gross: Plus amari quam timeri. Eine antike politische Maxime in der Benediktineregel. In: Vigiliae Christianae 27 (1973), S. 218–229. Vgl. Karl Ubl: Clementia oder severitas. Historische Exempla über eine Paradoxie der Tugendlehre in den Fürstenspiegeln Engelberts von Admont und seiner Zeitgenossen. In: Historische Exempla in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren. Hrsg. von Christine Reinle, Harald Winkel. Frankfurt a. M. [u. a.] 2011, S. 21–42.
Topik und Narration gede suln dir dîn êre wider gewinnen‘ (V. 14937f.); 34 in der Justiniangeschichte macht demgegenüber die Frau des nur gefürchteten Kaisers eine Gegenrechnung auf, die auf eine Alternative hinausläuft: iz enmach niht guot ende haben. / diu minne ist stætich unt guot, / diu vorhte hât misselîchen muot, / vorht unde minne / nemach niemen zesamene bringen (V. 12910–12914). 35 Der Kaiser folgt der Lehre seiner Frau: da verkêrte sich diu vorhte in die minne (V. 13027). Ganz im rhetorischen Sinn kann die Relation der Werte je nach Situation offenbar anders modelliert werden. Und als der Kaiser Heraclius in Jerusalem einreiten will, zwingt ihn ein Engel abzusteigen. Verwiesen wird nicht nur auf Jesu Einritt auf einem Esel, es wird auch eine Begründung gegeben: daz ist uns armen gesaget ad exemplum: / von diu suln wir unseren hêrren / vurhten unde flêgen / mit zuhten unt mit guote, / mit grôzer deumuote (V. 11339– 11343). 36 Es ist auch hier die spezifische Situation, die einen Triumphzug des Herrschers als nicht angemessen erscheinen lässt. In das Spektrum solch unterschiedlicher Relationierungen von Furcht und Minne fügt sich noch die Titusgeschichte ein, wenn sie das Verhältnis von Rache und Gnade aushandelt. Während der Herrscher sich um ein ausgewogenes Verhältnis von strenger Gesetzgebung (Furcht) und Gabe (Minne) bemüht, gelingt es den Verschwörern nicht, eine Balance zu gewinnen. Schon die Geschichte von Titus besitzt somit eine komplexe Struktur, die sich auf ganz unterschiedliche Topoi beziehen lässt; die typologische ist nur eine neben anderen. Während die typologische Operation der Allegorese auf Eindeutigkeit zielt, eröffnet die topische Argumentationsstruktur des Exempels ein ganzes Set an Regeln, die aus dem Exempel extrapoliert werden können und die auch andernorts ihre Geltung zeitigen. Wenn Rhetorik als das „Vermögen“ bestimmt wird, „für jeden einzelnen Fall das in ihm liegende Überzeugende zu erkennen“ (Aristoteles), 37 dann demonstriert bereits die Titusgeschichte einen relativ einfachen Fall, aus dem gleich ein ganzes Set von Lehren gezogen werden kann. So wenig aber der Verfasser sein typologisches Verfahren offenlegt, so wenig macht er die vielfältigen Register durchsichtig, auf die seine bisweilen komplexen Exempel sich beziehen lassen. Wahrnehmbar werden sie erst, wenn sie in Relation zu den Handlungs- und Argumentationsmustern anderer Geschichten gesetzt werden.
34 ‚Sofern du Gott fürchtest und liebst, / werden die Mädchen dir deine Ehre wiedergewinnen.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 14937f. In der Faustiniangeschichte tritt es als Argument innerhalb einer Disputation auf: ist iemen dar inne, / der got vurhte unt minne, / dem ist der gotes fride gekundet, / mit dem hailigen gaiste enzundet (V. 2254–2257). 35 ‚Es kann kein gutes Ende haben. / Die Liebe ist stetig und gut, / die Furcht hat zweifelhafte Gesinnung, / Furcht und Liebe / mag niemand zusammenbringen.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 12190–12914. 36 ‚Das ist uns Kleinmütigen ad exemplum gesagt: / Daher sollen wir unseren Herrn / fürchten und anbeten / in Frömmigkeit, lauterer Gesinnung / und inniger Demut.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 11339–11343. 37 Barthes (Anm. 12), S. 25; vgl. Willer, Ruchatz, Pethes (Anm. 8), S. 21–40.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
Die Sage von der geschändeten und Selbstmord begehenden Römerin Lukretia ist ein Bestandteil der Weltliteratur geworden und hat über Jahrhunderte zahllose Bearbeitungen erfahren. 38 Sie findet auch Eingang in die Kaiserchronik, erhält hier aber eine ganz spezifische Prägung. Gerade weil sie keinen theologischen Bezug thematisiert, ist sie als frühe Novelle interpretiert worden. Selbst in Ohlys Interpretation sperrt sie sich letztlich gegen die typologische Deutungsrichtung, die er in der Kontrastrelation zur Crescentialegende sieht. 39 Ovid, auf den die Kaiserchronik sich bezieht, erzählt die Geschichte von einer Konkurrenz zwischen Colatinus und Sextus Tarquinius, einem Sohn des Königs Tarquinius, wer die tugendhafteste Frau besitze. Beide begeben sich nach Collatia und treffen die Kaiserfrau ausgelassen beim Fest an, während die Gattin des Colatinus, Lukretia, züchtig ein Gewand webt und ihre Gäste zuvorkommend bewirtet. Sextus Tarquinius entbrennt in Liebe zu Lukretia und nötigt sie kurz darauf zum Beischlaf. Derart entehrt, ruft diese Gatten und Vater herbei, eröffnet ihnen das Verbrechen und begeht vor ihren Augen Selbstmord. Die Rache der Römer besteht in der Vertreibung der Kaisersippe und der Abschaffung der Monarchie. 40 Hans Galinsky und Friedrich Ohly haben den Traditionshintergrund der Erzählung aufgearbeitet, wie Lukretia etwa bei Livius, Valerius Maximus und Ovid zum Inbegriff römischer Tugend wurde, wie selbst christliche Autoren Bewunderung für sie zeigen, aber auch die Kritik des Selbstmordes, die Augustin am Beispiel der Lukretiageschichte formuliert hat. 41 Auch hier handelt es sich um eine komplexe Erzählung, deren Wirkungsgeschichte und divergierende Auslegungen schon darauf verweisen, dass Exempel je nach situativem Kontext und Leitgedanken ganz unterschiedlich ausgewertet werden können. Zwei Einschübe aus späterer Zeit seien hier erlaubt, um das Variationsspektrum der Topik zu illustrieren: Rudolf Agricola, Humanist am Heidelberger Hof des späten 15. Jahrhunderts, nimmt in seiner Lehrschrift De formando studio gerade die Lukretiageschichte als Beispiel dafür, dass ein und dieselbe Geschichte auch unter verschiedene loci communes (Topoi) subsumiert werden kann. Er gibt aber mit Keuschheit, Tod, Schönheit, Begierde und Glück nicht nur die inhaltlichen loci an, sondern verbindet mit ihnen zugleich auch ein Argu-
38 Hans Galinsky: Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur. Breslau 1932; Reinhard Klesczewski: Wandlungen des Lucretia-Bildes im lateinischen Mittelalter und in der italienischen Literatur der Renaissance. In: Livius. Werk und Rezeption. Festschrift für Erich Burck zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Eckard Lefèvre, Eckart Olshausen. München 1983, S. 313–335; Jan Follak: Lucretia zwischen positiver und negativer Anthropologie. Coluccio Salutatis Declamatio Lucretie und die Menschenbilder im exemplum der Lucretia von der Antike bis in die Neuzeit. Diss. Konstanz 2002. 39 Ohly (Anm. 3), S. 88–99. 40 Ovid: Fasti/Festkalender. Lateinisch-Deutsch, auf der Grundlage der Ausgabe von Wolfgang Gerlach. Neu übers. und hrsg. von Niklas Holzberg. 2., verb. Aufl. München [u. a.] 2001 (11995), II, 721–852. 41 Galinsky (Anm. 38), S. 11–19; Ohly (Anm. 3), S. 88f.
Topik und Narration ment: etwa dass man Keuschheit schätzen soll, weil Lukretia ihr Leben dafür hingibt, dass Schönheit großes Leid verursachen kann, dass der Tod einem Leben in Schande vorzuziehen sei, nicht zuletzt, dass aus großem Unglück Glück entstehen könne, denn der Tod der Lukretia habe zur Einführung der Republik in Rom geführt. 42 Agricola listet damit exemplarisch die zentralen Topoi auf, die die Wirkungsgeschichte des Lukretiastoffes bestimmen, er bezieht sie auf Common-SenseWissen und demonstriert die Polyvalenz exemplarischen Erzählens. Und noch Jörg Wickram lässt in seinem Nachbarn-Roman eine Figur die ganze Histori der Lukretia erzählen, zum einen als Exempel für politische Hoffart, zum andern aber auch als Verhaltensmuster für Frauen in Abwesenheit ihrer Männer. 43 Beide frühneuzeitlichen Auslegungen unterscheiden sich aber deutlich von derjenigen, die die Kaiserchronik in ihrer Variante der Erzählung akzentuiert (V. 4301–4834). Conlatinus wird in der Kaiserchronik als Flüchtling aus Trier eingeführt, der aufgrund eines Totschlags ins Exil nach Rom geht und am Kaiserhof Karriere macht. Heimlich besucht er ein ritterliches Turnier in Viterbo und entkommt nur mit Hilfe der Frauen seinen Trierer Feinden, die ihm bis hierher nachstellen. Aus Rache belagern die Römer Viterbo, und in einer Kampfpause kommt es zu besagtem Männergespräch, in dem nun Conlatinus und der König selbst konkurrieren. Abweichend von der lateinischen Fassung finden die Männer beide Frauen schlafend an. Hier nun empfängt Lukretia ihre Gäste formvollendet, erträgt sogar geduldig, dass ihr Mann ihr Wein ins Gesicht und über das Gewand schüttet; die Kaisergattin dagegen weigert sich aufzustehen, um die Gäste zu bewirten. Tarquinius gibt denn auch die Wette verloren. In einer weiteren Kampfpause inseriert der mittelalterliche Erzähler noch einen Dialog. Er bietet ein Gespräch zwischen der Dame Almenia und dem Ritter Totila, in dem die Dame den Ritter nach der Priorität von weiblicher Gunst oder Kampfesruhm fragt. Der Ritter entzieht sich der Antwort, indem er sowohl den Wert der Frauen als auch den des Kampfes lobt und sich als nicht weise genug ausgibt, um die Frage zu beantworten. Auf die Vorhaltung Almenias, dass es gerade Frauen aus Viterbo waren, die Conlatinus einst gerettet hätten, stellen die Römer die Belagerung ein und verlangen nur noch die Auslieferung und Bestrafung der Schuldigen. Nach dem Friedensschluss entlockt die Frau des Kaisers diesem nachts das Geheimnis der Wette, fühlt sich in ihrer Ehre verletzt und verlangt die Schändung 42 Rudolf Agricola seinem Jakob Barbirianus. In: Der Humanist Rudolf Agricola, sein Leben und seine Schriften. Hrsg. von Georg Ihm. Paderborn 1893, S. 52–64, hier S. 61. Rudolphi Agricolae Phrysii Epistola ,De formando studio‘. In: Joseph Hauser: Quintilian und Rudolf Agricola. Eine pädagogische Studie. Günzburg 1910, S. 48–59, hier S. 55f. Vgl. Jürgen Blusch: Agricola als Pädagoge und seine Empfehlungen De formando studio. In: Rudolf Agricola 1444–1485. Protagonist des nordeuropäischen Humanismus zum 550. Geburtstag. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. Bern [u. a.] 1994, S. 355–385. 43 Georg Wickram: Von guoten und boesen Nachbaurn. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1969, S. 133–139.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik | 301
der Lukretia. Der Kaiser folgt ihrem Rat, findet in Abwesenheit des Conlatinus Zugang zu Lukretia und schändet sie mit den beschriebenen Folgen, nur dass es nun Conlatinus selbst ist, der die Rache vollzieht und erneut ins Exil gehen muss. Die mittelalterliche Umgestaltung der antiken Erzählung macht deutlich, dass Topoi auch einen historischen Index besitzen. Die zentralen Differenzen sind von Hans Galinsky, Friedrich Ohly und Wolfgang Mohr beschrieben worden: sowohl ein heldenepisches Setting wie auch eine Strategie der Höfisierung, zugleich sichtbar eine Verlagerung von der affektiven Liebe hin zur höfischen. Das Minnegespräch ist nach Ohly genau an der Stelle eingefügt, an der in den antiken Texten die Liebesraserei des Sextus Tarquinius steht: „Minne nicht als Naturphänomen, sondern als gesellschaftlicher Seinsmodus.“44 Die Überwindung der passionierten ovidianischen Liebe entspricht nach Ohly der mittelalterlichen Auffassung Ovids als eines „autor ethicus“.45 Will man das topische Register dieser mittelalterlichen Lukretia-Version näher bestimmen, so rücken in der Kaiserchronik deutlicher als in den antiken Fassungen Ehe und Gewalt sowie das Verhältnis von König und Recke in den Fokus der Aufmerksamkeit. Indem der Königssohn durch den Herrscher selbst ersetzt wird, werden die ethische und die häuslich-ökonomische Dimension des Geschehens stärker mit der politischen verbunden. Ausgangspunkt der Wette ist eine ethische Frage: Wer besitzt die tugendhafteste Frau? Die folgenden Ereignisse demonstrieren die häuslichen und politischen Folgen von gelungener und misslungener Selbstbeherrschung, verfolgen mithin das Geschlechterverhältnis über die drei Felder der Moralphilosophie: Ethik, Ökonomik und Politik. Wer weder sich selbst noch sein Haus regieren kann, taugt auch nicht zur politischen Herrschaft. Der antike politische Referenzrahmen der Lukretiageschichte wird zugunsten eines moralphilosophischen umakzentuiert, der Kleriker modelliert seine Geschichte auf der Grenze zweier Diskurse. Gewalt ist daher nicht nur Reminiszenz an heldenepische Motive (Mohr), sie ist auch Bestandteil eherechtlicher Herrschaft. Deshalb handelt Conlatinus in der Demütigung seiner Frau durchaus im Rahmen patriarchaler Verhaltensweisen, während der Kaiser im nächtlichen Bettgespräch versagt, gerade weil er auf seine Frau hört. Auch hier hat das Moment der Wiederholung seine Funktion, hatte die Frau des Königs doch schon die erste Probe nicht bestanden. Dass aber die Rhetorik (Topik) hier das moralphilosophische System usurpiert, wird darin sichtbar, dass die Kaiserchronik den Problemzusammenhang nicht diskursiv behandelt, sondern narrativ über das Exempel entfaltet. Während Minne als Passion der Handlungsträger sichtbar ausfällt, spielt sie im eingeschobenen Minnegespräch zwischen Almenia und Totila eine Rolle. Der Dialog
|| 44 Ohly (Anm. 3), S. 97. Anders: Frank Shaw: Ovid in der Kaiserchronik. In: ZfdPh 88 (1969), S. 378–389. Vgl. Hennen (Anm. 4), S. 86–92. 45 Ohly (Anm. 3), S. 91.
Topik und Narration entfaltet ein gegenläufiges Programm vor dem Hintergrund des Minneregisters. Anders als die Wette demonstriert der daraus resultierende Friedensschluss die politischen Folgen eines Gewalt und Minne austarierenden Geschlechterverhältnisses. Gegenüber Wolfgang Mohr möchte ich in diesem Entwurf keine Kritik am Ehemodell sehen, beide stehen trotz der gewiss gegensätzlichen Folgen eher unvermittelt nebeneinander, wie auch die nicht beantwortbare Alternative in Almenias Frage. Ihre novellistische Färbung erhält die Lukretiageschichte der Kaiserchronik ganz im Sinne von André Jolles durch ihre kasuistische Faktur. 46 Gerade die Topik aber erlaubt die Gestaltung solch aporetischer Geltungsansprüche, sie ist nicht an die Kohärenzanforderungen der Logik gebunden. In der Kaiserchronik findet sich entsprechend auch ein Bettgespräch – bî dem chunige si gelach (V. 12853) – über die zivilisierende Macht der Minne, in dem die Ehefrau sich als kluge Ratgeberin erweist. Der größte Teil der Geschichte von Justinian ist diesem Gespräch gewidmet, durch das der hybride Herrscher zur Umkehr gebracht wird (V. 12851–12998). Topoi entwerfen zwar Normen, mehr aber noch beschreiben sie den Lauf der Welt: Hör nicht auf deine Frau; hör auf deine Frau. Für beide Konstellationen gibt es Exempel, die sich auf unterschiedliche Situationen und Register beziehen. Auch hier gewinnt die Erzählung, wenn anstelle der eindimensionalen Typologie die mehrdimensionale Paradigmatik des Exempels in Anschlag gebracht wird. Wolfgang Mohr hat Zweifel geäußert an Ohlys Versittlichungsthese und hat demgegenüber mehr noch als dieser selbst die heldenepische „Familienähnlichkeit“ herausgearbeitet: der vertriebene Recke, Exil und Karriere am fremden Hof, Heirat und Assimilation, Konflikt mit dem Herrscher, nächtliches Bettgespräch, Untat und Rachehandlung, schließlich erneute Flucht. 47 Die von Mohr aufgeführten heldenepischen Motivschemata lassen sich aber auch als topische Elemente eines narrativen Rasters beschreiben, durch das der mittelalterliche Autor den Lukretiastoff laufen lässt und dadurch zusätzliche Wertrelationen generiert. Gegenüber den antiken Fassungen tritt Conlatinus nun als eigenständiger Aktant in Erscheinung – er hat eine eigene exemplarische Geschichte –, dessen zwei Vertreibungen, am Anfang aus der Heimat und am Ende aus dem Gastrecht, für die topische Erfahrung stehen, dass tödliche Ehrenhändel ihren sozialen Preis haben, dass es Situationen gibt, in denen man – wiederum ex contrario geschlossen – nicht aus Erfahrungen lernen kann, sondern genötigt ist, sie zu wiederholen. Weiterhin, dass der ellende am Königshof trotz Einheirat zwar einen defizitären sozialen und politischen Status behält, dass seine und seiner Frau Tugend und Ehre aber die des Herrscherpaares übertreffen können. Mit der Profilierung des Conlatinus und der Lukretia werden schließlich zwei Themenbereiche kombiniert, die sowohl im Säkularen wie im Geistlichen eine hohe Rekurrenz in der Kaiserchronik besitzen: die Entfaltung von Rache- und Opfer 46 Jolles (Anm. 18), S. 191. Vgl. Mohr (Anm. 4), S. 445. 47 Mohr (Anm. 4), hier S. 436.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
erzählungen. Immer wieder zieht Vergehen Rache nach sich, und selbst auferlegte Opferhaltungen tragen Ehre ein. Während Conlatinus’ Ehre durch eine doppelte Rache um den Preis der sozialen Exklusion gewahrt wird, kann Lukretia ihre Ehre nur durch das Opfer sichern und somit die Rache erneut in Gang bringen. Beide topischen Formationen verbinden nicht nur Rache- und Opferlogik, sondern geben ihnen gegenüber den anderen Opfererzählungen der Kaiserchronik auch noch ein besonderes Profil, etwa gegenüber der Jovinusgeschichte, der sein Leben für die Gemeinschaft unter der Bedingung hingibt, ein Jahr lang mit jeder Römerin, die ihm gefällt, schlafen zu dürfen (V. 1115–1218). Im Vergleich zu der antiken Tradition bietet die Version der Kaiserchronik eine verzerrte Form des Opfers. 48 Demgegenüber wird in der Geschichte des Odnatus der bereits in der Antike gefeierte Fall des Mucius Scaevola wiedergegeben, eines römischen Ritters, der nach einem missglückten Anschlag auf den Kaiser im buchstäblichen Sinn seine Hand ins Feuer legt, um sich selbst zu bestrafen, dafür aber den Frieden erlangt und Ruhm erwirbt (V. 4861–5098). Odnatus versammelt eine Schar von 12 treuen Gesellen um sich, die swuoren gewislîche, / si newolten im niemer geswîchen / ze allen sînen sachen [...] (V. 4937–4939). 49 Das Exempel verbindet die Forderung ,alle für einen‘ mit ihrer Inversion ,einer für alle‘ und bezeugt aus topischer Perspektive die Verbindung beider Argumente. So opfert sich Odnatus mit seinen Gefährten zugleich für Rom und führt als Argument an: bezzer ist, daz wir zwelfe ersterben, / ê disiu stat ze Rôme vur werde (V. 4947f.). 50 Als Odnatus erklären soll, warum er ohne jegliche Äußerung von Schmerz seine eigene Hand im Feuer verbrannt hat, erklärt er am Bild des Körpers noch einmal metaphorisch die unerträgliche Störung von Teil und Ganzem: mîn hant hât mir gelogen, / dâ mit bin ich betrogen. / mîn hant ist mir worden mainaide, / von rehte wart iz ir ze laide. (V. 5057–5060) 51 Dass alle für einen, sei es für den Helden oder das Kollektiv, einstehen, wird bereits in den zahlreichen Kriegsansprachen immer wieder deutlich. Dass aber auch einer für alle sich opfert, entspricht sowohl der politischen wie der christlichen Logik. Die Kaiserchronik bietet wiederum eine ganze Reihe von Exempeln, um die Gültigkeit des Prinzips durchzuspielen: Konstantin verzichtet auf das blutige Opfer der Kinder mit dem Argument: nu verbiete mirz mîn trehtîn: / bezzer ist, daz ih aine resterbe, / ê sô manich menniske von mînen sculden rewerde (V. 7837–7839); Papst Silvester argumentiert im Religionsgespräch ähnlich: iz ist pezzer daz ainer resterbe, / denne diu werlt elliu vur werde 48 Ohly (Anm. 3), S. 69f. 49 Die ‚schworen in zuverlässiger Weise, / dass sie ihn niemals im Stich lassen wollten / in allen seinen Angelegenheiten.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 4937–4939. 50 ‚Besser ist es, dass wir zwölf sterben, / eh diese Stadt Rom in Feuer aufgeht.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 4947f. 51 ‚Meine Hand hat mich belogen, / dass ich dadurch betrogen bin. / Meine Hand ist mir gegenüber meineidig geworden, / so dass ihr zu Recht Leid widerfuhr.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 5057–5760.
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(V. 8728f.).52 Das religiöse Exempel Christi absorbiert zwar die politische Logik, diese bewahrt aber auch jenseits dessen ihre Gültigkeit. Solche Exempel verhandeln die spannungsvolle Relation von Einzelnem und Kollektiv erneut vor dem Hintergrund topischen Wissens. Erst in ihrer paradigmatischen Zusammenschau bieten sie das Spektrum topischer Argumentation. Gegenüber den christlichen Opfererzählungen münden die politischen Geschichten aber nicht notwendig in Erlösung, wie das Exempel der Lukretia belegt. Dass Lukretias Entscheidung umstritten ist, belegt schon die kontroverse Auslegungsgeschichte. Das Exempel ist aber bereits für Valerius Maximus insofern eine Ausnahme, als in Lukretia „männlich starke Gesinnung durch einen üblen Irrtum des Schicksals einen weiblichen Körper erhielt“53. Indem Lukretia aber an sich selbst ein Exempel statuiert, wird dieses in die Reflexion gezwungen und kommt dem nahe, was Giorgio Agamben das Paradox der ,exemplarische[n] Ausnahme‘ genannt hat.54 Weit jenseits eines allgemeinen politischen Geltungsanspruches verhandelt das Exempel die Relation von Einschließung und Ausschließung. Während Conlatinus aufgrund einer geltenden Racheverpflichtung eine doppelte Ausschließung praktiziert, um seine Ehre zu wahren, reklamiert der König Tarquinius für sich einen ,Ausnahmezustand‘, ein jenseits des Gesetzes, letztlich um den Preis seiner Ausschließung. Lukretia schließlich kann sich nur um den Preis ihrer finalen Ausschließung selbst wieder einschließen, ohne dass ein Makel an ihr haften bleibt. Politische und moralische Logik bzw. Rhetorik der Ausnahme werden im Exempel der Lukretia aufeinander bezogen. Nimmt man den Minnekasus zwischen Almenia und Totila hinzu, treibt das Exempel auf dem Feld der Politik, der Moral und der Minne jeweils eigene Paradoxien hervor. Von der Regel-Fall-Struktur der rhetorischen Exempel und der Polyvalenz der Titusgeschichte unterscheidet sich die Lukretiageschichte noch einmal signifikant. In der Kaiserchronik stehen gewiss viele Geschichten über Kaiser und Päpste, mehr oder minder explizit, in einem heilsgeschichtlichen Horizont. Daneben aber existiert eine topische Ausrichtung des Erzählens, die einzelne Exempel auf Erfahrungssätze und damit auf einen Geltungsanspruch mittlerer Reichweite beziehbar macht. Dieser kann als Regel direkt formuliert werden – Zwietracht führt in den Untergang; wer andern eine Grube gräbt ...; alle für einen, einer für alle –, er kann
|| 52 ‚Mein Herr soll das verhüten! / Besser ist es, dass ich alleine sterbe, / als dass so viele Menschenkinder meinetwegen umkommen.‘ Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 7837–7839; ‚es ist besser, dass einer stirbt, / als dass die ganze Welt in Feuer aufgeht‘. Die Kaiserchronik (Anm. 1; Herweg), V. 8728f. 53 Dux Romae pudicitia Lucretia, cuius virilis animus maligno errore fortunae muliebre corpus sortitus est [...]. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia. Denkwürdige Taten und Worte. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Ursula Blank-Sangmeister. Stuttgart 1991, VI.1,1. 54 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995). Übers. von Hubert Thüring. Frankfurt a. M. 2002, S. 31f.
Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik
verschlüsselt angedeutet werden – man macht nicht zweimal den gleichen Fehler –, er kann aber auch nur implizit aus Struktur und Verlauf komplexer Erzählungen extrapoliert werden. Mit Hilfe des Topos wird nicht nur ein Thema, sondern zugleich ein Argument entworfen, das seinen Geltungsanspruch aus ganz verschiedenen Registern beziehen kann: z. B. aus Tugend- und Lasterkatalogen, aus dem System der Moralphilosophie, aus den Registern des Common Sense oder selbst durch Rekurs auf konventionelle Erzählmuster. Zeigt bereits die Titusgeschichte eine komplexe Option exemplarischer Auswertung, steht die Lukretiageschichte wie keine zweite für die Paradoxien topischer Gestaltung, die weit über die Sentenzen des Common Sense hinausgeht. Die rhetorische Technik beweist dabei nicht nur den Geltungsanspruch der Topoi, sondern gestaltet auch situationsabhängige Entwürfe, die die Vielfalt und Variabilität von Erfahrung vor Augen führen. Der Verfasser der Kaiserchronik demonstriert seine rhetorische Kompetenz bereits in den zahlreichen Reden und Disputationen sowie in den mitunter demonstrativ ausgestellten rhetorischen Figuren, mehr aber noch zeigt er sie in den verschiedenen Formen narrativer Argumentation, die einem topischen Verfahren folgen. Dass dieses Archiv kollektiver Erfahrung, das in Geschichte gründet, in der Kaiserchronik nicht nur in einem Verhältnis von Ankündigung und Erfüllung zur christlichen Offenbarung steht, dass hier vielmehr vielfältige Berührungspunkte und Spannungen bestehen, lässt sich am Ende vielleicht noch einmal im Kontrast zu einem Satz Gregors VII. illustrieren, mit dem er seinen Suprematieanspruch über Heinrich IV. formuliert: „Ich bin die Wahrheit und nicht die Gewohnheit“. 55 Gregors Satz akzentuiert in zeitgenössischer Formel die konkurrierenden Geltungsansprüche religiöser Offenbarung und kollektiver geschichtlicher Erfahrung, die auch die Legenden und Exempel der Kaiserchronik prägen. Der Autor der Kaiserchronik aber verfasst seinen Text nicht vor dem Hintergrund der Alternative, sondern im Spannungsfeld beider Postulate. Die Synthetisierung gegenläufiger Geltungsansprüche spiegelt gerade seinen reflektierten Umgang mit topischen Verfahren. Auch wenn die Erzählverfahren der Kaiserchronik sich nicht mit den poetischen Verfahren der zeitgenössischen Dichtung messen können, so lässt sich an ihnen doch studieren, wie eine Rhetorik des Exempels durch syntagmatische Entfaltung und paradigmatische Überlagerungen an dem beteiligt sind, was man die Poetik der ersten deutschen Geschichtsdichtung nennen kann.
55 Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft (1939). Übers. von Eberhard Bohm in Zusammenarbeit mit Kuno Böse. Frankfurt a. M. [u. a.] 1982, S. 144: „‚[...] Mein Name ist Wahrheit. Er hat nicht gesagt: Mein Name ist die Gewohnheit.‘“ Vgl. Wilfried Hartmann: Wahrheit und Gewohnheit. Autoritätenwechsel und Überzeugungsstrategien in der späten Salierzeit. In: Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V. Hrsg. von Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter. Darmstadt 2007, S. 65–84.
Teil III: Wege der Metapher
Anfang und Ende Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue
Paradies und Narrativ Als Jeronimo Rugera und Josephe Asteron, das unglückliche Paar aus Kleists Erdbeben in Chili, aufgrund ihrer folgenreichen Beziehung hingerichtet werden sollen, erschüttert ein Erdbeben den Ort der Delinquenz und ermöglicht dem Paar innerhalb der allgemeinen Verwirrung die Flucht. In einem Tal, in das die Überlebenden der Stadt sich geflüchtet haben, findet die zerstreute Familie wieder zusammen. Die Naturidylle realisiert für einen Moment eine Menschheitsutopie: eine von allen Unterschieden der Stände befreite Gemeinschaft, in der die Menschen wie in einem Paradies friedlich miteinander leben. 1 Kleists symmetrisch konzipierte Erzählung rahmt die paradiesische Szene durch das vorausgehende Erdbeben und den folgenden Mord in der Kirche. Indem der Verlauf der Handlung nicht nur christliche Sinnentwürfe verkehrt, sondern auch das Verhältnis von Natur und Kultur auf den Kopf stellt, wendet sich Kleist auf knappstem Raum gegen ein Erzählmodell, das von zeitloser Attraktivität zu sein scheint und in der Paradieserzählung seinen wohl wirkungsmächtigsten Vertreter besitzt: die Utopie einer harmonischen Ordnung der Gemeinschaft, die Einbettung des Lebens in eine große kohärente Erzählung. 2 Was bei Kleist nur noch eine momenthaft aufscheinende Illusion bezeichnet, besitzt für die gelehrte Reflexion und für viele Erzählungen im Mittelalter einen dominanten Orientierungsrahmen: das Paradies als realer irdischer Ort, als Ursprung und Ziel der Geschichte, als präsente Spur des Heils. Wie auf mittelalterlichen Weltkarten das Heilige Land den geographischen Raum definiert und nicht wie in der Antike die Oikumene, so gehen theologische Reflexion und Chronistik
1 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hrsg. von Helmut Sembdner. München 91993, S. 144–159. 2 David E. Wellbery: Semiotische Anmerkungen zu Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. Hrsg. von dems. München 21987, S. 69–87; Roland Reuß: Im Freien? Kleists Erdbeben in Chili – Zwischenbetrachtung ‚nach der ersten Haupterschütterung‘. In: Brandenburger Kleist-Blätter 6 (1993), S. 3–24; Saskia Herrath: Zurück zum Ursprung oder das kultivierte Paradies. Voltaires ‚Candide‘ und Kleists ‚Erdbeben in Chili‘. In: Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski. Festschrift für Klaus Jeziorkowski. Hrsg. von Ingo Wintermeyer. Würzburg 1995, S. 27–39. https://doi.org/10.1515/9783110772340-013
Anfang und Ende vom Paradies als einer Realität aus. 3 Das Paradies steht dabei in einer besonderen Beziehung zu Jerusalem. Als Ort der Himmelfahrt Christi, als Zentrum der Welt und als Tor zum Paradies nimmt Jerusalem paradigmatischen Wert für den Christen an. 4 Paradies und Jerusalem verbinden die Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft mit der eines gegenwärtigen ewigen Raumes. Sie halten Leben und Geschichte zusammen und verleihen ihnen allererst Kohärenz. 5 Deshalb kann die Legende das Grab Adams nach Golgatha verlegen, deshalb auch kann die Arche zum Bild der Kirche werden, das Paradies und Jüngstes Gericht verbindet. 6 Die Paradieserzählung bildet ein eigenes kulturelles Narrativ aus, das die Anschauung von Geschichte und die Struktur vieler mittelalterlicher Erzählungen prägt. Es ist überdies eng mit der Figur der Metapher verbunden, da beide aufgrund analoger Strukturen als Sinnbildungsmuster fungieren. Ich gehe in vier Schritten vor: 1. Wodurch konstituiert die Paradieserzählung ein Narrativ? In diesem Zusam 3 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München [u. a.] 2003, S. 159; Herbert Vorgrimler: Geschichte des Paradieses und des Himmels. Mit einem Exkurs über Utopie. Paderborn/München 2008, S. 47. 4 Radulf Glaber zitiert den Kreuzfahrer Lethbalt: Credo enim, quoniam secut te secutus sum corpore, qualiter ad hunc devenirem locum: sic anima mea illaesa et gaudens post te sit ingressura ad paradisum. Radulfus Glaber: Les cinq livres de ses histoires (900–1044). Hrsg. von Maurice Prou. Paris 1886 (Collection des textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire. 1), S. 107. Vgl. Christoph Auffahrt: Himmlisches und irdisches Jerusalem. Ein religionswissenschaftlicher Versuch zur Kreuzzugseschatologie. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2 (1993), S. 25–49 u. 91–118; Franz Niehoff: Umbilicus mundi – Der Nabel der Welt. Jerusalem und das Heilige Grab im Spiegel von Pilgerberichten und -karten, Kreuzzügen und Reliquiaren. In: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Josef-HaubrichKunsthalle. Bd. 3. Hrsg. von Anton Legner. Köln 1985, S. 53–72. 5 Alfred Doren: Wunschräume und Wunschzeiten. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 35 (1924), S. 158–205; Otto Gerhard Oexle: Entstehung und Funktion des utopischen Denkens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne. In: Die Wahrheit des Nirgendwo. Zur Geschichte und Zukunft des utopischen Denkens. Hrsg. von Jörg Calließ. Loccum 1994 (Loccumer Protokolle. 1993,12), S. 33–83. 6 Zu Adams Grab vgl. Textquelle: Schatzhöhle. In: Erich Weidinger: Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel. Augsburg 1992, S. 47–100, hier S. 53; diese historie hat genomen einen anefang des namen von Ierusalem vnd ende vnd mittel, so endet auch Robertus Monachus in seiner Historia Hierosolymitana mit einem heilsgeschichtlichen Überblick über die Geschichte Jerusalems von ihrer Gründung durch Noahs ‚Sohn‘ Melchisedech bis zum Himmlischen Jerusalem. Historia Hierosolymitana von Robertus Monachus in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Barbara Haupt. Wiesbaden 1972 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. 3), S. 169–172, hier S. 169; Hugo von St. Viktor bemerkt zur Funktion der Arche, ‚daß der Arche Anfang nach Osten zeigt, ihr Ende aber an den Westen rührt, und nach wunderbarem Plan von gleichem Anfang her die Anordnung der Räume zusammen mit der Zeitordnung abläuft, so daß das Weltende auch das Ende der Welt ist.‘ (In hoc spatio mappa mundi depingit it, ut caput arcae ad orientem convertatur, et finis ejus occidentem contingat, ut mirabili dispositione ab eodem principio decurrat situs locorum cum ordine temporum et idem sit finis mundi, qui est finis saeculi.) Hugo von St. Viktor: De arca Noe mystica. In: PL 176, 700 C, zitiert nach Friedrich Ohly: Die Kathedrale als Zeitraum. Zum Dom von Siena. In: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 171–273, hier S. 244.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
menhang werden die Erzählkoordinaten der Heilsgeschichte in narratologische Termini übersetzt. 2. Inwiefern generiert das Paradies ein kulturelles Narrativ? Dies betrifft die Frage nach den verschiedenen Prozesslogiken, die das heilsgeschichtliche Erzählmuster in Gang setzt. 3. Wie gestaltet sich in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Narrativ und Metapher? Hier ist die Frage leitend, inwieweit beide Darstellungsformen die Funktion erfüllen, Relationen zu setzen und Ordnungen zu stiften. 4. Wie realisiert sich das Paradiesnarrativ in mittelhochdeutscher Literatur? Ich werde nach einer theoretischen Einleitung das Thema am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte, der Legende vom Heiligen Brandan und des Erec Hartmanns von Aue illustrieren. Aristoteles definiert bekanntlich in der Poetik die Handlung des Mythos (Erzählung) als ein Ganzes, das sich aus Anfang, Mitte und Ende zusammensetzt, und noch die moderne Erzähltheorie ist ihm darin gefolgt. 7 Kardinal für die Ereignisstruktur einer Erzählung scheint zu sein, dass sich im Handlungsraum eine Alternative eröffnet, über die die Erzählung Spannung entfaltet und die in ihrem Verlauf wieder geschlossen wird. 8 Die Erzähltheorie hat diesen Spannungsbogen von Öffnung und Schließung über eine Axiologie von Werten hierarchisiert und über ein Handlungsschema in eine feste Struktur überführt. 9 Über Handlungsschemata verzeitlichen Narrative Oppositionen, hierarchisieren und finalisieren sie. In seiner einfachsten Form, im Märchen, wird der Held mit dem Bösen konfrontiert, er durchschreitet einen Weg und bringt am Ende das Gute zum Erfolg. Erzählformen organisieren sich bekanntlich über syntagmatische und paradigmatische Relationen. Einzelne Erzählformen wie Märchen und Fabel können dominant paradigmatische Relationen repräsentieren. 10 Komplexe Erzählungen stellen sich demgegenüber als entfaltete Syntagmen oder als ein „geschichtetes Gefüge von
7 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1989 (RUB. 7828), I,7. Vgl. Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte? In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik. 16), S. 528– 563; Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Beiträge zur Historik. 3), S. 85–118; Juri M. Lotman: Die modellbildende Bedeutung des Begriffs Anfang und Ende in künstlerischen Texten. In: Semiotica Sovietica 1. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962–1973). Hrsg. u. eingeleitet von Karl Eimermacher. Aachen 1986, S. 829–834. Vgl. Wolfgang Haubrichs (Hrsg.): Anfang und Ende. Stuttgart/Weimar 1985 (LiLi. Heft 99), S. 1–8. 8 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier S. 112f. 9 Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 4. Hrsg. von Hans Robert Jauß, Erich Köhler. Heidelberg 1978, S. 25–59, hier S. 30–33. 10 Barthes (Anm. 8), S. 112.
Anfang und Ende Strukturen“ dar, die unterschiedliche Sinnpotentiale miteinander in Beziehung bringen können. 11 Die moderne Erzähltheorie geht davon aus, dass Erzählungen nicht mehr nur ein kohärentes Narrativ realisieren, sondern aus einem Cluster sich berührender Geschichten („a cluster of contiguous histories“) bestehen. 12 Bereits der Artusroman verhandelt gegenüber dem Märchen außer der Opposition von Gut und Böse auch diejenige von Subjekt und Gemeinschaft sowie die von Minne und Ehe, die sich in einem komplexen Erzählgefüge überlagern. Paradiesmythen besitzen paradigmatischen Wert, die erzählten Ereignisse stehen für grundsätzliche Orientierungen der Menschheit. Strukturalistisch betrachtet, erzählt der „Mythos […] von Lebensordnungen“, er „setzt Beziehungen und ordnet sie.“ 13 Der Religionshistoriker Fritz Stolz hat in einer strukturalen Lektüre des babylonischen Dilmunmythos das Problem der Geburtenregulierung herausgearbeitet, eine soziale Grundproblematik, die den gesamten Erzählvorgang bestimmt: Einer ungebremsten Fortpflanzung durch den Gott Enki schiebt die Muttergöttin Ninhursag durch Krankheit einen Riegel vor. Die wilde Dynamik des Lebens – Vitalität, Promiskuität und Inzest – wird durch Lähmung und Sterblichkeit begrenzt: ein sinnvoller Mechanismus nicht nur gegen Überbevölkerung. Paradiesmythen erzählen von Gegenwelten zur Normalität, deren Begründung sie in Abgrenzung von jenen suchen. Der Paradiesmythos leistet nach Stolz eine Transformation des Unkontrollierbaren in Kontrollierbares, er erklärt z. B., wie elementare Oppositionen wie Leben und Tod nicht nur entstehen, sondern sinnvoll sind. 14 Auch die biblische Paradieserzählung öffnet eine Alternative im Handlungsraum, die über die Axiologie von Gut und Böse ausgerichtet und über das Handlungsschema Gesetz, Übertretung und Strafe geschlossen wird. Da das Böse aber über das Gute triumphiert, ist sie kein Märchen, sondern ein Mythos, denn sie erzählt, wie ein Defekt in die Welt gekommen ist. Syntagmatisch erzählt sie vom Ursprung des Mängelwesens Mensch. Die conditio humana wird aber zugleich in eine 11 Wellbery (Anm. 2), S. 70. 12 Ansgar u. Vera Nünning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von dens. Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium. 4), S. 1–33, hier S. 5. 13 Fritz Stolz: Paradiese und Gegenwelten. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 1 (1993), S. 5– 23, hier S. 12 u. 14; Vorgrimler (Anm. 3), S. 22f.; Alois Hahn: Soziologie der Paradiesvorstellungen. Trier 1976; 1001 Nacht – Wege ins Paradies. Hrsg. von Andrea Müller, Hartmut Roder. Mainz 2006; Paradies. Topografien der Sehnsucht. Hrsg. von Claudia Benthien, Manuela Gerlof. Köln [u. a.] 2010 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Kleine Reihe. 27), S. 8. 14 Das Gilgameschepos verhandelt demgegenüber das Problem der individuellen Sterblichkeit: Der Gottmensch Gilgamesch begibt sich auf den Weg nach Dilmun, um die Unsterblichkeit zu finden: Er findet sie, verliert sie aber wieder: ein ebenfalls sinnvoller Vorgang. Das Gilgameschepos. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Albert Schott. Neu hrsg. von Wolfram von Soden. Stuttgart 1988 (RUB. 7235).
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
Spannung von dignitas und miseria hominis überführt, wird verzeitlicht und damit zur Alternative. 15 Zwar funktioniert die Erzählung wie ein Mythos, indem sie die Frage nach dem Mängelwesen Mensch narrativ, d. h. über eine Geschichte erklärt, sie stellt aber die Frage nicht still, sondern eröffnet einen Ausweg und generiert weitergehenden Erzählbedarf. 16 So lässt sich die Paradieserzählung nicht nur syntagmatisch auf das Schema Gesetz, Übertretung und Strafe reduzieren. Ihr narratives Programm scheint komplexer zu sein. Vor allem ihre Folgen konstituieren ein ganzes Bündel zusätzlicher Werterelationen, die den Ausgangspunkt für neue Alternativen, für narrative Schemata und Fortsetzungsgeschichten bilden: Fülle-Mangel etwa für die Opposition Natur-Kultur, die in das Narrativ der Kulturgeschichte mündet; GesundheitKrankheit für die Opposition Leben-Tod, die biographische und eschatologische Narrative hervorbringt; schließlich Heimat-Exil für die Opposition des Eigenen und des Fremden, die das wirkungsmächtige Narrativ der Entfremdung generiert: Mangel, Vergänglichkeit und Entfremdung als Generatoren von neuen „narrativ formatierten Sehnsüchten“. 17 Narratologisch besteht die Raffinesse der Paradieserzählung darin, dass sie auf höherer Ebene eine geschlossene Struktur in eine neue Öffnung überführt. Der Mythos öffnet sich bekanntlich zur Geschichte und Geschichtsphilosophie. Ein narratives Programm, das durch ein solches Ensemble von Gegensätzen (Axiologien) gebildet wird, möchte ich im Anschluss an Wolfgang Müller-Funk als kulturelles Narrativ bezeichnen. Polare Werterelationen dieser Art grundieren die so genannten Groß- oder Meistererzählungen, nach denen Kulturen ihre Sinngefüge ordnen: Fortschritt, Emanzipation, Zivilisation etc. 18 Solche Metaerzählungen setzen Werte und Koordinaten für kollektive Orientierung, und sie setzen sich gleichfalls aus einem Ensemble „geschichteter Strukturen“ zusammen. Wird die Mangelsituation des Menschen nicht als anthropologische Disposition, sondern als Effekt einer Geschichte begriffen, kann auch die Befreiung vom Leiden zum Ziel einer Erzählung werden: Aufhebung des Mangels, der Vergänglichkeit, der Entfremdung. Darauf werden sich noch die Meistererzählungen der Aufklärung, des Rousseauismus und
15 Der Mythos „berichtet davon, wie die Zeit entstand und wie sich in der Zeit die Welt in Gegensätze aufspaltete, Gegensätze, die durch die Wirksamkeit der Sprache gegeben sind.“ Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien 22008, S. 106. 16 Zur Ursprungsfixierung des Mythos vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 71999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 15), S. 91–125; Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M. 1965 (Edition Suhrkamp. 128), S. 95–134; Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. 17 Müller-Funk (Anm. 15), S. 21. 18 Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz [u. a.] 1986 (Edition Passagen. 7); Müller-Funk (Anm. 15).
Anfang und Ende Marxismus berufen. Die Literaturwissenschaft hat sich lange Zeit damit begnügt, Erzählmuster als Gattungsmuster zu beschreiben, um ein für das eigene Gebiet isolierbares Textkorpus zu definieren. Narrative als Großerzählungen überschreiten aber Gattungsmuster, wie sie als Erzählkerne diese auch unterschreiten können. 19 Für das Christentum steht in dieser Spannung das Paradies nicht mehr nur am Anfang der Geschichte, es rückt im kulturellen Narrativ auch an das Ende. 20 Aber erst wenn eine weitere Axiologie eingezogen und diese in den Horizont einer verantworteten Geschichte gestellt wird, erhält das Leiden auch einen übergeordneten Sinn. Hier lautet das Schema dann Buße und Erlösung. Beide Schemata zusammen, das vergangenheitsorientierte von Übertretung und Strafe und das zukunftsorientierte von Leiden und Erlösung, die zugleich die Narrative des Alten und des Neuen Testaments abbilden, konstituieren die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs. Beide Teilnarrative spannen das Schicksal des Menschen zwischen einen Anfang und ein Ende, wodurch die Typologie ihre narrative und das Narrativ seine metaphorische Grundstruktur ausweist. Die narrative und metaphorische Struktur der Paradieserzählung illustriert die Ebstorfer Weltkarte in besonderer Weise. 21 Narratologisch betrachtet, stellt das Bild nebeneinander, was die Bibel als ein Nacheinander entfaltet. Oppositionen: Adam und Christus, Altes Testament und Neues Testament, Fall und Erlösung; mithin ein typologisches Verständnis von Geschichte. 22 Die Karte gibt die Oppositionen aber nicht nur als eine zeitliche Sukzession von Anfang, Mitte und Ende wieder, sondern führt beide Pole auch zusammen. Um aber die Identität von Anfang und Ende zu gewährleisten, muss Linearität in Zirkularität, müssen syntagmatische in paradigmatische Relationen übergehen. In der Figur des Kreises findet diese Verbindung ihre evidente Form. Die Kreisfigur aber stellt eine zentrale mythische Figur der „Bedeutsamkeit“ dar, „die den Ordnungstenor der Welt und des Lebens gegen jeden
19 Müller-Funk (Anm. 15); Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 6–45. 20 Reinhold R. Grimm: Paradisus coelestis – paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200. München 1977 (Medium aevum. 33); Benthien, Gerlof (Anm. 13), S. 7 u. 12. 21 Die Ebstorfer Weltkarte. Hrsg. von Hartmut Kugler. 2 Bde. Berlin 2007; Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988. Hrsg. von dems. Weinheim 1991. Vgl. Cornelia Herberichs: quasi sub unius pagine visione coadunavit. Zur Lesbarkeit der Ebstorfer Weltkarte. In: Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne. Hrsg. von Jürgen Glauser, Christian Kiening. Freiburg i. Br. 2007 (Rombach-Wissenschaften: Reihe Litterae. 105), S. 201–217. 22 Zur Typologie: Friedrich Ohly: Vom geistlichen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 1–31; Rudolf Suntrup: Typologische Heilsgeschichts-Konzepte in mittelalterlicher geistlicher Literatur. In: Germanistische Mediävistik. Hrsg. von Volker Honemann, Tomas Tomasek. Münster 1999 (Münsteraner Einführungen: Germanistik. 4), S. 277–304.
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Anschein von Zufall und Willkür verbürgt.“ 23 Der Kreis markiert sowohl einen räumlichen als auch einen zeitlichen Rahmen. Indem die Welt zum Kreis und die Geschichte zum Kreislauf wird, entsteht eine homogene Ordnung von Raum und Zeit: Raumordnung und Zeitordnung, Topologie und Chronologie fallen in der gleichen Figur zusammen. Indem Anfang und Ende hier nicht nur syntagmatisch, sondern auch paradigmatisch miteinander verbunden sind, zeichnet sich das Wechselspiel einer narrativen und einer metaphorischen Operation ab.
Abb. 8: Ebstorfer Weltkarte
Abb. 9: Detail: Paradies und Christus
Raum und Zeit, Komplexität der Welt und Zeitlichkeit des Lebens, bilden die beiden zentralen Sphären der Kontingenzerfahrung, und beide Komplexe werden über lineare narrative und bildlich-metaphorische Figurationen bewältigt. Etwas unerwartet kann das die Sentenz als klassisches Mittel der Komplexitätsreduktion illustrieren. Wenn Christus predigt „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), bietet er sich selbst nicht nur als Maßstab (Wahrheit) für die Orientierung in Raum und Zeit an, sondern übersetzt dieses Angebot auch in eine Metapher, die ein Narrativ impliziert: der Lebensweg als Wanderung mit einem Anfang und einem Ende. 24 Wie der Kreis die Komplexität der Welt und die Zeitlichkeit der Geschichte in eine anschauliche und kohärente Form überführt, so der Weg die Komplexität und Zeitlichkeit des Lebens. Die christliche Wegmetaphorik realisiert mit der Rückkehr zum Anfang linear, was der Kreisstruktur inhärent ist. Vinzenz von Beauvais gibt || 23 „Das zyklische Schema war ein Grundriß des Weltvertrauens gewesen […].“ Blumenberg (Anm. 16), S. 86 u. 97; „ein Schema bietet sich für eine Bedeutung viel stärker an als eine Zeichnung, […]“ Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964, S. 87. 24 Matthias Christen: To the End of the Line. Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München 1999, S. 11–63.
Anfang und Ende Empfehlungen für die christliche Orientierung, „so daß wir sicherer vorwärts schreiten, um zum ewigen Leben zu gelangen. […] Daher ist es notwendig, daß wir mit dem Morgen der Jugend, welcher der Anfang des Lebenstages ist, unsern Weg zum Paradies anfangen“. 25 Die Metapher nimmt narrativen und das Narrativ metaphorischen Wert an. In der Ebstorfer Weltkarte werden beide auf Christus projiziert: Christus ist nicht nur Mittelpunkt (Jerusalem) und Umkreis der Welt, Anfang und Ende der Geschichte (Adam/Christus), sondern auch Ziel des Lebensweges. Die Metaphern des Kreises und des Weges werden zu Medien, zu Chronotopoi, die zwischen dem religiösen System (Christus) und der unüberschaubaren Komplexität von Welt und Leben vermitteln. 26 Welt und Geschichte, Leben und Gott, werden über ein und dieselbe Figur zu einem Weltbild synthetisiert: Anfang und Ende, Mittelpunkt und Umkreis, schließlich Bild, Metapher und Narrativ. Christus hält Welt, Leben und Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Wenn die narrativierte Metapher nur auf das Vorbild Christi zielt, dem nachzufolgen ist, um ein besserer Mensch zu werden, handelt es sich um ein einfaches Narrativ. Wenn die imitatio Christi aber zugleich auf die Aufhebung von Mangel, Vergänglichkeit und Entfremdung zielt und in eine geschichtsphilosophische Dimension ausgreift, weitet sich das einfache Narrativ zu einem kulturellen. Das aristotelische Modell der Erzählung aber ist ein dezidiert vormodernes, das der Kontingenzerfahrung über Linearität und Kohärenzbildung gegenarbeitet. 27 Leben (Geschehen), Welt und Geschichte, die für sich keinen Sinn enthalten, erfahren über die Form eines Bildes (Kreis) und einer Erzählung, über Linearität und Kohärenz, einen Mehrwert an Bedeutung. Das Modell inszeniert damit eine „mythologische Konfiguration des Erzählens“. 28 In diesem Sinn aber meint Mythos keine Ursprungs-, sondern eine Finalitätsfigur: eine erfüllte Teleologie, die von Erzählungen in das so genannte „mythische Analogon“ übersetzt wird. 29 Kulturgeschichtlich verbindet das heilsgeschichtliche Narrativ das mythische Narrativ des Ursprungs mit dem utopischen einer erfüllten Zukunft und bildet geschichtsphilosophisch 25 Vinzenz von Beauvais: Über die Erziehung. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit biographischem Anhang versehen von August Millauer. Donauwörth 1890, S. 96f. Vgl. Vincent of Beauvais: De eruditione filiorum nobilium. Hrsg. von Arpad Steiner, Cambridge/Mass. 1938 (The Mediaeval Academy of America. 32). XXIV, S. 84: Tercia est, quia securius procedit, ut ad uitam eternam admittatur. […] Ideoque in mane puericie, que est inicium diei huius uitae, oportet, ut iter nostrum ad paradysum aggrediamur. 26 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen übersetzt von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008 [zuerst Moskau 1975], S. 21f. 27 Müller-Funk (Anm. 15), S. 17–35, hier S. 27 u. 32. 28 Ebd., S. 32. 29 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1976 (stw. 151); Heinrich Detering: Zum Verhältnis von ‚Mythos‘, ‚mythischem Analogon‘ und ‚Providenz‘ bei Clemens Lugowski. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von Matías Martínez. Paderborn [u. a.] 1996, S. 63–79.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
gewissermaßen die Schnittstelle zwischen zwei großen kulturellen Formationen: antikem Ursprungsdenken und moderner Zukunftsorientierung. 30
Identitätsparadigma Brandan: Paradigmatik Welt und Leben als zentrale Orte der Kontingenzerfahrung werden über Narrative und Metaphern in Anschauung überführt. So konkurriert das Meer als konventionelle Metapher für die Kontingenz der Welt mit der Reise als Sinnbild für den Lebensweg. 31 Entsprechend wird die Seereise zum Prüfstein des Weltbezugs. Für den Christen bedeutet Leben mit einem Satz Max Wehrlis immer „unterwegs, auf der Suche, in Gefahr zu sein“, gerade weil er in der Welt nicht mehr zu Hause ist. 32 „Im stürmischen Meer dieser Welt“ dem Sünder beizustehen, bittet etwa Otto von Freising im letzten Satz seiner Weltchronik. 33 Solche Narrative und Metaphern können in die Struktur ganzer Erzählungen übersetzt werden. Der irische Mönch Brandan liest ein Buch über die Wunder Gottes, gerät darüber in Zweifel und verbrennt es. Er wird daraufhin von Gott zu einer Seereise verurteilt, um dessen Allmacht kennen zu lernen. Brandan baut ein Schiff, stattet es mit Reliquien aus und macht sich mit 70 Gefährten auf die Reise. Er wird unterwegs mit verschiedenen Wundern konfrontiert: z. B. mit einem Inselfisch, dem Magnetberg und Sirenen; die Reisenden müssen sich verschiedener Seemonster erwehren, vor allem aber treffen sie auf eine Serie von Inseln, auf denen Mönche und Büßer leben und Sünder schreckliche Stra-
30 Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt a. M. 1996 (stw. 1271). Zur Finalität moderner Utopie vgl. Müller-Funk (Anm. 15). 31 Vgl. Hugo Rahner: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Kirche. Salzburg 1964, S. 272–303 (Das Meer der Welt); Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a. M. 1979; Hugo de Folieto erläutert das Konnotationsfeld der Metapher. ‚Moraliter bezeichnet das Meer die Welt, das Schiff das Leben dieser Zeit, der Schiffbruch die Gefährdung des Lebens, das Verlassen des Meeres den Rückzug aus der Welt, die Insel, die aus dem Meer ragt, den Hafen des rechten Aufenthalts.‘ (Moraliter igitur mare, mundum, navis hujus saeculi vitam, naufragium vitae periculum, egressio de mari renuntiationem mundi, insula quae mari supereminet portum rectae conversationis significat.) PL 176, hier Sp. 1018f. 32 Max Wehrli: Iweins Erwachen. In: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Hrsg. von Maria Bindschedler, Paul Zinsli. Bern 1969, S. 64–78, hier S. 72. Vgl. Arnold Angenendt: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800. In: Die Iren und Europa im frühen Mittelalter. Hrsg. von Heinz Löwe. Stuttgart 1982, S. 52–79; Julia Weitbrecht: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 17–19. 33 Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten. Übersetzt von Adolf Schmidt. Hrsg. von Walther Lammers. Darmstadt 1961 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. 16), VIII, 35.
Anfang und Ende fen erleiden; unterwegs geraten die Reisenden an den Rand des Paradieses und des Fegefeuers. Nachdem Brandan bis ans Ende der Welt gereist ist, kehrt er nach neun Jahren in die Heimat zurück, stirbt und fährt gen Himmel. 34 Wenn die Metaphern von Meer und Reise hier zum Handlungsraum und Handlungsschema konkretisiert und in eine Erzählung übersetzt werden, nehmen Raumordnung und Bewegungsform paradigmatische Gestalt an. Die Geschichte erzählt nicht nur von der Erfahrung der Wunder Gottes, sondern auch von dem Verhältnis von Leben und Welt. Die Reise des Heiligen steht aber unter besonderen Bedingungen, wenn die Gefährdungen der Welt einerseits potenziert, andererseits von vornherein depotenziert werden. Vor den Angriffen dämonischer Monster rettet sich Brandan immer wieder in die Obhut Gottes. Die scheinbar zufällige Aggregation der Stationen wird durch die Koordinaten der Heilsgeschichte zusammengehalten. Die Differenz zur neuzeitlichen Reiseliteratur besteht bekanntlich darin, dass die legendarische Reise nicht Schrift durch Erfahrung ersetzt, sondern bestätigt und Kontingenz durch Providenz aufgehoben wird. 35 Das Schiff, nach Michel Foucault Inbegriff der Heterotopie, bezeichnet hier nicht den Traum von einem anderen Ort, sondern vielmehr Heimat, Arche Noah, Kirche, d. h. eine Metapher. 36 Vor dem Hintergrund des skizzierten Fragerahmens sind zum einen die Raumund Zeitordnung, zum andern die narrativen Schemata, schließlich die Metaphern zu befragen. Die zentralen Räume bilden vertikal Himmel, Erde und Hölle, horizontal Kloster, Meer und die Stationenfolge der Inseln. Die vertikale Topologie der Heilsgeschichte wird in die horizontale Topographie der Welt übertragen. 37 Bran 34 Von sand Brandan. In: Sanct Brandan. Ein lateinischer und drei deutsche Texte. Hrsg. von Carl Schröder. Erlangen 1871, S. 163–192; Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung. Hrsg. von Reinhard Hahn, Christoph Fasbender. Heidelberg 2002 (Jenaer germanistische Forschungen; N.F. 14); Clara Strijbosch: Himmel, Höllen und Paradies in Sanct Brandans ‚Reise‘. In: ZfdPh 118 (1999), S. 50–68; Peter Strohschneider: Logbuch und heilige Schriften. Zu einer Version der deutschen Brandan-‚Reise‘. In: Gutenberg und die Neue Welt. Hrsg. von Horst Wenzel u. a. München 1994, S. 159–169; ders.: Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Erfahrungswissen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende. In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 1–34; Ingrid Kasten: Brandans Buch. In: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Christa Turczay [u. a.] Bern 1998, S. 49–60; Walter Haug: Brandans Meerfahrt und das Buch der Wunder Gottes. In: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident. Hrsg. von Laetitia Rimpau, Peter Ihring. Berlin 2005, S. 37–55; Andreas Hammer: St. Brandan und das ander paradîse. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey, Horst Wenzel. Stuttgart 2007, S. 153–176; Weitbrecht (Anm. 32), S. 195–206. 35 Strohschneider (Anm. 34), S. 16–19, hier S. 26. 36 Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits IV 1980–1988. Hrsg. von Daniel Defert, Francois Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 931–942, hier S. 942. 37 Jurij M. Lotman: Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hrsg. von Karl Eimermacher. Kronsberg/Ts. 1974 (Forschungen Literaturwissenschaft. 1), S. 338–377.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
dans paradigmatischer Weg durch das Meer der Welt durchläuft aber auch verschiedene Stationen der Vermittlung: Zwischen Himmel und Hölle konstituieren sich innerhalb der Welt verschiedene Übergangsräume: Paradies und Fegefeuer. 38 Horizontal wird eine Serie von heiligen Enklaven inmitten von Meer, Finsternis und Unheil inszeniert. Wenn die Reise aber zwischen Aufbruch und Ankunft den Stationen Kloster – Meer – Kloster folgt, ergibt sich eine Kreisstruktur von Heimat, Exil und Heimat. Die Vertreibung aus dem Schutzraum Kloster in die Gefährdungen der äußeren Welt folgt sichtbar dem Syntagma der Heilsgeschichte. Brandans Reise endet im Anfang, im Hafen des Klosters, der zugleich der Hafen seines Lebens und seiner Himmelfahrt ist. Und wenn Brandan schon zu Beginn wie auch am Ende im Kloster Gottes Stimme vernimmt, zeigt das, dass er sich schon von Anfang an in einem geschlossenen heilsgeschichtlichen Kreislauf bewegt. Brandans Abenteuer lassen sich auf drei elementare Handlungsschemata reduzieren: Das erste folgt den Stationen von Gesetz, Übertretung und Strafe, das zweite der Verbindung von Buße und Erlösung, das dritte der Überwindung des Bösen durch das Gute. Den Mönchen stehen als Gegner einzelne Monster und der Teufel mit seinen Heerscharen gegenüber. Die Erzählung kennt aber nicht nur Gegenspieler, sondern mit dem büßenden Sünder auch eine Übergangsfigur zwischen Gut und Böse. Laien, Mönche und selbst Engel sind allesamt Beispiele für das gleiche Sündenparadigma. Brandans eigene ‚Übertretung des Gesetzes‘ und sein Bußweg wiederholen sich strukturell immer wieder innerhalb der Binnenerzählungen. Michel Foucaults Befund über die Allegorese als reichster und ärmster Denkform zugleich, die in immer neuer Variation dieselbe Wahrheit zum Ausdruck bringe, bestätigt sich auch an Brandans Reise. 39 In der Erzählung von Brandans Reisen, so lässt sich zusammenfassen, besetzt das Kloster im Syntagma die Position des Paradieses mit seiner narrativen Öffnung und Schließung der Handlung. Während die Reise des Lebens im Meer der Welt sich vollzieht und nur noch durch das Schiff der Kirche und durch einzelne Inseln der Hoffnung stabilisiert wird, bildet das Kloster als Substitut des Paradieses die Klammer von Anfang und Ende der Reise. In der Erzählung von St. Brandan wird das Kloster zur Metapher und in das Syntagma der kreisförmigen Rückkehr übersetzt. 40
38 Paradies und Hölle sind nicht nur Orte der Vergangenheit und Zukunft, sondern auch der Gegenwart. Zum Status des „liminalen Kontaktbereichs“ vgl. Weitbrecht (Anm. 32), S. 197f. 39 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 31980 (stw. 96), S. 6ff. 40 Klostergarten (simulachrum paradisi) und Kloster gelten in der christlichen Ikonographie als Substitute von Paradies und Himmlischem Jerusalem; Georges Duby: Der heilige Bernhard und die Kunst der Zisterzienser. Stuttgart 1981, S. 128–131; Claus Bernet: Das Himmlische Jerusalem im Mittelalter: Mikrohistorische Idealvorstellung und utopischer Umsetzungsversuch. In: Mediävistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 20 (2007), S. 9–35, hier S. 18f.; Ursula Frühe: Das Paradies als Garten – der Garten als Paradies. Studien zur Literatur des Mittelalters unter der Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur. Frankfurt a. M. 2002.
Anfang und Ende Nicht nur Räume, Dinge und Figuren haben paradigmatischen Wert, sondern auch das Syntagma selbst. 41 Das Paradies wird im Syntagma der Erzählung aber auch zum realen Ort. Nicht nur trifft Brandan auf ein Inselkloster, dessen Mönche ihre Nahrung direkt aus dem Paradies beziehen, zweimal wird er auch selbst unmittelbar mit Paradiesen konfrontiert. 42 Das reale Paradies erscheint dabei nur als unüberwindbare Burg. Die Gegenwärtigkeit des Paradieses aber hebt die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft, d. h. die historische Zeit, auf und etabliert im Hintergrund eine mythische Dimension der Zeitlosigkeit, der das Paradiesnarrativ seine Finalität verdankt. Jahre später trifft Brandan mit seinen Gefährten auf eine weitere Paradiesinsel. Hier betreten die Reisenden zunächst einen Raum, der mit ewigem Frühling gesegnet ist, Korn und Wein bringt das Land ohne Arbeit (labor) hervor, die Tiere sind auf natürliche Weise dem Menschen untertan, Mangel und Vergänglichkeit scheinen hier aufgehoben. 43 Dieser natürlichen Kulturlandschaft wird nun eine ideale künstliche gegenüber gestellt. Bei ihrer Wanderung treffen die Reisenden auf eine prächtige Burg, die hoch über der Insel schwebt und unzugänglich ist, da Ungeheuer den einzigen Zugangsweg versperren. 44 Nur der Heilige verfügt über die Mittel, die Grenze mit seinen Brüdern zu passieren. Aber auch dieser glanzvolle und höfisch gezeichnete Raum besitzt seine heilsgeschichtliche Hypothek. Bewohnt wird die Burg von Zerrfiguren des Menschen, von Tiermenschen, wie sie etwa aus dem Herzog Ernst bekannt sind. Es handelt sich um die Nachfahren der neutralen Engel, denen Gott an diesem Ort eine kulturelle Form von Fegefeuer errichtet hat und die vor allem unter dem Verlust ihrer Gottebenbildlichkeit leiden. 45 Die Erzählprogramme von Vergehen und Strafe einerseits, von Hoffnung auf Erlösung andererseits, prägen auch diesen Ort und rücken ihn über den Sündenfall hinaus in einen weiteren geschichtsphilosophischen Horizont: Die Paradiesszene wird vertikal an den Engelssturz als mythischer Anfang vor dem Anfang angeknüpft. Die Raumstruktur der Inselwelt ist sichtbar zweigeteilt: Der paradiesisch indizierten Naturszene bei der Landung korrespondiert eine ideale höfische Kulturkulisse auf der Burg. Wie der idealisierte Naturraum nur ein natürliches Substitut des Paradieses ist, so changiert der höfische Kulturraum zwischen künstlichem Paradies
41 Das Narrativ selbst ist Träger einer eigenen historischen Semantik. Hans-Jürgen Lüsebrink: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte und Narrativität. In: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von Rolf Reichardt. Berlin 1998 (Zeitschrift für historische Forschung: Beiheft. 21), S. 29–44. 42 Von sand Brandan (Anm. 34), V. 330ff.; 515ff.; 1113ff. 43 Von sand Brandan (Anm. 34), V. 1113–1140. Vgl. Hammer (Anm. 34), S. 168f. 44 Von sand Brandan (Anm. 34) V. 1141–1159. 45 Strijbosch sieht in dieser Episode sowohl Reminiszenzen an das Paradies wie an das Himmlische Jerusalem; sie skizziert auch in Bezug auf die Vorstellung von den neutralen Engeln die Analogien zur Navigatio-Fassung und zeigt weitere mögliche Quellen auf; Strijbosch (Anm. 34), S. 58–60.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
und höfischem Fegefeuer. Beide Orte aber sind nicht nur Metaphern, sondern reale Orte der Handlung und machen innerhalb der Welt heils- und kulturgeschichtliche Spannungen erfahrbar. Die geschichtete Raumordnung bildet noch einmal die Stationen der Heilsgeschichte ab und ‚überträgt‘ sie in eine vertikale Topographie: vom natürlichen Paradies über das höfische Fegefeuer in den Himmel. Der ambivalenten Lage des höfischen Fegefeuers korrespondiert der Status der Gesprächspartner: Hier der heilige Sünder in der Nachfolge Christi (der von unten kommt), dort die gefallenen und in Tiermenschen verwandelten Engel (die von oben kommen). Auch dieses Fegefeuer ist auf paradigmatische Weise semantisiert: Seine Geschichte, seine Lage und seine Bewohner verweisen auf die Spannungen zwischen Fülle und Mangel, Leben und Tod, Heimat und Exil. Unter strukturalistischer Perspektive ist die Legende eine dominant paradigmatische Erzählform. Ihr Erzählschema lebt nicht von syntagmatischer Ausdehnung, sondern basiert wie Märchen, Fabel oder Gleichnis auf dominant paradigmatischen, d. h. aber letztlich metaphorischen Relationen. Im Brandan werden Räume, Handlungen, Figuren und Dinge zu Metaphern, deren Konnotationsfeld aber von vornherein eingeschränkt ist. Das Meer ist kein Meer, die Reise keine Reise, das Schiff kein Schiff, die Insel keine Insel mehr. Die Metaphern beziehen ihre Semantik aus einer geschlossenen symbolischen Ordnung: Noch das Narrativ realisiert eine Kreisbewegung. Unter der Perspektive des Reisenarrativs ist die Legende von St. Brandan syntagmatisch leer, sie inszeniert dafür in vielfacher Variation und auf verschiedenen Ebenen immer die gleichen paradigmatischen Figuren. 46 Brandan selbst z. B. ist Typus des Heiligen, der seinerseits wiederum dem Vor-Bild Christi nachgezeichnet ist. Er ist überdies in mehrfachem Sinn Typus zu christlichen Antitypen: zum einen Typus Adams, der ein Gesetz überschreitet und mit Exil bestraft wird, zum andern Typus Christi: der Heilige mit seinen Gefährten auf der Reise durch die Welt, der Gott Gnadenakte abbitten kann. Schließlich ist Brandan Typus Noahs, nach dessen Bauplänen er sein Schiff entwirft. Brandan ist mithin sowohl exemplarischer Sünder als auch Heiliger und damit paradigmatischer Erlöser: erster und letzter Mensch. Als Figuralexempel verbindet er die beiden Schemata des heilsgeschichtlichen Narrativs: einerseits Gesetz-Übertretung-Strafe, andererseits Buße und Erlösung: Brandan synthetisiert den Gehalt von Narrativ und Metapher zugleich. 47
46 Vgl. Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 31), S. 88. 47 Zum Figuralexempel vgl. Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die ‚historiae‘ im ‚Policraticus‘ Johanns von Salisbury. Hildesheim [u. a.] 1988 (Ordo. 2), S. 74f. u. 104f. Vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1983 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347–375.
Anfang und Ende
Differenzparadigma Erec: Metaphernspiele Wie die Legende folgt der Artusroman einer mythologischen Erzählkonzeption, die auf Versöhnung und Happy End angelegt ist. Den Grundriss der Handlung bildet eine Märchenstruktur, die ihrerseits aber bereits die soziale Thematik von Inklusion und Exklusion in sich aufnimmt. 48 Das Erzählprogramm folgt einem symmetrischen Handlungsschema. Die Handlung des Erec etwa ist zweigeteilt und auf eine markierte Stationenfolge von Anfang, Mitte und Ende ausgerichtet, die eine Kreisstruktur beschreibt: Sie beginnt zweimal mit dem Verlassen eines Hofes und führt am Ende mit der glücklichen Heimkehr an den Hof zurück. 49 Die Erzählsequenzen des zweigeteilten Weges sind durch zentrale Oppositionen gekennzeichnet, die über den Erzählprozess vermittelt werden: Gut und Böse, Mann und Frau, Rivalität und Freundschaft. Gegenüber dem einfachen Märchenmodell handelt es sich beim Erec sichtbar um ein ‚Gefüge aus geschichteten Strukturen‘. Auch der höfische Ritter ist nicht nur realiter unterwegs, auf Suche, in Gefahr. In einer Art geistlichen Allegorese sind der Fahrt des Ritters wiederholt christliche Wegschemata wie der mystische Aufstieg oder der ‚Weg zu sich selbst‘ unterlegt worden. 50 Der metaphorische Status der Wegstruktur aber ist ambivalent. Zwar entwirft der Artusroman keine Allegorie, keine Figuration eines geistlichen Lehrgehalts, doch berührt der fahrende Ritter in seiner Krise sichtbar das Modell der legendarischen Vita, gerade weil sein Weg dem gleichen Syntagma folgt. Während sich Brandan aber in christlicher Gesinnung auf die Reise macht, verortet sich die Suche des Aventiureritters innerhalb eines anderen Erzählprogramms. Im Syntagma des Erzählschemas ersetzt der Hof das Kloster, der Wald das Meer, die aventiure die Seefahrt und der Kampf das Beten. 51 Die Bewegung des Helden wird im Artusroman
48 Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990 (Epistemata. 66), S. 1–8 u. 14f. Vgl. Hugo Kuhn: Erec [1948]. In: Hartmann von Aue. Hrsg. von dems., Christoph Cormeau. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung. 359), S. 17–48; Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 45 (1971), S. 668–705; Friedrich Wolfzettel: Doppelweg und Biographie. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von dems. Tübingen 1999, S. 119–141. 49 Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 2006 (ATB. 39). 50 Walter Ohly: Die heilsgeschichtliche Struktur der Epen Hartmanns von Aue. Berlin 1958; John M. Clifton-Everest: Christian Allegory in Hartmann’s Iwein. In: The Germanic Review 48 (1973), S. 247– 259. 51 Vgl. Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Formen mittelalterlicher Erzählung. Hrsg. von dems. Zürich [u. a.] 1969, S. 155–176; Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. München 1990 (dtv. 4551), S. 335f.; Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
nicht über die peregrinatio oder die Seefahrt, sondern über die aventiure ins Bild gesetzt. Der Handlungsgang des zweiten Teils folgt offenbar einem analogen Syntagma bei abweichenden Besetzungen. Die Bemühungen des taxonomischen Strukturalismus, eine Gattungsstruktur Artusroman auf der Basis des Zaubermärchens zu bestimmen, haben ihre Grenzen nicht nur in zahlreichen Umdefinitionen des Proppschen Modells, sondern mehr noch in der Blindheit für die Kategorie der Krise. Weil das Zaubermärchen keine Funktionseinheit Krise kennt, wird sie im Erec zum Oberflächenphänomen erklärt. 52 Vor dem Hintergrund des heilsgeschichtlichen Narrativs besitzt sie aber geradezu konstitutive Funktion. Die Krise in Karnant hat ihren Grund nicht in einer äußeren Aggression, sondern in einem inneren sozialen Vorgang. Sichtbar wird in Umrissen das Schema von Übertretung und Strafe einerseits, von Buße und Erlösung andererseits. Während aber im ersten Teil die Schemata auf den Opponenten projiziert werden, so im zweiten auch auf die beiden Protagonisten. Wenn aber die Norm unausgesprochen bleibt und die Strafe nicht verhängt, sondern selbst auferlegt ist, wenn die Erlösung schließlich säkularisiert wird, erfahren die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs eine signifikante Umbesetzung. Sowohl auf struktureller und raumsemantischer Ebene als auch in inhaltlicher und motivischer Hinsicht finden sie Eingang in den Erec. Sie werden überdies deutlich indiziert. So bezeichnet der Mangel die Grundsituation der aventiure, prägen Mühsal und Leiden den Weg des Paares, der überdies von ihnen selbst als Leidensweg aufgefasst wird. 53 Hartmann selbst unterlegt dem Vorgang ein religiöses Muster. Als Erec die Mühen des zweiten Aventiurezyklus bewältigt hat und die Sphäre des Waldes verlässt, greift der Erzähler zu einem signifikanten Vergleich: wan im vil dicke swebete / sîn lîp in selher wâge, / als ûf des meres wâge / ein schefbrüchiger man / ûf einem brete kaeme dan / ûz an daz stat gerunnen. / ofte hete er gewunnen / ein leben zwîvellîchez / und disem wol gelîchez: / nû hete in an der genâden sant / ûz kumbers ünden gesant / got und sîn vrümekeit, / daz er nû allez sîn leit / hâte überwunden, […]. (V. 7061ff.)
Aventiure als Seefahrt und als Ziel die Befreiung von Mühsal und Leid. Die Metapher ist im Syntagma wohl platziert, sie ruft an signifikanter Stelle einen semantischen Horizont auf, vor dessen Hintergrund das Aventiuregeschehen eingeordnet werden will.
zur historischen Poetik. 1), S. 13f.; Bruno Quast: Ein saelic spil. Virtuosentum im arthurischen Roman. In: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), S. 510–521. 52 Simon (Anm. 45), S. 17. 53 Hugo Kuhn nennt dezidiert ungemach und arebeit als Hauptmerkmale des ersten Aventiureteils des Doppelweges. Kuhn (Anm. 48), S. 17–48, hier S. 31f.
Anfang und Ende Den deutlich markierten Analogien zum religiösen Syntagma stehen aber ebenso deutliche Differenzen gegenüber. Weniger inhaltlich als strukturell wird die peregrinatio zum Bezugsrahmen der aventiure. Anstatt auf die Analogie zum christlichen Lebensweg fixiert zu sein, kommt es mehr noch auf die variierende und kontrastierende Modellierung der geistlichen Metapher vom Lebensweg an. Während die peregrinatio der Legende in der Spur Christi erfolgt und einen vorgegebenen Weg nachvollzieht – „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ –, ist die aventiure syntagmatisch auf Offenheit und Selbstbehauptung angelegt. Folgt Erec im ersten Teil noch den Spuren seines Kontrahenten, verändert sich der Status der Suche im zweiten Teil. 54 Der Chronotopos des ritterlichen Aventiurewegs eröffnet zwar eine gerichtete Bewegung zwischen Anfang und Ende des Weges, ihre Motivation bleibt aber ebenso unbestimmt wie das konkrete Ziel. Aventiure realisiert sich über das Narrativ der Suche entlang eines unbestimmten Weges. Orientierung gibt zunächst nur der Weg selbst: nû wîste si der wec / in einen kreftigen walt (V. 3113f.). 55 Obwohl der Weg kein festes Ziel hat, beharrt Erec wiederholt darauf, die einmal eingeschlagene Bahn nicht zu verlassen und weiter zu verfolgen: ich enmac ze disen zîten / ûz dem wege niht gerîten. […] ir sult mich ze dirre wîle / mîne strâze lâzen varn (V. 4670ff.). Nicht Umkehr und Nachfolge, sondern bis zum Ende gehen lautet das Programm. Erecs Unterwegssein ist unbestimmt, räumlich desorientiert und allein durch die Hoffnung auf eine aventiure motiviert: nû reit der ritter Êrec, / als in bewîste der wec, / er enweste selbe war: / sîn muot stuont niuwan dar, / dâ er âventiure vunde (V. 5288ff.). Und doch irrt er nicht umher, sondern behauptet seinen Weg in doppelter Hinsicht. Zum einen folgt er dem vorgezeichneten konkreten Weg, auf den er trotz aller Störungen immer wieder zurückkehrt. Zum anderen verleiht er dem Weg über seine Taten allererst eine Bedeutung, indem er ihm Geschichten einschreibt, die erinnert und erzählt werden können. So wird der Ritter selbst zum Maßstab. Erec, so heißt es am Ende, erfülle über seine Bewegung die Welt mit seinem Namen, so dass er die Bedingungen von Raum und Zeit aufhebt: alsô was sîn diu werlt vol: / man sprach eht niemen dô sô wol (V. 10052f.). Mit aventiure formiert sich ein neues Erzählprogramm, das zwar auch dem Spannungsbogen von Suchen und Finden folgt, sich aber von antiken und christlichen Entwürfen dadurch unterscheidet, dass er das Verhältnis von Kausalität und Finalität anders entwirft, anders aufeinander bezieht. Nicht die Heimat (Odyssee), nicht die Geliebte (Äthiopica), auch nicht das Seelenheil (Legende) sind Ziel der Suche, sondern ein sozialer Wert: „Die Suche führt zum Finden, und der Fund heißt
54 Hartmann von Aue: Erec, V. 221, 4340. Vgl. Ernst Trachsler: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman. Bonn 1979 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik. 50), S. 204f. 55 Ebd., V. 3477, 4276 u. 5289. Vgl. Dennis H. Green: Der Weg zum Abenteuer im höfischen Roman des deutschen Mittelalters. Göttingen 1974; Matthias Däumer [u. a.] (Hrsg.): Irrwege. Zu Ästhetik und Hermeneutik des Fehlgehens. Heidelberg 2010.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
Ehre.“ 56 Statt eines Prozesses der Verinnerlichung der Werte wird einer der Entäußerung entworfen. Ehre, d. h. das Ansehen durch die Anderen, bildet das entscheidende Agens von Krise und Aventiurebewegung. Nicht Leben, sondern Gesellschaft, nicht Sünde und Gnade, sondern Ehrverlust und soziale Reintegration sind das Thema. Der Umstand, dass Erec sich im Vergleich zu anderen Artushelden zusammen mit Enite auf den Weg macht, impliziert bereits die Dominanz der sozialen Thematik. Indem die aventiure Kontingenz exponiert, erweist sie sich auch als das Gegenteil des Wunders. Während dieses Kontingenz durch einen metaphysischen Eingriff bewältigt, sucht der Ritter die Grenzerfahrung des Zufalls. Ein aleatorisches Moment kommt ins Spiel. Nirgends wird die Kontingenzexposition so deutlich wie in der elementaren Situation adeliger Selbstbehauptung, im Zweikampf, dem Hartmann im Erec wie im Iwein wiederholt eine Spielmetaphorik einschreibt: Bieten, Überbieten und Verausgaben im Iderskampf, Wetten und Würfeln im Kampf gegen Mabonagrin. Aventiure ist ein Risiko- und Gewinnspiel, statt Würfel Gewalt, statt Geld Ehre. 57 Gott ist zwar noch mit im Spiel, doch geht es nicht um das Seelenheil. In letzter Instanz ist aventiure ein Spiel, eine Wette um das Leben: sleht er mich, sô bin ich tôt (V. 8046). Organisiert wird das Spiel mit der christlichen Semantik und ihren Umbesetzungen über die Figur der Metapher, die mittels Analogie und Differenz Relationen stiftet und eine Ordnung eigener Art etabliert. Über die metaphorische Operation wird dem Syntagma der aventiure das Syntagma der peregrinatio unterlegt, so dass das säkulare Modell der Reise als Komplement der geistlichen Wanderung firmiert. Aufgrund ihrer Analogien und Differenzen verhalten sich beide Syntagmen analog proportional zueinander und markieren damit eine metaphorische Relation, die sie von der Allegorese unterscheiden. Basiert diese auf einer Identität von Typus und Antitypus, die immer nur eine vorgegebene Lehre (Christus) ins Bild setzt, stiftet die Metapher ein relationales Verhältnis. Es ist das Spezifikum des literarischen Modells, dass hier geistliche und feudale Räume, Handlungsschemata, Situationstypen und Figuren in eine Spannung zueinander gesetzt, aber nicht zur Identität gezwungen werden. Die peregrinatio wird zwar nicht explizit genannt, über ihre Strukturanalogie und über Motiveinspielungen aber wird sie zur Hintergrundmetapher. Der Erzähler, der seinen Protagonisten auf die Reise geschickt hat, lässt ihn an das Ziel seiner Suche gelangen. Öffnung und Schließung der narrativen Sequenzen korrespondieren der Spannung von Erwartung auf Seiten des handelnden Subjekts
56 Friedrich Ohly: Die Suche in Dichtungen des Mittelalters. In: ZfdA 94 (1965), S. 171–184, hier S. 171; Bachtin (Anm. 26), S. 81. 57 Ludgera Vogt: Ehre in traditionalen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des „Imaginären“ am Beispiel zweier literarischer Texte. In: Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Hrsg. von ders., Arnold Zingerle. Frankfurt a. M. 1994, S. 291–314.
Anfang und Ende und der Erinnerung des Erzählers. 58 Damit ist ein Modell geschaffen, das über die Aventiurekonzeption die Erzählung als sich formierenden Sinnbildungsprozess zu beschreiben erlaubt: „Und ist âventiure im erlebten Geschehen eine unbekannte Größe, ist sie in der retrospektiven Erzählung das Ende der Geschichte, von dem her sich – im Blick zurück – das Vorher ordnet. Sie ist Erzählung, die das Ende schon im ersten Wort weiß, die das Ziel in sich trägt.“ 59 Während Erec auf Suche ist, weiß der Erzähler schon um sein Ziel. Die Bewährung Erecs findet ihr großes Finale in der Joie de la curt-Episode. 60 Sie ist nicht unmittelbar in die Episodenstruktur des Doppelwegs integriert und besitzt gerade dadurch einen herausgehobenen Stellenwert am Ende der Aventiurekette. Ihre lose Position im Syntagma markiert ihren paradigmatischen Status. Sie ist entsprechend von Hugo Kuhn als Bild, als erzählte Allegorie gelesen worden, und in konzentrierter Form stellt sich hier erneut die Frage nach dem Verhältnis von Metapher und Narration. 61 Auch diese Episode besitzt offensichtliche topische Anspielungshorizonte. Auf dem Weg zum Artushof reiten Erec, Enite und Guivreiz seltsam desorientiert: sus riten si nâch wâne / und doch der gewisheit âne (V. 7808f.), bis sie gegen Mittag an eine wegscheide (V. 7813) gelangen. Es gehört zu Hartmanns Ironie, sein Spiel mit topischen Traditionen zu treiben, wenn er die klassische Semantik des Scheidewegs umkehrt: welh wec ze Britanje in daz lant / gienge, daz was in unerkant. / die rehten strâze si vermiten: / die baz gebûwen si riten (V. 7814ff.). Der geographisch falsche und bequeme Weg wird aber zum richtigen, der Erec nach Brandigan und damit in ungeahnte Herausforderungen führt. 62 Der Scheideweg ist aber kein Wendepunkt in Erecs Leben, er wird jeglicher moralischen oder heilsgeschichtlichen Semantik beraubt, eine Dramatik der Entscheidung existiert nicht. Seine Funktion ist formal und signalisiert, dass Erecs Weg noch nicht zu Ende ist, wie es der direkte Weg zum Artushof markiert hätte. Der Chronotopos des Weges impliziert ein räumliches und ein zeitliches Ziel, eine Finalität der Handlung, sie wird an der Weggabelung mit dem falschen Weg offengehalten, so dass das zeitliche Narrativ 58 Ansgar Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte. 19=253), S. 20. 59 Mireille Schnyder: Âventiure? waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Euphorion 96 (2002), S. 257–272, hier S. 259f. 60 Hartmann von Aue: Erec, V. 8521ff.; Kuhn (Anm. 48), S. 35–39; Christoph Cormeau: Joie de la curt. Bedeutungssetzung und ethische Erkenntnis. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (DVjs Sonderband 1979), S. 194–205; Walter Haug: Joie de la curt. In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Marc Chinca [u. a.] Tübingen 2000, S. 271–290. 61 Kuhn (Anm. 48), S. 35f.; vgl. ders.: Allegorie und Erzählstruktur. In: Formen und Funktionen der Allegorie (Anm. 60), S. 206–218. 62 Andrea Glaser: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2004, S. 52f.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
der Suche sich gegenüber der zielgerichteten Reise im Raum (Britannien) behauptet. Der Scheideweg wird damit auch zur Chiffre dafür, dass der Weg zum Artusritter kein realer, sondern ein metaphorischer ist. Damit verändert sich aber die Semantik des Weges, die nun nicht mehr räumliche Orientierung am vorgegebenen Weg ist, sondern Erecs eigener Weg wird, der im Narrativ der Suche auch eine zeitliche Finalität bezeichnet. Abweichung erhält hier eine spezifische Semantik. Wenn Erec auf diese Enklave trifft, findet seine Suche ihr definitives Ende: ich weste wol, der selbe wec / gienge in der werlde eteswâ, / rehte enweste ich aber wâ, / wan daz ich in suochende reit / in grôzer ungewisheit / unz daz ich in nû vunden hân. (V. 8521ff.)
Unabhängig davon, ob es sich um einen Heilsweg handelt oder eine andere Art des Weges, werden Aventiureweg und Suche auf ein ersehntes Ziel hin perspektiviert. 63 Gezeichnet wird schon bei Chrétien ein hortus conclusus, in dem, abgesondert von der Gesellschaft, ein Minnepaar lebt, ein magisch geschützter, aber auch belasteter Ort, der gegen Eindringlinge verteidigt werden muss. Es ist nun gar nicht überraschend, dass der legendenkundige Hartmann, deutlicher als Chrétien, in die Brandiganszene die Reminiszenzen an das Paradies verstärkt: magische Abgeschlossenheit, locus amoenus-Topik, mythischer Zusammenfall der Jahreszeiten, Abwesenheit von Leid, Repräsentation einer lebensechten Fauna. Am deutlichsten markiert die Selbstbeschreibung der Minnedame das Thema. Nachdem Mabonagrin besiegt ist, erzählt er seine Geschichte und legt die Gründe für die abgesonderte Lebensweise offen. Er hatte seiner Dame einen Wunsch in die Hand versprochen, und diese hatte die hermetische Zweisamkeit mit der Begründung gefordert: wir haben hie besezzen / daz ander paradîse. (V. 9541f.). 64 Die implizit und explizit markierten Paradiesanspielungen rufen nun zugleich aber die ganze Topik des heilsgeschichtlichen Narrativs auf: das Schema von Verbot, Übertretung und Vertreibung, auch das von Buße und Erlösung. Die Paradiessituation verengt sich sichtbar auf eine Minnebeziehung und damit auf den blinden Fleck des theologisch gedeuteten Paradieses. Die Legende mit ihrem monastischen Rahmen kennt die Paarbeziehung nicht, die der Paradiesmythos selbst so deutlich markiert hatte. Im Erec wird die paradigmatische Situation des Menschenpaares offenbar durch eine paradigmatische Situation der Liebenden ersetzt. Die höfischen Paradiese akzentuieren die Paarbeziehung in der Enklave und interpretieren sie
63 Zur Konjektur vgl. Manfred Günter Scholz: Der hövesche got und der Saelden wec. Zwei ‚Erec‘Konjekturen und ihre Folgen. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber [u. a.] Tübingen 2000, S. 135–151, hier S. 145–151. 64 Vgl. Mireille Schnyder: Daz ander paradîse. Künstliche Paradiese in der Literatur des Mittelalters. In: Benthien, Gerloff (Anm. 13), S. 63–75, hier S. 64–67.
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um.65 Bereits in die höfische Liebesmythologie, wie sie die Minneallegorie entwirft, wird der paradiesische Horizont eingefügt.66 An die Stelle des Mythos, der die Spaltung erklärt, tritt die Utopie der wieder gefundenen Einheit. In Brandigan aber wird die Inversion des aventiure-Gedankens und der Paradieserzählung zugleich inszeniert. Statik tritt an Stelle der dynamischen Bewegung, Einschließung statt Ausschließung wird zum Problem. Mabonagrin erzählt nach dem Zweikampf die Geschichte eines Versprechens, das aufgrund seiner Unbedingtheit eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung nach sich zieht. Nicht das gebrochene Versprechen (Tabu) führt in die Vertreibung (Krise), sondern das gehaltene Wort in eine Art Gefängnis. Die Situation des christlichen Paradieses scheint verkehrt zu sein. Die Härte des Gesetzes wird zum Problem, es handelt sich um ein gestörtes Paradies, eine Heterotopie des Privaten gegen die Ansprüche der Öffentlichkeit. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Erecs selben/saelden wec auf einen paradiesischen Raum trifft, der aufgelöst werden muss. Die Geltung des Gesetzes verhindert eine Öffnung (Kommunikation), so dass die Erlösung von außen kommen muss. Es ist Erec auf seinem selbst auferlegten Bußweg zurück in die Gesellschaft, der hier eine doppelte Erlösung stiftet. Sein innerer Bußweg findet in Brandigan sein Ziel, und als säkularisierter Heiliger erlöst er zugleich das Minnepaar. Die Erlösung kommt aber nicht nur in der Gestalt des Stärkeren, sondern auch in der der Gnade. Anders als der gesetzesfixierte Mabonagrin tötet Erec seinen Gegner nicht. Mabonagrin spricht denn auch von einer Art Befreiung: hiute ist mînes kumbers zil: / nû var ich ûz und swar ich wil. (V. 9588f.).67 Die Verschiebung der Paradiessituation auf ein weltliches Minnepaar verändert nicht nur die Relation von Gesetz und Gnade, sondern auch die von Vertreibung und Erlösung: Während die Frau aus dem Minneparadies vertrieben wird, wird der Mann, der unter dem Bann des Gesetzes stand, erlöst. Die Joie de la curt-Episode säkularisiert die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs und stellt ihre Semantik auf den Kopf. Die Vertreibung aus Karnant ist eine selbst verursachte, der Weg in die fremde Aventiurewelt einer der Bewährung, das Ziel ist die Rückkehr. Am Ende treten eine Reihe von paradigmatischen Szenen auf, die die Einheit betonen: Penefrec als Ort
|| 65 Vgl. die Minnegrotte in Gottfrieds von Straßburg Tristan, das Wunderzelt in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet (Lanzelet. Eine Erzählung. Hrsg. von Karl August Hahn. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman [Texte des Mittelalters]. Berlin 1965 [Neudruck der Ausgabe Frankfurt 1845], V. 4836) oder das magische Reich Meliurs in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur (Partonopier und Meliur. Hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1871, V. 2330). 66 Hans Robert Jauß: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik. 4), S. 187–209, hier S. 198. 67 Kuhn (Anm. 48), S. 35.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
der Versöhnung der Geschlechter und der Gesellen; Brandigan als Ort einer doppelten Erlösung, der Artushof als Ort finaler sozialer Integration, zum Schluss Karnant mit Heimkehr und Himmelfahrt. 68 Wie die Legende ist der Erec auf Heimkehr angelegt: Aufhebung der Entfremdung heißt soziale Integration, heißt Einheit von Mann und Frau, Freundschaftsbindung, Einfügung in die Gesellschaft, schließlich Fortsetzung der Genealogie. Erlösung wird als soziale Integration reformuliert und räumlich wie figurativ aufgespaltet. Das Paradies wird durch soziale Räume der Einheit ersetzt. Hartmanns Rückgriff auf Chretiens Strukturmodell beinhaltet auch die Säkularisierung der heilsgeschichtlichen Struktur. Hartmann arbeitet aber deutlicher die Relationen des geistlichen und weltlichen Narrativs heraus. Er setzt nicht nur eine bekannte Paradiestopik ein, er interpretiert sie zugleich um und projiziert sie auf ein anderes narratives Programm. Die Paradiestopik hilft, die beiden zentralen Handlungsfelder der höfischen Kultur schärfer zu profilieren: Minne und Gewalt. Dass solches Ende aber stets ein gutes Ende ist, dass Erec Iders einholt und besiegt, dass Artus den weißen Hirschen erlegt und dass Erec sich wider alle Erwartung gegen Mabonagrin durchsetzt, verdankt sich noch einer übergeordneten Instanz, die Bachtin dem Märchen zuschreibt und Müller-Funk als „mythologische Erzählkonzeption“ bezeichnet. Damit ist auf Lugowskis „mythisches Analogon“ angespielt, der Umstand, dass die Erzählung einer kulturellen Logik von Anfang, Mitte und Ende folgt und den glücklichen Ausgang, das Happy End, vorgibt. Die „Sinnerfüllung des Zufalls“ im höfischen Roman bezeichnet eine Form von Kontingenzbewältigung, in der über die Erzählform der Zufall den Ritter in seinem Streben nach Selbstbehauptung nicht beeinträchtigen kann. 69 Wie im christlichen Entwurf die Buße auf die Erlösung rechnet, so im Aventiuremodell das Risiko mit dem Gewinn. Erecs und Enites Weg ist sichtbar ein Bußweg, der eine Schuld (verligen) abträgt. Und noch der Leser wird in die doppelte Semantik der Fremde mit einbezogen, wenn es am Ende heißt, dass Enite in dem ellende (V. 10107) viel Leid erdulden musste, dafür aber letztlich mit Glück und Seelenheil belohnt wurde, ein Schicksal, das auch uns als Leser nâch disem ellende (V. 10134), d. h. in diesem Leben als Exil, hoffen lässt. Die Koinzidenz geistlicher und weltlicher Topiken bei unterschiedlichen Erzählprogrammen wird von Hartmann literarisch produktiv gemacht. Ein rhetorisches Dichtungsverständnis verfährt topisch, operiert mit Techniken der Kombination und Variation von Topoi, Räumen, Handlungsmustern und Figuren.
68 Vgl. Monika Unzeitig-Herzog: Überlegungen zum Erzählschluß im Artusroman. In: Wolfzettel (Anm. 48), S. 233–253. 69 Hans-Robert Jauß: Epos und Roman – Eine vergleichende Betrachtung an Texten des XII. Jahrhunderts. In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976. München 1977, S. 310–326, hier S. 320.
Anfang und Ende Die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs werden im Erec geöffnet, kombiniert und variiert.
Ausblick Wo endet das heilsgeschichtliche Narrativ? Bereits in Kleists Dekonstruktion des Schemas oder erst in den orientierungs- und bewegungslosen Figuren Samuel Becketts? Wie kein zweiter hat Beckett die christlichen Narrative und Metaphern ausgehöhlt und auf ihren leeren anthropologischen Grund reduziert: Warten auf Godot, Das Endspiel. Wenn Beckett in seinem Roman Der Namenlose seine alten Romanfiguren um das Erzähler-Ich sich bewegen lässt, geschieht das bereits ohne Richtung, ohne Rhythmus, ohne Anfang und Ende und ohne Kreisform: „Nirgendwohin gehend und nirgendwoher kommend zieht Malone vorbei.“ 70 Das ist das Gegenteil der christlichen Botschaft – „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ –, eher die postmoderne Steigerung des von Max Wehrli anthropologisch verankerten Programms der christlichen peregrinatio: Wir sind „immer unterwegs, auf der Suche, in Gefahr.“ Besitzt das Christentum seine Narrative und Metaphern, die ihm im geound anthropozentrischen Weltbild einen Halt geben, so gehen diese dem modernen Menschen verloren. Hans Blumenberg hat dem Phänomen eine weitreichende Reflexion gewidmet: Nicht einmal mehr die Heliozentrik helfe, weil jede Form von Zentrik obsolet geworden sei. Die Erde erscheint der modernen Wissenschaft als ein verlorener Planet in den unendlichen Tiefen des Weltalls. Für die Koppelung von Mythologie und Metaphorologie aber ist signifikant, dass das Paradiesnarrativ selbst diesen negativen Befund ausgehalten hat. Blumenberg hat darauf verwiesen, dass die einsam in der Welt schwebende Erde nun selbst den Rang eines Paradieses einnimmt. In der Leere, Kälte und Verlorenheit des Weltalls wird die Erde zum Ort des Lebens und der Fülle: zur Heimat. Der Ertrag der Mondfahrt mag auch nicht annähernd die Kosten seiner Realisierung aufwiegen, die Mondfahrt hat aber nicht unerheblich die Umkehrung der Blickrichtung mit befördert, aus der der Mensch die Erde betrachtet. 71 Nirgends wird diese Umkehr so deutlich, wie in den divergierenden Statements des ersten und des bislang letzten Menschen auf dem Mond. Während Neil Armstrongs berühmter Satz 1969 noch das technologische Fortschrittsnarrativ bemüht: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die Menschheit“, zeigt der Satz von Eugene Cernan (Apollo 17) aus dem Jahr 1972 bereits den veränderten Bewusstseinsstand, das Missverhältnis von Entdeckungspathos und Resultat an: „Wir zogen aus, den Mond zu erforschen. In Wirklichkeit aber 70 Samuel Beckett: Der Namenlose. Roman. Frankfurt a. M. 1959, S. 10. 71 Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Bd. 3: Der kopernikanische Komparativ. Die kopernikanische Optik. Frankfurt a. M. 1981 (stw. 352), S. 783–794, hier S. 787.
Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ
haben wir die Erde entdeckt.“ 72 Das Fortschrittsnarrativ, erhält sichtbar Konkurrenz durch das neue ökologische Narrativ, das nicht weniger paradiesisch fokussiert ist.
Abb. 10: Erde
Das Bild von der Erde im Weltall legt noch einmal in Bezug auf die Position des Betrachters oder Erzählers die narrativen Implikationen offen: Diegese, d. h. die Spaltung von Erzähler und Erzähltem, als Mittel der Abstandgewinnung zu therapeutischen Zwecken. 73 Vollzieht sich der mittelalterliche Blick als Nahblick auf die unüberschaubare Fülle der Welt, die ihren Sinnhorizont erst im kreisförmigen Rahmen erhält, der mit Christus gleichgesetzt wird, so kehrt sich der Befund mit der Gewinnung von Abstand um. Das Foto tritt an die Stelle der symbolischen Karte. Das Foto aus der Entfernung konfrontiert das Paradies Erde mit Lebensfeindlichkeit, die die Bedrohung in den Rahmen verlegt. Der vom Mond aus gewonnene Abstand bezeichnet aber zugleich die Diegese, den Standort des Erzählers für ein neues, ökologisches Narrativ. Beide Bilder, das mittelalterliche wie das moderne produzieren divergierende Narrative, oder alternative „narrativ formatierte Sehnsüchte“ (Müller-Funk). Die jahrhundertelange Wirkungsgeschichte des heilsgeschichtlichen Narrativs, die konstante Rezeption seines anthropologischen Gehalts, die zahlreichen Umbesetzungen, die es erfahren hat, die Destruktionsbemühungen, die es überlebt hat, all das kennzeichnet es als einen Mythos mit verblüffender „ikonischer Konstanz“. 74 Das Bild des abgeschlossenen Gartens, des Paares, der Inszenierung von Fülle, 72 Joachim Krausse: Buckminster Fullers Vorschule der Synergetik. In: Richard Buckminster Fuller: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Amsterdam [u. a.] 1998 (Fundus-Bücher. 137), S. 268–273, hier S. 270 (Die Entdeckung der Erde). 73 Vgl. Müller-Funk (Anm. 15), S. 27f. 74 Zur „ikonischen Konstanz“ des Mythos vgl. Blumenberg (Anm. 16), S. 165.
Anfang und Ende Leben und Heimat, konstituiert einen visuellen und narrativen Rahmen. Wenn aus der Sicht der Wissenschaft dem Mythos auch keine Wahrheit eignet, so bezeugt seine lange Rezeptionsgeschichte eine rhetorische Wirkungsmächtigkeit, die jenseits aller Logik liegt. Es ist dieses rhetorische Moment, das auf Wirklichkeit statt auf Wahrheit zielt, die dem Mythos und der Metapher jenseits des Begriffs ihre überzeitliche Geltung garantieren. 75
75 Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68–91, hier S. 80–83.
Held und Narrativ Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
Figur und Narrativ So universal das Vermögen des Erzählens auch sein mag, Erzählungen unterliegen stets historischen Bedingungen. Im antiken Epos, in mittelalterlicher Epik und im modernen Roman agieren jeweils eigene Protagonisten, die in Figurenentwurf, Wirklichkeitsbezug und Vergesellschaftungsform differieren. Und auch für die mittelalterliche Literatur trägt die Unterscheidung in Heldenepik und Höfischen Roman dem Umstand Rechnung, dass Heros und Ritter verschiedenen Welten angehören: Gilgamesch, Achill, Eneas, Beowulf, Sîvrît, Dietrich und Roland unterscheiden sich signifikant vom Ideal des höfischen Ritters. Die Funktion des Heros ist von ganz verschiedener Warte aus beschrieben worden: Von der Seite des Protagonisten her fungiert er als Repräsentant eines Kollektivs, aus der Perspektive des Wirklichkeitsbezugs herrscht eine Geschlossenheit von Lebenstotalität und Weltzusammenhang; 1 aus der Sicht des sozialen Rahmens vollzieht sich die Handlung innerhalb einer kriegerischen und hierarchisch geordneten politischen Sozialstruktur. Bereits die geschichtsphilosophische Ästhetik von Hegel bis Lukács hat hier zentrale Parameter definiert, die, wenn auch in modifizierter Form, noch in neueren Ansätzen aufgegriffen werden. 2 Stefan Fuchs hat die Differenz zwischen Heldenepik und höfischem Roman auf die Opposition von Repräsentation und Exorbitanz einerseits, von Exemplarität und Individualität andererseits zugespitzt, um beide Gattungen über
1 Gerd Wolfgang Weber: „Sem konungr skyldi“. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur. In: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hermann Reichert, Günter Zimmermann. Wien 1990 (Philologica Germanica. 11), S. 447–481; Klaus von See: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1–35. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik. Bd. 1. Hrsg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, S. 339–393; Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt/Neuwied 1977; Hildegard Bartel: Epos – die Gattung in der Geschichte. Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegelschen „Ästhetik“ anhand von „Nibelungenlied“ und „Chanson de Roland“. Heidelberg 1982 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 22); Peter Czerwinski: Das „Nibelungenlied“. Widersprüche höfischer Gewaltreglementierung. In: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Adel und Hof – 12./13. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Frey, Walter Raitz, Dieter Seitz. Opladen 1979, S. 49–87; Peter Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes – Kleine Psycho-Topologie des Mittelalters. In: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Hrsg. von Gerd Jüttemann. Weinheim 1986, S. 239–272. https://doi.org/10.1515/9783110772340-014
Held und Narrativ den Entwurf des Helden kategorial voneinander zu unterscheiden. 3 Heros und Ritter kennzeichnet auf unterschiedliche Art eine Spannung zum Kollektiv: inkommensurable Exorbitanz dort und überlegene moralische Identität hier. Das Mittelalter entwickelt offenbar in seinen beiden weltlichen Erzählgattungen zwei ganz unterschiedliche Heldentypen, die zwischen antikem und modernem Erzählen eine Schnittstelle zu bilden scheinen. Während der höfische Roman die Spannung des Helden zur Gemeinschaft thematisiert und in einem Märchenschema löst, erzählen Heldenepen diskontinuierliche Geschichten, die den Einbruch von Kontingenz dramatisch zuspitzen. Der Heros ist aber immer auch eine Funktion des Erzählschemas: Wenn nach Aristoteles klassischer Definition die Erzählung ein Ganzes bildet, das sich aus Anfang, Mitte und Ende zusammensetzt (Poetik 1,7), um undifferenziertes Geschehen in eine logische Zeitform zu überführen, modern gesprochen in ein Syntagma, das auf Kohärenz und Finalität ausgerichtet ist, dann dienen Erzählungen zunächst der Kontingenzreduktion und mithin der Sinnbildung. Die kontinuierliche Geschichte, die Fähigkeit, das Leben in eine kohärente Form zu bringen, bildet das Ideal einer Subjektphilosophie, nach der eine Person die Heterogenität der ihr widerfahrenden Ereignisse in der narrativen Zusammenschau synthetisiert. 4 Die moderne Psychologie und der moderne Roman haben diese „storyline einer Identitätsbildung“ längst aufgegeben, und in der Differenz von Kontinuität und Diskontinuität soll eine Grenzmarke vormodernen und modernen Erzählens liegen. 5 Die Märchenstruktur des Artusromans legt noch eindrucksvoll Zeugnis ab von der synthetisierenden Kraft eines Erzählens, in dem alle Zufälle auf ein glückliches Ende hin ausgerichtet und Subjekt und Gesellschaft am Ende versöhnt werden. 6 Sie ist nicht zufällig als historische Vorstufe des Bildungsromans gelesen worden. Vom Erzählschema her erscheint es aber paradox, dass die Heldenepik zumindest in einer Hinsicht dem modernen Erzählen näher zu stehen scheint, da sie diskontinuierliche Geschichten erzählt, vielfach Katastrophenerzählungen. Der Tod des Protagonisten, im Artusroman ausgeblendet, spielt eine zentrale Rolle. 7 Noch vor aller Subjektthematik ver 3 Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 31), S. 20–90. 4 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2008, S. 17–35. Zur grundsätzlichen Problematik der Kohärenz vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012, S. 203–286. 5 Müller-Funk (Anm. 4), S. 27. 6 Jauß spricht von der „Sinnerfüllung des Zufalls“. Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1. Hrsg. von Maurice Delbouille. Heidelberg 1972, S. 103–138, hier S. 116. 7 Walter Haug: Szenarien des heroischen Untergangs. In: 8. Pöchlarner Heldengespräch. Das „Nibelungenlied“ und die europäische Heldendichtung. Hrsg. von Alfred Ebenbauer, Johannes Keller. Wien 2006, S. 147–161.
Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
handelt die Heldenepik den Einbruch von Kontingenz und bewältigt ihn durch andere Sicherungssysteme, die den Einzelnen eng an das Kollektiv binden: durch Kulturmuster, die sich in Erzählmuster übersetzen lassen. Die Forschung hat ganz unterschiedliche Versuche unternommen, dem Heros auf die Spur zu kommen: Unterscheiden lassen sich grob archetypisch-typologische, historisch-differenzierende und narrativ-funktionale Ansätze. 8 Geradezu klassisch ist die Rede von der mythischen Bahn des Helden: Hugo Kuhn spricht so im Anschluss an den Monomythos Joseph Campbells schon in Bezug auf die Vorgeschichte des Doppelwegs, die im Heldenepos den „Weg zum Selbst, zur Bestimmung, zum Ursprung, zur Höhe, zur Dauer“ markiere und in Tod und Wiedergeburt münde: 9 Gilgameschs Weg nach Dilmun, Achills, Beowulfs und Rolands Weg in den Heldentod zielen auf ewiges Gedächtnis oder Erlösung. Der Handlungszusammenhang, in dem der Heros steht, knüpft an übergeordnete mythische Muster an, Heldenepik erinnert mithin nicht nur an ein Ereignis, sondern bettet dieses auch über narrative Muster in große Sinnhorizonte ein. Eine Typologie des Heldenlebens entwirft demgegenüber Handlungsmuster, die die Struktur des Heldenlebens prägen und die Besonderheiten des heroischen Lebens zu erfassen suchen. Die Klassifikation von Heldentypen erweitert sie um die Typologie von Handlungselementen, die sich narratologisch schon als Sequenzen beschreiben lassen: Zeugung, Geburt, Initiation, Bewährung und Tod. 10 Narratologisch gesprochen werden prototypische Sequenzen gebildet, eine biographische langue, von der immer nur Teile in der parole der Erzählung realisiert sein können. Archetypische und typologische Verfahren sind auch individual- und sozialpsychologisch fundiert worden, sie suchen hinter der Vielfalt der Erscheinungen allgemeine Strukturen und Funktionen. 11 Die strukturalistische Analyse hat viel zur Erkenntnis von Erzählmustern beigetragen. Neben ihrer Fixierung auf eine universale Grammatik des Erzählens hat sie mit den Sequenzen auch die Feinstrukturen des Erzählens in den Blick gerückt. 12 Indem die Figur des Helden als Träger einer Handlung (z. B. Betrug, Verrat, Kampf) 8 Zur Forschungsgeschichte und -kritik vgl. Katalin Horn: Held, Heldin. In: Enzyklopädie des Märchens 6 (1990), Sp. 721–725. 9 Hugo Kuhn: Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung. In: Dichtung und Welt im Mittelalter. Hrsg. von dems. Stuttgart 1969, S. 159–161 u. 171. Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Berlin 2011 [zuerst New York 1949]. 10 Jan de Vries: Der mythische Hintergrund der Heldensage. In: Ders.: Heldenlied und Heldensage. Bern/München 1961, S. 282–289. 11 Horn (Anm. 8), Sp. 722–725; Otto Rank: Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung. Nachdr. der 2. Aufl. von 1922. Wien 2000. 12 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988 (Edition Suhrkamp. 1441), S. 102–143. Zur Figur vgl. Fotis Jannidis: Figur und Person. Beiträge zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004 (Narratologia. 3).
Held und Narrativ aufgefasst wird, wird sie als Funktionselement auf der Erzählebene lokalisiert. An die Stelle der archetypischen und psychologischen Abstraktion tritt eine narratologische: Figuren werden als Aktanten gefasst, die Werte repräsentieren und in einer Konfliktstruktur austragen, sie werden nicht als „Wesen“, sondern als „Partizipation“ (Beziehung) definiert. 13 Aufgrund seiner Orientierung am Märchenschema (Propp) hat das Aktantenmodell (Greimas) seine Leistung mehr am Artusroman als an der Heldenepik demonstrieren können. 14 Für die Heldenepik wäre daher zum einen das Funktionsspektrum heroischer Handlungen noch eingehender zu beschreiben. Zum andern wäre im Anschluss an den strukturalistischen Ansatz aber auch die Frage nach der Anzahl der Helden neu zu stellen. Für die strukturalistische Erzähltheorie vervielfältigt sich bereits die Zahl der Helden, wenn jede Sequenz einen ihr korrespondierenden Helden besitzen kann. So notiert Roland Barthes: „kurz, jeder noch so nebensächliche Protagonist ist der Held seiner eigenen Sequenz“. 15 Schon wo, wie im Greimasschen Modell, zwei Widersacher um einen Einsatz ringen, ist je nach Perspektive die Subjektposition verdoppelt. 16 Ein solches Verständnis von funktional gebundenem Figurenentwurf könnte für die Analyse von Kämpfen – ein konstitutives Element der Heldendichtung – ertragreich sein. Dass aber ein rein narratologisches Funktionsmodell den Helden nicht hinreichend erfassen kann, wird daran deutlich, dass sowohl die Herkunft der Werte als auch Struktur und Funktion der Handlungsmuster (Sequenzen) von historischen und kulturellen Vorgaben abhängen. Der historisch-philologische Zugang widmet sich denn auch der Vielfalt und Variabilität der Erzählungen vom Helden und stellt die Forderung, jeden Einzelfall für sich zu untersuchen. Indem er primär auf die sozialen, kulturellen und historischen Kontexte der Heldenbilder rekurriert, differenziert sich zwar der Befund der Heldenentwürfe, doch um den Preis, dass kaum noch allgemeine Strukturen und Funktionen in den Blick geraten. Neuere Ansätze sind daher bemüht, Allgemeines und Besonderes auf einer mittleren Ebene zu verbinden, verschiedene methodische Ansätze zu kombinieren und den historischen Rahmenbedingungen deutlicher
13 Ebd., S. 121–125, hier S. 122. 14 Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von Hans Robert Jauß, Erich Köhler. Bd. VI,1: Le Roman jusqu’à la fin du Xllle siècle, direction. Hrsg. von Jean Frappier, Reinhold R. Grimm. Heidelberg 1978, S. 25–59; Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft. 66), S. 1–8 u. 14f.; Hartmut Bleumer: Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2013 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3), S. 119–141. 15 Barthes (Anm. 12), S. 122. 16 Ebd., S. 118.
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Rechnung zu tragen. Was die beschriebenen Ansätze je für sich verabsolutiert haben, bedarf der Zusammenführung. In diesem Sinn haben sich in jüngster Zeit Ansätze herausgebildet, die die Erzählungen vom Helden nicht mehr allein archetypisch-typologisch, strukturell oder historisch deuten, sondern als Ensemble von kleineren Erzähleinheiten, sogenannten Erzählkernen, die thematisch ausgerichtet sind: Historisch-spezifische Handlungs- und Erzählmuster wie etwa das Brautwerbungsschema, die Genealogie, aber auch Identitätsfindung, Liebe und dynastische Allianzen wirken gattungsübergreifend und verweisen darauf, dass die Funktionen des Helden nicht nur in Gattungsmustern, die ohnehin häufig in Mischformen auftreten, aufgehen. 17 So scheinen sich Erzählformen ganz unterschiedlicher Art und Reichweite auszubilden, aus denen die Erzählungen zusammengesetzt sind und dem Helden ein besonderes Profil verleihen. Ich möchte sie im Anschluss an Wolfgang Müller-Funk Narrative nennen. 18 Müller-Funk hat eine narratologisch fundierte Kulturtheorie entworfen, die den Spuren von Gemeinschaftserzählungen auf unterschiedlichen Ebenen nachgeht. Kulturen definieren sich nicht nur über theoretische Modelle, sondern auch über Erzählformen, über die Art und Weise, wie sie über die Modellierung von Zeit und Dauer ihre Identität konstruieren. 19 Das kann in großen Formationen, aber auch in Narrativen mittlerer und kleiner Reichweite geschehen. Es handelt sich zunächst jenseits von Gattungsmustern um narrative Formationen, die vor allem als geschichtsphilosophische Verlaufsformen, als grand récits, bekannt geworden sind: etwa die christliches Heilsgeschichte, das Fortschrittsmodell von Aufklärung und Moderne, die politische Emanzipationsgeschichte nach dem Muster der französischen Revolution, die geistesgeschichtlichen Entwürfe des deutschen Idealismus, aber auch Rousseauismus und Marxismus, selbst Feminismus und Ökologie lassen sich als identitätsstiftende narrative Programme lesen. 20 Narrative konstituieren sich über Oppositionen von Werten, die auf unterschiedlichen Ebenen verortet werden können. Auf allgemeinster Ebene werden Entwicklungsprozesse von Megasubjekten wie der Gesellschaft oder der ganzen Menschheit in den Blick genommen. Auch solche Narrative setzen sich aus jenen Grundkoordinaten zusammen, die die Narratologie für die Erzählung entwickelt hat: Sie entwerfen Geschichte als einen Handlungszusammenhang, sie implizieren mehr oder minder große Subjekte der Handlung, die als Aktanten fungieren, sie zeichnen sich durch eine entschiedene Axiologie von Werten aus und sie sind final ausgerichtet. Wie Erzählschemata hierarchisieren Narrative Wertrelationen, bringen
17 Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007. 18 Müller-Funk (Anm. 4), S. 3–167; Koschorke (Anm. 4), S. 203–286. 19 Müller-Funk (Anm. 4), S. 108–114. 20 Vgl. Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1986 [zuerst Paris 1979]; Müller-Funk (Anm. 4), S. 43–62.
Held und Narrativ sie in eine Handlungsstruktur und finalisieren sie, gegenüber Gattungsmustern besitzen sie aber eine flexiblere Form. Erzählungen realisieren nicht nur eine narrative Basisstruktur, sondern setzen sich aus einem ‚Ensemble geschichteter Strukturen‘ zusammen, die in vielfältigen Relationen zueinander stehen. 21 „Erzählungen lassen sich deshalb als Medien begreifen, die Handlungsketten nach ganz bestimmten Prämissen ordnen, nach ästhetischen (Dramatik), aber auch nach existentiellen (Intensität, Schmerz, Wunde) und nach ethischen (Sieg des Guten, happy end).“ 22 Bereits Clemens Lugowskis Interpretation des frühneuzeitlichen Prosaromans vor dem Hintergrund des „mythischem Analogons“ basierte auf einer Homologie von Erzählform und narrativem Kulturmuster. 23 Der geschichtsphilosophische und damit narrative Horizont des Mittelalters wird immer wieder auf die Heilsgeschichte bezogen, kaum aber wird gefragt, welche übergeordneten narrativen Sinnbildungsmuster der Feudaladel besitzt. Dabei existieren komplexe Wirkungsweisen von Metanarrativen jenseits von Gattungsmustern wie auch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Narrative innerhalb eines Textes. Es handelt sich um Schemata ganz unterschiedlicher Art und Lage, die den Erzählungen auf je eigene Art zeitlich strukturierte Sinnbildungsmuster einschreiben: gewiss Gattungsmuster und Erzählschemata, aber auch mythische Konfigurationen, Allianz- und Konfliktnarrative bis hin zum Zweikampf. Ihre narrative Struktur und Funktion gilt es näher in den Blick zu nehmen.
Geschichte und Konstruktion Heldensage gründet in Geschichte: Gilgamesch, Achill, Beowulf, Dietrich, Gunther, Gernot und Giselher besitzen einen historischen Hintergrund. Dem Heldenlied liegt offenbar ein historisches Substrat zugrunde, das durch ein Erzählschema überformt wird. 24 So wird aus einer militärischen Niederlage im Jahre 778 bei Ronceval das Martyrium eines christlichen Heros, aus der Niederlage der Burgunder in der Schlacht gegen Römer und Hunnen um das Jahr 436 ein selbst verantworteter heroischer Untergang, aus der Eroberung Ravennas und der Ermordung Odoakers im Jahr 493 eine Vertreibungs- und Rückkehrgeschichte Dietrichs nach dem Exile &
21 David E. Wellbery: Semiotische Anmerkungen zu Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. Hrsg. von dems. München 1987, S. 69–87, hier S. 70. 22 Müller-Funk (Anm. 4), S. 91. 23 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a. M. 1976 [zuerst 1932]. 24 Walter Haug: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 376–397.
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Return-Schema. 25 Was die Mündlichkeitsforschung als „strukturelle Amnesie“ beschrieben hat, dient nicht nur der Selektion von Überlieferungswürdigem aus dem Reservoir unendlicher Ereignisse, sondern organisiert Erinnern und Vergessen auch über seine narrative Formatierung: 26 Heldensage ist Verdrängung und Stilisierung von Erinnerung, die Transformation von unmittelbar subjektiver und kollektiver Erinnerung in ein institutionalisiertes Gedächtnis, das sozialen Sinn organisiert. 27 Indem Verlierer in Sieger oder Täter in Opfer verwandelt werden, werden über die Erzählform Heldenbilder konstruiert. Das wohl deutlichste Beispiel für ein solches Verfahren bildet bekanntlich die Legende, die nicht nur eine Unzahl von Lebensläufen auf einen Prototyp – imitatio Christi – reduziert, sondern auch ganze legendarische Biographien aus Elementen des Leben Jesu zusammensetzt und entfaltet. 28 Die Muster, in die Rolandslied, Nibelungenlied und Dietrichsage den historischen Stoff pressen, sind Ausdruck spezifisch kultureller Wertsetzungen: Martyrium, Heldentod und Erbanspruch. Während das Martyrium Rolands den Heldentod aber in ein übergeordnetes christliches Metanarrativ transformiert, entbehren Heldentod und Erbkonflikt einer geschichtsphilosophischen Dimension. Die Finalisierung der Handlung geht nicht in einen neuen Anfang über, d. h. ihr narrativer Fokus ist anders ausgerichtet. Sie rekurrieren eher auf andere (mythische) Modelle der Partizipation, von Teil und Ganzem, die im Sozialen und Geschichtlichen gründen. 29 In ihnen steht das Schicksal von Kollektiven und ihrer herausragenden Repräsentanten im Vordergrund, ihre Narrative mittlerer Reichweite beziehen sich auf Stammes- und Sippengeschichten, auf Genealogien, Allianzen und Konflikte, die das Einzelsubjekt noch übergreifen und in den Bann politischer Wertordnungen ziehen. Während Allianzpraktiken wie etwa Initiation, Filiation, Vasallität und Bündnisse Formen der Vergesellschaftung darstellen und auf Stabilität zielen, markieren Konfliktpraktiken eine Störung der sozialen Ordnung. Die narrative Formatierung sozialer Praktiken baut sich entsprechend über andere Axiologien und Verlaufsformen auf. Das historische Aktionsfeld feudaler Politik wird auf Handlungsmuster reduziert, welchen klare Wertrelationen unterlegt
25 Ebd. 26 Joachim Heinzle hat das treffend in die Formeln von ‚Reduktion‘ und ‚Assimilation‘ gefasst. Joachim Heinzle: Was ist Heldensage? In: Jahrbuch der Wolfram-Gesellschaft 14 (2003/2004), S. 1–23. 27 Müller-Funk (Anm. 4), S. 93–100. 28 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1999 [zuerst Halle 1930], S. 23–61; Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter. 20); Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘. Berlin/Boston 2015 (Literatur – Theorie – Geschichte. 10). 29 Zur mythischen Partizipation vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 1923/1958.
Held und Narrativ werden, deren Status ihrerseits in der narrativen Umsetzung aber auf komplexe Weise verhandelt werden kann: Herrschaftsbegründung wird entweder als natürliche Nachfolge, als Genealogie oder im unmittelbaren Verständnis des Wortes als Gründung aufgefasst und durch Ursprungsmythen legitimiert; Allianzen werden in einem ganzen Spektrum von Erzählsequenzen modelliert, die von der Initiation der Jugend in die Normen der Gesellschaft (Schwertleite) über die Ansippung durch Filiation (Brautwerbung) und Bindung durch Vasallität (Homagium) bis hin zu politischen Bündnissen (Verträge, Eid) reichen. Konflikte werden schließlich als innere und äußere Rivalitäten entworfen, die einer Logik der Unterwerfung folgen. Wie die Genealogie so steht die politische Kommunikation in ständiger Spannung von friedlichen und gewaltsamen, inkludierenden und exkludierenden Aktionen. Aus dieser doppelten Perspektive realisiert ein Erzähltext nicht ein homogenes Gattungsmuster, sondern vereint ein ganzes Ensemble von thematisch gebundenen Erzählsequenzen, die soziale Spannungen ausbalancieren. 30 Auf der Handlungsebene konkretisieren sich die Erzählsequenzen zu Geschichten von Vererbung und Enterbung, von Herrschaftskonflikten und Eroberungen, von Vertreibung, Flucht und Heimkehr, von Initiationen, Filiationen und Koalitionen. Ihre axiologischen (moralischen) Koordinaten beziehen sie aus den spezifisch historischen Werten einer Feudalkultur, die auf der Verlässlichkeit von Personenbeziehungen beruht: aus einer Logik der triuwe und der Ehre, die den Mechanismen der Gabe und des Raubes folgt, die ihrerseits in ständiger Spannung zueinander stehen und die narrative Dynamik allererst in Gang setzen. Da Erzählen, auch heldenepisches, immer eine Störung der Normalität impliziert, um das einbrechende Ereignis in einen Sinnhorizont zu integrieren, bilden Dissens und Konsens seine zentralen Bezugsgrößen: In der Heldenepik nehmen sie die Form von Verrat und Rache einerseits, Treue und Opfer andererseits an, die als Erzählprogramme den Allianz- und Konfliktnarrativen eine Struktur zugrunde legen und die zwei Seiten einer Opferlogik entwerfen: Opfer eines Rechtsbruches, der sanktioniert werden muss, und Opfer für die Gemeinschaft, deren Stabilität Priorität genießt. 31
Heldenepik und mythisches Narrativ Für die Frage nach dem Verhältnis von Held und Narrativ ist vor allem die mythische Dimension des Erzählens relevant. Müller-Funk definiert den Mythos nicht wie die Philosophie als historische Ausprägung einer rationalen, sogenannten symbolischen Form, sondern als kulturelles Narrativ: Er führt drei wesentliche Merkmale
30 Wellbery (Anm. 21), S. 70. 31 Zum Terminus Konfliktnarrativ vgl. Koschorke (Anm. 4), S. 236–247.
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an: die Setzung eines unhinterfragbaren Ursprungs, wie es schon André Jolles getan hatte; das genealogische Band und schließlich die Partizipation an einem Heiligen. 32 Im narratologisch gefassten Mythosbegriff steht einerseits die Identität der Gesellschaft und andererseits eine organisch, „körperlich bestimmte Befindlichkeit in dieser Welt“ zur Diskussion. 33 Fasst man den Mythos im Wortsinn als Erzählung, im Sinne Müller-Funks als eine Gemeinschaftserzählung, auf, die soziale Ordnung und Sinnstruktur auf besondere Weise stabilisiert, dann sind Heldengeschichten mythosaffin. Ein solches heroisches Narrativ ist nicht nur eine Erscheinungsform der Vormoderne, es kann offenbar jederzeit zur kollektiven Abgrenzung wieder aktiviert werden. Gegenüber dem Monomythos Campbells, der auf einen Archetyp zielt, zielt der Mythos als kulturelles Narrativ auf historische Differenzierung. Das genealogische Band bildet wohl die zentrale mythische Kategorie, die zahlreiche Erzählungen des mittelalterlichen Adels prägt. Genealogie gilt als genuin vormoderne Denkform, vor allem aber bildet sie ein elementares mythisches Narrativ mit einer ganz eigenen Konfiguration von Zeit, d. h. mit einer eigenen Relationierung von Anfang, Mitte und Ende. 34 Nicht nur die Setzung eines unhintergehbaren Anfangs, der allererst einen Ort in der Indifferenz der Zeit fixierbar macht, zeichnet den Mythos aus, sondern narratologisch vor allem sein Zeitmodell: Genealogisches Erzählen zieht eine rückwärts gewandte Perspektive aus, es fixiert in der Vergangenheit einen absoluten Anfang, der den Grund für kollektive Geltungsansprüche liefert und dessen Qualität durch zyklische Wiederholung auf Dauer gestellt wird: durch Fortpflanzung. Genealogie ist ursprungs- und nicht zielfixiert, mit MüllerFunk gesprochen ist sie strukturkonservativ. 35 Bekannt sind die Gründungsgeschichten von Völkern, die sich auf die Leistung eines außerordentlichen Helden berufen: z. B. die Aeneis, die die Trojasage transportiert und die in die früh- und hochmittelalterlichen Völkergenealogien eingegangen ist. Die Erzählungen um Eneas, Brito, Franco u. a. berufen sich auf einen heroisch fundierten Gründungsakt, den sie im doppelten Sinn ‚wiederholen‘. 36 Immer vergewissert sich eine Gegenwart einer Vergangenheit, deren ursprüngliche Wertsetzung es zu bewahren gilt, da der Einzelne Element einer Kette ist, die nicht abreißen darf. Narratologisch gespro-
32 Müller-Funk (Anm. 4), S. 84–143; Jolles (Anm. 28). 33 Müller-Funk (Anm. 4), S. 115. 34 Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004. 35 Müller-Funk (Anm. 4), S. 113. 36 Jörn Garber: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. „Nationale“ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 108–163; vgl. Gert Melville, Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität. Köln/Weimar/Wien 2004.
Held und Narrativ chen, ist die Genealogie eine Erzählung ohne Ende, eine Erzählung, die das Ende durch permanente, zyklische Wiederholung des Anfangs aufschiebt. Auch der Entwurf übermächtiger, exorbitanter Helden kann als Mythologem gelesen werden, das, seien es nun Götter, Titanen oder Heroen, Gemeinschaft über Identifizierung stiftet, über den Entwurf von imaginären Leitbildern, die jenem Mangel nicht unterworfen sind, unter dem Normalsterbliche leiden. 37 Deswegen ist der Heros auch exorbitant, weil er in seiner fundierenden Leistung nicht einholbar ist. Wie der Gott ist er ein unerreichbares Double, ein imaginärer Doppelgänger des Menschen. 38 Es liegt nach Müller-Funk nahe, „die übermächtigen Gestalten als konstitutiv für mythologische Erzählungen anzusehen“. 39 Diese unerreichbare Exorbitanz ist aber eng mit einem weiteren Merkmal des heroischen Narrativs verbunden. Drittens nämlich zeichnet sich der außergewöhnliche Heros über seinen Ursprung durch einen besonderen Kontakt zum Heiligen einer Gemeinschaft aus. Die Spaltung von Heiligem und Profanem gilt nicht nur nach Ernst Cassirer als zentrales Kennzeichen des Mythos. 40 Dieser systematische Befund der Trennung beider Sphären und ihrer Vermittlung zugleich wird aber nicht nur im Ritus immer wieder performativ inszeniert und bewusst gehalten, sondern auch über Erzählungen gesichert. Das Heilige kann religiös determiniert sein, wie im Gottmenschen Gilgamesch oder in den antiken Titanen und Heroen, auch in christlichen Heroen wie Roland: Sie bilden Grenz- und Übergangsfiguren zwischen dem Heiligen und Profanen. Das Numinose besitzt aber für den Adel in der Natur noch ein elementareres Wirkungsfeld, das sich gegenüber den religiösen Heiligen abgrenzt: Sîvrîts Bad im Drachenblut, Hagens Einverleibung des Monstrums in der Kudrun, Achills Artentfaltung durch die Schule des Kentauren Chiron, und selbst noch Dietrichs Physis und Zornpotential situieren den Heros auf der Grenze von Natur und Kultur. 41 Wenn im mythischen Denken die Partizipation am Heiligen, und d. h. hier an den Kräften der Natur die besondere Signatur des Heros auszeichnet, dann ist diese Auszeichnung im mittelalterlichen Standesdenken, das sozial differenzierend wirkt und Geltungsunterschiede in der sozialen Hierarchie markiert, in die Geblütsmentalität transformiert worden: Geburt und Blut markieren hier das Numinose, das die sozialen Klassen voneinander trennt, sie bilden eine Reduktionsform jener besonderen Naturnähe, die zahlreiche Heldenepen auf ihre Art feiern. Die Naturalisierung der adeligen Ständequalitäten, von Aussehen, Kraft, Tugend, Entschlossenheit, selbst Glück und Erfolg, markiert die heilige Grenze zu den niederen Ständen. 37 Müller-Funk (Anm. 4), S. 117–122. 38 Ebd., S. 119. 39 Ebd., S. 117. 40 Cassirer (Anm. 29), S. 123f. 41 Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5), S. 249–269.
Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
Genealogie erweist sich als eine spezifische narrative Formation: Sie stiftet ein Zeitschema mit besonderem Richtungssinn, einem besonderen Figurenentwurf und besonderen Werten, so dass sich eine besondere Erzählung ergibt, die nicht auf Wandel oder Entwicklung, sondern auf Ursprung und Kontinuität ausgerichtet ist. Dass Texte in die Spannung konkurrierender genealogischer Narrative geraten können, lässt sich bereits am Alexanderroman demonstrieren: Für die mittelalterlichen Kleriker steht Alexander im heilsgeschichtlichen Narrativ, er ist Repräsentant des dritten Weltreichs, und die lateinischen Fassungen haben mit seiner illegitimen Herkunft keine Probleme. Selbst Lamprechts volkssprachliche Version ist in der Straßburger Handschrift noch in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet, Prolog und die abschließende Paradiesepisode richten die Vita selbst tropologisch aus: Alexander wird zum Exempel für Weisheit und Hybris zugleich. Für die Adelskultur indes steht Alexander in der Spannung von legitimer und heroischer Genealogie: So steht er zum einen in der Kontinuität seines Geschlechts, doch ist es nicht die patrilineare Linie des schwachen Philipp, auf die Lamprecht ihn zurückführt, sondern der heroische Mutterbruder gleichen Namens, der sich schon keiner Herrschaft unterwerfen wollte. 42 Je nach Erwartungshorizont lässt sich Alexander offenbar problemlos in verschiedene Genealogien einfügen. Darüber hinaus wird ein Gründungsmythos vorgeführt, der seine eigentliche Ursache in der Partizipation am Heiligen, hier aber dem Heiligen der Natur besitzt: Geburtsumstände, physische Erscheinung und seine Macht über das wilde Pferd Bucephalus markieren jene besondere mythische Kraft, die zur Voraussetzung für Alexanders Weltreichsgründung wird. Stellt der Kleriker Alexander in die Teleologie der Heilsgeschichte, so der Adel in eine mythische Genealogie des Ursprungs, die auf Familie und Natur rekurriert. Im Aushandeln sozialer Geltungsansprüche konkurrieren Narrative unterschiedlicher Art um sinnhafte Verortung des außerordentlichen Heros. Zugleich zeigt aber auch das Beispiel Alexanders, dass Gründungsmythen zum einen nicht nur in einem Heroic Age spielen, sondern auch Bestandteil der Geschichte sind, zum andern, dass der mythische Akt keine Zukunft haben muss, im Gegenteil elementar bedroht ist.
42 Udo Friedrich: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Strassburger Alexander. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms und C. Stephen Jaeger in Verbindung mit Alexandra Stein. Stuttgart 1997 (Deutsche Sprachund Literaturwissenschaft. 53), S. 120–136 (in diesem Band S. 21–40).
Held und Narrativ
Allianz- und Konfliktnarrative Nicht nur mittelalterliche Chroniken, sondern auch Heldenepen erzählen immer wieder von dem eindringlichen Bemühen des Adels um Allianzbildung. Erzählungen von Initiationen und Filiationen, von Vasallität und Bündnissen sind konstitutiver Bestandteil der Texte, über die Probleme der Vergesellschaftung verhandelt werden. 43 Sie speisen die sozialen und politischen Normen der Zeit in die Handlung ein und besitzen insofern einen historischen Index. Sie lassen sich aber auch als Narrative mittlerer und kleinerer Dimension auffassen, da sie in sich geschlossene Erzählsequenzen mit je eigenen Axiologien und Finalitäten darstellen, aus denen sich das Erzählprogramm des Textes zusammensetzt: Die Initiation des Heros nimmt dann die Gestalt einer Jugendgeschichte, Filiationen die der Brautwerbung, Vasallität die von Herrschaftsstabilisierung an: Sie alle sind auf die Stabilisierung der sozialen Ordnung ausgerichtet. Sie können mehr oder minder narrativ entfaltet sein und axiologisch mit unterschiedlichen Werten besetzt sein, sie können vervielfältigt, miteinander kombiniert und gegeneinander geführt werden, so dass sich die Konfliktpotentiale der Handlung steigern. Das Nibelungenlied etwa stellt Sîvrît und die Burgunden in legitime Genealogien, Sîvrîts höfische Initiation (Schwertleite) gerät aber bereits in Spannung zu seiner heroischen (Horterwerb/Drachenkampf). Die komplexen feudalen Strategien um Filiation werden gleich an drei Brautwerbungsgeschichten verhandelt, die gleichfalls durch die Spannung von Kommunikation und Gewalt gekennzeichnet sind. Die Probleme der Vasallität, d. h. die Frage nach sozialem Status sowie nach Rechten und Pflichten von Herr und Mann, durchziehen gleich mehrere Episoden. Und politische Bündnisse zwischen Kollektiven werden durch Versprechen, Gaben und Filiationen abgesichert. Die gesamte Matrix politischer Interaktionsformen wird im literarischen Modell verhandelt und auf die Axiologien von Verrat und Rache einerseits, Treue und Opfer andererseits fokussiert. Indem die verschiedenen Narrative jeweils einzelne Protagonisten profilieren, vervielfacht sich auch die Zahl der Helden, die in jeweils eigenen Erzählsequenzen zu ihrem Recht kommen. Indem die verschiedenen Allianzen und Konflikte als Narrative gefasst, historisch-kulturell situiert und differenziert werden, lassen sich die gesicherten Befunde der Forschung noch einmal anders beleuchten. Eneas- und Alexanderroman bieten Gründungsmythen und rekurrieren auf eine ferne Vergangenheit, sie stellen gewissermaßen große Erzählungen von Reichsgründungen dar. Sie liefern dem mittelalterlichen Adel die Matrix für Narrative mittlerer Reichweite aus der eigenen Zeit, z. B. für Eroberung. Die Adelskultur des Mittelalters ist eine agonale, in der Gewalt nicht nur die ultima ratio der Selbstbehauptung,
43 Müller (Anm. 17), S. 362–417.
Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
sondern auch das Medium von Ehrakkumulation darstellt. 44 Noch in dem so zivilisierten Artusroman ist der Zweikampf das zentrale Instrument der Konfliktlösung. Die mittelalterlichen Chroniken und Urkunden legen Zeugnis ab von einer Fülle von Auseinandersetzungen, die als zeitgenössischer Hintergrund für die Rezeption der Heldenepik herangezogen werden sollten. Fehde, Eroberung, Kolonisierung und Kreuzzug stellen Konfliktformen mit jeweils eigener narrativer Ausrichtung dar. Eroberung und Unterwerfung aber sind im Gegensatz zur Genealogie teleologisch ausgerichtete Prozesse, gewissermaßen das Komplement zum genealogischen Narrativ, aus dem sie ihre Geltung beziehen. Robert Bartlett hat in seinem Buch The Conquest of Europe die „kollektive Eroberungsmentalität“ nicht nur der normannischen Expansion im 11. und 12. Jahrhundert beschrieben, sondern anhand von Urkunden und Chroniken auch die „Terminologie und Rhetorik einer expansionistischen Gewalt“ herausgearbeitet, die das Selbstbild der zeitgenössischen Kriegerkaste prägt. 45 Das teleologische Moment der Eroberung wird u. a. darin sichtbar, dass die Urkunden einen regen Handel mit zukünftigen Eroberungen und ihren Nutzungsrechten dokumentieren. Nach Bartlett nimmt in den Quellen auch die „Eroberung als Gründungsmoment und historische Zäsur mythische Dimension an“. 46 Nicht personelle oder technische Überlegenheit sicherten demnach den Erfolg, sondern die von den Vorfahren ererbten Qualitäten wie Entschlossenheit, Mut und Tapferkeit, die sich nach eigener Aussage bis heute erhalten hätten. Dass die zeitgenössischen Eroberungen den mythischen Gründungsakten nahekommen, wird u. a. darin sichtbar, dass aus der Teilnahme der Vorfahren an einer Eroberung sich noch in späterer Zeit Rechtsansprüche ableiten ließen. 47 Während die Kleriker historisch argumentierend auf älteren Rechtsansprüchen vor der Zeit der Eroberung beharren, scheint für den Adel der Gründungsakt eine nicht mehr hinterfragbare Autorität anzunehmen: ein Restbestand des mythischen Schemas, das mit dem geschichtlichen in Konkurrenz gerät. Die gewaltsamen Reichsgründungen im Norden, Süden und Osten Europas schaffen neue Gründungsmythen mit ihnen korrespondierenden Erzählungen und bestätigen das alte heroische Narrativ: Setzung eines neuen Anfangs, überlebensgroße Krieger, Partizipation an der heiligen Kraft der Vorfahren, die eine Grenze zu allen anderen errichtet und das Kollektiv stabilisiert: Die zeitgenössischen Quellen nennen es „angeborene kriegerische Grausamkeit“ oder den „angestammten Wunsch, Herr zu sein“. 48 44 Ludgera Vogt: Ehre. Archaische Momente in der Vormoderne. Frankfurt a. M. 1994. 45 Robert Bartlett: The Making of Europe. Conquest, Colonisation and Cultural Change 950–1350. London 1993, S. 85–105; dt. Ausgabe: Robert Bartlett: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350. München 1996, S. 109–132, hier S. 109. 46 Ebd., S. 118. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 112.
Held und Narrativ Fehde, Eroberung, Kolonisierung, Kreuzzug und selbst Zweikampf bilden mithin nicht einfach verbreitete Praktiken in einer Adelskultur, erst durch ihre narrative Formatierung in Historiographie und Heldenepik werden zeitgenössische Gewalt und Kontingenzerfahrung strukturiert und in einen Sinnhorizont gestellt, erst die narrative Form etabliert im Sinne von Reinhart Kosellecks „asymmetrischen Gegenbegriffen“ eine Hierarchie der Werte, die eine Voraussetzung für jedwede Erzählung bildet: Freund–Feind, Eigen–Fremd, Zivilisierter und Wilder, Christ und Heide. 49 Die Oppositionen werden verzeitlicht, d. h. über Aktanten in Handlung und eine Prozessform übersetzt, schließlich finalisiert, d. h. sie nehmen den Status einer Erzählung an. Wie alle Erzählsequenzen, die binär strukturiert sind, sind die Werte aber nicht per se eindeutig verteilt, sie sind je nach Standpunkt reversibel, so dass die Deutung der Ereignisse von der gewählten Perspektive abhängt. Ein Beispiel: Während für die kultivierten Byzantiner im 12./13. Jahrhundert die Normannen den Einbruch der Wilden in die Zivilisation darstellen, rekurrieren die normannischen Chroniken explizit auf die Tugend der Wildheit und bringen sie gegen die verweichlichte Kultur der Byzantiner ins Spiel. 50 Die gegenläufige Bewertung der Opposition Zivilisiert–Wild ist mehr als ein Topos, sie speist sich aus alternativen Konzepten von Überlegenheit. Es handelt sich mit Kulturapologie und Kulturkritik um narrative Topoi, die das Selbstbild einer Gemeinschaft stabilisieren und je nach Situation flexibel eingesetzt werden können: Gegenüber den Walisern spielen denn auch zur gleichen Zeit, etwa bei Gerald von Wales, die kultivierten Normannen die Rolle des Kulturbringers.
Der Zweikampf als Narrativ – Alpharts Tod Welche anderen Narrative lassen sich ausmachen? Der Heros konstituiert seine Handlungsmächtigkeit zuallererst im Kampf: Schlachten und Zweikämpfe prägen seine Geschichte. Insofern ist zu fragen, ob nicht der Zweikampf selbst eine eigene Form von Narrativ bildet: Bereits der Agon setzt eine Prozessform von Anfang und Ende voraus, zwei Aktanten und eine Axiologie von Werten, schließlich besitzt er eine finale Struktur. Im Sinn Barthes’ bildet er eine Sequenz, in der die Subjektpositionen doppelt besetzt sind. Erzähltheoretisch eröffnet der Zweikampf eine Alternative, die im Verlauf der Handlung geschlossen wird. Spannung entsteht aus der Dehnung der Handlung und dem Hinauszögern des Endes. Der Held kann symmetrisch gegen einen Gleichrangigen, aber auch asymmetrisch gegen mehrere Gegner antreten. Wie die Großen Erzählungen enthält der Zweikampf alle Strukturmerkma 49 Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 211–259. 50 Bartlett: Die Geburt Europas (Anm. 45), S. 109–115.
Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
le einer Erzählung, er bildet gewissermaßen die Minimalform des Greimasschen Aktantenmodells. 51 Indem die Aktanten für unterschiedliche Werte einstehen können, bildet der Zweikampf trotz seiner einfachen Struktur ein komplexes Modell, eine Vielzahl kultureller Wertrelationen narrativ zu verhandeln: Gut–Böse, Eigen– Fremd, Christ–Heide, Zivilisierter–Wilder, Mensch–Tier usw. 52 Diese Option zu vielfältigen Substitutionen macht den Zweikampf zu einem privilegierten narrativen Konfliktlösungsmodell, das sowohl Affirmation als auch Kritik, selbst Paradoxien von Wertrelationen zu gestalten erlaubt. Je größer das axiologische Gefälle, desto klarer die Entscheidung, je geringer aber, desto unsicherer ist es, wer eigentlich der Held ist. Der Zweikampf kann eine einzelne Sequenz des Textes wie etwa den Entscheidungskampf im Eckenlied, oder er kann seriell organisiert sein wie die endlose Zweikampfreihe im Rolandslied, er kann aber auch die gesamte Struktur des Textes prägen wie im Hildebrandslied. Die Zweikampfsequenz steht hier aber nicht allein, sondern wird mit weiteren Narrativen verbunden, so dass die Erzählung, mit einem Wort David Wellberys, zu einem geschichteten Gefüge von Erzählstrukturen, von Narrativen wird. 53 Als elementare Form würde der Kampf fungieren, zwei Krieger zwischen zwei Heeren kurz vor Beginn der Schlacht; reine Agonalität, man erfährt zunächst nichts über den Grund. Über den Redeagon der beiden Kämpfer wird das Exile & Return-Schema der Dietrichsage eingespielt, wird das Narrativ des Zweikampfs durch eine Heldengeschichte gerahmt und axiologisch besetzt: Hugo Kuhn hat es als invertiertes mythisches Schema interpretiert: statt Vatersuche und Heimkehr, nun Heimkehr des Vaters und Begegnung mit dem Sohn. 54 Über die Besetzung der Aktanten aber wird auch das genealogische Narrativ in die Geschichte eingespielt, das nun aber nicht auf den klassischen Anfang hin ausgerichtet ist, sondern auf das tragische Ende, auf jenen finalen Punkt, den Abschluss der genealogischen Linie, den das Schema gerade zu vermeiden sucht: nicht Vergewisserung von Kontinuität durch Berufung auf einen Ursprung, sondern finale Kontingenzexposition, die Katastrophe, die ein Ende setzt. Nicht nur das Exile & Return-Schema wäre invertiert, sondern auch das genealogische Narrativ, das statt auf den Anfang auf das Ende hin perspektiviert ist. Das Hildebrandslied erweist sich als äußert ökonomische Schichtung von Narrativen, deren Inversion die Pointe des Textes ausmachen. Dass es keine eindeutige Axiologie gibt, ist seine eigentliche Pointe, ihr Ausfall lässt die Frage aufkommen, wer hier überhaupt der Held ist? 51 Warning (Anm. 14), S. 25–59. 52 Udo Friedrich: Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 123–158 [im diesem Band S. 91–128]. 53 Wellbery (Anm. 21), S. 70. 54 Hugo Kuhn: Stoffgeschichte, Tragik und formaler Aufbau im „Hildebrandslied“. In: Ders.: Text und Theorie. Stuttgart 1969 (Kleine Schriften. 2), S. 113–140.
Held und Narrativ Zu den Kennzeichen der Heldenepik gehört, dass ein nicht geringer Teil Rachefabeln vorführt. 55 Die Relation von Verrat und Rache bildet ein eigenes Narrativ aus, das elementare Grenzerfahrungen einer Adelsgesellschaft artikuliert, deren Stabilität auf verlässlichen Personenbeziehungen beruht. Treuebrüche und deren Folgen umfassen nicht nur ganze Erzählprogramme, wie etwa im Nibelungenlied oder in der Dietrichepik, sondern können auch in der Figur des Verräters exemplarische Gestalt annehmen: Sibiche, Genelun. Während Rachefabeln Spaltungsphantasmen einer Stammeskultur entwerfen, modellieren Opfererzählungen komplementär dazu Einheitsphantasmen. Dem negativen Narrativ von Verrat und Rache steht das positive von Treue und Opfer gegenüber. Von Gilgamesch und Enkidu über Achill und Patroklus bis hin zu Roland und Olivier, Hagen und Volker hat es seinen konstitutiven Ort in der Heldenepik. Im Kampf mit einem übermächtigen Gegner, sei es ein Monstrum oder ein Heer, versichert sich die Adelskultur in der Waffenbrüderschaft einer unveräußerlichen Solidarität und entfaltet sie narrativ in immer neuer Variation. Die höchste Form der Freundschaft ist diejenige, die von der Verwandtschaftsbindung nicht mehr zu unterscheiden ist. Die enge Bindung wird auch organisch imaginiert: auch hier ein mythisches Fundament. Im Eneasroman versichern sich die Waffenbrüder Euryalus und Nisus wiederholt, dass sie ein Leib und ein Herz seien. 56 Der Tod des Freundes zieht entsprechend das heroische Opfer des Gefährten nach sich. Die Relation der Freunde kann variabel modelliert und mit unterschiedlichen Werten besetzt sein: wechselseitige Solidarität, gesteigerte organische Einheit, aber auch komplementäre Relationen sind möglich wie heroische Tapferkeit und politische Klugheit im Falle von Roland und Olivier. Gegenüber der Genealogie und Eroberung handelt es sich um ein Narrativ von kürzerer Reichweite. Das Narrativ von unverbrüchlicher Treue und Opferbereitschaft durchzieht als vereinzelte Episode die Heldenepik, das Schema kann aber auch zum Kulminationspunkt einer einzelnen Geschichte werden. Die Erzählung von Alpharts Tod kombiniert mehrere Narrative: Sie beginnt mit dem Schema Verrat–Rache, wenn Heime in die Spannung zweier Vasallitätsbindungen gerät und den Eid an Dietrich bricht. Im Botengespräch und in Erzählerkommentaren wird der Wertekonflikt ausführlich diskursiv verhandelt. 57 Das Narrativ ist aber bereits gerahmt durch den Konflikt
55 Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachlicher Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/1060). 2. durchges. Aufl. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle. Bd. l: Von den Anfängen bis zum hohen Mittelalter. Tübingen 1995. 56 Friedrich (Anm. 41), S. 294–303. 57 Alpharts Tod. In: Deutsches Heldenbuch. Zweiter Teil. Alpharts Tod. Dietrichs Flucht. Rabenschlacht. Hrsg. von Martin Ernst. Dublin/Zürich 1967 [Unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe 1866], S. 1–54; Uwe Zimmer: Studien zu „Alpharts Tod“ nebst einem verbesserten Abdruck der Handschrift. Göppingen 1972, S. 123–197; Elisabeth Lienert: Die ,historische‘ Dietrichepik. Untersu-
Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
Ermenrichs mit seinem Neffen Dietrich, einer Unterwerfungsforderung des römischen Kaisers an seinen Verwandten, die in einer Belagerungssituation mündet: im Agon zweier Kollektive. Die narrative Spannung zwischen Fehdeansage und Schlacht füllt die Erzählung mit zwei weiteren Narrativen: erstens dem des jugendlichen Heros, dessen vorzeitiger Bewährungsdrang in den Tod führt. 58 Das iuvenisSchema trägt einer geläufigen Skepsis gegen jugendliche Krieger (Tristan, Pallas) Rechnung, es ist aber gegen alle Normalerwartung idealistisch besetzt und folgt einem anderen Programm: Der vermeintlich zu junge Ritter verfügt bereits über alle Qualitäten eines Heros, er ist vorzeitig vollendet: Im regulären Zweikampf besiegt er fast spielerisch den alten Hildebrand und nach ihm in Serie 73 Gegner aus Ermenrichs Lager: der jugendliche Held als exorbitanter Heros, als imaginärer Doppelgänger, der alle anderen überragt! In einer Art topisch organisiertem Erzählexperiment, das von Oppositionen und Substitutionen lebt, wird dem wankelmütigen Witege in der Gestalt des jugendlichen Kriegers der tapfere und verlässliche Vasall konfrontiert. 59 Die Stilisierung Alpharts zum Heros aber erfolgt überdies in Bezug auf den finalen Zweikampf, in dem er mit zwei Waffenbrüdern konfrontiert wird. Das minimale Narrativ des Zweikampfs erfährt eine Komplexitätssteigerung dadurch, dass es durch das Narrativ der Waffenbrüderschaft angereichert wird, dass der eine reguläre Gegner verdoppelt wird, so dass ganz im kasuistischen Sinn zwei Wertebenen miteinander in Konflikt geraten, die nicht harmonisierbar sind. 60 Waffenbrüderschaft ist hier überdies noch einmal anders codiert und setzt sich ab von den klassischen Einheitsphantasmen: An die Stelle der unverbrüchlichen Solidarität und der mythisch-organischen Einheit, die in den Tod führt, treten Rhetorik und Zweckrationalität, die das Überleben sichern. Wie im Fall von Heimes Treuebruch gegenüber Dietrich und der Unterwerfungsforderung Ermenrichs wird die Handlungsproblematik in langen Reden diskursiv nachgearbeitet: Heime ist Witege verpflichtet, da dieser ihm einst das Leben gerettet hatte; ein direkter Zweikampf nach Witeges Tod ließe Heime chancenlos sein; dem nackten Überleben wird ein höherer Wert attestiert als dem ehrenvollen Tod. 61 Umgekehrt ist die Konfliktsituation auch von Seiten
chungen zu „Dietrichs Flucht“, „Rabenschlacht“ und „Alpharts Tod“. Berlin/New York 2010 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 5). 58 Hans-Joachim Behr: Der Held und seine Krieger oder über die Schwierigkeiten, ein Gefolgsherr zu sein. In: 2. Pöchlarner Heldengespräch. Die historische Dietrichepik. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 1972, S. 13–23. 59 Lienert (Anm. 57), S. 196–200. 60 Diese These zur Waffenbrüderschaft hat Christian Weiß 2008 in einer Göttinger Bachelorarbeit (Waffenbrüderschaft in der mittelhochdeutschen Literatur) herausgearbeitet. 61 Claudia Lauer: Die Fragwürdigkeit des Todes. Neue Überlegungen zu „Alpharts Tod“. In: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Susanne Knaeble, Silvan Wagner, Viola Wittmann. Berlin 2011 (Bayreuther Forum Transit. 10), S. 149–167.
Held und Narrativ Alpharts nicht zu lösen, da er tief im Ehrdiskurs des Adels verankert ist: Er weigert sich, die Sache auf sich beruhen zu lassen, so dass jeder seiner Wege gehen kann: Die Anforderungen der Ehre und der später erzählbaren Geschichte verhindern eine Lösung. 62 Da er aufgrund von Ehrüberlegungen auch nicht bereit ist, den wehrlos vor ihm liegenden Witege zu erschlagen, muss er notgedrungen gegen beide Gegner kämpfen und untergehen. Gemessen an der Axiologie von Ehre und Unehre ist die Handlungsweise der Waffenbrüder eindeutig negativ stigmatisiert: Der iuvenis erntet allen Ruhm. Vor dem Hintergrund der zweckrational ausgerichteten politischen Realität aber, die in den Reden der Waffenbrüder aufscheint, erodiert bereits das adelige System der Ehre zugunsten pragmatischer Handlungsweisen, die an Opferzahlen sich orientiert. Während das narrative Arrangement für die Ehre plädiert, mag sich bei den Rezipienten eine andere Wertung eingestellt haben. Die Erzählung von Alpharts Tod erweist sich als Gefüge von geschichteten Erzählmustern, Narrativen: In die Rahmenerzählung mittlerer Reichweite, die Eroberung Berns durch Ermenrich, werden kleinere Narrative eingebettet: Das Narrativ von Verrat und Rache wird angespielt, aber nicht ausgeführt, das Narrativ des iuvenis, der vorzeitig stirbt, wird mit dem Narrativ von Treue und Opfer von Waffenbrüdern konfrontiert und in eine dilemmatische Konstellation geführt. Die Erzählung verhandelt in unterschiedlichen Narrativen zentrale Werte der Adelsgesellschaft.
Fazit Für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz scheint es zentral zu sein, dass sich Kulturtheorien nicht nur systematisch, sondern auch narratologisch begründen lassen. Wolfgang Müller-Funk hat einen solchen Entwurf einer narratologisch fundierten Kulturtheorie vorgelegt: Es sind durchaus auch Erzählungen in unterschiedlichster Ausprägung und Reichweite, die das Band einer Gemeinschaft stiften. Narrative, grand récits wie Erzählkerne, großer (Welt), mittlerer (Nation) und kleinerer (Biographie) Dimension, bilden zeitlich strukturierte Aggregate der Sinnbildung. Narrative Sinnbildung vollzieht sich auch jenseits von etablierten Gattungsmustern. Erzählungen erweisen sich als komplexe Gefüge von narrativen Sequenzen, die arrangiert und koordiniert werden müssen. Die Werte, die in diesen Narrativen ausgehandelt werden, sind kulturspezifisch. Für das Heldenepos habe ich nur die zentralen und bekannten vorgeführt und auf ihre narratologischen Implikationen hin befragt: auf ihre Formen der Zeitmodellierung: Allianz- und Konfliktnarrative, Genealogie und Eroberung als vergangenheits- und zukunftsorientierte Narrative, die
62 Günther Zimmermann: Wo beginnt der Übermut? Zu „Alpharts Tod“. In: 2. Pöchlarner Heldengespräch. Die historische Dietrichepik. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 1992, S. 165–182.
Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur
komplementär zueinander stehen, Verrat und Rache sowie Treue und Opfer als ebenso komplementäre Narrative mittlerer Reichweite, das iuvenis-Narrativ und schließlich der Zweikampf, der das agonale Konfliktlösungsmodell des Adels als kleinste narrative Einheit repräsentiert. Sie alle implizieren die klassischen narratologischen Kategorien: Handlung, Aktanten, Axiologie und Finalität. Ihre strukturelle Faktur erlaubt es, ihren Ort im Erzählgefüge variabel zu handhaben. Sie können fragmentarisch angedeutet werden und eine Erwartungshaltung provozieren, sie können als geschlossene Sequenz in größere Erzählzusammenhänge eingefügt werden, sie können sich aber auch zu selbständigen Erzählungen ausweiten. Sie sind über Substitutionen vielfältig modellierbar und in ihrer axiologischen Ausrichtung variabel: Die Werte können eindeutig hierarchisiert, sie können aber auch symmetrisch arrangiert und in paradoxe Konstellationen geführt werden wie im Hildebrandslied oder in Alpharts Tod. Aus einem begrenzten Arsenal von Narrativen lassen sich so unendliche Realisationen rivalisierender Narrative generieren: Kultur konstituiert sich somit nicht nur als Kampfplatz praktischer und diskursiver Positionen, sondern auch von Erzählungen. Für eine moderne, kritisch gewendete Betrachtungsweise ist der Verweis auf latente Narrative ein Argument der Abwehr: Der Nachweis latenter Narrative im sozialen und selbst im wissenschaftlichen Diskurs wird zum Movens, rationalere, d. h. überprüfbare Parameter zu etablieren: Das mündet meist in purem Historismus. Umgekehrt wird der Nachweis von grand récits und Mythen des Alltags zum Hauptargument gegen den Rationalismus. Es geht aber nicht darum, die Spannung von rationaler und narrativer Sinnstiftung zur Alternative zu stilisieren, binär zu dichotomisieren: Die soziale Wirklichkeit ist vielmehr durch ein Miteinander, einen Parallelismus verschiedenster Sinnbildungsmuster gekennzeichnet.
Erzählen vom Tod im Parzival Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter
1 Erzählen und Kontingenzbewältigung Zu den elementaren Voraussetzungen von Erzählen gehört, dass es der Bewältigung von Kontingenz und damit der Sinnbildung dient. Im Erzählvorgang werden isolierte Geschehensmomente der Wahrnehmung in eine zeitlich strukturierte Erfahrung überführt, wird über die Verbindung von Anfang und Ende ein Ereigniszusammenhang gestiftet, wobei nicht nur der Anfang auf ein Ende hin zuläuft, sondern das Ende immer schon den Anfang mit bestimmt.1 Jede Art von Erzählen setzt eine spezifisch rückblickende Zeiterfahrung voraus. Anfang und Ende sind aber nicht nur erzähltechnische, sondern zugleich elementare anthropologische Kategorien. Der Umstand, dass jeder Mensch einen Anfang und ein Ende hat, hat die Biographie zum geradezu natürlichen Modell des Erzählens und die lineare Zeitstruktur des Weges zur privilegierten Metapher des Lebens gemacht.2 Und doch verfügt das Subjekt weder über seinen Anfang noch über sein Ende. Geburt und Tod als die blinden Flecken der Biographie sind daher seit je auch Einfallstor für mythische Besetzungen: etwa im Ursprung des Heros und im Heldentod oder im VatersucheHeimkehrschema, wie es noch im höfischen Roman auftritt, oder in Jenseitsvisionen der Legende als Neugier auf das zukünftige Schicksal. Anfang und Ende als Grenzmarken der Zeitlichkeit lassen sich schließlich zu komplexen geschichtsphilosophischen Sinnfiguren, zu Metanarrativen, ausbauen. Nicht nur das Subjekt hat einen Ursprung und ein Ziel, sondern auch die Gemeinschaft: die Sippe, die Nation oder die Menschheit insgesamt (Genesis/Apokalypse). Genealogien und Gründungsmythen zeugen gerade im Mittelalter von dem Bedürfnis, über die natürlichen Zeitgrenzen hinaus sich einer Kontinuität und Ordnung zu vergewissern. Untergangserzählungen wie das Hildebrandslied, das Nibelungenlied oder der Prosalanzelot dramatisieren dagegen das Ende: einer Genealogie, eines Stammes, einer Idee.
|| 1 Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Beiträge zur Historik 3. dtv Wissenschaft 4342), S. 85–118. 2 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2008, S. 17–35. https://doi.org/10.1515/9783110772340-015
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Die Erzähltheorie hat die Instanzen von Anfang und Ende gerade in Bezug auf das mittelalterliche Erzählen selbst reflektiert: Jurij Lotman etwa mit der Bestimmung von Anfang und Ende als Markierungen des Erzählrahmens und seiner Abhängigkeit vom jeweiligen Kulturmodell. Dem Mittelalter spricht Lotman die Mythisierung einer auf den Anfang ausgerichteten Fixierung zu: Im Mittelalter existiere deshalb nur, was einen Anfang habe.3 Demgegenüber fokussiert Clemens Lugowski archaisches und d. h. auch mittelalterliches Erzählen auf die Finalitätsfigur des mythischen Analogons, die kausale Motivierung zugunsten einer finalen Ausrichtung unterbelichte.4 Sozialer Sinn konstituiert sich erzählerisch einmal über eine Figur der Begründung, der mythischen Herleitung aus einem Ursprung, das andere Mal durch die unausweichliche Folgerichtigkeit der Ereignisse, durch Finalität. Aus moderner Sicht folgen diese weder einer logischen noch einer psychologischen Kausalität: logisch nicht, weil viel Magisches, Mythisches und Zufälliges (‚Aventiure‘) einschießt und die Handlung trotzdem zu ihrem Ziel kommt, psychologisch nicht, weil die Ereignisse kaum geplant oder in der Gedankenwelt der Protagonisten reflektiert werden. Sie vollziehen sich, und der Held scheint keinen anderen Einfluss auf sie zu haben, als sie zu bestehen. Wenn jedes Erzählen zugleich auf eine kausale und finale Dimension ausgerichtet ist, prägt das mittelalterliche Erzählen im historischen Vergleich offenbar besondere Formen aus.5 Die strukturelle Überdetermination von Anfang und Ende in vielen mittelalterlichen Erzählungen verweist auf ein historisch spezifisches, kulturelles Sinnbedürfnis, das sich im Rahmen eines stabilen Zeithorizonts konstituiert. Ein erster Befund für eine mögliche Alterität. Die Frage nach der Historizität von Erzählformen und Erzählmodi beschäftigt die mediävistische Erzählforschung seit den 70er Jahren. Einander gegenüber stehen sich eine historisch-rhetorische Perspektive und eine ästhetisch-moderne. Je nachdem, ob aus der Antike (Epos) oder aus der Moderne (Roman) auf das mittelal-
|| 3 „Der Rahmen eines literarischen Werks besteht aus zwei Elementen: dem Anfang und dem Ende. Die besondere modellbildende Rolle der Kategorien Text-Anfang und Text-Ende hängt unmittelbar mit den allgemeinsten Kulturmodellen zusammen.“ Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1981 (UTB. 103), S. 305. Anfang und Ende sind keine beliebigen Instanzen. Sie betreffen den Rahmen eines Kunstwerks und damit den des Modells im Verhältnis zur unendlichen Welt. Jeder künstlerische Text benötigt einen solchen mythologisierenden Aspekt: „Es ist also der mythologisierende Aspekt des Textes, der in erster Linie mit dem Rahmen zu tun hat, während der Fabelaspekt nach Zerstörung des Rahmens strebt.“ (S. 304). Die Fixierung auf Anfang und Ende, auf Kontinuität und Linearität sowie auf die Ausschaltung von Kontingenz bezeichnet auch MüllerFunk (Anm. 2, S. 32) als „mythologische Konfiguration des Erzählens“. 4 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a. M. 1976 [1932 zuerst] (stw. 151); Heinrich Detering: Zum Verhältnis von ‚Mythos‘, ‚mythischem Analogon‘ und ‚Providenz‘ bei Clemens Lugowski. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von Matías Martínez. Paderborn u. a. 1996 (Explicatio), S. 63–79. 5 Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007 (De-Gruyter-Studienbuch), S. 96–106.
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terliche Erzählen geblickt wird, ergibt sich ein anderes Bild: zum einen die Orientierung an überlieferten Erzählstoffen, Erzähltechniken und Weltbildern, zum anderen die Erfindung neuer Stoffe, einer neuen Erzählarchitektur und die Öffnung von Horizonten: Wiedererzählen gegen Symbolstruktur.6 Die Alterität mittelalterlichen Erzählens ist darüber hinaus auf den verschiedensten Ebenen beschrieben worden: inhaltlich die Vermittlung einer heroischen oder ritterlichen Lebensform sowie eines christlich-feudalen Wertesystems, die eine eigene Exemplarik der Handlung zur Folge habe; formal Erzählstrukturen wie Doppelweg (Kuhn) und Symbolstruktur (Haug) oder die Verbindung von Aktanten- und Figuralschema (Warning); die aggregative Episodenreihung (Czerwinski) oder die Variation von Erzählmustern (Müller); verfahrenstechnisch die Orientierung am rhetorischen Dichtungsparadigma, die Typisierung der Figuren; schließlich das Problem der Kohärenzbildungsverfahren generell.7 In all diesen Phänomenen scheint sich mittelalterliches Erzählen von modernen Erzählweisen gravierend zu unterscheiden. Struktur, Figur, Motivierung, neuerdings auch Fokalisierung d. h. narratologische Kategorien prägen die Untersuchungen.8 Ein zweiter Befund der Alterität. Mein Beitrag setzt demgegenüber eher konventionell an. Er orientiert sich an Kategorien wie Zeitlichkeit, Kontingenz, Erinnerung und Erfahrung. Es handelt sich um Kategorien, die nicht auf der Beschreibungsebene einer formal operierenden Narratologie liegen, die aber dennoch für den Akt des Erzählens unverzichtbar und historisch unterschiedlich modelliert scheinen. Eine Erzählung ist zwar aus strukturalistischer Perspektive ein reiner Funktionszusammenhang, der über eine narrative Technik gestaltet wird, doch kommt dieser nicht ohne die Kategorie ‚Sinn‘ aus. Die klassische Erzähltheorie, etwa Lukács, Benjamin, Jolles, Lugowski etc., operierte denn auch mit diesen Kategorien, und vor allem die Romanistik hat sie aufgegriffen und weiterentwickelt.9 Der Relevanzzusammenhang einer Erzählung bildet nicht nur einen immanenten Funktionszusammenhang, sondern er ist zugleich bedingt
|| 6 Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea. 16), S. 128–142; Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 45 (1971), S. 668–705. 7 Hugo Kuhn: Erec. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Kleine Schriften 1. Stuttgart 1959/69, S. 133–150; Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von Hans Robert Jauss, Erich Köhler. Bd. 4,1: Le Roman jusqu’ à la fin du XIIIe siècle, direction. Hrsg. von Jean Frappier, Reinhold R. Grimm. Heidelberg 1978, S. 25–59; Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Frankfurt a. M. 1989; Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007. 8 Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneasroman, im Iwein und im Tristan. Tübingen 2003 (Bibliotheca Germanica. 44). 9 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Halle 1930; Warning (Anm. 7); Stierle (Anm. 1).
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durch Inhalt, Struktur und Pragmatik von Kontexten, in denen das Erzählen sich vollzieht und aus denen es seinen Sinn bezieht.10 Sie betreffen den kulturellen Kontext und die pragmatische Funktion von Erzählen. Am Beispiel des Erzählens vom Tod im Parzival möchte ich solche Kontextualisierungen beschreiben, soll Erzählen im Kontext von Anfang und Ende (Zeitlichkeit), von Unterbrechung des Lebensweges durch Aventiure (Kontingenz), von kollektiven und individuellen Gedächtnisstrategien (memoria) thematisiert werden. Der Akt des Erzählens hängt unmittelbar mit der Bewältigung von Zeitlichkeit und Kontingenz, mit der Reduktion und Strukturierung von Komplexität zusammen. Die Erzählung erweist sich als „eine sehr menschliche und sehr wenig ‚wissenschaftliche‘ Vermischung von materiellen Ursachen, Zielsetzungen und Zufällen“ (Paul Veyne).11 Die Modellierungen von Anfang und Ende reihen sich in Wolframs allgemeines Darstellungsverfahren, in sein spannungsreiches Spiel mit Oppositionen ein. Am Anfang des Parzival steht mit dem Tod des Anschevîn Gandîn ein individuelles Ende.12 Nach dem Tod des Vaters erbt der älteste Sohn Gâlôes das Reich, während der jüngere Gahmuret sich gezwungen sieht, seine Heimat zu verlassen, um den Ansprüchen der Ritterschaft zu genügen. Der Tod des Vaters isoliert den Protagonisten und treibt ihn in die Fremde. Während Erbschaft scheinbar Kontinuität von Geschlecht und Herrschaft garantiert, führt der Weg der Ritterschaft zunächst in Isolation und Diskontinuität, eröffnet aber die Chance zur Heldenbiographie mit Herrschaftsgründung und eigenem Ende im Heldentod.13 Am Ende des zweiten Buchs stirbt Gahmuret denn auch unterwegs im Kampf. Der Erzähler verbindet bekanntlich den Tod Gahmurets aufs engste mit der Geburt Parzivals, suggeriert aus der Perspektive Herzeloydes gar eine Art Wiedergeburt: und bin sîn muoter und sîn wîp (109,25; ‚und bin seine Mutter und sein Weib‘). Indem das Ende des Vaters durch die Geburt des Sohnes aufgefangen wird, tritt wieder Genealogie an die Stelle von Biographie, wird Kontingenz erneut in Kontinuität, in eine Finalitätsfigur überführt. Entsprechend wird die natürliche Kontinuität des Geschlechts wiederholt über die Vererbung männlicher Arteigenschaft signalisiert: ir antlütze sippe jach: / diu wârn ein ander vil gelîch (46,28f.; ‚ihr Anblick sprach Verwandtschaft aus, sie waren einander sehr ähnlich‘). „Blutsverwandtschaft (‚Konsanguinität‘) werde durch den
|| 10 Stierle (Anm. 1). 11 Zitiert nach Paul Ricoeur: Rhetorik und Geschichte. In: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophisches Denken. Hrsg. von Herta Nagl-Docekal. Frankfurt a. M. 1996, S. 107–125, hier S. 115. 12 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Berlin/New York 1998. 13 Das alte biblische Kulturmuster von gesegneter Sesshaftigkeit und verdammtem Nomadentum erhält hier sein feudales Gegenbild: seine Variation. Vgl. Hayden White: The Forms of Wildness. Archeology of an Idea. In: The Wild Man within. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism. Hrsg. von Edward Dudley, Maximilian E. Novak. Pittsburgh 1972, S. 3–38.
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Autor als Körpereinheit (‚Konsubstantialität‘) entworfen.“14 Man stirbt eigentlich nicht wirklich. Das Leben des Heros erhält über die Genealogie einen über ihn selbst hinausweisenden Zusammenhang und Sinn. Am Ende des Parzival schließlich steht ein neuer Anfang, es beginnt die Geschichte seines Sohnes Loherangrîn.15 Der Erzählzusammenhang reicht also in die Vorgeschichte und öffnet sich auf die Zukunft. Die doppelte Rahmung ist Wolframs Zutat gegenüber Chrétien. Er verankert die Biographie in einer Genealogie, die bekanntlich später noch durch weitere Metanarrative mythisch (Artusgenealogie) und heilsgeschichtlich (Gralsgenealogie) dimensioniert wird.16 Die Genealogie ist die Figur des Anfangs und des aufgeschobenen Endes, sie richtet sich am natürlichen Rhythmus des organologischen Modells aus und sichert einen Haltepunkt im Fluss der Zeit. Über die genealogische Kette versichert sich die Feudalkultur einer Kontinuität im kontingenten Wechsel der Leben. Das hat Folgen auch für die Erzählform. Am Parzival lässt sich eine mittelalterliche Ausprägung dessen beobachten, was über den Unterschied zwischen Epos und Roman beschrieben worden ist: dass nämlich der Roman endet, das Epos aber nicht. Die Erzählung mag enden, ihr Gehalt aber, z. B. das Substrat der Figur, besteht fort: in der Genealogie, im Jenseits oder im Märchenschluss des höfischen Festes.17 Epos und Roman ist ein anderer Typus von Zeitlichkeit und ein anderes Verhältnis zum Tod eigen, das in der Spannung von Genealogie und Biographie angelegt ist. Im Epos ist der Tod Bestandteil des Laufs der Dinge, im Roman ist er das kontingente Ereignis, das mit einem Wort Walter Benjamins die „tiefe Ratlosigkeit des Leben-
|| 14 So Elke Koch: Trauer und Identität. Studien zur Emotionsdarstellung in narrativen Texten um 1200. Berlin 2006 (TMP. 8), S. 90, in Referenz auf Bernhard Waldmann: Natur und Kultur im höfischen Roman. Überlegungen zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters. Erlangen 1983, S. 184: „Wolfram von Eschenbach verwortet dieses Primärdenken, welches will, daß Verwandte nicht allein metaphorisch eines, sondern auch in der Substanz ungeschieden seien, nämlich leiblich, physisch […].“ 15 Joachim Bumke: Parzival und Feirefiz – Priester Johannes – Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 65 (1991), S. 236–264. 16 Vgl. Elisabeth Schmid: Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralsromanen des 12. und 13. Jahrhunderts. Tübingen 1986 (ZfRPh; Beihefte. 211); Dies.: Studien zur Problematik der epischen Totalität in Wolframs Parzival. Erlangen 1976, S. 95–110. Zur Genealogie vgl. Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittealter. München 2004; Müller (Anm. 7), S. 46–106. 17 Der Iwein endet mit der Bekundung des Erzählers, nicht zu wissen, wie die Geschichte weitergeht. Handschrift f bietet eine ‚epische‘ Erweiterung des Endes mit Ausblick auf die Genealogie Iweins sowie auf seine ideale Herrschaftspraxis als Vorsorge für sein Seelenheil, auf das noch Bezug genommen wird. Hartmann von Aue: Iwein. Text und Kommentar. Hrsg. von Thomas Cramer. Berlin/New York 2001, S. 150–152; Christoph Gerhardt: Iwein-Schlüsse. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 13 (1972), S. 13–39.
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den“ bekundet und gegen das die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt erst dramatisch wird.18 So spielt im Parzival der Tod im Wechsel der Generationen zwar eine Rolle, doch wird seine destruktive Wirkung sogleich durch einen neuen Anfang gemildert. An die Stelle des toten Helden tritt der neue Held. Der Tod des Ritters im Kampf ist aber kein natürlicher, er ist vielmehr Inbegriff von Kontingenzerfahrung. Der gewaltsame Tod bedarf daher einer zusätzlichen Legitimation, um Fragen der Identität des Einzelnen innerhalb der Feudalkultur zu stabilisieren. Er wird es durch seine Heroisierung, durch die Verewigung des Namens im Ruhm, überdies im höfischen Roman durch die Verbindung mit einem sozialen Faktor: mit dem Frauendienst. Wird über die Genealogie der Tod in einem natürlichen Zusammenhang verortet und bewältigt, so über Ruhm und Ehre in einem kulturellen: zum einen Sichtbarkeit in der Nachwelt durch Konsubstantialität der Nachkommen; zum andern durch Erinnerungszeichen wie Grabmäler und Waffen oder Erinnerungsprozeduren wie Rituale und eben Erzählungen. Damit erfahren Leben und Tod des Adels eine doppelte Sinnstiftung. Ablesbar wird das ansatzweise schon an der Genealogie seines Geschlechts, die Gahmuret im Abschiedsbrief an Belacâne entfaltet. Im Geschlecht Gahmurets ist die enge Bindung von Minne und Kampf in einem mythischen Ursprung verankert: in der Verbindung des Stammvaters Mazadân mit der Fee Terdelaschoye (96,20f.). Hatte Heinrich von Veldeke die antike Verbindung von Krieg (Mars) und Minne (Venus) noch als verständlichen, aber illegitimen Akt inszeniert, so werden Ritter und Fee im Entwurf Wolframs zum mythischen Fundament der feudalen Genealogie. strît und minne was sîn ger (35,25; ‚Nach Kampf und Liebe sehnte er sich‘) heißt es entsprechend noch von Gahmuret, dessen Großvater, Vater und Bruder durch Ritterschaft und Frauendienst den Tod gefunden haben. Der mythischen Konstruktion ist es geschuldet, dass für das Mazadângeschlecht nicht einfach der Tod das Telos des Lebens ist, sondern der Tod in Ritterschaft und Minnedienst, deren Verbindung schon im Ursprung der Genealogie angelegt scheint: Indem die Verbindung von Ritterschaft und Frauendienst, Gewalt und Minne, sich in die Zukunft hinein wiederholt und fortschreibt, bleibt das Prinzip über die Zeit wirksam und präsent, schreibt sich als mythischer Mechanismus von Leben und Tod in die Figur der Genealogie ein und verleiht ihr einen semantischen Wert. Gahmurets kleine Erzählung über die Generationenfolge des Mazadângeschlechts bewältigt die Kontingenz des gewaltsamen Todes auf zweifache Weise, indem sie ihn einerseits mittels Genealogie überwindet, andererseits dem Einzelnen durch
|| 18 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. II: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt a. M. 1977, S. 438–465, hier S. 443. Gerade dort, wo der Tod, der Untergang, das Werk abschließt, scheint sich das Bedürfnis des Weitererzählens einzustellen: Nibelungenlied-Klage.
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Erzählung Erinnerung sichert.19 Wenn die Genealogie den Einzelnen in die Generationenkette einfügt, der Ruhm ihn aber heraushebt, wird bereits hier die Spannung von kollektiver und individueller Identität sichtbar. Die Erzählung ist die Form, die Genealogie und Ehre, Natur und Kultur, als zwei Formen der Erinnerung zusammenführt und zu zentralen Figuren der Kontingenzbewältigung macht: das Syntagma der natürlichen Kette und der erinnerten Namen im Paradigma von Kampf und Minne, Leben und Tod. Schon im Anfang werden die axiologischen Besetzungen in die Serie eingeführt, die die Geschichte tragen. ‚Erzählen‘ kommt von ‚Aufzählen‘ und stellt ein Verfahren dar, das besondere Ereignis (den Einzelnen) in eine Kette anderer Ereignisse (Genealogie) einzugliedern und ihm eine Richtung zu geben. Genealogie und Erzählen verfahren gewissermaßen strukturanalog. Die mittelalterliche Kultur ist eine Kultur der Erinnerung. „Memoria, die Überwindung des Todes und des Vergessens durch ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ bezeichnet fundamentale Bereiche des Denkens und Handelns von Individuen und Gruppen.“20 Gegenüber der religiösen Bewältigungsform des Todes setzt der Parzival gleich zu Beginn zwei Sinnmodelle, die natürlich und kulturell ausgerichtet und zugleich mythisch verankert sind. In der Figur der mythisch fundierten Genealogie aber setzt Wolfram sichtbar einen Anfang, von dem alles Geschehen her sich erklärt. Der viel beschworenen Modernität des Parzival, seiner Romanhaftigkeit, steht in dieser Perspektive ein bewusst akzentuiertes episches Komplement zur Seite. Es geht mithin weder um die Alternative von Epos oder Roman noch um eine Teleologie vom Epos zum Roman, sondern um ein komplexes Interferenzverhältnis von epischem und romanhaftem Erzählen. Man kann die genealogische Rahmung der Parzivalfigur selbst mit Bachtins Terminologie noch beschreiben: Wenn er Epos und Roman durch ihr Weltmodell und ihre Zeitstruktur unterscheidet, kommt auch er auf den Status von Anfang und Ende zu sprechen. Während für das Epos Anfang und Ende absolute Wert-Zeit-Kategorien darstellen, vollzieht sich das Geschehen des Romans vor dem Hintergrund eines anderen Zeitmodells: „Sie wird zu einer Welt, in der es kein erstes Wort (keinen idealen Anfang) gibt und in der das letzte Wort noch nicht gesprochen
|| 19 Die Erzählung Gahmurets bildet im Präparat noch einmal Wolframs Inversionstechnik ab: Der Brief beginnt mit einer Adresse an den Nachkömmling, den letzten der genealogischen Kette, er verfolgt dann die Generationenfolge zurück und endet mit dem mythischen Ursprung. Erneut: Ein Anfang mit dem Ende der Kette und am Ende deren Anfang. Auch hier sind wie im Gesamtrahmen des Textes Erzählverfahren, anthropologisches Thema und genealogische Rahmung aufeinander abgestimmt. 20 Otto Gerhard Oexle: Memoria in der Gesellschaft und Kultur des Mittelalters. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 297–323, hier S. 297; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997.
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ist.“21 Das Epos besetzt die Kategorien des Anfangs und des Endes werthaft und verkündet die Botschaft: ‚Es gibt Sinn‘. Der Roman tut das nicht. Nach Benjamin findet das Subjekt im Roman keinen Haltpunkt mehr in der Zeit. Das Epos hingegen bindet das Subjekt an die Kontinuität des Geschlechts und des kulturellen Gedächtnisses. Der Einzelne mag kontingentes Glied in der genealogischen Kette sein, diese selbst aber besitzt einen mythischen Ursprung und ein offenes Ende.
2 Tod und Erzählen Inbegriff von Kontingenzerfahrung ist der gewaltsame Tod. Alois Haas hat in seinem Buch über ‚Todesbilder im Mittelalter‘ die verschiedenen Kontexte entfaltet, in denen mittelalterliche Autoren sich mit dem Tod auseinandersetzen.22 Vor allem die geistliche Literatur thematisiert immer wieder Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Menschen und predigt in vielfachen Formen das memento mori. Die Erfahrung von Kontingenz wird hier aber aufgehoben in der Vorstellung von einer jenseitigen Kontinuität: gewissermaßen das klassisch metaphysische Modell der Kontingenzbewältigung. Innerhalb der Heldenepik scheinen vom Gilgameschepos über die Ilias bis hin zum Beowulf der Tod und seine Überwindung durch Gedächtnis ein zentrales Thema der Gattung zu sein. Entsprechend kreist noch die frühe deutsche Heldenepik vielfach um den Tod des Helden – Alexander, Roland, Sîvrit –, Tode, die aber bei Bedarf noch christlich perspektiviert werden können.23 Walter Haug hat noch einmal nachdrücklich die Verbindung von Geschichtlichkeit und Todesthematik für die Heldensage hervorgehoben. Der heroische Tod vermittle jene Grenzerfahrung, in der „die Einmaligkeit eines einzelnen, in sich geschlossenen Lebens mit einem signifikant markierten Anfang und Ende“ zum Ausdruck komme. Die Heldenepik schaffe den angstlosen Helden, und „Angstlosigkeit ist die Voraussetzung
|| 21 Michail Bachtin: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski, Michael Wegner. Frankfurt a. M. 1989, S. 210–255, hier S. 228 u. 240. 22 Alois Haas: Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur. Darmstadt 1989. Vgl. auch: Gerhild Scholz-Williams: Der Tod als Text und als Zeichen in der mittelalterlichen Literatur. In: Death in the Middle Ages. Hrsg. von Herman Braet, Werner Verbeke. Leuven 1983, S. 134–149; Arno Borst [u. a.] (Hrsg.): Tod im Mittelalter. Konstanz 1993. 23 Haas verweist hier auf Max Wehrli, wenn er den höfischen Roman mit seinen Ansätzen zur „transzendentalen Obdachlosigkeit“ dem Heldenlied mit seiner Transzendenzlosigkeit, Geschlossenheit und Düsternis gegenüberstellt. Max Wehrli: Strukturen des mittelalterlichen Romans – Interpretationsprobleme. In: Ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Zürich 1969, S. 25–50, hier S. 26f.
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dafür, daß man der Geschichte, der Einmaligkeit, dem Tod entgegentreten kann.“24 Im heroischen Ende artikulieren sich Grundmomente der Biographie. Die Heldenepik als eine Form kollektiver Krisen- und Katastrophenbewältigung wäre der institutionelle Ort, an dem das herausragende Subjekt sich in die Perspektive des Kollektivs, in das kulturelle Gedächtnis, einschreibt. Gegenüber der geistlichen Literatur und der Heldenepik spielt nach Haas der Tod im höfischen Roman nur eine untergeordnete Rolle, wird nicht zum existentiellen Thema. Er tritt eher episodisch auf: „Im höfischen Roman sind [...] der Tod und das Sterben keiner erzählerischen Eschatologie unterworfen, sondern Tod und Sterben sind Stationen menschlichen Lebens, die unter verschiedener Deutung dem Protagonisten vor Augen gebracht werden, mal als Resultat ritterlichen Kampfes – der Zufallstod im Turnier oder der Totschlag durch einen Ritter âne zuht –, mal als Buß- und Sühnetod, mal – in höchster Form – als Liebestod.“25 Im Artusroman werde mehr das Leben des Protagonisten, werden seine Konflikte um soziale Integration thematisiert als der Tod selbst. Es scheint der Märchenstruktur geschuldet zu sein, die Hans Robert Jauss als ein spezifisches Kennzeichen der mittelalterlichen Romanform, speziell der matière de Bretagne, ausmacht, dass die Protagonisten zielsicher durch die Aventiuren schreiten.26 Der Wahrheitsbegriff von Epos und Roman gründet mithin in ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbezügen.27 Haas zitiert Heinz Rupp: „Selbst im Parzival, dieser christlichsten Ritterdichtung des Mittelalters überhaupt, spielt der Tod kaum eine Rolle, höchstens bei Randfiguren wie Sigûne.“28 Haas hat denn auch am Beispiel von Sigûne vorgeführt, dass hier der Tod als Liebestod, „als innerste Form und der tiefste Gehalt der Minne“ exemplifi|| 24 Walter Haug: Szenarien des heroischen Untergangs. In: 8. Pöchlarner Heldengespräch. Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung. Hrsg. von Alfred Ebenbauer, Johannes Keller. Wien 2006, S. 147–161, hier S. 148f. Bereits Hugo Kuhn hatte die Rahmung der Parzivalerzählung durch den Orientteil als Entmythisierung des Heldenmusters beschrieben: als Historisierungsvorgang. Hugo Kuhn: Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1969, S. 151–180, hier S. 159–161. 25 Haas (Anm. 22), S. 146. 26 Hans Robert Jauss: Epos und Roman – Eine vergleichende Betrachtung an Texten des XII. Jahrhunderts. In: Ders.: Alterität und Modernität in der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze. München 1977, S. 76–92 (alte Zählung). 27 Jauss (Anm. 26). Deswegen insistiert Walter Haug so vehement einerseits auf der Geschichtlichkeit der Heldensage, andererseits auf der Fiktionalität des Artusromans. Beiden spricht er alternative Antworten auf die Provokation des Mythos – des Anderen, Bedrohlichen, des Todes – zu. Vgl. Haug (Anm. 24); Ders.: Die Rolle des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 247–267. 28 Haas (Anm. 22), S. 221, nach Heinz Rupp: Schmerz und Tod in der deutschen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts. In: Il dolore e la morte nella spiritualità dei secoli XII e XIII. Hrsg. von Centro di Studi sulla Spiritualità Medievale. Todi 1967, S. 203–232, hier S. 214f.
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ziert wird.29 Viermal trifft Parzival auf seinem Weg auf seine Cousine, die sukzessive ihrem Geliebten nachstirbt.30 Walter Haug hat dafür in Bezug auf Wolframs Titurel die schöne Wendung „Erzählen vom Tod her“ geprägt. Man wird den Befund über den Status des Todes im höfischen Roman im Großen und Ganzen akzeptieren, kaum aber für den Parzival (wie auch für den Tristan und Konrads Trojanerkrieg). Anders als in den klassischen Artusromanen wird hier dem Tod eine spezifische Aufmerksamkeit gewidmet. Die enge Verzahnung der drei Komponenten Minne, Kampf und Tod hatte dafür schon Hinweise gegeben. Der Tod besitzt eine elementare Funktion aber nicht nur für die Gahmuret- und Sigûnehandlung.31 Der Parzival beginnt nicht nur mit dem Tod des Vaters, des Anschevîn Gandîn, immer wieder begegnen die Protagonisten auf ihrem Weg der Todesproblematik: Isenhart, Gâlôes, Gahmuret, Schîânatulander, Ithêr, die Söhne des Gurnemanz, Cidegast, sowie eine Reihe von Frauen, die allein aufgrund von Trennungsschmerz dahinsterben (Gurnemanz’ Frau, Herzeloyde, Annôre, Sigûne u. a.). Das Todesthema scheint sogar geschlechtsspezifisch wohl austariert. Ausführlich hat sich Helmut Brackert mit dem Todesthema beschäftigt und darauf verwiesen, dass Wolfram an signifikanten Stellen gerade über seine Vorlage hinaus Akzente setzt und das Todesthema bewusst in sein Werk einspielt.32 Wolfram etabliere eine Freud-Leid-Dialektik der Ritterschaft, die gerade von Seiten der leidenden Frauen aus akzentuiert werde. Dabei lässt sich das Thema in keine einfache Gut-BöseRelation bringen: „Bei näherem Zusehen zeigt sich [...], daß der Riß, den der permanente Einbruch des Todes und der dadurch bedingten Leiderfahrung in die ritterliche Welt bringt, durch alle [...] Bereiche geht.“33 Wolfram führt das Todesthema auf rekurrente Weise (paradigmatisch) in die ritterliche Welt ein und weitet es sogar bis in heilsgeschichtliche Dimensionen aus. Wenn im Parzival die Todesthematik einen besonderen Stellenwert einnimmt, scheint sich das auch in diesem Punkt von den Gattungsvorgaben des höfischen Romans zu entfernen. Der Parzival enthält zahlreiche Darstellungsformen des Todes, die diesem dramatischen Gehalt zuschreiben. Mit dem Vorschalten der Gahmuretbücher und dem Entwurf einer heroischen Existenz gewinnt Wolfram nicht nur einen genealogischen Rahmen für seinen Haupt-
|| 29 Haas (Anm. 22), S. 144. 30 Zur Umsetzung der Situation in Wolframs Titurel vgl. Walter Haug: Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs Titurel. In: Wolfram-Studien VI (1980), S. 8–24. 31 Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler. 36), S. 158–168; Walter Haug: Parzival ohne Illusionen. In: Ders.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1995, S. 125–139, hier S. 125–127. 32 Helmut Brackert: der lac an riterschefte tôt. Parzival und das Leid der Frauen. In: Ist zwîvel herzen nâchgebûr. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Rüdiger Krohn, Jürgen Kühnel, Joachim Kuolt. Stuttgart 1989 (Helfant-Studien. 5), S. 143–163. 33 Ebd., S. 151.
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helden sowie ein Modell der Präfiguration.34 Er gewinnt aus dem heldenepischen Kontext zugleich das Todesthema und damit ein lebensweltliches, realistisches Moment, einen Kontrapunkt zum vorgegebenen Märchenglück des Artushelden. Wolfram gestaltet jedoch das Verhältnis von heldenepischer Tragik und arthurischem Heilsweg nicht als starre Opposition, sondern als spannungsreiche Synthese. Sichtbar wird diese Synthese einerseits an der Figur Gahmuret, der Vorzeitheld, Söldner und Aventiureritter zugleich ist, selbst nicht tötet, wohl aber getötet wird. Sein Weg wird von Aventiure und Krieg gleichermaßen bestimmt. Andererseits scheint selbst der Exponent höfischer Gesinnung, Parzivals Erzieher Gurnemanz, eine gespaltene Figur zu sein. Auch dies hat Wolfram gegenüber Chrétien hinzugefügt: Auf der einen Seite predigt Gurnemanz den ritterlichen Pflichtenkanon, der Gegnertötung verbietet, auf der anderen Seite ist er wie kein anderer Opfer gnadenloser Ritterschaft. Beim Abschied von Parzival setzt er zu einer kleinen Erzählung an. Er hat alle drei Söhne im Dienst der Ritterschaft verloren. So erscheint er zwar als lebensmüde – ôwê daz ich niht sterben kan (178,8; ‚Ach, daß ich nicht sterben kann‘), thematisiert auch die enge Verbindung von Ritterschaft und Tod: sus lônt iedoch diu ritterschaft: / ir zagel ist jâmerstricke haft. (177,25f.; ‚So aber belohnt die Ritterschaft gewöhnlich ihren Mann: An ihrem Schwanz hat sie für ihn des Jammers Schlinge angebunden‘). Dennoch aber stellt er Ritterschaft nicht grundsätzlich infrage. Gahmurets Schicksal und Gurnemanz’ Erzählung machen den Tod als Telos der Ritterschaft sichtbar, doch in gegenläufiger Weise.35 Über die nachgetragene Erzählung erhält die Figur des Gurnemanz eine Geschichte, die die Spannung der beiden Formen von Kontingenzbewältigung, von Genealogie und Ruhm, nachdrücklich zum Ausdruck bringt: aber eben nicht aus der Perspektive der Sieger, sondern der Verlierer. Gurnemanz’ Erzählung stellt im Verhältnis zu Gahmurets Leben gewissermaßen die Antigenealogie dar. Aufzählen und Erzählen schrumpfen zum Fragment. Wie aber begegnet der Tod den Protagonisten? Selten in direkter Konfrontation wie im Fall Ithêrs oder Schîânatulanders, weitaus häufiger aber in der distanzierten
|| 34 Christa Ortmann: Ritterschaft. Zur Frage nach der Bedeutung der Gahmuret-Geschichte im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: DVjs 47 (1973), S. 664–710; Helmut Brall: Familie und Hofgesellschaft in Wolframs Parzival. In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Hrsg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora. 6), S. 541–583; Wolfgang Haubrichs: Memoria und Transfiguration. Die Erzählung des Meisterknappen vom Tode Gahmurets (Parzival 105,1–108,30). In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 19), S. 125–154. 35 Schon bei Veldeke tritt dieses klassische Thema auf, wenn er den Tod von Pallas und Camilla in prächtigen Grabmalskonstruktionen auffängt. Totengedenken, memoria, gilt hier „exzeptioneller ritterschaft“. Vgl. Joachim Hamm: Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 9–56, hier S. 45.
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Form von Erzählungen: Der Tod ist überwiegend in der Figurenerzählung präsent, aber nicht von Seiten des jeweils Sterbenden, sondern des betroffenen Umfelds. Es sind weitgehend die Überlebenden, die mit der Erfahrung des Todes fertig werden müssen: immer wieder kleine Erzählungen in der Erzählung. Wolfram spinnt um die Hauptgeschichte herum ein Netz von Erzählungen, die die ambivalente Sicht auf die Ritterschaft vor Augen führen: emphatisch noch Gahmurets Brief über die Mazadângenealogie (55,17ff.) und Orilus’ Bericht über Gâlôes und Schîânatulander (133,28ff.), klagend dagegen Belacânes Erzählung über Isenhart (29,9ff.), Gurnemanz’ Erinnerung an seine drei Söhne (177,14ff.), Sigûnes Klage über Schîânatulander (114,2ff.), Orgelûses über Cidegast (615,27ff.) und selbst die Rede des Erzählers über Ilinôt (585,29ff.). Gegen die selbstgewisse Feier des ritterlichen Ethos’ erhalten einzelne Figuren Raum, die Folgen des geltenden sozialen Gewaltethos zu beklagen, nicht aber dieses zu hinterfragen. Die Vernetzung der Erzählungen weist über den Weg der Hauptfiguren hinaus und konstituiert einen übergeordneten Erzählzusammenhang. Für die Heldenepik und für das Epos insgesamt ist das Phänomen der Koordination beschrieben worden, das den zyklischen Zusammenschluss der Sagen zu einer Art Gesamterzählung bezeichnet.36 Im Hintergrund eröffnet sich so ein epischer Zusammenhang. Auch die inserierten Todeserzählungen im Parzival dienen dem Zweck der Vernetzung, indem sie paradigmatisch einen epischen Erzählhintergrund stiften.37 Sie verknüpfen einerseits Episoden und bieten Einblick in die Vorgeschichten der Akteure, andererseits konstituieren sie für die Erzählung einen exemplarischen Zusammenhang: Es sind allesamt Exempel für den gleichen Sachverhalt. In vielfacher Variation wird immer die gleiche dramatische Konstellation von Minne, Kampf und Tod durchgespielt, führt die ‚Geschichte als Exemplum‘ die gleiche Wahrheit vor Augen: die Sinnstiftung von Gewalt über Frauendienst.38 Die erste tragische Geschichte, die erzählt wird, ist die von Isenhart. Der Erzähler resümiert sie gleich, als Gahmuret in Zazamanc ankommt: von dan fuor er gein Zazamanc in daz künecrîche. die klageten al gelîche Isenharten, der den lîp in dienste vlôs umbe ein wîp. des twang in Belacâne,
|| 36 Joachim Heinzle: Was ist Heldensage? In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2003/04), S. 1–23, hier S. 12f. 37 Zur Technik des epischen Hintergrundes vgl. Wolfgang Mohr: Zu den epischen Hintergründen in Wolframs Parzival. In: Mediaeval German Studies. Presented to Frederick Norman. London 1965, S. 174–187. 38 Vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347–375.
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diu süeze valsches âne. daz si im ir minne nie gebôt, des lager nâch ir minne tôt. (16,2–10) ‚Fort zog er in das Königreich Zazamanc. Dort weinten sie alle um Isenhart, der im Dienst für eine Frau den Leib verloren hatte. Schuld daran war die süße Belacâne, die den Verrat nicht kannte. Die verweigerte ihm ihre Liebe, seine Sehnsucht nach ihrer Liebe brachte ihm den Tod.‘
Die Minne wird zur Ursache für das Ende des Ritters, der Heldentod in den Minnetod überführt. Ein anwesender Fürst erzählt dann schon etwas ausführlicher, macht aber zugleich deutlich, dass der Angreifer Vridebrant unter derselben Konstellation leidet. In kürzester Form deutet sich eine Erzählung an, die den Kreislauf des ritterlichen Lebens demonstriert. wir solden vînde wênic sparn, sît Vridebrant ist hin gevarn. der lœset dort sîn eigen lant. ein künec, heizet Hernant, den er durh Herlinde sluoc, des mâge tuont im leit genuoc: sine wellent si’s niht mâzen. (25,1–7) ‚Wir würden nicht viel Federlesens mit den Feinden machen, jetzt, da Vridebrant fortgefahren ist, sein eigenes Land zu befreien. Ein König, der heißt Hernant, den hat er erschlagen im Kampf um Herlinde. Mit den Verwandten dieses Königs hat er jetzt Krieg genug, sie sind voller Erbitterung.‘
Was sich vor Pâtelamunt ereignet, ist offenbar kein Einzelfall, es ist die Wiederholung einer Regel. Allein die Perspektive auf den Fall differiert. Die Ereignisse um Isenhart fächern sich in mehrere Erzählungen auf, die auf je eigene Art noch einmal die Interferenz von Minne, Ritterschaft und Tod betonen: Der Erzähler berichtet objektiv und bringt den Fall auf eine Regel, der unbekannte Fürst erklärt die militärische Lage und spielt mit der Geschichte Vridebrants eine Wiederholungsfigur ein, der Burggraf Lachfilirost schließlich entfaltet das Thema von einer anderen Figur aus, er erzählt seinem Gast ein maere über den kampfbegierigen Ritter Hiutegêr, das zumindest die potentielle Katastrophe imaginiert: op der sîn dienest dort verlür / an ir diu in sante her, / waz hulfe in dan sîn vrechiu gêr? (32,4ff.; ‚Und wenn seine galante Herrlichkeit der, die ihn hergeschickt hat, zu Ehren dort zugrunde ginge, was hätte ihm dann seine Kühnheit und sein Jagen nach Ruhm geholfen?‘) Nur en passant blitzt aus der Perspektive der Nebenfigur die Brüchigkeit der Existenzform Minneritter auf. Schließlich präsentiert die subjektive Erinnerung Belacânes die Geschichte Isenharts als Minnetragödie. Ihre Erzählung zeichnet das Bild eines mustergültigen Ritters, dessen Dienst keinen Lohn gefunden hat, dessen Werbung zu immer weiterer Vollkommenheit getrieben wurde, bis sie schließlich in einer Art
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‚Todestrieb‘ endete. Wie der Gedanke des Minnedienstes durch Belacânes Hinhalten invertiert wird, so auch der der Ritterschaft durch Ablegen der Rüstung. Halten die kollektiven Erinnerungsbemühungen auf Seiten der Verwandten den unglücklichen Toten durch Zeichen und Körper präsent, stiften ihm gewissermaßen mit Bahre, Amulett und Fahne ein Gedächtnisritual, wird er für Belacâne durch eine Erzählung in Erinnerung gehalten. Über kollektives Gedächtnis und über erzählendes Erinnern wird der Fall von den Beteiligten bewältigt. Aus übergeordneter Warte schließlich ist Isenhart ein Minnemärtyrer, ein Exempel, wie es wiederholt im Parzival auftritt. Auf ganz verschiedene Weise wird des toten Isenhart gedacht. Am Ende des zweiten Buchs steht dann der Tod des Gahmuret. Erneut greift Wolfram auf die Technik der Binnenerzählung zurück, die er hier an die Figur des Meisterknappen Tampanîs delegiert (105,1ff.) Aus dem Mund des Boten wird der Zuhörer über das Ende Gahmurets unterrichtet, gewissermaßen der Erlebnisbericht des Augenzeugen. Hitze habe ihn dazu gezwungen, seinen Kopfschutz abzulegen. Überdies habe heidnische List dazu geführt, dass Gahmurets unzerstörbarer Diamanthelm durch Bocksblut aufgeweicht worden sei, so dass es Ipomidôn geglückt sei, die tödliche Wunde beizubringen. Trotz der Verletzung sei es dem Sterbenden gelungen, seinen Kaplan zu erreichen und zu beichten. Tampanîs überbringt mit der Todesnachricht auch das blutige Hemd und die Lanzenspitze, die man in Gahmurets Kopf gefunden hat, zwei Zeichen, die selbst in Gahmurets Heldentod noch den Zusammenhang von Minnedienst, Ritterschaft und Tod sichtbar machen, gewissermaßen indizieren.39 Zwar kann man es selbst noch als einen metonymischen Verweis lesen, dass Gahmuret in Isenharts Rüstung stirbt, doch stirbt er weniger den Minne- als den Heldentod. Die Erzählung des Tampanîs ist zweigeteilt. Er bietet in der Folge eine Beschreibung der Beisetzung und insbesondere des monumentalen Grabmals. Wolfgang Haubrichs hat die literarischen Vorlagen der Grabmalbeschreibung (Veldeke) und Analogien, ja z. T. dezidierte Parallelen, zu zeitgenössischen Grabmälern untersucht: Das Aufkommen extensiver Grabmalbeschreibungen in der höfischen Literatur fällt nach Haubrichs mit dem Aufkommen einer adeligen Memorialkultur zusammen, wie sie Begräbnisstätten in Klöstern und Kirchen um 1200 aufweisen.40 Tampanîs’ Erzählung legt sichtbar Wert auf eine christliche Rahmung des in heidnischen Diensten gestorbenen Gahmuret. An der Spitze des Sarkophags wird ein Kreuz aufgestellt, auf dem Gahmurets Diamanthelm angebracht wird. Auf diesem ist eine weitere Erzählung eingraviert, die Tampanîs zitiert und die das vorbildliche Heldenleben noch einmal resümiert. Haubrichs beschreibt die Dramaturgie der Erzählung folgendermaßen: „In raffinierter Erzählstrategie hat Wolfram Gahmurets
|| 39 Bruno Quast: Diu bluotes mâl. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: DVjs 77 (2003), S. 45–60. 40 Haubrichs (Anm. 34), S. 125–154.
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Leben in den Tod und den Tod in sein ewiges Leben in beiderlei Gestalt, als Ruhm und fama einerseits, als künftige himmlische Verklärung andererseits überführt.“41 Die Panegyrik beginnt mit einer Inversion, mit dem Tod des Gahmuret, um dann in einer Apotheose seines Rittertums zu enden. Auch hier spielt Wolfram mit paradoxen Konstellationen. Das Grabmal vereinigt damit die beiden zentralen Formen ‚kulturellen Gedächtnisses‘, die ‚religiöse memoria‘ und die ‚weltliche fama‘, gewissermaßen die institutionalisierten Formen des Gedächtnisses.42 Die Waffe legt das letzte Zeugnis vom Ruhm des toten Ritters ab. Grabmal und Epitaph erinnern zwar an eine typische Heldenbiographie, doch gedenken sie des einen Helden. Grabmal und Epitaph dienen der memoria des außerordentlichen Helden: niemen reichet an sîn zil. (108,13; ‚daß dahin keiner reichen konnte.‘)43 Das kulturelle Gedächtnis, in das Gahmuret überführt wird, entspricht auf säkularer Ebene jener Form, die Überbietung (Rekord) und kollektive Erinnerung (recordari) aneinander koppelt und die im geistlichen Bereich wiederholt im Heiligen manifest wird.44 Darin unterscheidet sich Gahmuret aber signifikant von der Serie exemplarischer Minnetoter.
3 Erzählen und Erinnern Über die intrinsische Verbindung von Erzählen und Tod reflektiert Walter Benjamin in seinem Essay Der Erzähler.45 Erzählen ist für Benjamin kein wissenschaftlichanalytischer, kein narratologischer Begriff, sondern eine Form der Erfahrung. Ähnlich aber wie in der Narratologie erhält bei Benjamin die Erzählung vom Ende her ihren Sinn. Von daher ist der Tod die letzte und höchste Autorität, der der Erzähler verpflichtet ist, am eindringlichsten im finalen Rückblick auf das Leben im Angesicht des Todes (z. B. Roland).46 Benjamin entwirft ein anthropologisches Modell des Erzählens, das auf Erfahrung gründet und nicht wie in der Historiographie auf Wis-
|| 41 Ebd., S. 130. 42 Zur kulturellen Funktion des Gedächtnisses vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses. München 1999 (C.-H.-Beck-Kulturwissenschaft), S. 27– 62, hier S. 38. 43 Barbara Haupt zitiert Friedrich Ohly: „Setzt der Dichter seinem Romanhelden selbst ein in Diamant gegrabenes Epitaphium, besiegelt diese episierte Metapher einen Hauptsinn seiner Kunst, eine Memoria zu begründen.“ (= Friedrich Ohly: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria. Münstersche Abschiedsvorlesung vom 10. Februar 1982. München o. J.); vgl. Barbara Haupt: Literarische Memoria im Hochmittelalter. Chrestien de Troyes und der Discours de la Méthode. In: LiLi 27 (1997), S. 39–61, hier S. 43. 44 Zur Verbindung von säkularem Rekord, Erinnerung (recordari) und Legende vgl. Jolles (Anm. 9), S. 60f. 45 Benjamin (Anm. 18), S. 438–465. 46 Ebd.
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sen. Nicht in Erklärung bestehe das Geschäft des Erzählers, sondern in Sinnstiftung und Einordnung des Erzählten in den Lauf der Welt. Der wahre Erzähler sei derjenige, der Exemplarisches zu verkünden hat. Erinnerung zu sichern ist daher die ursprüngliche Leistung des Erzählers: „Mnemosyne ist bei den Griechen die Muse des Epischen.“47 Der epische Erzähler aber ist der Erinnerung auf andere Art verpflichtet als der Historiograph und auch als der Romancier, d. h. pragmatisch gesehen findet je nach institutionalisierter Sprachhandlung (Gattung) eine andere Form von Erinnerung statt. Während der Historiograph Vergangenheit im Archiv ablegt und systematisiert, ordnen Epiker und Romancier die Erinnerung nach Maßgabe der Erfahrung. Das kulturelle Gedächtnis, paradigmatisch vertreten im Totengedenken, artikuliert sich mithin in ganz unterschiedlichen Formen.48 Benjamin reflektiert im Anschluss an Georg Lukács das unterschiedliche Zeitverständnis, das den Epiker und den Romancier auszeichnet: Einordnung des Todes in einen übergeordneten Zusammenhang, sei es ein heils- oder ein naturgeschichtlicher, beim Epiker; demgegenüber stehe der Romancier schutzlos vor der harten Kontingenz des menschlichen Daseins.49 Im Epos nun sieht Benjamin eine Konstellation von zwei Erinnerungsformen, die das Epische und das Romanhafte noch verbinden. Der Erzähler, der Erinnerung sichern will, steht vor zwei elementaren Aufgaben: Zum einen ermöglicht die Erinnerung, den Lauf der Dinge zu erfassen, d. h. die Komplexität der Welt auf eine Erfahrungsform zu reduzieren. Zum andern steht er vor der Aufgabe, mit dem Hinschwinden der Zeit, mit der Gewalt des Todes, seinen Frieden zu machen. Benjamin postuliert damit zwei elementare anthropologische Funktionen, denen das Erzählen verpflichtet ist: Sinnstiftung als Komplexitätsreduktion und als Bewältigung von Zeitlichkeit. Er arbeitet entsprechend zwei Arten der Erinnerung heraus: zum einen das epische Gedächtnis, das sich über die Kette der Traditionen, die Wiederholung, in einem Netz von endlosen exemplarischen Geschichten artikuliert. Benjamin fasst es in die Worte: „die Moral von der Geschicht“. Zum andern das verewigende Gedächtnis des Romanciers, das schon im Epos in der Heldenerinnerung, im außergewöhnlichen Schicksal sich artikuliert.50 Steht das epische Gedächtnis für die immer gleichen Wahrheiten des Laufs der Welt und ihre Vergegenwärtigung, gewissermaßen für das Exemplarische, so das romanhafte Gedächtnis für das Außerordentliche, das Inkommensurable; das Erinnern des Exemplarischen also als Form der Komplexitätsreduktion, die Erinnerung an das Außerordentliche als Bewältigungsform der Zeitlichkeit: ein anthropologisches Modell.
|| 47 Ebd., S. 453. 48 Assmann (Anm. 42), S. 27–62. Vgl. Assmann (Anm. 20), S. 66–86. 49 Benjamin (Anm. 18), S. 454–457. 50 Zur Famaproduktion als Faktor kultureller Erinnerung vgl. Assmann (Anm. 42), S. 38–48.
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Was hat das mit dem Parzival zu tun, speziell mit dem Erzählen vom Tod im Parzival? Wir haben gesehen, dass Wolfram in den höfischen Roman deutlicher als seine Zeitgenossen die Todesthematik einführt: ein Element der Heldenepik. Doch inszeniert Wolfram den Tod nicht aus der Perspektive einer eschatologischen Betroffenheit des Helden, sondern er verändert die Perspektive und überführt den Tod in einen anderen Sinnzusammenhang: den Minnetod. An die Stelle der Heilsgeschichte und des heroischen Todes treten Minne als Sinnerfüllungsmodell und Krise als Gravitationspunkt ritterlicher Bewährung. Wolfram gewinnt ein lebensweltliches Problem als Kontrapunkt zum Heilsweg des Helden, doch bleibt der Sinn anders als in der heilsgeschichtlichen Rahmung wiederholt problematisch, der Trost prekär. Dieser Minnetoten wird auf unterschiedliche Weise gedacht. In ihrer Serie sind sie Exempel für die fatale, aber unvermeidliche Verbindung von Minne und Kampf. Sie sind damit kein Einzelfall, sondern Beispiele für den Lauf der – ritterlichen – Welt.51 Wolfram zieht bekanntlich noch weitergehende Ringe um seine Minnetoten. Sie sind wiederholt auch Exempel für heilsgeschichtliche Konstellationen. Evident ist das bei Sigûne und Schîânatulander; aber auch die Konflikte um Isenhart und um Vridebrant lassen sich über die reine Minnethematik hinaus zum heilsgeschichtlichen Exempel perspektivieren. Aus einer übergeordneten Warte gewinnen der tragische Zweikampf zwischen Isenhart und Prôtyzilas und seine sozialen Folgen durchaus einen exemplarischen Sinn: Totschlag führt zu Feindschaft, führt zum Krieg, das ist die Lehre Trevrizents im neunten Buch, die er auf den ersten Brudermord zwischen Kain und Abel zurückführt: dô huop sich êrst der menschen nît: / alsô wert er immer sît. (464,21f.; ‚Erst jetzt wurde die Bosheit unter den Menschen groß, und sie dauert immer seitdem fort.‘)52 Auch die Theodizee besitzt offenbar einen mythischen Ursprung und hat ein offenes Ende, mithin eine genealogische Struktur. Entsprechend eskaliert der unglückliche Zweikampf zwischen Isenhart und Prôtyzilas, den einander Nahestehenden, zum Krieg. Obwohl die Erzählung Belacânes vom Tod des Isenhart die Komplexität der Verantwortung und der Schuldfrage darlegt, entspricht die Eskalation der Gewalt letztlich dem Lauf der Dinge, einer alten Weisheit: alsô wert er immer sît (464,22; ‚und sie dauert immer seitdem fort‘). Der besondere und der allgemeine Fall fallen zusammen. Und noch im Heldentod Gahmurets fallen beide Formen der Erinnerung zusammen. Die Erinnerung an Gahmuret, wie sie im gewaltigen Grabmal zum Ausdruck kommt, ist die an den außerordentlichen Helden, den einzigartigen Heros. Der Erzähler verortet aber auch diesen Tod noch auf einer allgemeineren Ebene als auf der der Heldenbiographie: Auch das Schicksal Gahmurets wird gleich zu Beginn
|| 51 In Anlehnung an Aristoteles (Metaphysik 1) ließe sich formulieren: Aus der Vielzahl der einander ähnlichen Erzählungen formiert sich Erinnerung und aus vielen Erinnerungen eine Erfahrung. 52 Alexandra Stein: wort und werc. Studien zum narrativen Diskurs im Parzival Wolframs von Eschenbach. Frankfurt a. M. 1993 (Mikrokosmos. 31), S. 39.
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vom Erzähler als Exempel für den Lauf der Welt angedeutet. Auf dem Höhepunkt seines und Herzeloydes Ruhms kündigt der Erzähler en passant den Umschlag in die Katastrophe an und greift dafür auf eine Allerweltsweisheit, aber eine Weisheit zurück: alsus vert diu mennischeit, / hiute freude, morgen leit. (103,23f.; ‚Aber so geht es den Menschen: heute Freude, morgen Leid.‘) Die Erzählung von Gahmurets Tod verbindet also epische Exemplarik und das romanhaft Inkommensurable: Gedenken an den Lauf der Welt, das Immer-Gleiche, und Eingedenken des außerordentlichen Falles. Zwei zentrale Funktionen des Erzählens werden selbst hier enggeführt. Sinn erfahren die Tode auch als Erfüllung der Heilsgeschichte (Kain/Abel) und als naturgeschichtliche Erfahrung (Freude/Leid). Das Verhältnis von Exemplarik und Einzigartigkeit, von erzählendem Gedenken und Eingedenken, die das Epos als die privilegierte Gattung der Erinnerung bewahrt, kehrt auf der Ebene der Heldenfiguren wieder. Beide Formen der Erinnerung entsprechen dem, was Claude Lévi-Strauss als kalte und heiße Erinnerung beschrieben und Jan Assmann als Basisfunktion des kulturellen Gedächtnisses reformuliert hat: Während das kalte Gedächtnis Geschichte im ewig gleichen Wechsel stillstellt, stiftet heiße Erinnerung über das Einbrechen des Ereignisses und seine Fixierung ein institutionelles Gedächtnis (z.B. Grabmal).53 Wie das Exempel, so spaltet sich die Geschichte untrennbar in zwei Formen auf: in die Serie des Immergleichen und in das Vorbild des Außerordentlichen.
4 Epos und Roman Die Frage nach Epos und Roman, ihren Darstellungsformen von Welt und ihrem Verhältnis zueinander, ist wohl eine der ältesten der Literaturwissenschaften, und sie durchzieht offenbar die gesamte Literaturgeschichte: antikes Epos und Antikenroman; Heldenepik und höfischer Roman im Mittelalter, im Barock die Opposition von heroischem Gedicht und hohem Roman; im 18. und 19. Jahrhundert schließlich die Verdrängung des Epos durch den Roman und das Aufkommen des modernen epischen Romans. Offenbar laufen alternative Erzählmöglichkeiten für das menschliche Leben und für das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft parallel, ehe sie im modernen Roman zusammenlaufen. Seit dem Aufkommen des modernen Romans im 18. Jahrhundert wird die Debatte von Romanciers und Theoretikern unterschiedlichster Couleur geführt. Ihr Ausgangspunkt war zum einen die scheinbar zeitlose Idealität der antiken Epen, ihr ästhetischer Maßstab, zum anderen aber auch ihre Alterität, die etwa darin sichtbar wird, dass die Moderne offensichtlich
|| 53 Assmann (Anm. 20), S. 68–70.
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keine Epen, zumindest keine von nennenswertem Rang, mehr hervorbringt und dass in Weltanschauung und Erzählweise gravierende Differenzen konstatiert wurden. Entsprechend hatte Hegel in idealistischer Manier das Epos über den Begriff der Totalität definiert und einen verlorenen ‚epischen Weltzustand‘ postuliert, in dem heroisches Subjekt und Gesellschaft zusammenfallen.54 Lukács und Benjamin haben das Epos durch sein Zeitmodell vom Roman unterschieden und dieses als eine anthropologische Kategorie eingeführt: Sinn und Totalität versus Sinnsuche in der transzendentalen Obdachlosigkeit.55 Bachtin hat dann Epos und Roman vor allem in politischer Hinsicht voneinander abgehoben, indem er von den in ihnen artikulierten Stimmen oder Erzählinstanzen ausging: demokratische Dialogizität der Freiheit gegen despotische Monologizität der Tradition.56 Offenheit und Geschlossenheit scheinen offenbar gegenläufig für Epos und Roman zugleich in Anspruch genommen zu werden. Der weltanschaulichen Geschlossenheit (Totalität) des Epos korrespondiert formal eine offene Struktur: die Serialität der Episoden, die über das genealogische Prinzip auch substantiell hinausweist.57 Der weltanschaulichen Offenheit des Romans korrespondiert, wenn man vom Subjekt aus denkt, eine geschlossene Form. Gerade weil es keine Jenseitsversicherung gibt, auch Genealogie dem Einzelnen nurmehr bedingten Trost bietet, steht das Leben ratlos vor seinem unausweichlichen Ende. Vor dem anthropologischen Hintergrund der Finalität des Lebens kann der Roman nur noch Surrogate sozialer Sinnbildung anbieten: Familie, Politik, Wissenschaft. Darin liegt die unaufhebbare Spannung von sozialem und anthropologischem Gehalt im Roman.58 Nur wenn man den Roman primär als eine
|| 54 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik. Hrsg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1970, S. 339–393; vgl. Hildegard Bartel: Epos – die Gattung in der Geschichte. Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegelschen ‚Ästhetik‘ anhand von Nibelungenlied und Chanson de Roland. Heidelberg 1982. 55 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt/Neuwied 1977; Benjamin (Anm. 18). 56 Bachtin (Anm. 21), S. 210–255; vgl. Ingrid Kasten: Bachtin und der höfische Roman. In: bickelwort und wildiu mare. Festschrift Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dorothea Lindemann, Berndt Volkmann, Klaus-Peter Wegera. Göppingen 1995 (GAG. 618), S. 51–70. 57 „Darum ist die Abenteuermasse einer Epopöe immer gegliedert und niemals streng geschlossen. [...] Das In-der-Mitte-Anfangen und Nicht-mit-dem-Ende-Schließen [...] hat seinen Grund in der begründeten Gleichgültigkeit der wahrhaft epischen Gesinnung gegen jeden architektonischen Aufbau.“ Vgl. Lukács (Anm. 55), S. 58; auch Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 31), S. 49, zitiert die Stelle. 58 Zuletzt hat Haiko Christians aus pragmatischer Perspektive die Frage nach dem Epos geradezu aufzulösen versucht, indem er sie als eine Projektion des 19. Jahrhunderts entlarvt: Hegels und Lukács’ Idealisierungen des Epos wären mithin Effekt einer sozial- und mediengeschichtlichen Umbruchsituation. Das Epos erscheint dann als Kunstprodukt einer Zeit, die gegen die Erfahrung sozialer Differenzierung und gegen veränderte Lesehaltungen, wie der vom Roman beförderten intensiven, auf Imagination ausgerichteten Lektüre, das Ideal einer kollektiven Dichtung setzt, die
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soziale Institution versteht, d. h. wenn man die Definitionsebene verschiebt, erhält er wieder eine offene Form. Auch über den Ursprung des Romans im Mittelalter ist viel geschrieben worden. Für die Germanistik sind hier exemplarisch Helmut De Boor, Max Wehrli und Walter Haug zu nennen. Während Hugo Kuhn noch vorsichtig vom „höfischen Epos“ als „Gerüstepik“ spricht, plädieren andere dezidiert für den Romanbegriff und die Romanform.59 Das Plädoyer für den Roman vollzieht sich vor dem Hintergrund inhaltlicher und formaler Argumentation. Nicht der Verlust weltanschaulicher (christlicher) Totalität macht hier den Einzelnen orientierungslos und bringt mit dem Roman eine neue Form der Lebensbewältigung hervor, sondern im Gegenteil: Erst durch den Einbruch des Christentums wird der Blick auf das Leben des Einzelnen gelenkt. Der Einbruch der Zeitlichkeit in die Figur mag eine Modernitätsschwelle sein, für die Suche nach dem Roman im Mittelalter wird er suspendiert. Die Grenzen zwischen Heldenepik und höfischem Roman liegen hier auf anderer Ebene als der der Zeitlichkeit.60 Sichtbar eröffnet sich mit dem Aufkommen des höfischen Romans eine Alternative des Erzählens sowohl über das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft als auch von Subjekt und Sinn. Je nach methodischem Ansatz ergeben sich allerdings andere Befunde. Die geistesgeschichtliche Perspektive deutet die neue Wegstruktur des höfischen Romans metaphorisch: „zum christlichen Leben gehört, unterwegs, auf der Suche, in Gefahr zu sein, […].“61 Solcher Lebensweg aber führt im Mittelalter trotz aller Irritationen immer zu einem vorgegebenen Ziel, zur Gabelung von Erlösung und Verdammnis. Kappt man das Ziel, wie die moderne Reflexion auf die Zeitlichkeit es tut, verändert sich auch die Teleologie der Wegmetaphorik und verlagert den Sinnhorizont in die Immanenz.62 || aus einer fernen Vergangenheit hervorgeholt wird. Die Umstellung der Fragerichtung auf die pragmatische Funktion, auf Einbettung in sozial- und mediengeschichtliche Kontexte, wie sie die politische Poetik vornimmt, eliminiert aber nicht die Frage nach dem Unterschied von Epos und Roman, auch wenn eine Kongruenz von Gattungs- und Gesellschaftssystem nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Haiko Christians: Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750–2000). Freiburg i. Br. 2004, S. 29–88, hier S. 53. 59 Hugo Kuhn: Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 41–61, hier S. 59; Wehrli (Anm. 23), S. 25–50; vgl. Fritz Peter Knapp: Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des Willehalms Wolframs von Eschenbach. Wien 1970. 60 Dabei leiten Hegels und Lukács’ Kategorien weiter die Orientierung: ‚Identität der Erzählwelt mit sich selbst‘ und ‚tragischer Untergang‘ im Epos versus ‚versteckter Sinn‘ und ‚ideelle Synthese‘ im höfischen Roman (Wehrli), ‚Repräsentation‘ versus ‚Exemplarität‘ (Fuchs); Sage versus Märchen (Jauss). 61 Max Wehrli: Iweins Erwachen. In: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge. Dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Hrsg. von Maria Bindschedler, Paul Zinsli. Bern 1969, S. 64–78, hier S. 72. 62 Vgl. Odo Marquard: Finalisierung und Mortalität. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996, S. 467–475; Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986.
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Wenn für den höfischen Roman die Wegstruktur und „die Suche nach der Totalität des Lebens“ als „handlungsbestimmende Momente“ ausgemacht werden, sind diese zwar weiterhin Lukács Parametern verpflichtet, sie sollen aber von ihren geschichtsphilosophischen, auch christlichen, Implikationen gelöst und in formgeschichtliche Bestimmungen überführt werden.63 Die strukturalistische Deutung geht diesen Weg. Wenn dem höfischen Roman aber trotz seiner ‚geschlossenen‘ Symbolstruktur auch formal in der lockeren Fügung der Episoden eine spezifische Unabgeschlossenheit und dem Helden ein ‚prinzipielles Unterwegs‘ attestiert wird, rückt der Befund schon verdächtig nahe an die moderne Konzeption des Romans.64 Von der transzendentalen Heimatlosigkeit des modernen Romans unterscheidet den höfischen Roman aber prinzipiell die fehlende subjektphilosophische Problematik, sei es als individueller Weg zu Gott oder sich selbst, sei es als Programm der Individualisierung. Das Subjekt verliert weder seinen metaphysischen noch seinen sozialen Sinnhorizont, letzterer ist allenfalls vorübergehend irritiert und wird in der Regel im Verlauf der Handlung wieder restituiert. Nicht das Leben selbst, sondern die Vergesellschaftung wird zum Problem, kann aber über den Einsatz des Helden wieder gefügt werden. Das Problem erweist sich eben nicht als eines der Psychologie der Zeitlichkeit, sondern der sozialen Werte und Rollen, deshalb dominiert auch eine finale und nicht kausale Motivationskette:65 Der Held des höfischen Romans fragt ebenso wenig ‚warum‘ wie der des Epos. Wie im Bildungsroman, doch nicht auf die Perspektive des Subjekts bezogen, wird der soziale Rahmen als verbindlicher Maßstab der Orientierung vorgegeben. Mittelalterliches Erzählen ist nicht auf den Begriff des Lebens bezogen, gerade weil Zeitlichkeit kein Problem ist. Die so genannten heroischen und höfischen Verhaltensmuster bilden soziale Entwürfe, sie führen aber gegenüber dem klassischen Epos immerhin schon die Konkurrenz sozialer Werte vor Augen. Koppelt die Heldensage von Gilgamesch an über Achill und Beowulf bis hin zum Hildebrandslied das Heldenleben schon an den Gedanken der Finalität des Daseins, fängt diese aber entweder christlich durch Transzendenz (Roland) oder sozial durch kulturelles Gedächtnis (Pallas, Camilla) auf, so bringt der klassische Artusroman die Wegstruktur und die Frage nach dem sozialen Sinn auf, ohne sie mit dem Lebens- und dem Todesthema in Verbindung zu bringen. Erst über die Verbindung des heldenepischen Todesthemas mit der arthurischen Wegstruktur nähert sich die Konstellation der Zeitproblematik, ohne in ihrer modernen Konfigu|| 63 Fuchs (Anm. 57), S. 48f. 64 Walter Haug sieht denn auch hier seinen Ursprung: das Ende des Romans, das höfische Fest als nur vorläufiger Abschluss, als stets bedrohter idealer Zustand der Gesellschaft, der einen neuen Angriff oder Aufbruch nach sich zieht. Walter Haug: Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers Ring. In: Das Fest. Hrsg. von dems., Rainer Warning. München 1989 (Poetik und Hermeneutik. 14), S. 157–179. 65 Fuchs (Anm. 57), S 7–81, hier S. 53.
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ration aufzugehen. Im Parzival erhält immerhin am Rande die Problematik des Todes Einzug in die Märchenstruktur. Der Parzival stellt in den verschiedenen Heldenentwürfen beide Modelle nebeneinander, rückt sie paradigmatisch aneinander, ohne sie syntagmatisch zu verbinden: die Wege Gahmurets, Parzivals und Gâwâns folgen unterschiedlichen sozialen Logiken. Stephan Fuchs’ Opposition von Repräsentanz und Exorbitanz einerseits und Exemplarität und Individualität andererseits für alternative Heldentypen von Heldenepos und höfischem Roman zielt auf einen zentralen Aspekt: der Held als Repräsentant des Kollektivs im Epos und der Held als Vorbild für das Kollektiv im Roman. Beide Heldentypen unterscheiden sich vom modernen Romanhelden darin, dass ihnen noch eine eminent gesellschaftliche Funktion für religiöse und soziale Gruppen zukommt.66 Beide konstituieren sich aber zugleich als inkommensurable Instanzen, die über das Kollektiv hinausweisen. In beiden treten nicht nur alternative soziale Identifikationskonzepte zutage, sie sind auch je für sich gespalten. Heros und Ritter realisieren bereits aufgrund ihres unterschiedlichen Referenzraumes ein anderes Verhältnis zum Kollektiv: ‚tatsächliche Gegebenheiten in der Geschichte‘ versus ‚imaginäre Möglichkeiten in einer Märchenwelt‘; ‚tragische Geschichtserinnerung‘ gegen ‚fiktive Erwartungshaltung‘;67 die Ablösung eines erinnerungswürdigen Ereignisses (‚Tat‘) durch den paradigmatischen Weg (‚Weltverhalten‘) des Vorbilds. In diesen Oppositionen deutet sich die Entgegensetzung eines historisch gewachsenen politischen Ethos und einer neu aufkommenden Verantwortungsethik an. Während das Heldenepos eine historisch eindringliche Erfahrung (Katastrophe) über eine Erzählform in Erinnerung überführt und sinnhaft modelliert, eine Erfahrung, die Held und Kollektiv untrennbar aneinander bindet, reduziert sich das fiktive Erzählmodell des höfischen Romans, die Symbolstruktur, auf den Weg des Einzelnen und den Appell zur Nachahmung.68 An die Stelle des Allgemeinen, das sich über historische Erfahrung induktiv aufbaut, tritt die abstrakte Verbindlichkeit der Allgemeinheit, die sich deduktiv über Normierung konstituiert. Wie der blutleere Musterritter Gawein wird der ritterliche Märchenheld zum generalisierten Ich sozialer Existenz hochgerüstet. Sowohl das Heldenepos wie der höfische Roman verhandeln das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft auf unterschiedliche Art, aber noch nicht als konstitutiven Bruch, wie er mit dem Bewusstsein der Zeitlichkeit eintritt. Die Spannung von Held und Kollektiv bildet nur eine historische Ausprägung der grundsätzlichen Spannung von Individuum und Gesellschaft. Konstituiert sich
|| 66 Ebd., S. 71. „Heroische Grenzerfahrung ist Erfahrung in der Geschichte und an der Geschichte“, so Haug (Anm. 24), S. 148. 67 Fuchs (Anm. 57), S. 71f. 68 Schon nach Aristoteles’ Bestimmung zielt Dichtung auf das Allgemeine, Geschichte auf das Konkrete. Poetik I,9.
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die Identität eines Menschen über die Relation zur Gemeinschaft oder außerhalb derselben? Das ist systemtheoretisch mit Inklusions- und Exklusionsidentität beschrieben und auf die Differenz vormoderner und moderner Gesellschaften bezogen worden.69 Die Opposition ist aber hilfreich, um selbst die besonderen Spannungen sozialer Identitätsbildung im Mittelalter jenseits aller modernen Identitätsproblematik zu beschreiben. Zwar sind im Mittelalter Stand und Genealogie unabdingbare Indikatoren einer substantiell und relational verankerten Inklusionsidentität, doch weisen die Heldenmodelle des heroischen und höfischen Erzählens darüber hinaus. Der Gedanke, dass soziale Identität sich aus einem Zugehörigkeits- und einem Unterscheidungsfaktor zusammensetzt, lässt auch die innere Spannung höfischer und heroischer Identitätskonzepte in einem anderen Licht erscheinen:70 Repräsentanz und Exorbitanz hier, Exemplarität und Individualität dort. Zur sozialen Identität des Heros wie des Ritters gehört es auch, sich von allen anderen zu unterscheiden.71 Das soziale Medium dieser ‚individuellen‘ Profilierung ist im Mittelalter oder besser in den mittelalterlichen Epen die Gewalt: Sozial wird nur der Stärkste prämiert. Vergesellschaftung erfolgt nach dem Prinzip der Unterwerfung, die immer eine Hierarchie impliziert.72 Der Heros wird erst dann zum Helden, wenn er die Grenzen des Kollektivs selbstmächtig überschreitet, noch im spektakulären Ende: „Daß der Tod heroisch ist, heißt, daß man ihn als Untergang eines Siegers stilisiert. Siegen und Sterben gehören hierbei in eigentümlicher Weise zusammen.“73 Analog impliziert auch die Ethik des höfischen Ritters ein plus ultra, das erst an der Spitze der sozialen Geltungspyramide zum Stillstand kommt. Das feudale Wertesystem basiert auf der unaufhebbaren Spannung von überlegener Gewaltdemonstration und der Notwendigkeit sozialer Integration. Das symbolische Feld, auf dem dieser Konflikt – real und narrativ – ausgetragen wird, ist die Ehre. Soziale Identität konstituiert sich über
|| 69 Vgl. Jan-Dirk Müller: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann. Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion. 46), S. 47–64, hier S. 49f.; Cornelia Bohn, Alois Hahn: Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung. Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft. In: Identität und Moderne. Hrsg. von Herbert Willems, Alois Hahn. Frankfurt a. M. 1999, S. 33–61; Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt a. M. 2000. 70 Odo Marquard: Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz – Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. In: Identität. Hrsg. von dems., Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. 8), S. 347–369, hier S. 347, 369 u. 362; vgl. Koch (Anm. 14), S. 70. 71 Zum Heros vgl. die Diskussion bei Fuchs (Anm. 57), S. 69–81, hier S. 74. 72 Udo Friedrich: Unterwerfung. Das Dispositiv der Gewalt im Mittelalter. In: Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal, Achim Geisenhanslüke. Heidelberg 2006 (Diskursivitäten. 10), S. 141–165; Rüdiger Schnell: Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 103–133. 73 Haug (Anm. 24), S. 149.
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Ehre, die zum einen die Integration einer elitären Gruppe stabilisiert und ‚Distanz und Exklusivität‘ als Unterscheidungsmerkmal gegenüber niederen sozialen Gruppen etabliert.74 Zum andern reguliert sie über Ehrenkämpfe (Aventiure, Turnier, Jagd etc.), die soziale Sinnfiguren anschaulich machen, aber auch eine Hierarchie, d. h. Exklusivität und Distanz, untereinander. Der höfische Roman verdoppelt nur die Aktionsfelder, wenn er die zentrale Sinnfigur der Ehrenkämpfe – Gewaltüberlegenheit – um die Instanz der Moral ergänzt: der Stärkste auch als der Gute, ein narrativiertes Herrschaftsideal, das diskursiv auch in den Fürstenspiegeln verhandelt wird. Man kann die Gegenläufigkeit von Heldenepik und höfischem Roman nicht allein aus den Erzählmodellen ableiten. Die diesen inhärenten Spannungen in Bezug auf das Heldenbild sind solche der Adelskultur selbst. Indem die Feudalgesellschaft sich über Rivalität konstituiert und eine Dynamik von Gewalthandeln in Gang setzt und hält, gerät sie sozial in die permanente Spannung von Regelbefolgung und Regelüberschreitung. Die Taten des Heros und der Weg des höfischen Ritters zielen zwar auf verschiedene Identitätskonzepte, doch ist beiden gemein, dass sie Exklusion im Sinne von Überbietung (Rekord/recordari) nur innerhalb der Inklusion realisieren: als Opfer oder als Vorbild für das Kollektiv, d. h. als Personifikationen eines sozial anerkannten Grenzwertes. Weder hermeneutisch noch strukturell stehen Held (Teil) und Kollektiv (Ganzes) in einem Verhältnis wechselseitiger Dynamisierung, wie es in der Moderne sich einstellt. Es bezeichnet geradezu die vormoderne Signatur mittelalterlicher Heldenerzählungen, seien es heroische oder höfische, dass es zu keinem wirklichen hermeneutischen oder ‚strukturalen‘ Zirkel kommt: Das soziale System und seine Werte sind geschlossen, so dass der Einzelne sich nur innerhalb des Ganzen bewegen, es aber nicht als System dynamisieren oder verändern kann.75 Roland Barthes hatte das Epos von der Erzählform her bestimmt und auf seine mangelnde Konzeptionalität hingewiesen: als „Gesamtheit mannigfaltiger Fabeln“, als „eine auf funktioneller Ebene gebrochene, aber auf der Aktantenebene einheitliche Erzählung“.76 Gegenüber dem Epos mit seiner seriellen Anordnung der Episoden zieht der höfische Roman historisch eine andere Form von Erzählordnung ein: ‚Gerüstepik‘ nennt sie Hugo Kuhn, ‚Symbolstruktur‘ Walter Haug. Im höfischen Roman wird die Serie der Episoden in einem ‚programmatischen Zusammenhang‘ aufgefangen.77 Die Gegenüberstellung von ‚Episode‘ und ‚Ereignis‘ einerseits, ‚Geschehenszusammenhang‘ und ‚Ganzes von Welt und Weltverhalten‘ andererseits zeigt, dass die alternativen Heldenentwürfe ihnen entsprechende Erzählordnungen || 74 Zur Logik der Ehre vgl. Ludgera Vogt: Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenzierung. Macht. Integration. Frankfurt a. M. 1997 (Suhrkamp-Taschenbuch. 1306), S. 104–115. 75 Der Habitus der Figuren, d. h. die „im Prozeß der Sozialisation erworbenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster“, sind durch und durch soziale. Vgl. Vogt (Anm. 74), S. 118. 76 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988 (edition suhrkamp N.F. 441), S. 102–143, hier S. 121. 77 Kuhn (Anm. 59), S. 59.
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finden: ‚aggregative Rekonstruktion‘ versus ‚Konstruktion‘, ‚Erfahrung‘ versus conjointure, historia versus argumentum (Fiktion). Dass der neue Erzählzusammenhang des höfischen Romans auch ein moralischer ist, konstatiert Fuchs, dass er sich im literaturgeschichtlichen Prozess an heilsgeschichtlichen Mustern ausrichtet, haben Hugo Kuhn, Max Wehrli, Rainer Warning und zuletzt Bruno Quast betont: der Weg als Heilsweg.78 Paradigmatik dominiert dort, wo imitatio zum Gebot, wo ein Gesetz des Handelns angeboten wird, exemplarisch vorgeführt an einem Vorbild, in dessen Spur man sich begeben soll: ‚Ich soll ein anderer werden‘: ein Substitutionsvorgang.79 Wie das Heldenepos auch den mitleidenden Helden der Legende in sich aufnehmen kann, so zehrt auch der programmatische Zusammenhang, die Gerüststruktur des neuen Romans, vom Narrativ der Legende, das syntagmatisch die Wegstruktur eines Lebens, paradigmatisch das Vorbild und damit pragmatisch den Appell zur imitatio vorgibt. Die Legende ist die exemplarische Form der imitatio, und sie stiftet nicht nur das Syntagma des Weges und damit die Perspektive des Subjekts, von der aus das Geschehen organisiert wird, sondern auch das Paradigma des Vorbilds: Christus werden.80 Es wären somit Erzählfigurationen religiöser Art – narrative Muster der Legende (z. B. conversio, incognito, Liminalität) oder Paradigmen wie das Figuralschema –, die im Übergang vom Epos zum Roman wirksam werden
|| 78 Kuhn (Anm. 59), S. 58f., rekonstruiert einen „literaturgeschichtlichen Zusammenhang“ von Ezzos Gesang über das Annolied, die Kaiserchronik, Lamprechts Alexander und Veldekes Eneasroman, der über die dynamische Struktur der ‚Gerüstepik‘ zusammengehalten wird; Wehrli (Anm. 23), S. 25–50; Warning (Anm. 7), S. 25–59; Bruno Quast: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Strohschneider. Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos. 64), S. 111–128. 79 „Das Vorbild ist das lebende und zum Leben wiedererweckte Gesetz; es ermöglicht, die Gegenwart zu beurteilen und sie einem Gesetz zu unterwerfen, das stärker ist als sie selbst“; Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2001, S. 85. 80 Jolles (Anm. 9), S. 23–59. Nur auf den ersten Blick klingt in einem Satz des Wilhelm Peraldus ein modernes Subjekt an: Qui vult navem regere, ponit se in fine navis; sic sapiens consideratione finis regit se in his quae sunt ad finem. (‚Wer ein Schiff lenken will, stellt sich an das hintere Ende des Schiffs; so lenkt der Weise das Schiff seines Lebens, indem er sich durch Betrachtung des Todes dahin stellt, wo das Ende seines Lebens ist.‘) Wilhelm Peraldus: De instructione filiorum nobilium III,9. In: Thomae Aquinatis […] opera omnia. Hrsg. von S. Eduard Fretté. Paris 1875. Bd. 27, S. 597; dt.: Die Pflichten des Adels, übers. von Emmanuel von Ketteler. Mainz 1868, S. 184. Der christliche Weg ist aber immer schon auf ein vorgegebenes Ziel fixiert: Quam purgationem quasi ambulationem quandam et quasi navigationem ad patriam esse arbitremur. Non enim ad eum, qui ubique praesens est, locis mouemur, sed bono studio bonisque moribus. Sancti Avrelii Augustini: De doctrina Christiana (CCSL XXX, 4,1). Tvrnholti 1962, I,X, 10. (‚Wir wollen annehmen, daß diese Reinigung sozusagen eine Wanderung und gleichsam eine Schifffahrt in die Heimat ist. Denn zu ihm, der überall gegenwärtig ist, bewegen wir uns nicht durch räumliche Dimensionen, sondern durch gutes Bemühen und gute Sitten.‘) Augustinus: Die christliche Bildung. Übers. von Karla Pollmann. Stuttgart 2002, Erstes Buch, X,10, 22.
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und dem Erzählen vom Helden neue Möglichkeiten einschreiben.81 Über die Wegstruktur rücken Lebensmomente und Moral in die Erzählung vom Helden ein, nicht aber das Leben selbst, dessen Problematik an die Erfahrung von Zeitlichkeit gebunden ist. Wie ist nun der Befund zu deuten? Schon Bachtin sieht den Roman in Antike und Mittelalter beginnen, und er bezeichnet Wolframs Parzival explizit als „ersten zweistimmigen deutschen Roman“, den späteren Ritterroman aber ordnet er noch der monologischen Tradition zu.82 Es gibt gute Gründe, die neue höfische Erzählform schon als romanhaft zu beschreiben. Cornelia Schu hat auf Bachtins Thesen ihre Dissertation über die Romanhaftigkeit des Parzival aufgebaut. Sie identifiziert sowohl auf der Diskurs- wie auf der Figurenebene so genannte ‚Mehrfachmotivierungen‘, sie konstatiert eine Ambivalenz der Figuren, etwa Gahmurets, die die Komplexität der ‚Charaktere‘ erhöhe.83 Ruth Sassenhausen deutet den Parzival literaturpsychologisch als Entwicklungsroman. Indem Wolfram gegenüber Chrétien die psychologische Entwicklung seines Protagonisten profiliere, vollziehe er den Übergang vom höfischen Epos zum Roman.84 Annette Gerok-Reiter arbeitet historische Formen von ‚Individualität‘ aus den höfischen Romanen heraus. Sie unterscheidet ihre Individualitätsmodelle zwar sehr genau von modernen, indem sie aus der Überlagerung und Homogenisierung heterogener Erzähl- und Normenwelten ‚abnorme‘ Figuren mit potentiellen Freiräumen herausarbeitet, aber auch für sie sind damit Entwicklungsmöglichkeiten des romanhaften Erzählens indiziert.85 Die Romanhaftigkeit des neuen historischen Erzähltyps kann überdies in der Identität einer Erzählerrolle festgemacht werden, die die heterogenen Erzählschemata zur Einheit bündelt.86 Karlheinz Stierle hat schließlich die Romanhaftigkeit der Werke Chrétiens am Phänomen der Erinnerung festgemacht. Der Roman habe nicht nur ein konstitutives
|| 81 Für Max Wehrli liegt der Übergang vom Epos zum Roman in den Auswirkungen des Christentums begründet, das im Artusroman die Vita der Heiligenlegende und die Idealität des Märchens verbindet. Die Mehrschichtigkeit des Sinns entstamme der Allegorese, die Symbolik der Märchenwelt der doppelten Wirklichkeit des Christentums, die gegenüber der epischen Episodenserie dominante Episodenstruktur ist in religiöser Dichtung vorgeprägt; die Traditionsverpflichtung (‚Wiedererzählen‘) weist Analogien mit der christlichen Exegese auf. Hinzu treten zahlreiche direkte oder angespielte christliche Motivreihen. Wehrli (Anm. 23), S. 25–50. 82 Michail M. Bachtin: Die beiden stilistischen Linien des europäischen Romans. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel. Frankfurt a. M. 1979 (Edition Suhrkamp. 967), S. 251– 300, hier S. 260. 83 Cornelia Schu: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit des Parzival. Frankfurt a. M. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. 2), S. 439. 84 Ruth Sassenhausen: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung. Köln 2007; Kasten (Anm. 56), S. 51–70. 85 Annette Gerok-Reiter: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik. Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica. 51), S. 291–308. 86 Warning (Anm. 7), S. 25–59.
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Verhältnis zur Schriftlichkeit, sondern auch ein ästhetisches, er bestimme sich als „Ästhetisierung der Schriftlichkeit wie als Ästhetisierung des Gedächtnisses“.87 „Ästhetisierung der Schriftlichkeit heißt hier, daß das, was die Gedächtniskultur der Schrift ausgrenzt, die Unverfügbarkeit der Erinnerung, selbst in die Schrift hereingeholt wird.“88 Diese dem Proust’schen Erinnerungskonzept abgelesene Perspektive spürt spezifische Formen der Erinnerung in mittelalterlichen Erzählungen auf und wertet sie als Index von Modernität. Klaus Ridder hat in Bezug auf den Parzival daran angeknüpft: „Figurenerinnerung und Erinnerungsstruktur verweisen als Ausprägung von Subjektivität auf eine Poetik des Erinnerns und Vergessens, die ins Zentrum der Sinnvermittlung des Romans führt.“89 Aus dieser Perspektive ist „Parzivals Weg zu sich selbst ein Weg des Erinnerns.“90
* Fokalisierung, Dialogizität, Entwicklung, Emotionalität, Individualität, Unverfügbarkeit der Erinnerung: Es sind dezidiert moderne Begriffe, unter denen der Parzival gegenwärtig in den Blick gerät, wobei die Begriffe auf ihre historische Adäquatheit zugeschnitten werden. Indem Alterität gegenüber den modernen Semantiken postuliert, aber auch auf Differenz zum heldenepischen Typus insistiert wird, eröffnet sich ein Zwischenraum für die Beschreibung von historischen Formen des Erzählens. Die Versuche, moderne Konstellationen in mittelalterlichen Texten aufzudecken, haben viel zur genaueren Lektüre beigetragen. Sie bieten überdies eine Gelegenheit, gegenüber historischen Erzählungen Distanzen abzubauen. Mit der Historisierung der modernen Terminologie geht aber bisweilen auch ihre Semantik und deren spezifisch moderne Funktion verloren. Dass Wolframs Erzählkonzept des Changierens zwischen Oppositionen modernen Darstellungstechniken entgegenkommt, ist unbestritten und an seinem Metapherngebrauch eindrücklich demonstriert worden.91 Die Anwendung moderner Terminologien und Perspektiven sollte aber als Korrektiv die Vermittlung mit dem Tradierten und die spezifisch historischen Bedingungen der Textproduktion nicht aus dem Auge verlieren. Ansonsten
|| 87 Der Einsamkeit und Sinnsuche des Helden im Wald korrespondiere die Einsamkeit und Sinnsuche des Lesers im imaginären Raum seines Buches. Karlheinz Stierle: Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift. Über den Ursprung des Romans bei Chrétien de Troyes. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hrsg. von Anselm Haverkamp, Renate Lachmann. München 1993 (Poetik und Hermeneutik. 15), S. 117–159, hier S. 118. 88 Ebd., S. 119. 89 Klaus Ridder: Parzivals schmerzliche Erinnerung. In: LiLi 114 (1999), S. 21–41, hier S. 22. 90 Ebd., S. 30. 91 Vgl. Stephan Fuchs-Jolie: al naz von roete (Tit. 115,1). Visualisierung und Metapher in Wolframs Epik. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas de Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hrsg. von John Greenfield. Porto 2004, S. 243–278.
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droht ihr ein Schicksal, das Claude Lévi-Strauss den Bemühungen attestiert hat, die anthropologische Grenze zwischen Tier und Mensch aufzulösen, indem man immer dezidierter die Rationalität der Primaten nachzuweisen suchte. Je mehr man Material anhäufe, so Lévi-Strauss’ Kritik, umso größer werde die Kluft.92 Erinnerung aus der Figurenperspektive ist als ein zentrales Thema Chrétiens und Wolframs beschrieben worden: ein Modernitätsphänomen. Wolfram setzt aber dagegen einen doppelten Diskurs des kulturellen Gedächtnisses, der als Gegendiskurs zur Märchenstruktur des höfischen Romans angelegt scheint. Wolfram pointiert dies gerade gegenüber Chrétien. Figuren und Inszenierungsformen des kulturellen Gedächtnisses lassen sich ausmachen, die über inserierte Erzählungen inszeniert werden, Figuren, die den einzelnen in Genealogien und Exemplarik auflösen und ihn doch wieder als Besonderen hervorheben. Wolfram hält offenbar auch hier die Spannung zwischen Oppositionen aufrecht, zwischen epischem und romanhaftem Gedächtnis. Am Beispiel der Todesthematik, der Erzählung vom Tod und der Erinnerung als Bewältigungsform, wird deutlich, dass es sich um eine spezifisch mittelalterliche Konstellation handelt, in der das epische und romanhafte Gedächtnis noch zusammenfallen, moderne Zeitlichkeit aber, transzendentale Obdachlosigkeit, findet sich noch nicht. Auch bei Wolfram bleibt der Mensch angesichts des Todes erlösungsbedürftig (Anfortas), und er rechnet weiter mit dem Eingriff höherer Mächte.
|| 92 „So wird der Graben, den man durch tausend einfallsreiche Beobachtungen zu füllen hoffte, in Wahrheit nur versetzt und erscheint noch unüberwindlicher“. Claude Lévi-Strauss: Natur und Kultur. In: Ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 49.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter Wer sich als Literatur- oder Kulturwissenschaftler mit historischen Objekten beschäftigt, befindet sich immer schon in einer Verlegenheit. Gegenüber den formalen Wissenschaften fehlt ihm die logische Stringenz, gegenüber den empirischen die eindeutige Referenz. Klare und deutliche Begriffe und strenge Funktionalität kennzeichnen das Wissenschaftsethos einer Zeit, die sich im Gefolge der Aufklärung als rationale versteht. Literatur und Kultur bilden aber offenbar Objektbereiche, die sich in vielerlei Hinsicht harten Rationalitätsansprüchen nur schwer fügen, woraus die Rede von den zwei Kulturen resultiert. Die Literaturwissenschaft hat sogar explizit den Bereich der Ästhetik ausgegrenzt, der eigene Rationalitätsstandards reklamiert: anschauende Erkenntnis, ästhetische Rationalität. 1 Aber auch innerhalb der Literaturwissenschaft ist umstritten, ob die methodischen Verfahren sich an denen der Naturwissenschaften orientieren oder der Komplexität des Gegenstandes angepasst werden sollten: Analytische Hermeneutik und Semiotik stehen sich hier in harter Front gegenüber. Historisch artikuliert sich die Spannung zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit in der klassischen Konkurrenz von Logik und Rhetorik. Während jene über die strenge Form des Syllogismus auf Wahrheit rekurriert, entfaltet diese über den Schluss aus wahrscheinlichen Prämissen – das Enthymem – das komplexe Feld von Geltungsansprüchen, die auf jene Wirklichkeiten sich beziehen, „in denen wir leben“ (Blumenberg) und die über rein rationale Parameter nicht zu bewältigen sind. 2 Der Bereich der Wirklichkeit geht nicht in dem der Wahrheit auf. Wenn Aristoteles das Funktionsspektrum des Enthymems in der Gewohnheit lokalisiert, markiert er zwar die Differenz von Natur („immer“) und Kultur („oft“), ebnet diese aber zugleich wieder ein: consuetudo altera natura. 3 Die Gewohnheit ist etwas der Natur Ähnliches, sie wird als Vermittlungsinstanz zwischen Natur und Kultur geschaltet, so dass sie eine lose, ambige Verbindung zur Natur besitzt. Das betrifft sowohl die Spannung zwischen vermeintlichen Charaktereigenschaften (Physiognomik) und der Habitualisierung ethischer Programme als auch den Rekurs auf Argumentationsfiguren des Enthymems, die über ihre Konventionalisierung eine beinah natürli 1 Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff. München 1997 (Bild und Text). 2 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981 (RUB. 7715), S. 104–136. 3 „Denn die Gewohnheit ist etwas der Natur Ähnliches. So steht nämlich das Oft dem Immer nahe. Es gehört aber die Natur in den Bereich des Immer, dagegen die Gewohnheit in den Bereich des Oft.“ Aristoteles: Rhetorik. Übers., mit einer Bibliographie u. einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1980 (Uni-Taschenbücher. 159), I,11. https://doi.org/10.1515/9783110772340-016
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che Evidenz erhalten haben:4 Sprichworte, Exempel und Metaphern liefern Prämissen und Schlüsse nicht für logische (syntagmatische), sondern für psychologische (paradigmatische) Argumentationen. Die Rhetorik bezieht ihre Geltungsansprüche aus einem Grenzbereich von Natur und Kultur, aus kulturellen Erfahrungen, die aber die Option besitzen, dass es immer auch anders sein kann. Dem tertium non datur der Logik wird ein Feld von Geltungsansprüchen gegenübergestellt, in dem nicht nur das tertium datur gilt, sondern auch je nach Situation das gleiche Argument in gegenläufiger Richtung verwendet werden kann. Die Rhetorik operiert im Rahmen topischer Argumentation mit dem Axiom des in utramque partem.5 Exemplarisch kann eine Fabel Äsops dieses Prinzip illustrieren. Als die Sau im Streit mit der Hündin lag und ihr bei Aphrodite drohte, sie zu zerfleischen, kontert diese, die Sau handle gerade deshalb ganz falsch, weil ja Aphrodite Schweine so hasse, dass sie einem, der Schweinefleisch gegessen habe, nicht in ihren Tempel eintreten lasse: Da unterbrach sie die Sau und sagte: ‚Aber, meine Liebe, das macht sie ja nicht aus Hass, sondern aus Vorsorge, damit keiner mich schlachtet.‘
Das Epimythion bringt die Ambiguität der Argumentation auf den Punkt: „Ebenso modeln die klugen Redner oft auch die Schmähungen ihrer Gegner in Lob um“.6 Die Fabel reflektiert hier nicht auf eine Moral, sondern auf eine Argumentationsfigur, und sie stellt die Relativität rhetorischer Geltungsansprüche selbst aus. Anders als in der Logik können innerhalb der Rhetorik sogar gegenläufige Wahrscheinlichkeiten zugleich Geltung beanspruchen, wie sie etwa in der Pragmatik des Sprichworts sichtbar werden: „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ – „Gegensätze ziehen sich an“ oder „Verlass nie die öffentliche Straße wegen irgendeines Pfades“ – „Gehe durch den schmalen Weg und verlasse den breiten.“7 Im rhetorischen Argumentationsspektrum wird nicht nur die logische Relation des Entweder-Oder durch die rhetorische des Sowohl-Als-Auch ersetzt, die zitierten Wegsprichworte markieren || 4 Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68–91, hier S. 81. 5 Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976, S. 36. 6 Äsop: Fabeln. Griechisch/Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Voskuhl. Nachwort von Niklas Holzberg. Stuttgart 2009 (RUB. 18297), S. 211. Die Option, Semantiken je nach Situation anders metaphorisch zu modellieren, hat die christliche Allegorese mit dem Deutungsverfahren in bonam et malam partem für ihr eigenes Weltbild moralisch reduziert. 7 Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begr. von Samuel Singer. Hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Bd. 12 (2001), S. 401f.; vgl. Alois Hahn: Zur Soziologie der Weisheit. In: Weisheit. Hrsg. von Aleida Assmann. München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 3), S. 47–57, hier S. 49.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
überdies schon die Konkurrenz von pragmatischer und übertragener Redeweise. Wie die Bewältigung komplexer Lebensverhältnisse es mitunter erfordert, das gleiche Argument in entgegengesetzter Richtung zu verwenden, so kann man auch durch verschiedene Mittel zum gleichen Ziel gelangen. 8 Die Rhetorik besitzt ein methodisches Bewusstsein von der Ambiguität der Sprache, dass man mit den gleichen Worten anderes und mit anderen das Gleiche sagen kann. 9 Die Ironie und die Kippfiguren der Komik, beides im Grunde metaphorische Operationen, legen hierfür nur besonders eindrücklich Zeugnis ab. Rhetorische Argumentation basiert auf aus Erfahrungen abgeleiteten paradigmatischen Regeln, die weder wahr noch falsch, sondern nur wahrscheinlich sind, aber dennoch Geltung reklamieren. Ihr sozialer Ort ist das kollektive Gedächtnis, das Regeln mittlerer Reichweite zur Verfügung stellt. 10 Was die Antike aber über die Gewohnheit etabliert hatte, einen Raum relativer, aber konventionalisierter Geltungsansprüche, hat die moderne Ethnologie als Common Sense (Geertz), die Wissenssoziologie als Habitus (Bourdieu) und Institutionalität (Luhmann), die Literaturwissenschaft als „gesellschaftliche Einbildungskraft“ (Bornscheuer) reformuliert. 11 Common Sense bezeichnet die Fähigkeit, aufgrund von Erfahrung mit der Alltagswirklichkeit umzugehen. 12 Dass diese weniger den Regeln der auf Eindeutigkeit ausgerichteten Logik als denen der auf Pluralisierung angelegten Topik folgt, hat die Ethnologie in der Beschreibung einer Vielzahl kultureller Konventionen hinreichend dargestellt. Bereits Montaignes Essay über die Gewohnheit hatte in seiner schier endlosen Liste absonderlicher Konventionen auf die Relativität kultureller Regeln aufmerksam gemacht. 13 Im Umgang mit natürlicher Devianz etwa kann der Common Sense exkludierend oder inkludierend verfahren, Devianz kann aber
8 In diesem Sinn ist der Eingangsessay Montaignes paradigmatisch: Durch verschiedene Mittel gelangt man zum gleichen Ziel. Michel de Montaigne: Essais. Auswahl und Übertragung von Herbert Lüthy. Zürich 1953, S. 55–60; Karlheinz Stierle: Montaigne und die Erfahrung der Vielheit. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hrsg. von Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle. München 1987 (Romanistisches Kolloquium. 4), S. 417–448. 9 H. K. Kohlenberger: Art. Ambiguität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971), Sp. 201–203, hier Sp. 202. 10 Nicolas Pethes, Jens Ruchatz, Stefan Willer: Zur Systematik des Beispiels. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hrsg. von dens. Berlin 2010 (LiteraturForschung. 4), S. 7–59, hier S. 13. 11 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1979, S. 171; Clifford Geertz: Common Sense als kulturelles System. In: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Hrsg. von dems. Frankfurt a. M. 1999, S. 261–288; Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2. erw. Aufl. Stuttgart 1973, S. 17–23; Bornscheuer (Anm. 5). 12 Geertz (Anm. 11), S. 261–288. 13 Montaigne (Anm. 8), I,23, S. 155–171.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter auch beiden Strategien zugleich unterliegen. 14 „Wir sahen ja bereits, daß sein [des Common Sense] jeweiliger Inhalt genau wie bei Kunst, Religion und dergleichen je nach Ort und Zeit viel zu stark variiert, als daß man hoffen könnte, eine eindeutig bestimmbare Konstante in ihm zu finden, einen Urdiskurs, den man sich überall erzählt.“ 15 Common Sense-Wissen lässt sich somit weder vollständig systematisch klassifizieren noch infrage stellen, es erfordert daher eine topische Ordnung. Pierre Bourdieu verortet seinen Entwurf einer Theorie der Praxis zwischen Objektivismus und Subjektivismus, der Habitus bezeichnet eine erworbene Haltung (Gewohnheit), die „notwendig und relativ-autonom in einem“ ist und die als ein System „dauerhafter und versetzbarer Dispositionen“ aufgefasst werden muss: Als „Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix“ operiert der Habitus mit Hilfe der „analogischen Übertragung von Schemata“, die Bourdieu explizit mit dem metaphorischen Verfahren relationiert. 16 Wenn sich das Subjekt über Erfahrungsbildung und Rollenentwurf einen vertrauten, aber flexiblen Habitus (ein Selbstbild) aneignet, so mutiert dieser zur „Natur gewordene[n] Geschichte [...], die als solche negiert weil als zweite Natur realisiert wird.“ 17 Niklas Luhmann bezeichnet solche Handlungen, die weder notwendig noch unmöglich sind, als kontingent. 18 In soziologischer Perspektive wird ihm Kontingenz zum Grundproblem einer conditio socialis, die den Menschen immer schon vor mehr Möglichkeiten stellt, als realisiert werden können. 19 Solche Komplexität wird durch Institutionen reduziert, die dadurch Vertrauen stiften, dass sie die soziale Interaktion in Regeln fassen und jenseits aller strengen Notwendigkeiten konventionalisieren. „Das Primärwissen über die institutionale Ordnung ist vortheoretisch. Es ist das summum totum all dessen, ‚was jedermann weiß‘, ein Sammelsurium von Maximen, Moral, Sprichwortweisheiten, Werten, Glauben, Mythen und so weiter, dessen Integration eine beträchtliche geistige Kraft benötigt.“ 20 Zwar wird das institutionelle Regelsystem so erfahren, als ob es Natur wäre, 21 doch besitzt es nicht die gleiche Verbindlichkeit wie das der Natur, es erweist sich immer auch als veränderbar.
14 Noch mehr als Zwillinge fordert Intersexualität den Common Sense heraus. Der Hermaphrodit ruft je nach Kultur Abscheu, aber auch Bewunderung und Verehrung, schließlich Gleichgültigkeit hervor. Geertz (Anm. 11), S. 271–275. 15 Geertz (Anm. 11), S. 276. 16 Bourdieu (Anm. 11), S. 169f. 17 Bourdieu (Anm. 11), S. 171. 18 Niklas Luhmann: Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft. In: Beobachtungen der Moderne. Hrsg. von dems. Opladen 1992, S. 93–128, hier S. 96. 19 Luhmann (Anm. 11), S. 4f. 20 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 1980 (Fischer. 6623), S. 70. 21 Ebd., S. 63.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
An die Stelle binärer Schematisierung (wahr–falsch, gut–böse etc.) und strikter Unterscheidungen treten spannungsgeladene Relationen, für die Moderne und Postmoderne eigene Terminologien entwickelt haben: différance, in between space, negotiations, re-entry, Paradigma, Hybridisierung, Paradoxie und nicht zuletzt metaphorische Interaktion, Termini, die auf den Wandel kultureller Axiome in Richtung auf eine „Figur des Dritten“ hinweisen. 22 Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich eine Vielzahl kultureller Konstellationen dem Binarismus der Logik entzieht. Ambiguität erweist sich so als terminologische Reformulierung eines alten skeptischen Befundes, den Moderne und Postmoderne in theoretische Modelle überführt haben. Wenn überdies „Ambiguität im Begriff des Revolutionären“ selbst festgemacht wird und „Unbestimmtheit als Zeitsignatur“ der Moderne erscheint, zeigt das eine veränderte Basis kultureller Selbstbeschreibung an. 23 Das Ende der Geschichtsphilosophie und die Skepsis gegenüber grands récits haben das Telos kollektiven Handelns unsicher werden lassen, aber auch die Frage nach Kausalitäten hat ihre Eindeutigkeit verloren. 24 Phasen der Ambivalenz macht Niklas Luhmann entsprechend für seine Evolutionsgeschichte der Institutionen geltend, die aus der Spannung gegenläufiger Kräfte Energien potentieller Entwicklung gewinnen. 25 Noch was sich als Errungenschaft der Moderne präsentiert hatte, die Verzeitlichung der Geschichte (Koselleck, Lepenies) gegenüber der topisch organisierten exemplarischen Geschichtsschreibung, erweist sich mittlerweile als Ambiguität von Geltungsansprüchen, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. 26 Ge-
22 Eva Eßlinger [u. a.] (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a. M. 2010. 23 Klaus Lichtblau: Soziologie und Zeitdiagnose. Oder: Die Moderne im Selbstbezug. In: Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart. Hrsg. von Stefan Müller-Doohm. Frankfurt a. M. 1991 (Edition Suhrkamp. 1662), S. 7–47, hier S. 23f. 24 Wie die Evolutionstheorie der Natur die Relationierung von Natur und Umweltbedingungen in den Blick nimmt, um die Vielfalt der Arten zu erklären, so beschreibt die Systemtheorie soziale Komplexität aus Differenzierungsprozessen von System und Umwelt. Zum Evolutionsgedanken vgl. Ernst Mayr: Der gegenwärtige Stand des Evolutionsproblems. In: Evolution, Zeit, Geschichte, Philosophie. Universitätsvorträge Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Heft 5 (1982), S. 1–18. 25 Etwa die Spannung von ius und facultas als Katalysator subjektiver Rechte. Niklas Luhmann: Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1981, S. 45–104. 26 Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989 (stw. 757), S. 38–66; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1978 (stw. 227); Arno Seifert: Verzeitlichung. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 447–477; Uwe Hebekus: Geschichte als Ort und Figur. Retopikalisierung historischen Wissens im Historismus. In: Rhetorik. Figuration und Perfor-
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter schichtswissenschaft suspendiert nur in einem sehr engen Feld den Topos Historia magistra vitae. Giorgio Agamben hat wohl am striktesten Ambiguität als Figur profiliert, wenn er im seinem Buch ‚Homo sacer‘ Phänomenen nachgeht, die den Geltungsanspruch der Regel oder des Gesetzes an die Existenz der Ausnahme, des Ausnahmezustands, bindet: der „einschließenden Ausschließung“ (Gesetz–Ausnahmezustand) und der „ausschließenden Einschließung“ (Regel–Exempel). 27 Die Wiederkehr der Rhetorik in der Postmoderne trägt diesem Befund Rechnung. Es scheint so zu sein, dass Ambiguität eher den Normalfall sozialer Kommunikation darstellt. Ambiguitäten dieser Art bezeichnen ein logisches Grenzphänomen: eine Irritation, die Reflexion in Gang setzt. Gegenüber allem Bemühen um Ordnung und Eindeutigkeit markiert sie den Ort einer elementaren Unordnung. Psychologisch, kognitiv und sozial scheint das Subjekt in seinem Alltag mehr durch Spannungen als durch klare Dispositionen geprägt zu sein: Nicht erst in Formen der Hybridisierung – Interkulturalität, -sexualität –, schon von den Spaltungen psychischer Instanzen (Überich–Ich–Es) über die Synchronisierung konkurrierender Rollenentwürfe bis hin zur Ambiguität der Sprache selbst, die in der Spaltung des Sprechaktes in Mitteilung und Information zum Ausdruck kommt, herrscht alles andere als Eindeutigkeit. Ambiguität bezeichnet vor allem eine Entscheidungshemmung in schwierigen bzw. dilemmatischen Situationen. Soziologisch erscheint sie als Herausforderung, einerseits Unbestimmbares (sozialen Sinn) zu bestimmen, andererseits als Notwendigkeit, Selektionen und Unterscheidungen zu treffen. Niklas Luhmanns Kontingenzproblem besagt ja, dass die Unendlichkeit potentieller Wahloptionen das Subjekt prinzipiell überfordert – man kann nicht alles zugleich haben –, es zwingt, Unterscheidungen zu treffen, um kognitive und soziale Komplexität zu reduzieren. 28 Die anthropologische Version dieses soziologischen Befundes sieht die conditio humana denn auch grundsätzlich durch „Evidenzmangel“ und „Handlungszwang“ gekennzeichnet. 29 Aus dieser Perspektive besitzt der menschliche Wirklichkeitsbezug „keinen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit“, er ist „indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘“. 30 Es sind daher bevorzugt Metaphernfelder, sogenannte „absolute Metaphern“ (Weg, Labyrinth) und metaphorische Erzählformen (Fabel, Gleichnis), die traditionell Sinnsuche und Entscheidungsprobleme vor Augen führen: z. B. Herkules am Scheideweg, Parisurteil. manz. DFG-Symposion 2002. Hrsg. von Jürgen Fohrmann. Stuttgart/Weimar 2004 (Germanistische Symposien Berichtsbände. 25), S. 152–175. 27 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002 (Edition Suhrkamp. 2068), S. 31. 28 Luhmann (Anm. 18). Vgl. Cornelia Vismann, Thomas Weitin (Hrsg.): Urteilen/Entscheiden. München 2006 (Literatur und Recht). 29 Blumenberg (Anm. 2), S. 117. 30 Ebd., S. 115.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
Ambiguität und Metapher Eine Figur genuiner Ambiguität stellt die Metapher dar. Nicht nur mangelt ihr aufgrund des Vorgangs der Übertragung die eindeutige Referenz; indem sie das tertium non datur der Logik durch das tertium comparationis der Tropenlehre ersetzt, erhebt auch sie einen rhetorischen Geltungsanspruch. Seit je steht die Metapher in Konflikt mit der grammatischen Regel einerseits und mit dem philosophischen Begriff andererseits, ihre Unschärfe mit deren vermeintlicher Eindeutigkeit. Als zentrales Merkmal der metaphorischen Operation gilt die semantische Auffälligkeit (der Löwe Achill). 31 Die Metapher stört zwar das natürliche Sprachempfinden, sie behebt aber auch einen konstitutiven Mangel der Sprache dort, wo diese kein Lexem bereit hält (Katachrese) oder, wo sie grundsätzlich an die Grenzen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten gerät, sie zwingt den Sprecher über ihre Rätselhaftigkeit in die Reflexion und eröffnet ihm zugleich ein reiches Spektrum an Konnotationen: Die Metapher ist mithin eine Figur des Mangels und der Fülle zugleich. 32 Ambiguität zeichnet bereits die Metapherndefinition des Aristoteles aus. Sie operiert einerseits nach einem logischen Klassifikationsverfahren, indem sie Ähnlichkeiten nach Genus-Species-Relationen ordnet: So fasst Aristoteles „abschöpfen“ und „abschneiden“ als Arten des Gattungsbegriffs „wegnehmen“ auf. Deshalb lässt sich metaphorisch Wasser mit dem Becher ‚abschneiden‘ und das Leben mit dem Schwert ‚abschöpfen‘. 33 Andererseits operiert die Metaphernbildung auf der Basis einer Proportionsanalogie: B-A = D-C: Wie das Alter sich zum Leben, so verhält sich der Abend zum Tag, so dass wir vom Alter des Tages und vom Lebensabend sprechen. 34 B D = A C
Alter Abend × Leben Tag
Lauf Leben × Weg Zeit
Während die Genus-Species-Relationen in einem Verhältnis der Ähnlichkeit stehen, modelliert die Analogierelation Differenzen. 35 Genus-Species-Relationen verweisen auf substantielle oder logische Zusammenhänge, auf Teilhabe, letztlich Identität. Dem steht die Analogie der Proportionalität gegenüber, die weit auseinander lie 31 Peter Koch: Gedanken zur Metapher – und zu ihrer Alltäglichkeit. In: Sprachlicher Alltag – Linguistik – Rhetorik – Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter Stempel. 7. Juli 1994. Hrsg. von Annette Sabban, Christian Schmidt. Tübingen 1994, S. 201–225. 32 Blumenberg (Anm. 2). 33 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, Kap. 21. 34 Ebd. 35 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Aus dem Frz. übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992 [zuerst Paris 1980], S. 319–324.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter gende Objektbereiche miteinander verbindet: Schon in einer ihrer ersten systematischen Definitionen erweist sich die Metapher als Figur der Identität ebenso wie der Differenz. Was Claude Lévi-Strauss für die Mythen des Totemismus und Jean-Pierre Vernant für den antiken Mythos (Prometheus) gezeigt haben, dass sie über die Figur der Analogie Gegensätze überbrücken, ein Ganzes als aus heterogenen Teilen Zusammengesetztes erfassen, basiert auf der strukturellen Leistung der Metapher. 36 Aus der Vereinigung von Gegensätzen entstehe so eine organisierte Ganzheit wie im ehelichen Paar, im ganzen Tag oder im runden Jahr. 37 Wenn Lévi-Strauss etwa die Funktion von Zwillingen in einem Nuermythos erklärt, rekurriert er auf die Differenzfunktion der Analogie: Zwillinge sind im Nuermythos nicht zwei Personen, aber auch nicht eine (Ähnlichkeit), sondern keine Person, sie sind Vögel: Zwillinge ‚sind Vögel‘, nicht weil sie sich mit diesen vermischen oder weil sie diesen ähnlich sind, sondern weil die Zwillinge im Vergleich zu den anderen Menschen wie ‚Personen von oben‘ im Vergleich zu ‚Personen von unten‘ sind, und im Vergleich zu den Vögeln wie ‚Vögel von unten‘ im Vergleich zu ‚Vögeln von oben‘. Sie nehmen eine Zwischenstellung zwischen dem Großen Geist und den Menschen ein. 38
In der natürlichen Ordnung der Nuer stellen Zwillingen eine Störung dar, sie erhalten aber über die Analogie der Proportionalität, d. h. über ein metaphorisches Verfahren, ihre ambige, aber sinnvolle Position. Die semiotische Sprach- (Jakobson, Peirce), Literatur- und Kulturtheorie (Barthes, Lotman, Wellbery) lokalisiert in den beiden Operationen der Ähnlichkeit und Analogie sogar die gegenläufigen, aber auch aufeinander angewiesenen Funktionsmechanismen des Sprechens und Erzählens: „Innerhalb eines Bewusstseins bestehen quasi zwei Bewusstseine.“ 39 Nach Roland Barthes „haben Operationen der metaphorischen und metonymischen Entstellung oder Substitution zu allen Zeiten den menschlichen Logos geprägt, und zwar selbst, als dieser Logos zur positiven Wissenschaft geworden war.“ 40 Metapher 36 Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M. 1965 [zuerst Paris 1962] (Edition Suhrkamp. 128); Jean-Pierre Vernant: Mythos und Religion im alten Griechenland. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M./New York 1995 (Edition Pandora. 26), S. 63–77. 37 Lévi-Strauss (Anm. 36), S. 115f. „Die Metapher, deren Rolle für den Totemismus wir wiederholt hervorgehoben haben, ist keine nachträgliche Verschönerung der Sprache, sondern eine ihrer grundlegenden Ausdrucksweisen. Sie ist von Rousseau auf die gleiche Ebene gestellt worden wie der Gegensatz und bildet mit dem gleichen Recht wie jener eine erste Form des diskursiven Denkens.“ S. 132f. 38 Ebd., S. 105. 39 Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin 2010 (stw. 1944), S. 53–77, hier S. 53. 40 Roland Barthes: Michelets Modernität. In: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays. IV). Frankfurt a. M. 2006 [zuerst Paris 1984] (Edition Suhrkamp. 1695), S. 237–240, hier S. 238. „Funktionen und Indizien fallen damit unter eine weitere klassische Unterscheidung: Die Funktionen implizieren metonymische Relata, die Indizien metaphorische Relata; die einen entsprechen einer Funk-
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
und Metonymie sind für ihn in Anlehnung an eine Formulierung Sigmund Freuds Figuren einer „Entstellungswissenschaft“. 41 Eine eigene Figur metaphorischer Ambiguität stellt das rhetorische Exempel dar. Mit den genera narrationis – historia, argumentum, fabula – verfügt die Rhetorik über drei paradigmatische Erzählformen, die weder streng deduktiv noch induktiv verfahren, sondern das Besondere mit dem Besonderen relationieren. Aus dem besonderen Einzelfall wird über Heranziehung eines geschichtlichen (historia) oder konstruierten (Fabel, Gleichnis) Parallelfalls eine Regel extrapoliert. „Der Diskurs dieser Singularität steht nicht unter dem Regime der Logik, sondern dem der Analogie.“ 42 Daraus resultiert die Nähe des Exempels zur Metapher. 43 So wie zu jedem historischen Fall Gegenbeispiele angeführt werden können, so lassen sich auch je nach Situation zu Erfahrungsregeln konträre Fabeln und Gleichnisse konstruieren, z. B. kluge Esel, die sich gegen den Wolf behaupten, freche Schafe, die nicht von ihm gefressen werden. 44 Das rhetorische Exempel erweist sich bekanntlich als „zweischneidiges Schwert“, das eine pragmatische Funktion im Redeagon erfüllt. 45 In der Figur der exemplarischen Ausnahme, eine Art Oxymoron, wird – gegen alle Normalerwartung – der Einzelfall zum Impuls der Regelbildung. 46 Der Ausbau der Exempelforschung in Richtung auf eine literarische Topik oder „Epistemologie des Exemplarischen“ löst das Exempel aus den Relationen von Induktion und Deduktion und hinterfragt die Regelmechanismen, die aus den Relationen des Besonderem zum Besonderen resultieren. 47
tionalität des Tuns, die anderen einer Funktionalität des Seins.“ Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988 (Edition Suhrkamp. 1441), S. 102–143, hier S. 112. 41 Gerhard Neumann: Literatur als Ethnographie. Zum Konzept einer Semiologie der Kultur. In: Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürg Glauser, Annegret Heitmann. Würzburg 1999, S. 23–48, hier S. 28. 42 Giorgo Agamben: Was ist ein Paradigma? In: Ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a. M. 2009, S. 11–39, hier S. 23. „Gegen die drastische Alternative ‚entweder A oder B‘, die das Dritte ausschließt, beruft sich die Analogie jedesmal auf ihr tertium datur, und setzt der Alternative ein unmissverständliches ‚Weder A noch B‘ entgegen.“ Ebd., S. 24. 43 Pethes, Ruchatz, Willer (Anm. 10), S. 13. 44 Äsop (Anm. 6), Nr. 187, S. 159. 45 Pethes, Ruchatz, Willer (Anm. 10), S. 13, nach Manfred Fuhrmann. 46 Agamben (Anm. 27). 47 Pethes, Ruchatz, Willer (Anm. 10), S. 7–59.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
Metaphorische Ambiguität im Mittelalter Das Phänomen Ambiguität besitzt mithin schon seine historische Dimension. Mit der Figur der Ambiguität können sowohl die Spannungen im Begriff des Heiligen beschrieben werden, das Bewunderung und Furcht zugleich hervorruft, wie auch die Logik der Gabe, die sich zwischen den Polen Ökonomie und Anökonomie bewegt (Mauss, Derrida, Bourdieu). Vormoderne Kulturen entwickeln überdies komplexe soziale Mechanismen des Vergessens, um die Ambivalenzen einer öffentlichen Thematisierung von Ruhm oder Schuld zu verdecken. 48 Wo die mittelalterliche Kultur widerstreitende Geltungsansprüche aushandeln muss, bietet sich der Rekurs auf Metaphern an, z. B. in den divergierenden Anforderungen von Logik und Theologie, funktionaler und geoffenbarter Wahrheit. Sobald diese jene in den Dienst nimmt, wie in der scholastischen Theologie, muss es zu Kollisionen und Zuständigkeitsproblemen kommen. Die Glaubenswahrheiten – z. B. Trinität, Inkarnation, Himmelfahrt, Jüngstes Gericht – liegen letztlich jenseits aller Logik. In der Theologie wird die Figur der analogia entis daher zum Instrument der vermittelten Gottesschau, wird die Metapher aufgrund von Evidenzmangel zum Substitut einer Wahrheit, die sich nicht logisch greifen lässt. 49 Wenn die mystische Spekulation in der Figur des Kreises, in der sowohl Anfang und Ende als auch Mittelpunkt und Umkreis auf besondere Weise konfiguriert sind, eine Metapher für göttliche Paradoxierung – coincidentia oppositorum – findet, verbindet Nicolaus von Cues das metaphorische Potential der geometrische Kreismetapher mit weitreichenden metaphysischen Spekulationen. 50 Wie im theoretischen Feld wird auch im praktischen die Kluft über die bildliche Redeweise überbrückt. Vor allem im Feld religiöser Didaxe, der Vermittlung von Offenbarungswissen, hat das zur Folge, dass das Problem rhetorisch gelöst wird. So empfiehlt Aegidius Romanus in der Erziehungslehre seines Fürstenspiegels De regimine principum unter explizitem Rekurs auf die aristotelische Rhetorik, die logisch nicht deduzierbaren Glaubenswahrheiten den Zöglingen über Analogien zu vermitteln. Ganz im aristotelischen Sinn wird die bildliche Redeweise propagiert, wird neben der Dialektik „die Rhetorik notwendig, um als volkstümliche Dialektik die
48 Alois Hahn: Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter von Moos. Köln [u. a.] 2001 (Norm und Struktur. 15), S. 177–202, S. 183–185. 49 Umberto Eco: „The scandal of the metaphor. Metaphorology and semiotics“. In: Poetics Today 4 (1983), S. 217–257, S. 236. 50 Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften. Besorgt und eingeleitet von Hans Blumenberg. Bremen 1957, S. 7–69, hier S. 30f.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
populäre und bildliche Beweisführung kennen zu lernen.“ 51 Das Bild appelliert aber weniger an den Verstand als an die Erinnerung, die über Habitualisierung stabilisiert wird: „Je mehr deshalb etwas angewöhnt ist, um so mehr wird es zur Natur und um so eifriger hängen wir ihm an.“ 52 Die Theologie stellt die Rhetorik in ihren Dienst, um kulturelle ‚Bilderʻ zu naturalisieren. Im agonalen Feld der politischen Theologie dagegen verlieren metaphorische Heuristik und Didaktik ihren relativen Geltungsanspruch, die Metapher wird hier selbst zur Wahrheit und die Gewohnheit zur Lüge: „Ich bin die Wahrheit und nicht die Gewohnheit“, dieses Wort Jesu hält angeblich Gregor VII. im Investiturstreit Heinrich IV. entgegen. 53 Gilt die Gewohnheit selbst schon als ambivalente Schnittstelle zwischen Natur und Kultur, so wird sie dort, etwa im adeligen Gewohnheitsrecht, verdächtig, wo sie als zweite Natur Gesetzeskraft reklamiert und in Konkurrenz zur Offenbarung tritt. Deren Geltungsanspruch tritt aber seit ihren Anfängen als konkretisierte Metapher auf – „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) –, die das politische Gesetz mit der Frage nach dem Sinn des Lebens konfrontiert. Die politische Theologie nutzt ihrerseits die Auffassung des Staates als Organismus zur Legitimation sozialer Ordnung. 54 Für Korporationen wie den Staat (corpus rei publicae) oder die Kirche (corpus ecclesiae) suggeriert das Bild des Körpers eindrucksvoll die natürliche Notwendigkeit von Souveränität einerseits, Stratifizierung und funktionaler Differenzierung andererseits. Das Bild des Körpers changiert je nach Perspektive noch zwischen einer Identitätsfigur und sozialem Differential. Wenn dem Körper des Königs eine besondere Qualität attestiert wird, wenn das Reich nur dort präsent ist, wo er anwesend ist, wenn es mit seinem Tod unterzugehen droht oder von seinem Körper gar heilsame oder fruchtbare Wirkungen ausge 51 Ägidius Romanus: Von der Erziehung, S. 38f. Zit. nach: Ägidius Romanus’ de Colonna, Johannes Gersons, Dionys des Kartäusers und Jakob Sadolets Pädagogische Schriften, übersetzt und mit biographischen Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen von Michael Kaufmann, Franz Xaver Kunz, Heinrich Alois Keiser, Karl Alois Kopp. Freiburg i. Br. 1904; Quare sicut neccessaria fuit dialectica, quae docet modum arguendi subtilem et violentiorum: sic neccessaria fuit rhetorica. Quae est quaedam grossa dialectica dicens modum arguendi et figuralem. De regimine principum II,2,8 (S. 182v). Zit. nach Aegidius Romanus: De regimine principum libri III. Rom 1556 [Nachdruck Frankfurt a. M. 1968]. 52 Aegidius Romanus: Von der Sorge der Eltern für ihre Kinder (De regimine principum II,2), S. 33. Vgl. Saepe autem propinquum est ei quod est semper: quare consuetudo est propuinqua naturae. quanto ergo aliquid est assuetum, tanto magis vtitur in naturam, & tanto feruentius adhaeremus illi. Aegidius Romanus: De regimine principum libri III (Anm. 51), II, 2, 5 (S. 177vf.). 53 Belegt ist der Spruch in einem Brief Urbans II. an den Grafen von Flandern 1092. Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft. Frankfurt a. M. 1982 [zuerst 1939], S. 144. Vgl. Wilfried Hartmann: Wahrheit und Gewohnheit. Autoritätenwechsel und Überzeugungsstrategien in der späten Salierzeit. In: Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V. Hrsg. von Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter. Darmstadt 2007, S. 65–84. 54 Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 50).
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter hen können, zeugt das von der Möglichkeit seiner mythischen Aufladung, die den Teil für das Ganze setzt. 55 Wenn im Bild des Körpers aber zugleich die soziale Ordnung in ihr Haupt und ihre Glieder ausdifferenziert wird, belegt das nur die historische Koexistenz gegenläufiger Semantiken, die Metapher markiert auf der Basis natürlicher Identität zugleich soziale Differenz. Gerhard Dohrn-van Rossum hat in einer Studie über die historische Semantik politischer Körpervorstellungen gezeigt, dass in der politischen Theologie des Mittelalters begriffliche und metaphorische Operationen nicht scharf zu trennen sind, da juristische Begriffsarbeit und theologische Metaphorik in die Diskussion über den politischen Körper, das Verhältnis von Teil und Ganzem, eingehen. 56 Die corpus-Metapher verfügt über einen semantischen Überschuss, die von den Parteien auf unterschiedliche Weise genutzt und begrifflich entfaltet wird. Corpus kann im religiösen Feld je nach Argumentationsstrategie sowohl für das Sakrament des Abendmahls, als auch für kirchliche Amtsträger oder die christliche Gemeinde als Ganze stehen. Die Metapher nimmt den Status eines Modells an, an dem kontroverse Positionen der kirchenpolitischen Ordnung verhandelt werden können. 57 Selbst dort, wo im Zuge scholastischer Rationalisierung (Aristotelesrezeption) die Natur als Berufungsinstanz aufgerufen wird, ist der corpus-Begriff schon sozialpolitisch, d. h. metaphorisch präformiert. 58 Die naturale Semantik wird nicht auf die Politik ‚übertragen‘, sondern interagiert mit ihr. 59 So wie sich am physischen Körper psychische Dispositionen und der soziale Stand ablesen lassen, der durch kulturelle Zeichen (Kleidung) zusätzlich markiert wird, so spiegelt die Ständeordnung differenzielle geistige, psychische und physische Dispositionen: Klugheit, Tapferkeit, Kraft. Haupt Körper
Teil Christus × Ganzes Gemeinde
Die Spannungen von begrifflichen und metaphorischen Operationen lassen sich auch noch systematischer fassen, um die christliche Umdeutung des Verhältnisses von Teil und Ganzem zu beschreiben. Logisch und ontologisch bezeichnet das Haupt den Teil, der Körper das Ganze, das alle Teile umfasst und daher Priorität 55 Marc Bloch: Die wundertätigen Könige. Mit einem Vorw. von Jacques Le Goff. Aus dem Franz. übers. von Claudia Märtl. München 1998 (C. H. Beck Kulturwissenschaft). 56 Gerhard Dohrn-van Rossum: Politischer Körper, Organismus, Organisation. Zur Geschichte naturaler Metaphorik und Begrifflichkeit in der politischen Sprache. Bielefeld 1977, S. 8, 107 u. 117f. 57 Dohrn-van Rossum (Anm. 56), S. 12f. 58 In Walthers von der Vogelweide Reichston etwa organisieren sich „Vögel, Vierfüssler [...] monarchisch einzig, weil dem Hofpoeten Natur gar nicht anders denn als ‚Aristokratie mit monarchischer Spitze‘ (Heinrich Mitteis) beschaffen sein kann.“ Bernhard Waldmann: Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200. Überlegung zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters. Erlangen 1983, S. 44. 59 Dohrn-van Rossum (Anm. 56), S. 25f.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
besitzt. Über die Analogie der Proportionalität, d. h. über eine metaphorische Operation, lässt sich das Verhältnis aber umkehren: Wie der Teil sich zum Ganzen, so verhält sich das Haupt zum Körper. Sobald aber für Haupt und Körper Christus und Gemeinde eingesetzt werden, kehrt sich das Verhältnis um, werden die horizontalen und vertikalen Relationen der Terme durch diagonale ersetzt: Metaphorisch werden dann das Haupt zum Repräsentanten des Ganzen und der Leib zum Ensemble der Teile, die in eschatologischer Perspektive erst in Richtung auf das Haupt zum Ganzen werden können. 60 In Christus sind caput und corpus immer schon idealiter synthetisiert, dem Gemeindekörper aber fehlt die Einheit (das Ganze), solange er nicht mit Haupt und Corpus Christi wieder verbunden ist. Über die Metaphorisierung erhält das logische Verhältnis von Teil und Ganzem einen neuen Sinn, es wird invertiert und prozessualisiert. Es ist nicht zufällig, dass im kirchenpolitischen Feld, im Kampf um die Einheit der Kirche wie im Konflikt mit dem Reich, die rhetorische Argumentation die logische dominiert. König- und Papsttum zehren gleichermaßen vom metaphorischen Konzept der Partizipation und Differenzierung. Es entfaltet sein politisches Konfliktpotential im zwölften/dreizehnten Jahrhundert, in den Kontroversen um die personae mixtae (Bischöfe, König) geistlicher und weltlicher Herrschaftsträger. Wie zu dieser Zeit bereits der Gedanke des Corpus Christi von der Eucharistie auf die Institution Kirche (corpus ecclesiae) übergeht, so auch die Vorstellung vom mythischen Körper des Königs auf die Institution des Staates als corpus rei publicae mysticum: 61 Sie bleiben in dieser Zeit aber noch religiös fundiert. Wie im politischen Zeremoniell und im religiösen Ritus Partizipation am Leib des Herrschers oder Christi gefeiert wird, wird im institutionellen Körperbild von corpus rei publicae und corpus eccelesiae sowohl die Identität der Gemeinschaft wie auch die Hierarchie der Gesellschaft artikulierbar. Königtum und Papsttum entwickeln aber darüber hinaus schon komplexere Modelle, die der Spannung von Identität und Differenz auf andere Art Rechnung tragen. 62 Die Rede von den zwei Körpern des Königs, die sich im juristischen Schrifttum seit dem fünfzehnten Jahrhundert findet, zielt schon auf die Trennung von Inhaber der Königsposition und der institutionellen Funktion, die der natürliche Körper einnimmt. 63 Das institutionelle Verhältnis des Herrschers zu seinen Untertanen ist unendlich, unabhängig vom individuellen Besetzer der Position. Der Leib des Papstes verbindet gleichermaßen zwei heterogene Bereiche: Als Mensch ist er 60 Zur eschatologischen Umdeutung vgl. Dohrn-van Rossum (Anm. 56), S. 84f. 61 Josef Fleckenstein: Geleitwort. In: Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, S. 9–18, hier S. 15. 62 „In dieser sich als Personenverband darstellenden politischen Ordnung ‚repräsentierte‘ der Herrscher nicht nur Volk und Staat, er ‚verkörperte‘ auch Volk und Staat: er war mit ihnen identisch.“, Tilman Struve: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter. Stuttgart 1978 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters. 16), S. 87. 63 Kantorowicz (Anm. 61).
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter sterblich, als Amtsinhaber und Stellvertreter Petri (Christi) aber partizipiert er an der Unsterblichkeit, woraus im Mittelalter eine doppelte Inszenierungsstrategie von Hinfälligkeit des Leibes und zugleich Teilhabe an der Ewigkeit resultiert. 64 Die Lehre gehört in den größeren Zusammenhang einer Ausdifferenzierung politischer Systeme, die von Person und Genealogie auf die Institution, von Mimesis auf Mathesis, umstellt. Die traditionelle Metaphorik des politischen und kirchlichen Körperkonzepts gerät zunehmend in Spannung zu institutionellen und natürlichen Faktoren. In Thomas Hobbes’ Staatstheorie (Leviathan) scheint dann ein Umschlagpunkt erreicht zu sein, wenn der Organismus metaphorisch nur noch eine alte Reminiszenz bildet, die durch eine neue funktionale, die Maschine, abgelöst wird. 65 Wird im politischen Körper ein Einheitsphantasma (die Einheit in der Differenz) entworfen, so wird im Körper des Heiligen ein Spaltungsphantasma (die Differenz in der Einheit: die Theodizee) bewältigt. Der Körper des Heiligen, der in den Legenden immer wieder zwischen gemartertem menschlichen Leib und unverletzbarem Auferstehungsleib changiert, spiegelt die zwei Naturen Christi wider, wie der Antiheilige seinerseits am Körper des Teufels partizipiert: Das Passional fasst diesen spannungsvollen Befund anlässlich eines Vergleichs von Simon Petrus und Simon Magus in ein prägnantes Bild. Von Christus heißt es: ‚von der gotheit gebot / sint an im zwo nature / in einer figure, / daz ist mensche unde got. / also hat des tuvels spot / vereinet sich an disem man, / daz ich wol nu sprechen kan, / daz er mensch und tuvel ist, / wand er aller zouberlist / mit dem tuvel ist gewon.‘ 66
Solche doppelte Teilhabe ist nicht nur Effekt von Begnadung oder Besessenheit, sondern immer auch von Habitualisierung, d. h. von Gewohnheit durch tätige Tugend oder tätiges Laster (gewon). Aber wenn der Heilige sich in der imitatio Christi befindet, ist er – anders als der Gläubige – mehr als eine metaphorische Analogie. Seine Handlungen partizipieren an der Heiligkeit Christi, wie auch die wundersamen Effekte seiner Gebeine die metaphysische Macht real bekunden. Der Heilige wird über Partizipation im aristotelischen Sinn (Ähnlichkeit) zur Metapher, im mo-
64 Agostino Paravicini Bagliani: Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit. München 1997 (C. H. Beck Kulturwissenschaft). 65 Ahlrich Meyer: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), S. 128–199; Horst Bredekamp: Thomas Hobbes, Der Leviathan: das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651–2001. Berlin 2006. 66 Passional, Buch II: Apostellegenden. Hrsg. von Annegret Haase, Martin Schubert, Jürgen Wolf. Berlin 2013, V. 20602–20611. Die Legenda aurea formuliert hier nur eine begriffliche Analogie: addidit quoque Petrus, quod sicut in Christo sunt duae substantiae, scilicet Dei et hominis, sic et in isto mago sunt duae substantiae, scilicet hominis et dyaboli. Jacobi de Voragine: Legenda aurea vulgo historia lombardica dicta. Hrsg. von Theodor Graesse. Nachdruck Osnabrück 1965 [1890], S. 372. Zu der Passage vgl. Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘. Berlin/Boston 2015 (Literatur – Theorie – Geschichte. 10), Kap. 4.2.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
dernen zu Metonymie Christi, bleibt aber dennoch von ihm unterschieden. Im Ritus dagegen wird das Moment der Partizipation graduell in der Zeitebene inszeniert und entfaltet, aber auch schon weiter differenziert in corpus Christi und corpus ecclesiae. Während die Erinnerung an den Heiligen die Möglichkeit intensiver Partizipation vergegenwärtigt, beschwört der Priester als Vermittlungsinstanz die heilige Aura nur im Raum- und Zeitausschnitt des rituellen Aktes. Für den Gläubigen stellt sich demgegenüber die Partizipation nur als ein temporärer Vorgang, als ein Versprechen dar, das über tätige Tugend erst in der Zukunft eingelöst werden muss. Der Ritus des Abendmahls, der über eine substantialisierte Metapher (Brot und Wein) erfolgt und eine metonymische Verkettung stiftet, wird sowohl zum mythischen Akt der Partizipation am Leib Christi – Christus–Heiliger–Priester–Gläubiger – gleichzeitig aber auch zum institutionellen Differenzial: der eine Unvergleichliche, die wenigen Herausragenden, die vielen Vermittler und die Masse der Gläubigen. Die Umkehrung des Verhältnisses von Teil und Ganzem durch Christus und Gemeinde schafft Raum für eine ganze Reihe an weiteren Substitutionen. Statt Christus können nun der Heilige, der Papst, der Bischof und sogar der Priester Repräsentanten des Ganzen werden: der Menschheit, der Kirche, der Gemeinde. Erst die metaphorische Umkehrung von Teil und Ganzem setzt die metonymische Kette in Gang und weist der Stellvertretung auch die sozialpolitische Funktion der institutionellen Differenzierung zu. Mit Lévi-Strauss ließe sich sagen: Der Heilige (Papst) ist eine besondere Figur, weil er im Verhältnis zu Christus (Gott) über einen geringeren Anteil an der Transzendenz verfügt, ihm gegenüber dem Menschen aber eine höhere Form von Transzendenz eignet. Für Christus sieht die Relation noch einmal anders aus, da in Bezug auf Gott die Differenz eingeschliffen (Trinität), in Bezug auf den Menschen aber markiert wird. Am Menschen selbst artikuliert sich die Spaltung von Immanenz und Transzendenz im Bild vom Körper als Gefängnis der Seele, in dem die gefallene Natur (miseria hominis) und die göttliche Bestimmung (dignitas hominis) unablässig miteinander ringen. Die conditio humana steht im Spannungsfeld zweier gegenläufiger Dynamiken, da Sein und Sollen auseinandergefallen sind. Auch hier konkurrieren im Zugriff auf das Problem Metapher und Begriff. Das metaphorische Bild der Gefangenschaft wird über diskursive Verfahren unter Kontrolle gebracht, wird über Ernährung und Erziehung regulierbar, so dass Unterwerfung in Herrschaft umschlagen kann. Als diätetische Prämisse gilt, dass die Seele den Komplexionen des Körpers unterliegt, als pädagogische, dass der Körper den Direktiven der Seele folgen soll. 67 In beiden Richtungen wird das Modell der consuetudo als altera natura
67 Cum enim corpus ordinetur ad animam, & non econuerso, [...] Nam anima sequitur complexiones corporis. Egidio Colonna: De regimine principum libri III. Recogniti et una cum vita auctoris per F. Hieronymum Samaritanium. Aalen 1967 [Neudruck der Ausgabe Rom 1607], I,1,6, S. 18 und I,4,2, S. 193.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter wirksam, um die zentrifugalen Energien des Körpers zu bändigen: Während die Diätetik auf eine ausgeglichene Ökonomie der Säfte zielt, ist die Pädagogik auf die Stärkung von Wille und Geist fokussiert. Die religiöse Metapher der Gefangenschaft stiftet den Sinnhorizont dafür, dass die rationale Kontrolle über den Körper als Befreiung aufgefasst werden kann. Der christlichen Leib-Seele-Relation liegt letztlich eine soziale Herrschaftsmetaphorik zugrunde. 68 Antike und Mittelalter kennen aber mit der Physiognomik auch ein Feld, in dem die Geltungsansprüche von Natur und Kultur, physischer Disposition und kultureller Konditionierung rein immanent ausgehandelt werden. Die Physiognomik operiert auf der Basis von Ähnlichkeitsrelationen, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden, die Ähnlichkeit bezeichnet mithin mehr als eine metaphorische Operation, sie wird ganz im Sinn der aristotelischen Definition in der Natur verankert. Die Physiognomik stellt den Menschen in eine ständige Spannung von negativen Körperdispositionen und rationalen Anlagen: Sie markiert den sichtbaren Ort einer permanenten Störung, des Körperkrieges. Auch hier herrscht alles andere als Eindeutigkeit: Zwar basiert die Ähnlichkeit auf einem System natürlicher Dispositionen, die Mensch und Tier teilen, sie determinieren aber nicht unmittelbar, sondern inklinieren nur. Das Gesetz der Natur wird auf einen Spielraum zwischen Notwendigkeit und Freiheit hin geöffnet, so dass eine Axiologie entsteht, die eine Vielzahl von narrativen Optionen bietet. 69 Sowohl die antiken wie auch die mittelalterlichen Physiognomiken führen in diesem Zusammenhang wiederholt die Geschichte des Zophyrus an. In diesem Exempel geht es um einen physiognomischen Befund der Gestalt des Hippokrates, der nach äußerem Erscheinungsbild zwar zu den größten Lastern neigt, aber durch Disziplin (Gewohnheit) seine negativen natürlichen Anlagen in den Griff bekommen habe. 70 Im optimistischen Fall siegt consuetudo über die Lasterdispositionen der natura, die kulturelle Differenz über die vermeintlich natürliche Identität. Die Gewohnheit kann aber als schleichende Determinierung unbemerkt auch die Freiheit des Subjekts unterwandern: iedoch gewonhait verändert vil 68 Dohrn-van Rossum (Anm. 56), S. 88. 69 In den Worten Hiltgarts von Hürnheims: Doch nach den aussern zaichen, von den gesaitt ist, sol niemant die urtail geben, wann es ist villeicht ain zu treffent zaichen und nichtt von natur unnd ist vileicht ze überwinnden mit der widerwärtigenn gewonhait oder wirt getzwungenn mit dem zaume der weschaidenhaite. Dir zimt nichtt das du gähes werfest dein urtail unnd dein gerichtt an ains diser zaichenn. Hiltgart von Hürnheim: Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des „Secretum secretorum“. Hrsg. von Reinhold Möller. Berlin 1963 (DTM. 56), S. 161. 70 Secreta secretorum cum glossis et notulis. Tractatus brevis et utilis ad declarandum quedem obscure dicta Fratris Rogeri, ed. Robert Steel. Oxford 1920, IV,1, S. 165; Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Nach der Cölner Urschrift. Hrsg. von Hermann Stadler. 2 Bde. Münster 1920 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen. 16/17), II,2, S. 46; Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluß charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1997 (Beiträge zur Kunstwissenschaft. 69), S. 26f. u. 44f.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
des nâtûr an dem menschen zuo guotem oder zuo poesem, schreibt bereits Konrad von Megenberg in seinem Buch von den natürlichen Dingen. 71 Identität erweist sich als Spannung zwischen den Dispositionen der Natur, dem Gesetz, und den Kräften der Kultur, die über Gewohnheit wiederum renaturalisiert werden. 72 Während das Exempel von Hippokrates auf eine historia rekurriert, um die Macht der Gewohnheit zu demonstrieren, belegen andere Erzählungen die Macht der Natur gegenüber der Gewohnheit: z. B. von Katzen, die bei aller Disziplinierung das Mausen nicht lassen können, wie eine berühmte Geschichte von Salomon und Markolf erzählt. 73 In Sprichworten, Historien, Gleichnissen und Fabeln, d. h. in genuin rhetorischen Argumentationsformen, hat sich der ambivalente Befund in den Common Sense eingeschrieben. So steht der Topos von der Gewohnheit als zweiter Natur in Konkurrenz zum gegenläufigen Sprichwort, dass die Natur stärker sei als die Erziehung: natura plus valet quam nutritura. 74 Wenn die genera narrationis derart die Macht der Natur entfalten, rekurrieren die Erzählungen auf narrative Argumentationsformen, die ihrerseits schon paradigmatisch, d. h. metaphorisch organisiert sind. Was im Bereich der auf Eindeutigkeit zielenden Logik nicht zulässig ist – die gleichzeitige Geltung widerstreitender Wahrheiten –, kann im Feld topischer Wahrscheinlichkeit durchaus gegeben sein: Das Öfter kann sich gegen das Immer behaupten, das Immer aber auch in der Regel durchsetzen. Als elementares Sozialmodell fungiert die Leibmetapher schließlich auch für Verwandtschaft, Freundschaft, Ehe und Liebe. Während Verwandtschaft gemeinhin über physiognomische Ähnlichkeit markiert wird, kann Freundschaft auch metaphorisch auf Identität zielen, wie etwa im Fall der Waffenbrüder Nisus und Euryalus in Heinrichs von Veldeke Eneasroman: wan si dûhte beide, daz si ein lîb wâren. 75 Die christliche Ehemetapher von zwei Seelen in einem Leib markiert demgegenüber die Differenz in der Einheit. 76 Die Metapher stellt ihre Ambiguität geradezu aus und ließ
71 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Hildesheim [u. a.] 1994 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1861], S. 29. 72 Montaigne wird später schreiben: „Denn fürwahr, eine herrische und heimtückische Schulmeisterin ist die Gewohnheit. Sie legt uns ganz allmählich und unvermerkt ihr Joch auf; aber hat sie sich nach diesen sanften und demütigen Anfängen eingenistet und seßhaft gemacht, so zeigt sie uns nach und nach ein furchtbares und tyrannisches Gesicht, gegen das wir nicht einmal mehr frei den Blick erheben dürfen.“ Essais (Anm. 8) I, 23, S. 155f.; vgl. Bernhard Kleeberg (Hrsg.): Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750–1900. Berlin 2012 (stw. 2002). 73 Salomon et Marcolfus. Kritischer Text mit Einleitung, Anmerkungen, Übersicht über die Sprüche, Namen- und Wörterverzeichnis. Hrsg. von Walter Benary. Heidelberg 1914 (Sammlung mittellateinischer Texte. 8), S. 30f. 74 Ebd. 75 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986 (RUB. 8303), V. 6550f. 76 Ad aliam racionem, quando dixisti, quod istud est commendabile, quod uxor moriatur pro viro, non valet, quia, licet sint unum in corpore per carnalem affectionem, tamen in anima duo sunt, que
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter sich sogar in Form einer juristischen Controversia inszenieren und argumentativ entfalten. In der 6. Erzählung der Gesta Romanorum verteidigt eine Ehefrau die Unauflöslichkeit der Ehe mit dem Hinweis auf den einen Leib der Ehe, ihr Vater aber fordert die Scheidung unter Rekurs auf die Differenz der zwei Seelen. Die Metapher wird im Rahmen einer juristischen Argumentationstechnik zum Gegenstand einer kasuistischen Betrachtung, die ihren eigentlichen Sinn – die Unauflöslichkeit der Ehe – unterwandert. 77 Die eine ambige Metapher lässt sich über rhetorische Verfahren argumentativ in entgegengesetzte Richtung entfalten. Im literarischen Feld wird die Einheit der Liebenden schließlich topisch in der Metapher des Herzenstauschs ausgedrückt, ein Bildfeld, das geradezu dazu einlädt, mit seinen Variationen zu spielen. 78 So imaginiert Wolfram im Tagelied die Einheit des Liebespaares nicht nur vor dem Hintergrund des Ehetopos – Zwei herze und ein lîp hân wir (3,18) –, er sprengt die Metapher darüber hinaus in einer Verschmelzungsphantasie, die es mit dem ut pictura poiesis-Topos, der Konkurrenz von Dichtung und Malerei, aufnehmen kann. Der eine Leib ist hier keine Metapher mehr, sondern eine reale Ununterscheidbarkeit zweier ineinander verflochtener Körper: sus kunden sî dô vlehten ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein. Swelch schiltaer entwurfe daz, geselleclîche als si lâgen, des waere ouch dem genuoc. 79
abinvicem realiter differunt. Gesta Romanorum. Hrsg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872. Neudruck Hildesheim 1963, S. 280. ‚So sagen auch die Lehrer der heiligen Schrift, daß Mann und Weib in der Ehe eins sind im Leib und zwei in der Seele.‘ Gesta Romanorum. Die Taten der Römer. Ein Geschichtenbuch des Mittelalters. Nach der Übersetzung von Johann Georg Theodor Grässe. Hrsg. u. neu bearb. von Hans Eckart Rübesamen. München 1962, S. 14. 77 Gesta Romanorum. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Rainer Nickel. Stuttgart 2009 (RUB. 8717), S. 13–15. Zur juristischen Argumentationstechnik in den Gesta Romanorum vgl. Nicola Hömke: Seneca Moralizatus – Die Rezeption der Controversiae Senecas d. Ä. in den Gesta Romanorum. In: Pontes III. Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. Hrsg. von Wolfgang Kofler, Karlheinz Töchterle. Innsbruck/Wien/Bozen 2005 (Comparanda. 6), S. 157–174. 78 Vgl. Bruno Quast: Literarischer Physiologismus. Zum Status symbolischer Ordnung in mittelalterlichen Erzählungen von gegessenen und getauschten Herzen. In: ZfdA 129 (2000), S. 303–320; Sandra Linden: Körperkonzepte jenseits der Rationalität. Die Herzenstauschmetaphorik im Iwein Hartmanns von Aue. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 247–267; Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 355–361. 79 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. 37. revidierte Auflage. Bd. I: Texte. Stuttgart 1982, 3,18 u. 4,2–5.
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
Ambiguität der Literatur Den privilegierten Wirkungsraum der Ambiguität bildet aber seit je die Kunst. 80 Nicht erst in der Moderne erscheint die Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes als konstitutives Element. 81 Schon am Beispiel der „einfachen Formen“ hat André Jolles auf die Ambiguität des Kasus hingewiesen, einer Erzählform, die den Protagonisten (und Leser) in eine Spannung heterogener Geltungsansprüche stellt und damit zur Reflexionsform von Wertekonflikten selbst avanciert: z. B. in der Novelle. 82 Hans Jürgen Scheuer hat in Anlehnung an Jolles der „schwankhaften Form“ die Funktion zugewiesen, elementare Gegensätze wie den von Transzendenz und Immanenz über die Etablierung einer dritten Instanz – der des Beobachters – auszuhandeln. 83 Anstatt die Werke auf eine homogene Botschaft, einen ideellen Gehalt, zu reduzieren, haben Interpretationsmodelle Konjunktur, die die ambigen Strategien literarischen Erzählens aufweisen, Ambiguität wird geradezu zum Kennzeichen avancierter Literatur längst vor der Moderne. 84 Wenn etwa Hartmann von Aue in seinen höfischen Legenden gegenläufige Erzählmuster kombiniert – im Armen Heinrich die Konfrontation von Heilungs- und Opferlegende, im Gregorius die Überblendung des höfischen Aventiure-Modells mit der Mytho-Logik des Exile & Return-Schemas –, gewinnen die Erzählungen über paradigmatische Verfahren eine narrative Spannung (kasuistische Struktur), die im ersten Fall nur durch das Wunder aufgehoben wird, im zweiten dagegen in die Katastrophe führt. 85 Eine privile-
80 Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas. Hrsg. von Verena Krieger, Rachel Mader. Köln/Weimar/Wien 2010 (Kunst – Geschichte – Gegenwart. 1). 81 Hans Blumenberg: Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, S. 112–119. 82 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1999 [zuerst 1930], S. 171–199; Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 8), S. 12–32. 83 Hans Jürgen Scheuer: Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 733–770. 84 Christian Kiening, Susanne Köbele: Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs ‚Titurel‘. In: PBB 120 (1998), S. 234–265; Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 389 u. ö. („Ambiguisierung der höfischen Ordnung“); Peter Strohschneider: Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ‚Gregorius‘. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 105–133, hier S. 111f. 85 Kurt Ruh: Hartmanns ‚Armer Heinrich‘. Erzählmodell und theologische Implikation. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Hennig,
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter gierte Option, literarische Ambiguität zu inszenieren, liefert die rhetorische Form des Dialogs, das Streitgespräch. Über die metaphorische Figur der Personifikation lassen sich elementare Sinndimensionen des Lebens – Liebe, Weisheit, Macht, Reichtum, Tod etc. – diskursiv gestalten und in ihren konkurrierenden Geltungsansprüchen verhandeln. 86 Wie in vergleichender Arbeit die „Ambiguität historischen Wandels“ sichtbar werden kann, hat Christian Kiening am Ackermann gezeigt, einem Werk, in dem der Streit über den Anspruch auf Leben und die Notwendigkeit des Todes erst am Ende durch einen ambigen Urteilsspruch Gottes beendet wird. 87 Rein begriffsanalytische Untersuchungen des metaphorischen Prozesses operieren in der Regel auf der Basis logischer Relationen und Klassifikationen. Doch auch sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Metapher semantische Verbindungen stiftet, in denen die lexikalische Bedeutung eines primären Geltungsbereichs zugunsten eines sekundären verlassen wird, der als „Assoziationsfeld“ bestimmt wird: In der Metapher vom Löwen Achill spielen die Genus-Species-Relationen von Lebewesen, Tier, Großkatze und Löwe keine Rolle, sie werden durch kulturelle Klassifikationen von mutigen Lebewesen und ihr Assoziationsfeld ersetzt, unter die dann auch Menschen und Tiere fallen. 88 Die Metapher erscheint als „Wortfeldrevolution“, die natürliche durch kulturelle Klassifikationssysteme ersetzt. 89 Ob die Differenz von Mensch und Tier in dieser sprachlogischen Analyse gewahrt bleibt, wie behauptet, kann vielleicht in Frage gestellt werden, wenn man den Kontext historischen Wissens, z. B. die Transferverfahren der Physiognomik, mit einbezieht. Auch die zahlreichen engen Mensch-Tier-Assoziationen, die am mittelalterlichen Adel sichtbar und symbolträchtig inszeniert werden – Tiernamen, Reiter/Pferd, Hetz- und Beizjagd, Affektökonomie, Heraldik –, bilden nicht nur ein literarisches Phänomen, finden aber in der Literatur ihren prägnanten metaphorischen Niederschlag. 90 Der Adel versteht sich auch im Horizont der Naturanlagen des Raubtiers, das zwischen wilde und zam changiert. Herbert Kolb. München 1971, S. 315–329; Strohschneider (Anm. 84), S. 112 („Ambiguität der Struktur“). 86 Christian Kiening: Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten in mittelalterlicher Literatur. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Helmut Brall, Barbara Haupt, Urban Küsters. Düsseldorf 1994 (Studia humaniora. 25), S. 347–387. 87 Christian Kiening: Schwierige Modernität. Der ‚Ackermann‘ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels. Tübingen 1998 (MTU. 113). 88 Hans Georg Coenen: Der Löwe Achilles. Überlegungen anläßlich der Metaphernlehre des Aristoteles. In: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Beate Czapla, Tomas Lehmann, Susanne Liell. Wiesbaden 1997, S. 39–48, hier S. 46f.; Hannelore Schlaffer: Odds and Ends. Zur Theorie der Metapher. In: Prometheus. Mythos und Kultur. Hrsg. von Edgar Pankow, Günter Peters. München 1999, S. 75–84. 89 Coenen (Anm. 88), S. 47. 90 Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5).
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Renate Lachmann hat darauf hingewiesen, dass auch Tropen wie das Oxymoron, die Synekdoche und die Metapher „triadisch interpretiert werden können“: Das Oxymoron ist Teil eines lusus verborum, der ein Gedankenspiel antreibt, in dem ein ‚Drittes‘ gedacht werden muss – und zwar nicht als ein neu und störend Hinzutretendes, sondern als ein versöhnendes Element, das die Ambivalenzbewegung auspendeln lässt und den Stachel der Pointe dennoch nicht abbricht. Gegen die bedrohliche Rigorosität des ‚Tertium non datur‘ lässt sich für das Oxymoron die für esoterische Argumente charakteristische Antinomie des „Etwas ist möglich und unmöglich zugleich“ aufbieten: Beide Glieder der Struktur reflektieren, dementieren oder potenzieren einander. [...] Sie spiegeln einander nicht nur, sondern sie partizipieren auch aneinander. Sie sind Metaphern füreinander, die über eine unähnliche Ähnlichkeit sich herstellen – sie gehören zur selben semantischen Äquivalenzklasse und sind Metonymien: in nächste Berührung gebrachte Komponenten einer Struktur. 91
Die Tropen können mithin als Figuren der Ambiguität aufgefasst werden. Am domestizierten Raubtier lässt sich die Ambiguität der Metapher als Identitäts- und Differenzfigur beschreiben: Im Nibelungenlied träumt Kriemhild von einem Falken – starc, scoen und wilde (13,2) –, den ihre Mutter Uote auf ihren zukünftigen Mann (Sîvrît) hin auslegt. Nicht nur interagieren hier schon mehrere Semantiken, diese markieren auch zentrale adelige Standesattribute und laufen auf die Gattungseigenschaft edel hinaus: Wie der Löwe ist der Falke ein Raubtier, das jagt, kämpft und tötet, aufgrund seines Gewaltpotentials besitzt er kaum natürliche Feinde, seine Schönheit und Erhabenheit wirkt majestätisch. Der Kürenberger legt in seinem Falkenlied diese Identitätsfigur zugrunde, konfrontiert sie aber mit dem Gedanken der Falkenzucht. Die Zähmung des wilden Falken wird mit der disziplinierenden Macht der Minne analogisiert: Wie der Falke zum Falkner, so verhält sich der Ritter zur Geliebten, wie der Falke zur Zucht, so der Ritter zur Minne: Deswegen lässt sich metaphorisch vom Minnefalken und von Ritterzucht sprechen. Dass Minne Wildheit zähmt, ist ein alter Topos der höfischen Literatur. 92 Analog verfährt die Falkenzucht: Es bedarf der Kunstfertigkeit, die Raubvögel „dahin zu bringen, daß sie ihre natürlichen Eigenheiten und Gewohnheiten ablegen und dafür jene künstlichen annehmen [...]. Durch Härte erzogen, wird ihnen dieses Betragen mit fortschreitender Zeit schließlich auch zur Eigenart, Gewohnheit und zweiten Natur.“ 93 Zucht und Minne 91 Renate Lachmann: Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen. In: Eßlinger [u. a.] (Anm. 22), S. 94–109, hier S. 106f. 92 Corinna Dörrich, Udo Friedrich: Bindung und Trennung, Erziehung und Freiheit. Sprachkunst und Erziehungsdiskurs am Beispiel des Kürenberger Falkenliedes. In: Erziehung und Bildung im Mittelalter. Hrsg. von Claudia Brinker-von der Heyde, Ingrid Kasten = Deutschunterricht, Heft 1 (2003), S. 30–42, hier S. 38f. 93 Kaiser Friedrich der Zweite: Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. Unter Mitarbeit von Dagmar Odenthal übertr. u. hrsg. von Carl Arnold Willemsen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1964, S. 181; aves rapaces ab hac natura sua, et per que suas proprietates desinant naturales et aquirant in se proprietates et mores artificiales standi cum homine et revertendi ad ipsum. Qui mores acquisiti per duritiam processu
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter können über Gewohnheit aber nur temporär das Wilde binden, das immer wieder in seinen natürlichen Freiheitsdrang zurückzufallen droht. 94 Von hier aus betrachtet, wird nicht auf eine veränderbare – durch consuetudo domestizierbare – Adelsnatur geschaut, sondern Adelsnatur erweist sich als stärker als Gewohnheit. Unter mittelalterlicher Perspektive scheint hier sowohl eine natürliche Art-Art-Relation (Falke/ Ritter: Physiogomik) als auch eine Gattungs-Art-Relation (Ritter/Falke–edel/Adel) ins Bild gesetzt werden zu können, die eher auf natürliche als kulturelle Ähnlichkeiten zielt. Über die Minnemetaphorik werden aber auch Analogien und Differenzen kultureller Praktiken (Falknerei/Minne) modellierbar. Der Falke wird der höfischen Kultur zur Metapher einer unaufhebbaren Spannung. Beide Semantiken aber, die der Kultivierung durch Falknerei und Minne wie die naturverhaftete der Wildheit, beziehen ihre Geltung aus kulturellen Praktiken und Diskursen ihrer Zeit.
Ambivalenz der Zeichen im Yvain Chrétiens de Troyes Wie kulturelle Zeichen über topische Strategien einen ambigen Status erhalten können, hat Eugene Vance eindrucksvoll am Beispiel des Chrétienschen Yvain gezeigt. 95 Vance hat herausgearbeitet, wie der gelehrte Kleriker eine neue narrative Poetik auf topischer Basis entwirft, wie er ein logisches Problem durch Rekurs auf zeitgenössische Diskurse narrativ entfaltet: Wenn Chrétien im Yvain auf die Grundbedingungen menschlicher Existenz, d. h. auf die Relation von Animalität, Rationalität, Moral (Ethik, Ökonomik, Politik) und Technik, reflektiert, rekurriert er auf die GenusSpecies-Relation und damit auf einen kurrenten Topos der zeitgenössischen Dialektik: Si est homo, est animal. 96 Ganz im Sinne dialektischer Technik ist der Topos selbst Argument und Ausgangspunkt weiterer Argumentationen, er dient dazu, amplifizierend Argumente zu finden und sie zu ordnen. 97 Was der Logiker aber systematisch vollzieht, übersetzt der Literat in eine narrative Argumentation. Dialektische und topische, d. h. metaphorische Relationen treten hier in ein komplexes Wechselverhältnis. temporis et assiduitate vertantur eis in habitum et consuetudinem et naturam alteram. Friderici Romanorum Imperatoris Secundi: De arte venandi cum avibus. Nunc primum integrum edidit Carolus Arnoldus Willemsen. Tomus 1/2. Leipzig 1942, S. 166. 94 Dörrich, Friedrich (Anm. 92), S. 30–42. 95 Eugene Vance: From Topic to Tale. Logic and Narrativity in the Middle Ages. Minneapolis 1987 (Theory and History. 47); Chrestien de Troyes: Yvain. Übersetzt und eingeleitet von Ilse NoltingHauff. München 1983. 96 Vance (Anm. 95), S. 80f. 97 Ebd., S. 60
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
Ausgedehnte Episoden wie die Begegnung Calogrenants mit dem vilain, Yvains Wahnsinn und sein Tauschhandel mit dem Einsiedler sowie Yvains Allianz mit dem Löwen verhandeln narrativ Argumente über spezifische Grenzziehung zwischen Mensch und Tier. Der vilain fungiert nach Vance als „logical fiction“ der basalen Animalität des Menschen, die logisch (genus–species), ethisch (gut–böse) und politisch (ratio–passiones) reflektiert und überdies mit Gemeinplätzen der literarischen Tradition (z. B. Wilder Mann, Seelenvermögen) angereichert wird. 98 Der vilain erscheint nicht nur als eine über ambivalente Zeichen codierte Figur, durch seine Kommunikation mit Calogrenant und seine Herrschaft über die Tiere liefert er auch ein ethisches und politisches Modell. Eine Pointe von Vances Verfahren besteht darin aufzuzeigen, wie eng innerhalb der Topik logische und metaphorische Verfahren verbunden sein können: Wenn er auf die zeitgenössische Homologie von psychologischen (Sinne–ratio) und politischen Konstellationen (Untertan–Herrscher) hinweist, wenn die Psyche nach politischen und die Politik nach psychologischen Regeln strukturiert ist, handelt es sich um eine metaphorische Operation, die im zeitgenössischen Wissenssystem aber ontologisch fundiert ist. 99 Deshalb kann die Gewaltherrschaft des vilain über die einander bekämpfenden Tiere („unambigues emblems of unbridled passions“) als Metapher einer tyrannischen Herrschaft über die Affekte gelesen werden. 100 Insofern werden in dieser kleinen Szene nicht nur die Grenzen politischer Macht, sondern auch die unhintergehbaren Voraussetzungen feudaler Machtpolitik verhandelt. Eine Art „allegorical ‚origin‘“ des Handels sieht Vance in der Begegnung des wahnsinnigen Yvain mit dem Einsiedler ausgestaltet. 101 Vor dem Hintergrund dialektischer Relationen können Yvain und der Einsiedler beide als unsozial, ersterer aber als subrational und animalisch, letzterer als suprarational und spirituell gelten, und sie markieren damit die extremen Möglichkeiten der Regression und Progression menschlicher Existenz. 102 Während nach Peter Haidu der Eremit mit Yvain erlegte Tiere gegen schlechtes Brot tauscht und sich damit in einer geschlossenen, metaphorischen Ökonomie verortet, tauscht er in der Stadt dagegen Tierfelle gegen Geld und steht damit in einer offenen, metonymischen Ökonomie. 103 Gegenüber der
98 Ebd., S. 57 u. 60. 99 Ebd., S. 59. 100 Ebd., S. 59 101 Ebd., S. 73. 102 Ebd., S. 73 u. 68–71. 103 Peter Haidu: The Hermit’s Pottage. Desconstruction and History in Yvain. In: The Sower and his Seed. Essays on Chrétien de Troyes. Hrsg. von Rupert T. Pickens. Lexington 1983, S. 127–145; Vance (Anm. 95) deutet die Ambivalenz der Einsiedlerfigur zugleich als Ambivalenz von Chrétiens eigener Textualität, werden Handel und Schrift in jener Zeit doch miteinander verbunden, so dass beide eine besondere „textual community“ begründen: Kaufleute, aristokratische Patrone, Kirchenkritiker. (S. 75) Den harten Gegensatz, den Haidus Interpretation vorgeschlagen hatte, relativiert
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter Calogrenantszene formiert sich die Genus-Species-Problematik nun über eine kulturelle Handlung – den Gabentausch – und nimmt die Form einer sich entwickelnden Erzählung an. Wie der wilde Yvain die reduzierte Stufe der conditio humana über habitualisierten Gabentausch (Gewohnheit) in Kultur überführt, transformiert sich die Ökonomie der Nächstenliebe des Einsiedlers in eine Warenwirtschaft: Yvains Tauschwirtschaft repräsentiert ganz im Sinne adeliger Gabenlogik die Grenze zur Natur hin, des Einsiedlers Warenwirtschaft dagegen ganz im Sinne einer aufkommenden bürgerlichen Handelskultur die Grenze hin zur Geldwirtschaft. Dass hier eine substantielle Grenze von Standesqualitäten vorausgesetzt ist, scheint daran sichtbar zu werden, dass der Einsiedler Yvain zwar an seine menschliche Art heranführt, dass aber innerhalb dieser weiter essentielle Artdifferenzen bestehen bleiben. Der magische Wechsel in die Adelsart qua Zaubersalbe markiert zugleich die Distanz adeliger Identität zu Zivilisationsprogramm (Rodung) und Warenökonomie, die anderen Ständen zukommt. Der Weg von der religiösen und ökonomischen Kultur in die Adelskultur, die als Natur aufgefasst wird, wird blockiert. 104 Die Entfaltung der Erzählung auf der Basis zeitgenössischer Topoi überschreitet die konventionellen Grenzen dann dort, wo die Topoi in komplexere Zeichenrelationen überführt werden: in der Allianz von Yvain und dem Löwen. Der Löwe, der nunmehr als allegorische Figur in die Handlung eingeführt und bis an das Lebensende Yvains Gefährte sein wird, vereinigt eine Vielzahl von Semantiken, die zeitgenössischen Diskursen entlehnt werden: Als König der Tiere bezeichnet er Herrschaft, als wildes zorniges Tier überlegenes Gewaltpotential, als verletztes Tier Dankbarkeit und Dienstfertigkeit, schließlich als religiöse Figur höhere Gerechtigkeit. Vance deutet den Löwen als „metastable sign“, als Topos, der es vermag, eine Vielzahl z. T. widerstreitender Semantiken aus Theologie, Politik, Naturlehre und Heraldik auf sich zu vereinigen. 105 Während aber die zeitgenössischen Diskurse die (letztlich metaphorischen) Semantiken naturalisieren, werden sie in Chrétiens literarischem Modell bereits dekonstruiert. Medium dieser Dekonstruktion ist die heraldische Funktion des Löwen, der sich schon in der ersten Begegnung mit Yvain in heraldischer Pose präsentiert und im Namen des Chevalier au Lion festschreibt. Vance weist nun darauf hin, dass es gerade die Heraldik war, die im zwölften Jahrhundert als arbiträres System entstanden ist, um Adelsgeschlechter nicht mehr genealogisch, sondern unter den Bedingungen der Schlacht funktional zu unterscheiden. Die heraldischen Zeichen haben kein fundamentum in re mehr. Vance greift auf Lévi-Strauss’ Analyse des Totemismus zurück, um zu demonstrieren, dass Vance aber zugunsten eines dynamischen Verhältnisses, nach dem es mehr in Chrétiens Interesse liege, geschlossene Systeme (textuelle, monetarische, logische, juristische) als Möglichkeiten zu begreifen, das Vielfältige in eine Ordnung, das Indifferente in Differenzierung, das Zufällige in Regelhaftes zu überführen. (S. 77). 104 Waldmann (Anm. 58), S. 65f. 105 Vance (Anm. 95).
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter
Zeichen nicht nur auf natürliche Referenten bezogen werden können (wie in den Diskursen), sondern bereits funktional als Mittel sozialer Distinktion eingesetzt werden. Der Yvain konfrontiert mithin konkurrierende Zeichenregister seiner Zeit. Was bei Lévi-Strauss aber noch über die Mythenanalyse auf die Proportionalität der Analogiefigur, d. h. auf eine metaphorische Operation, zurückgeführt wurde (s. o.), wird in der Differenzierung der Adelsnamen und Wappen zum rein differentiellen Mechanismus, der seine Korrespondenz auch in zeitgenössischen Grammatiktheorien findet. Vances topisch ausgerichtete Lektüre von Chretiens Yvain vor dem Hintergrund zeitgenössischer Wissensdiskurse (Logik, Moralphilosophie, Theologie, Heraldik) und überlieferter Gemeinplätze demonstriert die Komplexität logischer und metaphorischer Verfahren bereits in mittelalterlicher Dichtung. Keine Rede kann davon sein, dass im Mittelalter eine geistliche Denkform alles Wissen präformierte oder dass die metaphorischen Operationen eindeutig waren. Eher stehen sie für den Befund, dass es die Auffassung von der Metapher nicht gibt, ja nicht einmal für historische Epochen reklamiert werden kann.
Erzähltes Leben Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
Metaphorik des Diagramms – Diagramm als Metapher Der griechische Geschichtsschreiber Herodot überliefert im ersten Buch seiner Historien ein Gespräch zwischen dem Athener Solon und dem lydischen König Krösus über die Glückseligkeit. Nachdem der Weise dem selbstverliebten Herrscher, der sich für den Glücklichsten unter den Menschen hält, eine Reihe von Gegenbeispielen präsentiert hat (z. B. Tellos von Athen), macht er ihm eine einfache Rechnung auf: Auf siebzig Jahre setze ich die Dauer des Menschenlebens. Das sind 25200 Tage ohne die Schaltmonate. Will man jedem zweiten Jahre noch einen Schaltmonat hinzufügen, damit die Jahreszeiten an die gehörige Stelle rücken, dann betragen die Schaltmonate im Verlauf der 70 Jahre 35, und die Tage dieser Monate ergeben 1050. Von allen Tagen dieser 70 Jahre – es sind 26250 – bringt keiner etwas, was dem anderen ganz gleicht. Darum, Kroisos, ist das Menschenleben ein Spiel des Zufalls. 1
Wolle man angesichts solcher Kontingenz überhaupt ein Urteil über das Glück des Menschen wagen, so Solon weiter, müsse man überall „auf das Ende und den Ausgang sehen.“ 2 Dem wechselhaften Leben kann offenbar nur im Rückblick adäquat Rechnung getragen werden, indem die Zählung der Ereignisse in die Erzählung überführt wird, die Sinn immer vom Ende her entwirft. Die Schlussfolgerung aus dem rein arithmetischen Befund, der in seiner pedantischen Genauigkeit verblüfft, dient aber nicht nur dem Weisen als Argument, sie begründet auch die Arbeitsweise des Historikers: „Ich weiß, menschliche Größe hat keineswegs Bestand; so will ich denn in gleicher Weise die Schicksale beider [der Großen wie der Kleinen, U. F.] behandeln.“ 3 Resultat ist eine exemplarische Geschichtsschreibung, die des Besonderen gedenkt und diesem in seiner Ambivalenz gerecht zu werden sucht. Aristoteles setzt sich bekanntlich in seiner Nikomachischen Ethik (I,11) mit der These Solons auseinander. Gegen das induktive Verfahren des Weisen und des Historikers setzt er das deduktive des Philosophen. Statt Glückseligkeit an der Lebensbilanz konkreter Biographien auszumachen, definiert er sie nach einem logischen 1 Herodot: Historien. Hrsg. und übersetzt von Josef Feix. Düsseldorf/Zürich 2004, I,32. 2 Ebd. 3 Ebd., I,5. https://doi.org/10.1515/9783110772340-017
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Schema, um einen allgemeineren Geltungsanspruch zu erlangen. Tugend sei eine Tätigkeit, die auf allen Gebieten die Mitte zwischen zwei Extremen halte. Aristoteles geht von einem grundlegenden „arithmetischen Verhältnis“ aus – „In allem, was kontinuierlich und was teilbar ist, läßt sich ein Mehr, ein Weniger und ein Gleiches antreffen“4 – und überträgt es auf die konkrete Praxis: „So meidet denn jeder Kundige das Übermaß und den Mangel und sucht und wählt die Mitte“.5 Das arithmetische Modell liefert ein Verfahren, alle Felder menschlichen Handelns nach unterschiedlichen Oppositionen und Vermittlungen zu ordnen und so zu einer allgemeinverbindlichen Definition von Glückseligkeit zu gelangen. Angesichts der unüberschaubaren Komplexität des Lebens folgen Historiker und Philosophen in der Bestimmung der Glückseligkeit sichtbar gegenläufigen Verfahren, die exemplarisch für den Umgang mit Sinnfragen des Lebens stehen können. ‚Leben‘ scheint aber weit mehr zu sein als narrative Bilanz oder logisches Kalkül. Zwischen Induktion und Deduktion existiert noch eine weitere Option, die das Singuläre und das Abstrakte nicht trennt, sondern über rhetorische Verfahren moderater relationiert. Gegenüber Arithmetik und Logik setzt die Rhetorik auf die Anschaulichkeit des Problems durch ein prägnantes Bild, durch die Metapher, die sich auf die Erfahrung des common sense berufen kann: homo quasi herba dies eius sicut flos agri sic florebit (‚Der Mensch, wie Heu ist sein Tag, und wie die Blume des Feldes, so blüht er‘), heißt es in den Psalmen (Ps. 103,15), und im Narrenschiff formuliert Sebastian Brant: Aber des ist des gelückes fall / Das vff vnd ab dantzt wie ein ball.6 Jenseits von Historiographie und Philosophie bietet die Rhetorik über Vergleiche, Metaphern und Gleichnisse Verfahren der Visualisierung, die nicht nur den Konnotationsspielraum von Sprachbildern reich entfalten, sondern auch zu Programmen ausbauen können, indem sie ihre analytischen und narrativen Implikationen aktivieren. ‚Leben‘ ist weder ein einfaches Wort noch ein Begriff, sondern eine Idee, die privilegiert über Metaphern Anschaulichkeit erhält. Ein instruktives Beispiel, um solche Verfahren visueller Komplexitätsreduktion und -produktion zugleich zu studieren, stellt die Metapher vom Lebensweg dar. Die Metapher vom Lebensweg lässt sich mithilfe der berühmten Metapherndefinition präziser fassen, die Aristoteles in seiner Poetik gibt.7 Er demonstriert an einer Formel, wie Metaphern konstruiert werden, und stellt eine Verhältnisregel auf, wie sich vier unterschiedliche Terme zueinander relationieren lassen, so dass
|| 4 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearbeitet von Günther Bien. Hamburg 1995, II,5 (1106a). 5 Ebd., II,5 (1106b). 6 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hrsg. von Manfred Lemmer. 3. erweiterte Aufl. Tübingen 1986, Kap. 6, V. 77f. 7 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, Kap. 21 (1457b).
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
sie eine Metapher ergeben: B verhält sich zu A wie D zu C. Aristoteles illustriert dies an der Metapher des Lebensabends: Der Abend verhält sich zum Tag wie das Alter zum Leben. Deshalb können wir vom ‚Alter des Tages‘ und vom ‚Abend des Lebens‘, vom ‚Lebensabend‘, sprechen.
Abb. 11: Diagrammatische Veranschaulichung zu Aristoteles’ Poetik 1457b
In Bezug auf das Verhältnis von Leben und Weg ergeben sich folgende Relationen: Das Leben verhält sich zum Tod wie der Weg zum Ziel, woraus sich die Metapher des ‚Lebensziels‘ ergibt. Oder: Der Lauf verhält sich zum Weg wie das Leben zur Zeit, woraus die Metaphern ‚Lebensweg‘ und ‚Lauf der Zeit‘ resultieren. Mit den Metaphern ‚Lebensweg‘, ‚Lauf der Zeit‘ und ‚Lebensziel‘ offenbart das Bild des Weges bereits seine Ergiebigkeit für die Beschreibung von Lebensprozessen in ihrem Verlauf, in ihrer Zeitlichkeit und in ihrer Finalität. Wie Aristoteles in der Bestimmung der Glückseligkeit auf ein ‚arithmetisches Verhältnis‘ rekurriert, so nutzt er auch für die Definition der Metapher ein logisches Verfahren, löst es aber wie in der Ethik aus streng logischen Argumentationszusammenhängen. Die Metapher weist über eine rein ästhetische Praxis hinaus, sie wird über die Analogie der Proportionalität zur kognitiven Operation und erhält eine epistemologische Funktion. 8 Nach Aussage der aristotelischen Rhetorik ist ja der richtig denkende Mensch dadurch charakterisiert, dass er in der Lage sei, „das Ähnliche auch in weit auseinander liegenden Dingen zu erkennen“. 9 Mit Hilfe von Metaphern wird die Ausdrucksnot sowohl der Sprache (Katachrese) als auch des Denkens (Ideen) kompensiert. Über die Metapher vom Lebensweg 8 Vgl. Matthias Bauer, Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010, S. 302. 9 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz Günter Sieveke. 4. unveränderte Aufl. München 1993, III,11,5 (1412a). Zur Metapher als Denkmodell vgl. Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede. Berlin 2002, S. 9–18, hier S. 12.
Erzähltes Leben wird das Problem der Zeitlichkeit des Lebens mit Hilfe von Raumkategorien strukturiert. Wie hermeneutische Prozesse des Verstehens privilegiert im Bildfeld des Buches (lesen, übersetzen, dechiffrieren) und die Performanz des Handelns in dem des Theaters (spielen, inszenieren, Rolle) gefasst werden, so wird der Vorgang des Lebens über die Metapher des Weges prägnanter greifbar. Solch absolute Metaphern changieren von einer Figur des Mangels zu einer der Fülle, da sie einen schier unbegrenzten Spielraum an Konnotationen eröffnen, um den Prozess des Lebens bildlich zu konfigurieren und selbst gegenläufige Semantiken zu artikulieren. Die normierende Funktion der Wegmetapher etwa hat sich tief in den common sense eingeprägt: Gradlinig und zielstrebig zu sein oder Umwege zu vermeiden gilt ebenso als Tugend, wie den goldenen Mittelweg zu gehen oder einem Leitbild zu folgen. Es gehört aber zur rhetorischen Funktion der Wegmetaphorik, dass sie dem Leben je nach Situation und Perspektive auch einen anderen Sinn verleihen kann. Aus kritischer Perspektive führt ein grader Weg immer nur ans Ziel (Gide), ist der Mittelweg doppelt gefährlich (Grabbe), führen Umwege mitunter weiter (Strindberg), wie es auch einen Vorzug darstellen kann, seinen eigenen Weg (My way) zu gehen. Die Wegmetapher erscheint flexibel genug, um ganz unterschiedliche Konzeptionen des Lebens zu fassen, d. h. die normierende oder kritische Funktion der Wegmetapher hängt von der Blickrichtung ab. Die Unhintergehbarkeit der Wegmetapher wird noch darin sichtbar, dass auch geistige Prozesse der Orientierung mit ihrer Hilfe strukturiert werden. Die wissenschaftliche Methode, der met-hodos, bedeutet ursprünglich „einer Sache nachgehen, etwas verfolgen“, dann „aber im übertragenen Sinne: einem Sachverhalt nachgehen, den Gang und Verlauf einer Sache im Blick behalten, theoretisch verfolgen“. 10 Wenn im philosophischen Denken der ‚Weg‘ Begriff und Metapher zugleich sein kann, belegt das nicht nur die strukturierende Funktion der Metapher, sondern verweist auch auf Grenzbereiche von Begriff und Metapher. 11 Metaphern können durchaus begrifflich diszipliniert werden, so dass ihr metaphorischer Gehalt verschwindet. Zielt der methodos im Feld streng wissenschaftlicher Fragestellungen auf logische Stringenz, erweist sich diese in Bezug auf Sinnfragen des Lebens als defizitär. Weniger die Logik als die Rhetorik firmiert hier als adäquate Disziplin. Die Rede vom ‚metaphorischen Umweg‘ ist denn auch darauf ausgerichtet, jene Dimensionen des Lebens besser fassen zu können, die in streng logischen Verfahren nicht aufgehen: „Rhetorik […] ist [hinsichtlich] der Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff der Verzögerung. Umständlichkeit, prozedurale Phantasie, Ritualisierung implizieren den Zweifel daran, daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der
10 Hans Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode. In: Studium Generale 5 (1952), S. 133–142, hier S. 134. 11 Vgl. Dirk Westerkamp: Art. Weg. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt 2008, S. 518–545, hier S. 519.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
humane Weg zwischen ihnen sei.“ 12 Das Leben beginnt mit Desorientierung, wie bereits die Sprüche Salomons (Prov. 30,18) formulieren: ‚Tria,‘ inquit, ‚sunt difficilia michi et quartum penitus ignoro: viam aquile in celo, uiam colubri super petram, viam nauis in medio mari et viam uiri in adolescencia. Sicut enim priorum trium non apparent vestigia, sic adolescentis via hominibus est ignota. Cum enim tota sit plena periculis et quasi penitus inuia, nulli videtur esse peruia.‘ ‚Drei Dinge kann ich nicht begreifen, und das vierte verstehe ich gar nicht: den Weg des Adlers am Himmel, den Weg der Schlange über den Felsen, den Weg des Schiffes mitten durch das Meer und den Weg des Mannes in der Jugend. Wie nämlich von den ersten drei keine Spuren zum Vorschein kommen, so ist auch des Jünglings Weg den Menschen unbekannt. Denn da er voll von Gefahren ist, und ganz unwegsam, scheint für keinen ein Weg zu bestehen.‘ 13
Abb. 12: Diagrammatische Figuren
Das Leben entlang der Vorstellung des Weges zu modellieren, eröffnet einen schier unerschöpflichen Spielraum an Übertragungsmöglichkeiten. Sie können z. B. auf die Art des Weges – Spur, Pfad, Grat, Straße – oder seine Beschaffenheit – glatt, rau, eben, steil – bezogen sein, aber auch auf die Art der Bewegung – gehen, eilen, rasen – oder auf die Modalitäten des Zugangs – wollen, können, sollen, dürfen. Sie können darüber hinaus auch die Struktur des Weges selbst betreffen: Strecke und Linie, 12 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, S. 406–431, hier S. 420. 13 Zitiert nach Vincent of Beauvais: De eruditione filiorum nobilium. Ed. Arpad Steiner. Cambridge, Mass. 1938, S. 139. Dt.: Vinzenz von Beauvais: Über die Erziehung. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit biographischem Anhang versehen von August Millauer. Donauwörth 1890, S. 155. Vgl. Vroni Mumprecht: Art. Weg. In: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi 12 (2001), S. 397–417, hier zu den „Unerforschliche[n] und unbekannte[n] Wege[n]“ S. 406–410.
Erzähltes Leben Kreuzung und Scheideweg, Kreis und Labyrinth. Geometrische Figuren dieser Art werden gemeinhin ‚Diagramme‘ genannt. Diagramme bilden eine Form des anschaulichen Denkens und Schlussfolgerns, die es erlaubt, „uns von abstrakten Sachverhalten im buchstäblichen Sinn ein Bild zu machen.“ 14 Ihre strukturierende Wirkung kann sich sowohl über reale Bilder als auch über geometrische Metaphern entfalten. Zwischen dem Leben und dem Weg vermittelt das Diagramm als anschauliches Schema, das die „epistemologische Überlagerung einer sequenziellen Referenz (Vergleich zweier Bilder) mit einer simultanen Evidenz (Erzeugung eines neuen Bildes)“ leistet und Diagramm und absolute Metapher verbindet. 15 Die Diagrammatik des Weges zeugt von dem Bedürfnis, der Komplexität des Lebens wie der Wegmetaphorik über mathematische Abstraktionen Herr zu werden. Der bedrohlichen Dynamik der Zeitlichkeit, d. h. dem unerbittlichen Zerfall der Gegenwart und dem nicht greifbaren Fließen des Zeithorizonts, wird mit Hilfe geometrischer Wegkonstruktionen Einhalt geboten, um das ganze Leben oder kritische Phasen modellhaft zu strukturieren. Das Unfassbare wird durch das Fassbare veranschaulicht und in eine Ordnung überführt, so dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über Diagramme insofern sinnhaft modellieren lassen, als ihnen elementare anthropologische Konstellationen eingeschrieben werden: Endlichkeit und Unendlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Chance und Risiko, Glück und Unglück, Sinn und Sinnlosigkeit. Wegdiagramme sind Repräsentationen konfigurierter Ideen über das Leben, sie liefern anschauliche Modelle, um auf der Basis von implementierten Wertrelationen vielfältige Optionen durchzuspielen und diskursiv oder narrativ zu erproben. Bereits die einfache Form der Strecke eröffnet ganz unterschiedliche Konfigurationen. Die Strecke ist bekanntlich die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, übertragen auf das Leben repräsentieren die beiden Punkte Geburt und Tod, wie sie auch auf Prozesse der Kausalität und Finalität ausgedehnt werden können: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Dazwischen erstreckt sich das Leben, das dann seinerseits in seine unterschiedlichen Rhythmen und Etappen mit all ihren Zäsuren untergliedert werden kann.
14 Christian Stetter: Bild, Diagramm, Schrift. In: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. Hrsg. von Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer. München 2005, S. 115–135, hier S. 125, zit. n. Bauer/Ernst (Anm. 8), S. 19. 15 Bauer/Ernst (Anm. 8), S. 305 (Hervorh. im Orig.).
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
Strecke und Linie Eine Variante zum Bild des Lebensweges stellt das der Lebensreise dar. 16 Nur implizit ruft die Reisemetapher die Struktur des Weges auf, vielmehr wechselt das Konnotationsfeld der Metapher hin zur Bewegungsform. Matthias Bauer hat darauf hingewiesen, dass „die einfachste Form der Land- und Seekarte die Aufzeichnung einer Strecke, d. h. ein gezeichneter Reisebericht ist.“ 17 Die Reise, die durch zwei Punkte definiert ist, impliziert mit der funktionalen Bewegung ein Telos und damit einen Richtungssinn. Wenn nach Aristoteles die metaphorische Operation auch vom Bekannten aufs Unbekannte schließen kann, dann werden hier die Denotationen der Reise zu Konnotationen des Lebens, wobei die Metapher als Suchfunktion für eine Unbekannte fungiert: Wie die Reise zum Ziel, so verhält sich das Leben zu X, zum Äquivalent des Ziels, das als Lebensziel selbst schon wieder zur toten Metapher geworden ist. 18 Struktur, Funktion und Richtungssinn der Reise werden auf das Leben übertragbar. Dass ein solches Ziel weniger auf den Tod begrenzt ist, als dass es den Lebensplan umfasst und als solcher ganz unterschiedlich besetzt sein kann, verweist auf die Leistungsfähigkeit der Metapher. Der Reiseplan erscheint nun in seiner doppelten Bedeutung als konkrete Karte und als abstrakte Orientierung auf ein Ziel. 19 Das öffnet auch diese Metapher für eine Vielzahl symbolischer Modellierungen bis in ihre Feinstruktur hinein: „Jeder Tag ist eine Reise und die Reise an sich ist das Zuhause“, heißt es in einem alten japanischen Sprichwort (Matsuo Bashō). Wenn die Aufzeichnung einer Strecke ein „gezeichneter Reisebericht“ ist, impliziert sie auch „die Idee der Erzählung“. 20 Anfang und Ende als elementare Markierungen des Weges und des Lebens können mit dem Anfang und Ende des Erzählens korrespondieren. Nach Aristoteles umfasst der Mythos, die Erzählung, das Ganze einer Handlung, das sich aus Anfang, Mitte und Ende zusammensetzt. 21 So wie bei der Wegstrecke der ganze Weg, so rückt in Bezug auf das Leben die ganze Erzählung in den Blick, etwa in der Abfolge der Altersstufen Jugend, Reife und Alter. Erst mit dem ‚letzten Weg‘ gelangt das Leben an ein Ende, formieren sich im Sinne Herodots die Teile zu einem Ganzen, das dann der abschließenden Bewertung
16 Vgl. Matthias Christen: To the end of the line. Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München 1999, S. 11–63. 17 Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart/Weimar 1993, S. 9. 18 Zur Suchfunktion vgl. Aristoteles: Poetik (Anm. 7), Kap. 21 (1457b). 19 Vgl. Dörthe Schilken: Die teleologische Reise. Von der christlichen Pilgerallegorie zu den Gegenwelten der Fantasyliteratur. Würzburg 2002. 20 Im Anschluss an Calvino, Bauer (Anm. 17), S. 9. 21 Vgl. Aristoteles: Poetik (Anm. 7), Kap. 7 (1450b).
Erzähltes Leben und Erzählung offensteht. Indem Aristoteles aufzeigt, wie eine Erzählung sich aus den Elementen Anfang, Mitte und Ende konstituiert, um ein Ganzes zu ergeben, liefert er nach Bauer/Jäger auch schon ein analytisches Instrumentarium, wie Erzählungen zerlegt werden können. 22 Ebenso ist es keine Frage der Alternative, ob man eine Erzählung vom Anfang her aufbaut oder vom Ende her in den Blick nimmt, sondern immer eine der wechselseitigen Relation. 23 Insofern sind Weg, Leben und Erzählen auf komplexe Art miteinander verwoben. Die Finalität des Erzählens privilegiert vor allem die Perspektive des Endes. Was jeder Erzähler ex post leistet, kann aber für den handelnden Menschen zugleich als Modell, als methodos, der Lebensplanung antizipiert werden: Qui vult navem regere, ponit se in fine navis; sic sapiens consideratione finis regit se in his quae sunt ad finem. (‚Wer ein Schiff lenken will, stellt sich an das hintere Ende des Schiffs; so lenkt der Weise das Schiff seines Lebens, indem er sich durch Betrachtung des Todes dahin stellt, wo das Ende seines Lebens ist.‘) 24 Herodots Mahnung – „Überall muß man auf das Ende und den Ausgang sehen“ (I,32) – erhält aus der Perspektive des handelnden Subjekts noch einmal einen anderen, prospektiven Sinn, so dass die Finalität von Kausalitätskalkülen abhängig wird. Schon bei Aristoteles steht die Metapher in enger Verbindung mit dem Gleichnis, das selbst noch gar nicht auf eine Erzählung bezogen wird. 25 Es stellt aber eine der Leistungen von Wegmetapher und Wegdiagramm dar, dass sie in eine Erzählung überführt werden können. Auch das Gleichnis entfaltet als Erzählung einen Handlungszusammenhang metaphorisch. Wenn die Erzählung nie ein Abbild der Wirklichkeit, sondern immer ein Konstrukt ist, so findet sie in den Weggleichnissen ihre prägnante Form. Mit der Abstraktion der Wegdiagramme korrespondiert die Abstraktion der Erzählform, um allgemeine Konfigurationen des Lebens zu modellieren, die sich sowohl jenseits konkreter Einzelfälle als auch jenseits der Allgemeingültigkeit logischer Geltungsansprüche formieren. In den Weggleichnissen lassen sich die logischen Operationen, mit denen Aristoteles die Metapher und die Erzählung definiert hatte, auf die diagrammatischen Wegmodelle abbilden, so dass narrative Verlaufsmuster metaphorischer Art entstehen, anhand derer Wege zur Glückseligkeit verhandelt werden können. Die diagrammatischen Strukturen der
22 Vgl. Matthias Bauer, Maren Jäger: Statt einer Einleitung. In: Mythopoetik in Film und Literatur. Hrsg. von dens. München 2011, S. 7–32, hier S. 8. 23 Vgl. Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979, S. 85–119. 24 Wilhelm Peraldus: De eruditione principum. In: Thomae Aquinatis opera omnia. Hrsg. von Eduard Fretté. Paris 1875, S. 551–672, hier S. 597. Dt.: Wilhelm Peraldus: Die Pflichten des Adels. Eine Stimme aus den Tagen des heiligen Thomas von Aquin. Übersetzt von Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Mainz 1868, S. 184. 25 Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 9), Kap. III,4,1 (1406b) u. III,10,11 (1413a).
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
Wegmetapher führen dann dazu, dass eine Vielzahl von Varianten imaginiert und modelliert werden kann. Es macht schon einen Unterschied, ob wir uns auf einer markierten Strecke oder auf einer Linie bewegen. Nach der Lebenslinie wird in mantischen Kontexten zwar in der Erwartung gefragt, dass die Entscheidung im Vorfeld schon prädisponiert ist, doch impliziert die geometrische Form der Linie eine Offenheit des Ziels, die Unruhe hervorruft. Aus diagrammatischer Perspektive vollzieht sich etwa die Aventiurefahrt des höfischen Ritters auf einer imaginären Linie und verhandelt in immer neuer Variation die „Sinnerfüllung des Zufalls“. 26 Für das Christentum bezeichnet die peregrinatio den Inbegriff von Entfremdung in dieser Welt. Die christliche Pilgerschaft hatte zwar auch das Erdenleben im Blick, in dem sich der Wanderer auf den Tod vorzubereiten hatte, sie strebt aber mit dem ewigen Leben (Himmlisches Jerusalem) ein darüber hinausgehendes Ziel an. Wenn Christus predigt „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), entwirft er die Metapher vom Lebensweg als Wanderung von einem Anfang zu einem Ende, das zugleich aufgehoben wird, indem es Endlichkeit in Unendlichkeit, in das ewige Leben, überführt. Im christlichen Konzept des Heilsweges wird die irdische Strecke des Lebens in eine transzendente Lebenslinie überführt, die die harte Zäsur des Todes überwindet. Mittelalterliche Erzählungen von Jenseitsreisen verleihen dieser Faszination an der Grenzüberschreitung markanten Ausdruck. Für den Christen gibt es nur einen Weg, der paradigmatisch für alle steht. Dieser Weg ist schon einmal durch Christus beschritten worden: Redemptor noster per mortale corpus omne quod egit, hoc nobis in exemplum actionis praebuit, ut pro nostrarum virium modulo ejus vestigia sequentes, inoffenso pede operis praesentis vitae carpamus viam. (‚Unser Erlöser hat alles, was er in seinem sterblichen Leibe tat, uns als ein Beispiel für unser Handeln aufgestellt, so daß wir nach dem Maße unserer Kraft in seine Fußstapfen treten und ohne anzustoßen den Lebensweg, der jetzt unsere Aufgabe ist, wandeln können.‘) 27 Die horizontale Bewegung in der Welt orientiert sich an einer vertikalen Raumstruktur, die durch die transzendenten Pole Himmel und Hölle bestimmt ist. Die metaphysische Struktur der Reise ruft aber zugleich neue Semantiken auf, die der Reise ein mythisches Moment einschreiben: die von Heimat und Fremdheit, Endlichkeit und Ewigkeit, Gefahr und Rettung. 28 Wenn die metaphysische Karte das Reiseziel vorzeichnet, gelten alle Abweichungen als Verirrung: „Geradlinigkeit ist das oberste Gebot der christlichen Hodosophie: Ein 26 Erich Köhler: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München 1973, S. 29. 27 Argumentum in quatuor libros dialogorum sancti Gregorii magni. In: Sancti Gregorii Papae I: Opera Omnia. Hrsg. Jacques Paul Migne. Reprint der Ausgabe Paris 1849. Turnhout 1967 (= Patrologiae cursus completus. Hrsg. von dems. Paris 1844ff., Bd. 77), Sp. 192C. Dt.: Des Heiligen Papstes und Kirchenvaters Gregor des Grossen vier Bücher Dialoge. Aus dem Lateinischen übersetzt von Prälat Joseph Funk. München 1933, S. 32f. 28 Vgl. Christen (Anm. 16), S. 31–63.
Erzähltes Leben Pilgrim wandert die rechte Landstrasse. Er schweiffet nicht bald hie bald da hinauß. […] Das beste ist / in der Landstrassen geblieben / und den gebahnten weg gegangen“. 29 Der Weg des Christen ist nach der klassischen Semantik schmal, lang und hindernisreich, aber es ist ein gerader Weg. Der Weg vom Leid der Welt in die ewige Seligkeit kann als Wanderung auf einer Linie imaginiert werden. So erzählen die Gesta Romanorum von einem Mann namens Ganterus, der sich frühmorgens auf die Heerstraße begibt, um Freude ohne Leid, Fülle ohne Mangel und Licht ohne Finsternis zu suchen. 30 Zweimal gelangt er an einen Ort, dessen Einwohner ihn zum König erheben, zweimal soll er die Nacht im Bett mit Ungeheuern oder scharfen Messern verbringen. In beiden Fällen nimmt er aus Furcht wieder Abschied, ehe er nach dreitägiger Wanderung auf einen alten Greis trifft, der ihm seinen Wanderstab übergibt und ihm die Richtung weist: per istam viam perge. Montem altum videbis ante te (‚gehe immer auf dieser Straße fort; du wirst bald einen Berg vor dir erblicken‘). 31 An diesem solle er eine sechsstufige Leiter erklimmen, den Stab vorweisen und um Einlass bitten: ubi illa tria et multa plura invenit et ibidem toto tempore vite sue permansit etc. (‚da fand Ganterus alles und mehr noch und blieb sein ganzes Leben daselbst.‘) 32 Der Raum der Gleichniserzählung wird durch den Chronotopos der Straße und ihrer Stationen strukturiert, die Handlung folgt dem Erzählprogramm von Suchen und Finden und die Axiologie entwirft die Spannung von Leid und Freude, die Ausdruck der miseria hominis ist. Ganz im Sinne christlicher conditio humana vollzieht sich die Handlung vor dem Hintergrund einer elementaren Mangelsituation, die erst am Ende aufgehoben wird. Mit dem Ende des Weges fallen das Ende der Suche und das Ende der Erzählung zusammen. Überraschend sind indes die Leichtigkeit der Wanderung und die Abwesenheit von Mühsal, die der Wegmetaphorik traditionell entgegenstehen. Die Allegorese der Erzählung läuft denn auch nur partiell über die Wegsemantik. Sie deutet die beiden Städte als Orte der Versuchung, das Bett als Bild für das menschliche Leben, das durch sündige Wollust und Tod gekennzeichnet ist, die drei Tage der Wanderung aber schon als gestaffelte Buße. Erst am Ende geht auch die horizontale Bewegung in die vertikale der Transzendenz über, die vertikale Bewegung entfaltet über die sieben Stufen der Leiter die Wegsemantik als Aufstieg. Wie der Stab den Wanderer zum Heil (ad vitam salutis) führt, so bezeichnen die Stufen die Werke der misericordia, durch die man zum ewigen Leben gelangt (per que poteris ad eternam 29 Reinhold von Derschau: Hodosophie. Frankfurt a. M. 1675, zitiert nach Christen (Anm. 16), S. 38f. 30 Vgl. Gesta Romanorum. Hrsg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872. Neudruck Hildesheim 1963, S. 426–428, hier S. 427. Dt.: Gesta Romanorum. Die Taten der Römer. Ein Geschichtenbuch des Mittelalters. Nach der Übersetzung von Johann Georg Theodor Grässe. Hrsg. und neu bearbeitet von Hans Eckart Rübesamen. München 1962, S. 127f. 31 Gesta Romanorum (Anm. 30), S. 427. Dt.: Taten der Römer (Anm. 30), S. 128. 32 Gesta Romanorum (Anm. 30), S. 427. Dt.: Taten der Römer (Anm. 30), S. 128.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
vitam pervenire). 33 So wie mit dem Erreichen des Ziels alle Gegensätze aufgehoben werden, so geht auch die Strecke des Lebens unmerklich in die Linie der Ewigkeit über, die durch ihre vertikale Richtungsänderung noch der christlichen Raumsemantik Rechnung trägt. Nicht zufällig wird das gute Ende auch mit einem Blick auf das ganze Leben assoziiert. Zur Diagrammatik der Wegmetapher gehört aber auch, dass das Ende ausgeblendet werden und offen bleiben kann, so dass Optionen entstehen, neue Spannungen zu verhandeln. Schon Aristoteles beruft sich auf die Pythagoreer, wenn er das Unbegrenzte dem Schlechten und das Begrenzte dem Guten zuweist. 34 Sobald die transzendente Orientierung entfällt und die Sinnfrage in die Immanenz (Endlichkeit) verlegt wird, wird das Subjekt selbst auf andere Art in die Verantwortung genommen. Der Reise als Form der orientierten Bewegung steht dann die Wanderung ohne festes Ziel gegenüber. Unter dem Begriff ‚Chronotopos Landstraße‘ wird die Straße zur Metapher der Ort- und Heimatlosigkeit, zum einen in der vormodernen Version des Pikaro, dessen Lebensweg nur ausschnitthaft erzählt wird, zum anderen in der modernen Version des Tramp oder des lonesome hero, der aus der Ferne kommt und in der Ferne wieder verschwindet. 35 Das Bild der Landstraße entwirft das Leben auf einer Linie, das weder ein vorgegebenes Ziel kennt noch ein selbst gesetztes zu realisieren vermag. Bereits im Mittelalter schwimmt der Heimatlose, der ellende, nicht nur im Meer der Welt, sondern bewegt sich als Figur der Bedürftigkeit auch auf der ‚Straße der Welt‘. 36 Die moderne Version solcher Ortlosigkeit zwischen Anfang und Ende hat Samuel Beckett immer wieder in seinen Werken gestaltet: „Nirgendwohin gehend, nirgendwoher kommend zieht Malone vorbei“. 37 Je nach Perspektive kann der einsame Wanderer auf der Linie, die weder Anfang noch Ende kennt, eine Figur der Sinnlosigkeit, aber auch der Selbstbehauptung und noch der Rettung für andere sein. Komplementär zur ziellosen Wanderung auf dem Lebensweg kann aber auch die unwiederbringliche Entfernung vom Anfang im Bild der Linie gefasst werden. Schon Balthasar Gracián lässt im Kritikon seine Wanderer Andrenio und Critilo auf ihrem allegorischen Lebensweg durch die Welt am Bildfeld der Treppe resignative Schlussfolgerungen ziehen: „Sei dir bewusst, wir steigen die Treppe des Lebens hinauf, und die Stufen der Tage, die wir hinter uns lassen, vergehen in eben dem Augenblick, da wir den Fuß abheben. Es gibt kein zurück und
33 Gesta Romanorum (Anm. 30), S. 428. 34 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik (Anm. 4), II,5 (1106b). 35 Vgl. Ansgar Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001, S. 18–20 u. 227. 36 So in der 66. Erzählung der Gesta Romanorum: Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und hrsg. Rainer Nickel. Stuttgart 1991, S. 108–113, hier S. 110f. 37 Samuel Beckett: Der Namenlose. Roman. Frankfurt a. M. 1959, S. 12f.
Erzähltes Leben keinen anderen Ausweg als nach vorne.“ 38 Über die Metapher der Treppe wird die Unumkehrbarkeit des Lebensprozesses auf die vertikale Dimension projiziert. Während die Wegmetaphorik darauf zielt, die Zeit über Raumvorstellungen zu veranschaulichen, verzeitlicht Gracián wiederum die Wegstruktur, indem der Fortgang der Bewegung mit der Auflösung des Weges selbst verbunden und damit einem schmerzlichen Bewusstsein von Zeitlichkeit Ausdruck verliehen wird.
Abb. 13: Ebstorfer Weltkarte
Kreisdiagramme Neben Strecke und Linie tragen auch andere geometrische Formen – Kreis, Scheideweg, Labyrinth – der Kontingenz des Lebens Rechnung. Über die Figur des Kreises kann die Wegmetapher positive und negative Konnotationen ausbilden. ‚Sich im Kreis bewegen‘ steht bekanntlich für Orientierungslosigkeit und sinnlose Wiederholung. An der ‚Irrfahrt‘ des Odysseus ist dagegen die Gegenläufigkeit von Desorientierung und Kreisschlüssigkeit eindrücklich vorgeführt worden. 39 Sie ist mehr als 38 Baltasar Gracián: Das Kritikon. Aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Mit einem Nachwort von Hans Rüdiger Schwab. Frankfurt a. M. 2004, S. 111. 39 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 2006, S. 86f.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
eine bloße Heimkehr, bestehend aus einem Hin- und Rückweg, sie nimmt vielmehr über die zehnjährige Irrfahrt durch den Raum der Oikumene die metaphorische Form einer Kreisbewegung an. Wie Hans Blumenberg ausführt, stellt der Kreis eine zentrale mythische Figur der „Bedeutsamkeit“ dar, „die den Ordnungstenor der Welt und des Lebens gegen jeden Anschein von Zufall und Willkür verbürgt.“40 Auch das Christentum nutzt daher neben der Linie suggestive Kreisdiagramme, die es erlauben, den Anfang mit dem Ende zu verbinden und der Linearität und Zeitlichkeit des Lebens zu entgehen. Indem Christus den Weg weist und der Gläubige in die Nachfolge Christi tritt, gewinnt er am Ende seines Lebens jenen Zustand zurück, der am Anfang der Menschheitsgeschichte verloren gegangen ist: die Rückkehr ins Paradies. Die Geschlossenheit des christlichen Weltbildes erscheint ideal repräsentiert in der Ebstorfer Weltkarte.41 Was die Bibel als zeitliches Nacheinander entfaltet, stellt die Karte gleichzeitig nebeneinander: Adam und Christus, Altes Testament und Neues Testament, Fall und Erlösung. Die Karte gibt die Oppositionen nicht nur als eine zeitliche Sukzession von Anfang, Mitte und Ende wieder, sondern führt beide Pole auch zusammen. Um aber die Identität von Anfang und Ende zu gewährleisten, muss Linearität in Zirkularität übergehen.42 Im Diagramm des Kreises findet diese Verbindung ihre diagrammatische Form. Vinzenz von Beauvais formuliert in seiner Erziehungslehre denn auch den methodos für die christliche Orientierung, quia securius procedit, ut ad uitam eternam admittatur. […] Ideoque in mane puericie, que est inicium diei huius uitae, oportet, ut iter nostrum ad paradysum aggrediamur (‚daß wir sicherer vorwärts schreiten, um zum ewigen Leben zu gelangen. […]. Daher ist es notwendig, daß wir mit dem Morgen der Jugend, welcher der Anfang des Lebenstages ist, unsern Weg zum Paradies anfangen‘).43
40 Ebd., S. 86. „Das zyklische Schema war ein Grundriß des Weltvertrauens gewesen […].“ Ebd., S. 97. 41 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte. Hrsg. von Hartmut Kugler. 2 Bde. Berlin 2007. 42 Vgl. Udo Friedrich: Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von dems., Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2014, S. 267–288, hier S. 272f. (in diesem Band, S. 309-322). 43 Vincent of Beauvais (Anm. 13), S. 84. Dt.: Vinzenz von Beauvais (Anm. 13), S. 96f.
Erzähltes Leben
Abb. 14: Zeichnung eines Labyrinths
Das Diagramm des Kreises kann nicht nur in symbolische Kartographie und didaktische Sentenz, sondern auch in narrative Programme übersetzt werden. Die Schiffsreisen des heiligen Brandan durch das Meer der Welt sind in zahlreichen lateinischen und volkssprachigen Fassungen überliefert. 44 In der Navigatio-Fassung begibt sich Brandan auf das Meer, um das Paradies zu suchen, und trifft mit seinen Brüdern am Gründonnerstag auf eine Insel, auf der Vögel Gottes Lobpreis singen. Es handelt sich um die neutralen Engel, die als Geister die Welt durchfliegen müssen und nur zu diesem Zeitpunkt ihre Gestalt wechseln dürfen. Sie prophezeien Brandan den künftigen Weg. Sieben Jahre wird er das Meer der Welt durchfahren und zu den heiligen Zeiten – Gründonnerstag, Ostern, Pfingsten, Weihnachten – jeweils Station auf den gleichen Inseln machen. Wenn die Irrfahrt im Meer der Welt ihren symbolischen Ausdruck darin findet, dass die Seefahrer auf der Suche nach einem Hafen mehrfach Inseln umkreisen, ohne einen Hafen zu finden, ehe ihnen Gott nach dreimaliger Umrundung der Insel einen Zugang eröffnet, wird der Kreis zum Diagramm der Desorientierung. Der Kreislauf der kirchlichen Festtage firmiert dagegen als Modell der Orientierung. 45 Dem Meer als paradigmatischem Ort der Desorientierung werden über den liturgischen Festzyklus die zeitlichen Koordinaten 44 Vgl. Sankt Brandans Meerfahrt. Ein lateinischer Text und seine drei deutschen Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert. Hrsg. von Karl August Zaenker. Stuttgart 1987. 45 Vgl. Walter Haug: ‚Brandans Meerfahrt‘ und das Buch der Wunder Gottes. In: Ders.: Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften. Hrsg. von Ulrich Barton. Tübingen 2008, S. 412– 429, hier S. 418.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
der Heilsgeschichte eingeschrieben, die in eine räumliche Kreisbewegung mit diagrammatischer Struktur übersetzt werden. Indem die Seefahrt zum zyklischen Gottesdienst avanciert und am Ende der Reise in Brandans Tod mündet, wird auch hier die horizontale Bewegung der Lebensreise mit der vertikalen der Himmelfahrt vermittelt. Das Komplement zum ‚Meer der Welt‘ als Metapher der Desorientierung bildet seit je das Labyrinth.46 In seiner klassischen Ausprägung ist es durch eine Vielzahl krummer Wege oder verzweigter Abwege gekennzeichnet, die auf ein Verhängnis tragendes Zentrum zusteuern. Der Wanderer verliert sich so auf seinen Irrwegen immer tiefer ins Labyrinth hinein, so dass ohne Ariadnefaden die Hoffnung auf einen Ausweg stetig sinkt. Das Labyrinth wird zur Metapher eines planlosen oder der Kontingenz ausgelieferten Lebens. Wenn mittelalterliche Autoren sich aber dieser Metapher bedienen, so schreiben sie in der Regel der diffusen Struktur wieder eine diagrammatische Ordnung ein. In der Form des Kreisdiagramms mit seinen unzähligen verzweigten Wegen wird nicht nur das Schema des biviums multipliziert und prozessualisiert, der Fokus der christlichen Wanderung verlagert sich auch vom Umkreis auf das Zentrum, das nun zum Ort des Heils avanciert. Wie Jerusalem im Zentrum der entfremdeten Welt lokalisiert wird, so steht Jesus im Zentrum des Labyrinths. In der geometrischen Form des Labyrinths wird der Dualismus des christlichen Weltbildes abbildbar, indem die Unordnung binär schematisiert und auf eine Ordnung projiziert wird. Nicht der Ausweg aus dem Labyrinth ist nunmehr das Ziel, sondern mit Hilfe von Unterscheidungen ins Zentrum zu gelangen. Da die Spannung von Unordnung und Ordnung aber nur von außen überschaubar wird, findet die Erfolgsgeschichte des Labyrinths auch primär in den mimetischen Künsten ihren Niederschlag: in künstlichen Gärten, Gemälden, Stichen und Bodenreliefs.
46 Vgl. Christen (Anm. 16), S. 62.
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Abb. 15: Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, FOL-TD-24 (9)
Wenn das Leben vom Ende her betrachtet wird, kommen weitere diagrammatische Konfigurationen der Wegmetapher in den Blick. Natürliche Prozesse des Wachsens und Vergehens lassen sich in Auf- und Abstiegsmodellen visualisieren. Sie finden im Diagramm des Halbkreises ihren prägnanten Ausdruck, auf den sich die verschiedenen Altersstufen von Jugend, Mannes- und Greisenalter als Stationen des Lebens abbilden lassen. Wenn dagegen Vinzenz von Beauvais von dem ‚Morgen der Jugend‘ spricht, Hartmanns armer Heinrich die Krankheit wie ein Donnerschlag zu Mittag trifft und das Leben metaphorisch in den Abend mündet, dann kann auch der sichtbare Weg des Sonnenverlaufs das Diagramm abbilden.47 Traditionell wird das Diagramm des Halbkreises auch über das Modell der Alterstreppe visualisiert.48 Das abstrakte Diagramm nimmt metaphorische Gestalt an, indem der Weg über die Treppe den organischen Prozess von Wachsen und Vergehen abbildet. Das klassische Treppenmodell projiziert die horizontale Dimension des Lebensweges auf den Halbkreis, der als Lebensbogen auf eine strikte Finalität zuläuft. Auch das Diagramm des Halbkreises kann latent ganzen Erzählungen zugrunde gelegt werden. Konkrete Gestalt nimmt die Topologie des Halbkreises etwa in der Bergwanderung an. Petrarcas berühmter Brief von der Besteigung des Mont Ventoux folgt diesem Modell am Beispiel der konkreten Topographie eines Berges. Die
|| 47 Vgl. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Übersetzt von Siegfried Grosse. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Stuttgart 1993, V. 153f. 48 Vgl. Grand Propriétaire de toutes choses. Buch 6: Die Lebensalter. Vgl. Udo Friedrich: Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen. In: Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Hrsg. von Thorsten Fitzon ]u. a.] Berlin 2012, S. 49–79.
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Wanderung beginnt mit jugendlichem Elan am Morgen, auf dem Gipfel erfolgen ein Rückblick auf das bisherige Leben und eine Art conversio, der Abstieg, der bezeichnenderweise gegen Abend beginnt, ist dann begleitet von Gedanken an das Schicksal der Seele. Die Wanderung endet nicht nur am Abend, so dass sie dem Verlauf der Sonne folgt, sie ist auch geprägt von einem deutlichen Bewusstsein der Finalität des Lebens.49 Die Bergwanderung wird über die metaphorische Operation zum Medium der Reflexion über zentrale Lebensphasen. Die Mühen des Aufstiegs hinterfragen ausführlich die Semantik der Wegmetapher mit ihren vergeblichen Umwegen und messen diese am rechten Weg: Equidem vita, quam beatam dicimus, celso loco sita est; arcta, ut aiunt, ad illam ducit via. Multi quoque colles intereminent et de virtute in virtutem preclaris gradibus ambulandum est; in summo finis est omnium et vie terminus ad quem peregrinatio nostra disponitur. (‚In der Tat liegt das Leben, das man das selige nennt, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so heißt es, führt zu ihm hin. Auch viele Hügel ragen dazwischen auf, und von Tugend zu Tugend muss man mit erhabenen Schritten wandeln; auf dem Gipfel ist das Ende aller Dinge und des Weges Ziel, auf das hin unsere Pilgerreise ausgerichtet ist.‘)50 Auf dem Gipfel reflektiert Petrarca seinen zurückgelegten Lebensweg und wagt einen Ausblick auf die ihm noch verbleibende Zeit in diesem ‚flüchtigen Leben‘, dessen Ende er mit dem vierzigsten Jahr kalkuliert. Wenn es zutrifft, dass die Abfassung des Briefes erst in Petrarcas fünfzigstem Lebensjahr erfolgte, dann imaginiert er vom Ende her auf dem Gipfel die Mitte seines Lebens, das sich zwischen Vergangenheit und Zukunft, Jugend und Alter zu verorten sucht. Mit dem Abstieg beginnt der Weg in eine unbekannte Zukunft. Die Bergwanderung folgt einer diagrammatischen Metaphorik, die in doppelter Hinsicht auf das Leben projiziert wird. Während die vertikale Linie metaphorisch auf das ewige Leben ausgerichtet bleibt, zielt das Diagramm des Halbkreises auf die Etappen des Lebens, die ex post der Reflexion zugänglich gemacht werden. Ob fingiert oder real, Petrarca schreibt der historia die metaphorischen und diagrammatischen Strukturen des Gleichnisses ein. Ein Diagramm besonderer Art bildet das Quadrat, wie es im mittelalterlichen Kreuzgang zum Ausdruck kommt. Seit dem 9. Jahrhundert scheint sich das ‚klaustrale Schema‘ als spezifischer Ausdruck der monastischen Lebensform auszubilden, deren Impuls die Weltflucht und deren Zweck die Synthese von geregelter Gemeinschaft und Gottesdienst ist.51 Die Architektur des Klosters, „die Unterscheidung in die den Hof bildenden Wände der Konventsbauten und die Laufgänge der Kreuz|| 49 Vgl. Francesco Petrarca: Le Familiari. Edizione critica per cura di Vittore Rossi. Bd. 1. Firenze 1933, S. 153–161. Dt.: Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. Übersetzt von Kurt Steinmann. Stuttgart 2004. 50 Petrarca: Le Familiari (Anm. 49), S. 156. Dt.: Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux (Anm. 49), S. 16. Vgl. Andreas Kablitz: Petrarcas Augustinismus und die écriture der Mont-VentouxEpistel. In: Poetica 26 (1994), S. 31–69, hier S. 42–47. 51 Rolf Legler: Der Kreuzgang. Ein Bautyp des Mittelalters. Frankfurt a. M. [u. a.] 1989, S. 23.
Erzähltes Leben gangsgalerien“, scheinen Ausdruck einer engen Verbindung von Architektur und ordo zu sein, „von Bauform und Lebensform im monastischen Bereich“. 52 Die mittelalterliche Klosterarchitektur spricht nicht „[zu] dem gegenüberstehenden Betrachter, sondern [zu] dem unmittelbar Mithandelnden sprechen diese mittelalterlichen Räume. […] Vollzugsraum statt Beschauerraum […] Alle mittelalterliche bildende Kunst […] enthält einen sozusagen zeithaltigen Raum, einen Raum, der zeitlich-tätig vollzogen werden will.“ 53 Das religiöse Ritual führt in ganz verschiedenen Räumen (Kirche, Kloster, Prozession, Pilgerschaft) Grundbedingungen der christlichen conditio humana vor Augen. „Auch Mönchtum ist […] noch Bewährungszeit, auch der Mönch hat sein Endziel noch nicht erreicht, er ist noch unterwegs. Das damit angedeutete Wegmotiv, das noch etwas von der ‚Dynamik des Volkes Gottes auf dem Weg‘ vermittelt, findet seinen baulichen Niederschlag in der Einführung des Kreuzganges als neuem Motiv.“ 54 Die Lebensform der Mönche wird auf eine diagrammatische Architektur projiziert: „Die Arkaden des Klosterhofes umschreiten ständig für sich den Hof im Einklang mit der Tätigkeit der Mönche. Die Arkadenfolgen des Kreuzgangs, die den Hof begleiten, sind durch die Architektur vorweggenommenes, symbolisch-gemeinsames Herumschreiten.“ 55 Nach Georges Duby bildet der Kreuzgang einen Symbolraum, in dem Himmelsrichtungen, Jahreszeiten und kosmische Zyklen mit der heilsgeschichtlichen Symbolik der Zahl Vier zusammenfallen: „Das Quadrat des Kreuzgangs ist der Kreuzweg des Universums.“ 56
Scheidewege Nach einer alten Definition des Aristoteles bezeichnet ‚Leben‘ das, was sich von selbst bewegt: Gegenüber Pflanzen und Tieren aber mangelt es dem Menschen an Richtungssinn, gegenüber den anderen Kreaturen erweist er sich als ein vielfach gespaltenes Wesen. Der Scheideweg kann daher zur Metapher für den basalen Befund werden, dass der Mensch nicht über einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit verfügt, sondern gezwungen ist, Unterscheidungen zu treffen. Sie trägt dem Gedan 52 Ebd., S. 27f. u. 124. 53 Hugo Kuhn: Zur Deutung der künstlerischen Form des Mittelalters. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 1–14 u. 249, hier S. 8. Vgl. auch Legler (Anm. 51), S. 125f. 54 Ebd., S. 165. 55 Ebd., S. 169. 56 Georges Duby: Der heilige Bernhard und die Kunst der Zisterzienser. Stuttgart 1981, S. 130. Vgl. Annette Kehnel, Anne Müller: Dauer durch Wandeln. Von Mönchen und Mauern – von Wandelgängen im Kloster und von Wanderungen durch die Welt. In: Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation. Hrsg. von Stephan Müller, Gary S. Schaal, Claudia Tiersch. Köln/Weimar/Wien 2002, S. 107–119.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
ken der Notwendigkeit ebenso Rechnung wie dem der Freiheit. Gleichzeitig reduziert die Metapher die Vielzahl von Wahlmöglichkeiten, den Umstand, dass es in der Regel mehr Möglichkeiten gibt, als gewählt werden können, auf ein einfaches Diagramm, das sich als schlichte Alternative präsentiert. Die Alternative, die die Wissenschaft in der dichotomischen Logik von wahr und falsch, die Moralphilosophie in der von Gut und Böse vorgibt, übersetzt das Diagramm vom Scheideweg in eine simple Entscheidungssituation in einer krisenhaften Lebenssituation. Modern gesprochen: Der reale Problemkomplex der Kontingenz wird über ein Schema vereindeutigt, das zwar eine Unterscheidung trifft, die aber im Gegenbegriff (‚Laster‘) des valorisierten Terms (‚Tugend‘) keine echte Alternative entwirft, nach der das Problem der Tugend auch anders abgehandelt werden könnte. 57 Die anthropologische Version dieses soziologischen Befundes sieht die conditio humana grundsätzlich durch „Evidenzmangel“ und „Handlungszwang“ gekennzeichnet. 58 Aus dieser Perspektive besitzt der menschliche Wirklichkeitsbezug keinen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit, er ist „indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘“. 59 Es sind denn auch bevorzugt Metaphern und metaphorische Erzählformen wie das Gleichnis, welche die Sinnsuche über elementare Entscheidungssituationen vor Augen führen. Klassisch reduziert die Wahl des Herkules am Scheideweg das Problem auf ein binäres Schema (Tugend/Laster), die Wahl des Paris (Parisurteil) auf ein ternäres: Liebe, Macht, Weisheit. Die Sinnfrage fächert sich auf zu einer Entscheidung zwischen einem ganzen Bündel an konkurrierenden Werten. Im frühneuzeitlichen Prosaroman Fortunatus (1509) darf der Protagonist schon zwischen sechs Glücksgütern wählen: Weisheit, Reichtum, Stärke, Gesundheit, Schönheit und langem Leben. 60 Formulieren Unterscheidungen nach Luhmann in der Regel asymmetrische Wertrelationen, so wird die Wahl umso kontingenter, je mehr die Asymmetrie der Werte abnimmt: z. B. von der Entscheidung zwischen vita activa und vita contemplativa bis hin zum choice overload der modernen Warenindustrie. Ja letztlich steht nicht nur die Wahl infrage, sondern auch die Evidenz des Ziels selbst. Viel prägnanter als jede diskursive Erörterung kann auch hier die Metapher die Offenheit der Sinnproblematik vor Augen führen. Balthasar Gracián erzählt im Kritikon auch von einem Wanderer, der sich auf den Weg begibt, um nicht mehr Glück, sondern nur mehr Zufriedenheit zu suchen, doch gleich wo er hingelangt – zu den Reichen, den Mächtigen, den Weisen, den Jungen oder Alten –, keiner kann sie ihm geben und jeder verweist ihn weiter:
57 Niklas Luhmann: Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, S. 93–128, hier S. 99f. 58 Vgl. Blumenberg (Anm. 12), S. 417. 59 Ebd., S. 415. 60 Vgl. Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1981, S. 46.
Erzähltes Leben „‚Hier nicht, aber weiter in der Richtung, immer weiter.‘“ 61 Wie in der Erzählung vom Glückssucher Ganterus wird der situative Zwang zur Entscheidung über die Wegmetapher prozessualisiert, ohne indes noch zu einem Ziel zu gelangen. Zur mythischen Urszene avanciert aber demgegenüber die Fabel von Herkules am Scheideweg. Am Leben des antiken Heros lassen sich privilegiert Risiken und Chancen des Lebens modellieren. Xenophons Zitat der Prodikosfabel konfrontiert bekanntlich den Helden mit zwei Optionen, die in allegorischer Gestalt daherkommen. 62 Zwei Frauen konkurrieren um die Gunst des Herkules, der sich in jungen Jahren in die Einsamkeit zurückgezogen hat, um über seinen Lebensweg nachzudenken: Der weichen, reizenden, geschminkten und narzisstischen Frau, die Glückseligkeit verspricht, aber nur Laster einträgt, steht die sittsame, würdige und schamhafte Tugend gegenüber, die Anstrengung fordert, aber soziale Anerkennung in Aussicht stellt. Die Form der Erzählung, die noch keine ausgeführte Diagrammatik des biviums kennt, bietet nicht nur die Gelegenheit, Tugend und Laster als Aktanten zu personifizieren, sondern auch ihre Botschaften im Redeagon ausführlich zu entfalten. Den egoistischen und leicht zu erringenden sinnlichen Genüssen wird die soziale Dimension der Anstrengung in den Feldern gesellschaftlicher Interaktion – Ökonomie, Politik und Kunst – konfrontiert. Wenn die Werbung um die Gunst des Herkules schließlich in einen Disput zwischen Tugend und Laster übergeht, rückt der systematische und moralphilosophische Gehalt der Wahl in den Vordergrund. Das Entscheidungsdilemma des Herkules macht dann im Bild von Herkules am Scheideweg Karriere. 63 Es bezieht seine Attraktion aus der klaren Dichotomie von Werten, die leicht umbesetzt werden können, aber auch das Schema selbst dynamisieren. Im Lebensweg des Christen etwa können die Herausforderungen des geistlichen Wegs durch den weltlichen als kontinuierlicher Prozess aufgefasst werden: Vil meynen syn vff rechtem weg / Die doch verjrren an dem staeg / Der zuo dem woren leben fuert / Wol dem / der vff dem weg nit jrrt / Wann er jn schon ergriffen hat / Dann offt der neben weg ab gat / Das eyner bald kumbt ab der stroß / Es sy dann / das jnn got nit loß. 64 Die antike Zuspitzung der Szene zur einmaligen Lebensentscheidung
61 Gracián (Anm. 38), S. 824. 62 Vgl. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Übersetzung und Anmerkungen von Rudolf Preiswerk. Nachwort von Walter Burkert. Stuttgart 1980, S. 43–47. 63 Vgl. Erwin Panofsky: Hercules am Scheidewege und andere Bildstoffe in der neueren Kunst. Berlin 1997 [zuerst Berlin 1930]; Jochen Schmitt: Herakles als Ideal stoischer Virtus. Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800. In: Der Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von dems., Barbara Neymeyr, Bernhard Zimmermann. Bd. 1. Berlin/New York 2008, S. 295–342. 64 Brant (Anm. 6), Kap. 107, V. 9–16.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
wird ersetzt durch die permanente Versuchung, vom ‚rechten Weg‘ abzukommen, die Entscheidungssituation wird prozessualisiert.
Abb. 16: Jakob Locher, Stultifera navis (1497), Kap. 114
Abb. 17: Sebastian Brant, Narrenschiff (1494), Kap. 107
Jakob Locher knüpft in seiner lateinischen Narrenschiffübersetzung an die Erzählung von Herkules an und entwirft sie gegenüber der Prodikosfabel als konkreten Scheideweg. Nicht nur werden die Aktanten der Tugenden und Laster mit symbolischen Attributen versehen, auch die beiden Wegstrecken selbst werden in ihrer jeweiligen Qualität modelliert. Die Illustration komprimiert die Erzählung in ein Bild, das seinerseits metaphorisch ausstaffiert wird, sie übersetzt den „antiken Fabelkern[] in eine szenische Narrationsform“. 65 Demgegenüber reduziert Sebastian Brant im 107. Kapitel des Narrenschiffs den inneren Konflikt auf eine Dialogszene: Wenn hier ein weltlicher Wanderer auf einen geistlichen Ratgeber trifft, 66 wird, ganz im christlichen Sinn, das Leben selbst zur Wanderung und die Lebensentscheidung 65 Alexander Honold: Bildhafte Tugenden, erzählte Laster. Von der Topik zum Plot. In: Das erzählende und das erzählte Bild. Hrsg. von Alexander Honold, Ralf Simon. München 2010, S. 397–439, hier S. 410; Nina Hartl: Die ‚Stultifera Navis‘. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants Narrenschiff. Bd. 1.2: Teiledition und Übersetzung. Münster u. a. 2001, S. 316; Band 1.1: Untersuchung und Kommentar, S. 150–157. 66 Vgl. Honold (Anm. 65), S. 408.
Erzähltes Leben in der Einsamkeit durch eine Ratsszene ersetzt. Die verlockenden und mahnenden Personifikationen auf ihren Wegen werden durch ein abstraktes Diagramm substituiert. Es überführt die Szene in eine allgemeine Struktur, die vielfache Besetzungen erlaubt und für das gesamte Spektrum an Versuchungen einstehen kann, das Brant in seinen 112 Kapiteln entfaltet. Die Metapher vom Scheideweg wird im Mittelalter in einer Vielzahl von Gleichnissen modelliert, die ein breites Spektrum an Umbesetzungen und Variationen bieten. 67 Strukturell offeriert das Schema die Option, sowohl die Anzahl der Protagonisten als auch der Wege zu vervielfältigen, einerseits den Scheideweg als soziale Metapher zu gestalten, andererseits den Kontingenzfaktor zu erhöhen. Der Scheideweg kann zum Kreuzweg werden, an dem sich plötzlich mehrere Alternativen stellen und den Entscheidungsprozess in eine komplexe Reflexion überführen. Die Gesta Romanorum bieten das Gleichnis eines Ritters, der mit seinem Pferd auf eine Kreuzung trifft und vor vier Alternativen gestellt wird: 68 1. Wird er den ersten Weg nehmen, gehe es ihm gut, seinem Pferd aber schlecht; 2. bei der Entscheidung für den zweiten Weg gehe es dem Pferd gut, ihm aber schlecht; 3. der dritte führe dazu, dass es ihm und dem Pferd gut gehen werde, er aber vorher Prügel erleiden müsse; 4. auf dem vierten Weg gehe es ihm gut, aber er verliere sein Pferd und müsse zu Fuß gehen.
Der Ritter entscheidet sich für den ersten Weg. Die moralisatio überträgt das Verhältnis ‚Ritter und Pferd‘ auf die Relation von Seele und Leib und greift damit auf die geläufige Metapher zurück, nach der der Leib von der Seele gezügelt werden muss. Das diagrammatische Rätsel wird in allen vier Varianten durchgespielt: Dass die Varianten zwei und drei aus christlicher Sicht nicht in Frage kommen, ist evident, da die Seele zugunsten des Leibes Leid erfährt. Dass aber Variante vier nicht möglich sein soll, erstaunt aus geistlicher Perspektive, bezeichnet sie doch sowohl den Weg der Demütigung wie sie auch die Loslösung der Seele vom Leib als Option bietet. Die Entscheidung für den ersten Weg erscheint demgegenüber als Kompromisslösung, die den sozialen Horizont der Metapher ins Kalkül einbezieht. Geistlich ist sie akzeptabel, da das Wohl der Seele zu Lasten des Körpers geht, weltlich, weil sie Ritter und Pferd als unauflösliche Einheit begreift. Die Entscheidung versöhnt die christlichen Maßstäbe mit den Statusansprüchen einer Adelskultur. Die Metapher vom Lebensweg geht in dem Augenblick in eine soziale Metapher über, in dem zwei Gefährten unterwegs sind und am Scheideweg darüber streiten, welcher Weg einzuschlagen sei. Der Scheideweg wird dabei potentiell zum Ort der Trennung, des Scheidens. Wie im Gleichnis von Ritter und Pferd kann das Verhältnis von Leib und Seele auch auf zwei Figuren verlagert werden, die als eigenständi 67 Vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970. 68 Vgl. Die Taten der Römer (Anm. 30), S. 111f. (Nr. 65). Lat.: Gesta Romanorum (Anm. 30), S. 375f.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
ge Aktanten zwar die widerstreitenden Dynamiken aushandeln, eine Trennung aber nicht möglich ist. In der Breslauer Handschrift I.F. 115 wird die Spannung von Leib und Seele durch ein Gleichnis von zwei Gefährten vorgeführt, einem Klugen und einem Dummen, die an einen Scheideweg gelangen. 69 Der Kluge lässt sich von seinem Gefährten überreden, den leichten Weg einzuschlagen, der Leib und Seele konsequent ins Unglück führt. Die Gesta Romanorum bieten demgegenüber eine ähnliche, aber signifikant abweichende Version. 70 Sie erzählt von einem klugen und einem dummen Ritter, die sich durch Eid verpflichten, einander beizustehen und dies dadurch bekräftigen, dass sie wechselseitig ihr Blut trinken. Als sie auf einen klassischen Scheideweg treffen, lässt sich der kluge Ritter von seinem dummen Gefährten überreden, entgegen eigener Einsicht den leichten, aber verhängnisvollen Weg einzuschlagen. Sie werden überwältigt und vom Richter zum Tode verurteilt, obwohl sich der Dumme auf die Klugheit seines Freundes, dieser aber seinerseits auf den Eid beruft. Das Gleichnis erhält seine Pointe erst vor dem Hintergrund konkurrierender Wertesysteme. Die durch Blutsbrüderschaft besiegelte adelige Standessolidarität erfordert geradezu, dass der kluge Ritter seinem Gefährten in den Tod folgt. Wenn vor dem Richter die Geltung des Gesetzes und die des Bündnisses gegeneinander ausgespielt werden, erhält die Geschichte aus der Perspektive der Gefährten eine kasuistische Struktur, die allerdings durch das Urteil des Richters zum Exempel vereindeutigt wird. Das Diagramm des Scheidewegs ermöglicht eben auch, jenseits der klassischen Dichotomie, die Geltungsansprüche konkurrierender Wertesysteme ins Spiel zu bringen. Das diagrammatische Modell des Scheidewegs liefert Optionen, immer neue Konstellationen zu erfinden. So muss die Entscheidung nicht notwendig zwischen asymmetrischen oder gleichgewichtigen Geltungsansprüchen getroffen werden. Ein reflektierter Umgang mit der Metapher spürt weitergehenden Semantiken nach, wie es Petrus Alphonsi in seiner Disciplina clericalis tut. 71 Er beschränkt sich auf die pragmatische Dimension der Metapher und auf den Gedanken, dass der kürzeste Weg nicht unbedingt der schnellere ist. Erzählt wird von Wanderern auf dem Weg zu einer Stadt, die auf eine Weggabelung treffen. Sie stehen vor der Entscheidung, ob sie den Weg durch eine Furt oder über eine Brücke wählen sollen. Ein alter Mann, den sie um Rat fragen, gibt einen nicht eindeutigen Rat: quod breuior erat uia 69 Breslau, Königliche und Universitäts-Bibliothek Hs. I.F. 107. Zitiert nach: Erzählungen des Mittelalters. In deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext. Hrsg. von Joseph Klapper. Nachdruck der Ausgabe Breslau 1914. Hildesheim/New York 1978, Kap. 98 (S. 109f.). 70 Vgl. Die Taten der Römer (Anm. 30), S. 115–119 (Kap. 67); Gesta Romanorum (Anm. 30), S. 378– 380. 71 Vgl. Die Disciplina Clericalis des Petrus Alphonsi (das älteste Novellenbuch des Mittelalters) nach allen bekannten Handschriften. Hrsg. von Alfons Hilka, Werner Söderhjelm. Heidelberg 1911, S. 28. Dt.: Petrus Alphonsi: Die Kunst, vernünftig zu leben. Dargestellt und aus dem Lateinischen übertragen von Eberhard Hermes. Zürich/Stuttgart 1970, S. 181f. (Kap. XVIII).
Erzähltes Leben per uadum ad ciuitatem duobus miliaribus quam uia per pontem. Sed tamen cicius, inquit, per pontem potestis uenire ad civitatem. (‚Der Weg durch die Furt sei zwei Meilen näher zur Stadt als der über die Brücke. Dennoch, sagte er, könnt ihr über die Brücke schneller zur Stadt kommen.‘“) 72 Die alternativen Wege führen hier nicht zu entgegengesetzten Zielen, vielmehr wird der längere Weg zu einem kürzeren, der kürzere zu einem längeren. Da es sich um eine Reisegruppe handelt, können auch die sozialen Implikationen der Metapher entfaltet werden. Während ein Teil der Gruppe mit dem alten Mann den Weg über die Brücke nimmt, verliert der andere Teil auf dem Weg durch die Furt Gefährten, Gepäck und Zeit. Der längere Weg wird hier zum Umweg, der die Logik der Geschwindigkeit und Effektivität in Frage stellt. Der Scheideweg steht für eine pragmatische Erfahrung, die sich jenseits der dualen Logik der Zielwerte bildet und die Qualität des Weges selbst in den Fokus rückt. Erst mit dem abschließenden Rekurs auf ein Sprichwort – Magis ualet longa uia ad paradisum quam breuis ad infernum (‚Besser ein langer Weg zum Paradies als ein kurzer zur Hölle‘) 73 – wird das Gleichnis wieder an die traditionelle Konstellation rückgebunden.
Abb. 18: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., Hs. 201, 79v
72 Disciplina Clericalis (Anm. 71), S. 28. Dt.: Petrus Alphonsi (Anm. 71), S. 181. 73 Disciplina Clericalis (Anm. 71), S. 29. Dt.: Petrus Alphonsi (Anm. 71), S. 182.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
Gegenüber den Gleichniserzählungen, die stets nur einen dramatischen Ausschnitt des Lebensweges narrativ umsetzen, lässt sich die Metapher des Lebensweges auch zur komplexen Allegorie des Lebens ausbauen, wie sie von Dante über Gracián bis hin zu Bunyan prominent geworden ist. Die Allegorien der geistlichen Lebensreise entfalten sowohl die narrativen Implikationen der Reisemetapher, wie sie auch die diagrammatischen Optionen der Wegmetaphorik prozessualisieren. Im 14. Jahrhundert (um 1335) verfasst Guillaume de Digulleville eine Pèlegrinage de la vie humaine, die Reise eines träumenden Mönchs nach Jerusalem, die in allegorischer Form von den Zielen und Gefahren des Lebens erzählt. Die Wanderung geht durch Meer, Wald, Gebirge und Täler, Wegbegleiter und Opponenten wechseln einander ab, wie auch der gerade Weg in einen Scheideweg mündet. Der Pilger wird im Laufe seiner Wanderung unterwiesen, dass er nicht alleine unterwegs ist, sondern Leib und Seele unablässig miteinander im Streit liegen. Gegenüber den klaren Entscheidungssituationen der Gleichnisse, die Leib und Seele in zwei Aktanten aufgeteilt hatten und am Scheideweg streiten ließen, wird hier die Spannung auf Dauer gestellt. Nur kurzfristig befreit Frau Vernunft den Pilger von der Last des Körpers, um beide dann doch wieder zusammenzuzwingen: Du must wieder inn yn gaen, / Wieder uffladen und yn by dir han / Und in dragen in dinem wege, / In diner ferte uber brucke und stege. 74 Der in die Höhe strebenden Bewegung der Seele steht das Trägheitsprinzip des Körpers gegenüber, was in einen Richtungsstreit übersetzt wird. Der Streit kulminiert an einem Scheideweg, an dem der nun mit sich selbst ringende Pilger auf zwei Personifikationen trifft, die ihrerseits noch einmal Antrieb und Trägheit, Arbeit und Müßiggang repräsentieren: Als ich alles also gieng / Und in großen gedencken gieng, / Einen weg sag ich der sich zweiete / Und in zwene wege sich deylte: / Nit das si verre von ein weren, / Duchte mich, und nit zemale ungelich werent, / Einre von dem andern; aber tuschen den zwein / Sag ich eine wunderliche hecke, / Die mich duchte sich gar ferre strecken. / Da inne wuß aller hande viel, / Holtz dorne, dar an dorne viel, / Gar dicke dar in gemenget / Und hertlich dar tuschen gedrenget. / Der ein weg uff die rechte handt, / Der ander gieng uff die lincke handt: / Es schein gar nahe ein weg sin, / Were die hecke da tuschen nit gesin. / Uff die lincke hant waz gesessen / Uff einer stegen eine jungfrauwe vermessen / Von adel und hatte sich geleynet da / Und eine handt under yren seß gelacht da / Und einen hentschoe in der andern handt, / Da mit sij die zijt verwandte; / Umb yren finger sij den swang / Und yn umb und umbe wante. / An yrer geberde sag ich wol / Das sij was ydelkeit vol, / Das ir wenig was umb spynnen / Odir ander arbeit zu gewynnen. / Uff die rechte handt sag ich sitzen / Einen altbuosser und wiedermacher / Alder socken und alder kleyder, / Die er wiedermachte leyder / Noch verwondert ich mich me / Daz ich gesag da noch me: / Das er hatte gemacht wieder, / Zerreiß er zu male wider. 75
74 Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs. Aus der Berleburger Handschrift. Hrsg. von Aloys Börner. Berlin 1915, V. 6202–6205. 75 Ebd., V. 6464–6500.
Erzähltes Leben Die binäre Wegstruktur des Scheidewegs wird sichtbar in ihren festen Konturen aufgelöst. Die beiden Wege scheinen nicht mehr ganz so klar unterschieden zu sein, nur eine Dornenhecke markiert noch die Grenze, die überdies durchlässig erscheint und die Möglichkeit eines Wegwechsels auch noch nach der Entscheidung am Scheideweg in Aussicht stellt. Den beiden Personifikationen am Scheideweg korrespondiert die Spaltung des Pilgers, dessen inneres Ringen durch einen Dialog mit seinem widerstrebenden Körper vorgeführt wird. Der Leib sprach: ‚der weg naher mir / Ist nit ferre von dem andern da; / Es ist als eins nit dan daz die hecke / Da tuschen ist ein dorenhecke. / Hecke ist nit eine mure zynnelette, / Thorn odir burg dar in zu besliessen mitte; / Es ist keine hecke, man mag da durch slieffen / An ettlichen enden odir sie uff ryssen, / Odir zum mynnesten man moge da durch gaen. / Als obe du nit recht gangen weres / Odir von dime rechten wege kommen weres, / Balde genug mochtes du durch die hecke kommen / Und uff den andern weg wieder kommen / Aen alle wieder sprechen.‘ 76
Die Einebnung der Differenz trägt schon hier theologischen Prämissen Rechnung, indem die harten Grenzen des Gesetzes aufgelöst werden. Das veränderte Wegmodell eröffnet einen Gnadenraum, der den Erfolg des Lebens nicht mehr von einer Entscheidung abhängig macht.
Der Mittelweg Die Erosion des Scheidewegdiagramms lädt dazu ein, die Anzahl der Wege zu vermehren. John Bunyam entwirft ein solches Modell im Pilgrims Progress von 1678. Seinem Wanderer (‚Christ‘) auf dem allegorischen Lebensweg gesellen sich mit ‚Formalist‘ und ‚Heuchler‘ zwei Gefährten zu, die seine Zielstrebigkeit unterminieren wollen, aber doch etwas zurückfallen. I beheld, then, that they all went on till they came to the foot of an Hill, at the bottom of which was a Spring. There was also in the same place two othere ways besides that which came straight from the Gate. 77 Während Christ auf dem graden Weg bleibt und sich der Mühen des Aufstiegs unterzieht, versuchen seine Gefährten im festen Glauben, die Wege würden hinter dem Berg wieder zusammenlaufen, weniger beschwerliche Routen zu gehen: So the one took the way which is called Danger, which led him into a great wood; and the other took directly up the way of Destruction, which led him into a wide field, full of dark Mountains, where he stumbled and fell, and rose no more. 78 Das trivium ist hier primär dem allegorischen Verfahren geschuldet und wird an die Semantik der Wande 76 Ebd., V. 6684–6697. 77 John Bunyam: The Pilgrim’s Progress. Introduction and Notes by G.B. Harrison. London/New York 1961, S. 43. 78 Ebd.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
rer angeglichen. Während der Heilsweg zum (geraden) Mittelweg mutiert, folgen die allegorischen Laster ihren je eigenen Wegen. Im Rahmen des klassischen Modells lassen sich auch die Abwege vervielfältigen und symmetrisch organisieren. Für den Christen steht der Scheideweg nicht nur am Anfang seines rechten Lebens, er wird als ständige Versuchung auch nicht nur prozessualisiert. Mit dem Jüngsten Gericht ist der Christ auch am Ende mit einer Scheidewegsituation konfrontiert, die die Semantik des biviums vom Entscheidungszwang des Subjekts zum Gerichtsurteil über sein zukünftiges Los verlagert. Erst die Entdeckung des Fegefeuers als einem Läuterungsort zwischen Himmel und Hölle mildert die harte Unterscheidung in Erlöste und Verdammte. 79 Der Bericht über die Jenseitsreise des Gottschalk aus dem 14. Jahrhundert entwirft einen solchen Ort, wenn die Seelen der Toten an einen dreigeteilten Weg geführt werden, an dem sich ihr Schicksal erfüllt. 80 Ganz im topischen Verständnis ist der linke Weg der Verdammten eng, ohne festen Grund, von schmutzigem Gestank, und er führt nicht nur abwärts, sondern ist auch von himmelhohen Mauern gesäumt, der rechte dagegen strebt gen Himmel, ist freundlich, lieblich und hellleuchtend. Hinzu kommt aber der Weg der Mitte, der breit und hell ist und geradeaus führt: Neque enim optimorum aut pessimorum, sed bonorum tantum per eam iter erat. (‚Denn diese Straße war nicht der Weg für die Besten oder Bösesten, sondern nur für die Guten.‘) 81 Horizontale und vertikale Raumsemantik sind genau aufeinander abgestimmt und heilsgeschichtlich ausgerichtet. An der Weggabel steht ein Engel und weist jedem Jenseitswanderer den ihm bestimmten Weg. Nur wenige sind befugt, den rechten Weg zu gehen, die meisten werden auf den Mittelweg verwiesen. Aber selbst diejenigen, die nicht für den mittleren Weg ins Fegefeuer bestimmt sind, verweist der Engel nicht direkt auf den Höllenweg, sondern in eine wüste Zone zwischen diesem und dem Fegefeuer. Die Gnade Gottes ebnet die Grenzen des Strukturschemas ein, das Modell des Fegefeuers unterminiert das binäre Wegmodell, in dem der direkte Weg in die Hölle eigentlich nicht mehr vorgesehen ist. Gottschalks umständliche Ausmalung der Verteilung der sündigen Seelen macht raumsemantisch den inneren Widerspruch von Gesetz und Gnade sichtbar. In der allegorischen Lebensreise des Andrenio und Critilo aus Graciáns Kritikon löst sich das transzendente Schema auf. Nach ihrem Eintritt in die Welt treffen die Wanderer auf einen Scheideweg: In solcher Unterhaltung waren sie begriffen, als sie an jenem berühmten Scheideweg anlangten, wo der Pfad sich teilt und sich das Leben gabelt, ein Ort, der bekannt ist wegen der Schwierigkeit, die sich einstellt, nicht so sehr von Seiten des Wissens als von Seiten des Wol-
79 Zum Fegefeuer vgl. Jaques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Stuttgart 1984, S. 268–276. 80 Vgl. Godeschalcus und Visio Godeschalci. Mit deutscher Übersetzung hrsg. von Erwin Assmann. Neumünster 1979, S. 67–73. 81 Ebd., S. 69.
Erzähltes Leben lens, welchen Weg man einschlagen, zu welcher Hand man sich wenden soll. Hier geriet Critilo nun in großes Zweifeln, denn während es der allgemeinen Überlieferung gemäß zwei Wege gibt (einladend der linke, weil leicht gangbar, unterhaltsam und bergab; der rechterhand im Gegenteil rau, unbequem und bergan), gewahrte er zu seinem nicht geringen Erstaunen, dass es deren hier drei waren, was seine Wahl erschwerte. 82
Ganz im Sinn aristotelischer Tradition entfaltet sich ein Diskurs des Maßes, eine Philosophie des Mittelwegs, die sich hier im Gewand einer allegorischen Erzählung präsentiert. Wegweiser ist nicht mehr ein Kluger, Heiliger oder gar ein Engel, sondern eine Säule, die Sprüche der Weisen und Beispiele des Maßlosen auflistet: „Halte die Mitte, dann fährst du sicher.“ 83 An die Stelle der Dogmatik tritt der Topos historia magistra vitae. „Gekrönt wurde diese elegante Anlage von der Glückseligkeit, die sich auf ihre weisen und tüchtigen Männer stützte und ebenfalls flankiert war von ihren Extremen, dem Weinen und dem Lachen“. 84 Glückseligkeit besteht nicht mehr in einer Unterscheidung, sondern im klugen Ausbalancieren von Gegensätzen. Die ideologische Funktion des Scheidewegs löst sich aber weiter auf, wenn Gracián in der Folge eine ganze Reihe von Wegformationen (z. B. steiler, kurzer, neuer Weg, Spazierweg, Kreis) präsentiert, auf denen die unbedachten Menschen ihr Glück verfehlen, weil sie stets das Gegenteil zu ihren Möglichkeiten suchen. Aus rhetorischer Perspektive wären diese aber zu ergänzen durch die Vielzahl an Wegen, auf denen Menschen doch ihr Glück gefunden haben. Sowohl der Mittelweg als auch die Pluralisierung der Wege untergraben den Geltungsanspruch des Scheidewegs. Die Diagrammatik des Scheidewegs verliert zunehmend dort ihre Funktion, wo das geometrische Schema an Repräsentationswert verliert, wo Tugenden und Laster, Seelenheil und Verdammnis, Glück und Unglück keine rein gegensätzlichen Werte mehr darstellen und menschliches Handeln sich von dogmatischen Vorgaben befreit. Je mehr im Sinne Herodots der Einzelfall in den Blick genommen wird, je vielfältiger die Unterscheidungen werden, die getroffen werden müssen und je komplexer die Umstände des Handelns werden, desto weniger hilft das diagrammatische Schema. Scheideweg und Unterscheidungen bleiben abstrakte Instanzen, die weniger mit Geltungsansprüchen der Wahrheit als der Wirklichkeit abgeglichen werden müssen. Dass solche Einsichten seit je bestehen, kann schon an der historischen Diskussion über den rechten Weg zur Tugend (Glückseligkeit) gezeigt werden. Schon Cicero zielt mit seiner Kritik darauf ab, dass die Prodikosfabel der Wirklichkeit nicht gerecht wird. 85 Er distanziert sich vom Mythos zugunsten einer Reflexion der konkreten Bedingungen lebensweltlicher Orientierung. Die Normal-
82 Gracián (Anm. 38), S. 79f. 83 Ebd., S. 81. 84 Ebd., S. 82 (Hervorh. im Orig.). 85 Vgl. Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und hrsg. von Heinz Gunermann. Stuttgart 1984, I,32,118.
Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges
sterblichen handeln in der Regel unter anderen Bedingungen und ahmen ihnen gut erscheinende Vorbilder nach, privilegiert die Eltern und was die Menge vorgibt: nonnulli tamen sive felicitate quadam sive bonitate naturae sine parentium disciplina rectam vitae secuti sunt viam. (‚Manche jedoch verfolgten aufgrund einer glücklichen und wertvollen Anlage ihrer Natur ohne Unterweisung durch die Eltern den rechten Lebensweg.‘) 86 An die Stelle der binären Schematisierung in Tugend und Laster setzt der Politiker und Rhetor die eigene Anlage, derer es sich zu vergewissern gilt. Vorsichtig formuliert dies auch schon Hesiod, wenn er auf eine inhaltliche Definition des Ziels verzichtet und stattdessen die Antriebskraft fokussiert, Dürftigkeit und Gedeihen gegenüberstellt. 87 Dem glatten und nahen Weg konfrontiert er den steilen und langen, dem leichten Beginn die anfänglichen Mühen, den späteren Anstrengungen des Nachholenden die Leichtigkeit des Fortschreitenden. Der Weg wird zur Metapher eines Lernprozesses, der in dem schlichten Rat an den Bruder mündet: „Arbeite, Perses“ 88. Wie Hesiod auf die Bestimmung des konkreten Ziels verzichtet, so auch auf die Verbindlichkeit eines Vorbildes. Seine Hierarchie der Orientierungsweisen lässt dem Subjekt noch alle Freiheiten. Am vorzüglichsten schätzt Hesiod denjenigen, der alles von selbst einsieht und bedenkt, d. h. implizit, der seinen eigenen Weg findet, erst dann folgt die Fähigkeit, „guten Rat von anderen anzunehmen“ 89. Nur wer über beides nicht verfüge, sei „nicht zu gebrauchen“. Es scheint daher nicht zufällig zu sein, dass das Modell des Scheidewegs mit dem Aufkommen des Romans an Geltungsanspruch einbüßt. Als Daniel Defoe 1719 Robinson Crusoe veröffentlicht, konfrontiert er seinen jugendlichen Protagonisten gleich zu Beginn mit der Autorität des Vaters, der ihm den middle State ans Herz legt, the most suited to human Happiness, not exposed to the Miseries and Hardships, the Labour and Sufferings of the mechanick Part of Mankind, and not embarass’d with the Pride, Luxury, Ambition and Envy of the upper Part of Mankind. 90 Selbst Könige have frequently lamented the miserable Consequences of being born to great things, and wish’d they had been placed in the Middle of the two Extremes, denn this Way Men went silently and smoothly thro’ the World, and comfortably out of it […]. 91 Das duale Modell ist schon durch das ternäre ersetzt, das aber nur noch bürgerliche Sicherheit verspricht. Der Sohn schlägt bekanntlich den Rat des Vaters in den Wind, immer wieder aber gedenkt er seiner in seinen gefährlichen Abenteuern, immer 86 Ebd. 87 Vgl. Hesiod: Werke und Tage. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Otto Schönberger. Stuttgart 1996, V. 285–298 (S. 25). 88 Ebd., S. 25. 89 Ebd. 90 Daniel Defoe: The Life and strange surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York Mariner. Ed. with an Introduction by Joseph Donald Crowley. New York/Toronto 1972, S. 4. 91 Ebd., S. 4f.
Erzähltes Leben wieder beurteilt er seine verzweifelte Lage vor dem Hintergrund des diagrammatischen Schemas. Die Pointe der Erzählung besteht nun gerade darin, dass das Schema nur aufgerufen wird, um abgewiesen zu werden. Wie das Bild des verlorenen Sohnes und das der utopischen Insel, so wird auch das des Mittelweges, ja noch das der Linearität des Lebens durch die Erzählung selbst unterminiert und neu konfiguriert. Obwohl Robinson sich in seinen Katastrophen immer wieder als prädestiniertes Unglückskind stilisiert, gerade weil er weder dem Rat seines Vaters gefolgt noch aus Erfahrung klug geworden zu sein scheint, entfaltet sich sein Leben über Risikobereitschaft und Lernfähigkeit als das Besondere, als das es sich am Ende erweist. Indem er sich auf seinem Lebens- und Abenteuerweg allerlei Kulturtechniken aneignet – Segeln, Fischen, Ackerbau, Handel, Sprachen, Waffentechnik etc. –, kann er gleich Odysseus zur mythischen Figur der Selbstbehauptung selbst jenseits aller vorgegebenen Ordnung werden. Die Diagrammatik des Weges trägt aber seit je schon den Keim ihrer Auflösung in sich. So sehr die Orientierung an geometrischen Mustern dem Bedürfnis nach Orientierung in einem schwer greifbaren Feld wie dem Leben entgegenkommt, so sehr schlagen die Figuren der festen Ordnung in solche der flexiblen Orientierung um, sobald die Verbindlichkeit kollektiver Ansprüche zugunsten subjektiver zurücktritt, sobald dogmatische Systeme durch Erfahrung abgelöst werden, sobald das rhetorisch-poetische Kalkül die Stringenz der logischen Schemata usurpiert. Der normierenden Karriere der Diagramme gesellen sich immer schon kritische Interpretationen bei, die Umbesetzungen vornehmen, Gegenlektüren entwerfen und den Spielraum der Diagramme ausloten. Umgekehrt scheint Herodots einleitend zitierte Rechnung geradezu euphemistisch in ihrem Kontingenzbefund. Der Differenzierung der Lebenstage korrespondiert immer auch eine Schematisierung, die in Alltagsroutinen, in institutionalisierten und habitualisierten Wegen, in sozialen Konventionen, gefestigten Allianzen und stereotypen Lebensrhythmen zum Ausdruck kommt. Aus soziologischer Perspektive fasziniert Richard Sennett entsprechend das Beispiel von Bekannten aus der Arbeitergeneration der 1970er Jahre, „wie linear die Zeit in ihrem Leben verlief: Jahr um Jahr gingen sie Arbeiten nach, die sich von Tag zu Tag kaum unterschieden. Entlang dieser Zeitlinie war der Erfolg kumulativ“. 92 Aber das unterscheidet wohl die Perspektive des Soziologen von der des Historikers.
92 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter. 7. Aufl. Berlin 2000, S. 16.
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller
Der metaphorische Umweg Aristoteles warnt in der Rhetorik den Redner vor dem Gebrauch der zusammengesetzten Wörter, da sie „aufgrund der Zusammensetzung von poetischer Natur“ seien: „Die Menschen gebrauchen jedoch die zusammengesetzten Wörter dann, wenn der Sachverhalt noch keine Benennung hat und das Wort sich leicht kombinieren läßt, wie z. B. das Wort Zeitvertreib. Ist der Gebrauch aber exzessiv, so ist dieses ganz und gar nach Art der Poesie. […] denn ihre Verwendung ist erhaben und stolz (eigenwillig).“ 1 Unter den zusammengesetzten Wörtern bildet die Metapher eine besondere Form, da sie zwei Semantiken verbindet, überblendet oder syntagmatisch kombiniert, sodass eine Irritation entsteht. Sie ist schon für die Rhetorik weit mehr als eine Trope, die dem Schmuck der Rede dient, sie wird über die Figur der Analogie zur kognitiven Operation. Während die „klare Rede auf die Urteilsfähigkeit, die rein schmuckreiche auf die affektive Befangenheit des Publikums“ zielt, ruft die erhabene sprachliche Form, als deren wichtigste die Metapher gilt, Verwunderung und Bewunderung gleichermaßen hervor, da sie nicht nur Überraschung produziert, sondern „auf leichte Weise Wissen“ 2 vermittelt. Aristoteles Einsicht in die epistemische Funktion der Metapher kann als Konsens der Forschung angesehen werden, ja sie ist in ihrer Reichweite mittlerweile weitaus radikaler formuliert worden. Bildet die Sprache allgemein schon einen Umweg zu den Dingen, so zielt die Rede vom „metaphorischen Umweg“ noch auf einen rhetorischen Geltungsanspruch eigener Art: „Rhetorik […] ist hinsichtlich der Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff von Verzögerung. Umständlichkeit, prozedurale Phantasie, Ritualisierung implizieren den Zweifel daran, daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischen ihnen sei.“ 3 Weil der menschliche Wirklichkeitsbezug keinen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit besitze, sei er „indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘“. 4 Literatur scheint somit nur der Sonderfall einer allgemeinen, rhetorisch formatierten Sprachsituation 1 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt von Franz G. Sieveke. München 41993, 1405b, 1406a. 2 Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991, S. 38 (Hervorhebung S.M.). 3 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, S. 406–431, hier S. 415 u. 420. 4 Ebd., S. 415. https://doi.org/10.1515/9783110772340-018
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher zu sein, der statt auf leichte Erkenntnis ein schwieriges Erkennen zum Thema macht, um sich einer nicht greifbaren Wirklichkeit anzunähern. Wie aber die Metapher zum Umweg, so kann auch der Umweg zur Metapher werden: „Umwege, weil es die richtigen Wege beim Schreiben gar nicht gibt. Nein, ich glaub, die Umwege sind die richtigen Wege. Ich muss doch, um einen Satz zu schreiben, aus den sprachlichen Gewohnheiten der Wörter ausscheren, die Wörter finden sich aufgrund von Takt und Klang, und sie werden auf unerwartete Weise genau und sagen, was ich nicht wusste, dass ich es weiß, zum ersten Mal.“ 5 Herta Müllers Umgang mit Sprache fügt sich bei aller politischen Stoßrichtung in zahlreiche Grundproblematiken des Wirklichkeitsbezugs ein: etwa in das Verhältnis von Sprache und Denken, das heißt die Frage, ob das Denken elementarer sei als die Sprache oder umgekehrt. Hinzu kommt das Verhältnis von Leben und Tod, Autobiografie und Fiktion, Sprache und Bild, Regel und Fall, vor allem aber die Frage nach dem Verhältnis der Wörter zu den Dingen. Michel Foucault hat ihre Geschichte in Les mots et les choses nachgezeichnet und ihre epistemologischen Schwellen markiert: das Zeitalter der mythisch-magischen Ähnlichkeit der Wörter und der Dinge, das der Repräsentation im 17., der Fest-Stellung der Wörter im 18., der Entdeckung ihrer Geschichte im 19. und ihrer Arbitrarität im 20. Jahrhundert. 6 Was im Epochenüberblick als epistemische Umbesetzung erscheint, kann in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aber auch koexistieren: Residuen magischen Wortzaubers in Alltag und Religion, die Insistenz auf schale Wörtlichkeit, die historische Bürde missbrauchter Wörter, schließlich das freie Spiel der Signifikanten. Die Dichter hatten dafür immer schon ein Sensorium. Demgegenüber steht die drohende Verarmung der Sprache im Alltag, wenn Worte und Dinge gleichgesetzt werden. „In der Dorfsprache – so schien es mir als Kind – lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis.“ 7 Solch linearer Sprachkonvention, die sowohl Halt gewährleistet als auch Stillstand erzeugt, korrespondieren lineare Lebensformen. Herta Müller geht den vielfältigen Funktionen der Sprache nach, die sie ihrer Umgebung, der Familie, dem Dorf, der Stadt und dem Staat, aber auch dem Dialekt, den Fremdsprachen, der Folklore und noch der Religion ablauscht: „In jeder Spra 5 Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. München 2014, S. 51 (= Ap). 6 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1980 (Les mots et les choses. Paris 1966). 7 Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt a. M. 62010, S. 7 (= K); Sissel Lægreid: Sprachaugen und Wortdinge – Herta Müllers Poetik der Entgrenzung. In: Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller. Hrsg. von ders., Helgard Mahrdt. Würzburg 2013, S. 55–79, hier S. 68; Anja K. Johannsen: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008, S. 207.
Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller
che, das heißt in jeder Art des Sprechens sitzen andere Augen.“ (K 39) 8 Die Verdinglichung der Sprache wird mit einer „Poetik der Entgrenzung“ konfrontiert, in der „sowohl die Grenzen der Einzelwörter wie auch die logisch-semantischen Grenzen der Sprache ständig überschritten werden“. 9 Indem aber das Verhältnis der Wörter zu den Dingen, der Wörter zu den Wörtern und selbst das der Dinge zu den Dingen in Bewegung gerät, werden gegenüber dem linearen Sprachgebrauch Umwege beschritten. Eines der auffälligsten, weil Irritation hervorrufenden Stilmittel stellen die befremdlichen Bilder aus zusammengesetzten Wörtern dar, zum Beispiel „Tintentrauben“, „Hirnhut“ „Schraubenzieheräste“. Infrage steht damit die Relation von Wort und Bild und ihre Funktion für den Zugang zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit: Zwar herrscht grundsätzlich Sprachskepsis – „Ich glaube nicht an die Sprache“ –, doch führt der Weg nur über die Sprache zu den Dingen: 10 „Ich wurde von Sprachbildern am tiefsten in die Wirklichkeit gezerrt.“ (Ap 77) Die intensive Bildlichkeit im Werk Herta Müllers ist vielfach untersucht worden. 11 Es sind dominant metaphorische und metonymische Operationen – im besten Sinn zusammengesetzte Wörter –, durch die die erlebte und sprachlich verfasste Wirklichkeit unterminiert wird. Überraschende metaphorische Wortfügungen werden nach Herta Müllers eigenen Worten geradezu zu Chiffren des Werks: „Melonenherz“, „Herztier“, „Taschentuchbüro“, „Leichenzucker“. 12 „Das wirklich Geschehene insistiert als Randerscheinung, man verpaßt ihm durch Worte einen Schock nach dem andern.“ (K 86) Die Metapher wird zum Umweg zu einer anderen Wirklichkeit. Das eigene Schreiben ist durch ein Ökonomieprinzip geprägt, das, in seiner Beiläufigkeit formuliert, die komplexen Funktionen eher verschweigt: „[…] also ich trachte immer danach, es so einfach wie möglich zu machen und alles, was man nicht haben muss, rauszustreichen. Vergleiche müssen wegfallen. Ich lasse das ‚wie‘ weg und mache es direkt: Der Schnee ist nicht ‚wie Mehl‘, sondern ‚der Schnee ist Mehl‘, also solche Sachen vielleicht, ich weiß es nicht.“ 13 In solcher Reduktion aber schlägt einfaches Erkennen in schwierige semantische Komplexität um. Ricarda Schmidt 8 Dirk Weissmann: Die verschiedenen Augen der Sprache(n). Zur Rolle von Muttersprache und Mehrsprachigkeit bei Herta Müller. In: Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an die Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Jens Christian Deeg, Martina Wernli. Würzburg 2016, S. 177–192. 9 Lægreid (Anm. 7), S. 61. 10 Ricarda Schmidt: Metapher, Metonymie und Moral. Herta Müllers ‚Herztier‘. In: Herta Müller. Hrsg. von Brigid Haines. Cardiff 1998, S. 57–74. 11 Vgl. Norbert Otto Eke: Augen/Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in den Bildern. Annäherung an Herta Müller. In: Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller. Hrsg. von dems. Paderborn 1991, S. 7–21; Ralph Köhnen (Hrsg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten Herta Müllers. Frankfurt a. M. [u. a.] 1997. 12 Müller (Anm. 5), S. 116. 13 Ich glaube nicht an die Sprache. Herta Müller im Gespräch mit Renata Schmidtkunz. Klagenfurt 2009, S. 26f.
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher hat herausgearbeitet, wie Metaphern und Metonymien bei Herta Müller geradezu als „erzählerische Bindungselemente“ fungieren, die ein eigenes semantisches Netz an Verweisen in den Text einschreiben. 14 Mobilisiert werden damit die grundlegenden Funktionen der Sprache für die poetische Produktion. Roman Jakobson hat die beiden Operationsweisen mit Kombination und Kontextbildung einerseits, Selektion und Substitution andererseits bezeichnet und sie den beiden Tropen Metonymie und Metapher zugeordnet. 15 Jedes Sprechen setzt sich aus diesen elementaren Verfahren zusammen. Sie bilden syntagmatische Verkettungs- und paradigmatische Ersetzungsoperationen aus. Auch hier folgt der ästhetische Gebrauch offenbar allgemeinen Regeln, nutzt sie aber gezielt für Irritationen.
Leben und Sprache Die Sprache weist bei Herta Müller weit über reine Repräsentation hinaus. Sie verfolgt vor dem Hintergrund eines vielschichtigen Schweigens einerseits und gegen das gedankenlose Gerede andererseits die komplexe Semantik der Wörter, wird aber auch von ihnen verfolgt. So entsteht eine Schreibweise, die die Wörter ins Leben bringt, sie in das Leben hineinzieht, und dies sowohl in physischer als auch in biografischer und noch in historischer Hinsicht. Ausgangspunkt sind die Pflanzen: „Ich aß Blätter und Blüten, damit sie mit meiner Zunge verwandt sind. Ich wollte, daß wir uns ähneln, denn sie wußten, wie man lebt, und ich nicht.“ (K 11) Indem die Pflanzen zu Gesprächspartnern und Spielgefährten werden, werden sie zu Substituten, die im Spiel vielfache Kombinationen und Kontextbildungen eröffnen. Wo Kommunikation mit den Menschen ausfällt, führt der Umweg über die Pflanzen zu den Wörtern. Wie die Pflanzen erhalten die Wörter einen Geschmack. Sie werden inkorporiert, in den Mund gesprochen, im Gehen in den Mund gesungen (Ap 89), sind „im Mund so schön“ (Ap 85), werden „ästhetisch geschmeckt“ (Ap 85). Über das Schmecken der Wörter führt der Weg zum Lesen von Sätzen: „Beim Lesen von Büchern dachte ich immer, die schönen Sätze, die mehr als der Inhalt ihrer Wörter sind, wissen, so lang, wie man den Blick draufhält, wie das Leben geht.“ (Ap 42) Über den „Worthunger“ wird der Hiat zwischen Leben und Sprache metaphorisch überbrückt. Wörter werden geradezu zu Lebensmitteln, um Halt zu gewinnen gegenüber dem Schweigen der unerbittlichen Natur, in der Familie, dem verarmten „Dorfdeutsch“ (K 14) und der normierten „Staatssprache“ (Ap 86). Die reflexionslose Sprache der Tradition, das gedankenlos rezitierte Abendgebet und die verlogene 14 Schmidt (Anm. 10), S. 60. 15 Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metapher und Metonymie. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1996 (zuerst 1960), S. 163–174.
Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller
Staatssprache zeugen von der Entwertung der institutionalisierten Sinnsysteme und führen zu Konsistenzbrüchen, die befragt werden, im Denken und Lesen zu Bewusstsein gelangen. Und vom Lesen zum Schreiben ist noch einmal ein weiter Weg, ein Umweg: „In der Angst Wörter schreiben, das war vielleicht wie Pflanzen essen, es war ein Worthunger. Das wirkliche Leben noch einmal unwirklich zu erfinden, nicht eins zu eins, sondern viel genauer. Und es war die Einbildung, in der Obhut der Sätze ein bisschen besser zu wissen, wie man leben könnte.“ (Ap 42) Immer wieder hat Herta Müller darauf insistiert, dass die von ihr erzählte Kindheit nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern eine erfundene Kindheit ist (Ap 50). Es sind Krisen im Übergang zum Erwachsenwerden – der Wechsel vom Dorf in die Stadt, die Monotonie des Fabrikalltags, die Verlogenheit des Staatsapparats, der Tod des Vaters –, die sie ins Schreiben treiben und erst in der imaginierten und reflektierten Erinnerung den Weg ins Dorf zurückgehen lassen. Wie jede Erzählung in der Mitte, im Ereignishaften, ihren Ausgangspunkt nimmt und dieses in eine Zeitstruktur von Anfang und Ende einfügt, so vergewissert sich die Erwachsene angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation – „Zwei Jahre vergingen im Trott der Alltäglichkeit, ein Tag glich dem anderen“ – ihres Anfangs im Dorf. 16 Das Ereignislose, das jeglichen Erzählimpuls abschneidet, wird selbst zum Ereignis und verweist auf die eigene Geschichte. So konstruiert die Erwachsene ein Kind, das sie zu der Außenseiterin führt, die sie geworden ist. „Erinnerung setzt sich anders zusammen als die Tatsachen von damals.“ 17 Deswegen hatte nach Herta Müller das wirkliche Kind zwar ein Gespür, aber nicht die Worte und Gedanken, die die Erwachsene ihm zuschreibt. Da jede Zukunft verstellt scheint, wird der Rückweg zum Umweg, um die Gegenwart aushalten zu können. Vom Tal zur Schule und Universität hin zur Fabrik rücken Grenzen und Übergänge in den Blick, denen solche des Denkens zum Lesen und vom Lesen zum Schreiben korrespondieren. Der gedankliche Nachvollzug realer biografischer Wege und Übergänge wird zum poetischen Verfahren einer Suche – ganz im Sinn von met-hodos als einer Sache nachgehen, sie verfolgen –, um dem fragmentierten und stereotypen Leben überhaupt eine Erzählung abgewinnen zu können. Die Frage nach dem „symbolischen Daseinszusammenhang“, das heißt die reflexive Selbstthematisierung des Lebens, ist an herausgehobene Situationen gebunden: hier an den Arbeitsplatz, der als Schreibtisch zum „Biographiegenerator“ wird. 18 Die Falle, in der das dezentrierte Subjekt steckt, ist aber nicht nur eine des sozialen Milieus, sondern auch der Geschichte und noch der Sprache.
16 Herta Müller: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis. In: Dies.: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München 2011, S. 8 (= SO). 17 Herta Müller: In der Falle. Göttingen 1996, S. 21. 18 Alois Hahn: Biographie und Lebenslauf. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt a. M. 2000, S. 97–115, hier S. 105.
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher Indem das Kind in seiner Einsamkeit auf der Weide retrospektiv in den Blick genommen und imaginiert wird, realisiert sich ein Bedürfnis nach Wissen, nach Wissen über Wissen, ein Sinnbedürfnis, das zu sich selbst in Distanz tritt. 19 Während die Mutter nicht weiß, „dass sie weiß, dass so vieles keinen Sinn hat“, gerät das Kind in die Reflexion: 20 „An diesen langen Tagen in einem sehr großen, frechgrünen Tal fragte ich unzählige Male, was mein Leben wert ist.“ (K 11) Die Selbstverortung schon des Kindes reicht vom Nahen zum Fernen, vom Kleinen ins Große: „Nach jedem Zug fühlte ich mich im Stich gelassen, war mir zuwider und sah mich noch genauer an. Da wurde der Taghimmel ein großer blauer und die Weide ein großer grüner Dreck und ich ein kleiner Dreck dazwischen, der nicht zählte.“ (K 12) Der weite Horizont dient nicht der Stabilisierung des Subjekts („der bestirnte Himmel über mir“), 21 sondern der Verunsicherung. Infrage steht der Zusammenhang von Wissen, Welt und Leben, der Teile zum Ganzen. Dem „Dorf der Menschen“ entkommen, wiederholt sich auf der Weide nur die Empfindung der Einsamkeit, die durch eine einfache Substitution metaphorische Qualität annimmt: „Ich war bis abends eingeschlossen im Dorf der Pflanzen.“ 22 In der Einsamkeit auf der Weide stellt sich ein Gegenprogramm ein – das Substitutions- und Kombinationsspiel mit zusammengesetzten Wörtern: „Genaues Beobachten bedeutet zerteilen.“ (Ap 75) Alternative Namen zur Milchdistel werden gesucht, die die vorgegebenen Lexeme meiden, z. B. Stachelrippe, Nadelhals (K 11). Im Winterlied „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ erinnert die Erwachsene später diese spielerische Technik der Umbesetzung (K 155f.), die das Kind auf seine Weise geübt und die die Lehrerin nun erfolglos ihren indoktrinierten Schülern vermitteln will. „Da war ich das Kind, ich hatte es getan.“ (K 156) „Das Staunen, das behütet, auch wenn es verängstigt, das durch poetische Bilder zusammengefaßte Hören und Sehen, das auch dort noch Halt gibt, wo es sentimental macht – es wurde mit Absicht von ihnen ferngehalten.“ (K 155) Was die auf Parteilinie getrimmten Schüler verloren haben, spürt die Erwachsene im Kind auf, zu dem sie in der Erinnerung wieder wird. Das Sprachbild ist aber kein beliebiges, keine wilde Semiose, es bleibt auf die existenzielle Angst bezogen. „Lebensangst und Worthunger“, Gefühl und Metapher, gehören zusammen. 23 „Aber die Wörter sind ja nicht nur Buchstaben, sie stellen ein Bild in den Kopf.“ (Ap 86) Im Rückblick kann sich das Bild aus dem Vergleich syn 19 Vgl. Alois Hahn: Zur Soziologie der Weisheit. In: Weisheit. Hrsg. von Aleida Assmann. München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 3), S. 47–57, hier S. 49. 20 Herta Müller: Niederungen. Prosa. Frankfurt a. M. 32017, S. 45 (= N). 21 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, photomechanischer Abdruck. Bd. 5. Berlin 1968, S. 161 (A 288). 22 Herta Müller: Ein Ausweg nach Innen. In: Süddeutsche Zeitung, 18.8.2017, S. 18 (= AI). 23 Herta Müller: Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009. Frankfurt a. M. 2010.
Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller
taktisch entfalten: „Ich sah mein Dorf wie hinter einer Glaswand stehen, eine gespenstisch aus der Welt gerückte Kiste mit gnadenlos erstarrten Leuten.“ (K 165) Über den Filter wird Distanz generiert und eröffnet eine verfremdende metaphorische Wahrnehmung. Einmal gefunden, kann sich das Bild dann auch in zusammengesetzten Lexemen verfestigen und die Imagination weitertreiben. Das Gewahrwerden des unerbittlichen Zyklus der Natur, „in dieser Dorfkiste dem Fraß der Gegend ausgesetzt zu sein“ (K 10), kondensiert sich etwas später zu einem neuen prägnanten zusammengesetzten Bild: zum „Freßkreis der Pflanzen“ (K 13). Die Sprachfunktionen operieren sichtbar jenseits semantischer Denotation, Selektion eröffnet neue Möglichkeiten – Umwege – der Ersetzung, Kombination neue Kontextbildung, beide senken das dörfliche Leben immer tiefer in die Rhythmen der Natur ein: „Aus den Feldern sieht man das Dorf als Häuserherde zwischen Hügeln weiden.“ (N 23) Die Metapher öffnet sich momenthaft zur Allegorie. Durch eine einfache, aber überraschende Umkehrung der Blickrichtung, eine Reflexion, fallen die Menschen selbst dem anheim, wovon sie leben: Pflanzen und Tieren. Noch die Bauern, die in der Fabrik den Schafen und Melonen ihrer Felder entfliehen wollen, erfasst diese sprachliche Metamorphose, als Proletariat werden sie selbst zu „Blechschafen“ und „Holzmelonen“ verdinglicht. 24 Die Gleichförmigkeit der Arbeit und der Wege produziert gleichförmige Subjekte. Die stumme und grausame Koexistenz von Menschen, Fauna und Flora geht in ihre Koinzidenz über. Auf der einen Seite der „Freßkreis der Pflanzen“, auf der anderen im Rhythmus der Tradition „erstarrte Menschen“, eine homogenisierte Herde im Zyklus der Natur, mechanisierte Arbeitstiere. Wie die immer gleichen Zyklen der Natur beschwören auch die unbarmherzigen Rhythmen der Kultur das memento mori. Norbert Otto Eke verweist auf solch „zirkuläre Bewegungen als Signaturen des Schwindens“. 25 Die Gesellschaft passt sich dem verzehrenden Kreislauf der Natur an, es gibt nur zyklische Wege und Zeiten, die jede Freiheit und jedes Telos auszuschließen scheinen.
Der Umweg als Metapher Der Lebensweg bildet über alle Zeiten hinweg eine der prominentesten Metaphern für Orientierung im Leben, nicht zuletzt aufgrund der strukturellen Homologie – Anfang, Mitte, Ende – von Leben, Weg und Erzählen. Die Metapher generiert epochenspezifisch ganz unterschiedliche Semantiken. Wenn Institutionen wie Philosophie, Politik und Religion in didaktischer Absicht gerade Wege postulieren, werden Umwege als Irr- und Abwege deklariert. Die Agenda aber schließt immer schon 24 Herta Müller: Herztier. Roman. Frankfurt a. M. 72018, S. 36f.; Schmidt (Anm. 10), S. 67f. 25 Norbert Otto Eke: ‚Zeit ist geblieben / Zeit ohne Zeit‘. Chronotopische Konstruktionen im Werk Herta Müllers. In: Herta Müller und das Glitzern im Satz (Anm. 8), S. 53–71, hier S. 60.
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher mögliche Alternativen aus. „Die vermeintliche Lebenskunst der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei. […] Die Welt bekommt Sinn durch die Umwege der Kultur in ihr.“ 26 In der Moderne wird daher der Umweg zur epistemischen Metapher widerständiger Lebensläufe und Standortbestimmungen, wie etwa Seefahrt bei Joseph Conrad, Auto- und Busfahrt bei Jack Kerouac, Wandern bei Hermann Lenz, Peter Handke und W. G. Sebald, um nur wenige zu nennen. 27 Bei Herta Müller scheint die Metaphorik des Lebensweges auf den ersten Blick keine prominente Rolle zu spielen, und doch steht sie im Hintergrund und wird mitunter auch aktiviert, konnotativ ausgebaut und reflektiert. Ralph Köhnen hat denn auch die besondere Semantik des Gehens im Werk Herta Müllers herausgearbeitet und ihm geradezu eine „Prosodie des Gehens“ 28 attestiert. Welche Optionen aber besitzt die Wegmetaphorik, wenn das Leben vor dem Hintergrund umfassender Einschließungen erfahren wird? Wo im sozialen Leben die Freiheit der Entscheidung abgeschnürt wird, herrscht Ausweglosigkeit als Normalzustand (vgl. Ap 42). Mangel, Konformität und Apathie prägen die Situation, sodass die Regulierung des staatlichen Lebens bis in die Privatsphäre reicht: „Und mir schien, die Kleidung wusste so gut wie jeder von uns, dass wir keinen Ausweg haben und miteinander in all den Wiederholungen alle gleich hässlich werden müssen.“ (AI) Das Leben im totalitären Staat vollzieht sich in eigenen linearen Narrativen, die zugleich Metaphern der gesellschaftlichen Gleichschaltung sind: gehorsames Nachfolgen, Gleichschritt, Marschieren: „Der Laufschritt in den Fortschritt ist angesagt.“ 29 Unter den Bedingungen allumfassender Einschließung werden große Teile der Lebenswegmetaphorik entwertet: statt freier Wahl und selbstverantworteter Anstrengung (My way) Mechanik und Leerlauf des Berufslebens. Heimat wird zur Fremde, der gerade Weg zur asphaltierten Promenade, auf der kollektiv marschiert wird, Wegbegleiter werden zu Mitläufern, Gradlinigkeit zur Linientreue verformt. So schrumpft die Lebensreise zur Hoffnung auf Ausreise. Die innere Rebellion gegen die eingeschliffenen Wege, sei es das tägliche Hüten der Kühe auf der Weide, die normierten Arbeitswege oder die staatlich überwachten Wege, sucht nach Alternativen. So wird schon der vorbeirauschende Zug dem Kind zum Bild eines besseren Lebens in der Stadt. Dem Gefühl des Eingeschlossenseins korrespondiert ein Begehren nach Freiheit, das die Reisenden, die Angepassten wie 26 Hans Blumenberg: Umwege. In: Ders.: Die Sorge geht über den Fluss. Frankfurt a. M. 1987, S. 137. 27 Grundlegend: Matthias Christen: to the end of the line. Zur Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München 1999; Kerstin Wilhelms: My Way. Der Chronotopos des Lebensweges in der Autobiographie (Moritz, Fontane und Facebook). Heidelberg 2017. 28 Ralph Köhnen: Über-Gänge. Kinästhetische Bilder in Texten Herta Müllers. In: Der Druck der Erfahrung (Anm. 11), S. 123–138, hier S. 126–130. 29 Müller (Anm. 17), S. 52.
Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller
die widerständige Beobachterin, während der Zugfahrt entlang der Donaugrenze magisch erfasst. „Der Sog der Fremde als machbares Leben: nebulös, schicksalsgroß wurde er jedesmal, wenn ich mit dem Zug von Temeswar nach Bukarest fuhr, zu einem konkreten Bild.“ (K 169) Aber selbst die Ausreise garantiert keine Erfüllung, die Spuren des entfremdeten Lebens werden nur in ein anderes Land und Leben getragen. Während der Bürokrat an der Grenze auf die Objektivität der Daten fixiert ist – „Ein Lebenslauf kann nicht falsch sein“ –, denkt die Ausreisende grundsätzlicher: „Ich kenne nur falsche Lebensläufe.“ 30 Das Leben geht weder in institutionalisierten Daten auf, noch ist es die Summe seiner Teile. Markiert wird die Differenz von Lebenslauf und Biografie. 31 Der Weg verliert seine Funktion der Orientierung, sei es als Metapher, Narrativ oder Chronotopos. Wenn der Lebensweg sozial determiniert ist, entfällt jede subjektive Wahl, jede eigenverantwortete Teleologie. Die natürliche Sukzession von Kindheit, Jugend und Reife sowie die kulturelle von Schule, Universität und Fabrik führen zu keiner entsprechenden Entwicklung des Lebens, sodass keine Erzählung jenseits der offiziellen entstehen kann. Angesichts der umfassenden Ausweglosigkeit bleiben nur der Rückweg in die Vergangenheit und Umwege in der Gegenwart. Wie die Sprache ein Umweg zur Wirklichkeit, so wird auch die fragmentierte Erzählung zum Umweg in ein Leben, das keinen Zusammenhang mehr findet. 32 Die fragmentierte Erzählweise verliert dadurch ihre Kohärenz, dass weitgehend auf Emplotment verzichtet wird, das ja dem Erzählen vorab Sinn einschreibt: „Reisende auf einem Bein“. Selbst spät, nach erlangter Freiheit und hoher Anerkennung, kann der natürliche Verlauf des Lebensbogens nicht ohne Irritation mit individuellem Sinn kompatibel werden: „Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst.“ 33 Bei Entzug stellt sich das bedrohlichste Narrativ staatlich kontrollierten Lebens ein: Verfolgung. Sie zieht erhebliche psychische und soziale Folgen nach sich. „Wenn man verfolgt wird, gehören Angst und Einsamkeit zusammen.“ (Ap 62) Solche Einsamkeit aber, darauf insistiert Herta Müller, kommt nicht von Innen, sie ist eine gemachte, da die Mitmenschen einem bewusst aus dem Weg gehen (Ap 62). Die Treppe, auf der sich die Ausgeschlossene ihr „Taschentuchbüro“ einrichtet, wird zum einen zur Metapher sozialer Ortlosigkeit, zum Durchgangsort an der Peripherie des Arbeitslebens, an dem die Mitläufer achtlos an ihr vorbeigehen. Die Treppe gibt aber zum anderen auch die vertikale Richtung vor und wird zur Metapher eines 30 Herta Müller: Reisende auf einem Bein. Berlin 1989, S. 51f. 31 Hahn (Anm. 18), S. 101f. 32 „Mit Hinblick auf den Bereich unmittelbaren Handelns ist die Sprache ein sehr komplexes Umwegsystem.“ Karlheinz Stierle: Die Einheit des Textes. In: Funk-Kolleg Literatur. Bd. 1. Hrsg. von Helmut Brackert, Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M. 31982, S. 168–187, hier S. 175. 33 Herta Müller: Tischrede. In: Dies.: Immer derselbe Schnee (Anm. 16), S. 12–24, hier S. 22.
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher stillgestellten Lebens, in dem es kein vor- oder aufwärts mehr gibt: „Seit die Treppe mein Büro war, seither ging es immer weiter nach unten. Und seit den Verleumdungen gab es nach unten kein Maß, seither ging es ins Bodenlose.“ (Ap 69) Während die Metapher vom Lebensweg Begegnungen vorsieht, Ratgeber, Kontrahenten und Begleiter, über die der Wanderer seine Lebenserfahrungen ausbildet, stiftet der unsichtbare Verfolger eine beklemmende Atmosphäre der Bedrohung. Nur im Verhör stellt er sich. In der Pervertierung staatlich überwachten Lebens verkehrt sich geradezu die Semantik der Metapher vom Lebensweg: Umwege werden zu temporären Auswegen. „Ich musste zu mir zurückfinden und suchte einen langen Heimweg durch die Nebenstraßen.“ (AI) Die konkreten Umwege sind das Resultat zunächst ungewollter Dezentrierung: „Ich ging viel zu Fuß, weil ich zur Stadt dazugehören wollte. Aber ich war nur an den Wegrändern zu Hause, nicht unter den Menschen.“ (AI) Auf den täglichen Wegen von der Fabrik, aber auch auf denen zum und vom Verhör, schützt sich der Blick durch Anlehnung an alte Gewohnheiten – „Wegen der Pflanzen ging ich immer zu Fuß“ (Ap 135) –, gedankliche Reimspiele und metaphorische Übungen, wie etwa durch die gewohnte Beobachtung der Pflanzen. Ihre Einteilung „in solche, die bei sich geblieben sind, zum Beispiel Pappeln, Birken, Phlox und Dahlien, und solche, die zum Staat übergelaufen sind wie Thuja, Buchsbaum, rote Nelken und Gladiolen“ (Ap 62), folgt nun einem anderen Schema als in der Kindheit. Wo die Wege und die Menschen ihren Sinn für das Ganze und ihre Semantik verlieren – „auch die Leute sehen wie leere Wege aus“ (N 54) –, wo kein Ausweg in Sicht ist, treten Erinnerungen und Imaginationen, d. h. Substitutionen auf den Plan: Übertragungen im Kopf: „Es war eine Beschäftigung im Gehen auf den Straßen oder egal wo, beim Warten. Und ich weiß bis heute, Ablenkung funktioniert am besten durch genaues Beobachten.“ (Ap 75) Ablenkung, die selbst eine Konnotation der Wegmetaphorik darstellt, transformiert die realen Umwege in gedankliche. Vor diesem Hintergrund führen zusammengesetzte Wörter zu neuen und überraschenden metaphorischen Verbindungen wie in dem Satz „Fußwege sind Kopfwege.“ (AI) Soziale Ausschließung wird zur selbst gewählten inneren Einschließung, die nicht mehr mit Menschen, sondern mit Wörtern kommuniziert: „Ich spürte, wie ich zu diesen Sätzen gehöre, sie waren ein Ausweg. Ein Ausweg nach innen.“ (AI) 34 Eine eigene, ja eigenwillige Interpretation erhält die Metapher des Irrlaufens. Als eine Abwandlung des Irrweges ist sie klassischer Bestandteil der Lebenswegmetaphorik, erfährt aber eine originelle Interpretation. Im Familien- und Dorfleben geht die äußere Anpassung mit innerer Verwirrung einher: „Der Irrlauf im Kopf musste versteckt werden. […] Ich wußte nie, wie viele Worte man bräuchte, um den Irrlauf in der Stirn gänzlich zu decken. Ein Irrlauf, der sich von den für ihn gefundenen Worten gleich wieder entfernt.“ (K 14f.) In der Stadt erhält das Streunen eine 34 Müller (Anm. 22), S. 18.
Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller
zentrale Funktion. „Ich lief ziellos durch die Straßen, um nicht auf mich selbst zurückzufallen. Wenn sich die Füße müde gelaufen haben, wird der Kopf ruhig.“ (Ap 111) Hier, abseits der vertrauten Wege, erhält die innere Unruhe Halt und Nahrung zugleich. Über den „Irrlauf im Kopf“ (K 14) wird die Metaphorik des Weges auf den Modus der Bewegung gelenkt und zugleich ins Innere verlagert, um der verstörenden Unruhe Ausdruck zu verleihen. Er wird zum existenziellen wie zum poetischen Programm. Noch die Effekte der Verfolgung werden dabei produktiv umgelenkt, insofern die sich einstellende Unruhe Aufmerksamkeit, Vorsicht, Genauigkeit und ein Sensorium für permanenten Entzug generiert. Reale Unangreifbarkeit wird zur Nicht-Greifbarkeit noch auf der Ebene der Wörter. Indem die Freunde sich spielerisch mit „Satzlabyrinthen“ ablenken, sichern sie sich ein kreatives Rückzugsgebiet: „Wir […] besaßen eine Art Gebietshoheit, legten so viele Fährten und Umwege hinein, bis uns die Köpfe schwirrten.“ (K 65) Während aber das Subjekt im Denken den sich entziehenden Wörtern vergeblich zu folgen versucht, wird die Bewegung der Wörter beim Schreiben zur Quelle der Inspiration, zu einem „gespenstischen Umzug“: „Die Innereien der Tatsachen werden in Wörter verpackt, sie lernen laufen und ziehen an einen beim Umzug noch nicht bekannten Ort.“ (K 85) Wie die Dinge an Personen geheftet werden und dabei „Umwege“ gehen können („Schraubenzieheräste“, K 16, 20), gehen die Wörter im Kopf ihre eigenen Umwege und reklamieren je für sich ihren besonderen methodus. Selbst die Bemühungen um Kontrolle münden wieder in einen Irrlauf: „Erwähnen und Weglassen ist ein einziges Labyrinth.“ (Ap 84) Das Labyrinth, ein uraltes Bildfeld der Wegmetaphorik, avanciert in der Moderne zur Metapher der Erkundung unbekannten Lebens und Schreibens. 35 Die Erfahrungen des Lebens und des Schreibens wirken schließlich auf den Akt des Lesens zurück, der ins Jenseits der Worte blickt. „Wer lesen kann, sieht auch den Vorgang des Schreibens beim Lesen: die Umwege, die Abbrüche. Er spürt auch die Vielzahl der Böden unter den Gedanken.“ 36 Was im Leben aber als schmerzliche Erfahrung wirkt, Verirrung und Bodenlosigkeit, transformiert sich in einen Wert für die ästhetische Wahrnehmung: „Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist und ein anderes flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können.“ (K 20) 37 In der Folge des Irrlaufs im Kopf verändert sich auch der diagrammatische Topos des Scheidewegs. Auch dieser erfährt eher als poetische Metapher eine episte 35 Rolf-Peter Janz: Umwege und Abschweifungen. Schreibweisen in der literarischen Moderne (Robert Walser, Friedrich Dürrenmatt). In: Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Hrsg. von Hans Richard Brittnacher, Rolf Peter Janz. Göttingen 2007, S. 182–194. 36 Herta Müller: Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt. In: Dies.: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1991, S. 32–55, hier S. 44 (= TS). 37 „Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht.“ Müller (Anm. 7), S. 20.
Metapher als Umweg – Umweg als Metapher mologische Umbesetzung: „Wie. Ich steh an der Stelle, wo sich der Gehsteig teilt. Ich muß mich entscheiden, auf welcher Straßenseite ich gehen werde. […] Der Unterschied ist der, wenn ich da gehe, oder dort: ein Stück Leben da. Oder ein Stück Leben dort. Da ist der kleinste Unterschied der größte, die Spanne zwischen Baum und Baum, oder Fenster und Fenster wie eine Reise.“ 38 Die Entscheidung zielt weniger auf das eigene Leben, sondern mehr noch auf den je zu wählenden Ausschnitt aus einem wahrnehmbaren und zu beschreibenden Leben. Je nach Entscheidung „ist eine ganz andere Reise in all diesen Dingen drin“ (TS 94). Viel elementarer als in einer ethischen Entscheidung ist auch das Subjekt nicht mehr dasselbe: „Daher bin ich auf der Seite da nicht die gleiche wie auf der Seite dort.“ (TS 94) Dem Irrlauf ist schon aufgrund der Zeitlichkeit nicht zu entkommen: „Ich kehre um, weiß oft nicht weshalb, und komme schon aus der Irre. Und die Wahrnehmung wird, da ich als andere aus der Irre komme, eine andere, als sie vorher geworden wäre.“ (TS 94) Der Ausschnitt der Welt verändert sich mit jeder Positionsänderung, die Dinge wie das Subjekt befinden sich ständig in Bewegung und unterliegen der Veränderung. Für die Wahrnehmung und das Erzählen bedeutet das unablässige Selektion nicht nur aus der Überfülle an Möglichkeiten, sondern auch aus der dahinfließenden Zeit. Daher markiert der Scheideweg, der sich in die „Messerschneide“ transformiert, die resignative Einsicht, dass jede Beobachtung aus dem beweglichen Horizont der Wirklichkeit immer wieder nur Ausschnitte erfasst. 39 Das Spiel der Selektionen und Substitutionen scheint ebenso unendlich zu sein wie das der Kombinationen und Kontextbildungen. Aus ästhetischer Sicht gibt es nur Umwege, da es keinen verbindlichen Weg mehr gibt. „Man muß das Wichtigtuerische des Erlebten demolieren, um darüber zu schreiben, aus jeder wirklichen Straße abbiegen in eine erfundene, weil nur die ihr wieder ähneln kann.“ (K 86) Wenn jeder biografische Ansatz genötigt ist, aus der Fülle der Daten, die der Lebenslauf bietet, auszuwählen, zu schematisieren und „Abkürzungen“ vorzunehmen, kehrt Herta Müller auch dieses Verfahren um, indem sie über die sprachlichen Umwege die „Identitätsschemata“ aufbricht, um weniger neue Wege zu beschreiten, als den unauslotbaren Bedingungen der schon gegangenen eigenen Wege nachzuspüren. 40 Dabei verschiebt sich noch der Umgang mit Metaphern und Metonymien. Während diese zu ihrem Verständnis einen sozialen und kulturellen Horizont an Konnotationen voraussetzen, beziehen die zusammengesetzten Bilder bei Herta Müller ihre enigmatische Befremdlichkeit aus ihrer eigenen Geschichte, die gerade auf die Lücken des kollektiven Wissens verweist. Auch in diesem Sinn reklamieren die Umwege einen humanitären Anspruch.
38 Herta Müller: Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist. In: Dies.: Der Teufel sitzt im Spiegel (Anm. 36), S. 93f. 39 „Mitten in der Stadt geht mir die Messerschneide nach.“ (TS 93). 40 Hahn (Anm. 18), S. 104.
Abbildungsverzeichnis Die ‚symbolische Ordnung’ des Zweikampfs im Mittelalter Abb. 1 Zweikampf als Rechtsform. Sachsenspiegel: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1. Aug. 2°, fol. 26r © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Abb. 2 Höfische Zweikampfszene. Codex Manesse: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848, fol. 52r
Abb. 3 Alexander erschlägt Dareius. Jansen Enikel, Weltchronik: Regensburg, Fürstl. Thurn und Taxische Hofbibliothek, MS. Perg. III, fol. 106vb Mit freundlicher Genehmigung der Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek und Zentralarchiv © Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv – Hofbibliothek – Museen Abb. 4 David gegen Goliath. Stuttgarter Psalter: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Bibl. fol. 23, fol. 158v urn:nbn:de:bsz:24-digibib-bsz3070470598 Abb. 5 Alexander gegen Porus. Historia de preliis: Leipzig, Universitätsbibliothek, Cod. Rep. II. 143, fol. 68r (Leihgabe Leipziger Stadtbibliothek)
Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit Abb. 6 Hartmann Schedel, Das buch der Cronicken vnd gedechtnus wirdigern geschichte. […] Nürnberg: Anton Koberger 1493. München: BSB, 2°Inc.c.a. 2922, Bl. Xr © Bayerische Staatsbibliothek München urn:nbn:de:bvb:12-bsb00059084-6
Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit Abb. 7 Sebastian Münster, Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt. Basel 1628, S. 80
Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue
Abb. 8 Ebstorfer Weltkarte
Abb. 9 Ebstorfer Weltkarte, Detail: Paradies und Christus https://doi.org/10.1515/9783110772340-019
Abbildungsverzeichnis
Abb. 10 Erde. © NASA
Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges Abb. 13 Ebstorfer Weltkarte
Abb. 14 Zeichnung eines Labyrinths
Abb. 15 Henri Noblin, Misere humaine ou les Passions de l'homme en tous ses âges Bibliothèque nationale de France, départmend Estampes et photographie, FOL-TD-24 (9) Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France
Abb. 16 Jakob Locher, Stultifera navis. Basel: Johann Bergmann 1497, Kap. 114. Universitätsbibliothek Basel, DA III 1, S. 130 Brant, Sebastian: Stultifera navis, narragonice perfectionis nunquam satis laudata navis. [Basel]. [Johann Bergmann von Olpe], [1. März 1497]. Universitätsbibliothek Basel, UBH DA III 2, https://doi.org/10.3931/e-rara-4622 / Public Domain Mark Abb. 17 Sebastian Brant, Narrenschiff. Basel: Johann Bergmann 1494, Kap. 107. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 8° Inc 604, Bl. 146r
Abb. 18 Pilgerfahrt des träumenden Mönchs: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., Hs. 201, fol. 79v urn:nbn:de:tuda-tudigit-28346
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms und C. Stephen Jaeger in Verbindung mit Alexandra Stein. Stuttgart 1997, S. 119–136. [Franz Steiner-Verlag] Grenzmetaphorik. Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen. In: Körper – Kultur – Literatur (1200–1800). Hrsg. von Beate Kellner, Christian Kiening. Stuttgart 2009 (Sonderheft DVjs 83,1), S. 193–248. [Verlag J. B. Metzler] Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur, 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 23), S. 245–267. [Verlag J. B. Metzler] Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 123–158. [© 2005 Brill Fink, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)] Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von U. F., Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP. 2), S. 275–298. [Walter de Gruyter] Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit. In: Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung, Mutterschaft, Passion. Hrsg. von Renate Dürr [u. a.]. Paderborn 2019, S. 119–142. [Ferdinand Schöningh-Verlag] Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hrsg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider. Berlin/New York 2011 (Frühe Neuzeit. 136), S. 125–156. [Walter de Gruyter] Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21,1 (1996), S. 1–30. [Walter de Gruyter] Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber, Christopher Young. Berlin 2006 (Beihefte zur ZfdPh. 13), S. 48–75. [Erich Schmidt Verlag]
https://doi.org/10.1515/9783110772340-020
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 227–250. [Erich Schmidt Verlag] Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik. In: Poetica 47 (2015), S. 1–24. [© 2015 Brill Fink, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)] Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von U. F., Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2013 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3), S. 267–288. [Akademie Verlag] Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur. In: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period. Hrsg. von Victor Millet, Heike Sahm. Berlin/Boston 2014 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 87), S. 175–194. [Walter de Gruyter] Erzählen vom Tod im Parzival. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer, Carmen Stange. Berlin/New York 2010 (TMP. 19), S. 385–414. [Walter de Gruyter] Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von Oliver Auge, Christiane Witthöft. Berlin/Boston 2016 (TMP. 30), S. 83–111. [Walter de Gruyter] Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44 (2014), S. 51–76. [Verlag J. B. Metzler] Metapher als Umweg – Umweg als Metapher. Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2019), S. 124–136. [Richard Boorberg Verlag]
Schriftenverzeichnis von Udo Friedrich bis 2022 Selbstständige Veröffentlichungen Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft. Conrad Gessners „Historia animalium“ und ihre volkssprachliche Rezeption. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit. 21). mit Martin Huber, Ulrich Schmitz: Orientierungskurs Germanistik. Stuttgart 2008. 4. Aufl. Stuttgart 2011 (Uni-Wissen Germanistik). Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5). Die Rhetorik der Gewohnheit. Zur Habitualisierung des Wissens in der Vormoderne. Zürich 2021 (Mediävistische Perspektiven. 12).
Herausgeberschaft mit Bruno Quast (Hrsg.): Präsenz des Mythos. Konfiguration einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2004 (TMP. 2). mit Hedwig Röckelein (Hrsg.): Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung. Berlin 2012 (Das Mittelalter. 17,2). mit Matthias Müller, Karl-Heinz Spieß (Hrsg.): Kulturtransfer am Fürstenhof. Höfische Austauschprozesse und ihre Medien im Zeitalter Kaiser Maximilians I. Berlin 2013 (Schriften zur Residenzkultur. 9). mit Andreas Hammer, Christiane Witthöft (Hrsg.): Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2013 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3). mit Manfred Eikelmann (Hrsg.): Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter: Wissen – Literatur – Mythos. Bearb. von Michael Schwarzbach u. Esther Laufer. Berlin 2013. mit Eva Schumann (Hrsg.): Transfer von Expertenwissen in der Frühen Neuzeit. Gelehrte Diskurse in der volkssprachigen Praxis. Göttingen 2018. mit Ludger Grenzmann, Frank Rexroth (Hrsg.): Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit. Bd. 2: Soziale Gruppen und Identitätspraktiken. Berlin/Boston 2018 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge. 41,2). mit Bruno Quast, Ulrich Hoffmann (Hrsg.): Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters. Berlin/Boston 2020 (Literatur – Theorie – Geschichte. 21). mit Christiane Krusenbaum-Verheugen, Monika Schausten (Hrsg.): Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2021 (Beihefte zur ZfdPh. 20).
Editionen Konrad Kyeser: Bellifortis; Feuerwerkbuch. Farbmikrofiche-Edition der Bilderhandschriften Göttingen, Niedersächsischer Staats- und Universitätsbibliothek, Cod Ms.philos 64 und 64a Cim. Einführung und Beschreibung der kriegstechnischen Bilderhandschriften von Udo Friedrich. Anmerkungen zum lateinischen Text, Transkription und Übersetzung der Vorrede von Fidel Rädle. München 1995 (Codices figurati – libri picturati. 3).
https://doi.org/10.1515/9783110772340-021
Schriftenverzeichnis von Udo Friedrich bis 2022 Aufsätze mit Theresia Berg: Wissenstradierung in spätmittelalterlichen Schriften zur Kriegskunst. Der „Bellifortis“ des Konrad Kyeser und das anonyme „Feuerwerkbuch“. In: Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftungsprozeß am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. München 1994 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 67), S. 169–232. „[…] das wir selber künste könen erdencken […]“. Magiediskussion und paracelsisches Wissen im ‚Wagnerbuch‘. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Hrsg. von Peter Dilg, Hartmut Rudolph. Stuttgart 1995 (Hohenheimer Protokolle. 47), S. 169–193. Herrscherpflichten und Kriegskunst: Zum intendierten Gebrauch früher „Bellifortis“-Handschriften. In: Der Codex im Gebrauch. Akten des Internationalen Kolloquiums 11.–13. Juni 1992. Hrsg. von Hagen Keller, Dagmar Hüpper, Christel Meier. München 1996 (Münstersche MittelalterSchriften. 70), S. 197–210. Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21,1 (1996), S. 1–30. Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger in Verbindung mit Alexandra Stein. Stuttgart 1997, S. 119–136. Johannes Reuchlin am Heidelberger Hof: Poeta, orator, paedagogus. In: Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit. Hrsg. von Stefan Rhein. Sigmaringen 1998 (Pforzheimer Reuchlinschriften. 5), S. 163–185. Konkurrenz der symbolischen Ordnungen. In: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Hrsg. von Ute von Bloh, Friedrich Vollhardt. Göttingen 1999 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46,4), S. 560–570. Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und die Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert. In: Mittelalter – Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 149–179. Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur, 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 23), S. 245–267. Grenzen des Ordo in enzyklopädischen Schriften des 16. Jahrhunderts. In: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Akten des Kolloquiums des Projekts D im Sonderforschungsbereich 231 (29.11.–1.12.1996). Hrsg. von Christel Meier. München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 78), S. 391–408. Ordnungen des Wissens (Mittelalter). In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002 (Rowohlts Enzyklopädie. 55643), S. 83–102. Die Ordnung der Natur: Funktionsrahmen der Natur in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters. In: Natur im Mittelalter. Konzepte – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes. Hrsg. von Peter Dilg. Berlin 2003, S. 70–83. Contra naturam: Mittelalterliche Automatisierung im Spannungsfeld politischer, theologischer und technologischer Naturkonzepte. In: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Grubmüller, Markus Stock. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 17), S. 91–114. mit Corinna Dörrich: Bindung und Trennung – Erziehung und Freiheit: Sprachkunst und Erziehungsdiskurs am Beispiel des Kürenberger Falkenliedes. In: Der Deutschunterricht 55 (2003), S. 30– 42. Zwischen Utopie und Mythos. Der Brief des Priester Johannes. In: ZfdPh 122 (2003), S. 73–92.
Schriftenverzeichnis von Udo Friedrich bis 2022
mit Bruno Quast: Mediävistische Mythosforschung. In: Präsenz des Mythos. Konfiguration einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von U. F., Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP. 2), S. IX–XXXVII. Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von U. F., Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP. 2), S. 275–298. Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 227–250. Kirchliche Rekultivierung und feudale Territorialisierung: Mobilität als Faktor und Raumaneignung im 12. Jahrhundert. In: Mobilität, Raum, Kultur. Erfahrungswandel vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Peter Strohschneider, Walter Schmitz, Karl-Siegbert Rehberg. Dresden 2005 (Kulturstudien. 1), S. 53–74. Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 123–158. Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext: Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber, Christopher Young. Berlin 2006 (Beihefte zur ZfdPh. 13), S. 48–75. Unterwerfung. Das Dispositiv der Gewalt im Mittelalter. In: Michel Foucault. Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal, Achim Geisenhanslücke. Heidelberg 2006 (Diskursivitäten. 10), S. 141–165. Bertrand Tavernier: La Passion Béatrice (1987). In: Mittelalter im Film. Hrsg. von Christian Kiening, Heinrich Adolf. Berlin/New York 2006 (TMP. 6), S. 333–351. Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründung. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 64), S. 99–120. Erfahrung als Wert. Über das Verhältnis von Wissen und Subjekt in der Frühen Neuzeit. In: Eule oder Nachtigall? Tendenzen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung. Hrsg. von Marie Louisa Allemeyer [u. a.]. Göttingen 2007, S. 49–72. Weltmetaphorik und Wissensordnung in der Frühen Neuzeit. In: Enzyklopädistik zwischen 1550 und 1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. Hrsg. von Martin Schierbaum. Münster 2009 (Pluralisierung & Autorität. 18), S. 193–248. Grenzmetaphorik. Zur Interferenz von Natur und Kultur in mittelalterlichen Körperdiskursen. In: Körper – Kultur – Literatur (1200–1800). Hrsg. von Beate Kellner, Christian Kiening. Stuttgart 2009 (Sonderheft DVjs 83,1), S. 193–248. Erzählen vom Tod im Parzival. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer, Carmen Stange. Berlin/New York 2010 (TMP. 19), S. 385–414. Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hrsg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider. Berlin/New York 2011 (Frühe Neuzeit. 136), S. 125–156. Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen. In: Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Hrsg. von Thorsten Fitzon [u. a.]. Berlin/Boston 2012, S. 49–79.
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Wahrnehmung – Experiment – Erinnerung. Erfahrung und Topik in Prosaroman der Frühen Neuzeit. In: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung. Hrsg. von U. F., Hedwig Röckelein. Berlin [u. a.] 2012 (Das Mittelalter. 17,2), S. 75–94. Bunte Pferde. Zur kulturellen Semantik der Farben in der höfischen Literatur. In: Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Monika Schausten. Berlin 2012 (Literatur – Theorie – Geschichte. 1), S. 65–88. Zur Poetik des Liebestodes im Schüler von Paris (B) und in der Frauentreue. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi [u. a.]. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen. 240), S. 239–254. Mythos und europäische Tradition (Einleitung). In: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter: Wissen – Literatur – Mythos. Hrsg. von U. F., Manfred Eikelmann. Berlin 2013, S. 187–204. mit Matthias Müller, Karl-Heinz Spieß: Einleitung. In: Kulturtransfer am Fürstenhof. Höfische Austauschprozesse und ihre Medien im Zeitalter Kaiser Maximilians I. Hrsg. von dens. Berlin 2013 (Schriften der Residenzkultur. 9), S. 7–14. mit Andreas Hammer, Christiane Witthöft: Einleitung. In: Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von dens. Berlin 2013 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3), S. 11–30. Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue. In: Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von U. F., Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2013 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3), S. 267–288. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Zur Paradigmatik und Syntagmatik des Glücks in Hieronymus Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks. In: Das Syntagma des Pikaresken. Hrsg. von Jan Mohr, Michael Waltenberger. Heidelberg 2014 (Germanisch-romanische Monatsschrift. Beiheft. 58), S. 315–147. Topik und Rhetorik. Zu Säkularisierungstendenzen in der Kleinepik des Strickers. In: Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg. von Susanne Köbele, Bruno Quast. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. 4), S. 87–104. Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur. In: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period. Hrsg. von Victor Millet, Heike Sahm. Berlin/Boston 2014 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 87), S. 175–194. Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44 (2014), S. 51–76. Historische Metaphorologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 169– 212. Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik. In: Poetica 47 (2015), S. 1–24. Die Paradigmatik des Esels im enzyklopädischen Schrifttum des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Am Beispiel des Esels. Denken, Wissen und Weisheit in literarischen Darstellungen der „asinitas“. Hrsg. v. Hans-Jürgen Scheuer, Bern [u. a.] 2015 (Zeitschrift für Germanistik 25,1), S. 93–109. Geschichte und kulturelle Topik: Außenseiter, Infame und Menschenwürde in der Vormoderne. In: Würdelos. Ehrkonflikte von der Antike bis in die Gegenwart. Hrsg. von Achim Geisenhanslüke. Regensburg 2016 (Regensburger Studien. 1), S. 87–120.
Schriftenverzeichnis von Udo Friedrich bis 2022
Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von Oliver Auge, Christiane Witthöft. Berlin/Boston 2016 (TMP. 30), S. 83–111. Zur Verdinglichung von Werten in den Gesta Romanorum. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr [u. a.]. Berlin/Boston 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte. 9), S. 249–266. Kaufmann – Abenteurer – Pilger: Figuren und Diskurse des Staunens in Reisebeschreibungen der Frühen Neuzeit. In: Staunen als Grenzphänomen. Hrsg. von Nicola Gess [u. a.]. Paderborn 2017 (Poetik und Ästhetik des Staunens. 1), S. 177–204. Juristisches Argumentieren und Erzählen in den „Gesta Romanorum“. In: Rechtsnovellen. Rhetorik, narrative Strukturen und kulturelle Semantiken des Rechts in Kurzerzählungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Pia Claudia Doering, Caroline Emmelius. Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen. 263), S. 27–50. Wilde Aventiure. Beobachtungen zur Organisation und Desorganisation des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. In: wildekeit. Spielräume literarischer obscuritas im Mittelalter: Zürcher Kolloquium 2016. Hrsg. von Julia Frick, Susanne Köbele. Berlin 2018 (Wolfram-Studien. 25), S. 281–296. Creatio – imitatio – imaginatio: Zu den Grenzen von Natur und Technik in der Literatur der Vormoderne. In: Technik und Science-Fiction in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Brigitte Burrichter, Dorothea Klein. Würzburg 2018 (Würzburger Ringvorlesungen. 17), S. 45–70. Einleitung: Transfer von Expertenwissen. In: Transfer von Expertenwissen in der Frühen Neuzeit. Gelehrte Diskurse in der volkssprachigen Praxis. Hrsg. von U. F., Eva Schumann. Göttingen 2018, S. 9–33. Schöpfungsmythos und Genealogien des Wissens in der Frühen Neuzeit. In: Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung, Mutterschaft, Passion. Hrsg. von Renate Dürr [u. a.]. Paderborn 2019, S. 119–142. Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach. In: Mythen und Narrative des Entscheidens. Hrsg. von Helene Basu, Bruno Quast, Martina Wagner-Egelhaaf. Göttingen 2019 (Kulturen des Entscheidens. 3), S. 23– 45. Metapher als Umweg – Umweg als Metapher. Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2019), S. 124–136. mit Bruno Quast, Ulrich Hoffmann: Kehre: Konzepte und Narrative. In: Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dens. Berlin/Boston 2020 (Literatur – Theorie – Geschichte. 21), S. 1–19. Umkehr: Rhetorischer Topos und epistemische Figur. In: Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von U. F., Bruno Quast, Ulrich Hoffmann. Berlin/Boston 2020 (Literatur – Theorie – Geschichte. 21), S. 77–102. mit Christiane Krusenbaum-Verheugen: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne. Zur Einführung. In: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dens., Monika Schausten. Berlin 2021 (Beihefte zur ZfdPh. 20), S. 7–61. Topik der Ehre. Dynamiken der Urteilsbildung und poetischen Gestaltung im „Armen Heinrich“ Hartmanns von Aue. In: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von U. F., Christiane Krusenbaum-Verheugen, Monika Schausten. Berlin 2021 (Beihefte zur ZfdPh. 20), S. 315–344.
Schriftenverzeichnis von Udo Friedrich bis 2022 Determination und Entscheidung. Beratung als Form der Zukunftsmodellierung in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“. In: Zukunft entscheiden. Optionalität in vormodernem Erzählen. Hrsg. von Bruno Quast, Susanne Spreckelmeier. Göttingen 2022 (Kulturen des Entscheidens. 6), S. 105–120.
Handbuchartikel / Kurzbeiträge / Allgemeines Art. Fachprosa. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte 1 (1997), Sp. 559–562. Text – Geschichte – Repräsentation. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposion 1995. Hrsg. von Gerhard Neumann. Stuttgart/Weimar 1997, S. 624– 635. Von der rhetorischen zur topologischen Ordnung. Der Wandel der Wissensordnungen im Übergang zur Frühen Neuzeit. In: medienheft 22 (Okt. 2004), S. 9–14. 1150: Anthropology of the Crusades. In: A New History of German Literature. Hrsg. von David E. Wellbery [u. a.]. Cambridge, Mass. 2004, S. 44–49. Vernetzte Literaturwissenschaft an der Universität Greifswald: Chancen der Altgermanistik in modularisierten Studiengängen. In: Germanistische Mediävistik und ‚Bologna-Prozess‘. Hrsg. von Peter Strohschneider. Bielefeld 2005 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52,1), S. 122–131. Art. Epik. In: Lexikon der Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hrsg. von Gerhard Lauer, Christin Ruhrberg. Stuttgart 2011, S. 73–77. Art. Mythos. In: Lexikon der Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hrsg. von Gerhard Lauer, Christin Ruhrberg. Stuttgart 2011, S. 236–240. Art. Konrad Gessner. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 2 (2012), Sp. 571–583. Art. Michael Herr. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 3 (2014), Sp. 327–332. Art. Zyklus. In: Enzyklopädie des Märchens 14 (2014), Sp. 1462–1466. Moderne Kontrafakturen mittelalterlicher Lyrik: Goethe – Rilke – Rühmkorf – Jandl. In: Schliff 3 (2015), S. 100–120. Überqueren – Überwinden: der Pass. In: die horen 62 (2017), S. 175–180.