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German Pages 268 Year 2017
Susanne Keuchel, Viola Kelb (Hg.) Wertewandel in der Kulturellen Bildung
Perspektivwechsel Kulturelle Bildung: Fachdiskurs, Fortbildung, Forschung
Band 2
Editorial Die Kulturpädagogik der 1970er-Jahre entwickelte aus der außerschulischen Praxis heraus ein eigenes Handlungsfeld und etablierte hierfür den Begriff »Kulturelle Bildung«. Dieser trat der bisherigen einzeldisziplinarischen Betrachtungsweise der »Künste« in der Pädagogik entgegen und steht für einen eigenen pädagogischen Wertekanon. Das wachsende Interesse der Politik an Kultureller Bildung führte zu einem deutlichen Ausbau der kulturpädagogischen Praxis. Die damit einhergehende Zunahme an Akteuren im Feld, an zielgruppenspezifischen Segmentierungen, neuen Orten und politischen Zuständigkeiten hat die kulturelle Bildungslandschaft verändert. Neue Partnerschaften und eine zunehmende Internationalisierung des Feldes werfen neue Fragen für die kulturpädagogische Praxis auf: nach relevanten »Qualitäten«, Wirkungen sowie Interdependenzen mit gesellschaftlichen Prozessen, etwa dem soziodemografischen Wandel, zunehmender Diversität, Kommerzialisierung, Medialisierung oder Globalisierung. Die Schriftenreihe Perspektivwechsel Kulturelle Bildung greift diese Fragestellungen auf, um notwendige Aktualisierungen der kulturpädagogischen Praxis zu prüfen. Neue Erkenntnisse aus dem Fachdiskurs und der Fortbildung werden dabei ebenso berücksichtigt wie aktuelle Forschungsergebnisse. Die Reihe wird herausgegeben von der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW unter redaktioneller Verantwortung von Prof. Dr. Susanne Keuchel, Direktorin der Akademie.
Susanne Keuchel, Viola Kelb (Hg.)
Wertewandel in der Kulturellen Bildung
Gefördert von:
Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW Küppelstein 34 42857 Remscheid Telefon: (02191) 794-0 www.kulturellebildung.de
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Inhalt
Einleitung | 9
KAPITEL I THEMA W ERTEWANDEL IM FACHDISKURS Wertewandel und Kulturelle Bildung Zur Notwendigkeit einer Kulturellen Bildung 3.0 in Zeiten gesellschaftlicher Transformation
Susanne Keuchel | 17 Kulturelle Bildung und die Krise der freiheitlichen Demokratien Creativity Culture and Education
Paul Collard | 65 Kulturelle Bildung in der digitalisierten Gesellschaft
Christian Helbig und Angela Tillmann | 73 Die späte, fragwürdige und wenig aussichtsreiche Ökonomisierungskritik der Kulturellen Bildung
Franz Kasper Krönig | 93 Lernziel Lebenskunst: Ein widerspenstiger Prozess
Max Fuchs | 109
KAPITEL II THEMA W ERTEWANDEL IN FORSCHUNG UND M ODELLVORHABEN „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“ Eine Ausstellung im Deutschen Museum München und der Wertewandel in der Ausstellungs- und Bildungsarbeit von Museen
Karin Schad im Gespräch mit Nina Möllers | 125 Von der Zielgruppe zum Gruppenziel? Intersektionale Perspektiven in der Kulturellen Bildung
Viola Kelb | 143 Internationalisierung der Kulturellen Bildung in Deutschland Reflexionen zur Öffnung eines Diskurses
Sandra Czerwonka | 159 Begrenzte Körper – begrenzte Forschung? Potenziale künstlerisch-partizipativer Forschungsansätze am Beispiel Kultureller Bildung im Strafvollzug
Fabian Chyle und Henning van den Brink | 173
KAPITEL III THEMA W ERTEWANDEL IN METHODIK UND F ORTBILDUNG Ansätze zur Wertevermittlung im Kontext handlungsorientierter Medienpädagogik
Horst Pohlmann | 191 Die Zukunft gestalten Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung
Günter Klarner | 207
Das Politische in der Kulturellen Bildung – (k)ein Thema?
Dolores Smith | 231 Wertevermittlung durch Spiel Spielpädagogik als Mittel zur erfolgreichen Wertekompetenzentwicklung des Menschen
Gerhard Knecht und Marietheres Waschk | 247 Autorinnen und Autoren | 263
Einleitung
Werte definieren, wonach wir als Individuen und als Gesellschaft streben. In der Kulturellen Bildung gibt es seit den 1970er Jahren eine Verständigung über Grundprinzipien und Ziele, die weit über die Auseinandersetzung mit den Künsten stehen, wie Persönlichkeitsentwicklung, Teilhabe, Partizipation oder das Prinzip der Selbstbildung. Das Prinzip der Selbstbildung steht dabei in einem gewissen Widerspruch zur Vermittlung von Werten. Können wir Werte wie Gleichberechtigung, Kunstfreiheit oder Demokratie im Zuge kultureller Bildungsarbeit vermitteln, wenn wir auf das Prinzip der Selbstbildung setzen? Und wenn wir das Prinzip der Selbstbildung als primär gesetzt betrachten, wie positionieren wir uns gegenüber jungen Zielgruppen, die aufgrund anderer kultureller Hintergründe und Erfahrungen, ein anderes Werteverständnis haben und beispielsweise Gleichberechtigung als Wert ablehnen? Aktuell erleben wir eine starke gesellschaftliche Transformation, die von Migration, Flucht, Globalisierung, Medialisierung, Alterung der Gesellschaft oder auch durch soziale Spaltung beeinflusst wird. Welche Wechselwirkung hat die aktuelle gesellschaftliche Transformation auf die Kulturelle Bildung? Kann an den in den 1970er Jahren entwickelten Grundprinzipien festgehalten werden? Oder müssen diese neu überdacht werden? Wie sieht es hier beispielsweise mit dem Prinzip der Freiwilligkeit in Zeiten des Ausbaus der Ganztagsschulen aus? Einen der aktuell zentralen und beispielhaften gesellschaftlichen Wandlungsprozesse stellt die fortschreitende Digitalisierung dar. Die „digitale Transformation“ unserer Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf jugendliche Lebenswelten, Bildungssysteme und pädagogische Handlungsfelder werden innerhalb der Medienpädagogik intensiv reflektiert. Es stellt sich hier jedoch die Frage, inwieweit die wahrnehmungspsychologischen Ver-
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änderungen, die mit der fortschreitenden Digitalisierung einhergehen, künftig die Vermittlungskonzepte der künstlerischen Einzeldisziplinen noch stärker beeinflussen werden, als wir das aktuell erahnen können. Und wie sieht es mit weiteren Veränderungsprozessen wie dem ökonomischem Wachstum und der fortschreitenden sozialen Spaltung aus? Sind dies auch Themen der Kulturellen Bildung? Können solche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse auch Einfluss auf die Konzeption der Kulturellen Bildung haben? Die Schriftenreihe „Perspektivwechsel Kulturelle Bildung – Fortbildung, Fachdiskurs, Forschung“ greift aktuelle Fragestellungen auf, um notwendige Aktualisierungen der kulturpädagogischen Praxis zu prüfen. Die in diesem Band gestellte Frage nach dem Einfluss wandelnder Werte auf Kulturelle Bildung ist eine weitreichende und sehr grundsätzliche Frage. Das vorliegende Buch debattiert zwischen „Instrumentalisierung“ und „Modernisierung“ einige Facetten des gesellschaftlichen Wandels und wird sich nicht auf eindeutige Antworten festlegen. Vielmehr will es eine Debatte darüber anregen, ob und inwiefern sich Kulturelle Bildung im Zuge aktueller gesellschaftlicher Transformationen und eines gesellschaftlichen Wertewandels verändert bzw. verändern sollte. Sind altbewährte Ansätze der Kulturellen Bildung mit Blick auf aktuelle Themen wie Flucht und Migration, demografischer Wandel, soziale Spaltung und Ökonomisierung noch passfähig? Welche neuen Ansätze haben diese Veränderungen hervorgebracht? Inwiefern spiegeln sie sich in Modellvorhaben, Fortbildungskonzepten und Forschungsansätzen wider? Und führen uns Werteveränderungen in der Gesellschaft zu einer veränderten oder gar neuen kulturellen Bildungspraxis? Das erste Kapitel dieses Buchs liefert Fachdiskursbeiträge zum Thema „Wertewandel“. In ihrem einleitenden Beitrag fasst Susanne Keuchel zunächst ganz allgemeine Erkenntnisse zum Stand der Werteforschung zusammen und betrachtet das Wechselspiel von „Zeitgeist“, Werten und normativer Pädagogik. Dieses sowie die damit verbundene gesellschaftliche Transformation seit den 1970er Jahren setzt sie in Beziehung zu der Entstehungsgeschichte der Kulturellen Bildung und ihrer Weiterentwicklung bis heute. Auf dieser Grundlage reflektiert sie die grundsätzliche Frage, ob sich das Feld der Kulturellen Bildung vor diesen Hintergründen neu positionieren und aufstellen muss? Als Fazit dieser umfänglichen Analyse gibt sie elf konkrete Empfehlungen zur Weiterentwicklung einer Kulturellen Bildung 3.0.
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Mit seinem Beitrag „Kulturelle Bildung und die Krise der freiheitlichen Demokratien“ („Creativity Culture and Education“) bereichert Paul Collard diesen Band um eine gesamteuropäische Perspektive auf aktuell brisante gesellschaftliche Themen und politische Entwicklungen. Unter dem Eindruck des sich aktuell ausbreitenden Rechtspopulismus in Europa reflektiert er den Zusammenhang von gemeinsamen Werten, demokratischen Institutionen und kulturellen Erfahrungen. Dabei hinterfragt er kritisch, ob und inwiefern Kulturelle Bildung überhaupt einen Beitrag zur Lösung solch grundsätzlicher Probleme zu leisten vermag. Christian Helbig und Angela Tillmann tragen diesem Kapitel ihre medienpädagogische Expertise bei. Mit Blick auf die fortschreitende gesamtgesellschaftliche Digitalisierung zeigen sie auf, wie sich im Zuge der Datafizierung (Stichwort Big Data) die Kultur des Aufwachsens, die Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung und die damit verbundenen Werte wandeln. In der Kulturellen Bildung mit ihren kreativen Methoden wird hier viel Potenzial gesehen, „den Abstraktionsgrad, die Intransparenz und die Komplexität der Datenverarbeitung und ihre soziokulturelle Wirkkraft zu übersetzen und erfahrbar zu machen“. Franz Kasper Krönig setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit ökonomisierungskritischen Diskursen innerhalb der Kulturellen Bildung auseinander. Aus systemtheoretischer Perspektive zeigt er auf, auf welche Weise sich Kulturelle Bildung durchaus selbst ökonomisiert. Einen besonderen Fokus legt er dabei auf den Bereich der Qualitätssicherung, in dessen Rahmen förderpolitisch anschlussfähige Ökonomisierungssemantiken reproduziert werden. In diesem Sinne warnt Krönig vor einer zu kurz gegriffenen Neoliberalismuskritik als wirksames Mittel gegen eine fortschreitende Ökonomisierung der Kulturellen Bildung. Unter Bezugnahme auf Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie beschreibt Max Fuchs, inwiefern das Konzept der „Lebenskunst“ Anregungen dazu liefert, innerhalb der kulturellen Bildungsarbeit zur Entwicklung eines „starken Subjekts“ beizutragen. Fuchs benennt als Fazit seines Beitrags klare Herausforderungen und Widersprüche, die sich innerhalb der Kulturellen Bildung vor dem Hintergrund eines durch fortschreitende Neoliberalisierung von Künsten und Wissenschaft hervorgerufenen Wertesystems ergeben. Im zweiten Kapitel widmen sich die Autoren und Autorinnen dem Thema „Wertewandel“ im Kontext von „Forschung und Modellvorhaben“.
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Eröffnet wird dieser Buchteil durch ein Gespräch von Karin Schad mit Nina Möllers über die Ausstellung „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“. Die Ausstellung im Deutschen Museum München (2014 bis 2016) betrachtete zukunftsrelevante Themen, wie zum Beispiel den Klimawandel, aus der Perspektive des „Menschen als geologischen Akteur“. Unter diesem Blickwinkel zeigt das Gespräch auch mögliche Aspekte von sich wandelnden Werten in der kulturellen Bildungsarbeit von Museen auf. Unter dem Motto „Von der Zielgruppe zum Gruppenziel?“ fokussiert der Beitrag von Viola Kelb die Frage nach sich wandelnden Perspektiven in der Kulturellen Bildung auf den Bereich der Zielgruppen. Am Beispiel zielgruppenbezogener Förderprogramme wird die gezielte Definition und Adressierung von sogenannten benachteiligten Kindern und Jugendlichen reflektiert und anhand des intersektionalen Ansatzes eine in der Kulturellen Bildung bisher wenig beachtete Blickrichtung auf die vielfach diskutierte Teilhabefrage aufgezeigt. Sandra Czerwonka plädiert in ihrem Beitrag für mehr Internationalisierung der Kulturellen Bildung in Deutschland und beschreibt Fortschritte und Barrieren dieses Prozesses. Letztere sieht sie unter anderem in der Tatsache, dass es sich bei Kultureller Bildung nicht nur um ein akademisches, sondern auch ein „interessengeleitetes und ideell vorgeprägtes Politikfeld“ handelt. Fabian Chyle und Henning van den Brink beleuchten Potenziale künstlerisch-partizipativer Forschungsansätze am Beispiel Kultureller Bildung im Strafvollzug. In diesem Zusammenhang sprechen sie sich für partizipative Forschungsansätze aus. Deren Notwendigkeit zeigen sie an der Vielschichtigkeit von körper- und bewegungsbasierten Angeboten der Kulturellen Bildung auf und nehmen dabei mit Teilnehmenden aus dem Strafvollzug eine bisher allenfalls am Rande bedachte Zielgruppe der Kulturellen Bildung in den Blick. Im dritten Kapitel „Wertewandel in Methodik und Fortbildung“ beschreibt Horst Pohlmann Ansätze zur Wertevermittlung im Kontext handlungsorientierter Medienpädagogik. Anhand von Beispielen aus dem Bereich der Computerspiele beleuchtet er, wie Wertevermittlung über digitale Medien vonstattengeht und wie eine handlungsorientierte Medienpädagogik mit ihren partizipativen Ansätzen diese thematisieren kann. Abschließend stellt er die Frage, ob kulturelle Medienpädagogik nicht als Augmented-
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Reality-Ansatz betrachtet werden kann, der die Realitäten durch Überlappung miteinander verbindet. Günter Klarner nimmt mit dem Thema „Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung“ die Belange der nächsten Generationen in den Blick. Er beschreibt die Anschlussfähigkeit der Dimensionen Kultureller Bildung für eine nachhaltige Entwicklung und gibt konkrete methodische Umsetzungsvorschläge dazu, wie das Thema „Nachhaltigkeit“ in der kulturellen Bildungspraxis aufgegriffen werden kann. Wie direkt oder indirekt soll Kulturelle Bildung politisch bilden? Mit dieser Frage setzt sich der Beitrag von Dolores Smith ebenso auseinander wie mit der Frage, ob der gesellschaftliche Wandel neue Aufgaben für die Kulturelle Bildung mit sich bringt und somit neue Fortbildungsformate erfordert. Auch widmet sie sich der Frage, ob die Tatsache, dass ein steigender Anteil der bundesrepublikanischen Bevölkerung keine sogenannten „Bildungsinländer“ sind, die Fokussierung auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen überholt erscheinen lässt. Die Bedeutung des Spiels für eine erfolgreiche Werteentwicklung des Menschen zeigen Gerhard Knecht und Marietheres Waschk in ihrem Beitrag aus dem Bereich der Spielpädagogik auf. Anhand exemplarischer Spiele und Settings beschreiben sie die Notwendigkeit, Spiel als elementaren Bestandteil der menschlichen Entwicklung auch in institutionellem Rahmen konsequent zu ermöglichen und zu fördern. Spiel beschreiben sie als einen Rahmen, in dem Werte ausgehandelt, erprobt und reflektiert werden können.
Kapitel I Thema Wertewandel im Fachdiskurs
Wertewandel und Kulturelle Bildung Zur Notwendigkeit einer Kulturellen Bildung 3.0 in Zeiten gesellschaftlicher Transformation S USANNE K EUCHEL
Welchen Stellenwert nehmen Werte in unserer Gesellschaft ein? Können hier Veränderungen beobachtet werden? Und wenn ja, welchen Einfluss haben solche „Wertewandel“ auf die Pädagogik, und hier speziell auf die Kulturelle Bildung? Nach einer ersten Eingrenzung des Begriffs Wert und Erkenntnissen zum Stand der Werteforschung wird in einer kurzen Betrachtung das Wechselspiel von Zeitgeist, Werten und normativer Pädagogik betrachtet. In einem zweiten Schritt werden speziell die Erkenntnisse der Werteforschung und die damit verbundene gesellschaftliche Transformation seit den 1970er Jahren in Beziehung gesetzt zu der Entstehungsgeschichte der Kulturellen Bildung und ihrer Weiterentwicklung bis heute. Damit wird die Frage verbunden: Muss sich Kulturelle Bildung heute aufgrund eines Wertewandels und der Veränderung der Gesellschaft neu positionieren und aufstellen? Oder kann Kulturelle Bildung, wie sie sich in den 1970er Jahren etabliert hat, in ihrer Kontinuität fortgeführt werden? Im Zuge der medialen Veränderungen, insbesondere bezogen auf neue digitale Räume, wurde punktuell in den letzten Jahren von einer „Kulturellen Bildung 2.0“ (vgl. Zacharias 2011) gesprochen. Diese bezieht sich auf notwendige Veränderungen in der Kulturellen Bildung, die „expansive medial-digitale Durchdringung des Alltags und der informationellen Kommunikationen“ adäquat in der Vermittlung miteinzubeziehen (vgl. Schuster 2013), zum Beispiel die neue Rolle des „Prosuments“ in den Medien (Kilian/
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Hass/Walsh 2008: 16). Die folgende Betrachtung setzt tiefer an und möchte einen Diskurs anregen, ob ein gesellschaftlicher Wertewandel immer auch die Notwendigkeit mit sich bringt, normative pädagogische Fragestellungen und Grundprinzipien kritisch zu reflektieren. Es geht letztlich darum, wie beim Web 3.0, „die Inhalte und ihre Bedeutung in Beziehung zueinander zu stellen“ (Goderbauer-Marchner/Büsching 2015: 12). Auch die begonnene Entwicklung zum Web 3.0 und der „grenzenlosen Freiheit im Internet“ wirft aktuell neue Wertefragen zu „Ethik und Moral“ (ebd.) auf. An dieser Stelle soll jedoch die umgekehrte Frage beleuchtet werden: Bringt eine Werteveränderung in der Gesellschaft die Notwendigkeit einer veränderten kulturellen Bildungspraxis 3.0 mit sich?
ZU
DER
D EFINITION
DES
B EGRIFFS W ERTE
Der Begriff Wert wird „in allen Humanwissenschaften verwendet und uneinheitlich definiert“ (Klages 1989: 807). Nach einer sozialpsychologischen Definition kann der Begriff Wert auf drei Bedeutungsbereiche festgelegt werden: „Wert als Gut, Wert als Maßstab und Wert als Ziel“ (Waschulewski 2002: 9). Bei dem Bedeutungsbereich des Gutes wird der Wert „im Objekt selbst gesehen“ oder „unmittelbar an ihm haftend“ (Scholl-Schaaf 1975: 49). Damit wird der Wert zu einem Objekt. Beim Wert als Maßstab werden die Werte an das Subjekt geknüpft. Diese dienen als subjektiver Maßstab für Wertungen und werden damit zu Werthaltungen. Bei der Bedeutungskomponente des Ziels wird die Dimension der „Gerichtetheit des Subjekts auf ein materielles oder immaterielles Objekt“ (ebd.: 55) beschrieben. Damit werden Werte zu Handlungszielen. Kulturelle Werte sind demgemäß „in einer Gesellschaft dominante Präferenzmodelle“ (ebd.: 61). Dem gegenüber stehen können subkulturelle oder gegenkulturelle Werte einzelner Gruppen und Individuen. Wie vorausgehend schon definiert, kann sich ein Wert auf ein materielles oder immaterielles Objekt beziehen. Die Philosophie, hier vor allem der Teilbereich Ethik, beschäftigt sich dementsprechend mit ideellen Werten und „kann […] in einer ersten Ausprägung als Wissenschaft vom moralischen Handeln“ (Tokarski 2009: 47) definiert werden. Es geht also um die „Bewertung menschlicher Handlungen […], bei der das ‚gute‘ Handeln bzw. das ‚Gute‘ des Lebens im Betrachtungsfokus liegt“ (ebd.). In der Wer-
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tephilosophie bzw. Werteethik ergeben sich die Normen gesellschaftlichen Handelns durch Werte (Horster 2007: 202). Und auch hier haben die Wertvorstellungen der Gesellschaft einen wichtigen Einfluss. Allgemein kann die Festlegung von Werten in den verschiedenen Disziplinen im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft verortet werden. So definiert Clyde Kluckhohn 1951 den Begriff Wert als „eine Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit sowie für ein Individuum oder für eine Gruppe gekennzeichnet ist und welche die Auswahl der zugänglichen Weisen, Mittel oder Ziele des Handelns beeinflusst“ (Kluckhohn zitiert in Klages 1989: 807). Die „Menge der Werte einer Person, einer Gruppe oder einer Gesellschaft, sofern die einzelnen Werte in einem strukturierten Zusammenhang stehen“ (Fuchs-Heinritz 2011: 861), wird in der Soziologie auch als Wertesystem bezeichnet. Heinz Abels (2009: 15) vertritt in diesem Sinne die Meinung, dass „man unter Werten die bewusste oder unbewusste Vorstellung der Mitglieder einer Gesellschaft verstehen (kann), was man erstreben und wie man handeln soll.“ Damit ist auch die Gemeinschaft bei der Konstitution von Werten von Bedeutung. So sind Werte auch Ausdruck der „Kultur […] wie auch des durch kulturelle Sinn- und Bedeutungsgehalte mitbestimmen Sozialsystems“ (Klages 1989: 807). So wird in der Soziologie davon ausgegangen, dass sich „offene“ von „geschlossenen“ Gesellschaften im Wesentlichen durch einen ausgeprägten „Wert-Liberalismus“ (ebd.: 808) unterscheiden. Wird dabei eine Wertordnung einer Gesellschaft mit einem alleinigen Anspruch auf Wahrheit versehen, spricht man auch von einer Ideologie. Diese kann der „Durchsetzung von Machtinteressen in der Gesellschaft“ (FuchsHeinritz 2011: 328) dienen.
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Forschungen zu gesellschaftlichen Werten bzw. zum Wertewandel sind eng verknüpft mit der empirischen Forschung. Die empirische Werteforschung hat ihren Ursprung in den 1950er Jahren, basierend auf Theorieansätzen von Talcott Parsons, der mit empirischen Studien „Basic Values“ (Parsons/ Shils 1951: 161) ermitteln wollte, unter der Annahme, dass Werte „stabile und wandlungsresistente oder allenfalls ganz langfristig veränderliche Be-
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stimmungsgrößen sozialer Einstellungen, Erwartungen und Handlungsdispositionen“ (Klages 1989: 809) seien. „Zu Beginn der 70er Jahre entfaltete sich […] eine zweite Phase der empirischen Werteforschung, die von einem gänzlich anderen und eigentlich entgegengesetzten Paradigma beherrscht war und ist, von dem des Wert- oder Wertewandels.“ (Ebd.: 809) Dabei entwickelten sich unterschiedliche Theorien zur Ursache des Wertewandels. Neuere Studien zur Werteforschung verabschieden sich vielfach von der eindimensionalen Veränderung einer Gesellschaft hin zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen mit „unabhängig voneinander variierenden Wertdimensionen“ (ebd.: 810). Eine Zukunftsaufgabe der Werteforschung ist dabei, beide Perspektiven – die „Erforschung individueller Wertorientierungen und [die] im Sozialsystem institutionalisierten Werte […]“ (ebd.) – wieder stärker in den Blick zu nehmen. Es gibt aber auch grundsätzliche Kritik an der Werteforschung. Diese bündelt sich vor allem in zwei Aspekten: zum einen in der Methodik (vgl. Graf/Priemel 2011: 486ff.) – hier vor allem in der Messung von Werten in weitgehend standardisierten Antwortvorgaben, die in der Art der Frageformulierung schon das Antwortverhalten beeinflussen können und dabei auch nur die Werte thematisieren, die der Forscher oder die Forscherin selbst für gesellschaftlich relevant hält und somit bereits eine Vorselektion stattfindet. Zum anderen finden sich in der Wissenschaft tendenziell auch Zweifel an dem Befund eines „Wertewandels“, da sich die Forschung zum Wertewandel auf eine sehr „zeitgebundene Deutung der Sozialwissenschaften aus den 1960er- und 1970er-Jahren“ (Heinemann 2012) bezieht. Entsprechend wird der Wunsch formuliert, das Phänomen Wertewandel auch stärker mit qualitativen Methoden und über einen längeren historischen Zeitraum zu untersuchen, um so „den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Veränderungen und dem Wandel der rechtlichen Rahmenbedingungen menschlichen Zusammenlebens wie auch Mentalitäten neu bestimmen“ zu können, „– insbesondere vor dem Hintergrund von Modernisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen“ (ebd.).
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Z UM W ECHSELSPIEL VON Z EITGEIST , W ERTEN EINER NORMATIVEN P ÄDAGOGIK
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Welchen Einfluss haben der Zeitgeist, wandelnde Gesellschaftssysteme und die damit verbundenen Werte auf pädagogische Haltungen und Bildungssysteme? Zum Einfluss sozioökonomischer Faktoren Sozioökonomische Veränderungen und Veränderungen rechtlicher Rahmenbedingungen haben innerhalb von Gesellschaftssystemen immer einen Einfluss auf das Bildungssystem einer Gesellschaft. So ist es beispielsweise ein elementarer Unterschied, ob eine Gesellschaft nur Privilegierten einen Zugang zur Bildung ermöglicht oder, im Sinne von Chancengleichheit, allen einen gleichberechtigten Zugang schaffen möchte. Solche Zielsetzungen sind immer eng mit Wertevorstellungen verknüpft. Dabei stellen sich natürlich in der Folge auch ökonomische Fragen des Machbaren, die auch innerhalb der Erziehungswissenschaft kritisch diskutiert werden. Auf das oft auch ambivalente Wechselverhältnis von Ökonomie und Bildung verweisen beispielsweise der Erziehungswissenschaftler Martin Heinrich und die Bildungsökonomin Barbara Kohlstock (2016: 4) und sehen zugleich mit dem Menschenrecht auf Bildung, „das Interdependenzverhältnis von Ökonomie und Bildung systematisch als unlösbar aufeinander verwiesen“ an. Zum Einfluss kulturgeschichtlicher Phänomene Es sind aber nicht nur die sozioökonomischen Faktoren innerhalb einer Gesellschaft, die Bildung beeinflussen. Innerhalb der Historischen Erziehungswissenschaft wird die Entwicklung des Bildungswesens, neben den ökonomischen auch unter politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen betrachtet: „Pädagogisches Denken und Handeln sind […] kulturelle Phänomene und damit geschichtliche. Die Probleme der Pädagogik, ihre Ziele und Methoden ändern sich im Verlaufe der Geschichte […], das heißt präzise […], dass Pädagogik als Praxis und als Theorie gebunden ist an die realgeschichtliche Entwicklung: an die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse, an die ökonomischen Bedingungen, an die herrschen-
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den Ideologien, an die jeweilige soziale Schichtung usw. […] Die pädagogischen Ideen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum, nicht aus sich selbst heraus, sondern sind in dem Sinne geschichtliche Ideen, da sie bewusst oder unbewusst Partei ergreifen innerhalb der politischen und sozialen Auseinandersetzungen ihrer Zeit.“ (Giesecke 2004: 39)
Auch der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki (1970: 30) betont, dass Erziehungsziele immer „Antworten bestimmter Menschen oder Menschengruppen auf bestimmte geschichtliche Situationen unter dem Gesichtspunkt seien, wie sich die nachwachsende Generation gegenwärtig oder zukünftig verhalten soll.“ Dieses wird in negativer Weise besonders deutlich bei totalitären Staaten mit herrschenden Ideologien, wie beispielsweise dem Nationalsozialismus, dessen Bildungswesen nach Peter Dudek ohne eine historische Bildungsforschung, die eine Analyse des damals bestehenden Gesellschaftssystems miteinbezieht, nicht nachvollziehbar sei: „Erst mit dem Aufgreifen sozial- und strukturgeschichtlicher Ansätze in der Bildungsforschung und in Verbindung mit allgemeinen sozialgeschichtlichen Leitkonzepten (sozialer Wandel, Modernisierung) gelang die Verknüpfung von Bildungsmit Gesellschaftsgeschichte und damit der Blick auf die strukturellen Funktionen von Bildung und Erziehung im Nationalsozialismus.“ (Dudek 1995: 20)
Dabei gilt es auch zu beachten, dass neben den realgeschichtlichen Bedingungen durchaus die Historie selbst ein Einflussfaktor im Sinne der Tradition ist, der Einfluss haben kann auf unterschiedliche Entwicklungen im Bildungswesen verschiedener Gesellschaften: „Alle Gesellschaften schaffen sich ihr eigenes Bildungssystem, das (überwiegend) im Konsens der Gesellschaftsmitglieder eingerichtet und aufrechterhalten wird. Dabei gibt es gewisse Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede über verschiedene Gesellschaften hinweg. Meist haben die jeweiligen Bildungssysteme eine lange Tradition, die den Wertebestand dieser Gesellschaften mit aufgebaut haben und wiederum selbst darauf beruhen.“ (von Below 2002: 10)
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Zur Kritik an eindimensionalen und dualistisch ausgerichteten historischen Bewertungen Die Abhängigkeit des pädagogischen Handelns vom Zeitgeist, den jeweiligen gesellschaftlichen Systemen, wird durchaus auch kontrovers diskutiert. Die Frage stellt sich zunächst nach der Ein- oder Mehrdimensionalität des pädagogischen Handelns innerhalb einer Zeit. So sieht Hermann Giesecke beispielsweise einen geschichtlichen Zusammenhang, lässt aber gemäß dem „bewussten oder unbewussten Parteiergreifen“ offen, in welche Richtungen das „Parteiergreifen“ geht (vgl. Giesecke 2004: 39). Einzelne Forscherinnen und Forscher sehen zudem Schlussfolgerungen der historischen Bildungsforschung grundsätzlich als bedenklich an, da Bewertungen der Historie immer aus der Perspektive des aktuell Bestehenden vorgenommen werden und die Historikerin oder der Historiker das „Heute“ als Ausgangspunkt nimmt, um Historisches in den Kontext zu setzen. Die Gefahr liegt hierbei in dem Versuch, das Heute logisch abzuleiten als veränderte Entwicklung der Vergangenheit und so unbewusst künstliche Differenzen in der Darstellung zu schaffen, wie dies Johannes Bellmann und Yvonne Ehrenspeck (2006: 255) kritisieren: „Die gesamte Geschichte zerfällt dann in Vormoderne und Moderne. Das Ordnungsschema ist nicht das eines anhaltenden Paradigmenwechsels, also nicht ein im engeren Sinne ‚geschichtliches‘, sondern das eines paradigmatischen Paradigmenwechsels, der wie Kants Revolution der Denkungsart nur einmal stattfinden kann. Die sattelzeitlichen Differenzerfahrungen bekommen dadurch freilich den Charakter einer unüberholbaren Maßstäblichkeit. Die Vormoderne muss entsprechend zu einer einheitlichen Folie stilisiert werden, vor deren Hintergrund wir uns des Charakters unserer modernen Denk- und Wahrnehmungsmuster vergewissern können. Diese werden damit zwar aus einer historischen Differenzerfahrung zugänglich gemacht, selbst aber von einer über sie hinausführenden Historisierung ausgenommen.“
Dabei wird grundsätzlich kritisiert, ob der Ansatz, historische Entwicklungen in duale Ordnungsmuster zu setzen, insbesondere in heutigen Zeiten nicht längst überholt sei, „ob wir uns nicht in einer historisch neuen Konstellation befinden, der unter ‚globalisierten‘ Bedingungen das ‚ganz Andere‘ zunehmend abhandengekommen ist, was zur Folge hätte, dass dualisierende Kritikmuster möglicherweise zugunsten neuer Formen von Kritik
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überwunden werden müssen“ (ebd.: 256). Damit soll der Ansatz einer historischen Bildungsforschung nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Bellmann und Ehrenspeck geben jedoch zu bedenken, dass es schon hilfreich wäre, diese Problematik konsequent in die eigenen historischen Betrachtungen einzubeziehen: „Was wäre aber so falsch daran zuzugeben, dass wir uns immer auch für eine bestimmte Geschichte der ‚historischen Fakten‘ und eine bestimmte Systematisierung ‚pädagogischer Prinzipien‘ entscheiden müssen?“ (Ebd.: 257) Zur Rolle von wechselnden oder universalen Werten in der Pädagogik Unabhängig von der Einschätzung der Rolle des aktuellen Zeitgeschehens für die pädagogische Praxis wird ein Zusammenhang zwischen Werten und Bildung gesehen: „Werte und ihre Vermittlung bilden den fundamentalen Auftrag von Bildung und Erziehung, ja Erziehung ist eigentlich identisch mit Werteerziehung. Dem Wandel der Werte, der eigentlich ein Wandel der Einstellung zu Werten und ihrer Bedeutung für die Menschen im Wandel der Zeiten ist, entspricht ein Wandel der Erziehungsziele und -stile, der Bildungsziele und Bildungsinhalte.“ (Bueb 2008: 49)
Durchaus gestritten wird jedoch, ob dem pädagogischen Handeln wechselnde Werte oder universale unterliegen: Dabei wird schon die Setzung von universalen Werten im Sinne pädagogischer Prozesse zu einem selbstständig handelnden Subjekt als schwierig erachtet. So fordert Michael Winkler beispielsweise die grundsätzliche Thematisierung von universalistisch begründeten Werten innerhalb der pädagogischen Arbeit: „Das verlangt freilich auch, dass Werte, die prinzipiell als universalistisch begründet gelten, Thema und Gegenstand einer bewussten pädagogischen Arbeit werden. Sie verlieren ihren Grund in einer kollektiven Tradition, werden mithin auf eine schmerzhafte Weise beliebig, da sie kontingent und individualisiert erscheinen. Die Verfechter einer Werterziehung haben daher prinzipiell recht, wenn sie darauf insistieren, dass diese einer besonderen Aufmerksamkeit in pädagogischen Prozessen bedürfen.“ (Winkler 2006: 260)
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In diesem Sinne warnt Winkler auch generell vor einer Universalisierung von Pädagogik: „In dem Moment, in welchem Pädagogik universalisiert wird, wird sie als Ganze, werden wenigstens aber ihre Reflexionsformen delegitimiert. Sie werden gleichsam aus dem Bewusstsein genommen, weil Erziehung in einer technischen Form als Apparat der normalen Selbstbearbeitung des Menschen zur Anwendung kommt […].“ (Ebd.: 247)
Dabei gibt es auch klare Positionen, die die Existenz von universalen Werten in der Pädagogik gänzlich leugnen, mit der Begründung eben eines kontinuierlichen Wertewandels und der Abhängigkeit der Werte von Zeitgeist und gesellschaftlichen Systemen: „Die allgemein akzeptierten Werte werden im öffentlichen Diskurs ausgehandelt, dabei beeinflusst durch die soziale Praxis. Die wiederum durch das gültige Werteund Normensystem bestimmt wird. So verschiebt sich auch in pluralistisch demokratischen Gesellschaften das als Normalität Akzeptierte, das normative Gefüge von falsch und richtig, oft unmerklich und zugleich kollektiv handlungsleitend, aber ohne Garantie für die Richtung. […] Das heißt: Es gibt historisch-empirisch keine verlässlich vorgängigen, universellen, überzeitlich verbindlichen, unverrückbar gültigen Werte. Und dies wiederum führt zur dritten Schlussfolgerung: Die allgemein verbindlichen Werte müssen gesetzt werden – im Grunde eine postmodernkonstruktivistische Position […].“ (Rödder 2008: 18)
Dabei kann immer wieder das Bemühen beobachtet werden, eine universale Aufgabenstellung für die Pädagogik losgelöst von konkreten Werten zu formulieren, wie beispielsweise bei Rudolf Lassahn (1974: 100), der die normative Aufgabe der Pädagogik in der Befähigung sieht, das eigene „Handeln und Beurteilen an freigewählte Grundsätze zu binden“ und „moralische Begründungen für sein Tun angeben [zu] können“. HeinzElmar Tenorth spricht sich tendenziell ebenfalls gegen eine Universalisierung von Werten aus, hebt aber beispielsweise als grundsätzlich notwendig hervor, die Wahrnehmungsfähigkeit der Differenz zu stärken: „Der einzige Wert, den wir in der Erziehung universell setzen können und sollen, ist – nach aller historischen Erfahrung – nur der, den Sinn für Heterogenität und Diffe-
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renz zu schärfen, eine Politik der Anerkennung angesichts einer Vielfalt der Werte und Kulturen zu pflegen.“ (Tenorth 2008: 62)
Der Definitionsversuch von Tenorth verdeutlicht zugleich den Einfluss des Zeitgeists in der Betrachtungsebene: Denn Differenzfähigkeit setzt ein pluralistisches Gesellschaftssystem voraus. Auch ist die grundsätzlich positive Konnotation von kultureller Differenz möglicherweise ebenfalls ein Zeitgeistphänomen, das aus heutiger Erfahrung und aus dem aktuellen Diskurs heraus durchaus differenzierter betrachtet werden kann, beispielsweise bezogen auf die aktuelle Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Versuche, einzelne universale Werte in der Pädagogik aufzuzeigen, können letztlich immer kritisch hinterfragt werden. Möglicherweise empfiehlt es sich hier, analog zur vorausgehenden Forderung in der historischen Bildungsforschung, keine eindimensionale Betrachtungsweise von Werten in einer Gesellschaft zu setzen, sondern eine ähnlich differenzierte mehrdimensionale Betrachtungsweise für die Pädagogik einzufordern, wie dies beispielsweise der Erziehungswissenschaftler Bernhard Bueb (2008: 49) formuliert: „Aus dem Wandel der Einstellung zu Werten resultiert eine Veränderung moralischer Auffassungen. Die Werte selbst wandeln sich nicht, sie werden auch nicht angezweifelt, es wandelt sich aber ihre Rangordnung und die Bedeutsamkeit einzelner Werte für das Handeln der Menschen.“
Diese komplexere Vorstellung, statt Wertewandel handele es sich um Werteverschiebungen in Abhängigkeit von Traditionen, Zeitgeist und unterschiedlichen Gewichtungen einzelner Bevölkerungsgruppen, könnte das vorausgehend dargestellte Unbehagen und die Kritik an dem eindimensionalen Bild des Wertewandels innerhalb der Werteforschung aufheben und in diesem Sinne als attraktives, alternatives Theoriemodell für weiterführende Betrachtungen herangezogen werden.
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Z UR E NTWICKLUNG VON W ERTEN SEIT DEN 1970 ER J AHREN UND IHR E INFLUSS AUF G ESELLSCHAFT UND K ULTURELLE B ILDUNG Im ersten Kapitel zur soziologischen Werteforschung wurden schon unterschiedliche Positionen hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung von Werten deutlich. Wurde beispielsweise zu Beginn der Werteforschung in den 1950er Jahren eher von einer Stabilität der Werte in einer Gesellschaft ausgegangen, wird seit den 1970er Jahren eher die These eines Wertewandels vertreten. Die Kulturelle Bildung hat sich als neues Handlungsfeld in den 1970er Jahren etabliert. Im Folgenden werden daher die Beziehungen untersucht zwischen der Entwicklung von Werten in der Gesellschaft, ihrer Transformation und der Entwicklung der Kulturellen Bildung seit den 1970er Jahren. Ziel ist es, der Frage nachgehen zu können: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wertediskurs und pädagogischen Haltungen sowie Positionierungen in der Kulturellen Bildung, wie dies das vorausgehende Kapitel zum Einfluss von Werten und Zeitgeist auf allgemeine pädagogische Fragestellungen nahelegt? Zur Entwicklung von Werten und der „Kulturellen Bildung“ in den 1970er Jahren Die Existenz eines Phänomens des gesellschaftlichen Wertewandels manifestiert sich, wie vorausgehend erwähnt, in den „Sozialwissenschaften in den 1960er- und 1970er-Jahren“ (Heinemann 2012). Einer der maßgeblichen Vertreter, der in den 1970er Jahren das Phänomen eines Wertewandels in der Gesellschaft diagnostizierte, ist Ronald Inglehart. Dieser führte den Wertewandel auf eine Mangelhypothese zurück: „Den größten subjektiven Wert misst man den Dingen zu, die relativ knapp sind.“ (Inglehart 1989: 92) Auch in der Kulturpädagogik wird mit der Etablierung der Kulturellen Bildung ein Wandel eingeläutet, weg von der „alten“ hin zu einer „neuen“ Kulturpädagogik (Zacharias 2001b: 20).
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Zur Annahme einer materiellen und postmateriellen Phase Im Sinne der Mangelhypothese geht Inglehart von einer materiellen und einer postmateriellen Phase in der Gesellschaft aus. In seinen Thesen ordnet er diesen Wertewandel als ein generationsspezifisches Phänomen ein, da die Jugendphase nach Inglehart (1989: 92) besonders prägend sei für die grundsätzliche Werteorientierung eines Menschen. Bis zu den 1970er Jahren wirkten seiner Meinung nach die Bedingungen der Nachkriegszeit in der Gesellschaft nach. Der Mangel an Gütern führte bei der Nachkriegsgeneration zu einer materiellen Werteorientierung. Die Jugendgeneration in den 1970er hatte nach Inglehart dagegen erstmals keinen Mangel an Gütern oder beispielsweise Arbeitsplätzen wie die Nachkriegsgeneration. Daher entwickelte diese Generation eine postmaterielle Werteorientierung, indem sie sich bewusst von diesem materiellen Wertestreben löste und als Orientierung geistige und ästhetische Werte als oberstes Ziel setzte. Eine eindeutige Konkretisierung dieser „neuen Werte“ in den 1970er Jahren fehlt jedoch. So hebt der Zeithistoriker Konrad Hugo Jarausch (2007) hervor, dass „trotz intensiver Kommentierung […] die soziologische Makroperspektive keine eindeutige Bezeichnung der siebziger Jahre hervorgebracht [hat], da ihr ein Fluchtpunkt fehlt, der eine klare Gewichtung erlauben würde.“ Postmaterialistisch als Abkehr von „Bürgerlichem“ Der Wandel des „soziokulturellen Umbruchs“ in den 1960er und 1970er Jahren ist „von den unmittelbaren Zeitgenossen wie in der rückblickenden Reflexion oft in den Kategorien des ‚Bürgerlichen‘ perzipiert und bewertet worden – ob er nun als Befreiung von repressiver Bürgerlichkeit“ oder „als Verfall bürgerlicher Werte beklagt […] wurde“ (Schäfer 2013: 122). Damit stellt sich die Frage nach einer Konkretisierung der bürgerlichen Werte. In einer Beschreibung der bürgerlichen Werte der Soziologin Elisabeth NoelleNaumann werden unter anderem folgende Punkte hervorgehoben: „der hohe Wert von Arbeit und Leistung“, die „Überzeugung, dass sich Anstrengung lohnt“, die „Bejahung von Unterschieden und ihrer Lage“, „Sparsamkeit“, „Respekt vor Besitz“, „Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung“, „Anerkennung der geltenden Normen von Sitte und Anstand“ oder „Konservatismus, um das Erworbene zu behalten“ (Noelle-Neumann 1978: 15; Schäfer 2013: 122). Entsprechend könnten die neuen Werte der 1970er-
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Jugendbewegung in Umkehr der bürgerlichen Werte von Noelle-Neumann wie folgt skizziert werden: Freizeit, Spontaneität, Auflösung von Statusunterschieden, Loslösung bestehender Normen, Relativierung von Besitzständen, Selbstverwirklichung und Liberalismus. Auch Jarausch beschreibt die „Aufbruchsstimmung“ in den 1970er Jahren in einer ähnlichen Richtung. So sei der Wunsch nach einer „Befreiung von traditionellen Normen und rechtlichen Beschränkungen“ ausschlaggebend: „Der generationelle Wertewandel, die neuen sozialen Bewegungen, die Ausbreitung von Medien und Popkultur führten im Westen zu einer Individualisierung der Lebensentwürfe.“ (Jarausch 2007) Auch die Etablierung der Kulturellen Bildung, einer „neuen Kulturpädagogik“, in den 1970er Jahren kann in gewisser Weise als „Befreiung von repressiver Bürgerlichkeit“ (Schäfer 2013: 122) eingestuft werden. So betont der Kulturpädagoge Wolfgang Zacharias, dass „die ‚neue Kulturpädagogik‘ […] in den 70er Jahren, weitgehend unabhängig vom Entwurf einer geisteswissenschaftlich-hermeneutischen ‚alten Kulturpädagogik‘ der 20er und 30er Jahre, experimentell sowie mit zeitkritischem Innovationsinteresse entstanden“ (Zacharias 2001b: 20) ist. Hier tauchen schon Wertebezeichnungen auf, wie sie als neue Wertorientierungen der 1970er Jahre herausgearbeitet wurden, wie experimentell, zeitkritisch oder innovativ. In der Argumentation und Beschreibung der Kulturellen Bildung als „neue Kulturpädagogik“ wird vielfach auf den Gegensatz zur „alten Kulturpädagogik“ referiert, die Jörg Zirfas (2015: 21) auch als „geisteswissenschaftliche Kulturpädagogik“ bezeichnet. Mit der Ausrichtung dieser Pädagogik als „historisch-systematische Kulturwissenschaft“ sieht Zirfas diese Pädagogik in „einem Verständnis von Kultur als Hochkultur verhaftet.“ Nach Eckart Liebau und Zirfas (2004: 579) erzieht die „alte Kulturpädagogik“ zur Kultur, im Unterschied zur „neuen Kulturpädagogik“ der 1970er Jahre, die sich als Bildung in Kultur vollziehe, abhängig von deren aktueller Ausprägung in ihrer ganzen Vielfalt. Kultur der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist nach Zirfas „allgemein-humane, durchaus historisch und national differenzierte, aber vor allem klassisch-idealistische Kultur. Damit folge sie nach Zirfas „einem bürgerlichen Verständnis von (Kultureller) Bildung, das den Idealen des Wahren, Guten und Schönen verpflichtet“ (Zirfas 2015: 24f.) sei. Parallel zur Abkehr von bürgerlichen Werten in der Gesellschaft wird also auch die „neue Kulturpädagogik“ als Gegenbewegung – als Abkehr –
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zur „neuen Kulturpädagogik“ – verstanden. Ein konservativer Ansatz in der Kulturvermittlung wird zugunsten eines liberalen verworfen. Statt einem klassisch-idealistischen Kulturverständnis wird die „Aktualität des Ästhetischen“ (Zacharias 1997: 12) hervorgehoben. Statt sich historisch zu orientieren, werden die aktuellen Jugendkulturen in den Mittelpunkt einer ästhetischen Betrachtung gerückt. Die neue Fokussierung auf Jugendkulturen, -ästhetiken und jugendliche Lebenswelten, die zugleich einherging mit einer bewussten Ausrichtung auf außerschulische Handlungsfelder, führte zu einer engen Anbindung der Kulturellen Bildung an den Kinder- und Jugendhilfeplan als „integraler Bestandteil der Eigenständigen Jugendpolitik (EJP)“ (BKJ 2015). So bezeichnet Zacharias (2014: 116) die Jugendkulturen auch als „informelle Sozialisationsinstanz“ der organisierten Kulturpädagogik. Zugleich betont Dieter Baacke die Vorteile, die aus der Jugenddebatte durch eine enge Anbindung der Kulturellen Bildung an die Jugendarbeit entstehen können. Seiner Ansicht nach lassen sich durch „kulturbezogene Aspekte […] in der Jugenddebatte […] viele Entwicklungen beschreiben und verstehen, die auch gesamtgesellschaftlich wirksam sind“ (Baacke 1987: 6). Es zeigt sich also in der Kulturellen Bildung eine deutliche Nähe zu den Modernisierungstendenzen der 1970er-Jugendbewegung. Im Vordergrund steht das Neue, Aktuelle und nicht das Traditionelle, das kulturelle Erbe und damit letztlich die Aufhebung „werthafter, objektiver Kulturgüter“ (Müller, H.-R. 2012: 259). Dabei sieht Gerd Selle (2004: 13) beispielsweise nicht nur eine Nähe, sondern explizit „Ästhetische Erziehungs- und Bildungslehren“ als „Produkte der Modernisierungsgeschichte der Industriekultur, auch dort, wo sie gegen diese Kultur gerichtet erscheinen.“ Seiner Meinung nach gibt es „kein neutrales Interesse an ästhetischer Erziehung und Bildung an sich, es wäre denn eine Illusion des professionellen Bewusstseins“ (ebd.). Widersprüchliche Tendenzen: Individualismus zwischen Idealismus und Hedonismus Jarausch sieht bei dem Wandel zu „Werten individueller Selbstverwirklichung“ unterschiedliche Entwicklungen und Konsequenzen, so „postmateriellen Altruismus“, „neue soziale Bewegungen“, aber auch „disziplinlose Beliebigkeit“ und „hedonistische Selbstbefriedigung“. Nach Jarausch
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(2007) ist daher, wie vorausgehend schon angedeutet, die „allgemeine Gestalt der siebziger Jahre […] durch die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Tendenzen bestimmt, die sich wegen ihrer gegenläufigen Implikationen einer eindeutigen Charakterisierung entziehen.“ Hedonistische Ansätze finden sich in der Kulturellen Bildung im Sinne der Selbsterfahrung: So wird in der „neuen Kulturpädagogik“ die sinnliche Erfahrung des Selbstgestaltens in den Vordergrund gestellt und nicht ein analytisch-reflexives Verständnis, das mit wenigen Ausnahmen, wie der Randerscheinung der Kunsterziehungsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Academic o.J.), im Vermittlungsfokus der „alten Kulturpädagogik“ stand. Hedonistische und zugleich idealistische Ansätze finden sich auch in der Infragestellung von Schule als Vermittlungsfeld der Kulturpädagogik. Stattdessen werden Lebensweltorientierung und außerschulische Handlungsstrukturen eingefordert. Statt fachspezifischer Vermittlung durch Musikund Kunstunterricht in der Schule wird ein ganzheitlicher künstlerischer Vermittlungsansatz gefordert, der sich […] „in einer kunstspartenspezifischen Segmentierung […] und einer einzelnen zugerichteten Methodik (Schulunterricht)“ nicht „ernsthaft entfalten“ (Zacharias 1997: 12) könne. Entsprechend wurde der Begriff Kulturelle Bildung etabliert, als neuer „[…] Gegenstand der kulturpädagogischen Vermittlung“, der „die ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung in den Blick nimmt“ (Müller-Rolli 1988: 21) und „kulturelle Teilhabe“ der oder des Einzelnen fördert. Entsprechend nannte sich beispielsweise 1968 die „Bundesvereinigung Musische Bildung“ in „Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung“ (BKJ) um. Im Sinne eines breiten lebensweltorientierten Erfahrungsspektrums wurden neue Handlungsfelder etabliert, wie „Jugendkunstschulen, Theater- und Museumspädagogik, Spielräume, Medienwerkstätten, Kindermuseen, Zirkuskünste und vieles mehr“ (Zacharias 2014: 116). Allgemein gilt für die Kulturelle Bildung in ihrer Entstehungszeit wie für die Werteanalyse der 1970er-Jugendbewegung, dass hier vielfältige Anknüpfungspunkte und Perspektiven einfließen. Dies ist möglicherweise auch ein Grund, warum es schwierig ist, eine verbindliche Definition von Kultureller Bildung festzulegen. Es waren laut Zacharias vor allem verschiedene
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„gesellschaftlichskritische Impulse dessen, was man mit ‚68er‘ etikettiert, mit der positiven Hinwendung zur Moderne, zum Ästhetischen und zum Sozialen, Politischen, die zu Paten für eine neue ‚Kulturpädagogik‘ wurden. Von der Ablehnung kommerzieller kulturindustrieller Kulturprodukte (Adorno) als kulturkritisches Diktum über die ‚Wiedergewinnung des Ästhetischen‘ (Glaser, Kerbs) als kulturpolitische Programmatik zum rational-didaktischen schulischen Kunstunterricht (Otto) und der ‚visuellen Kommunikation‘ als Vermittlungsgegenstand (Ehmer, Hartwig) bis zur positiven Akzeptanz von Kinderkulturen und Jugendästhetiken (Baacke, Ziehe, Hengst) reichte die Diskurspalette der 70er.“ (Ebd. 2001a: 57)
Hervorzuheben ist in diesem Kontext auch die „Programmatik ‚Kultur für alle und Kultur von allen‘“ (ebd.). Entsprechend wurden im Sinne eines eigenen pädagogischen Wertekanons der Kulturellen Bildung auch politische Werte und Ziele formuliert wie die „demokratische Kulturarbeit“ (vgl. Fuchs 1990: 18) oder das Prinzip der Selbstbildung (vgl. Zacharias 2001b: 21). Brigitte Schorn (2009: 70) fasst die Grundprinzipien der Kulturellen Bildung aus heutiger Sicht wie folgt zusammen: „Ganzheitlichkeit, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, ästhetische Erfahrungen, Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit, Interessenorientierung, Partizipation, Vielfalt, selbstgesteuertes Lernen, die Zusammenarbeit mit professionellen Künstler/innen und die Herstellung von Öffentlichkeit.“
Die Vielfältigkeit der Ansätze, teils auch widersprüchliche Tendenzen in den inhaltlichen Ausrichtungen der Gesellschaft in den 1970er Jahren, spiegelt sich also in der Entstehungsphase der Kulturellen Bildung wider. Entsprechend verweist Zirfas darauf, dass die „neue Kulturpädagogik“ der 1970er, die er auch als „emanzipatorische Kulturpädagogik“ bezeichnet, sich „bis heute noch nicht systematisch konsolidiert“ hat. Das praktische Feld weise hier beispielsweise auch „eine Fülle von Überschneidungen mit anderen pädagogischen Teilbereichen, etwa der Kinder- und Jugendarbeit, der Erwachsenenbildung, der Kunstpädagogik, der Freizeit- und Erlebnispädagogik, der interkulturellen Pädagogik, der Sozialarbeit, der Gesundheitspädagogik etc. auf“ (Zirfas 2015: 31).
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Zur Entwicklung von Werten und der „Kulturellen Bildung“ seit den 1970er Jahren bis heute Die Parallelität vielfältiger Positionierungen in den 1970er Jahren, wie sie vorausgehend skizziert wurden, führen stetig zu einem Unbehagen in der Werteforschung bezogen auf dualistische Gegenüberstellungen, wie sie Inglehart im Zuge der Proklamation zum Wertewandel in den 1970er Jahren praktizierte. Neben der nachträglichen historischen Bewertung, die immer, wie auch bei der historischen Erziehungswissenschaft, eine Entscheidung aus heutiger Perspektive ist, wird in der Soziologie zunehmend die Ansicht vertreten, wie sie beispielsweise Andreas Rödder auf den Punkt bringt, dass „Wertewandel kein linearer Prozess war (und ist), sondern das Ergebnis von Machtkonflikten und neuen Wertgeneralisierungen. Daher sind neben Mechanismen der Aushandlung insbesondere identifizierbare Akteure, sind Bewegungen wie auch Gegenbewegungen in den Blick zu nehmen“ (Dietz/Naumaier/Rödder 2013: 37). Werden rückblickend die Akteurinnen und Akteure betrachtet, wird deutlich, dass der vorausgehende Wandel in den 1970er Jahren nur auf einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung in den eben skizzierten Dimensionen zutraf, hier insbesondere auf die Studentenbewegung. Dies gilt auch für die Akteurinnen und Akteure, die in den 1970er Jahren Kulturelle Bildung etablierten. Neben dem Bedürfnis in der nachträglichen historischen Bewertung zu dualisieren, um aktuelle Standpunkte in einen Kontext setzen zu können, könnte dieses Phänomen auch auf den öffentlichkeitswirksamen Rahmen, in dem die damalige Studentenbewegung agiert hatte, zurückgeführt werden. Eine zentralistische Wahrnehmung der Studentenbewegung könnte neben ihrer Öffentlichkeit auch durch ein Phänomen gefördert worden sein, auf das die Soziologin Noelle-Neumann (1978: 21f.) verweist. Sie geht davon aus, „dass Menschen sich in sozialen Gruppen nicht isolieren wollen und sich daher an den angenommenen Mehrheitsverhältnissen ihrer Umwelt orientieren, also eine als Minderheitsmeinung empfundene Meinung tendenziell nicht öffentlich äußern. Dieser Effekt verstärkt sich durch massenmedial vermittelte Meinungen, die durch entsprechende Kommunikation zu herrschenden Meinungen werden […].“
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Entsprechend gibt es in der Werteforschung Ansätze, die davon ausgehen, dass der Prozess, der in den 1970er Jahren angestoßen wurde, bis in die heutige Zeit nachwirkt und sich nach und nach gesamtgesellschaftlich entfaltet. Darunter finden sich auch Ansätze, die davon ausgehen, dass sich diese Nachwirkungen in verschiedene Richtungen bewegen, beispielsweise in unterschiedliche Entwicklungen im Spannungsfeld von Idealismus und Hedonismus. Damit verabschiedet sich die Werteforschung immer mehr von eindimensionalen hin zu mehrdimensionalen Wertemodellen im Zuge einer wachsenden pluralistischen Gesellschaft. Ähnliche Entwicklungen können auch in der Kulturellen Bildung beobachtet werden. In jüngster Zeit wird zudem die kontinuierliche Weiterentwicklung der Gesellschaft in Richtung der Modernisierung infrage gestellt. Wirkung der 1970er-Jugendbewegung auf heutige Gesellschaftstransformationen Die vorausgehend dargestellte Position innerhalb der Werteforschung, dass der in den 1970er Jahren diagnostizierte Wandel sich weit bis in die heutige Zeit vollzieht, „dass während der siebziger Jahre eine strukturelle Transformation einsetzte“ (Jarausch 2007), mit „langfristigen Auswirkungen des fundamentalen Strukturwandels bis in die Gegenwart“ (ebd.), zeigt deutliche Parallelen zur Weiterentwicklung der Kulturellen Bildung. Die Kulturelle Bildung, die als eine Bewegung in der außerschulischen Praxis begann, spielt heute in einer Vielzahl an Handlungsfeldern, auch der Schule, eine wichtige Rolle. Es wurden insbesondere in den letzten Jahren eine Reihe von bundesweiten und eine Vielzahl von landesweiten Förderprogrammen zur Kulturellen Bildung aufgelegt, die die aktuelle hohe gesellschaftspolitische Akzeptanz verdeutlichen. Auch in der Begrifflichkeit „von der musischen Bildung über Ästhetische Erziehung/Bildung, Kinder- und Jugendkulturarbeit, Kulturpädagogik, Kunst- und Kulturvermittlung“ ist „inzwischen allgemein konsensual“ (Zacharias 2014: 115), dass von der Kulturellen Bildung gesprochen wird. Ein weiteres Indiz für die heutige gesellschaftspolitische Akzeptanz der Kulturellen Bildung ist die Existenz von drei Referaten „Kulturelle Bildung“ in drei verschiedenen Ministerien auf Bundesebene.
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Mehrdimensionalität der Wirkungen und Weiterentwicklungen Das wachsende Unbehagen bezüglich der Analyse einer eindimensionalen Werteveränderung wurde vorausgehend schon an verschiedenen Stellen deutlich, insbesondere auch bezogen auf neue „globalisierte Bedingungen“ (vgl. Bellmann/Ehrenspeck 2006) und der Beobachtung einer „zunehmenden Stagnation des Wertewandels“ in den 1990er Jahren, der „Ingleharts Prognose so gar nicht entsprach“ (Müller, H.P. 2012). Es entwickelten sich alternativ Typologien von Werteorientierungen. Ein Beispiel sind die SinusMilieustudien, die seit Beginn der 1980er Jahre entwickelt wurden, (vgl. Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH 2017) und die Einteilung ihrer Typen anhand der Dimensionen „Soziale Lage“ und „Grundorientierung“ vornehmen. Bei der Grundorientierung werden keine konkreten Wertegruppen vorgegeben, sondern Werteentwicklungen, die auf Ingelharts Wertewandel referieren: eine traditionelle Haltung, eine Haltung zur „Modernisierung und Individualisierung“ und eine Haltung zur „Neuorientierung“. Dieses Modell adaptiert prinzipiell „den klassischen Bipol Materialistischer vs. Postmaterialisitischer Werte“ (vgl. Strack/Gennerich/Hopf 2008: 106) von Inglehart – wenn hier auch die Logik der Differenzierung von „Modernisierung“ und „Neuorientierung“ durchaus kritisch betrachtet werden könnte. Während die Sinus-Milieu-Studie neben einer Werteorientierung die Dimension „Soziale Lage“, die Bildung und Einkommen beinhaltet, abbildet, entwickelt Helmut Klages eine Typologie von Wertegruppierungen, die er ausschließlich anhand von Wertedimensionen wie „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ sowie „Selbstentfaltungswerte“ entwickelt (vgl. Klages 1985). Dabei machte er 2001 fünf Wertetypen aus: den Konventionalisten, die perspektivenlose Resignierte, den aktiven Realisten, die hedonistische Materialistin und den non-konformen Idealisten (Müller, H.P. 2012). Auch diese Wertetypologie fußt prinzipiell auf Ingleharts Wertewandel von einer materialistischen zu einer postmaterialistischen Phase, bezieht jedoch verschiedene Weiterentwicklungen und Perspektiven ein. So ist es mit diesem Modell durch die Einbindung einer weiteren Wertedimension erstmals möglich, beispielsweise idealistische Wertvorstellungen sowohl mit der Modernisierung als auch einer traditionellen Haltung zu verbinden. Die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Folgeentwicklungen spiegelt sich in der Weiterentwicklung der Kulturellen Bildung wider. In den
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1980er und 1990er Jahren etablieren sich immer neue Strukturen im Kulturbereich durch den Einfluss der mit den 1970er Jahren verbundenen Forderung nach mehr Lebensweltorientierung, einer „Kultur für alle“ (vgl. Hoffmann 1984), aber auch aufgrund einer wachsenden Popularkultur sowie aufgrund von Kommerzialisierungs- und Medialisierungsprozessen. So etablieren sich seit den 1970er Jahren Soziokulturelle Zentren, die stark mit den Grundprinzipien der Kulturellen Bildung korrespondieren. Zugleich findet eine Marktöffnung für private Kultur- und Medienanbieter statt, die das kulturelle Freizeitverhalten der Bevölkerung stark beeinflussen, da diese mit größeren Werbeetats und fehlendem Bildungsauftrag gezielter Bevölkerungsgruppen ansprechen können. Parallel kann beobachtet werden, dass sich die Jugendorientierung, wie sie sich in der Kulturellen Bildung entwickelte, zunehmend auch in den Medien und der Kommerzialisierung im Zuge der gesteigerten Modernisierungsausrichtung innerhalb der Gesellschaft vollzieht (vgl. Tully/Krug 2011). Dadurch werden Jugendkulturen stetig entpolitisiert und nicht mehr als Protest, sondern als innovative Ausdrucksformen „aufgewertet“, der sich verstärkt auch ältere Bevölkerungsgruppen bedienen, um ihre Offenheit gegenüber Neuem zu unterstreichen. Damit entsteht eine Parallelität in den Inhalten der kommerziellen Anbieter und der Kulturellen Bildung aufgrund des Grundprinzips der Orientierung an den Lebenswelten junger Leute. Trotz dieser neueren Entwicklungen wird innerhalb des Fachdiskurses der Kulturellen Bildung an der Polarisierung der Lebensweltorientierung versus klassischem Kulturkanon festgehalten, der sich auch widerspiegelt in der kritischen Positionierung der Soziokulturellen Zentren gegenüber den klassischen Kultureinrichtungen. Die zunehmende Kommerzialisierung und das wachsende Freizeitangebot gehen einher mit einer steigenden Pluralisierung verschiedener kultureller Angebote und Lebensstile und damit auch einer vermehrten Aufhebung eben genannter Polarisierung im Besucherverhalten. So finden sich verstärkt kulturinteressierte Bevölkerungsgruppen, die sowohl klassische, soziokulturelle als auch Angebote privater Kulturanbieter besuchen und nicht mehr eine ausschließliche Affinität bezogen auf eine spezifische Anbietergruppe zeigen. Analog zu den Typologien in der Werteforschung werden auch Typologien für das Kulturverhalten entwickelt, die unterschiedliche Interessenprofile herausarbeiten, hier orientiert an den Achsen: „historisch“ versus „zeitgemäß“ und „Avantgarde“ versus „Mainstream“ (vgl. Keuchel
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2003; 2015). Im Zuge der Migration in Deutschland etablieren sich immer weitere kulturelle Angebotsstrukturen von Migrantenselbstorganisationen, die sich an Kunst und Kultur aus den Herkunftsländern orientieren und sich vielfach auch im Feld der Kulturellen Bildung bewegen, die in Folge ebenfalls zu einer Pluralisierung von Gegenständen und Inhalten der Kulturellen Bildung beitragen. Auch die Handlungsfelder entwickeln sich zunehmend pluralistisch in der Kulturellen Bildung. In den 1970er Jahren ist die Kulturelle Bildung zu einem eigenen Handlungsfeld aus der außerschulischen Praxis heraus entstanden. Im Zuge der nächsten Jahrzehnte findet eine fortschreitende Übernahme der Praxis „Kulturelle Bildung“ innerhalb anderer Handlungsfelder statt. Die Hintergründe hierzu sind vielfältig. Ein Grund liegt in der Chancengleichheit. So konnte im Rahmen des „Jugend-KulturBarometers“ 2004 beobachtet werden, dass die außerschulischen als auch die schulischen kulturellen Bildungsangebote junge Menschen mit niedrigem Schulbildungshintergrund kaum erreichen (vgl. Keuchel/Wiesand 2006). Dies wurde zum Anlass genommen, Kulturelle Bildung in allen öffentlichen Kontexten zu verstärken und Akteurinnen und Akteure miteinander zu vernetzen, wie beispielsweise in den sich stetig etablierenden „Kommunalen Gesamtkonzepten zur Kulturellen Bildung“ (Keuchel 2014). In der Schule werden seit 2004 im Rahmen des Programms „Ganztägig lernen!“ immer mehr kulturelle Bildungsprojekte in Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern durchgeführt. Dies hat neben der thematisierten Chancengleichheit noch einen weiteren Grund: nämlich den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen. Diese erfordern neue Angebote und Partner. Entsprechend engagiert sich die Bildungspolitik verstärkt in der Kulturellen Bildung im Ganztag (vgl. Keuchel 2007). Für die außerschulischen kulturellen Bildungspartner gibt es neben dem idealistischen Wunsch einer Schulreform gemäß den Grundprinzipien Kultureller Bildung (vgl. Fuchs/Braun 2015) vor allem zwei pragmatische Gründe, warum die in den 1970er Jahren distanzierte Haltung gegenüber Schule deutlich sichtbar wieder aufgegeben wird: Die Schule bietet im Sinne der Chancengleichheit die Möglichkeit, alle Kinder und Jugendliche, auch aus Elternhäusern mit schulbildungsfernen Hintergründen, zu erreichen, was in non-formalen, freiwilligen Settings bisher schwierig war. Der andere Grund geht einher mit einem neuen Pragmatismus, wie er vordergründig auch gesellschaftlich in der Werteforschung widergespiegelt wird: Wenn sich Kinder und Ju-
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gendliche im Rahmen des Ganztags nunmehr auch nachmittags in der Schule aufhalten, gibt es keine Zeitfenster mehr an den Werktagen, kulturelle Bildungseinrichtungen aufzusuchen. Auch Kultureinrichtungen etablieren zunehmend Kulturelle Bildung innerhalb ihrer Häuser. Neben der Chancengleichheit liegt ein weiterer entscheidender Grund in der Angst, das Kulturpublikum von morgen zu verlieren. In Zeitreihenvergleichen (vgl. Keuchel 2006; Hamann 2005) konnte beobachtet werden, dass die Jüngeren, aber sichtlich öfter auch die Elterngeneration, weniger Interesse an klassischen Kulturangeboten zeigten. Innerhalb der Kultureinrichtungen werden allerdings tendenziell nur einzelne Grundprinzipien der Kulturellen Bildung, wie sie sich in den 1970er etabliert hatten, aufgegriffen, wie beispielsweise die aktiv selbstgestalterische Tätigkeit als Vermittlungsmedium. Primäres Ziel ist es hier jedoch, junge Menschen für die eigenen Angebote der Kultureinrichtungen zu begeistern. Neue kulturpolitische Programme und Initiativen wurden in diesem Sinne seit 2004 ins Leben gerufen, wie der Wettbewerb „Kinder zum Olymp“ der Kulturstiftung der Länder. 2010 zeigte eine Infrastrukturerhebung (Keuchel/ Weil 2010) in den klassischen Kultureinrichtungen, dass sich der Anteil an Bildungsformaten in den Einrichtungen seit 2004 nahezu vervierfacht hat. Förderer, wie beispielsweise die Beauftragte des Bundes für Kultur und Medien, bestehen in diesem Sinne verstärkt auf festgelegte Zielvereinbarungen mit Kultureinrichtungen zu Aktivitäten der Kulturellen Bildung, die im Rahmen der allgemeinen Förderung angestrebt bzw. durchgeführt werden sollen. Die Pluralisierung der Handlungsfelder in der Kulturellen Bildung rekurriert sich verstärkt auch auf die Einbeziehung der Medien, wie im ersten und einzigen Programm der Bund-Länder-Konferenz (BLK) „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“ („kubim“) (BLK 2006) oder wie der Ruf nach einer Kulturellen Bildung 2.0 innerhalb der kulturellen Bildungslandschaft, die das ästhetische Experimentieren mit Medien stärker einbeziehen soll (vgl. Palme/Zacharias 2010). Durch diese Pluralisierung entsteht eine wachsende Ausdifferenzierung und Spezialisierung innerhalb der Kulturellen Bildung, wie die Etablierung der Medienpädagogik oder eine gesteigerte Ausdifferenzierung an Studiengängen in der Kulturellen Bildung zeigen. In diesem Sinne weist Zacharias (2012: 847) auch auf „kulturpädagogische Spannungen und Schwierigkeiten, ihre Pluralität und Diffusität“ hin, die mit der Ausdifferenzierung einhergehen.
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Liberalisierung im Spannungsfeld von Chancengleichheit und Wettbewerbskriterien Dass die Modernisierung und Liberalisierung allgemein nicht nur als positive gesellschaftliche Entwicklungen bewertet werden können, sondern Herausforderungen für die oder den Einzelnen in der Gesellschaft birgt, findet seinen Ausdruck in dem Modell der „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck (vgl. Beck 1986). Beck betont als positiven Effekt der Modernisierung die Wahlfreiheit der oder des Einzelnen im Zuge der zunehmenden Individualisierung, verweist jedoch zugleich auf das damit verbundene Phänomen, dass sich die gesellschaftliche Verantwortung für die oder den Einzelnen auf das Individuum verschiebt. Denn hat der einzelne Mensch vollständige Wahlfreiheit in seinem Handeln, ist er und nicht die Gesellschaft für das Gelingen der eigenen Biografie verantwortlich: „Ein wesentlicher Ausdruck der Individualisierung ist der Modus der Selbstzurechnung, das heißt, dass man alle positiven und negativen Ergebnisse sich selbst zurechnet.“ (Ebd. 2007: 63) Damit lastet auf der oder dem Einzelnen permanent das Risiko des Scheiterns und es stellt sich zugleich die Frage, warum es für den einzelnen Menschen dann noch notwendig ist, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Im Sinne der Gesellschaftsanalyse von Beck gerät die Kulturelle Bildung mit ihrem Anspruch, die Selbstbildung des Subjekts zu fördern, in den Fokus der Bildungsförderung: Um seine Biografie eigenverantwortlich zu gestalten, bedarf es mehr als reinem Fachwissen. Daher finden sich verstärkt bildungspolitische Forderungen, nichtfachliche Fähigkeiten zu fördern. Hier hat die Kulturelle Bildung, die seit ihrer Gründungsphase im Gegensatz zu anderen Fachdisziplinen explizit „nichtfachliche“ Ziele, wie Stärkenorientierung, Fehlerfreundlichkeit, Interessenorientierung, Partizipation oder selbstgesteuertes Lernen, als Grundprinzipien in den Vordergrund stellt, einen deutlichen Wissensvorsprung vor anderen Disziplinen, die entsprechende Notwendigkeiten erst in jüngster Zeit erkennen, wie dies in einem Gutachten der Bayerischen Wirtschaft (VBW 2015: 28) zur Bildung, hier insbesondere zum Stellenwert der Fachlichkeit, deutlich wird: „Zweifelsohne umfassen Bildungsziele mehr als den Erwerb fachlicher Kompetenzen, nämlich Kompetenzen zur erfolgreichen Bewältigung komplexer (in sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Zusammenhängen entstehender) Anfor-
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derungssituationen, die selbstorganisiertes Handeln erfordern und in denen neben fachlichen und methodischen Kompetenzen auch motivationale, ethische, personale, volitionale, emotionale sowie soziale Dimensionen angesprochen sind.“
In dem allgemeinen Fachdiskurs um nichtfachliches Wissen etabliert sich in der allgemeinen Bildungspolitik der Begriff Kompetenzen, wie Sozialkompetenzen, Sprachkompetenzen etc. Dabei unterscheidet sich das Modell der Kompetenzen von dem der (Selbst-)Bildung. Denn Ersteres nimmt seinen Ausgangspunkt beim Subjekt, ist jedoch in der Ausrichtung auf das Ergebnis gerichtet, eine erfolgreiche Handlung durchzuführen. Damit steht die Handlung und nicht das Subjekt im Zielfokus: „Bezog sich der Bildungsbegriff auf das neuhumanistische Ideal einer für das Leben in einer Kulturwelt gebildeten Persönlichkeit, so bezieht sich der Kompetenzbegriff im betrachteten Zusammenhang auf eine nach ökonomischen Maßstäben im wirtschaftlichen Wandel handlungsfähige Persönlichkeit.“ (Vonken 2001: 514)
Es geht also bei der Förderung von Kompetenzen um notwendige gesellschaftliche Fertigkeiten und nichtindividuelle bzw. selbstbestimmte Interessenlagen. Trotz dieser unterschiedlichen Zielperspektiven in den Begrifflichkeiten Bildung und Kompetenzen führt die wachsende Wertschätzung von nichtfachlichem Wissen zu einer Vielzahl an politischen Förderprogrammen in der Kulturellen Bildung bis hin zu punktuellen Vorstößen, einzelne Schulen im Sinne der Grundprinzipien der Kulturellen Bildung zu reformieren (vgl. Fuchs/Braun 2015). Bei der Zunahme an kulturellen Bildungsprogrammen kann eine besondere Fokussierung auf junge sozial benachteiligte Menschen konstatiert werden. Denn neben der zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft wird verstärkt eine Entwicklung zur gesellschaftlichen Spaltung von Gewinnern und Verlierern im Zuge der Globalisierung beobachtet (vgl. Karsch 2008: 19f.), die sich monetär wie bildungsspezifisch auch national widerspiegelt. So trägt die gesellschaftliche Transformation in Milieus, in der sich verschiedene Pluralitäten und Lebensformen bündeln, letztlich auch zu „Fragmentierung und Spaltung der Gesellschaft“ bei. Der „Zeitgeschichtler“ Bernhard Löffler (2011: 158) vertritt etwa die Ansicht, dass bezogen auf unterschiedliche Milieus „eine gegenseitige Abschottung kaum zu vermeiden“ sei, „weil sie eine Reaktion auf soziale und kulturelle
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Unterschiede ist, die von den Betroffenen als zu groß empfunden werden.“ Dies gelte für sozial benachteiligte Gruppen, wie aber auch für die Mittelund Oberschicht, die sich ebenfalls vielfach nur innerhalb ihres Milieus bewegen. Kulturelle Bildung wird gemäß einem ganzheitlichen Bildungsansatz und dem Selbstbildungsprinzip als ein Mittel gesehen, diese Spaltung und Ghettoisierung aufzubrechen. Weltweit werden daher immer mehr kulturelle Bildungsprojekte in Krisenregionen und Slums initiiert, wie beispielsweise das Musikförderprogramm „Sistema“ in Venezuela. In Deutschland findet sich eine wachsende Zahl an kulturellen Bildungsprojekten in sozialen Brennpunkten. Gemäß der Chancengleichheit und dem jugendpolitischen Ansatz ist diese Entwicklung zu begrüßen. Im Sinne der beckschen Perspektive der „Risikogesellschaft“, könnte dies durchaus auch kritisch bewertet werden. Auf der strukturellen Ebene zeigen sich für die Kulturelle Bildung ebenfalls Herausforderungen im Zuge der zunehmenden Liberalisierung. Der Wunsch nach Chancengleichheit für alle steht, wie vorausgehend in Kapitel 2 thematisiert, eng in Zusammenhang mit ökonomischen Fragestellungen. So lassen sich in der Zusammenarbeit mit der Schule längst nicht alle Grundprinzipien der Kulturellen Bildung, wie sie in den 1970er Jahren entwickelt wurden, aufrechterhalten, insbesondere die Freiwilligkeit entfällt. Dies ist ein Grund für einen intensiven Qualitätsdiskurs in der Kulturellen Bildung seit dem Ganztagsausbau (vgl. BKJ 2010). Wie kann sich ein außerschulisches Handlungsfeld, das sich in seiner Entstehung auf Qualitäten einer außerschulischen Praxis definiert hat – und hier bewusst in einer Kontroverse zur Schulpraxis – in formale Kontexte integrieren? Mit der Auseinandersetzung der außerschulischen Akteurinnen und Akteure um die Beibehaltung der eigenen Qualitäten im Ganztag, zeigen sich deutliche ökonomische Zwänge: Außerschulische kulturelle Bildungspraxis im Ganztag in die Fläche zu bringen, geht – ohne eine deutliche Erhöhung der Bildungsausgaben – mit einer qualitativen Reduzierung der Angebote einher, sei es in der zeitlichen, inhaltlichen Dimension oder mit Blick auf die Gruppengröße (vgl. Keuchel 2013: 9f., 17). Eine weitere strukturelle Herausforderung bezieht sich auf die stetige Liberalisierung der Vergabe von Bildungsaufgaben im Sinne von Wettbewerbsprinzipien. Der vorausgehend beschriebene Ausbau von Kultureller Bildung in den letzten Jahrzehnten im Ganztag sowie in sozialen Brenn-
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punkten etc. wurde im Wesentlichen nicht über infrastrukturelle Förderung, sondern über Ausschreibungen und Programme gesteuert, sodass einzelne Grundprinzipien der Kulturellen Bildung ebenfalls schwerer in der Praxis aufrechterhalten werden können, etwa Prozessorientierung oder interessensgeleitete Selbstbildung. Solche Grundprinzipien fallen aktuell vielfach der Verbindlichkeit von Projektanträgen zum Opfer, in denen kulturelle Bildungsinhalte und Zeitdimensionen im Vorfeld konkret festgelegt werden müssen. Infragestellung der Modernisierung als Grundprinzip gesellschaftlicher Transformation Den bisher skizzierten Modellen der Werteforschung seit den 1970er Jahren ist gemeinsam, dass sie in erweiterten Konzepten immer von einer Dimension „Tradition“ versus „Modernisierung“ ausgehen und zwar in einer Skalierung von links nach rechts – also Modernisierung als konsequente Vorwärtsbewegung beschreiben. Der Soziologe Stefan Hradil nimmt mit seinem Ansatz erstmals eine andere Perspektive ein. Auch er geht, wie Inglehart (1989), von einer Mangelhypothese bei der Wertebildung aus. Er prognostiziert jedoch aufgrund dieser Annahme einen erneuten Wertewandel: „Offenkundig ist der Wertewandel tatsächlich im Begriff, sich seinerseits zu wandeln. Die Werte der Gemeinschaft, der Sicherheit und der ‚einfachen Ordnungen‘ sind auf dem Vormarsch.“ (Hradil 2006: 82) So geht er davon aus, dass die im Zuge der Individualisierung negativ erlebten Begleiterscheinungen, wie sie Ulrich Beck (1986) oder auch Oliver Nachtwey (vgl. 2016) hervorheben, einen Wertewandel herbeigeführt haben: „Die Konsequenzen, die viele Menschen aus diesen negativen Erfahrungen gezogen haben, liefen darauf hinaus, ‚neue alte‘ Werte obenan zu stellen: Sicherheit, Gemeinschaft und die Einfügung in einfache, hergebrachte Ordnungen wurden seit den 1990ern vielen Menschen immer wichtiger.“ (Hradil 2006: 84)
Diese Einschätzung Hradils unterstützen auch andere Studien, die die Tendenz unterstreichen, dass „die oft als egoistisch bezeichneten Selbstverwirklichkeitstendenzen der 60er und 70er Jahre […] bis zur Mitte der 90er Jahre hin zunehmend unpopulär“ wurden, dagegen „die öffentlich als verloren geglaubten sozialen und familiären Orientierungen […]“ (Duncker
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1998: 95) an Bedeutung gewinnen. Damit vertritt Hradil einen erneuten Wertewandel nach dem Wertewandel von 1970, der sich durch eine Rückwendung weg von liberalen Werten hin zu traditionellen Wertvorstellungen kennzeichnet, und fordert zugleich auf, „Abschied zu nehmen von Vorstellungen einer linearen Entwicklung hin zu immer mehr individuell ausgelebter Autonomie oder gar ‚Individualisierung‘ […]“ (Hradil 2002: 45). Damit bietet er zugleich ein alternatives Modell der Wertekonstruktion in einer Gesellschaft an, das eher ein Austarieren von Werten in die eine oder andere Richtung impliziert. Kontinuierliche Zeitreihen, die die Entwicklung von Wertvorstellungen untersuchen, wie die Shell-Studie (vgl. Shell Deutschland 2015), die im Sinne der These von Inglehart die Jugend in den Blick nimmt, bestätigen diese Tendenzen eines wechselseitigen Wandels in die eine und andere Richtung. Die Leistungsorientierung der Nachkriegsgeneration, die mit Werten wie Fleiß und Disziplin einhergeht, wendet sich, wie schon skizziert, laut Jugendstudien der 1970er Jahre. In den Jugendstudien wird dabei vor allem die „politische Attitüde“ (Gensicke 2009: 582ff.) dieser Jugendgeneration hervorgehoben. Diese Haltung entwickelt sich dann in eine hedonistische Phase und das politische Engagement verändert sich in der Folge zunehmend in eine „lebensweltliche Orientierung“ und Gestaltung sowie Verbesserung des unmittelbaren Lebensumfelds. Zudem lässt die sich immer weiter ausdifferenzierende Konsumgesellschaft die Jugendlichen genießerischer und wählerischer werden (vgl. ebd.). Ab Mitte der 1990er Jahre werden in einzelnen Jugendstudien erneut Trendveränderungen in den Werteorientierungen der Jugendlichen deutlich, die in Richtung der Thesen von Hradil und eines gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses interpretiert werden können sowie einer Sehnsucht nach gesellschaftlich verbindlichen Strukturen, so eine eigene Familie, Kinder, aber auch „viel Geld zu verdienen, Sicherheit zu erlangen, eine interessante Tätigkeit auszuüben und in einem guten Betriebsklima zu arbeiten“ (Hradil 2002: 39). In der ShellStudie 2002 wird hervorgehoben, „dass fast allen Jugendlichen Freundschaft und Partnerschaft wichtig sind […]. Etwas weniger Jugendliche, aber dennoch die allermeisten, schätzen die Wertorientierung ‚ein gutes Familienleben führen‘.“ (Gensicke 2003: 82) Mit diesen Beobachtungen geht die Einschätzung einher, dass „der jahrzehntelange Trend zu den ‚postmaterialistischen‘ Orientierungen […] von den jungen Leuten gebremst“ wurde und diese „sich wieder stärker den ‚materialistischen‘ Orientierungen […],
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die mit Fleiß und Konzentration, Ordnung und Sicherheit verbunden sind“ (Albert/Hurrelmann/Quenzel 2010: 47), zuwendeten. Parallel wird hervorgehoben, dass das „politische Interesse aufseiten der Jugendlichen […] weiter“ (Fritzsche 2000: 16) sinkt. Dies ändert sich jedoch mit der 17. Shell-Jugendstudie 2015, die, wie folgt diagnostiziert: „Neu ist das wieder angestiegene politische Interesse. Weltweite Vorgänge werden von vielen aufgeschlossener zur Kenntnis genommen.“ (Shell Deutschland 2015: 13) Der Jugendforscher Thomas Gensicke (2009: 583) vermutet daher, aufgrund der historischen Reflexion der Werteentwicklung der Jugend, ein möglicherweise „übergreifendes Muster“: „Falls dieser empirischen Generationenfolge irgendein übergreifendes Muster zugrunde liegt, etwa ein Dreischritt von ‚ökonomisch‘ über ‚politisch‘ zu ‚hedonistisch‘, dann wäre im Gefolge der gegenwärtig wieder ‚ökonomisch‘ geprägten Generation erneut eine ‚politische‘ Generation zu erwarten.“
Es herrscht dabei sowohl bei Hradil als auch Gensicke die Haltung vor, dass bei einem solch möglichen Muster beispielsweise „[…] die neue ,politische‘ Generation nicht einfach eine ‚Wiedergängerin‘ der 68er-Generation sein wird. Der längerfristige Struktur- und Wertewandel der Gesellschaft hat seit den 1950er Jahren neue Randbedingungen für das Aufwachsen hinzukommender Generationen gesetzt, etwa in Form des Massenwohlstands, der Massenbildung, einer entwickelten Zivilgesellschaft, steigender Individualisierung und der Medienrevolution. Aufgrund solcher kumulativen kulturellen Prozesse können die Ähnlichkeiten späterer mit früheren Generationen immer nur begrenzt sein.“ (Ebd.: 583f.)
Die eben beschriebene Dreierschrittperspektive „politisch – hedonistisch – ökonomisch“ kann in gewissen Variationen auch für die Entwicklung der Kulturellen Bildung abgebildet werden, wobei die hedonistischen und vor allem politischen Perspektiven eher zu Beginn der Etablierung der Kulturellen Bildung in den 1970er Jahren standen, mit der Forderung nach einer „demokratischen Kulturarbeit“ (vgl. Fuchs 1990: 18) oder beispielsweise der Entlarvung „hierarchisch dominierender Machtstrukturen“ in den etablierten Kultureinrichtungen (vgl. Bourdieu 1987). Eine politische Haltung, aber auch eine liberale, in der Schaffung der Zugänge für alle, zeigt die
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Kulturelle Bildung bei ihrer engen Argumentationsnähe zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR A/Res/2017 A III, 10. Dezember 1948), in der es unter anderem heißt: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ Die Begründungen zur Festlegung eines Menschenrechts auf kulturelle Teilhabe sind hier parallel zur Kulturellen Bildung weiter gefasst als in der ausschließlichen Förderung künstlerischer Ausdrucksformen. So trage der „Zugang zu den Künsten und die freie künstlerische und kulturelle Ausdrucksfähigkeit zur Entwicklung des kritischen Denkens“ bei, fördere „das Verständnis und den gegenseitigen Respekt“ sowie die Identitätsbildung und leiste einen Beitrag „zur Verstärkung der demokratischen Bürgerschaft und des sozialen Zusammenhalts“ sowie zu „einem ‚harmonischen Zusammenleben‘ und Frieden zwischen den Völkern“ (Europarat o.J.). Ähnliche Argumentationslinien entwickelt die Kulturelle Bildung für den eigenen Begründungs- und Wirkungszusammenhang, der sich in jüngster Zeit jedoch zunehmend einreiht in technokratische und ökonomische Argumentationslinien im Sinne von Transfereffekten und Funktionalisierung. Ein erster Schritt in diese Richtung ging Ende der 1990er Jahre mit einer „gefühlten“ Marginalisierung der künstlerischen Fächer in der Schule einher, die zu einer ersten umfangreichen Wirkungsstudie in Deutschland führte, der sogenannten „Bastian-Studie“ (vgl. Bastian/Kormann/Hafen 2000), die die Wirkung von musikalischer Bildung auf die Intelligenzförderung und die sozialen Kompetenzen untersuchte. Auch die außerschulische kulturelle Bildungspraxis investiert in Wirkungsforschung (vgl. Lindner 2003). Hervorzuheben ist hier beispielsweise auch der „Kompetenznachweis Kultur“ der BKJ (vgl. BKJ o.J.), der tendenziell in diese Richtung geht, wenn er auch die Persönlichkeitsbildung in den Blick nimmt. Es zeigen sich also in der Kulturellen Bildung erste Funktionalisierungsprozesse, wie sie in der Bildung allgemein im Zuge einer gesteigerten Liberalisierung und Ökonomisierung beobachtet werden können. In diesem Kontext verbreitet sich international auch der Ansatz „learning through the arts“ (vgl. Bamford 2006) in der Kulturellen Bildung, indem Kulturelle Bildung als ganzheitliches Instrument zum allgemeinen Wissenserwerb – zum Erlernen von Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften – erklärt wird, also letztlich auch eine Funktionalisierung im Sinne von Transferwissen.
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Im Zuge der Qualitätsdebatte der Kulturellen Bildung im Ganztag finden verstärkt auch Evaluationen Eingang in die kulturelle Bildungspraxis. Politische Haltungen und Stellungnahmen werden in der kulturellen Bildungspraxis deutlich seltener artikuliert, stattdessen wird die eigene Fachlichkeit betont: Erklärtes Ziel ist es, aufgrund des stetig gewachsenen Felds, „zugunsten von Fachlichkeit, Berufsfeld, Arbeitsmarkt, Aus- und Weiterbildung an Systematik zu gewinnen“ (Zacharias 2012: 847). Eine Definition des Begriffs Fachlichkeit findet sich in Wörterbüchern nicht (Janich 1998: 31). Max Fuchs (2008: 352) beschreibt dieses Phänomen in der Kultur- und Bildungsarbeit wie folgt: Hier „wird oft synonym von ‚Fachlichkeit‘ oder ‚Professionalität‘ gesprochen. Gemeint ist damit, dass man hinreichend praktische und theoretische Kompetenzen mitbringt.“ Zacharias (2012: 844) sieht im Kontext dieser neuen Fachlichkeit auch eine Professionalisierung in der Differenzierung „nach Projekten, Orten, Adressaten, Feldern, Institutionen, Strukturen mit kulturpädagogischen Intentionen, Inhalten, Methoden und Medien.“ Diese Betonung der Fachlichkeit in der Kulturellen Bildung in Anlehnung an die gesammelten Erfahrungen in einem expandierenden Feld ist letztlich auch eine technokratische Haltung gemäß dem Zeitgeist und der Macht des Expertentums: Politische Haltungen können als subjektiv hinterfragt werden, fachliche Haltungen gelten als objektiv. In jüngster Zeit kann jedoch parallel zu den Erkenntnissen des Wertediskurses erneut eine stärkere politische Positionierung in der Kulturellen Bildung beobachtet werden, die unter anderem einhergeht mit der jüngsten Zunahme rechtspopulistischer Strömungen in der Bevölkerung als Antwort auf die aktuellen Entwicklungen in der Flüchtlingssituation. Auf einer Tagung mit europäischen Expertinnen und Experten in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW im Jahr 2016 (Keuchel/ Czerwonka 2016) wurde erstmals sehr intensiv darüber diskutiert, ob sich Kulturelle Bildung nicht wieder stärker politisch positionieren sollte. So wurde die Frage aufgeworfen, ob „Funktion und Legimitation Kultureller Bildung als Vermittlerin politischer Ideen und normativer Grundsätze […] im Zuge ihrer Anbindung an den Flüchtlingsdiskurs, der politische, kulturelle und normative Fragen berührt, eine neue Brisanz“ (Keuchel/Czerwonka 2016) erhalte. In der Folge kann auf weiteren, in jüngster Zeit stattgefundenen europäischen Fachtagungen beobachtet werden, dass die Frage nach einer politischeren Haltung der Kulturellen Bildung stärker in den Vorder-
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grund rückt (vgl. Wimmer 2017), wobei es auch hier jetzt schon absehbar ist, dass diese aktuelle politische Positionierung eben aufgrund neuer Randbedingungen der Kulturellen Bildung „nicht einfach eine Wiedergängerin“ der 68er-Generation sein wird.
F AZIT – Z UR N OTWENDIGKEIT EINER K ULTURELLEN B ILDUNG 3.0 Zwischen der Werteentwicklung, wie sie die soziologische Werteforschung aufzeigt, und der Entwicklung der kulturellen Bildungspraxis konnten in der vorausgegangenen Betrachtung deutliche Parallelen beobachtet werden, die nahelegen, dass das, was für die pädagogische Praxis in Kapitel 2 allgemein dargelegt wurde, auch auf die Kulturelle Bildung übertragbar ist: Gesellschaftliche Transformationen beeinflussen Inhalte, Formen und Haltungen der kulturellen Bildungspraxis. Daher ist es sinnvoll, aufgestellte Grundprinzipien und aktuelle Praxis der Kulturellen Bildung im Zuge größerer gesellschaftlicher Transformationen kritisch im Zuge von notwendigen Aktualisierungen zu reflektieren. Entsprechend wird dies im Folgenden getan: Bedarf es einer Kulturellen Bildung 3.0 im Zuge der gesellschaftlichen Transformation? „Modernisierung“ als Grundprinzip kultureller Bildungspraxis? Die starken Modernisierungsprozesse in den 1970er Jahren haben die Entwicklung der Kulturellen Bildung maßgeblich beeinflusst, so beispielsweise das kritische Hinterfragen der damals bestehenden Kulturförderpraxis auf der einen und die Neuausrichtung an Lebensweltorientierung junger Menschen auf der anderen Seite. Seit den 1970er Jahren wurde vorausgehend eine zunehmende Transformation hin zu einer pluralistischen Gesellschaft skizziert, in der eindimensionale und dualistische Betrachtungsweisen zu kurz greifen, in der jugendkulturelle Ausdrucksformen von Erwachsenen adaptiert werden, sich verschiedene kulturelle Lebensstile in Milieus bündeln. Aus diesem Grund kann das Grundprinzip der Lebensweltorientierung durchaus kritisch hinterfragt werden. Wenn auf der einen Seite plurale Lebensformen, auf der anderen Seite eine starke Milieuzugehörigkeit und
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Fragmentierung innerhalb der Gesellschaft existieren, dann führt das Grundprinzip der „Lebensweltorientierung“ letztlich zu einer Manifestierung der Milieuzugehörigkeit. Im Sinne der Chance, die Zugehörigkeit zu Milieus selbst bestimmen und andere Lebensformen kennenlernen zu können, kann die Lebensweltorientierung ein Ausgangspunkt für Selbstbildungsprozesse sein, darf jedoch in einer pluralistischen Gesellschaft keine Einbahnstraße werden. Es sollten dann immer auch alternative Lebensweltentwürfe einfließen, so zum Beispiel die Erkenntnis, dass jenseits der Ästhetik eines Bildungsmilieus, kommerzieller Medien oder einer westlicheurozentristischen Künstlerperspektive noch weitere „Ästhetiken“ existieren. Gemäß wirklicher Wahloptionen der Lebensweltgestaltung junger Menschen sollte, neben der Lebensweltorientierung als Ausgangspunkt eines Dialogs mit jungen Menschen daher künftig auch das Grundprinzip der „Lebensweltöffnung“ bzw. „Lebenswelterweiterung“ systematisch in die Vermittlung integriert werden. Dieses bedarf einer grundsätzlichen Erweiterung der Aus- und Weiterbildung in der Kulturellen Bildung in Form des Kennenlernens und des Umgangs mit Diversität, unterschiedlichen künstlerisch-ästhetischen Ausdrucksformen und Lebensweltbezügen. Bei der Entlarvung hierarchisch-dominierender Muster, wie sie die Kulturelle Bildung in den 1970er Jahren praktizierte, stellt sich heute die kritische Frage, ob diese im Sinne gesellschaftlicher Transformation nicht ebenfalls immer wieder neu reflektiert werden müssen. In der heutigen pluralistischen Gesellschaft könnten diese hierarchisch-dominierenden Muster viel eher neuen Kräften, wie denen der Kommerzialisierung und Medialisierung, zugesprochen werden. Die klassischen Kultureinrichtungen sind längst nicht mehr tonangebend in der Präferenzbildung einer Gesellschaft. Auch sollten demnach, angesichts steigender Migration und Flucht, auch westlich-eurozentrische, dominierende Machtflüsse in einer globalisierten Weltperspektive kritisch in den Blick genommen werden wie auch allgemein die Rolle der kommerziellen und sozialen Medien. Die Werteforschung zeichnet eine neue Sehnsucht der Gesellschaft nach Sicherheit und Grenzsetzungen auf. Diesbezüglich könnte Kulturelle Bildung zum einen die eigenen Modernisierungsprinzipien kritisch reflektieren, zum anderen die Kräfte und das Wechselspiel des Wertediskurses aufgreifen, sichtbar machen und Handlungsalternativen zu aktuellen gesellschaftlichen Positionierungen aufzeigen – ganz im Sinne der Künste, die seit jeher neue Perspektiven auf Alltägliches ermöglichen.
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Non-formales Handlungsfeld im formativen Gewand? – Zwischen Chancengleichheit, Wettbewerb und Ökonomisierung Kulturelle Bildung hat sich in den 1970er Jahren als eigenes Handlungsfeld aus der außerschulischen Praxis heraus gebildet. Dies geschah, wie vorausgehend dargestellt, mit deutlich kritischem Bezug zur schulischen Praxis. Entsprechend wurden auch die Grundprinzipien im Kontrast zur schulischen Praxis formuliert, wie Ganzheitlichkeit, Freiwilligkeit, Subjektbezogenheit oder Partizipation. Diese Prinzipien sind gemäß dem dargestellten Wertediskurs liberalistische, idealistische bzw. hedonistische Prinzipien. Im Zuge des Diskurses um Chancengleichheit und der damit einhergehenden Integration der Kulturellen Bildung in den schulischen Ganztag wurden diese Prinzipien zugunsten von Ökonomie und Praktikabilität infrage gestellt. Finanzierbare Kulturelle Bildung für alle in der Fläche stellt prinzipiell die Freiwilligkeit zur Disposition, aber auch die Arbeit mit kleinen Gruppen und damit die Subjektbezogenheit, die in großen Gruppen mit limitierten festgelegten Zeitfenstern nur schwer realisierbar ist. Damit steht die Kulturelle Bildung aktuell vor dem Dilemma, zwischen dem Anspruch der Chancengleichheit auf der einen und ökonomischen Zwängen auf der anderen Seite, eigene Grundprinzipien über Bord zu werfen. Dennoch kann in der Gesellschaft ein steigender Bedarf beobachtet werden, eben diese Grundprinzipien in formale schulische und berufliche Kontexte einfließen zu lassen. Liberalistische idealistische bzw. hedonistische Prinzipien sollen zunehmend auch in formale Prozesse einfließen, um die intrinsische Motivation und Effizienz des Lernens durch den ganzheitlichen Ansatz zu erhöhen. Ähnliches gilt für die Gestaltung des beruflichen Alltags: die Förderung von Wohlfühlaspekten bei der Arbeit, Partizipation und Auflösung von vorgegebenen Arbeitszeiten hin zu flexiblen, frei zu gestaltenden Zeitstrukturen etc., sollen die Leistungseffizienz der Arbeit erhöhen. Dies ist jedoch im Sinne der Philosophie der Kulturellen Bildung ein zweischneidiges Schwert: Eben beschriebene Grundprinzipien, angewandt in non-formalen kulturellen Bildungsprozessen, dienen der Entwicklung eigener künstlerisch-ästhetischer Ausdrucksformen, der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und Selbstbildung. Die Anwendung derselben in formalen schulischen und beruflichen Kontexten führt jedoch zur Aneignung
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nicht ausschließlich selbstbestimmter Inhalte. Das Curriculum in der Schule unterliegt gesellschaftlichen Notwendigkeiten und Festlegungen, die Arbeitsleistung dem Gewinn des Unternehmens. Es ist grundsätzlich legitim, sich Gestaltungsprinzipien im schulischen oder beruflichen Alltag zu bedienen, die die Lern- bzw. berufliche Arbeit so angenehm und effizient wie möglich gestalten. Es sollte dabei jedoch immer reflektiert werden, dass diese Lern- und Arbeitsprozesse auch fremdgesteuert und abhängig von gesellschaftlichen Notwendigkeiten sind – also nicht subjektorientiert und selbstbestimmt. In diesem Kontext, sollte sich Kulturelle Bildung – im Zuge der veränderten und erweiterten Handlungs- und Praxisfelder – insgesamt erstmals klar in ihren Zielen abgrenzen und positionieren: Sollen Grundprinzipien der Kulturellen Bildung Leitprinzipien der Schule und beruflichen Praxis werden? Wie definiert man die eigene Rolle der Kulturellen Bildung innerhalb der Ganztagsentwicklung? Ist es legitim, Grundprinzipien der Kulturellen Bildung zu vernachlässigen, zugunsten ihrer schulischen Integration in die Fläche, um damit eine größere Reichweite und Chancengleichheit zu erreichen? Oder setzt man sich stattdessen erneut für mehr non-formale Freiräume junger Menschen ein, in Form einer Reduzierung des Ganztags oder auch des Wechsels der Trägerschaft des Ganztags hin zu non-formalen Bildungspartnern und Strukturen? Eine klare Positionierung der Kulturellen Bildung bezogen auf den formalen und non-formalen Handlungsraum steht dringend aus. Dabei gilt es, als außerschulische zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure zunächst immer das eigene Handlungsfeld in den Blick zu nehmen und entsprechend politisch zu argumentieren: Geht es in der primären Zielsetzung um die Stärkung des Subjekts oder um die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft?
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Zwischen jugendpolitischem, fachlichem und normativen Anspruch – Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung? Aktuelle Ergebnisse der Werteforschung zeichnen erstmals keine lineare Entwicklung zu immer mehr Modernisierung und Individualisierung auf (vgl. Hradil 2002: 45), sondern ein Austarieren von Werten. Es werden, wie vorausgehend dargestellt, Wechsel vermutet zwischen stark politischen, hedonistischen und ökonomisch geprägten Gesellschaftsphasen. Ein ähnliches Wechselspiel konnte in der Kulturellen Bildung seit ihrer Entstehungsgeschichte in den 1970er Jahren beobachtet werden, von einem stark jugendpolitischen Ansatz hin zu einer anschwellenden Entpolitisierung und zugunsten von Fachlichkeit, mit einer aktuellen Tendenz, sich wieder stärker politisch aufzustellen. Die starke Betonung der Fachlichkeit in der Kulturellen Bildung wurde vorausgehend auf das wachsende, stetig sich ausdifferenzierende und sich professionell aufstellende Feld zurückgeführt. Dies kann im Zuge einer zunehmend technokratischen und ökonomisierten Gesellschaft jedoch durchaus kritisch bewertet werden. Der Begriff Fachlichkeit, der, wie vorausgehend erwähnt, in Wörterbüchern weitgehend keine Erwähnung findet, wird ansonsten vor allem in der Unterrichtsforschung verwendet, zur Unterscheidung der Vermittlung von Fachwissen und anderen pädagogischen Bildungszielen, wie beispielsweise selbstorganisiertes Handeln, soziale Fähigkeiten, emotionale und intrinsische Beteiligung etc. Diese Bildungsziele sind vielfach deckungsgleich mit Grundprinzipien der Kulturellen Bildung. Der Unterschied zum schulischen Standpunkt besteht hier in der Eingrenzung des Begriffs Fachlichkeit. In der Kulturellen Bildung besteht die Fachlichkeit nicht nur in der Vermittlung künstlerisch-ästhetischer Praktiken, sondern bezieht die Grundprinzipien gemäß einer ganzheitlichen Bildungserfahrung ein. Der schulische Kontext trennt dies, was einen Vorteil hat: Normative Pädagogikziele, wie Selbstständigkeit, Fleiß oder Gemeinschaft etc., werden wesentlich transparenter in der Darstellung. Hier tut sich Kulturelle Bildung aufgrund ihres subjektorientierten Ansatzes schwerer. Die Subjektbezogenheit, die die Selbstbestimmtheit von Bildungsinhalten impliziert, steht in einem gewissen Widerspruch zu einer normativen Pädagogik. Ein ähnliches Dilemma konnte vorausgehend im Fachdiskurs zur Existenz von universalen Werten
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in der normativen Pädagogik beobachtet werden. Die (Jugend-)Politische Bildung formuliert dagegen beispielsweise sehr klar, dass sie ein demokratisches Grundverständnis voraussetzt, was aber auch bedeutet, dass „sie sich nicht nur am Individuum, sondern […] am Allgemeinen ausrichten“ (Becker 2009) muss. Diese Ausrichtung an der Allgemeinheit steht dem subjektorientierten Ansatz der Kulturellen Bildung entgegen, so wie übrigens auch dem hedonistischen Prinzip der Modernisierung. Aktuell wird jedoch, im Zuge der gesellschaftlichen Transformation, die Position des Rückzugs auf „reine“ Fachlichkeit mit dem Verweis des „Prinzip[s] der Selbstbildung im Sinne eines individuellen und eigenständigen SichBildens“ (vgl. BKJ 2015) ohne Benennung verbindlicher Grundwerte, die der Vermittler in der kulturellen Bildungsarbeit vertritt, infrage gestellt, so beispielsweise in der kulturellen Bildungsarbeit mit Geflüchteten oder des zunehmenden Rechtspopulismus in der Bevölkerung. Wie positioniert sich Kulturelle Bildung beispielsweise bei der Diskriminierung von Geschlecht oder Ethnie in der kulturellen Bildungsarbeit mit jugendlichen Zielgruppen? Kann hier ausschließlich auf Selbstbildungsprozesse gesetzt werden oder grenzt Kulturelle Bildung Selbstbildungsprozesse nicht doch in der Form ein, dass Grundwerte wie Gleichberechtigung und demokratische Prinzipien in der Zusammenarbeit mit jungen Menschen innerhalb der kulturellen Bildungsarbeit selbstverständlich vertreten und vorausgesetzt werden? Und sollte dies so sein, wäre es nicht sinnvoll, eine konkrete Wertegrundlage innerhalb der Kulturellen Bildung in der Arbeit mit jungen Menschen voranzustellen wie in der Politischen Bildung, zum Beispiel eine klare Positionierung der Kulturellen Bildung in Anlehnung an die der Menschenrechtskonvention, um so auch unbewusste Beeinflussungen gemäß dem Überwältigungsverbot des „Beutelsbacher Konsens“ (vgl. Wehling 1977) ausschließen zu können? Der Verweis auf die Selbstbildung darf auch den Blick auf die jugendpolitische Verantwortung nicht verstellen. Aktuell wird, wie vorausgehend skizziert, eine Vielzahl an kulturellen Bildungsprojekten gefördert, um konkret junge sozial benachteiligte Menschen in ihrer gesellschaftlichen Stellung zu stärken. Selbstverständlich sollte es Ziel sein, unter Berücksichtigung der Chancengleichheit und jugendpolitischen Zielsetzungen, allen jungen Menschen Kulturelle Bildung zu ermöglichen. Es darf in der Argumentation jedoch nicht dazu führen, dass gemäß der beckschen „Risikogesellschaft“ die Förderung der Selbstbildung junger Menschen in der Kultu-
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rellen Bildung zum Anlass genommen wird, diese danach für ihre weitere Lebensgestaltung selbst verantwortlich zu machen. Vielmehr sollten zugleich die Rahmenbedingungen der Lebensumstände junger Menschen kritisch betrachtet und es sollte dafür eingetreten werden, dass auch diese adäquat verbessert werden. Daher sollte Kulturelle Bildung zurückhaltend in der Argumentation von Transferwirkungen sein und neben einem fachlichen Standpunkt immer auch die jugendpolitische Perspektive fokussieren. In diesem Sinne wäre ein Plädoyer, künftig – nicht nur innerhalb der Kulturellen Bildung – in der eigenen Positionierung, bezogen auf Fachlichkeit, normativer Pädagogik und jugendpolitischem Anspruch, mehr Transparenz zu schaffen, sondern auch das Verhältnis dieser drei Positionen zueinander gemäß der Mangelhypothese der Werteforschung kontinuierlich kritisch zu reflektieren und demgemäß auszutarieren.
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Fazit – Empfehlungen zur Weiterentwicklung einer Kulturellen Bildung 3.0 •
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Etablieren eines neuen Grundprinzips „Lebenswelterweiterung bzw. -öffnung“ in Ergänzung zum Grundprinzip „Lebensweltorientierung“; Kontinuierliche Aktualisierung der Reflexion von hierarchischdominanten Machtstrukturen im Kulturleben im Sinne gesellschaftlicher Transformation; Kritische Reflexion nichthinterfragter Modernisierungsprinzipien innerhalb der Kulturellen Bildung; Thematisierung gesellschaftlicher Werteentwicklungen innerhalb der Kulturellen Bildung und Aufzeigen von Handlungsalternativen; Positionierung in der primären Zielsetzung der Kulturellen Bildung im Spannungsfeld der Stärkung des Subjekts und der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft; Zeitgleiches Eintreten für bessere Lebensbedingungen bei der kulturellen Bildungsarbeit mit sozial benachteiligten jungen Menschen; Positionierung der Kulturellen Bildung zur Wahrung ihrer Grundprinzipien, ihrer Rolle und Ziele in der formalen Bildung; Offenlegung fremdbestimmter Bildungsinhalte beim Rückgriff auf Grundprinzipien der Kulturellen Bildung in formalen Prozessen; Kein technokratischer Rückzug der Kulturellen Bildung auf Fachlichkeit; Mehr Transparenz und Ausgewogenheit in der Kulturellen Bildung, bezogen auf Fachlichkeit, normativen und jugendpolitischen Anspruch; Positionierung bezüglich einer normativen Grundhaltung in Form nichtverhandelbarer Werte in der Kulturellen Bildung.
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Kulturelle Bildung und die Krise der freiheitlichen Demokratien Creativity Culture and Education1 P AUL C OLLARD
Der Brexit beunruhigt mich sehr, aber in einem breiteren europäischen Kontext. Ich muss gestehen, dass die Ideen meines Vortrags aus einer Unterhaltung stammen, die ich mit dem Kulturpolitikforscher Michael Wimmer geführt habe, der mir nach dem Brexitvoting sehr zuvorkommend seine Unterstützung in diesen schweren Zeiten angeboten hat. Ich war mir nicht ganz sicher, auf welche Art und Weise er helfen könnte – vielleicht, dachte ich, plant er eine österreichische Invasion von England, um uns von den Brexit-Befürwortern und -Befürworterinnen zu befreien? Das hätte ich gutgeheißen. Mein Hauptargument ist, dass der Brexit symptomatisch für eine viel größere Bewegung in Europa und vielleicht sogar darüber hinaus ist. Ich weiß, ich habe hier viele Freunde, die wissen, was ich tue, aber trotzdem möchte ich das an dieser Stelle erwähnen: Mein Interesse an diesem Thema wurde in England geweckt, als wir von 2002 bis 2011 ein Großprojekt an 1
Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um einen Vortrag von Paul Collard, der am 2. November 2016 auf der von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien geförderten Expertentagung „Perspektiven Kultureller Bildung in Europa in Zeiten von Diversität und Flucht“ in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW gehalten wurde. Der Titel des englischen Originals lautet „Arts Education and the Liberal Democracy Crisis“. Der Abdruck in diesem Band erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Schulen durchgeführt haben. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 und einem Regierungswechsel in Großbritannien hat man uns unserer kompletten Mittel entledigt und schickte uns ins politische Exil. Seitdem arbeiten wir unter anderem mit Partnern und Schulen in Litauen, Finnland, Norwegen, Schweden, den Niederlanden, Deutschland, der Tschechischen Republik, Ungarn, Rumänien, Wales, Schottland und Pakistan zusammen. Vor allem aus dieser Perspektive denke ich, dass wir es gerade mit einem tiefergehenden Problem zu tun haben. Auch wenn die Situation durch die enorme Flucht- und Abwanderungsbewegung der letzten Monate und Jahre zugespitzt wurde, hat sie mir dennoch gezeigt, dass es mittlerweile eine gähnende Kluft zwischen den Hoffnungen und Werten der europäischen liberalen, demokratischen Elite, zu der ich wohl auch gehöre, und zahlreichen Wählerinnen und Wählern in Europa gibt. Ich glaube, das größte Problem ist, dass unter den Mitgliedern der liberalen Elite eine panglossianische Vision von der Welt vorherrscht: dass sie stetig besser werden kann, und dass die Arbeit, die wir momentan leisten, nur einen kleinen Schritt davon entfernt ist, das Leben einfacher Menschen zu verbessern. Wir glauben besonders daran, dass Bildung und körperliches Wohlbefinden den meisten Europäerinnen und Europäern durch Wirtschaftswachstum zu deren Vorteil gereicht. Aber immer deutlicher tritt zutage, dass die meisten Europäerinnen und Europäer in vielen Ländern genau daran nicht länger glauben. Das kann man am Aufstieg der Front National in Frankreich sehen. Das kann man in Österreich mit Norbert Hofer von der Freiheitlichen Partei sehen, der in der ersten Runde die meisten Stimmen bekommen und nur knapp in der zweiten Runde verloren hat. Sogar in Litauen wurde eine Partei, die zuvor nur einen Sitz im Parlament hatte, zur größten Partei der Wahl katapultiert: der sogenannte Bund der Bauern und Grünen Litauens. Die Partei wird die nächste Regierung bilden, obwohl sie bisher gänzlich unbekannt war. In Ungarn hat der Premierminister Viktor Orbán sich im Zuge einer bemerkenswerten Leistung in einem völlig anderen politischen Bereich neu erfunden. Er begann als führender Sympathisant der Linken und hat sich nun mühelos nach rechts außen orientiert, um dem Stimmungswechsel der Wählerinnen und Wähler standzuhalten und seine Machtposition zu erhalten. In einigen Ländern wird die tiefgreifende Unzufriedenheit mit der herrschenden Elite von weiter links gerichteten nationalistischen Parteien aufgegriffen. Ich würde behaupten, dass es die schottischen Nationalisten in
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Schottland geschafft haben, aus dieser Frustration Kapital zu schlagen. Die schottischen Wählerinnen und Wähler lehnten die Liberaldemokraten ab, die Schottland von London aus dominierten und von England aus regierten. So konnten die schottischen Nationalisten aus der Ablehnung gegenüber England und mittelbar von der demokratisch-liberalen Politik Profit schlagen. Dennoch glaube ich, dass es sich hier um einen eher seltenen Fall handelt, in dem es Politikerinnen und Politiker geschafft haben, die momentane politische Stimmung von links abzufangen. Für gewöhnlich geschieht dies von der rechten Seite. Im vergangenen Jahr habe ich gemeinsam mit Rolf Witte, dem Leiter Kulturelle Bildung International der Bundesvereinigung Kulturelle Kinderund Jugendbildung (BKJ), an einem von der Stiftung Mercator beauftragten Papier zu „Kultureller Bildung und Europa“ gearbeitet. Ich hatte einige Probleme damit und war mit meinen Schlussfolgerungen nicht wirklich zufrieden – und wenn ich es jetzt wieder lese, im neuen politischen Kontext nach dem Brexit, wird mir klar, wie sich innerhalb nur eines Jahres eine neue politische Realität herauskristallisiert hat. Viele Probleme beim Schreiben des Papiers rührten von den Bemühungen her zu verstehen, was da gerade vor sich ging und dies schriftlich zu fixieren. Das Papier zeigt, dass aus dem europäischen Konzept ein Sammelbegriff für verschiedene, manchmal widersprüchliche Werte und Erfahrungen geworden ist, die von einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren in Kultur und Bildung auf die europäische Idee projiziert wurden: „Europa ist Vernunft“ oder „Europa ist Toleranz“ oder „Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter“. Aber nun ist mir klargeworden, dass all diese Projektionen zur Bedeutung Europas eines gemeinsam haben: dass sie allesamt eine Reihe an liberaldemokratisch-toleranten Werten vertreten haben, die einzelne Akteurinnen und Akteure in Europa repräsentiert sehen. Gleichzeitig wird ein Zusammenhang zwischen einer großen europäischen Kulturtradition mit Kunst, Theater, Musik und Literatur einerseits und den beschriebenen Werten – Anstand, Toleranz und gesellschaftlichem Fortschritt – andererseits hergestellt. Also sehen wir eine tiefe Verbindung zwischen diesen Phänomenen und können unsere Werte in den Kunstwerken wiedererkennen, die wir hier in der Kulturellen Bildung zu fördern versuchen. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Kultur etwas Gewöhnliches, Selbstverständliches ist. Jede menschliche Gesellschaft hat ihre eigene Form, ihren eigenen Zweck, ihre eigene Bedeutung, und jede
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menschliche Gesellschaft drückt diese durch Institutionen und auch in der Bildung aus. Eine Gesellschaft wird dadurch geformt, dass man sich auf gemeinsame Bedeutungen und Orientierungen einigt. Sie wächst durch aktive Diskussionen, durch einen kontinuierlichen Änderungsprozess, unter dem Druck von Erfahrung, Kontakten und Ergebnissen. Dieser Prozess mag zu einer Kultur führen, die mehr als nur gewöhnlich ist, die sogar außergewöhnlich ist. So entwickelte sich die große europäische Tradition aus einem Prozess heraus, über 2000 Jahre lang gemeinsame Bedeutungen zu finden. Es war ein Prozess voller aktiver Diskussionen unter dem starken Druck, der in Europa eine Reihe an Werten, demokratischen Institutionen und kulturellen Erfahrungen hervorbrachte, die meiner Meinung nach von herausragender Qualität sind. Deswegen arbeite ich im Bereich der Kulturellen Bildung und glaube daran, dass es darin etwas gibt, was man wertschätzen und zelebrieren sollte. Aber was mir Sorgen bereitet, ist, dass eben diese außergewöhnliche, herausragende europäische Kultur genau das ist, was die meisten Wählerinnen und Wähler offenbar ablehnen. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft lehnt die Toleranz, die Sorge um andere ab, sie wehrt sich gegen multiethnische Gesellschaften, die es in Europa schon immer gab und übernimmt deren demokratischen Werte nicht. Viktor Orbán, der ungarische Premierminister, war im vergangenen Jahr in Transsilvanien und hielt dort eine Rede inmitten der Heimat der ethnischen Ungarinnen und Ungarn in Rumänien, um das Ende des politischen Liberalismus anzukündigen. In diesem Zuge hat er meines Erachtens das erste Mal die Wahrheit hinter diesen neuen Wahlmustern entlarvt: dass die politischen Werte und Kulturvorstellungen der liberal sozialisierten politischen Klasse in Gänze abgelehnt werden. Aber am wichtigsten ist es zu erkennen, dass diejenigen, die diese europäische kulturelle Tradition ablehnen, auch diejenigen sind, die damit aufgewachsen sind. Heute erleben wir in vielen Ländern in Europa, dass Kulturelle Bildung an den Rand gedrängt oder gänzlich aus dem Lehrplan gestrichen wird. Folglich werden bald Generationen junger Menschen heranwachsen, die nur wenig von Kunst und deren Bedeutung verstehen. Wir erleben auch einen großen Zustrom von Menschen außerhalb Europas ohne nennenswertes Wissen über europäische Kultur. Aber das sind nicht diejenigen, die gegen die liberale europäische Tradition stimmen: Diejenigen, die für den Brexit, Marine Le Pen oder Viktor Orbán gestimmt haben, ha-
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ben von einem Bildungssystem profitiert, in dem Kunst und Bildung einen hohen Stellenwert hatten. Deswegen lehnen sie es nicht aus Unwissenheit heraus ab, sondern wohl wissentlich, da sie in ihrem Bildungssystem durchaus damit konfrontiert waren. Sie begründen ihr Wahlverhalten für diese neuen politischen Positionen damit, dass sie sich daraus eigene Vorteile und die Verbesserung ihrer persönlichen Situation versprechen. Sie beklagen, dass diese Versprechen von einer großartigen europäischen Tradition nicht erfüllt worden sind. Sie erkennen keine Verbesserung ihrer Lebenssituation, weder vonseiten der Bildung noch in ökonomischer Hinsicht. Stattdessen glauben sie, dass andere, die entweder außerhalb Europas oder aus gänzlich anderen Kulturen nach Europa kommen, ihnen diese Vorteile genommen hätten. So haben in England vor allem Menschen mit niedrigem Bildungsniveau für den Brexit gestimmt. Im Gegensatz dazu stimmten insbesondere diejenigen aus höheren Bildungsschichten dafür, in der Europäischen Union (EU) zu bleiben. Aber man muss auch sagen, dass es sich bei denjenigen, die gegen einen Verbleib in der EU gestimmt haben, mitnichten um Menschen handelt, die nie in den Genuss von Bildung gekommen wären und deswegen aus mangelnder Bildung die Zusammenhänge nicht verstanden hätten. Diese Wählerinnen und Wähler haben alle ein Bildungssystem durchlaufen, an dem sie gescheitert sind oder das sie zum Scheitern gebracht hat. Folglich stehen sie am Ende da und lehnen die Prämisse ab, auf der das Bildungssystem aufgebaut ist, dass Bildung das Leben bereichert und zu einer wirtschaftlichen Verbesserung führt. Ich glaube, dass dies ein Problem in ganz Europa ist. Aber es ist auch klar, dass dieses Problem sehr wohl über die Grenzen Europas hinausreicht. Ein aktuelles Beispiel dafür sind Donald Trump und seine Wählerinnen und Wähler in den USA. Es ist ein Problem des Westens, und es äußert sich im Besonderen in der Ablehnung der Expertensprache. Michael Gove war bis 2015 fünf Jahre lang Bildungsminister in England; er ist ein führender rechter Politiker, der eine bedeutende Rolle in der Pro-Brexit-Kampagne gespielt hat. Gove ist sehr konkret darin, die Sprache der Expertinnen und Experten abzulehnen und in seiner Ablehnung uns gegenüber, den Menschen, die heute in diesem Raum leben. Er ist fest davon überzeugt, dass wir das Problem sind. Ich war tief beeindruckt von der Einführungsrede der geschätzten Susanne Keuchel, der Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des
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Bundes und des Landes NRW, mit ihrer klaren Definition von Vielfalt, Multikulturalität und Interkulturalität. Aber ich fürchte, dass unsere gesamte Sprache abgelehnt wird. Durch die Art, wie wir sie verwenden, entfremden wir uns von vielen, wenn auch noch nicht der Mehrheit der Europäerinnen und Europäer. Die Menschen sagen, ich möchte nicht darüber diskutieren. Ich möchte nur, dass keine Ausländerinnen und Ausländer mehr hier leben. Jegliche Diskussion über Interkulturalität oder Multikulturalität öffnet einer Debatte Tür und Tor, an der ich nicht teilnehmen möchte. Und die Antwort darauf ist keine Diskussion, keine akademische Elite, keine tiefgründige Wissenschaft, sondern im Fall von Trump sind es unlogische, zusammenhanglose Versprechen und auf Wählerstimmen ausgerichtete politische Maßnahmen. Ich glaube, das Problem ist teilweise, dass die Bildungssysteme, die von diesen Wählerinnen und Wählern nun abgelehnt werden, nicht zu der qualitativ hochwertigen Bildung geführt haben, die in der Praxis benötigt wird. Wir haben kürzlich ein Forschungsprojekt mit jungen norwegischen Teenagerinnen und Teenagern über den Wert Kultureller Bildung im Zusammenhang des sogenannten „Kulturrucksack“-Projekts durchgeführt. Wir befragten Gruppen junger Menschen in unterschiedlichen Städten in Norwegen, in denen mindestens sechs Seminare mit jeweils einer Gruppe Jugendlicher stattfanden. Wir stellten die These auf, dass der Vorteil Kultureller Bildung sei, dass sie kritisches Denken vorantreibt. Sie lehnten diese Vorstellung ab. Sie fragten, ob Literatur Kunst sei. Wir bejahten dies. Sie erklärten, dass sie auf ihrer Schule klassische norwegische Literatur lesen müssen und dazu angehalten werden, diese zu mögen. Ihre Lehrerinnen und Lehrer sagen ihnen, wieso sie sie selbst mögen, was die Schülerinnen und Schüler daraufhin aufschreiben und auswendig lernen. Sie müssen die Meinung der Lehrkräfte auch in Prüfungen wiederholen, um eine gute Note zu bekommen. Das würde kritisches Denken nicht fördern, prangerten sie an. Dieser Ansatz der Kulturellen Bildung ist in vielen Bildungssystemen in Europa wiederzufinden. Es ist ein pädagogischer Ansatz, der genau die Gewinne zunichtemacht, die von denjenigen hochgehalten werden, die sich für Kulturelle Bildung einsetzen. Wohin ich auch gehe, erlebe ich die Folgen dieses Ansatzes. Ich habe gerade eine Arbeit für die Stadt Amsterdam abgeschlossen. Währenddessen hatte ich die Möglichkeit, mit vielen jungen Menschen aus Amsterdam zu sprechen. Eines nachmittags sprach ich mit einer Gruppe junger muslimischer Mädchen, zwischen 15 und 16 Jahren
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UND DIE
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alt, die in Amsterdam geboren und in einem Bildungssystem aufgewachsen sind, das ich als hervorragend erachte und möglicherweise die besten Programme für Kulturelle Bildung aller mir bekannten Städte hat. Aber diese jungen Menschen hatten alle vor, Amsterdam zu verlassen. Sie wollten nicht länger Teil davon sein, wofür die Stadt in ihren Augen steht. Sie wollten in Ländern leben, die kulturelle Werte vertreten, die ihnen völlig fremd sind. Aber diese Ansichten sind nicht aus Unwissen um die europäischen kulturellen Werte entstanden. Sie sind aus der Art und Weise entstanden, wie sie ihnen nähergebracht worden sind. Was unsere heutige Diskussion hier betrifft, glaube ich, dass es wichtig für uns ist zu erkennen, in welcher Realität wir uns befinden. Mit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise macht der Bereich der Kulturellen Bildung dasselbe wie immer: mit den besten Absichten, stets gut gemeint, sehen die Akteurinnen und Akteure sich als die Lösung für jedes Problem. Wieder eilt der Kulturbereich herbei und sagt: „Oh ja, wir sind die Lösung für all diese Immigrantinnen und Immigranten wie Flüchtlinge.“ Aber es gibt keinen überzeugenden Beweis, dass wir die Lösung für irgendetwas sind. Natürlich ist die großartige europäische kulturelle Tradition wertvoll und ihre Werte sind mir sehr wichtig. Kunst zu erleben und sich ihr zu widmen, ist wertvoll, aber ob sie einen Beitrag dazu leistet oder dazu in der Lage ist, zur Lösung dieser Probleme, denen wir gegenüberstehen, beizutragen, müssen wir meiner Meinung nach überdenken. Und wir müssen uns sicherlich eingestehen, dass die Art und Weise, wie wir junge Menschen an Kulturelle Bildung in den letzten 40 Jahren herangeführt haben, nicht die Versprechen gehalten hat, die wir bezüglich ihres gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, pädagogischen und intellektuellen Nutzens gemacht haben. Übersetzung ins Deutsche von Loretta Rottengaß.
Kulturelle Bildung in der digitalisierten Gesellschaft C HRISTIAN H ELBIG UND A NGELA T ILLMANN
M EDIATISIERUNG
ALS SOZIALER
P ROZESS
Digitale Medien sind in vielen Lebensbereichen heute selbstverständlich. Dabei geht es nicht mehr nur darum, zu jeder Zeit und an jedem Ort telefonisch erreichbar zu sein, E-Mails oder Messages lesen und sofort reagieren zu können, Informationen zu recherchieren und gefundene Ergebnisse auch auf Sozialen Netzwerken zu teilen. Vielmehr wandelt sich mit den digitalen Medien auch die Art und Weise, wie sich Menschen in Beziehung zur Welt setzen, ihr soziales Miteinander pflegen und an der Gesellschaft partizipieren. Digitale Medien stellen heute einen wesentlichen Faktor kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe dar. Dies gilt insbesondere für Jugendliche, da sie ihre kulturellen Praktiken vor allem in Bezug auf oder in Medien ausleben. Für Heranwachsende ist es zunehmend selbstverständlich, zu jeder Zeit und an jedem Ort auf digital gespeicherte Informationen zugreifen und sich in einer Vielzahl von Kontexten präsentieren, positionieren und einbringen zu können – und dies zunehmend zeitgleich. Im Kontext ihres mobilen und vernetzten Medienhandelns pflegen Jugendliche Beziehungen, agieren in Communitys, demonstrieren ihre Zugehörigkeit zu Szenen und inszenieren sich vielseitig. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft ist dieses Handeln Teil eines Prozesses, der als Mediatisierung beschrieben wird. Demnach bezieht sich nicht nur das menschliche Handeln vermehrt auf digitale Kommunikationstechnologien, auch die sozialen Institutionen und Organi-
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sationen sowie die Politik und Wirtschaft stellen sich in einem wachsenden Maße mediatisiert dar. Friedrich Krotz beschreibt die Mediatisierung in der Folge als einen Metaprozess, der eng mit weiteren grundlegend gesellschaftlichen Veränderungsprozessen wie der Globalisierung und der Pluralisierung verknüpft ist. Insbesondere die Kommerzialisierung stellt für Krotz eine „Basisentwicklung“ (Krotz 2006: 36) dar, „aus der die anderen drei [Metaprozesse] resultieren“ (ebd.). Metaprozesse haben gemeinsam, dass sie die Menschheit in ihrer sozialen und kulturellen Entwicklung maßgeblich beeinflussen (vgl. ebd. 2007: 27). Nach dem Konzept der Mediatisierung werden in der Menschheitsgeschichte „immer neue publizistische und andere Kommunikationsmedien in Kultur und Gesellschaft, in Handeln und Kommunizieren der Menschen eingebettet, werden die Kommunikationsumgebungen der Menschen immer ausdifferenzierter und komplexer, und [umgekehrt] beziehen sich […] Handeln und Kommunizieren sowie die gesellschaftlichen Institutionen, Kultur und Gesellschaft in einem immer weiter reichenden Ausmaß auf Medien.“ (Ebd.: 40)
Phänomene der Mediatisierung lassen sich nach Krotz auf allen gesellschaftlichen Ebenen beobachten: Auf der Mikroebene beschreibt die Mediatisierung den Wandel der Menschen, ihres Alltags und ihrer sozialen Beziehungen. Auf der Mesoebene kann der Wandel von Parteien, Unternehmen, Organisationen und Institutionen betrachtet werden. Auf der Makroebene fragt die Mediatisierungsforschung nach dem Wandel von Politik und Wirtschaft sowie von Sozialisation, Gesellschaft und Kultur (vgl. ebd. 2012: 37). Diese Veränderungsprozesse lassen sich allerdings nicht allein auf die Wirkung einzelner Medien oder Technologien zurückführen. Sie sind vielmehr das Ergebnis langfristiger Entwicklungsprozesse „der medialen Landschaften und individuellen Kommunikationsumgebungen, die aus plötzlichen Entwicklungsschüben durch neue, aber auch aus allmählichen Veränderungen vorhandener Medien entstehen“ (ebd. 2007: 44). In diesem Verlauf verändert sich die Gesamtqualität der Medienumgebung und es entwickeln sich spezifische Umgangsweisen mit ihr. Historische Beispiele für solche weitreichenden Mediatisierungsschübe sind nach Krotz die Entwicklung des Buchdrucks, die Einführung des Radios und des Fernsehers (vgl. ebd.), in dem sich das Radio beispielsweise von einem genehmigungspflichtigen Gerät, um das sich anfangs die ganze Familie versammel-
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te, zu einem Nebenbei-Medium entwickelt hat, das immer häufiger auch über das Internet gehört wird.
D IGITALISIERUNG , D ATAFIZIERUNG UND B IG D ATA (A NALYTICS ) Der gegenwärtige Mediatisierungsschub wird mit dem Begriff der Digitalisierung beschrieben. Gekennzeichnet ist dieser Schub dadurch, dass Menschen heute nahezu zu jeder Zeit und an jedem Ort Zugang zu Informationen haben und kommunizieren können (Entgrenzung), und dass unterschiedliche Medientechnologien und mediale Inhalte weiter zusammenwachsen (Konvergenz). Smartphones stehen stellvertretend für diese Entwicklung. Bei der alltäglichen Nutzung der neuen digitalen Technologien entstehen Datenmengen, die zur dauerhaften Speicherung, Analyse und Verwertung von Personen- und Nutzungsdaten herangezogen werden. Allein im Jahr 2015 wurden weltweit 8591 Exabyte (1018 Bytes) an digitalen Daten generiert, dies stellt eine Verdreifachung im Vergleich zum Jahr 2012 dar (2837 Exabyte) (vgl. Statista 2016). Politisch und wirtschaftlich werden diese Analyse- und Auswertungsmöglichkeiten großer Datenbestände, die unter den Begriffen Big Data bzw. Big Data Analytics diskutiert werden, bedeutende Potenziale zugesprochen. Beispielsweise können Unternehmen Kundenerfahrungen erfassen und mit Werbung individuell auf die präsentierten Vorlieben und Interessen reagieren. Weitere Anwendungsszenarien werden in der Gesundheitsbranche, bei der Festlegung von individuellen oder gruppenbezogenen Krankenkassentarifen oder in der Kriminalitätsbekämpfung bei der Vorhersage von Verbrechen gesehen. Im Kulturbetrieb finden Big Data Analytics zum Beispiel im Ticketverkauf Anwendung. Auf diese Weise lässt sich erfassen, wer wann, wie und wie oft an welchen (entgeltlichen) Kulturveranstaltungen teilgenommen hat. So lassen sich nicht nur Trends ablesen, sondern bezogen auf individuelle Kundendaten oder auch für Regionen Programmempfehlungen aussprechen. Auch in vielen anderen gesellschaftlichen Feldern sollen Big Data Analytics helfen, Produkte, Produktionen und Prozesse zu optimieren und es damit ermöglichen, flexibler auf Entwicklungen und Trends zu reagieren (Medizin, Finanzwesen, Energiesektor, Verkehr, Bildung etc.).
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Die neuartigen Methoden der Daten-Analyse und -bewertung unterscheiden sich von bisherigen Standardwerkzeugen dahingehend, dass große Datenmengen, unterschiedliche Datenformate und Datenquellen bearbeitet werden können. Beschrieben wird Big Data auch häufig mit dem „3-VModell“ des amerikanischen Analysten Doug Laney (2001), der die Herausforderungen des Datenwachstums als dreidimensional bezeichnet. Diese drei Dimensionen beziehen sich auf ein ansteigendes Volumen (engl. „volume“) der Daten, auf eine ansteigende Geschwindigkeit (engl. „velocity“), mit der Daten erzeugt und verarbeitet werden und auf eine steigende Vielfalt (engl. „variety“) der erzeugten Daten. Der Anstieg der Datenmengen ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass in den westlichen Industriestaaten und also auch in Deutschland immer mehr Menschen immer häufiger online sind (Koch/Frees 2016), vielmehr leben die Menschen bereits in einer digital-vernetzten Infrastruktur, in der nicht mehr nur internetfähige Informations- und Kommunikationstechnologien, sondern auch immer mehr Gegenstände des Alltags (z.B. Kühlschränke, Autos) miteinander vernetzt sind bzw. miteinander kommunizieren („Internet of Things“). Erweitert wird die Charakterisierung von Big Data in der jüngeren Zeit durch zwei weitere V-Begriffe: Zum einen wird die bereits angeführte monetäre Verwertung (engl. „value“) hervorgehoben. Zum anderen wird die Unsicherheit und die Unschärfe von Daten und ihren Analysen (engl. „veracity“) und damit auch die Sinnhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit von Big Data Analytics als Eigenschaft betont (vgl. Gapsky 2015: 10). Insgesamt ist festzuhalten, dass alle Informationen, die über digitale und vernetzte Technologien gesendet werden, prinzipiell gespeichert, analysiert, verknüpft und vermarktet werden können. Es handelt sich um Unternehmensdaten (z.B. Stammdaten, Transaktionsdaten), Kundendaten (z.B. Social Media, Verhaltensdaten), systematisch erstellte Daten (z.B. Logdaten, Standortdaten, Sensordaten), öffentlich verfügbare Daten (z.B. wissenschaftliche Publikationen, Marktdaten) (Pols 2016: 7) oder – anders systematisiert – Inhalte-Daten, Prozess-Daten und Programm-Daten (Gapski 2015: 66ff.). Verstärkt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Portabilität von Geräten. Neben Smartphones und Tablets sind es insbesondere die sogenannten Wearables – am Körper oder in der Kleidung befestigte computergestützte Geräte und Sensoren, wie Uhren oder Brillen (Smartwatches, Fitness-Tracker, Smart Glasses) –, die weitere Möglichkeiten der Datensammlung eröffnen. Der Verarbeitungsprozess der Datenmengen
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erfolgt anhand von Algorithmen – mathematische Berechnungsverfahren, die zum Beispiel darüber entscheiden, welche Suchergebnisse den Nutzerinnen und Nutzern im Internet angezeigt oder welche Personen in einer Partnerbörse als potenzielle Partnerinnen und Partner vorgestellt werden. Algorithmen sorgen einerseits für eine optimierte und effiziente Nutzung des Internets, andererseits fördert die Vorsortierung aber auch die Intransparenz. So haben die Nutzerinnen und Nutzer wenig bis gar keinen Einfluss darauf, welche Daten erhoben, analysiert und verknüpft werden oder wo die Daten dauerhaft gespeichert werden. Problematisch sind diese Berechnungsverfahren weiterhin, da sie Identifizierungen von Personen allein auf der Basis von Kontextdaten ermöglichen. So kann bereits auf Grundlage der Daten, die beim Online-Shopping, bei Suchanfragen im Netz und bei Streaming-Diensten gesammelt werden, eine Re-Identifizierung von Nutzerinnen und Nutzern erfolgen. Selbst Daten, die für sich genommen völlig harmlos wirken, bergen damit große Potenziale. Die intransparente Datensammlung und -verarbeitung betreffen damit unmittelbar die Persönlichkeitsrechte von Menschen. Die ambivalenten Potenziale, die aus der Sammlung und Aufbereitung personenbezogener Daten resultieren, systematisiert Alexander Filipovic (2014) anhand von drei Aspekten: 1) Vorhersage- und Manipulationsmöglichkeiten, 2) Überwachungsmöglichkeiten und 3) Ökonomisierungsmöglichkeiten. Diese können ergänzt werden durch Herausforderungen, die im medienpädagogischen Diskussionspapier zu Big Data und Big Data Analytics für die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) und die Initiative „Keine Bildung ohne Medien!“ (KBOM) formuliert wurden (vgl. Aßmann et al. 2016): 1) Vorhersage- und Manipulationsmöglichkeiten: Die Datafizierung und
das In-Beziehung-Setzen einer großen Menge individueller Daten lassen Rückschlüsse auf Gesundheit, Konsumabsichten, politische Einstellungen, Qualifizierungen oder die Herkunft einzelner Menschen oder Gruppen zu. Sie ermöglichen es weiterhin, Vorhersagen über zukünftige Zustände und Entwicklungen im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, im Kulturbetrieb, bei der Kriminalitätsbekämpfung etc. zu treffen („Predictive Analysis“). Problematisiert wird dies im GMK/KBOMPapier, da die Handlungsfreiheit aber auch die Willensfreiheit und Schuldfähigkeit eines Menschen infrage gestellt wird (vgl. ebd.).
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2) Überwachungsmöglichkeiten: Big Data ermöglicht neue Formen der
wirtschaftlichen und staatlichen Kontrolle. Mit der Zunahme an speicherbaren Datenerhebungs- und Monitoring- bzw. Überwachungspraktiken in privaten und öffentlichen Räumen (Videoaufzeichnungen, Standorterhebungen, Mobilfunknetzanmeldungen, Kommunikationsmetadaten u.v.m.) verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Ehemals schützenswerte Daten, zum Beispiel über die finanzielle Situation, die sexuelle und politische Orientierung oder die Gesundheit, werden gesammelt und verwertet. Dies stellt aus Sicht von GMK und KBOM einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung dar, nach der jede und jeder selbst darüber entscheiden können sollte, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Daten über ihn oder sie offenbart und ausgewertet werden. Auch sollte jede und jeder diese Entscheidungen nachträglich korrigieren dürfen. Konzepte wie Datensparsamkeit oder „Think before you post!“ erscheinen vor dem Hintergrund der Auswertung von Metadaten wenig hilfreich. Hier sehen GMK und KBOM zuvorderst die Dienstanbieter in der Verantwortung. Weiterhin möchten sie mit dem Diskussionspapier dazu anregen, über zu installierende Kontroll- und Prüfinstanzen nachzudenken und fordern verpflichtende und verständliche Anbieterinformationen über Auswertungsverfahren, datenschutzfreundliche Voreinstellungen im Abgleich mit Nutzungsmotiven und angemessene Prinzipien des „privacy by design“ („Datenschutz per Technik“) Darüber hinaus fördert der Einbezug schützenswerter Daten auch Diskriminierungen von Menschen und Menschengruppen. So kann beispielsweise einer Person, die von der Norm abweicht oder aus sicherheitspolitischer Perspektive verdächtige Datenspuren in Sozialen Netzwerken, Suchmaschinen etc. hinterlässt, die Einreise in ein Land verwehrt oder aufgrund der berechneten Zugehörigkeit zu einer „Risikogruppe“ der Zugang zum Arbeits- und Gesundheitssystem erschwert werden. Höchst problematisch ist daher der Leitsatz „Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten“. Dieses Argument ist angesichts des normbildenden und diskriminierenden Potenzials von Big Data Analytics („Predictica Analyse“) nicht nur bedenklich, sondern in Alexander Filipovics Augen auch unglaubwürdig und „höchst unsolidarisch“ (ebd.): „Es gibt Menschen, die wegen ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Krankheit etc. sehr wohl etwas zu verbergen habe[n], weil
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sie sich schützen müssen und ein Recht auf diesen Schutz haben.“ (ebd.) 3) Ökonomisierungsmöglichkeiten: Software und Informationen bilden die Grundlage globaler Konsum- und Finanzmärkte – die Datafizierung der Lebenswelten ist somit unmittelbar verknüpft mit der Ökonomisierung. Unternehmen können mithilfe von Big Data Analytics Risiken minimieren, Kunden binden, Profite steigern – und somit insgesamt effizienter werden und sich im Wettbewerb abheben. Die Vorhersage- und Manipulationspotenziale garantieren ihnen Vorteile auf dem Markt. Die Folge ist, „dass unsere Kommunikation und unsere Medienrezeption in einer rein ökonomischen, datengetriebenen Infrastruktur stattfinden und somit abhängig sind von wirtschaftlichen Interessen“ (Filipovic 2014). Im Positionspapier von GMK und KBOM wird gefordert, verstärkt Medienkompetenz im Sinne eines wissenden und kritischen Umgangs mit eigenen Daten und den Daten anderer zu fördern. Benötig würden insbesondere neue Konzepte und Methoden, um die ethischen Implikationen der neuen Berechenbarkeit des Menschen zu reflektieren. Notwendig sei auch ein (zivil-)gesellschaftlicher Handlungsrahmen, der die digitale Selbstbestimmung stärkt und die Unternehmen stärker in die Pflicht nimmt (vgl. Aßmann et al. 2016). Wichtig zu beachten ist, dass Daten nicht nur dazu genutzt werden, um Menschen zu kategorisieren oder zu überwachen. Sie können auch für intelligente Verkehrssysteme und zur Entlastung der Umwelt oder zur Sicherstellung flächendeckender medizinischer Betreuung genutzt werden. Solcherart produktive und gesellschaftlich wünschenswerte Nutzungsformen sind sicherlich weiterzuentwickeln, dabei ist – folgt man den Empfehlungen von GMK und KBOM – verstärkt die Frage zu stellen, welche Kompetenzen und Rahmenbedingungen nötig sind, um in einer medial geprägten und datafizierten Welt eine Persönlichkeit zu entwickeln, die Gesellschaft mitgestalten und ihr auch widerständig begegnen zu können. Gefordert wird im Zuge dessen, alle Bildungsbereiche in einer kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit den aktuellen Veränderungen zu stärken. „Denn gerade die politische Bildung, kulturelle Bildung und Ethik tragen entscheidend dazu bei, dass sich Individuen selbstbestimmt und reflektiert in einer digitalen Gesellschaft entfalten können.“ (GMK/KBOM 2016) Eine weitere wesentliche Forderung ist, ein Verständnis von Medienbildung zu fördern, das
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im Unterschied zur „digitalen Bildung“ ein umfassendes, auf Bildung und Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtetes Verständnis von Medienbildung unterstützt und Medienbildung dann auch bei der Diskussion, Planung und Gestaltung von Zukunftskonzepten der datafizierten Gesellschaft berücksichtigt (ebd.). Damit ist auch die Kulturelle Bildung gefordert. Wenn sich das Subjekt in datengetriebenen Zeiten weiterhin wirkmächtig und im Sinne eines anthropologischen Kulturverständnisses als Gestalter seiner Welt und von sich selbst erleben soll, ist es grundlegend zu verstehen, wie sich die Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung durch die kommerziellen und sicherheitspolitischen Datenerhebungs- und Datenauswertungspraktiken wandeln und Kultur aus Daten hergestellt wird.
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UND H ERAUSFORDERUNGEN EINER DIGITALEN T EILHABE Junge Menschen wachsen also in einer beschleunigten datengetriebenen Welt auf, in der nicht nur immer mehr Daten von ihnen gesammelt und verarbeitet werden, sondern ihre gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe auch untrennbar mit digitalen Medien verknüpft ist. Damit verändern sich die Entwicklungsbedingungen grundlegend. Wie gestalten Jugendliche diese Teilnahme? Wie partizipieren sie? Bereits vor über zehn Jahren beschrieb der Medienkulturforscher Henry Jenkins (2005) die gegenwärtige Kultur als „participatory culture“. Demnach seien die Medien- bzw. Konvergenzkulturen (ebd. 2006) sowohl durch recht niederschwellige Möglichkeiten des kulturellen Ausdrucks als auch des politischen und sozialen Engagements gekennzeichnet. Einen großen Vorteil sah Jenkins insbesondere darin, dass über digitale Medien neue Kanäle zur unmittelbaren Organisation eigener Interessen gegenüber Wirtschaft und Politik eröffnet würden. Empirische Studien über neue Formen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, sowohl in jugendkulturellen Kontexten als auch in Bildungsund Erziehungskontexten, liefern einige Hinweise dafür (Hugger 2014; Biermann/Fromme/Verständig 2013). Bezogen auf den deutschsprachigen Raum lassen sich in einer Untersuchung von Ulrike Wagner und Christa Gebel drei Formen der Partizipation in digitalen Medien differenzieren: Jugendliche partizipieren, indem sie
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a) sich positionieren (über Gruppenmitgliedschaften, Profilangaben oder
die eigene Selbstdarstellung eine Position zu gesellschaftlichen Diskursen oder kulturellen Phänomenen einnehmen), b) sich einbringen (die aktive Auseinandersetzung mit der Gegenwartskultur durch die kreative Nutzung von Kommunikationsplattformen suchen), c) andere aktivieren (Jugendliche z.B. durch die Verbreitung von Terminen und Petitionen zur Aktivität motivieren) (vgl. Wagner/Gebel 2014: 180ff.). Aktuelle Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (MPFS) zum Medienumgang von Kindern und Jugendlichen legen nahe, dass zumindest die technischen Möglichkeiten zur Partizipation in den Alltagswelten fast aller Heranwachsender vorhanden sind: Nahezu jedem Kind zwischen 6 und 13 Jahren steht im elterlichen Haushalt Fernseher, Handy/ Smartphone, Computer/Laptop und ein Internetzugang zur Verfügung. Fast jedes zweite Kind (47%) besitzt selbst ein eigenes Smartphone – hier lässt sich eine Verdreifachung innerhalb von zwei Jahren feststellen. Jedes dritte Kind (35%) hat einen eigenen Fernseher (vgl. MPFS 2015: 8f.). 87 Prozent der Kinder sind mindestens einmal pro Woche mit einem Computer oder Laptop online. Trotz steigender Nutzungszahlen digitaler und mobiler Medien, stellt das Fernsehen für Kinder allerdings immer noch das wichtigste Medium dar: Vier Fünftel der Kinder (79%) sehen fast täglich fern (vgl. ebd.: 20). Bei den 12- bis 19-Jährigen hingegen zeigt sich, dass die Zahl der internetfähigen Geräte im Besitz der Heranwachsenden in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist und sie heute selbstverständlich im Alltag online sind: 95 Prozent besitzen ein eigenes Smartphone mit Touchscreen und Internetzugang, drei Viertel (74%) einen eigenen PC oder Laptop und ein Drittel (30%) ein Tablet (vgl. MPFS 2016: 7). 96 Prozent nutzen mehrmals pro Woche das Internet. Am häufigsten gehen Jugendliche mit Handy und Smartphone ins Internet (91%); weit abgeschlagen sind Computer (11%) und Laptop (8%) (vgl. ebd.: 25). Mit ihren digitalen und mobilen Geräten sehen sie Videos (81%), versenden Fotos und Videos (75%), sehen Filme auf Streaming-Diensten (61%) und spielen Computer-, Konsolen- oder Onlinespiele (45%) (vgl. ebd.: 11). Vor allem aber kommunizieren junge
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Menschen miteinander: In allen Altersgruppen zwischen 12 und 19 Jahren stellt WhatsApp die wichtigste Applikation auf dem Smartphone dar. 95 Prozent aller Jugendlichen nutzen diesen Dienst mindestens mehrmals pro Woche, 89 Prozent sogar täglich (vgl. ebd.: 32). WhatsApp gehört organisatorisch zu Facebook und ist aufgrund mangelnder Datenschutzrichtlinien seit einigen Monaten in der Diskussion. Wozu nutzen Kinder und Jugendliche digitale Medien? Welche Funktion erfüllen sie? Eine detaillierte Sicht hierzu liefert die Mediensozialisationsforschung. Demnach bearbeiten Kinder und Jugendliche über ihr Medienhandeln Entwicklungsaufgaben und setzen sich im Zuge dessen auch mit gesellschaftlichen Werten und Normen auseinander (vgl. Schmidt/PausHasebrink/Hasebrink 2011; Wagner/Eggert 2013). Jan-Hinrik Schmidt, Ingrid Paus-Hasebrink und Uwe Hasebrink (2011: 18ff.) charakterisieren die Mediensozialisation mit digitalen Medien durch folgende vier Prozesse: 1) „Enthierarchisierung“, 2) „Direkte Beteiligungsmöglichkeiten“, 3) „Selbst- und Fremderfahrung“ und 4) „Entschulung und Entpädagogisierung“. 1)
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Enthierarchisierung: Medienangebote gewinnen neben Eltern als Vermittlungsinstanz für gesellschaftliche Normen und Werte an Bedeutung. Sie liefern ihnen in einer zunehmend individualisierten und pluralisierten Gesellschaft eine Vielzahl an Lebensentwürfen und Orientierungsangeboten bzw. „[…] Weltwissen in unterschiedlicher und kaum mehr überschaubarer Weise. Gleichzeitig erweitert der Zugang zu globalisierten Medienangeboten den Handlungsspielraum von Heranwachsenden, eröffnet ihnen Einblicke in (fremde) Lebensbereiche und Kulturen.“ (Ebd.: 18) Direkte Beteiligungsmöglichkeiten: Eine klare Trennlinie zwischen Produzierenden und Rezipierenden zu ziehen, wird im Kontext der Digitalisierung zunehmend schwerer. So können Heranwachsende nicht nur jederzeit Informationen zu ihren Interessen recherchieren, sondern parallel dazu auch ihre Ideen, Wünsche und Meinungen präsentieren oder zu Produkten, Dienstleistungen, politischen Entwicklungen etc. Stellung nehmen und ihre Haltung in Sozialen Netzwerken teilen. Die Rolle der Produzierenden und der Rezipierenden ist ihnen in einer digitalen Medienumgebung gleichermaßen zugänglich.
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Selbst- und Fremderfahrung: Viele Medienangebote sind auf die Bedürfnisse Heranwachsender abgestimmt und liefern eine Plattform zur Bearbeitung gesellschaftlicher Entwicklungsaufgaben und somit auch von Identitätsaspekten. Social-Web-Angebote bieten jungen Menschen beispielsweise Spielräume zur Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen, Körperbildern und Zukunftsmöglichkeiten (Selbstauseinandersetzung), Freundschaften und Beziehungen (Sozialauseinandersetzungen) sowie eigenen Erfahrungen und eigenem Weltwissen (Sachauseinandersetzungen) (vgl. ebd.: 27). Entschulung und Entpädagogisierung: Das Internet und Soziale Netzwerke bieten Kindern und Jugendlichen neue Möglichkeiten zu lernen und sich zu bilden. Alternativ zum schulischen formalen Lernen liefern die neuen Medienumgebungen Bewährungssituationen, die ihrem Leben nahe sind und die sie selbstverantwortlich mitgestalten können. Bedeutsam ist, dass sie weitgehend frei von erwachsenen Bezugspersonen und Kontrollinstanzen agieren können.
Digitale Medien stellen für Jugendliche somit heute einen maßgeblichen Faktor kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe dar. Allerdings sind die digitalen Medien nicht allen Jugendlichen gleichermaßen zugänglich bzw. können sich Jugendliche nicht in gleichem Maße produktiv einbringen oder selbstwirksam erfahren. Ulrike Wagner und Christa Gebel weisen zum Beispiel nach, dass Partizipation in digitalisierten Welten abhängig ist von lebensweltlichen Ressourcen (z.B. Zugang, Anregung, Unterstützung und Anerkennung durch Familie oder Peergroup) und auch von Ressourcen, die über das Medienhandeln selbst erworben werden (z.B. Orientierung, soziale Unterstützung, Medienkompetenz) (vgl. Wagner/Gebel 2014: 179). Ausgeschlossen sind bis heute insbesondere Jugendliche mit Behinderung (Bosse 2017) und geflüchtete Jugendliche (Kutscher/Kreß 2015). Darüber hinaus nehmen das Alter, das Geschlecht und der formale Bildungshintergrund Einfluss auf die Teilhabe und damit auch auf die Art und Weise der Internetnutzung. Einen einfacheren Zugang zu Informationsquellen und zu einem kreativen und vielseitigen Medienhandeln finden vor allem Jugendliche aus Milieus, die mit höheren sozialen und kulturellen Kapitalien ausgestattet sind (vgl. Wagner/Theunert 2006; Kutscher et al. 2015). Soziale Ungleichheiten werden darüber hinaus im Kontext der Nutzungspraktiken online weiter reproduziert (vgl. Iske et al. 2007; Tillmann 2008; Klein 2008).
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Eine weitere Herausforderung stellt die bereits erläutere Datafizierung dar. So ist die Teilnahme am Internet und somit auch der digitalen Kommunikation meist nur durch die Preisgabe persönlicher Daten möglich. In einer Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit (DIVSI) geben die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 14 und 24 Jahren (56%) an, dass sie ihre persönlichen Daten im Internet als „eher unsicher“ bis „völlig unsicher“ (DIVSI 2014: 143) einschätzen. Dies führt bei 20 Prozent der Befragten zu einer zeitlichen Einschränkung der Onlinenutzung (vgl. DIVSI 2014: 142). Hier zeigt sich ein aktuell nur schwer auflösbares Dilemma für Jugendliche: Wer nicht in Sozialen Netzwerken oder über einen Messenger erreichbar ist, gehört im Zweifelsfall nicht mehr dazu, ist uninformiert, wird nicht gesehen und nicht gehört. Teilhabe ist für Jugendliche somit untrennbar mit Digitalität verknüpft.
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Mit der zunehmenden Bedeutung digitaler Medien für gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse werden auch die Anforderungen an das Individuum deutlich erhöht. Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben setzt nicht nur einen kritischen und reflektierten Umgang mit digitalen Medien voraus, sondern verlangt auch ein Orientierungswissen. So stellt sich auch die Medienpädagogik verstärkt die Frage, wie medienpädagogische Angebote, die sich mit Fragen des Datenschutzes oder der Überwachung befassen, zu gestalten sind (vgl. Aßmann et al. 2016). Eine Abstinenz von Datendiensten scheint keine Option zu sein, da dadurch Partizipations-, Informations- und Bildungsmöglichkeiten verhindert werden (Morozov 2015). Gefordert werden vielmehr rechtliche und sozioökonomische Rahmenbedingungen, die verhindern, dass die (digitale) Partizipation manipulativ missbraucht wird. Gefordert wird weiterhin eine verstärkte Förderung der medienkritischen Dimension von Medienkompetenz (vgl. Dander 2014; Brüggen 2015). Medienkritik stellt im Medienkompetenzmodell von Dieter Baacke (1996) neben der Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung ein wesentliches Aufgabenfeld zur Erweiterung des Orientierungsund Handlungsspielraums von Menschen dar. Im Sinne Baackes soll der Mensch durch die Entwicklung von Medienkompetenz befähigt werden, sich in gesellschaftliche Diskurse einzumischen und sich – so lässt sich
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anknüpfend an Wagner und Gebel (2014: 180ff.) anfügen – zu positionieren, sich einzubringen und andere zu aktivieren. In dem genannten Diskussionspapier von GMK und KBOM werden weitere Forderungen aufgestellt, die sich auch auf die Kulturelle Bildung übertragen lassen. Formuliert wird in dem Diskussionspapier, dass es das Ziel praktischer medienpädagogischer Ansätze sein muss, „dass Personen ein aufgeklärtes Verhältnis zu diesen Entwicklungen erreichen, d.h., dass sie in der Lage sind, die Einflussnahme der datafizierten Umwelt auf ihr Leben zu erkennen und sich für die Gestaltung einer in wünschenswertem Maße datafizierten Zukunft zu engagieren.“
Weiter heißt es: „Die Herausforderung besteht darin, neue medienpädagogische Methoden zu entwickeln und bewährte Konzepte und Ansätze, zum Beispiel Medienkritik, aktive Medienarbeit, journalistische und spielerische Annäherungen weiterzuentwickeln.“ (Aßmann et al. 2016)
Hier kann auch die Kulturelle Bildung ansetzen, deren Aufgabe ja doch auch die „Kulturelle Medienbildung“ umfasst. Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) führt als Gegenstand der Kulturellen Medienbildung explizit die digitalen Medien an und definiert sie folgendermaßen: „Kulturelle Medienbildung setzt auf Aufklärung und Kompetenzbildung und nutzt die kreativ-gestaltenden ebenso wie die bewusstmachend-reflektierenden Potenziale, die allen Angebotsformen Kultureller Bildung eigen sind. Nur so kann eine konstruktive, angemessene und sichere Nutzung der Medien erprobt und erlernt werden. Kulturelle Medienbildung vermittelt Fähigkeiten wie Symbol- und Bildsprachenkompetenz, Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, Text- und Sprachkompetenz, die Voraussetzungen sind für Persönlichkeitsbildung und -entfaltung in der Netzgesellschaft.“ (BKJ o.J.)
Auch in der Kulturellen Bildung ist es somit das Ziel, einen aufgeklärten, kompetenten, konstruktiven und auch sicheren Umgang mit digitalen Medien zu ermöglichen. Somit ist auch die Kulturelle Bildung aufgefordert,
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sich mit dem Thema der Datafizierung auseinanderzusetzen und die Kommunikationskultur und digitale Infrastruktur aktiv mitzugestalten. Die künstlerisch-kreative Auseinandersetzung mit den abstrakten Themen der Digitalisierung kann sich hier als besonders wertvoll erweisen. Ein Beispiel liefert das Haus der elektronischen Künste (HeK) in Basel, wo Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung „Poetics and Politics of Data – Ambivalenz des Lebens in der Datengesellschaft“ (HeK 2015) ihre Ansätze zur künstlerisch-gestalterischen Auseinandersetzung mit Aspekten der Digitalisierung, wie Überwachung, Datensammlungen, Privatsphäre, Post-Privacy und Soziale Netzwerke, präsentiert haben (vgl. ebd.). Mit bildender Kunst, Theaterpädagogik, Tanz etc. besitzt die Kulturelle Bildung die kreativen Potenziale und vielfältigen Vermittlungswege, um die Abstraktheit, Unsichtbarkeit und Komplexität der Datenverarbeitung und ihre soziale und kulturelle Wirkkraft in eine verständliche und eine den Zielgruppen angemessene Darstellung zu übersetzen und erfahrbar zu machen. Hilfreich ist dafür freilich ein Dialog zwischen den Akteurinnen und Akteuren der Kulturellen Bildung, der Medienpädagogik, der Informatik und anderen, um verschiedenartige Übersetzungsleistungen zu erproben und praxistaugliche Methoden für eine kritisch-reflexive, sozialverantwortliche und auch demokratietaugliche Nutzung von Informationstechnologien zu entwickeln. Darüber hinaus gilt es aber sicher auch, weiterhin die kreativgestaltenden Potenziale in den Angebotsformen der Kulturellen Bildung zu nutzen, um vielseitige Zugänge zu sich selbst und der Welt jenseits des Digitalen zu eröffnen.
F AZIT Für Kinder und Jugendliche stellt sich die Welt immer schon digitalisiert dar. Sie nutzen digitale Medien ganz selbstverständlich in ihrem Alltag und verstehen Teilhabe als digitale Teilhabe. Wer nicht in Sozialen Netzwerken oder über den einen Messenger erreichbar ist, gehört im Zweifelsfall nicht dazu und kann auch nicht mitreden. Zudem eröffnen digitale Medien zusätzliche Möglichkeiten, sich sowohl darzustellen, zu erproben und neue Zugehörigkeiten herzustellen als auch neue Optionen sozial, politisch und kulturell zu partizipieren. Während Jugendliche teilhaben, hinterlassen (nicht nur) sie jedoch permanent, bewusst wie auch unbewusst, Datenspu-
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ren. Diese Datenspuren bzw. Daten dienen zum einen der Vermessung der Einzelnen, zum anderen geht es aber auch immer darum, Muster zu erkennen und das Leben in vielen Lebensbereichen berechenbarer bzw. vorhersagbarer zu machen. Eng damit verknüpft sind Wertefragen. Zur Diskussion stehen aktuell die grundlegenden Rahmenbedingungen zur kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe. Weitere Fragen, die in diesem Beitrag nur in Ansätzen behandelt wurden, beziehen sich auf kommunikationskulturelle Problemlagen des Internets. Zu den Schattenseiten zählen derzeit insbesondere die soziale Ungleichheit, Desintegration, soziale Ausgrenzungen, Diskriminierung und Gewalt, die mit den aktuellen, in der öffentlichen Wahrnehmung stark präsenten Phänomenen wie Online-Hatespeech, Cybermobbing, informationelle Desinformation und extremistischer Propaganda verbunden sind. Darüber hinaus gilt es kritisch zu beobachten, wie sich im Zuge der permanenten Selbstaufzeichnung und -vermessung neuerliche Möglichkeiten zur Selbstoptimierung auf das Individuum („Self-Scoring“) und soziale Miteinander („Social-Scoring“) auswirken. Der Fokus ist somit insgesamt darauf zu richten, wie sich im Zuge der Datafizierung die Kultur und damit auch die Werte und Normen wandeln. Kulturelle Bildung kann und sollte dabei eine besondere Rolle einnehmen. Auf der einen Seite besitzt sie die Potenziale, mit kreativen Methoden den Abstraktionsgrad, die Intransparenz und die Komplexität der Datenverarbeitung und ihre soziokulturelle Wirkkraft zu übersetzen und erfahrbar zu machen. Gleichzeitig bietet die Kulturelle Bildung ihren Zielgruppen neue Möglichkeiten der Positionierung und Artikulation und fördert damit auch die gesellschaftliche Verständigung über die Frage, was ein gutes Leben in der Digitalisierung bedeutet (Tillmann 2017). Dafür braucht es nicht zuletzt fachliches Wissen über das Aufwachsen und Leben in digital-vernetzten Welten und ihren Herausforderungen. Dieses Wissen ist bei der Planung kulturpädagogischer Projekte zu berücksichtigen. Eine Voraussetzung dafür ist freilich, dass sich die Akteurinnen und Akteure der Kulturellen Bildung mit ihrer eigenen Medienbildung und mit ihrer eigenen Haltung zu Themen der Digitalisierung auseinandersetzen (vgl. Helbig 2016). Kulturelle Bildung sollte darüber hinaus aber auch weiterhin Räume eröffnen, die – zumindest für eine begrenzte Zeit – frei von jedweder Digitalisierung und ihren Themen sind und Menschen somit alternative Zugänge zu sich und der Welt eröffnen und die Wahrnehmung und Achtsamkeit gegenüber Menschen, Dingen und der Welt fördern.
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Die späte, fragwürdige und wenig aussichtsreiche Ökonomisierungskritik der Kulturellen Bildung F RANZ K ASPER K RÖNIG
Das Thema der Ökonomisierung der Bildung bzw. des Sozialen oder der Gesellschaft wird seit den 1990er Jahren vermehrt aufgeworfen, kritisch diskutiert (vgl. Krönig 2007) und ist seit den 2000er Jahren zu einem „Dauerthema“ (Bango 2001: 60) geworden. Dass die Kulturelle Bildung sich mit diesem Thema in der Breite erst aktuell zu beschäftigen beginnt, kann auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen interpretiert werden. Zum einen könnte man gleichsam objektivistisch argumentieren, dass Prozesse der Ökonomisierung in die verschiedenen Sektoren des Sozialen nacheinander eindringen und dass die Kulturelle Bildung – vielleicht, weil sie im Vergleich zum Gesundheitswesen oder der formalen Bildung ökonomisch nicht so wichtig ist? – erst jetzt als einer der letzten Bereiche dran ist. Zum anderen könnte man wissenssoziologisch argumentieren, dass die Kulturelle Bildung aus historischen und institutionellen, das heißt kontingenten Gründen einen vergleichsweise großen Abstand zu erziehungswissenschaftlichen Diskursen und v.a. zu den entsprechenden Debatten in den Bezugswissen-
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schaften (Soziologie, Politikwissenschaft) unterhält1 und daher erst relativ spät irritativen Reflexionen dieser Wissenschaften ausgesetzt wurde. Während letztere Deutung wohl kaum zur Gänze von der Hand zu weisen ist, scheint der erste Punkt, sollte er haltbar sein, von höherer Relevanz, auch für die Praxis, zu sein.
S ELBSTÖKONOMISIERUNG K ULTURELLEN B ILDUNG
DER
Ökonomisierung soll hier nicht als etwas verstanden werden, das die Wirtschaft mit anderen Systemen macht, schon gar nicht im Sinne eines Eindringens der Wirtschaft in soziale Bereiche. Aus einer systemtheoretischen Sicht sind diese Konstruktionen schlichtweg unsinnig (vgl. Krönig 2007) und auch allgemein gesellschaftstheoretisch zu schlicht (vgl. Höhne 2015: 5ff.), was hier aber nicht ausgeführt werden soll. Die folgenden Überlegungen beruhen nämlich nicht auf einer These von Ökonomisierung als einem objektiven, realen Phänomen, das man durch den einen Begriff richtig und durch den anderen falsch fassen oder bezeichnen könnte. Demnach werden die folgenden Erörterungen nicht dadurch berührt, dass man – natürlich – auch andere Ökonomisierungsbegriffe, einschließlich des eben ausgeschlossenen, anderen Untersuchungen zugrunde legen kann. Hier geht es allein um einen bestimmten Ökonomisierungsbegriff mit dem Anspruch, näher zu bezeichnende Entwicklungen auch im Bereich der Kulturellen Bildung auf struktureller Ebene interpretieren zu können. Gleichgültig also, ob man Ökonomisierung als Prozess, der von außen (der Wirtschaft, ggf. in Verquickung mit Politik) in soziale Bereiche wie in den der Kulturellen Bildung hineinwirken könnte, denken kann, oder – wie hier behauptet – eben nicht: Ökonomisierung der Kulturellen Bildung wird
1
Dass in den „letzten Jahren eine beschleunigte Professionalisierung in den verschiedenen kulturpädagogischen Arbeitsfeldern“ (Fuchs 2010: 93) und eine entsprechende Akademisierung zu beobachten ist, macht die „Zeitverschiebung“ beispielsweise im Vergleich zur Schulpädagogik deutlich. Eine vergleichbare Zeitverschiebung im Sinne einer verspäteten Aktualität der Ökonomisierung bzw. deren Thematisierung ist im Bereich der Frühpädagogik zu konstatieren (vgl. Hölter 2016: 63).
Ö KONOMISIERUNGSKRITIK
DER
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im Folgenden ausschließlich auf Fragen danach bezogen, auf welche Weise und weshalb sich Kulturelle Bildung selbst ökonomisiert. Bevor herausgearbeitet werden kann, worin diese Selbstökonomisierung besteht und woran sie zu erkennen ist, muss allerdings eine Einschränkung dessen, was unter Kultureller Bildung verstanden werden soll, erfolgen. Kulturelle Bildung ist ohne Frage ein extrem verwalteter Bereich (vgl. Krönig 2016), auch in dem banalen Sinn, dass Kulturelle Bildung von einer Vielzahl an Organisationen verschiedener Art verwaltet wird. Das ließe sich von der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) über die Europäische Union (EU), Bundes- und Landesministerien, Stiftungen und Hochschulen bis zur kleinsten Musikschule ausbuchstabieren. Die „beiden Kriterien des Effizienzprimats und der Vermarktlichung […] als unabdingbare Kernkriterien von Ökonomisierung“ (Höhne 2015: 24) lassen sich auf Kulturelle Bildung, insofern sie organisiert ist, leicht – und relativ folgenlos – anwenden. Wie jede Organisation sind auch die Organisationen, die man im engeren Sinne (und nicht der Governance-Position) der Kulturellen Bildung zurechnen würde, also Proben-, Begegnungs-, Aufführungs- und Ausbildungsstätten Kultureller Bildung, stets zugleich wirtschaftliche Instanzen. Indem sie Geld kosten, Personal bezahlen, Arbeitsplätze vorhalten (oder abbauen), Geld ausgeben oder investieren, „operieren alle Organisationen im Wirtschaftssystem“ (Luhmann 2000: 405). Ökonomisierung auf dieser Ebene bedeutet schlicht eine Effizienzsteigerung in der Form von Rationalisierung und (meist) Standardisierung organisatorischer Abläufe. Solange man sich darin einig ist, dass Kulturelle Bildung nicht im Wesentlichen aus organisatorischen Abläufen besteht, handelt es sich bei diesem Sachverhalt allerdings um eher äußere, kontextuelle Bedingungen Kultureller Bildung. Entscheidend muss doch die Frage sein, was mit den Prozessen und Aktivitäten selbst, die man unter dem Begriff der Kulturellen Bildung versammelt (vgl. Fuchs 2007: 10), geschieht. Verändern sich die konkreten Aktivitäten, Prozesse und Praktiken im Zuge einer Ökonomisierung? Die Frage ist nicht präzise genug. Es wäre ja durchaus denkbar, dass sich zum Beispiel Theaterstücke mit Ökonomisierung als einem gesellschaftlichen Thema beschäftigen. Gleichgültig, ob diese thematische Auseinandersetzung als kritisch oder affirmativ betrachtet würde – als Ökonomisierung des Theaters könnte sie doch wohl kaum verstanden werden. Von einer Ökonomisierung der Kulturellen Bildung wäre in diesem Sinne erst zu sprechen, wenn sich die Art
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und Weise der Bearbeitung – gleichgültig welchen Themas, entsprechend veränderte. Systemtheoretisch würde man hier von der Operationsweise des Systems sprechen. Während es eine erhebliche empirische Aufgabe wäre, zu erforschen, ob und in welcher Weise sich diese Operativität, das heißt die Arbeitsweise konkreter Praxis ändert, ist es möglich, auf sozusagen einer Stufe höher, Hinweise darauf zu beziehen. Man kann nämlich die Semantiken der Kulturellen Bildung auf Ökonomisierungsprozesse hin untersuchen.
Ö KONOMISIERUNG AUF DER E BENE VON UND S ELBSTBESCHREIBUNG
S EMANTIK
Mit Semantik meint die Systemtheorie „höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann 1980: 19). Wie in jedem Feld – um nicht ohne Not von System zu sprechen – greifen Individuen beim Sprechen (und Denken) auf Formulierungen, Phrasen und Begriffe zurück, die in diesem Feld vorliegen. Das Sagbare ist demnach nicht allein grammatikalisch limitiert (vgl. Whorf 1956: 212), sondern zugleich inhaltlich präfiguriert (allerdings nicht determiniert). Würden Individuen nicht auf verfügbaren, sozusagen überindividuellen, nämlich sozialen Sinn zugreifen, könnten sie sich überhaupt nicht verständigen. Unter dem Begriff der Semantik wird die Grobkörnigkeit besonders einflussreicher Sinnelemente hervorgehoben. Das heißt, dass es beispielsweise in der Kulturellen Bildung zu einer bestimmten Zeit Formulierungen gibt, auf die die Akteurinnen und Akteure zugreifen können und die zugleich die Erfahrbarkeit und Verbalisierbarkeit der Kulturellen Bildung asymmetrisieren. Bestimmte Deutungen werden durch die Verfügbarkeit entsprechender Formulierungen und Begriffe wahrscheinlicher, andere unwahrscheinlicher. Kulturelle Bildung ist allerdings im systemtheoretischen Sinne kaum als eigenes Funktionssystem zu begreifen. Vielmehr könnte man argumentieren, dass es sich um ein Programm des Bildungssystems mit besonders ausgeprägter struktureller Kopplung zur Kunst handelt. In jedem Fall grenzt sich Kulturelle Bildung von Kunst und von Pädagogik im Hinblick auf eine eigene, spezifische Funktion ab. Das geschieht, indem eigene Semantiken ausgebildet werden, die die Ausbildung einer Selbstbeschreibung ermöglichen. Auf deren Grundlage kann eine Einheit der Kulturellen Bildung sym-
Ö KONOMISIERUNGSKRITIK
DER
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bolisiert und zur Selbstvergewisserung bzw. -reflexion herangezogen werden. Der grundsätzlich selbstbejahende Charakter von Selbstbeschreibungen (vgl. Luhmann 2002: 169) lässt sich auf genau diese Funktion der Einheitsprojektion und Selbstvergewisserung zurückführen. Für unsere Frage ist nun entscheidend, dass sich in den Selbstbeschreibungen feldspezifische semantische Strukturen von sozusagen mittlerer Stabilität finden lassen. Die Semantiken der Kulturellen Bildung sind zum einen veränderbar und stehen im aktuellen Zusammenhang zu sozialstrukturellem Wandel, auf dessen Ebene schließlich eine Ökonomisierung anzusetzen wäre. Zum anderen sind sie im Unterschied zu bloßem Gerede hinreichend stabil bzw. strukturell, um beobachtbar und als Teil der einheitsstiftenden Selbstbeschreibung wirksam sein zu können. Semantiken lassen sich daher als Indikatoren und Katalysatoren sozialen Wandelns untersuchen: „Die Semantik von Selbstbeschreibungen ist gleichsam von Anfang an beteiligt an der Verfertigung und Strukturierung jener Elemente, die sozialstrukturelle Bedeutsamkeit erlangen sollen.“ (Stäheli 1998: 323)
Ö KONOMISIERUNG K ULTURELLER B ILDUNG IM HISTORISCHEN K ONTEXT Wenn die Kulturelle Bildung also (autonom!) Semantiken ausarbeitet und ihre Selbstbeschreibung verändert, kann das unter Umständen die eigene Operationsweise, Funktion und Leistung so beeinflussen, dass von einer Selbstökonomisierung gesprochen werden könnte. Dazu müsste es der Kulturellen Bildung gelingen, Kernsemantiken auszubilden, die eine Nähe der Präferenzwerte Kultureller Bildung zu denen der Wirtschaft darstellbar machen. Es lässt sich nachweisen, dass die Pädagogik und die Kunst in den 1970er Jahren ebensolche Semantiken im Hinblick auf politische Präferenzwerte in das Zentrum ihrer Selbstbeschreibungen rückte. Emanzipation und Mündigkeit der Pädagogik waren zugleich als politisch zu verstehen; ebenso das Engagement der Kunst (vgl. Krönig 2007: 81ff.). Entsprechend war zu dieser Zeit von einer Politisierung der Pädagogik (vgl. Dienst 1977:
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175ff.; Knoll 2016) und der Kunst2 die Rede. Die Übernahme politischer Begriffe durch Pädagogik und Kunst ist sowohl für die betreffenden Systeme als auch für die Gesamtgesellschaft alles andere als bloß eine Ausstaffierung mit modischen Begriffen der Zeit. Macht die Pädagogik politisch verstandene Begriffe wie Mündigkeit und Emanzipation zum Kern ihrer Selbstbeschreibung, könnte das doch heißen, dass sie ihre Operationsweise, ihre gesellschaftliche Funktion und die Priorität ihrer Leistungsbezüge zu den anderen Systemen radikal ändert. Hat man es dann überhaupt noch mit Pädagogik zu tun? Ist die Änderung der Funktion und Operation eines Systems nicht dessen Ende bzw. eher eine Revolution als eine Evolution? Offenbar gelingt es der Pädagogik (und anderen Systemen), Innovation in den Selbstbeschreibungen zuzulassen und gleichzeitig ihre Funktion und Operation relativ stabil zu halten. Gleichzeitig ist es nicht denkbar, dass sich die Selbstbeschreibungen ändern, ohne dass die Operation des Systems davon berührt würde. Schließlich orientiert sich die Praxis, das heißt die konkreten Operationen, nicht an einem abstrakten Code, sondern gerade an den Semantiken, die die Werte und Perspektiven zur Verfügung stellen. Ob ich ein Kind in einem Musikangebot irgendwie am Instrument probieren lasse oder es auffordere, eher planmäßig, systematisch und strukturiert zu üben, kann ich nur im Rückgriff auf Semantiken der Selbstbeschreibung begründen, wobei es offensichtlich auch möglich ist, die eigene diesbezügliche Entscheidung nicht zu beobachten, zu reflektieren und in ihrer Legitimationswürdigkeit zu erkennen – das wird dann allerdings als unprofessionell beschrieben. Den Trick der Pädagogik, ihre eigene Operation als zugleich pädagogisch und – in diesem Falle – politisch zu sehen, kann man als „generative Metaphorisierung“ (vgl. Krönig 2007: 51ff.) verstehen. Dadurch
2
Die Politisierung der Kunst lässt sich sicherlich noch weniger als die der Pädagogik einer bestimmten Dekade zuordnen, sondern quer durch das 20. Jahrhundert verfolgen (vgl. Hieber 2015). Gleichwohl ist die These einer Politisierung der Kunst in den 1970er Jahren – unabhängig davon, ob es sich um eine neue Form von Politisierung handelt oder nicht – kaum von der Hand zu weisen. Dazu genügt schon ein Verweis auf die diesbezüglichen Diskussionen im Kontext der Studentenbewegungen und zum Kontrast die „in der Folge der deutschen Wiedervereinigung medienweit und intensiv betriebene Entpolitisierung und Diskreditierung politischer Dimensionen überhaupt in Fragen des Ästhetischen“ (Barck/Faber 1999: 7).
Ö KONOMISIERUNGSKRITIK
DER
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wird die Paradoxie der Gleichsetzung der verschiedenen Präferenzwerte der jeweiligen Systeme unsichtbar gemacht und dynamisiert. Würde die Pädagogik sich tatsächlich als politisch im vollen Sinne sehen, könnte von Pädagogik keine Rede mehr sein: Es wäre zu einer Entdifferenzierung gekommen. Gleichwohl wird die pädagogische Präferenz moduliert, sodass es zu einer Umdeutung des eigenen Präferenzwerts (besser lernen? Bildung?)3 zu einem Wert kommt, der sich als zugleich pädagogisch und politisch verstehen lässt (Emanzipation? Freiheit? Mündigkeit?). Dabei handelt es sich nicht um eine von außen aufgezwungene Anpassung der Selbstbeschreibung, sondern um eine autonome Ausbildung von Semantiken, die die Selbstbeschreibung in einer Weise moduliert, dass die eigene gesellschaftliche Relevanz (Funktions- und Leistungsbezüge) aktualisiert wird und verstärkte strukturelle Kopplungen zu als dominant wahrgenommenen Systemen aufgebaut werden können.
Q UALITÄT Dass die Qualitätssemantik in der Pädagogik seit den 1990er Jahren eine besondere Rolle bei der beobachteten Ökonomisierung spielt (vgl. Krönig 2007), ist mittlerweile mehr als deutlich geworden. Qualität, wie sie hier verstanden wird, muss standardisiert werden; sie muss verglichen werden mit dem Ist-Zustand der Prozesse, Strukturen und Produkte; sie muss über konkrete Maßnahmen implementiert und regelmäßig evaluiert werden. Qualität erfordert also Messung, Standardisierung und Steuerung. Dass sich das Erziehungssystem in dieser Form von Steuerung einem zentralen und nicht selbst definierten Qualitätsziel unterordnet, scheint unverständlich zu sein, solange man die Möglichkeit einer forcierten Steuerung (Instruktion, Determination) von außen theoretisch ausschließt. Aber auch empirisch sind Zwangsmittel wie Schulschließungen bzw. deren glaubhafte Androhung im Rahmen des NCLB-Programms (vgl. Center for Education and Workforce 2011; vgl. Wood 2004) in den USA in Deutschland noch nicht auf dem Tisch. Eine Erklärung kann man in dem Präferenzcharakter des
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Bezüglich der Codierung des Erziehungssystems gibt es bei Niklas Luhmann selbst und in der systemtheoretischen Literatur verschiedene Ideen, von denen sich bislang keine etabliert hat.
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(ökonomisierten/ökonomisierenden) Qualitätsbegriffs finden; eines Begriffs, der seinen inhärenten Steuerungssinn hinter seiner schönen semantischen Form verbirgt und es ermöglicht, die zugrunde liegenden Konzepte und vor allem Werte als zugleich pädagogisch zu sehen, denn „[w]er wollte schon gegen Qualität argumentieren?“ (Böttcher 1999: 21) Folgt man dieser Argumentation, nach der der Qualitätsbegriff eine Ausrichtung des Erziehungssystems an Zielen und Werten ermöglicht, die der Messbarkeit, Standardisierung und Steuerung zugänglich sind, ist allerdings noch nicht gesagt, ob und wie dies im Zusammenhang zu Ökonomisierung steht. Dass öffentlich geförderte Einrichtungen und Programme Kultureller Bildung nicht nur effizient mit Mitteln umgehen sollen, sondern zudem nachweisen müssen, dass sie die in sie gesetzten Erwartungen bzw. Leistungsansprüche erfüllen, wäre jedenfalls noch nicht als Ökonomisierung zu bezeichnen, aber gleichwohl mit dem Qualitätsbegriff zu fassen. Gibt eine öffentliche oder auch private Stelle Geld beispielsweise für ein Projekt der Kulturellen Bildung, kann sie verlangen, dass Ziele und Kriterien der Zielerreichung definiert werden. In diesem Sinne war es eine gewisse Zeit lang möglich, eigene, das heißt kulturpädagogische Qualitätskriterien zu erarbeiten, die genau diese Ansprüche adressieren (vgl. Fuchs 2010: 92f.), wobei ein Überblick über die aktuellen „Qualitätskataloge der Kulturellen Bildung“ deutlich macht, dass spezifische Qualitätsverständnisse, die entsprechend auch die Dimension des Ästhetischen in den Blick nehmen, marginal sind (vgl. Unterberg 2014: 9). Als Instrument der Ökonomisierung fungiert der Qualitätsbegriff erst, wenn er – wie oben skizziert – die Modulation der spezifisch kulturpädagogischen4 Operationsweise ermöglicht. Beobachtbar wird diese Modulation an der entsprechenden Veränderung der Selbstbeschreibungen Kultureller Bildung. Es muss sich zeigen lassen, wie neue Semantiken zentrale, das heißt orientierende Funktionen einnehmen und wie bestehende Semantiken Bedeutungsverschiebungen unterzogen werden. Im Folgenden soll nur der Qualitätsbegriff entsprechend untersucht werden, da es sich dabei – wie angedeutet – nicht allein um eine zentrale Semantik der Selbstbeschreibung Kultureller Bildung handelt, sondern
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Wenn hier „kulturpädagogisch“ als Adjektivbildung zu „Kultureller Bildung“ verwendet wird, soll damit keine Aussage in Bezug auf das Verhältnis von Kultureller Bildung und Kulturpädagogik gemacht werden.
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zudem um eine generative Metapher, die die Umdeutung anderer Semantiken ermöglicht. Auf der einen Seite können wir beobachten, wie sich Akteurinnen und Akteure auf verschiedenen Ebenen der Qualitätssicherung und -verbesserung in der Kulturellen Bildung widmen. Von der UNESCO angefangen über die Bundes- und Landesministerien und große Stiftungen wie die Stiftung Mercator und die Bertelsmann Stiftung kann dieses Engagement am besten mit dem Begriff der educational governance bzw. dem der Neuen Steuerung (vgl. Fend 2014) des Bildungssystems beschrieben werden. Gesteuert wird nicht über (demokratische) politische Entscheidungen (vgl. Burchardt 2014), sondern über Messung, Standardisierung, Evaluation, Wettbewerb, Leitbilder, Programme, Forschungsansätze, Anreizsysteme, und – zunächst vielleicht irritierend, aber gouvernementalitätstheoretisch erklärbar: Autonomisierung, zum Beispiel in der Form selbstständiger(-er) und dann auch unternehmerischer Musikschulen und Musik- und Kunsthochschulen sowie Kulturzentren. Zum einen sind es die genannten großen Stiftungen, die diese Agenda, die im formalen Bildungssystem schon implementiert werden konnte, nun im non-formalen Bereich der Kulturellen Bildung systematisch vorantreiben. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Qualitätsbegriff, an den sich, wie gezeigt, das gesamte Steuerungsinstrumentarium von Messung über Standardisierung bis zur Evaluation anknüpfen lässt. Dass das politische Interesse an non-formaler und informeller Bildung ökonomisch motiviert ist, wird in keiner Weise verborgen. Beispielsweise schreibt der Rat der Europäischen Union: „The validation of learning outcomes, namely knowledge, skills and competences acquired through non-formal and informal learning can play an important role in enhancing employability and mobility, as well as increasing motivation for lifelong learning, particularly in the case of the socio-economically disadvantaged or the low-qualified.“ (EU 2012: 1)
Peter Moss (2015: 1) bezeichnet diese bildungspolitisch vorherrschende Erzählung lohnender Investitionen im Bildungsbereich als „Story of Quality and High Returns“. Entscheidend ist dabei für unsere Frage, dass die Kulturelle Bildung gute Gründe hat, sich diese Story anzueignen, und das heißt: die entsprechenden Semantiken in die Selbstbeschreibung aufzunehmen. Der gesamte Verwaltungsapparat der Kulturellen Bildung profitiert
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zunächst ganz unmittelbar von dieser Story in Form der durch sie legitimierten Investitionen. Es werden von Bundesministerien große sogenannte Forschungsprogramme aufgesetzt, die ziemlich unverhohlen die Fortschreibung, Unterfütterung, Begründung und Ausschmückung der Story zum Gegenstand machen. Insbesondere die Erforschung der Wirksamkeit kulturpädagogischer Projekte im Hinblick auf Transfereffekte, die sich als arbeitsmarktpolitisch relevant darstellen lassen, wird gleichsam im wörtlichen und im heideggerschen Sinne bestellt (vgl. Heidegger 1956: 60f.). Große Stiftungen flankieren diese Bemühungen und setzen starke Anreize für diesbezügliche Projekte und Programme bzw. setzen sie operativ eigenhändig um. Aber nicht nur die Hochschulen und Stiftungen, die ja eher dem Kontext der Kulturellen Bildung zuzurechnen sind, sondern die kulturpädagogischen Facheinrichtungen und Zentren markieren ihre Qualität und Innovation im Rückgriff auf Semantiken, die sich für die ökonomische Investitionslogik unmittelbar anschlussfähig machen. Bildungschancen und kulturelle Teilhabe aller zu erhöhen, ist ein sozusagen einheimischer Bestandteil der Selbstbeschreibung Kultureller Bildung. Dieser Aspekt muss nur prominenter in das Schaufenster der Selbstbeschreibung positioniert und mit Accessoires drapiert werden, die die spezifischen Leistungsbezüge5 betonen. Diese liegen sowohl im Bereich der Transfereffekte als auch in dem des Präventionsparadigmas. Das Schulklima verbessert sich (was den Output schulischer Leistung im Hinblick auf ihre Qualifizierungsfunktion erhöht), das Miteinander und die Gemeinschaft werden gestärkt (und damit Folgekosten sozialer Exklusion minimiert, die bis hin zu Gewalt und Vandalismus imaginiert werden können), kulturelle Teilhabe wird ermöglicht (wodurch Integrationsleistungen6 auf vergleichsweise kostengünstige Art
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In der Systemtheorie wird die Beziehung eines Funktionssystems zu einzelnen anderen Systemen „Leistung“ genannt; die Beziehung eines Systems zur Gesamtgesellschaft ist seine Funktion (vgl. Luhmann 1994: 63).
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Betrachtet man kulturelle Teilhabe unter dem Aspekt der Kultur, kann das sehr leicht ein bürgerliches, objektivistisches Kulturverständnis befriedigen – ein Verständnis einer Kultur, an der nun auch andere teilhaben können sollen, was sie schließlich ihrer (konstruierten) Andersheit entwaffnen und sie kulturell einordnen bzw. assimilieren soll. Die scheinbare Überwindung der Konstruktion von Andersheit kann hier in der Form einer Einforderung von Gleichheit daherkommen.
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erbracht werden) und es werden im Sinne einer „neoliberale[n] Formung des Subjekts“ (Fuchs 2014) die Dispositionen kreativer, unternehmerischer, flexibler zukünftiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (aus-)gebildet. Dieses (autonome) Ausstellen und Überbetonen der eigenen Leistungsbezüge im Hinblick auf ökonomische und arbeitsmarktpolitische Erwartungen (und nicht etwa: religiöse, wissenschaftliche, kunstbezogene …) und die damit verbundenen semantischen Anstrengungen können als Ökonomisierung der Kulturellen Bildung bezeichnet werden. Qualität ist – neben zum Beispiel Kompetenz – eine besonders mächtige Semantik, die diese Ausrichtung ermöglicht, indem sie sie nach außen hinreichend sichtbar macht (in Form der neuen Relevanz Kultureller Bildung) und zugleich intern hinreichend invisibilisiert.
Ö KONOMISIERUNGSKRITIK IN DER K ULTURELLEN B ILDUNG : F AZIT UND A USBLICK Wie gezeigt, haben die mächtigen Akteurinnen und Akteure im Feld der Kulturellen Bildung ein Interesse an einer Ökonomisierung. Die educational governance von UNESCO über EU und die Bundes- und Landesministerien ist primär darauf ausgerichtet, den spezifischen Beitrag der Kulturellen Bildung sozusagen zu kapitalisieren bzw. zu kommodifizieren. Im besten Fall kann man das als treuhänderische Investitionslogik verstehen: Eingesetztes Kapital der Steuerzahlerinnen und -zahler muss Kapital erzeugen, sei es auch indirekt im Sinne von Sozialkapital, Humankapital, sozialem Frieden oder effizienter Prävention. Die großen Stiftungen wie Mercator oder Bertelsmann haben ein intrinsisches politisches Interesse an einer Steuerung der Kulturellen Bildung über Messung, Standardisierung und Evaluation. Die Überzeugung, über diese Maßnahmen Qualität herstellen und sogar eine bessere (= wettbewerbsfähigere) Gesellschaft zu formen, hat sich bereits in mehreren Politikfeldern durchgesetzt (vgl. Schuler 2010) und geht mittlerweile auch dem sicher nicht als „links“ zu bezeichnenden Lehrerverband deutlich zu weit (vgl. Kraus 2011). Was die Rolle der Hochschulen betrifft, muss man zur Kenntnis nehmen, wie sich Forscherinnen und Forscher bemühen, in einem harten Wettbewerb, „internationale Leitbilder von Verwaltungsgremien mit ihrem Herzblut auspinseln“ (Adorno 1979: 139) zu dürfen, indem sie die in den entsprechenden Ausschreibun-
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gen eingeforderten Nachweise gelingender Investition erbringen. Auch hier gilt, dass sie sich dabei zugleich für Kulturelle Bildung (ihre Wichtigkeit, ihre Wirkung etc.) zu engagieren meinen, indem sie die Ökonomisierungssemantiken reproduzieren und damit Ökonomisierungsprozesse antreiben. In gleicher Weise stärken die Verbände und Fachstellen der Kulturellen Bildung Ökonomisierungsprozesse, indem sie – was sollten sie auch anderes tun? – ihre Forderungen gegenüber der Politik für diese anschlussfähig machen, das heißt deren Semantiken und Argumentationen reproduzieren bzw. noch besser: weiterentwickeln und fortschreiben (man ist ja schließlich kreativ). Welche dieser Akteurinnen und Akteure sollte sich nun vor diesem Hintergrund aus welchem Grund gegen eine Ökonomisierung der Kulturellen Bildung engagieren? Ist eine Distanzierung von den dargestellten Qualitätssemantiken in Sicht, die nicht zugleich eine Distanzierung von den Eigeninteressen bedeutet? Ein Weg scheint darin zu bestehen, neue Semantiken auf den Plan zu rufen, die vorgeblich mit den neoliberalen Semantiken des Qualitätsdiskurses in Widerspruch stehen: Exzellenz, Wettbewerb, Kompetenz, Eigenverantwortung und Kreativität sind Beispiele für Semantiken, die nun in ihrer neoliberalen Gestalt bzw. Transformation (im Falle der letzten beiden) kritisiert werden. Dies geschieht im Rückgriff auf kommunitaristische7 Formeln wie wechselseitige(!) Verantwortung, Gemeinschaft und Care im Sinne einer Überwindung neoliberaler Werteorientierung. Nikolas Rose hat allerdings schon vor mehr als 20 Jahren beschrieben, wie diese Wendung vollkommen kapitalismuskompatibel, nämlich als „advanced liberal“ (Rose 1996: 331) gelingt. Weit davon entfernt, auch nur im Geringsten etwas an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu ändern, werden nun zusätzlich noch nicht zur Gänze kapitalisierte bzw. kommodifizierte Ressourcen gehoben. „Government through community“ (ebd.: 332) kann als eine weitere, fortgeschrittene Form der Regierung analysiert werden, die gerade nicht machtkritisch und gefährlich auf gesellschaftliche Solidarität setzt, sondern vielmehr auf eine weitere gesellschaftliche Entsolidarisierung zugunsten sich selbst (kostengünstig) kontrollierender fragmentierter Gemeinschaften (vgl. Kessl 2000). Dass die Wertebezüge bzw.
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Für eine hervorragende Einführung in die Liberalismus-/KommunitarismusDebatte und deren maßgebliche, aber erziehungswissenschaftlich deutlich unterrepräsentierte Relevanz für die Pädagogik (vgl. Binder 2003).
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die Moralisierung im Kommunitarismus eine Form von mit Macht- oder sogar Zwangsmitteln ausgestatteter Kontrolle darstellt (vgl. Pearson 1995) bzw. genau diese Funktion äquivalent zu Polizei und Strafvollzug erbringt, wird von Amitai Etzioni als einem der Hauptvertreter des Kommunitarismus unverblümt zugegeben (vgl. Etzioni 2015). Bevor sich die Kulturelle Bildung den kommunitaristischen Formeln in zu kurz gegriffener Kritik an neoliberalen (individualistischen) Semantiken zuwendet und damit meint, einer Ökonomisierung zu entgehen, wäre kritisch zu prüfen, ob sie dabei nicht in die nächste Falle tappt.
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Lernziel Lebenskunst: Ein widerspenstiger Prozess M AX F UCHS
„L ERNZIEL L EBENSKUNST “ –
WAS IST DAS ?
Heute ist der Begriff der Lebenskunst in kulturpädagogischen Kontexten durchaus verbreitet. Dies war vor einigen Jahren noch nicht der Fall, denn zu dieser Zeit hätte man bei der Rede von einer Lebenskunst eher esoterische Kontexte vermutet. Dies ist natürlich heute auch noch der Fall, doch gibt es in der Philosophie, in der Psychologie, in den Sozialwissenschaften und nicht zuletzt der Pädagogik seit den 1990er Jahren fruchtbare Debatten über diesen Begriff. Man kann feststellen, dass der Begriff gleichzeitig recht alt, aber auch ziemlich jung ist. Daher ein Blick in seine Genese. Interessanterweise tauchte der Begriff – zum Teil unabhängig voneinander – in verschiedenen Kontexten auf. Eine erste wichtige Quelle sind die Spätschriften des französischen Philosophen Michel Foucault, der – durchaus überraschend für seine Anhängerinnen und Anhänger – nach seinen sensiblen systematischen und kulturgeschichtlichen Untersuchungen zur Epistemologie und zu Fragen der Macht und ihrer Durchsetzung (Foucault 2005) das Konzept der Lebenskunst im Rahmen einer Debatte um die „Sorge um sich“ bzw. „Selbstsorge“ aufgriff und in einigen Büchern den Umgang mit sich in der griechischen Antike untersuchte (z.B. ebd. 1995). Auf dieser Grundlage entwickelte der Philosoph Wilhelm Schmid (1998; siehe auch seinen Beitrag in BKJ 1999) im Kontext der Individualethik eine Philosophie der Lebenskunst, die – ungewöhnlich für ein systematisches philosophisches Grundlagenwerk – zu einem Bestseller wurde.
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Seither hat Schmid diesen Gedanken in zahlreichen Publikationen fortgeführt und präzisiert. Unabhängig von diesem philosophischen Diskurs entwickelte der Pädagoge Ulrich Baer (1997) in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW konzeptionelle Grundlagen für den von ihm neu übernommenen Fachbereich Kulturpädagogik und er fand sie in diesem Leitbegriff der Lebenskunst. In diesem Zusammenhang spielten Fragen der Entwicklung von Identität (mit künstlerischen, medienpädagogischen und spielpädagogischen Mitteln) ebenso eine Rolle wie die Frage danach, wie eine gelingende Lebensführung aussehen könnte, bei der Glück und Zufriedenheit im Mittelpunkt stehen. Dieser Ansatz erschien so fruchtbar, dass er von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ 1999; 2001), dem bundesweiten Dachverband, aufgegriffen und in einem mehrjährigen Modellprojekt erprobt wurde. Eine weitere Entwicklungslinie ergab sich in der Soziologie und in der Sozialpsychologie, in der man seit Längerem bereits die Kategorien des Lebensstils und der Lebensführung – und dies etwa im Kontext der Thematisierung des Alltags – wiederentdeckte (Projektgruppe 1995). Im Vorwort zu dem ersten Ergebnisband des BKJ-Projekts „Lernziel Lebenskunst“ heißt es: „Für die Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung wird die Diskussion einer so verstandenen ‚Lebenskunst‘ daher zu dem dritten, abschließenden Schritt einer mehrjährigen intensiven Konzeptdiskussion: nach einer umfassenden Bestandsaufnahme von gesellschaftlichen Herausforderungen im Jahre 1992, nach einer gründlichen Diskussion der Rolle von Kunst und Ästhetik im Prozess des Aufwachsens im Jahre 1996 dient nunmehr der Fokus Lebenskunst dazu, die künstlerische und soziale Dimension auf kulturpädagogisch inszenierte Bildungsprozesse zu konzentrieren.“ (BKJ 1999: 7)
Das Konzept der Lebenskunst sollte dabei den eingeführten Begriff der Kulturellen Bildung nicht ersetzen, sondern durch seine Offenheit und seine sprachliche Attraktivität Fantasien freisetzen, in welcher Weise kulturelle Bildungsarbeit geeignet ist, die individuelle Lebensführung der betreffenden Menschen zu qualifizieren. Unter Lebenskunst wurde die fortwährende Gestaltung des Lebens und des Selbst verstanden, wobei insbesondere die
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Potenziale kulturpädagogischer Arbeitsmethoden und speziell der Künste benutzt werden sollten. Dabei ging es nicht um ein Individuum, das in einer sozialen Oase abgeschottet von gesellschaftlichen Problemlagen lebt, sondern es wurden bewusst soziale, politische und ökonomische Rahmenbedingungen des individuellen Lebens einbezogen. Es ging also um ein emanzipatorisches Verständnis von Bildung, die wiederum als Gesamtheit von Dispositionen der oder des Einzelnen verstanden wurde und wird, unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, die diesem Ziel nicht immer zuträglich sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: Die Sorge um sich, so auch schon Schmid im Anschluss an Foucault, schließt die Sorge des Individuums um die Gesellschaft mit ein (zur politischen Dimension der foucaultschen Texte siehe auch Fuchs 2011a: 80 ff.). Eine gewisse Orientierung darüber, was die Rede von einem guten, gelingenden und glücklichen Leben bedeuten kann, liefert die Begriffsbestimmung des Philosophen Martin Seel: „Ein gelingendes Leben hat, wem es gelingt, ein auf ungezwungene Weise selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein glückliches Leben hat, wem sich in einem selbstbestimmten Leben die wichtigsten eigenen Wünsche erfüllen. Ein gutes Leben hat, wer ein mehr oder weniger glückliches und gelungenes Leben führt.“ (Seel 1995: 127)
A NTHROPOLOGISCHE G RUNDLAGEN Diese normative Zielsetzung, so wie sie sowohl in den Schriften von Wilhelm Schmid als auch in der obigen Formulierung von Martin Seel zu finden ist, muss in einer sich als Wissenschaft verstehenden Kulturpädagogik (Braun/Fuchs/Zacharias 2015) begründet werden. Ein Begründungsweg besteht darin, solche Ziele und Visionen des guten Lebens als menschgemäß nachzuweisen. Dies bedeutet, dass man etwa die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie zurate ziehen kann. Die philosophische Anthropologie ist dabei in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in eine neue Phase eingetreten, in der nicht mehr bloß weltanschaulich interessierte Spekulationen über das Bild des Menschen im Mittelpunkt stehen, sondern wo Philosophen wie Max Scheler und Helmuth Plessner ihre anthropologi-
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schen Überlegungen auf der Basis des zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Wissens angestellt haben (Plessner 1976). Den Begriff der Lebensführung hat dabei einige Zeit früher bereits der Soziologe Max Weber bei seiner Analyse des Kapitalismus verwendet, als er nämlich in seinen Studien herausfand, dass ein Spezifikum der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Notwendigkeit einer methodischen Lebensführung ist. Helmuth Plessner wiederum entwickelte seinen anthropologischen Ansatz rund um das Kernkonzept der „exzentrischen Positionalität“. Dies bedeutet, dass der Mensch – anders als Tiere – nicht „aus seiner Mitte“ lebt, sondern (virtuell) in Distanz zu seiner eigenen Lebensrealität treten kann, sodass er diese reflexiv beobachten, bewerten, gestalten und gegebenenfalls verändern kann. Damit wird bewusste Lebensführung zu einem wesentlichen Bestimmungsmerkmal dessen, was Menschsein bedeutet: Der Mensch gewinnt die Freiheit weg von einem bloß instinktgeleiteten Leben, sieht sich aber (paradoxerweise) mit einem Zwang zur Freiheit konfrontiert, weil er seine lebensrelevanten Entscheidungen nun alle selbst auch treffen muss. Die Rede von einer Lebenskunst eröffnet hierbei die Möglichkeit, mit verschiedenen Bedeutungen des Kunstbegriffs zu arbeiten. In einer historischen Perspektive ist Kunst die deutsche Übersetzung des lateinischen Begriffs ars, der wiederum die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs techné ist. Techné bezieht sich hierbei nicht auf die schönen Künste, sondern meint regelgeleitetes Tun, meint Herstellung und Handwerk. Es geht bei einer so verstandenen Lebenskunst um vernünftige Regeln des Lebens, die man lernen und einüben kann. In diesem Sinne hat bereits Johann Wolfgang von Goethe von einer Lebenskunst gesprochen, wenn er etwa diätetische Regeln der richtigen Ernährung beschrieb. Natürlich macht es auch Sinn, von Kunst in unserem heutigen modernen Sinn zu sprechen. Es geht um eine ästhetische Gestaltung des Lebens, so wie es bereits der Philosoph Eduard Spranger (1921/1965) in seinem damals verbreiteten Buch „Lebensformen“ beschrieben hat. In diesem Buch, das Spranger im Untertitel eine Ethik der Persönlichkeit nennt, stellt er „ideale Grundtypen der Individualität“ vor: den theoretischen Menschen, den ökonomischen Menschen, den ästhetischen Menschen, den sozialen Menschen, den Machtmenschen und den religiösen Menschen. In der Tradition des ästhetischen Denkens, spätestens seit der Aufklärung, bedeutete die ästhetische Dimension der Lebensgestaltung, sich nicht nur immer Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung mit den damit verbunde-
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nen Gefühlen der Lust und Unlust zu verschaffen, sondern diese Überlegungen waren immer auch mit einer Vision des guten Lebens verbunden, so wie sie etwa Friedrich Schiller in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ beschrieben hat. Das Ästhetische bedeutete hierbei eine Loslösung von den Zwängen der Gesellschaft, bedeutete eine zumindest zeitweilige Befreiung von dem Zwang, funktionieren zu müssen. In dieser Hinsicht ist Freiheit ein Grundbegriff des Ästhetischen (Fuchs 2011b; vgl. auch Bockhorst 2011). Entstanden ist diese Vision von Schiller auf der Basis einer ersten handfesten Kulturkritik der Gesellschaft. Man erinnere sich, dass Mitte des 18. Jahrhunderts in England die Industrialisierung begonnen hat und sich im 19. Jahrhundert mit großer Geschwindigkeit auch auf dem Kontinent ausbreitete. Mit dieser Industrialisierung, verbunden mit der Durchsetzung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, waren furchtbare Lebensbedingungen der betroffenen Menschen verbunden. Man kritisierte daher immer heftiger die Zerrissenheit, man sprach zum ersten Mal von Entfremdung und man formulierte – etwa in der Romantik – die Sehnsucht nach einer neuen Ganzheitlichkeit, in der alle Facetten des Menschseins zu ihrem Recht kommen. Beide Gedanken, das Ziel einer selbstbestimmten, bewussten und methodischen Lebensführung (Max Weber, Helmut Plessner) und die Vision einer Selbstbefreiung des Menschen mittels einer künstlerischen Praxis werden in dem kulturpädagogischen Konzept der Lebenskunst zusammengeführt. Es muss allerdings dabei berücksichtigt werden, wie stark sich nach der Wende zum Subjekt in der Philosophie von Immanuel Kant eine überbordende Vorstellung der Gestaltungsfähigkeit des Subjekts in der Romantik und in der Philosophie von Johann Gottlieb Fichte verbreitete, sodass sich vor dem Hintergrund dieser überzogenen Vorstellungen von Autonomie bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Stimmen breitmachten, die sich von einem so verstandenen autonomen Subjekt verabschieden wollten. So spricht die Pädagogin Käthe Meyer-Drawe (1990) von „Illusionen von Autonomie“. Es geht also um das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie. In dieser Hinsicht ist auf die Überlegungen von Ludger Heidbrink (zitiert in Kersting/Langbehn 2007: 261ff.) hinzuweisen, der darstellt, dass nicht jede Einschränkung einer totalen Selbstbestimmung bereits Fremdbestim-
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mung bedeutet. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, das Leben gerade nicht als Kunstwerk, sondern als Handwerk zu verstehen und er formuliert als Ziel der Lebenskunst, dass dieses darin bestehe, „zwischen individueller Selbstständigkeit und äußeren Widerständen eine zustimmungsfähige Übereinstimmung herzustellen“ (ebd.: 286). Es geht also um Grenzen der Selbstbestimmung. Der französische Sozialpsychologe Alain Ehrenberg (2004) weist sogar darauf hin, dass eine zu rigide Vorstellung von Autonomie eine wesentliche Ursache für die heute verbreitete Massenkrankheit der Depression ist, weil mit einer solchen Vorstellung ein Scheitern vorprogrammiert ist.
W IDERSTÄNDIGKEIT ALS B ILDUNGSZIEL UND DAS STARKE S UBJEKT Vor dem Hintergrund der obigen kritischen Ausführungen wundert man sich vielleicht darüber, dass nunmehr von einem „starken Subjekt“ die Rede ist (Fuchs 2016; Taube/Fuchs/Braun 2017). Denn es geht nicht bloß um das Subjekt, dessen Tod zuletzt von Michel Foucault verkündet wurde, dieses Subjekt soll auch noch stark sein. Dieses Konzept eines starken Subjekts ist eng verbunden mit dem Prinzip der Widerständigkeit. Was bedeutet dies? Das Attribut der Stärke wird offenbar politisch gewollt. Denn das Bundesbildungsministerium hat ein Programm mit einem in diesem Feld ungewohnten Umfang von 230 Millionen Euro aufgelegt, bei dem unter dem Motto „Kultur macht stark“ Kulturprojekte speziell mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen gefördert werden. Es gehört dabei durchaus zu den Zielen dieses Programms, dass Kinder und Jugendliche mithilfe kulturpädagogischer Methoden gestärkt werden sollen bei ihrer Lebensbewältigung. Lebensbewältigung wiederum ist ein älteres Konzept, das insbesondere in der Sozialpädagogik von Hans Thiersch, Richard Münchmeier und Lothar Böhnisch als Leitkonzept in den 1980er Jahren propagiert wurde (aktuell Litau et al. 2016). Es ging (zunächst) um eine Neukonstituierung der Sozialen Arbeit angesichts einer damals populären Gesellschaftsdiagnose, die die Gesellschaft als „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) etikettierte. Eine deutliche Verschärfung dieses kritischen Gesellschaftskonzepts ergab sich seit den 1990er Jahren, als sich nämlich nach dem Ende des Ost-
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West-Konflikts ein neoliberaler Kapitalismus in nahezu allen Ländern darum bemühte, soziale Absicherungen, die bislang zur Tradition eines Sozialund Wohlfahrtstaats gehörten, immer mehr abzubauen. Man sprach dabei zwar durchaus von einem starken Subjekt, wobei die Stärke dieses neoliberalen Subjekts darin bestand, sich als „Unternehmen seiner selbst“ und als „Ich-AG“ in einer härter werdenden wirtschaftlichen und sozialen Lage zu bewähren (Bröckling 2007). In der Bildungs- und Wissenschaftspolitik wurde diese Entwicklung flankiert durch die Umsetzung des Bologna-Prozesses, der zu einer starken Verschulung der universitären Ausbildung führte, und einer Schulreform, die sich sehr stark an den Ergebnissen der quantitativen Evaluation der PISA-Studien orientiert. Im gleichen Maße, wie die Lebensbedingungen einer neoliberalen Gesellschaftsordnung härter für die oder den Einzelnen wurden, wurden kritische Gesellschaftstheorien wiederbelebt (Jaeggi/Loick 2014). In diesen Kontext gehört ein wachsendes Interesse an dem Bildungsprinzip der Widerständigkeit, so wie es etwa von Autorinnen und Autoren formuliert wurde, die sich auf den Bildungstheoretiker Hans Joachim Heydorn beziehen (Bernhard 2011). Im Hinblick auf die „Ästhetisierung der Lebenswelt“ (Wolfgang Welsch) und die wachsende Rolle der Kulturindustrie für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen entwickelt der Essener Erziehungswissenschaftler Armin Bernhard (zitiert in Braun/Fuchs/Zacharias 2015: 245 ff.) eine „pädagogische Ästhetik“ als kritische Instanz der Reflexion kulturellästhetischer Bildungs- und Erziehungsprozesse. Es geht ihm dabei um eine Konzeption ästhetischer Bildung „als konsequente Blockierung subtiler kultureller Enteignung unseres Bewusstseins“ (ebd.: 251). Es geht ihm um eine „kämpfende Ästhetik“ im Sinne des deutsch-schwedischen Schriftstellers Peter Weiß mit seiner „Ästhetik des Widerstands“. Es geht ihm um „die Reflexion auf den Zustand der eigenen Vermüllung […] [als] Grundbedingung für die Beleuchtung einer Bildung, die dem Menschen aufhelfen kann“ (ebd.: 274).
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Z UR K ONSTITUTION
VON
S UBJEKTIVITÄT
Das Subjekt ist der einzelne Mensch, der willens und in der Lage ist, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Damit dies gelingen kann, benötigt es Wissen, Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es in einem lebenslangen Bildungsprozess erwirbt. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass bestimmte Rahmenbedingungen vorliegen müssen, die einen solchen Bildungsprozess ermöglichen. Denn bei diesem Bildungsprozess braucht der Mensch eine Vielzahl von Unterstützungsleistungen. Deshalb unterhält die Gesellschaft ein teures und gut ausgebautes Bildungssystem, wobei die oder der Einzelne eine immer längere Lebenszeit in diesem Bildungssystem verbringt. Man spricht von einem Moratorium, was heißt, dass die heutige Gesellschaft bei den Heranwachsenden im Gegensatz zu früheren Zeiten viele Jahre auf eine Beteiligung an der gesellschaftlichen Produktion verzichtet. Auch dies ist ein Ergebnis der Modernisierung und Industrialisierung, weil sich in einer modernen industriellen Gesellschaft – anders als in der Agrarwirtschaft früherer Zeiten – die notwendigen individuellen Dispositionen nicht im Selbstlauf herstellen. Es geht also um Wissen und Können, es geht um Fähigkeiten und Fertigkeiten, es geht aber auch um Werthaltungen und Einstellungen. Neben dem öffentlichen Bildungswesen gibt es eine Vielzahl anderer Bildungsorte, an denen der Mensch Wissen, Fertigkeiten und Werthaltungen entwickelt. So spricht man in der Sozialisationsforschung nicht nur über die Schule als zentralem Bildungsort, sondern auch über die Familie, über die Peergroups, über Jugendeinrichtungen, über Vereine und Verbände, über Medien, die alle ebenfalls eine bildende und erzieherische Wirkung auf die Einzelne oder den Einzelnen ausüben. Es hat sich in den letzten Jahren eingebürgert, von formaler, nonformaler und informeller Bildung zu sprechen. Formale Bildung bezieht sich dabei auf organisierte Lehr-Lernprozesse, die professionell gestaltet sind, sich an einem staatlich sanktionierten Lehrplan orientieren und mit einem anerkannten Zertifikat enden. Non-formale Bildungsprozesse werden ebenfalls professionell organisiert, allerdings ohne eine Orientierung an verbindlichen Lehrplänen und auch ohne Abschlusszertifikat. Man spricht davon, dass in formalen und non-formalen Bildungsprozessen nur etwa 20 Prozent der später benötigten Kompetenzen erworben werden. Der erhebliche Rest wird in informellen Bildungsprozessen erworben,
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also in Lernprozessen en passant, die einfach deshalb stattfinden, weil man sich in bestimmten Umgebungen befindet und an den dortigen Praktiken beteiligt ist. Es liegt auf der Hand, dass die Vielzahl dieser erziehenden und bildenden Einflüsse auf den einzelnen Menschen nicht nur unterschiedliche Wirkungen haben, sondern dass durchaus unterschiedliche Ziele explizit oder implizit verfolgt werden. So ist es einsichtig, dass es kein Staat, der immerhin erhebliche Mittel für ein flächendeckendes Bildungssystem ausgibt, es dem Zufall überlässt, welche Bildungs- und Erziehungsziele in den Bildungseinrichtungen verfolgt werden. Man kann die Bedeutung der Bildungsarbeit daran erkennen, dass es in der Bildungspolitik immer wieder heftige Auseinandersetzungen über Ziele, Inhalte und Organisationsformen im Bildungswesen gibt: Wie in jedem Politikfeld gibt es erheblich divergierende Interessen. Man kann daher davon sprechen, dass der Erwerb von Handlungsfähigkeit zu den Grundlagen der jeweiligen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung gehört. Vor diesem Hintergrund ist es nützlich, an die holzkampsche Unterscheidung von restringierter und erweiterter Handlungsfähigkeit zu erinnern (Holzkamp 1983). Eine restringierte Handlungsfähigkeit ermöglicht es der oder dem Einzelnen, in dem gegebenen Regelsystem ohne Wunsch auf dessen Veränderung handlungsfähig zu bleiben. Eine erweiterte Handlungsfähigkeit schließt dagegen eine kritisch-reflexive Haltung zu den jeweils vorfindlichen Verhältnissen ein, verbunden mit dem Wunsch und der Fähigkeit, die Rahmenbedingungen des Lebens nach eigenen Interessen zu gestalten. Der bereits oben erwähnte Bildungstheoretiker Hans Joachim Heydorn (1970) hat gerade für die bürgerliche Gesellschaft immer wieder auf den Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft hingewiesen: Gerade eine hoch entwickelte moderne Gesellschaft braucht auf der einen Seite gut gebildete Menschen, wobei es jedoch in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder dazu gekommen ist, sehr vorsichtig mit den Bildungsmöglichkeiten für alle umzugehen. Dem Traum des Comenius, dass es darum ginge, allen Menschen alles zu lehren, steht immer wieder der Kampf um das Bildungsmonopol und die damit verbundene Erhaltung der Gesellschaftsstruktur entgegen (Alt 1978). Vor diesem Hintergrund kann man den Trend, eine neoliberale Denkweise, also ein durchgängiges Marktprinzip, bei dem Unterstützungsleistungen des Staats immer weiter zurückgefahren und gesellschaftliche Risi-
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ken der oder dem Einzelnen aufgebürdet werden, als Versuch betrachten, ein neues Wertesystem und eine neue gesellschaftliche Grundordnung durchzusetzen. Dies betrifft auch diejenigen Bereiche unserer Gesellschaft, die zumindest eine relative Autonomie – auch auf der Basis unseres Grundgesetzes (Art. 5) – für sich beanspruchen können. Dies betrifft zum einen die Wissenschaft und zum anderen die Künste. Man muss etwa sehen, dass der Bologna-Prozess mit seinen Organisationsprinzipien performativ neoliberales Denken in den Hochschulbereich einbringt. Ebenso gibt es eine Ökonomisierung und Kommerzialisierung im Kunstbereich, die die hehren humanistischen Ziele der Autonomieästhetik, so wie sie von Kant, Schiller und auch Wilhelm von Humboldt formuliert wurden, ad absurdum führen. Aus dieser Situation, die bislang noch nicht entschieden ist, ergeben sich einige Fragen, Probleme und Herausforderungen speziell zur kulturellen Bildungsarbeit.
H ERAUSFORDERUNGEN
UND
W IDERSPRÜCHE
1) In jedem unserer Schulgesetze werden Bildungs- und Erziehungsziele
formuliert, die durchaus in der humanistischen Tradition der Weimarer Klassik stehen. Es geht um Mündigkeit und Emanzipation, es geht um die Befähigung zu einem selbstbestimmten Leben, es geht um die Entwicklung eines starken Subjekts. Gleichzeitig befinden sich unsere Schulen fest in der Hand des Staats wie sonst kaum in einem anderen entwickelten Land. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Struktur unseres Bildungswesens (Mehrgliedrigkeit, Bildungsungerechtigkeit, der enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg etc.) zeigen, dass der Kampf um das Bildungsmonopol und um die Ziele, die das öffentliche Schulwesen verfolgen soll, keineswegs abgeschlossen ist. Gerade vor dem Hintergrund unserer Bemühungen um eine kulturelle Profilierung von Schule (kulturelle Schulentwicklung und Kulturschule, Fuchs 2012) ist es daher eine interessante und gesellschaftlich hoch relevante Forschungsfrage, ob und wieweit es gelingt, dass sich das emanzipatorische Potenzial, das in einer ästhetischen Praxis steckt, so wie es Schiller in seiner politischen und pädagogischen Utopie beschrieben hat, im Kontext der Zwangsanstalt Schule entfalten kann. Be-
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reits Friedrich Schleiermacher, und nach ihm zu Beginn des 20. Jahrhunderts Siegfried Bernfeld, wussten schon, dass die Verhältnisse erziehen. Andererseits weiß man, dass es bislang noch nie gelungen ist, eine totale Institution in dem Sinne aufzubauen, dass widerständiges Denken und Handeln nicht mehr möglich sind. Man wird also beobachten müssen, inwieweit eine Kulturschule als Teil des öffentlichen Schulwesens die – durchaus in den Schulgesetzen geforderte – Ausrichtung auf Mündigkeit und Emanzipation realisieren kann. Einen vergleichbaren Konflikt findet man im außerschulischen Bereich im Kinder- und Jugendhilfegesetz. Man weiß, dass sich Jugendpolitik im Kaiserreich als weitere Disziplinierungsmaßname für Jugendliche (v.a. für junge Männer) entwickelt hat. Das erste Jugendhilfegesetz aus dem Jahre 1922 hat zwar das Erzieherische und Pädagogische gestärkt, doch wurde das Disziplinierende nicht beseitigt. Auch die heutige Jugendhilfe kennt diesen Widerspruch zwischen pädagogischen und disziplinierenden Absichten. 2) Im außerschulischen kulturpädagogischen Bereich wird ausgesprochen kontrovers diskutiert, welche Folgen die Kulturindustrie und insbesondere die Medien auf die Entwicklung der Menschen haben. Bekanntlich beeinflusst Theodor W. Adorno mit seiner These von der „Kulturindustrie“, die seiner Meinung nach jede Form von Bildung verhindert und letztlich ein kaum zu überwindendes Unterdrückungspotenzial darstellt, bis heute den Umgang mit der sogenannten populären Kultur. Dagegen gibt es viele Beispiele, in denen gezeigt werden kann, dass auch eine kommerzialisierte Kulturindustrie emanzipatorisches Potenzial hat. 3) Kernbegriff der Ästhetischen Bildung im Hinblick auf das Subjekt ist der Begriff der ästhetischen Erfahrung. Ein Streitpunkt in dieser Hinsicht besteht darin, an welchen Gegenständen man ästhetische Erfahrungen machen kann – und dann auch: welche Erfahrungen es sind. Es gibt Positionen, die die etablierten Künste als die geeignetsten (z.T. sogar die einzigen) Gegenstände betrachten, an denen ästhetische Erfahrungen durchaus in einer humanisierenden Zielstellung gemacht werden können. Das Problem mit dieser Position besteht darin, dass es die reale Kunstentwicklung nahezu unmöglich macht, „Kunst“ im Sinne dieser Position zu definieren. Zudem tragen die Globalisierung und die mit ihr verbundene Internationalisierung dazu bei, sich mit Kunstauffassungen in anderen Ländern und Kontinenten zu befassen. Hierbei stellt sich
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heraus, dass der bei uns für selbstverständlich gehaltene Kunstkanon in dieser Weise auf anderen Kontinenten in seiner Legitimität durchaus bezweifelt wird. So hatten Kolleginnen und Kollegen aus Asien, Südamerika und Afrika im Vorfeld der ersten Weltkonferenz zur Künstlerischen Bildung vehement die Festlegung der Organisatoren auf Musik, bildende Kunst und Theater mit dem Hinweis kritisiert, dass in ihrem Land Stelzenlaufen, Haare-Flechten oder Weben sehr viel verbreitetere Kunstformen seien als diejenigen, die zu dem europäischen Kunstkanon gehören. 4) Ein letzter wichtiger Aspekt betrifft die oft formulierten Ziele kultureller Bildungsarbeit. So ist häufig von Kreativität die Rede, man spricht von Flexibilität, von Eigenverantwortlichkeit und Initiative, kurz: man beschreibt gängige Subjektformen, so wie sie in der neoliberalen Wirtschaft und den entsprechenden Stellenausschreibungen auch verwendet werden. Es ergibt sich daher die Frage, wie diese Ausrichtung zusammenkommt mit dem gleichzeitig formulierten Ziel einer selbstbestimmten Lebensweise, die sich auch kritisch mit den jeweiligen Gegebenheiten auseinandersetzt.
L ITERATUR Alt, Robert (1978): Das Bildungsmonopol. Berlin: Akademie. Baer, Ulrich (Hg.) (1997): Lernziel Lebenskunst. Spiele-ProjekteInterviews. Seelze: Friedrich. Bernhard, Armin (2011): Allgemeine Pädagogik auf praxisphilosophischer Grundlage. Hohengehren: Schneider. BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung) (Hg.) (1999): Lernziel Lebenskunst. Remscheid: Topprint. BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung) (Hg.) (2001): Kulturelle Bildung und Lebenskunst. Remscheid: Topprint. Bockhorst, Hildegard (Hg.) (2011): Kunststück Freiheit. München: kopaed. Braun, Tom/Fuchs, Max/Zacharias, Wolfgang (Hg.) (2015): Theorien der Kulturpädagogik. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a.M./New York: Campus. Foucault, Michel (1995): Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): Analytik der Macht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fuchs, Max (2011a): Kulturpädagogik zwischen Freiheit und Disziplinierung. Überlegungen im Anschluss an Michel Foucault. In: Bockhorst, Hildegard (Hg.): Kunststück Freiheit. Leben und lernen in der Kulturellen Bildung. München: kopaed, S. 80-92. Fuchs, Max (2011b): Kunst als kulturelle Praxis. München: kopaed. Fuchs, Max (2012): Die Kulturschule. München: kopaed. Fuchs, Max (2016): Das starke Subjekt. München: kopaed. Heydorn, Hans Joachim (1970): Über den Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft. Frankfurt a.M.: Syndikat. Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt a.M.: Campus. Jaeggi, Rahel/Loick, Daniel (Hg.) (2014): Nach Marx. Berlin: Suhrkamp. Kersting, Wolfgang/Langbehn, Claus (Hg.) (2007): Kritik der Lebenskunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Litau, John/Walther, Andreas/Warth, Annegret/Wey, Sophia (Hg.) (2016): Theorie und Forschung zur Lebensbewältigung. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa. Meyer-Drawe, Käthe (1990): Illusionen von Autonomie. München: Kirchheim. Plessner, Helmuth (1976): Die Frage nach der conditio humana. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Projektgruppe (Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“) (1995): Alltägliche Lebensführung. Arrangements zwischen Traditionalität und Modernisierung. Opladen: Leske und Budrich. Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Seel, Martin (1995): Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Spranger, Eduard (1921/1965): Lebensformen. München/Hamburg: Siebenstern. Taube, Gerd/Fuchs, Max/Braun, Tom (Hg.) (2017): Handbuch Das starke Subjekt. Schlüsselbegriffe in Theorie und Praxis. München: kopaed.
Kapitel II Thema Wertewandel in Forschung und Modellvorhaben
„Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“ Eine Ausstellung im Deutschen Museum München und der Wertewandel in der Ausstellungs- und Bildungsarbeit von Museen K ARIN S CHAD IM G ESPRÄCH MIT N INA M ÖLLERS
Im Deutschen Museum in München war vom 5. Dezember 2014 bis zum 30. September 2016 eine einzigartige Sonderausstellung zu sehen: „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“. Die weltweit erste große Ausstellung zu diesem wichtigen Zukunftsthema erklärte den Begriff und das Konzept des „Anthropozäns“ anhand ausgewählter Themen wie Urbanität, Mobilität, Natur, Evolution, Ernährung und Mensch-Maschine-Interaktion. Karin Schad (Bundesverband Museumspädagogik) geht im Gespräch mit der Leitenden Kuratorin der Ausstellung, Dr. Nina Möllers (Deutsches Museum und Rachel Carson Center München), den Botschaften, Arbeitsweisen und Wirkungen dieser Ausstellung nach. Was ist eigentlich das „Anthropozän“? Karin Schad: Frau Dr. Möllers, Sie haben die weltweit erste große Ausstellung zum Thema kuratiert. Könnten Sie für einen Laien umreißen, was „Anthropozän“ überhaupt bedeutet? Nina Möllers: Einer heute viel zitierten Anekdote zufolge soll der Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begriff im Jahr 2000 bei einer
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Fachtagung in Mexiko geprägt haben. Bei einer großen Diskussion über das Holozän, also das nach klassischer geologischer Lesart heutige Erdzeitalter, sowie die Veränderungen auf der Erde und die Rolle des Menschen hierbei, soll Crutzen irgendwann fast wutentbrannt aufgesprungen sein und gerufen haben: „Wir leben doch gar nicht mehr im Holozän, wir leben im Anthropozän!“ – also im Erdzeitalter des Menschen. Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit wir Menschen die Erdsysteme so tiefgreifend und langfristig, ja sogar irreversibel verändert haben und noch verändern, dass das Leben auf der Erde ein anderes sein wird. Der Mensch wäre zum geologischen Akteur geworden, ähnlich wie Vulkane, Gletscher oder die Plattentektonik in früheren Erdzeitaltern. Beispiele für den geologischen Akteur „Mensch“ wären der Klimawandel, aber auch das Artensterben, das wir in vielen Bereichen hervorrufen oder zumindest verstärken. Das ist der Grundgedanke des Begriffs Anthropozän. Inzwischen wird die Frage ganz offiziell von einer hochkarätig und interdisziplinär besetzten Expertenkommission bearbeitet. Sie versucht zu klären, inwiefern der Begriff aus geologischer Sicht sinnvoll wäre und welche Marker für einen Beginn dieses neuen Erdzeitalters stehen könnten. Natürlich gibt es auch berechtigte Kritikpunkte. Einer lautet, der Begriff tue so, als gäbe es den einen Anthropos, den einen Menschen. Dies vertusche die vielfältigen Unterschiede, auch handfeste Gerechtigkeitsfragen. Auch wird dem Anthropozän vorgeworfen, es sei ein sehr hegemonialer Begriff, der im Westen geprägt werde, worüber sicherlich zu diskutieren ist. Karin Schad: … und nicht zuletzt beruhen die Phänomene, die dazu geführt haben, über die Etablierung einer geologischen Epoche Anthropozän nachzudenken, auf „westlichen“ Technologien, oder nicht? So zum Beispiel die Atomtechnologie. Nina Möllers: Ja. Der Begriff verschleiert, dass nicht alle Problematiken gleichermaßen von allen hervorgerufen wurden und werden – und dass die Auswirkungen in ihrer Intensität sehr unterschiedlich und auch nicht überall zu spüren sind.
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Karin Schad: Was bei der Klimadiskussion gut zu sehen ist. Nina Möllers: Dort sogar sehr stark. Diese Unterschiede werden bei einem Begriff, der so tut, als gäbe es die eine Menschheit, nicht genug herausgearbeitet. Dann gibt es auch noch Konkurrenzbegriffe zum Anthropozän, zum Beispiel den in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannte Kapitalozän. Hier wird die ökonomische Perspektive betont und damit die Frage nach „Macht“. Karin Schad: Umgekehrt könnte man ja auch sagen, wenn wir schon einen neuen Begriff prägen, dann soll er zumindest visionär sein. Nina Möllers: Ja, das Kapitalozän ist ein Gegenbegriff, der auf die Kritik des Kapitalismus abzielt, während Anthropozän eher ein visionärer Begriff ist. Er hätte vielleicht das Potenzial, nicht nur etwas zu analysieren, sondern auch etwas zu bewegen. Allein die Tatsache, dass man sich immer wieder an ihm reibt, birgt das Potenzial, ihn tatsächlich auszuhandeln und sinnvoll zu füllen. Eine letzte Kritik am Anthropozän lautet: Prägen wir den Begriff vielleicht nur, um uns als Mensch in unserer wirkmächtigen Rolle zu bestätigen? Es besteht die Befürchtung, wir verschafften uns damit die Berechtigung, die Erde umzugestalten, wie es uns beliebt. Letztlich sieht die Mehrheit der Diskutantinnen und Diskutanten das Anthropozän aber eher als positiven, sicherlich noch auszufüllenden Begriff. Wie kommt es zu der Umsetzung des Konzepts in Form einer Ausstellung im Deutschen Museum? Karin Schad: Warum haben Sie als Wissenschafts- und Technik-Museum diesem Begriff gleich eine ganze Ausstellung gewidmet? Nina Möllers: Das Interessante für uns als Museum ist, dass der Begriff während der letzten zehn Jahre begonnen hat, weit über die Geologie hinaus zu wirken. Er wird inzwischen in vielen Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften oder auch in den Künsten wahrgenommen und mehr und mehr zu philosophischen, kulturellen Konzepten weiterentwickelt; zu Kon-
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zepten, die auch ethische Fragen stellen, zum Beispiel die nach globaler Gerechtigkeit. Ebenfalls höchst spannend ist, dass der Begriff Gedanken und Phänomene zusammengebracht hat, die zwar schon länger in ganz verschiedenen Disziplinen diskutiert, die aber selten „zusammen gesehen“ oder „zusammen gedacht“, „systemisch gedacht“ wurden. Das Systemische steckt ja ebenso in diesem Begriff wie das Transdisziplinäre. Von Letzterem reden wir zwar viel, aber es fällt uns nach wie vor sehr schwer. Allein eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, ist eine Hürde, bei deren Überwindung ein Begriff wie das Anthropozän helfen kann. Karin Schad: Recht interessant ist ja auch, dass wir Menschen es immer wieder geschafft haben und es auch noch schaffen, die von uns verursachten oder mitverursachten langfristigen Veränderungen auszublenden oder nicht wirklich ernst zu nehmen. Nina Möllers: Damit sprechen Sie einen weiteren revolutionären Aspekt des Konzepts an. Es betont die Langfristigkeit, das Denken über unsere Zeitdimension hinaus: in die tiefe (geologische) Vergangenheit, aber auch in die tiefe Zukunft sozusagen. Das Denken über die nächsten Generationen hinaus zu erweitern, fällt uns Menschen natürlich sehr, sehr schwer. Wenn wir aber ernst nehmen, dass wir „geologische“ Akteurinnen und Akteure geworden sind, dann prägen wir die Erde nicht nur für die nächsten 50 Jahre! Diese Einsicht ist gänzlich neu. Inwieweit das dann in Handlungen übersetzbar ist, ist die nächste Frage. Wertewandel in Museen I: Die Ausstellung „Willkommen im Anthropozän!“: Botschaften, Arbeitsweisen, Wirkungen Karin Schad: Fassen wir all das zusammen, könnte sich ja auch ein ganz anderes Menschenbild formen, das da heißt: Wir sind ein stärker verantwortliches Wesen! Nina Möllers: Ja, genau. Natürlich überlegten wir uns als Kuratorenteam, wie wir diesen Perspektivwechsel oder Wertewandel, wenn wir so wollen, in der Ausstellung vermitteln könnten. Dazu mussten wir die Inhalte komprimieren, auf zwei Hauptbotschaften zuspitzen: „Das Anthropozän ist da“ und „Du bist anthropozän“, womit wir bei der Verantwortlichkeit wären.
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Man könnte auch formulieren „Egal was du tust, du machst das Anthropozän – auch wenn du nichts tust!“ Man kann sich dem nicht mehr entziehen, wir haben nicht die Wahl, ob wir verantwortlich sind, inwiefern wir dies sind oder sein wollen. Wir sind schlicht Teil, ganz gleich, welche spezifische Entscheidung wir treffen. Karin Schad: Ich glaube, das ist den meisten Menschen gar nicht bewusst. Nina Möllers: Diesbezüglich gab es bei vielen Besucherinnen und Besuchern einen Aha-Effekt in der Ausstellung. Sie haben verstanden, dass es nichts mehr gibt, wo sie nicht in irgendeiner Weise eingreifen. Auch die Wechselbeziehungen zwischen Mikro- und Makroebene wurden ihnen bewusst. Einerseits das Gefühl „Ich bin doch nur ein kleines Licht“, andererseits dann die Einsicht, dass es viele Entscheidungen gibt, die weitreichende Folgen haben. Einmal natürlich, weil wir Milliarden von Menschen sind und wachsend, aber eben auch durch die systemischen und globalen Vernetzungen. Es wurde deutlich, dass die schlichte Entscheidung, wie ich tagtäglich einkaufe, durchaus sehr starke, auch globale Auswirkungen hat. Das war tatsächlich etwas, wo viele Besucherinnen und Besucher überrascht waren und zu einzelnen Beispielen in der Ausstellung schrieben: „Das war mir so gar nicht bewusst.“ Karin Schad: Diese Rückmeldungen gab es in den Besucherbüchern oder hatten Sie in der Ausstellung eine Möglichkeit gegeben, sich zu beteiligen? Nina Möllers: Hierzu erläutere ich Ihnen kurz den Aufbau der Ausstellung: Sie umfasste acht größere thematische Bereiche: Die Einleitung stellte das Thema, den Begriff, vor. Dann hatten wir sechs sogenannte „Themenplatten“. Auf ihnen stellten wir intensiv Phänomene und die systemischen Zusammenhänge zwischen ihnen dar. Es lag uns am Herzen zu zeigen, was das Anthropozäne an bereits bekannten Phänomenen ist, so zum Beispiel am Artenschwund, am Ernährungsproblem oder an der wachsenden Urbanisierung. Was ist das Langfristige – sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gedacht? Und als achten und letzten größeren Bereich hatten wir dann das Blumenfeld, bei dem es um die Gestaltung der Zukunft gehen sollte. Wir legten einen „Blumengarten“ für Papierblumen als ganz einfache partizipative Aktion an. Hier konnte jede und jeder Gedanken, Wün-
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sche, Hoffnungen, Ängste und teils auch sehr konkrete Ideen auf kleine Papiere schreiben, zu einer Blüte falten und auf den Blumenstengel stecken. Es gab auch viele tolle Schwäne und andere Werke von Besucherinnen und Besuchern, die in Origami offenbar sehr geübt waren. Die Papierblumen wurden periodisch von uns „geerntet“, entfaltet und zu Besucherbüchern gebunden. Diese lagen auch aus, sodass jede und jeder lesen konnte, was andere geschrieben hatten. Erfreulicherweise haben wir über 20 Besucherbücher binden dürfen. Ungefähr jede bzw. jeder Vierte hat dem Blumenfeld etwas beigefügt, was ich für eine gute Beteiligungsquote halte. Einige haben sehr viele Zettel oder lange Texte geschrieben und mehrere Blumen gesteckt. Viele haben das Blumenfeld nur angeschaut und wollten nichts schreiben. Karin Schad: Das zeigt ja, dass das Thema und Ihre Beteiligungsidee die Besucherinnen und Besucher sehr angesprochen und auch angeregt hat, sich mitzuteilen. Nina Möllers: Das spiegeln auch die Ergebnisse der Ausstellungsevaluation. Das Deutsche Museum evaluiert seine Ausstellungen ja sehr konsequent, sodass wir auch Vergleiche zu anderen Ausstellungen ziehen können. Der „Motivational Impact“ war bei unserer Ausstellung sehr hoch. Karin Schad: Ist auch untersucht worden, wodurch Sie diesen hohen „Motivational Impact“ erreicht haben? Nina Möllers: Wir wissen natürlich, was gut funktioniert hat und was nicht. Dazu muss ich etwas ausholen: Wir als kuratorisches Team haben die Idee des Anthropozäns auch so aufgefasst, dass wir mit ihr ein bisschen die Grenzen unseres eigenen Museums erweitern wollten. Ich glaube, allein die Wahl des Themas hat schon den ein oder anderen außerhalb des Museums überrascht. Der Gründungsgedanke des Hauses von 1903 ist die Präsentation der „Meisterwerke der Naturwissenschaft und Technik“. Diese thematischen „Grenzen“ wollten wir mit einem Thema, das nicht die „Meisterwerke“, sondern deren Auswirkungen thematisiert, überschreiten. Ebenso bewusst wollten wir Kunst und Design einbinden. Das ist in anderen Museumsgattungen schon weiter gediehen, aber für uns war das ein großer Schritt. Letztlich gab es auf jeder Themeninsel einen künstlerischen
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Zugang – was erstaunlich gut funktionierte, aber natürlich auch gespaltene Reaktionen hervorgerufen hat. In der Evaluierung wird ganz klar, dass mehr als die Hälfte der Besucherinnen und Besucher sehr positiv darauf reagiert hat. Die übrigen Besucherinnen und Besucher haben das zwar nicht ausgesprochen negativ gesehen, aber letztlich relativ wenig damit anfangen können. Unser Stammpublikum kommt stark aus den technischen Bereichen bzw. Berufen, die nicht unbedingt immer den Zugang zu Kunst und Design haben – oder ihn auch nicht bei uns suchen. Und es ist wenig überraschend, wenn ich sage, dass die Reaktionen sehr geschlechtsabhängig waren. Und dennoch sind die beiden beliebtesten Exponate zwei künstlerische Beiträge gewesen. So hatten wir ein großes, buntes, gehäkeltes Korallenriff, ein Projekt aus den USA, das an der Schnittstelle von Wissenschaft, vor allem Mathematik, und Kunst bzw. Design arbeitete. In unserem Kontext wurde es zunächst als Kunstobjekt wahrgenommen. Allein das wurde in der internen Diskussion im Vorfeld schon als Wagnis angesehen. Aber genau dieses Korallenriff war das zweitbeliebteste Objekt der ganzen Ausstellung. Das hat also sehr, sehr gut funktioniert. Über diesen Weg erreichten wir auch Menschen, die nicht traditionell ins Deutsche Museum kommen. Wertewandel in Museen II: Das Ringen um die nicht erreichbare Objektivität von Museen Karin Schad: Ich kann mir gut vorstellen, dass die Ausstellung neue Besucherkreise angesprochen hat. Auch ich war erstaunt, als ich das Thema gelesen habe, und dachte gleich: Wie toll, dass das Deutsche Museum sich mit einer so aktuellen und wichtigen Fragestellung befasst! Als unziemliche Grenzüberschreitung habe ich es weniger wahrgenommen, denn als eine positive, für mich durchaus logische Entwicklung des Programms, des gesellschaftlichen Bildungsauftrags, den ich als Kulturvermittlerin dem Deutschen Museum schon immer zugeschrieben habe. Ich habe den Titel schon als Aufforderung gelesen, die sagte: „Hey, Leute, da gibt es etwas, damit sollten wir uns befassen, als Individuen und als Gesellschaft, als Weltgesellschaft, als weltweite Bevölkerung.“ Daher ist es umso interessanter, wenn Sie sagen, es habe intensive Diskussionen darüber im Haus gegeben. Würden Sie aus Ihrer Binnensicht denn so etwas wie einen Wertewandel
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innerhalb der Institution Deutsches Museum oder von Museen ganz allgemein konstatieren? Nina Möllers: In dem Moment, in dem wir die Entscheidung getroffen haben, unser Thema wirklich zu bearbeiten, haben wir bereits eine politische Aussage getroffen, die da lautet: „Leute, ihr müsst euch damit beschäftigen!“ Insofern stimmt das mit der Aufforderung nach außen. An diesem Punkt stoßen wir nun auch auf eine innermuseale Diskussion, die fragt, inwieweit Museen politisch sind, es sein dürfen oder sogar sein müssen? Oder müssen Museen nicht vielmehr neutral und objektiv sein? Karin Schad: Diese Frage ist ja aus mehreren Gründen interessant: Betrachten wir beispielsweise die Kulturelle Bildung im Sinne einer künstlerisch-kulturellen Bildung, so geht es meist um individuelle Positionen der Künstlerinnen und Künstler und/oder Rezipientinnen und Rezipienten, um plurale Positionen etc., und da ist das Thema Objektivität eher nachgeordnet. Ich finde aber gerade in unserem Kontext „Wertewandel in der Kulturellen Bildung“ und in unserem Gespräch jetzt sehr interessant, dass an uns Museen als Kultur- und Bildungsinstitutionen und somit auch an unsere Bildungsarbeit das doch immer noch herangetragen wird. Unsere innermuseale Werthaltung und auch die Ansprüche, die an uns Museen gestellt werden, kreisen doch noch stark um „die Objektivität“. Nina Möllers: Nun wissen wir Menschen aber mittlerweile, dass es „die objektive Wahrheit“ gar nicht gibt. In einem Haus wie dem unsrigen, wo es um Naturwissenschaften und Technik geht, ist der Glaube an die Objektivität oder „die Wahrheit“ natürlich stärker verankert, weil er traditionell aus diesen Wissenschaften kommt. Aber die Wissenschaftsgeschichte hat uns inzwischen gelehrt, dass es auch in einem naturwissenschaftlichen Fach wie der Chemie oder der Physik so etwas wie „Wahrheit“ im absoluten Sinne nicht gibt. Dafür hat man die „Fuzziness“ entdeckt und mit aufgenommen, das Verschwommene, das Unscharfe, nicht Genaue. Die Fuzziness gibt es auch in den Naturwissenschaften, nicht nur in den „weichen“ Wissenschaften. Nichtsdestotrotz sind wir Museen nach wie vor sehr bemüht, „Objektivität“ sozusagen als Ideal anzustreben. So arbeiten unsere Präsentationen
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alle auf solider wissenschaftlicher Basis. Auch die öffentliche Wahrnehmung geht häufig noch davon aus, wir Museen könnten „neutrales Wissen“ präsentieren, wir seien eine Art „Beglaubigungsinstanz“, wie es einem Kollegen gegenüber einmal formuliert worden sein soll … Ich sehe es daher für jede und jeden von uns als im Museum Tätigen als eine der großen Herausforderungen an, dies alles unter einen Hut zu bringen. Einerseits zu wissen, dass es „das objektive Wissen“ nicht gibt. Andererseits benötigen wir ein möglichst objektives Wissen, um Orientierung in der immer komplexer werdenden Welt zu erlangen. Wo also holen auch wir Museumsmacherinnen und -macher das Wissen her? Und wie vermitteln wir es dann? Museen sind und bleiben hoffentlich unter denjenigen öffentlichen Institutionen, die das leisten können. Karin Schad: Hier drückt sich ja auch ein Anspruch an uns Museen aus, vielleicht auch eine Hoffnung, eine Fähigkeit, die man uns zuspricht und auch ein Vertrauensvorschuss, man könne bei uns einen Überblick und somit Handlungsfähigkeit gewinnen. Nina Möllers: In Anbetracht dieser Komplexität haben wir in unserem Ausstellungskonzept deutlich gemacht, auf welcher Wissensbasis und in welcher Absicht wir präsentieren, nämlich: „Wir stellen euch hier ein Konzept, eine Diskussion vor. Eine laufende Diskussion, in die ihr euch eigentlich einschalten müsst.“ Wir haben unser (Noch-)Nicht-Wissen offengelegt. Wir haben explizit die Komplexität angenommen, nichts vereinfacht und die Besucherinnen und Besucher insofern herausgefordert. Wir haben ihnen keine einfachen Antworten, keine Handlungsempfehlungen gegeben. Und das, obwohl wir wissen, dass gerade unsere Stammbesucherinnen und -besucher Handlungsempfehlungen erwarten. Dennoch sahen wir es bei diesem noch jungen Thema eher als unsere Aufgabe, zur Diskussion und zum Nachdenken anzuregen. Letztlich ging es uns auch um die Frage, inwiefern sich Museen in der heutigen Welt ändern müssen und auch, inwiefern sich auch die Besucherschaft ändern muss? Bei der Anthropozän-Ausstellung agierten wir also ein bisschen anders, als wir das üblicherweise tun.
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Wertewandel in Museen III: Wie entsteht Wissen? Karin Schad: Hinter alldem steht auch die Frage: Wie entsteht Wissen? Bei uns im stadthistorischen Bereich ist daher das partizipative Arbeiten ein aktuelles Thema. Wir haben zwar schon ein umfängliches historisches Wissen und eine große Objektbasis, aber das sind nur Ausschnitte. So fehlen häufig Viertelgeschichten, die Geschichten bestimmter Bevölkerungsgruppen etc., die ja ganz anders aussehen können, als die, die wir aktuell im Museum beschreiben und durch Objekte ausstellen können. Nina Möllers: Das Konzept des Anthropozäns fragt auch, inwiefern beispielsweise Experten- und Laienwissen neu gedacht werden müssten. Es verlangt von jeder und jedem, sich einzubringen, sich verantwortungsvoll eine Wissensbasis zu erarbeiten – denn die benötigt man, um eine informierte Entscheidung treffen zu können. Das Museum wiederum ist (bisher meist) eine Institution, die auf Expertenwissen fußt. Bringen wir beides zusammen, stellt sich die Frage, inwieweit Partizipation nicht nur sozusagen nachgeordnet, im Sinne von kultureller Teilhabe, sondern sogar in der Entwicklung von Ausstellungen, also einer konkreten Mitarbeit bzw. Mitgestaltung stattfinden kann. Auch bei der Lösung spezifischer Phänomene bzw. Probleme des Anthropozäns ist Laienwissen oder „altes Wissen“ von großer Bedeutung. Oft ist es Wissen, das wir schon vergessen haben, oder auch das Wissen Indigener. Auch entdeckt man Strategien, die eigentlich an anderen Orten der Welt schon lange praktiziert werden, die aber aufgrund bestimmter Machtverhältnisse in unserem kulturellen Kontext gar nicht beachtet wurden. Ein weiteres Beispiel sind Monitoring-Projekte, die auf dem Wissen von Laien, also Hobby-Beobachterinnen und -Beobachtern aufbauen, wie bei den Vogelzählungen beispielsweise. Karin Schad: Eben, es geht sowohl um gemeinsames Lernen und somit gemeinsames Schaffen von Wissen. Das setzt Expertinnen und Experten voraus, die bereit sind, ihre bisherige Deutungshoheit, die Alleinstellung, die sie bisher in vielen Bereichen hatten, abzugeben. Das steht bei uns auch ständig zur Diskussion.
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Nina Möllers: Ja, natürlich. Das ist aber auch nicht einfach, das kann ich aus meiner eigenen Position heraus sagen. Man hat ja eine Ausbildung genossen, die einen vermeintlich dazu prädestiniert, zum Beispiel Museumsarbeit zu machen. Man muss sich dann erst mal wieder öffnen und sagen: „Okay, wie kommen wir da gemeinsam weiter?“ Das ist in vielen Museen noch sehr schwierig und ist von den jeweiligen Personen abhängig und von den Strukturen natürlich. Welche Orientierungshilfen und Instanzen haben wir, um die Probleme in der globalisierten Welt zu lösen? Karin Schad: Die vorliegende Publikation beschäftigt sich ja mit dem Wertewandel in der Kulturellen Bildung. Für mich beinhaltet das Konzept des Anthropozäns unweigerlich eine Wertediskussion. Denn wie entscheide ich mich denn als verantwortlicher Mensch? Ich muss mich orientieren. Ich orientiere mich an Wissen, an meinem sozialen Umfeld, ich orientiere mich an Werten. Was denken Sie, welche Orientierungshilfen stehen uns zur Verfügung? Nina Möllers: Nehmen wir eine konkrete „anthropozäne Problematik“ heraus und überlegen, wie wir diese lösen könnten, gelangen wir schnell an einen Punkt, an dem „große, globale Fragen“ zu lösen wären. Und so kommen wir schnell zur Frage: Wie funktionieren Entscheidungsprozesse, wie funktioniert Demokratie heute – global? Welche politischen Instanzen haben wir bzw. welche politischen Instanzen müssten wir schaffen, um auf einer globalen Ebene handlungsfähig zu sein? Leider stellt sich an den verschiedensten Stellen immer wieder heraus, dass wir hier nicht besonders weit sind. Man wird über Ökonomie reden müssen. Das ist uns in der Ausstellung beispielsweise sehr schwer gefallen, darauf würde ich bei einem nächsten Mal mehr Energie verwenden. Wer hat welche (ökonomische) Macht, Dinge zu ändern? Inwieweit kann man neue ökonomische Anreize setzen, um einen Wandel herbeizuführen? Gerade, wenn man sich das Anthropozän anschaut, wird man schnell gewahr, dass viele globale Ungerechtigkeiten eher durch das westlich geprägte kapitalistische System entstanden und auch „kolonialisiert“ worden sind und dass ein Großteil der negativen Effekte nicht bei uns auftritt, sondern woanders. Gleichzeitig streben viele Milliarden Menschen weltweit nach höherem Lebensstandard.
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Doch hier müssten Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit anders beantwortet werden. Es ginge hier viel eher darum, gemeinsam andere, neue Ziele zu formulieren. Ziele, die für alle verträglicher sind und dennoch nicht gleichgesetzt werden mit dem Verlust oder Nichterreichen von Lebensstandard. Karin Schad: … wo Naturwissenschaften und technologische Neuerungen durchaus eine Rolle spielen können. Nina Möllers: Ja, wir müssten ein Umdenken vor allem in den Regionen attraktiv machen, in denen man noch nichts ändern müsste, weil man gleich einen anderen Weg einschlägt. Wir können unsere eingefahrenen Systeme nur sehr, sehr langsam ändern. Wir dürfen uns auf diese Weise nicht aus der Verantwortung stehlen, auch bei uns selbst etwas zu ändern, aber eigentlich wäre ein solches Vorgehen logisch. Wir müssten andernorts einen Wertewechsel unterstützen – auch einen ökonomischen zulassen, um von diesen Beispielen zu lernen. Wertewandel in Museen IV: Kulturelle Bildungsangebote zur Ausstellung Karin Schad: Lassen Sie uns noch mal auf Ihre Erfahrungen mit der Ausstellung zurückkommen. Was meinen Sie, welche Ihrer Besucherinnen und Besucher können all diesen Ansprüchen gerecht werden? Wer kann das schaffen? Nina Möllers: Aus meiner Sicht sind wir hier ganz schnell bei der Rolle der Jugend – ohne die anderen Altersgruppen aus der Pflicht zu entlassen. Wie sollte sich langfristig etwas ändern, wenn es nicht durch die Jugend vorangetrieben wird? Es geht darum, ein ganz neues Bewusstsein zu entwickeln und das zu leben. Meine Haltung liegt ganz sicher auch an meinen Erfahrungen. Die Jugendlichen, mit denen ich bei Führungen in Kontakt gekommen bin, haben mich sehr positiv überrascht! Sie hatten sehr großes Interesse an den doch komplexen Fragestellungen, wollten sehr viel wissen, waren sehr offen und sehr engagiert in der Diskussion. Sie haben gesprudelt, auch mit ganz expliziten Vorschlägen.
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Karin Schad: Das heißt, Ihre Ausstellung hat den Raum geboten und dazu angeregt, sich zu äußern. Diese erste „Stufe“ musealer Vermittlung hat also bestens funktioniert. Nina Möllers: Ja, ich glaube schon. Rein physisch hat sie den Raum geboten, weil die Ausstellungsarchitektur unseren großen Sonderausstellungsraum sehr offen, sehr übersichtlich und einladend gestaltet hat. Das Design, die Präsentation und die Inhalte haben Einzel- und Gruppenbesucherinnen und -besucher dazu angeregt, sich auszutauschen, aktiv mit der Ausstellung umzugehen. Karin Schad: Sie sprachen gerade von Führungen. Hatten Sie ein umfänglicheres Vermittlungsprogramm? Nina Möllers: Das Deutsche Museum hat bei jeder Ausstellung ein Standardprogramm. Es umfasst Vermittlungsformate bzw. -reihen wie buchbare Führungen und unsere Rote-Punkt-Führung, zu der man sich am Tag des Besuchs einfinden kann. Darüber hinaus gibt es Lehrerfortbildungen und Schulklassenangebote sowie ein Programm für jüngere Kinder bis ca. 10 oder 12 Jahren. Auch unsere Familienprogramme und unsere gut eingeführten „Forscherbögen“, die Familien bei ihrem Besuch begleiten, wurden beim Anthropozän angeboten. Das Angebot „Kinder führen Kinder“ war auch diesmal sehr erfolgreich. Die Kinder haben tatsächlich mit diesem Fremdwort gearbeitet, waren stolz, es zu verstehen, was ich sehr beachtlich fand. Ich dachte, die Ausstellung sei gerade für jüngere Kinder schwierig, aber meine Kolleginnen und Kollegen hatten tolle Anknüpfungspunkte gefunden. Im Vorfeld gab es zwei Modellbauwerkstätten zur Zukunft der Stadt im Anthropozän, deren Ergebnisse auch in der Ausstellung gezeigt wurden. Eine explizite „Kinderebene“ oder „Kinderspur“ haben wir bewusst nicht vorgesehen. Wir dachten, das Thema sei ohnehin erst für Kinder ab 10 oder 12 Jahren geeignet, außerdem wäre es vom Arbeitsaufwand her nicht mehr leistbar gewesen. Karin Schad: Wie haben Familien Ihre Ausstellung angenommen? Nina Möllers: Zu unserer Überraschung sehr, sehr gut. Laut Evaluation war die Besuchergruppe der Familien mit Kindern sogar am stärksten ver-
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treten. Dieser Zufallseffekt freut mich sehr. Ich überlege auch immer noch, was es denn genau war, weil ich das natürlich beim nächsten Mal wieder so machen möchte. Karin Schad: Ich könnte mir vorstellen, dass es tatsächlich die spezifische Mischung war: Die sehr offene Gestaltung, die auch kleinen Kindern sehr gute Einblicke geboten hat – das klingt banal, ist aber heute oft noch eine „Rezeptionsbarriere“. Dann haben Sie ein sehr schwieriges und erst mal abstrakt klingendes Thema sehr konkret vorgestellt, ja die von Ihnen gewählten Themenbereiche wie Ernährung, Mobilität etc. interessieren viele Kinder. Dann ist das Deutsche Museum ein „Familien-Haus“ mit sehr etablierten Vermittlungsangeboten. So trauten Eltern sich vielleicht eher, ihre Kinder mitzunehmen. Nina Möllers: Dann hatten wir also das Glück, so direkte Zugänge zu haben, die auch spezifische „Kinder-Elemente“ gar nicht unbedingt notwendig gemacht haben?! Karin Schad: Heute adressiert die Kulturelle Bildung ja nicht mehr nur Kinder und Jugendliche, sondern alle Altersgruppen – gerade Museen tun das seit vielen Jahren. Gab es auch ein spezielles Vermittlungsangebot für Erwachsene, das über „normale Führungen“ hinausging? Ich denke da an Workshops, Seminare und ähnliches. Nina Möllers: Jein, würde ich sagen. Als Wissenschaftsmuseum mit Forschungsinstitut gibt es bei unseren Ausstellungen traditionellerweise viele Kooperationsveranstaltungen im wissenschaftlichen Bereich. Zudem war die Ausstellung eine Kooperation von Deutschem Museum und Rachel Carson Center, das von der Ludwig Maximilians-Universität München und dem Deutschen Museum getragen wird. Dort gibt es weltweite FellowshipProgramme und Public-Outreach-Programme, so zum Beispiel die „GreenVisions“-Filmreihe, die vom Rachel Carson Center und anderen Kooperationspartnern im Gasteig veranstaltet wird. Über zwei Semester hinweg lief das Programm zum „Anthropozän“, das sich an eine breite erwachsene Besucherschaft wandte. Hier im Haus findet unsere populärwissenschaftliche Veranstaltungsreihe „Wissenschaft für jedermann“ statt, die sich auch mehrfach mit dem Anthropozän befasste. Ebenfalls vorwiegend an Erwach-
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sene war das literarische Format „Lyrik im Anthropozän“ gerichtet, aus dem später sogar eine Lyrik-Anthologie im kookbooks Verlag entstanden ist. Das Mammutprojekt des Comiczeichners Jens Harder zeigte die Evolution im Comic. Wir haben also über verschiedene Literatur- bzw. Kunstsparten weitere Zugänge gesucht. Das ist eher fremd für das Deutsche Museum, hat uns aber ein gänzlich anderes Publikum beschert. Kulturpessimismus? Jugendliche halten dagegen! Karin Schad: Sie sagten, in der Ausstellung sei viel diskutiert, viel miteinander gesprochen worden. Wurden auch Ängste geäußert? Ist das auch manchmal in eine „kulturpessimistische“ Richtung umgeschlagen, was wir im Moment ja sehr häufig haben? Nina Möllers: Diese Frage haben mir zum Ende der Ausstellung auch diverse Medienvertreterinnen und -vertreter gestellt, und ich muss sagen: Ja, durchaus. In den Besucherbüchern finden sich viele negative Gedanken, regelrechter Pessimismus. Wir haben diese Einträge nicht empirisch untersucht, aber meine Erfahrungen bei Führungen weisen auf einen Generationenunterschied hin. Vor allem die Generation ab 50 ist tendenziell eher negativ. Die Jüngeren hingegen sind kritisch und sich der Problematiken bewusst, beziehen sie in ihr Denken ein und suchen nach Lösungsansätzen. Sie waren sehr viel aktiver und fragten: Was machen wir denn jetzt? Deswegen denke ich auch, dass wir sehr viel Potenzial haben, um die Dinge anzugehen, der Schockstarre entgegenzuwirken, in die man ja schnell gerät, in Anbetracht der Komplexität der „großen Fragen“. Wir agieren stets als Einzelne, doch immer eingebettet in globalen Kollektiven Karin Schad: Lassen Sie uns nochmal an den oder einen Wertewandel denken. Ich finde, ein Wertewandel wird ja bei Ihrem Projekt und im Konzept des Anthropozäns in mehrerlei Hinsicht angestoßen. Zum einen ein Wertewandel innerhalb der Museen, der da fragt: Welchen Auftrag haben wir, welche Rolle haben wir oder wollen wir in der Gesellschaft spielen? Unter diesem Aspekt hat sich das Deutsche Museum mit Ihrer Ausstellung sehr positiv positioniert, verantwortlich gezeigt, sich nicht zurückgezogen
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auf rein wissenschafts- oder museumsimmanente Positionen. Dann gibt es Wertewandel natürlich im gesellschaftlichen Bereich. Zu diesen Wandlungsprozessen tragen Ihr Thema und Ihre Ausstellung unweigerlich bei – ob Sie wollen oder nicht. Würden sie noch andere Aspekte sehen? Nina Möllers: Das sind auch aus meiner Sicht die zwei wesentlichen Punkte. Wenn wir den Blick noch mal auf die Realisierung eines anthropozänen Denkens richten, liegt eine große Herausforderung schlicht darin, alle möglichen Ebenen mitzudenken, von der kommunalen, regionalen bis zur globalen. Diese Vielfalt zusammenzudenken, lässt uns ja schier verzweifeln, weil wir nicht wissen, wo wir ansetzen können. Dies wahrzunehmen und anzupacken bedürfte eines Wertewandels. Deshalb haben wir versucht zu vermitteln, dass ich zwar als Einzelne oder Einzelner agiere, aber stets in Kollektiven eingebunden bin. Das Kollektive hat verschiedene Größen, das hört sich banal an, aber sehr häufig verstehen wir das dann doch nicht. Wir können nicht bei jeder täglichen Handlung bedenken, welche Auswirkung diese beispielsweise auf eine Bewohnerin Indiens, einer Pazifikinsel oder einen Südafrikaner hat. Aber ich denke, langfristig kommen wir nicht umhin, einen Perspektivwechsel so zu verankern, dass es uns dann doch immer häufiger möglich ist, so zu denken und zu handeln. Karin Schad: Weil es in unserem normalen Denk- und Verhaltensrepertoire verankert ist. Nina Möllers: Darin liegt wahrscheinlich die noch größere Herausforderung. Ich glaube nämlich, dass wir Menschen es von unserer Gehirnstruktur her (zumindest bisher) nicht schaffen, in größeren zeitlichen Dimensionen zu denken. Auch mir persönlich fällt es schwer, eine Empathie zu entwickeln für eine Generation, die in 1000 Jahren leben wird. Leider sind wir schon so weit, dass viele Problematiken schon für die nächste und übernächste Generation mehr als schwierig werden. Das anzunehmen und zu sagen, ich verzichte auf etwas, das wäre ein erster Schritt. Letztlich stellt sich die Frage, wie führen wir einen Wertewandel herbei, der uns das weniger als Verzicht, denn vielmehr als Gewinn wahrnehmen lässt? An dieser Stelle sind wir noch lange nicht.
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Karin Schad: Viel Wissen, viel Wandlungs- und Handlungsbereitschaft, und auch viel Empathie, so könnten wir die Anforderungen an uns Menschen im Anthropozän zusammenfassen. Haben Sie ganz herzlichen Dank, Frau Dr. Möllers.
Von der Zielgruppe zum Gruppenziel? Intersektionale Perspektiven in der Kulturellen Bildung V IOLA K ELB
Der folgende Beitrag fokussiert die in diesem Buch gestellte Frage nach sich wandelnden Perspektiven der Kulturellen Bildung auf den Bereich der Zielgruppen. Mit Zielgruppen sind in diesem Zusammenhang die an kulturellen Bildungsangeboten teilnehmenden Kinder und Jugendlichen gemeint. Dabei wird schwerpunktmäßig jedoch weniger die innerhalb des Fachdiskurses der Kulturellen Bildung bereits vielfach behandelte Frage der Teilhabe bzw. Nichtteilhabe bestimmter Zielgruppen gestellt (vgl. z.B. Liebau 2015; Glaser 2014; Fuchs et al. 2013). Vielmehr soll nach möglichen Perspektivwechseln auf teilnehmende und nichtteilnehmende Zielgruppen gesucht werden. Am Beispiel des aktuell in Deutschland größten zielgruppenbezogenen Förderprogramms „Kultur macht stark“ wird die Tatsache der gezielten Definition und Adressierung bestimmter Zielgruppen reflektiert und anhand des intersektionalen Ansatzes eine in der Kulturellen Bildung bisher wenig beachtete Blickrichtung auf die „Zielgruppen- und Teilhabefrage“ aufgezeigt.
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UND WENN JA ,
Nicht nur die Träger der Kulturellen Bildung stellen permanent und selbstkritisch die Frage nach der Teilhabegerechtigkeit ihrer Angebotsformen. Vielmehr betrifft diese noch nicht hinlänglich gelöste Herausforderung den
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gesamten Bildungsbereich. Wie wir nicht zuletzt dank der PISA-Studien wissen, leidet das deutsche Bildungssystem bis heute unter seiner Selektivität. Auf der Suche nach Ursachen und Konzepten ist es übliche Förder- und Forschungspraxis, schwer zu erreichende Zielgruppen zu definieren und zu kategorisieren. Die gängige Vorgehensweise der Zielgruppenanalyse ist zunächst vor allem aus dem Marketingbereich im Sinne einer Typologisierung von Konsumentengruppen bekannt (Dziemba/Wenzel 2009: 75ff.). Das pädagogische Feld bezieht sich auf sozialwissenschaftliche Zielgruppenbestimmungen, wie sie zum Beispiel im Rahmen großer Studien wie die der Shell-Jugendstudien (Shell Deutschland 2015) oder die der SinusMilieu-Studien (Sinus Sociovision 2007; Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH 2017; Barz et al. 2015) vorgenommen werden. Die hier seit über 30 Jahren unter dem Stichwort Sinus-Milieus durchgeführte ZielgruppenSegmentation macht es sich zur Aufgabe, den Wandel der gesellschaftlichen Alltagswirklichkeit abzubilden und wird von „führenden MarkenartikelHerstellern und Dienstleistungsunternehmen für das strategische Marketing, für Produktentwicklung und Kommunikation ebenso genutzt wie von politischen Parteien, Ministerien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden“ (Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH 2017: 3). In der Migranten-Milieu-Studie des SINUS-Instituts (Sinus-Sociovision 2007) wurden darüber hinaus explizit die subjektiven Perspektiven von Menschen mit Migrationshintergrund untersucht. Ein zentraler Befund lautete, dass sich die Zielgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund in eine Vielfalt von Lebensauffassungen und Lebensweisen auffächert. In der deutschen Migrationsforschung stellte diese Erkenntnis insofern einen Paradigmenwechsel dar, als dass man zu folgender Erkenntnis kam: „Es wird der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht, diese Menschen weiterhin als ‚besondere‘ Gruppe in unserer Gesellschaft zu betrachten. Vielmehr zeigen sie sich als integrierender Teil dieser multikulturellen, von Diversität geprägten Gesellschaft.“ (Wippermann/Flaig 2009) Die Zielrichtung, weg von einer defizitorientierten Zielgruppenbetrachtung, verlief in diesem Fall über eine weitere Ausdifferenzierung (Segmentarisierung) dieser. Auch die zentrale Erkenntnis der SINUS-Jugendstudie, dass es „den Jugendlichen“ nicht gibt (Calmbach et al. 2016), könnte als Aufforderung zum Perspektivwechsel auf ein kategorisierendes Verständnis von Kindern und Jugendlichen unter dem Stichwort Zielgruppen verstanden werden.
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Z IELGRUPPENORIENTIERTE P ROGRAMMATIK IN DER K ULTURELLEN B ILDUNG AM B EISPIEL DES F ÖRDERPROGRAMMS „K ULTUR MACHT STARK “ Ungeachtet dieser Befunde nähert sich das Feld der Kulturellen Bildung der Teilhabefrage weiterhin häufig über den Weg der ZielgruppenSegmentation. Das am Fördervolumen gemessen derzeitig größte bundesweite Programm der Kulturellen Bildung zur Verbesserung von Bildungschancen ist das Programm „Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Es fördert Angebote der Kulturellen Bildung, die „insbesondere Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 18 Jahren zugutekommen, die in mindestens einer der vom nationalen Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010) beschriebenen Risikolagen aufwachsen und dadurch in ihren Bildungschancen beeinträchtigt sind. Als Risikolagen nennt der nationale Bildungsbericht: Arbeitslosigkeit eines oder beider Elternteile, ein geringes Familieneinkommen und ein bildungsfernes Elternhaus. Das Ziel der Förderung bildungsbenachteiligter Kinder und Jugendlicher lässt grundsätzlich auch die Teilnahme anderer Kinder und Jugendlicher zu, sofern dies der Zielerreichung dient.“ (BMBF 2017a: Punkt 4)
Der Weg zur Teilhabe der beschriebenen Zielgruppe führt in diesem Förderprogramm über die lokale Vernetzung unterschiedlicher Träger und Professionen vor Ort. Ein lokales Bündnis besteht aus mindestens drei multiprofessionellen Bündnispartnern. Neben der Bereitstellung eines zielgruppenorientierten Bildungsangebots steht die „Entwicklung tragfähiger Netzwerke vor Ort, die auch langfristig im Sinne einer Unterstützung bildungsbenachteiligter Kinder und Jugendlicher wirksam bleiben sollen“ (BMBF 2017b) im Fokus. Bis Ende 2017 stellt das Bildungsministerium im Rahmen einer gesonderten Richtlinie zudem zusätzliche Mittel für eine spezifische Zielgruppe zur Verfügung: Es gibt acht Programme für „junge Erwachsene Flüchtlinge zwischen 18 und 26 Jahren“ (ebd. 2017c). Mit Beginn des „Kultur-macht-stark“-Programms im Jahr 2013 entwickelten die Träger und Einrichtungen der Kulturellen Bildung Ideen und Konzepte auf der Grundlage dieser Förderrichtlinie. In den unterschiedlichen Sparten der Kulturellen Bildung entstanden in kürzester Zeit innovati-
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ve Programmformate, die lokale Bildungsbündnisse mit dem oben beschriebenen Zielgruppenfokus unterstützten. Mit Blick auf die zahlreichen Erfahrungsberichte der Programmpartner (Akademie der Kulturellen Bildung o.J.) sowie auf die Evaluation des Programms (Prognos AG 2016) kann dessen Umsetzung als erfolgreich bezeichnet werden. Unter der Unterüberschrift „Zielgruppe“ deklariert die aktuelle Broschüre zum Programm: „89 Prozent der Bündnisse erreichen Kinder und Jugendliche, die in prekären finanziellen oder sozialen Verhältnissen oder in bildungsfernen Elternhäusern leben. Und: In 94 Prozent sind Kinder und Jugendliche dabei, die sonst kaum Berührung mit kultureller Bildung haben.“ (BMBF 2016: 6)
In der Konzipierung und Umsetzung des Programms arbeitet das Bildungsministerium mit über 30 Fachverbänden zusammen. Dank dieser Einbindung von unterschiedlichsten Fachexpertisen findet eine kontinuierliche Reflexion und Professionalisierung der Angebote statt. Die beiden Akademien der Kulturellen Bildung in Remscheid und Wolfenbüttel riefen mit Unterstützung des Ministeriums zudem das Verbundprojekt „Qualitätsverbund ‚Kultur macht stark‘“ ins Leben, um das Förderprogramm im Rahmen von Fachkonferenzen, Workshops und praxisnahen Arbeitshilfen fachpädagogisch zu begleiten. Zum Auftakt des Verbundprojekts führte der Qualitätsverbund eine interne Abfrage bei den Programmpartnern durch, um den Qualifizierungsbedarf innerhalb der einzelnen Programme zu eruieren. Als einer der Hauptthemenbereiche wurde die Herausforderung benannt, „die Zielgruppen zu erreichen und zu halten.“ Wie können etwa auch benachteiligte Zielgruppen angesprochen werden? Wie sprechen wir sie wo an? Und wie binden wir die Zielgruppen nachhaltig an unsere Angebote bzw. Einrichtungen? Fragen, mit denen sich die am Programm beteiligten Träger und Einrichtungen bis dahin unterschiedlich intensiv auseinandergesetzt hatten. Parallel fand im Qualitätsverbund eine zunehmend (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach der Art und Weise der Teilnehmenden-Ansprache und nach einer adäquaten Berichterstattung bzw. öffentlichen Darstellung statt. So wurde von Situationen berichtet, in denen Jugendliche, die gestern noch stolz ihre künstlerische Produktion auf der Bühne präsentiert hatten, am nächsten Tag über sich in der Zeitung lesen mussten, sie seien als „bildungsferne Jugendliche“ erstmalig in den Genuss
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einer künstlerischen Selbstdarstellung gekommen. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungswerte wurde das Thema „zielgruppensensible Öffentlichkeitsarbeit“ zu einem weiteren Schwerpunktthema in der fachpädagogischen Begleitung des Qualitätsverbunds. Allerdings stellt sich angesichts solcher Situationsbeschreibungen öffentlicher Stigmatisierung die Frage, ob der zielführende Lösungsansatz hier tatsächlich primär in einer Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit liegen kann? Benedikt Sturzenhecker (2014: 3) reflektiert den zielgruppen- bzw. subjektbezogenen Ansatz des Förderprogramms „Kultur macht stark“ auf folgende Weise kritisch: „Das Projekt zielt (also) auf die bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen und ihre Elternhäuser, nicht etwa auf die Verbesserung der sozioökonomischen Lage dieser Familien (z.B. durch bedingungsloses Grundeinkommen) oder auf eine bildungsgerechtere Organisation von Schule und Unterricht. Die Subjekte sollen beeinflusst werden, um ‚Bildungserfolg‘ zu erlangen und dabei soll Kulturelle Bildung helfen. Das Motto ‚Kultur macht stark‘ deutet an, dass es um Förderung von Resilienz geht: Die Kinder und Jugendlichen sollen ‚stark‘ gemacht werden, um schwächende Lebenslagen und diskriminierende Ausbildungsverhältnisse zu bewältigen, um trotz alledem individuellen Bildungserfolg zu erbringen.“
Sturzenhecker eröffnet damit einen interessanten Perspektivwechsel auf die Frage von Teilhabe und Teilgabe: Auf welcher Ebene brauchen wir den Wandel? Auf der individuellen Ebene im Sinne der Förderung eines „starken Subjekts“ (Fuchs 2016; Taube/Fuchs/Braun 2017) oder auf der systemischen Ebene? „Auf beiden Ebenen“, könnte eine Antwort heißen. Zumindest scheint es mit Blick auf die oben beschriebenen Erfahrungen lohnenswert, zielgruppenfokussierende Maßnahmen hinsichtlich von Zuschreibungsprozessen und Stereotypisierungen genau in den Blick zu nehmen. Sogenannte positive Maßnahmen, die durch die Fokussierung einer bestimmten (benachteiligten) Zielgruppe mehr Chancengerechtigkeit herbeiführen sollen, bergen gleichzeitig die Gefahr, unerwünschte Zuschreibungen weiter zu verfestigen. Der Sekundäreffekt einer verstärkten Stereotypisierung durch die explizite Beschreibung und Ansprache bestimmter Zielgruppen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 10) sollte deshalb von Programmverantwortlichen und Fachkräften stets kritisch mitreflektiert werden.
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Diese Reflexion sollte nicht nur die unterschiedlichen Gründe für die Benachteiligung bestimmter Zielgruppen, sondern im Sinne einer breiteren Analyse von Benachteiligungsprozessen auch die Machtverhältnisse innerhalb von Bildungsprozessen betrachten. Interessant könnte dabei die Frage sein: Wer definiert wen aus welcher Position heraus?
Z IELGRUPPENSENSIBILITÄT ALS A UFGABE DER F ORT - UND W EITERBILDUNG Derlei (Selbst-)Reflexionsprozesse sind Bestandteil von Fortbildungen und Trainings, die neben fachlichen Inhalten vor allem an professionellen pädagogischen Haltungen arbeiten. Mit eben diesem Fokus haben fachliche Auseinandersetzung und Sensibilisierungs-Workshops in den letzten Jahren unter dem Stichwort Diversität Aufwind erfahren. In der pädagogischen Bildungsarbeit wird der Begriff Diversität häufig mit einem Fokus auf migrantische Zielgruppen verbunden (Keuchel/Kelb 2015: 18). Der Weg hin zu einer diversitätssensiblen Fortbildungsdidaktik innerhalb der Kulturellen Bildung ist bereits im ersten Band dieser Schriftenreihe „Diversität in der Kulturellen Bildung“ ausführlich beschrieben (Keuchel/Dunz 2015). So hat sich die kulturpädagogische Fortbildungsarbeit der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in den letzten zwei Jahren verstärkt zur Aufgabe gemacht, Diversitätsbewusstsein innerhalb der Arbeit an pädagogischen Haltungen sowie theoretischen Grundlagen und ästhetischer Praxis zu befördern (ebd.). Insgesamt hat sich ein Wandel von ehemals interkulturellen Trainings im Sinne einer Wissensvermittlung über „fremde“ Kulturen und entsprechender Methoden zum Umgang mit diesen hin zu einer Bildungsarbeit vollzogen, die unter dem Stichwort Transkulturalität (Welsch 1995) heterogene Identitätsmerkmale betrachtet. Dabei wird zunehmend auch die häufig einseitig anmutende Fokussierung auf die Themen „Migration“ bzw. „Migrationshintergrund“ kritisch betrachtet. Nicht nur, dass diese Begrifflichkeiten von Flucht bis Postmigration vielerlei Lebenssituationen und Erfahrungen innerhalb einer Bezeichnung subsummiert. Unter der Überschrift „Der klebrige Migrationshintergrund“ beschreibt Jutta Goltz vom Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg folgende Ausgangslage im Bereich der pädagogischen Fort- und Weiterbildung:
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„Viele Trainings, Fort- und Weiterbildungen werden damit begründet bzw. angefragt, ein besseres Verständnis im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund erwerben zu wollen, passendere Angebote für diese (angeblich schwer erreichbare) Zielgruppe entwickeln zu können, Personalentwicklung in der Hinsicht weiter zu betreiben, verstärkt Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen, Kommunen und Organisationen für Menschen mit Migrationshintergrund barrierefreier zu gestalten etc. Im Kern solcher Anfragen steht also der Anlass (das Problem?) einer scheinbar klar definierten Zielgruppe, nämlich der Menschen mit Migrationshintergrund. Doch wie aussagekräftig ist diese Zuschreibung, wenn man aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen analysiert?“ (Golz 2014: 10)
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INTERSEKTIONALE KOMMT SELTEN ALLEIN
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So meint der Begriff Diversität zwar den bewussten Umgang mit Unterschieden (im Plural!), im Feld der Kulturellen Bildung jedoch wird er häufig auf die Differenzkategorie „Herkunft“ reduziert verwendet. Zudem findet unter dem Stichwort Differenzdilemma (Eickhoff/Schmidt 2016) eine kritische Auseinandersetzung mit dem Diversity-Ansatz statt: Die Benennung und Herausstellung von Differenzkategorien birgt die Gefahr, diese gleichzeitig festzuschreiben. Ein Ansatz, der sich den systemischen und systematischen Dimensionen von Diskriminierung widmet, ist der Ansatz der Intersektionalität. In sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Arbeitsfeldern ist dieser Begriff seit einigen Jahren sehr präsent. Unter Intersektionalität ist die Verschränkung verschiedener gesellschaftlicher Differenzkategorien bzw. Differenzlinien (Lutz/Wenning 2001) zu verstehen. Differenzlinien stehen in Wechselwirkung zueinander, sie können einander verstärken oder abschwächen. Seine Wurzeln findet der intersektionale Ansatz in den Frauenrechtsbewegungen Schwarzer Feministinnen der 1970er Jahre in den USA. Diese fanden sich in dem aus ihrer Perspektive zu engem Verständnis von Feminismus weißer Frauen nicht wieder und wiesen auf die Verwobenheit verschiedener Diskriminierungskategorien wie Schwarzsein, Frausein und Klassenzugehörigkeit hin. Dies führte zu einer erweiterten Analyse zunächst der Diskriminierungskategorien Rasse, Klasse und Geschlecht („race“, „class“, „gender“). Den Begriff Intersectionality führte schließlich
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Kimberlé Crenshaw (1989) ein und schaffte damit eine Grundlage für die Analyse verschränkter Diskriminierungskategorien. In Abgrenzung zur additiven Betrachtung diskriminierungsrelevanter Kategorien liegt der Fokus hier auf der Verwobenheit dieser. Mittlerweile nimmt die intersektionale Analyse eine Reihe weiterer Differenzräume in den Blick. So unterscheiden Helma Lutz und Norbert Wenning (2001: 20) 14 Kategorien der Differenz: Gender, Sexualität, Race/Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität/Staat, Kultur, Klasse, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit/Herkunft, Besitz, geografische Lokalität (West/Rest), Religion (religiös/säkular), gesellschaftlicher Entwicklungsstand (modern/traditionell). Den genannten Differenzlinien liegt jeweils ein Gegensatzpaar zugrunde: „Der Differenzlinie Geschlecht etwa liegt das Gegensatzpaar männlich-weiblich zugrunde, der Differenzlinie Kultur der Gegensatz zivilisiert-unzivilisiert und der Differenzlinie Klasse der Gegensatz zwischen oben und unten bzw. etabliert und nicht etabliert. Diese Gegensatzpaare verhalten sich zueinander hierarchisch – die Hierarchie kann sich im Zuge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, eventuell auch kontextgebunden, verändern.“ (Huxel 2014: 56)
So liegt etwa der Hierarchie zwischen „zivilisiert“ und „unzivilisiert“ eine jahrhundertlange Tradition zugrunde. Innerhalb der Differenzlinie „Staatsangehörigkeit“ kann eine Vielzahl an Zwischenpositionen eingenommen werden: von „Deutsch“, über „EU-Staatsbürgerschaft“, „Staatsangehörigkeit eines Nicht-EU-Landes bis hin zum Status „Asylbewerber“ gibt es verschiedenste Varianten, mit denen klar zugeordnete Rechte und damit Privilegien verbunden sind. „Die Positionierung auf den einzelnen Differenzlinien in Bezug auf Macht und Teilhabe bzw. Ausschluss erfolgt dabei nicht zufällig oder orientiert an individuellen Kompetenzen, sondern ist als gezielte gesellschaftliche Ordnungstätigkeit zu verstehen.“ (Ebd.: 60) Dabei können sich die Positionierungen entlang von Differenzlinien im Laufe einer Biografie verändern, zum Beispiel durch veränderte Lebensumstände. Zudem macht es einen entscheidenden Unterschied, ob eine Differenzlinie selbst- oder fremddefiniert ist. Eine Positionierung innerhalb von Jugendkulturen beispielsweise erfolgt vielfach selbstdefiniert und gestaltet sich dementsprechend im Laufe eines Lebens dynamisch. Der Differenzraum „bildungsbenachteiligt“ hingegen wird kaum selbstdefiniert entstehen. Hier handelt es sich um eine Fremddefinition, die im Sinne einer dichotomen
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Hierarchie zwischen „gebildet“ und „ungebildet“ die damit verbundene Benachteiligung innerhalb der sozialen Ordnung klar benennt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, durch Gesellschaftsstrukturen verursachte Ungleichheitslagen abzugrenzen von Praktiken der Positionierungen im Sinne aktiver Diskriminierung. Diese erfolgt auf der Grundlage kategorialer Einteilungen und Zuschreibungen von Eigenschaften. Albert Scherr weist jedoch auf einen Zusammenhang zwischen Ungleichheitsverhältnissen und der Verwendung diskriminierender Unterscheidungen hin. „Denn Gesellschaften mit Strukturen sozialer Ungleichheit erzeugen in dem Maß einen Bedarf an diskriminierenden Klassifikationen, wie sie dem ungleichheitsbezogenen Legitimationsbedarf nicht durch meritokratische Versprechungen gerecht werden können.“ (Scherr 2012: 8) Durch soziale Ungleichheiten verursachte Differenzräume – wie „bildungsbenachteiligt“ – sind demnach also auch ein Effekt von diskriminierenden Zuordnungen und Positionierungspraktiken. Um methodologisch intersektionell zu arbeiten, schlagen Gabriele Winker und Nina Degele (2010: 19) einen Mehrebenenansatz vor, der „sowohl gesellschaftliche Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen (Makro- und Mesoebene) sowie Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) als auch kulturelle Symbole (Repräsentationsebene)“ berücksichtigt. Gudrun Perko und Leah Carola Czollek (2008) bieten mit der intersektionalen Analyse drei Zugangsweisen zu einer gender- und diversitygerechten Didaktik an, die einen Reflexionsrahmen über die angemessene Berücksichtigung aller Differenzlinien von Teilnehmenden bietet: Die interkategoriale Zugangsweise analysiert die Wechselwirkungen zwischen den Kategorien. Die intrakategoriale Zugangsweise nimmt Fragen von Differenz und Ungleichheit innerhalb einer Kategorie in den Blick. Die antikategoriale Zugangsweise schließlich thematisiert die Konstruktion der Kategorien und strebt deren Dekonstruktion an. Hier geht es um das Aufbrechen von Stereotypen und die Transformation zu neuen (Selbst-) Entwürfen (ebd.: 7ff.). Mit Blick auf die Fachkräfte-Fortbildung betrachtet der intersektionale Ansatz den Lehr- bzw. Bildungsraum als eine reduzierte Spiegelung der Gesellschaft (ebd.: 7). Denn auch bei den Teilnehmenden finden sich Diversitäten, die Anlass zur Reflexion und Wissensvermittlung in Fortbildungsgruppen bieten. Insgesamt gewinnt die mehrdimensionale Analyse sozialer Ungleichheiten in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung und ist mittlerweile
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im Mainstream der Theorien zu diesem Thema angelangt (Yuval-Davis 2014). Dabei bietet der intersektionale Ansatz nicht nur einen ganzheitlichen Rahmen, um Benachteiligung zu erfassen. Er hält auch eine Reihe interessanter pädagogischer Methoden im Bereich der Sensibilisierungsarbeit bereit, die häufig auch in Diversity-Trainings Anwendung finden. So widmet sich das Internetportal „www.portal-intersektionalitaet.de“ explizit der Diskussion und fachlichen Aufarbeitung des Themas. Konkrete intersektionale Fortbildungsmethoden beschreiben auch Katrin Huxel (2014) sowie die Initiative i-Päd (2014). Der Diversity-Ansatz und der intersektionale Ansatz schließen sich also auf der praktischen Ebene keinesfalls aus. Und auch im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung findet mittlerweile eine Zusammenführung der beiden häufig konfrontativ gegenübergestellten Bereiche statt. Laut Krell, die für eine Integration beider Ansätze plädiert, finden sich in der deutschsprachigen Fachliteratur zu Gender, Intersektionalität und Diversity „nicht selten Darstellungen, in denen und durch die Diversity abgewertet wird“ (ebd.: 2). Auch Margit E. Kaufmann (2015) zeigt in ihrem Beitrag „Diversity nicht ohne Intersektionalität“ auf, dass beide Bereiche nicht ohneeinander zu betrachten sind und postuliert ein Konzept machtkritischer intersektioneller Diversity Studies.
F AZIT Ungeachtet dieser Entwicklungen werden gängige Begrifflichkeiten wie Diversität und Vielfalt in der Kulturellen Bildung teilweise noch eindimensional verwendet. Zum Thema Intersektionalität sind im Feld der Kulturellen Bildung bisher kaum Referenzen auffindbar. Jenseits dieser Auslegungs- und Anwendungsfragen von Fachterminologien jedoch bleibt die Frage spannend, ob und wie die Kulturelle Bildung die Kluft zu den wenig erreichten Zielgruppen in der konkreten Umsetzung schließt und zukünftig schließen wird? Beispiele wie das Programm „Kultur macht stark“ zeigen, dass es möglich ist, Kindern und Jugendlichen in benachteiligenden Lebenssituationen das angestrebte „Mehr an Kultureller Bildung“ zu ermöglichen. Hier könnte es sich jedoch lohnen, noch einmal ausgiebig zu reflektieren bzw. zu untersuchen, welche Aspekte der Angebote hier zielführend waren: War es tatsächlich die explizite Zielgruppen-
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ansprache? Oder waren hier eher der kooperative Ansatz der Bündnisbildung, der sozialraumorientierte Fokus oder die bewusste Öffnung der Angebote auch für andere Zielgruppen ausschlaggebende Gelingensbedingungen für das Ermöglichungsmodell? Immerhin bewirkt das Programm in Bezug auf diese Elemente auf einer sekundäreffektiven Ebene auch systemstrukturelle Veränderungen, weil die Träger und Einrichtungen der Kulturellen Bildung ihre Angebote im Rahmen des Förderauftrags konzeptionell und methodisch weiterentwickeln. Ist die gezielte Definition und Ansprache von Zielgruppen also der zielführende Weg zu mehr Teilhabe – getreu dem Motto: vielfältige Konzepte für vielfältige Zielgruppen? Oder weist der Weg künftig eher in eine Richtung, die gemäß dem Motto der Sinus-Studie „‚den Jugendlichen‘ gibt es nicht“ (siehe oben) Zielgruppen-Vielfalt als selbstverständlich voraussetzt und den Blick deshalb ganz im Sinne der Inklusion noch stärker auf das Individuum und weniger auf Gruppen bzw. zugeschriebene Gruppierungen lenkt? Dass die Antworten nur im Dazwischen dieser beiden Möglichkeiten liegen können, zeigt der intersektionale Ansatz. Denn die Verschränkung der unterschiedlichen Differenzkategorien zu berücksichtigen, erfordert sehr wohl eine Segmentation dieser. Der entscheidende Unterschied jedoch liegt hier in der Betrachtungsweise: Der Fokus schwenkt weg vom Individuum und seiner Gruppe auf die benachteiligenden Umstände. Damit weitet sich der Blick auf die systemische Ebene. Häufig wird diese mit dem Argument der Machtlosigkeit in Bezug auf strukturelle und politische Rahmenbedingungen („daran können wir nichts ändern“) in der Praxis nicht konkreter verfolgt. Im Kontext der Professionalisierung kann diese Perspektiverweiterung jedoch eine bewusste Auseinandersetzung mit Fragen bedeuten wie: Wo steht der Teilnehmende und wo steht der (Kultur-) Vermittelnde? Wer positioniert sich aufgrund welcher Ausgangslage wie? Und wer definiert wen als welche Zielgruppe und wer nimmt diese Definition an oder nicht? So eröffnet sich eine Perspektive, die nicht die Zielgruppe aus einer externen Position heraus analysiert (kategorisiert), sondern alle(s) in die Analyse miteinbezieht: Vermittelnde Personen, Pädagoginnen und Pädagogen, institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen, Teilnehmende und Teilgebende werden in kontinuierlicher Wechselwirkung zueinander betrachtet. Im systemtheoretischen Sinne wird damit
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„eine Ganzheit betrachtet, deren Elemente in einem Netzwerk von Wechselbeziehungen miteinander verbunden sind, in dem jedes die Bedingungen aller anderen bestimmt. Untersuchungsgegenstand sind dementsprechend Strukturen und Funktionen, d.h. die Beziehungen und Positionen von Elementen zueinander innerhalb eines Gesamtgefüges, die Regeln ihrer Interaktion und Kommunikation sowie die Gesetzmäßigkeiten der Stabilisierung und Veränderungen von Systemzuständen und -strukturen.“ (Simon 2007: 16)
Mit dieser Sichtweise wird die Zielgruppe zum Gruppenziel: In ihr geht es nicht mehr um uns und die (von uns zu fördernden) anderen, sondern um uns alle innerhalb einer Gesamtheit, die fähig ist, Positionierungen zu verschieben und Teilhabe nicht weiter als Auftrag einer Gruppe an die andere betrachtet.
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Internationalisierung der Kulturellen Bildung in Deutschland Reflexionen zur Öffnung eines Diskurses S ANDRA C ZERWONKA
I NTERKULTUR , I NTERNATIONALITÄT UND I NTERNATIONALISIERUNG IN DER K ULTURELLEN B ILDUNG Die Forderung nach interkultureller Öffnung der Kulturellen Bildung in Deutschland hat den kulturpolitischen Diskurs in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark geprägt (Scheytt 2007: 10f.). Dies hatte eine generelle Stärkung der Auseinandersetzung mit Fragen der Migration und der interkulturellen Gesellschaft zur Grundlage, wobei Kulturelle Bildung als ideal geeignet erschien, den daraus resultierenden gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber als Vermittlerin interkultureller Kompetenz zu entgegnen (Kröger et al. 2007: 42). Wo von Interkultur die Rede ist, scheint der Schritt zur Internationalität nicht weit (Keuchel 2015a), bildet die nationale Zugehörigkeit doch ein Merkmal zur Identifizierung kultureller Ausprägungen. Zwar wird, insbesondere vor dem Hintergrund immer fluider werdender Kulturbegriffe im Diskurs um Poly-, Inter- und Transkulturalität (ebd. 2015b) deutlich, dass die paarweise Zuordnung einer bestimmten Nationalität und einer entsprechenden kulturellen Ausprägung nicht mehr als ein Hilfsmittel auf dem Weg zur Erkenntnis sein kann (vgl. Kaufmann 2011: 118ff.), jedoch dient die Nationalität als eine Art Konkretisierung des abstrakten Kulturbegriffs.
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Somit ist die Diskussion um Internationalität in der Kulturellen Bildung (Keuchel 2015a) auch an den Aufschwung der Interkulturdebatte geknüpft. Internationalität in der Kulturellen Bildung bedeutet vor dem Hintergrund, interkulturellen Anforderungen durch Herstellung internationaler Diversitätsbezüge (ebd.: 136) zu entsprechen, etwa durch die Einbindung ausländischer Künstlerinnen und Kulturvermittler, Kunstwerke und Alltagskultur. Ein weiterer Schritt der diskursiven Öffnung besteht in der Internationalisierung der Kulturellen Bildung. Möglicherweise steigern vermehrte Forderungen nach „Mehr Internationalisierung in der Kulturellen Bildung“ (BKJ 2015) auch die Bereitschaft, Kulturelle Bildung in ihrer Praxis, Wissenschaft und Politik über Ländergrenzen hinweg zu verhandeln und gemeinsame Strukturen zu schaffen. In diesem Beitrag steht der Internationalisierungsprozess der Kulturellen Bildung aus deutscher Perspektive im Fokus. Anhand bisheriger und aktueller Entwicklungen in Forschung und Politik werden die Motive und Antriebskräfte der internationalen Öffnung sowie deren Begleiterscheinungen, Interessenkonflikte und damit verbundene Herausforderungen erörtert.
I NTERNATIONALE Ö FFNUNG DER K ULTURELLEN B ILDUNG IN D EUTSCHLAND : F ORTSCHRITTE UND B ARRIEREN Bedingt durch die vergleichsweise junge Geschichte der Kulturellen Bildung (vgl. Zirfas 2015: 32f; Zacharias 2015: 45) steckt die diesbezügliche Internationalisierung in der wissenschaftlichen und politischen Zusammenarbeit noch am Anfang. Beispielhaft für Internationalisierungsprozesse stehen Forschungsverbünde wie International Network for Research in Arts Education (INRAE) und kulturpolitische Netzwerke wie European Network of Policy Makers in the Field of Arts and Cultural Education (ACEnet). Die Aufmerksamkeit der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) für Kulturelle Bildung (Manhart 2014: 18ff.) schlägt sich unter anderem in der 1. und 2. UNESCO-Weltkonferenz zur kulturellen Bildung und der Einrichtung zweier Lehrstühle für Kulturelle Bildung, einer davon an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, nieder.
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Innerhalb der letzten Jahre finden in Deutschland vermehrt internationale Fachtagungen zur Kulturellen Bildung statt, etwa die „International Conference on Cultural Policy Research“ in Hildesheim (2014) und die Reihe „Perspektiven Kultureller Bildung in Europa“ in Genshagen (2015) und Remscheid (2016), die den Wissenstransfer zu Forschung, Praxis und Politik der Kulturellen Bildung in europäischen Ländern für deutsche Fachleute fördert. Mit der Beteiligung als „National Observatory“ im European Network of Observatories in the Field of Arts and Cultural Education (ENO), unter Schirmherrschaft der Deutschen UNESCO-Kommission, trägt die Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW seit 2015 zur Internationalisierung deutscher Fachdebatten bei. ENO hat unter anderem eine länderübergreifende Bestandsaufnahme von Wissenschaft und Praxis der Kulturellen Bildung zum Ziel und veröffentlicht Forschungsergebnisse aus den jeweiligen Partnerländern. Vor dem Hintergrund ist die Anzahl englischsprachiger Publikationen deutscher Autorinnen und Autoren im Feld der Kulturellen Bildung eher gering, wie eine Durchsicht der Datenbank „Forschung zur Kulturellen Bildung in Deutschland seit 1990“ der Friedrich-Alexander-Universität ergab. Da die englische Sprache sich als Lingua franca der internationalen Wissenschaft durchgesetzt hat (Gnutzmann/Bruns 2008: 9), kommt eine geringe Publikationsrate in englischer Sprache einem weitgehenden Verzicht auf internationale Anerkennung im jeweiligen Forschungsbereich gleich. Was das Gebiet der Kulturellen Bildung in Deutschland betrifft, können hierfür mehrere mögliche Gründe aufgeführt werden. Zum einen könnte es sein, dass viele der von deutscher Seite behandelten Themen der Kulturellen Bildung als weniger relevant für ein internationales Publikum eingeschätzt werden. Hierfür spricht die noch junge Forschungstradition im Bereich der Kulturellen Bildung, die in Deutschland eher philologisch als sozialwissenschaftlich orientiert ist, wobei geisteswissenschaftliche Themen tendenziell eher von regional eingeschränktem Interesse sind (Ammon 2008: 36). Hinzu kommt ein nicht zu unterschätzendes sprachliches Problem. Während etwa die Fachsprache der Naturwissenschaften aufgrund ihrer ausgeprägten sprachlichen Formalisierung (ebd.: 37) Übersetzungen in fremde Sprachen begünstigt, sind geistes- und sozialwissenschaftliche
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Fachtermini weniger kulturneutral (Gnutzmann/Bruns 2008: 11). Dies gilt auch und besonders für den deutschen Begriff der Kulturellen Bildung mitsamt seinen ideellen Implikationen (Fuchs 2008a: 11ff.), die sich in die pragmatischer anmutende (Liebau/Wagner 2011) englische Entsprechung arts education nicht ohne Weiteres übertragen lassen (vgl. u.a. ReinwandWeiss/Stoffers 2015; Keuchel 2016a). Es gibt also einige nachvollziehbare Gründe, die für herkunftssprachliche Publikationen im Bereich der Kulturellen Bildung sprechen, wobei außerdem zu vermuten steht, dass viele deutschsprachige Fachbeiträge sich eher an inländische politische Entscheidungspersonen als eine (internationale) scientific community richten. Die zunehmende Akademisierung des deutschen Diskurses um Kulturelle Bildung in Form von internationalen Fachveranstaltungen und Netzwerken könnte jedoch einen zukünftigen Wandel im Publikationsverhalten begünstigen.
G EMEINSAME I NTERESSEN STÄRKEN DURCH I NTERNATIONALISIERUNG Ein Anfang für eine verstärkte internationale Zusammenarbeit im Bereich der Kulturellen Bildung ist gemacht. Welche Motive können für die zunehmende Internationalisierung identifiziert werden und welche Chancen liegen darin für das Standing der Kulturellen Bildung? Im Interesse der Fürsprecherinnen und Fürsprecher Kultureller Bildung liegt es, ihr Thema politisch relevant zu halten. Im Schatten des PISASchocks haben die deutschen Interessenvertretungen sich oft auf gesellschaftlich und individuell relevante Wirkungsbehauptungen Kultureller Bildung gestützt (vgl. Elbertzhagen 2010; Reinwand-Weiss/Stoffers 2015). Diese Strategie ist zweischneidig, da sie entsprechende Initiativen in die Verlegenheit einer oftmals schwierig zu erfüllenden Beweislast bringt und den Selbstzweck der Kulturellen Bildung implizit schwächt (u.a. Elbertzhagen 2010: 69ff.; Reinwand-Weiss/Stoffers 2015). Sich auf den viel zitierten Eigensinn von Kunst und Kultur zu fokussieren, scheint aus Sicht der Interessenvertretung wiederum oft zu unsicher zu sein (vgl. Elbertzhagen 2010: 70). Es ist sicherlich nicht zu viel gesagt, dass das Legitimationsproblem der Kulturellen Bildung weniger groß wäre, wenn ein grundlegender gesellschaftlicher und politischer Konsens über die Notwendigkeit von Kunst und
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Kultur, wie sie im Rahmen der Kulturellen Bildung be- und verhandelt werden, bestünde, der sich in entsprechenden Finanzierungsmodellen niederschlägt. Es gilt aus dieser Perspektive also, die Notwendigkeit von Kunst, Kultur und, in der Konsequenz, von Kultureller Bildung stärker zu betonen und aus dieser Notwendigkeit einen allgemeinen Anspruch darauf abzuleiten. Der Kampf um Legitimation ist kein speziell deutsches Problem und betrifft auch andere Länder (Reinwand-Weiss/Stoffers 2015), was für eine gemeinsame Zusammenarbeit auf dem Weg zu mehr politischer und gesellschaftlicher Anerkennung spricht. Andererseits kann auch ein Austausch mit im Bereich der Kulturellen Bildung politisch besonders gut aufgestellten Ländern (Liebau/Wagner 2011) hilfreich sein. Durch die internationale Zusammenarbeit wurden bereits einige gemeinsame Erfolge erzielt. Hervorzuheben sind hierbei die „Road Map for Arts Education“ (2006; siehe Fuchs 2008b) und die „Seoul Agenda“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2010), welche im Rahmen der bereits erwähnten UNESCO-Weltkonferenzen zur Kulturellen Bildung in Lissabon und Seoul entstanden. Dabei handelt es sich um rechtlich nicht bindende, aber politisch durchaus verwertbare (Fuchs 2012) Papiere, welche gemeinsame Leitziele und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen zur Weiterentwicklung der „Künstlerischen und Kulturellen Bildung“ (Deutsche UNESCOKommission 2011) formulieren. Das Interessante an diesen Dokumenten ist ihre Anschlussfähigkeit an das Ziel kultureller Teilhabe als universelles Menschenrecht (vgl. Fuchs 2012), welches, bei steigender internationaler Anerkennung, der Interessenvertretung Kultureller Bildung den Rücken stärken könnte.
M EHR A NERKENNUNG A RBEIT AM D ISKURS
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Die verstärkte europäische Zusammenarbeit, etwa im Rahmen von ACEnet und ENO, ist auch vor dem Hintergrund des andauernden Bedeutungszuwachses der Europäischen Union (EU) für nationale Politikfelder zu betrachten. Dies gilt ebenfalls für das zunehmende Interesse von Stakeholdern sowie Institutionen der Kulturellen Bildung für spezifische EU-Themen, wie das „Brexit“-Votum 2016 (siehe Paul Collard 63ff. in diesem Band)
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oder auch die Verhandlungen zur Transatlantischen Handels- und Innovationspartnerschaft (TTIP), und geht gleichzeitig mit einer stärkeren Hinwendung des Diskurses um Kulturelle Bildung aus der jugend- und kulturpolitischen Nische zur Real- und Tagespolitik einher. Welche Chancen bietet eine verstärkte europäische Zusammenarbeit der Kulturellen Bildung im Rahmen von Europapolitik? Zunächst einmal ist Kulturpolitik in erster Linie Angelegenheit der Mitgliedsstaaten. Die EU sieht ihren Beitrag daher zunächst recht bescheiden anmutend im Ziel der „Wahrung und Förderung der Kulturvielfalt“ (Art. 167 AEUV), welches die Kommission durch verschiedene Maßnahmen konkretisiert. Darüber hinaus sind Kunst und Kultur aber auf mittelbare Weise Gegenstand diverser Politikfelder der EU, etwa im Bereich der Strukturpolitik. Mit „Kreatives Europa“ lancierte die Europäische Kommission ein Förderprogramm im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens von 2014 bis 2020, welches die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kultursektors im Rahmen des Binnenmarktprojekts in den Blick nimmt und aufgrund seines ökonomischen Duktus gegenüber Kunst und Kultur kritisiert wurde (Bruell 2013: 22ff.). Das Verständnis von Kulturgütern und -dienstleistungen als Gegenstand von Wachstums-, Beschäftigungsund Wettbewerbsförderung, welches entlang des Diskurses um Kreativwirtschaft läuft, wird aus kulturlobbyistischer Perspektive oft als potenzielle Gefahr für die deutsche Tradition der Kulturförderung im Sinne einer Grundversorgung (vgl. Zimmermann 2004: 117ff.) betrachtet. Vor diesem Hintergrund eignet sich die Kulturelle Bildung als Chiffre für eine der Erbauung dienende und in sich schützenswerte Kultur und auch als Gegengewicht zu dem in Europa aufstrebenden Konzept der Kultur- und Kreativwirtschaft (Fuchs 2008b). Dabei sei darauf hingewiesen, dass sowohl die Interessenvertretung der Kulturellen Bildung als auch der Kreativwirtschaft ihre Argumente stark auf das europäische und in dem „UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ verankerte Prinzip der kulturellen Vielfalt abstellen und somit um die zukünftige Ausrichtung dieses Diskurses konkurrieren. Um Anerkennung auf europäischer Ebene für Kulturelle Bildung zu finden und weniger abhängig von kulturpolitischen Trends auf nationalstaatlicher Ebene zu sein (vgl. Schad/Szokol 2012), gilt es für die beteiligten Personen der Mitgliedsstaaten, sich auf gemeinsame Konzepte Kulturel-
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ler Bildung zu einigen und deren Anschlussfähigkeit für die Ziele der EU (Wimmer 2011) hervorzuheben sowie den gezielten Aufbau von Ressourcen in Infrastruktur und Forschung (Schad/Szokol 2012) voranzutreiben.
K ULTURELLE B ILDUNG UND I NTERNATIONALISIERUNG : G LOBALISIERUNG DER D ISKURSE ? Das Konzept der Internationalisierung ist eng mit dem Phänomen der Globalisierung verbunden, welches das noch recht junge Konzept der Nationalstaaten in mehrerlei Hinsicht auf die Probe stellt: Nationale Volkswirtschaften werden durch Binnenmärkte und Freihandelszonen schrittweise geöffnet, wodurch nationale Märkte effizienter, aber auch anfälliger für ausländische Konkurrenz werden können. Das Konzept der nationalstaatlichen Souveränität erfährt ebenfalls einen Perspektivwechsel – sowohl durch völkerrechtliche Bestimmungen oder, wie am Beispiel der EU, durch tiefgreifenden Kompetenztransfer einstig nationaler Handlungsfelder auf die Ebene eines Staatenverbunds. Wie sind diese Nebenwirkungen der Globalisierung – Konkurrenzdruck und Kompetenztransfer – auf die zukünftige Entwicklung des Diskurses um Kulturelle Bildung zu übertragen? Vieles spricht dafür, dass eine Globalisierung des Diskurses mit Einschnitten für regionale Konzepte einhergeht – umso mehr, da es sich bei Kultureller Bildung um ein „schwach bestimmtes bzw. offenes und vielfältiges Konzept“ (Wimmer 2011) handelt. Internationale Dokumente wie die „Road Map for Arts Education“ und die „Seoul Agenda“ folgen dem Gedanken einer Kulturellen Bildung für alle. Ihr implizites Ziel ist es, eine Art Anspruchsrecht (vgl. Fuchs 2012) auf Kulturelle Bildung zu verankern und so Teilhabe an und Zugang zu Kultur zu stärken. Solch ein universalistischer Ansatz, der auch dem Konzept der Menschenrechte zugrunde liegt (vgl. ebd.), folgt, so Emily Akuno et al. (2014), dem bildungsbürgerlichen Aufklärungsgedanken des 18. Jahrhunderts und hat somit eine klare kulturelle Verortung. Auch inhaltlich waren die Papiere nicht unumstritten – gegenüber der „Road Map for Arts Education“ wurden Vorbehalte bezüglich ihrer Fokussierung auf euro-
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päische Kulturtraditionen und Forderungen nach einem breiteren, inklusiveren Kulturbegriff geäußert (ebd.: 79). Ein möglichst breites Konzept für die politische Ausgestaltung der Ziele Kultureller Bildung geht mit der im Zuge der Globalisierung zunehmenden Entgrenzung regionaler Kulturräume einher. Auch und gerade im deutschsprachigen Diskurs wird die Idee einer „Leitkultur“ und des Konzepts der Kulturellen Bildung als Mittel der Enkulturation vielfach zurückgewiesen und ein offener, diversitätsbewusster Ansatz bevorzugt. Diesem Universalismus gegenüber stehen international abgestimmte Konzepte, die sich kulturrelativistisch nutzen lassen, etwa das (juristisch umstrittene) gruppenspezifische „Recht auf eigene kulturelle Entwicklung“ (Fuchs 2012), aber auch das im Diskurs um Kulturelle Bildung vielfach genutzte Konzept der kulturellen Vielfalt. Letzteres, wie es im bereits erwähnten UNESCO-Abkommen als auch im Primärrecht der EU verankert ist, spielte eine relativ prominente Rolle im Rahmen der Anti-TTIP-Initiativen. In dem Rahmen wurde seitens prominenter Interessenvertreterinnen und -vertreter der Kultur und der Kulturellen Bildung in Anlehnung an den französischen Begriff der exception culturelle eine Kulturelle Ausnahme im Rahmen eines möglichen Transatlantischen Freihandelsabkommens eingefordert. Dabei wurde unter anderem mit einem unterschiedlichen Kulturverständnis zwischen den Verhandlungsparteien EU und USA argumentiert (Deutscher Kulturrat e.V. 2014: 243) und dafür plädiert, Kultur und Medien vor Freihandel zu „schützen“ (vgl. ebd.: 242). Kurzum, mithilfe des Konzepts der kulturellen Vielfalt argumentierte ein Großteil der deutschen Kulturlobby – ungeachtet ihrer zugrunde liegenden Motive –, unterstützt von Akteurinnen und Akteuren der Kulturellen Bildung, kulturrelativistisch und gegen eine (kulturelle) Öffnung. Die Widersprüche und Interessenkonflikte, welche den Internationalisierungsdiskurs Kultureller Bildung begleiten, weisen darauf hin, dass im Zuge internationaler Zusammenarbeit zum einen regionale Konzepte Kultureller Bildung miteinander konkurrieren und zum anderen die Kooperationspartner zumindest einen Teil ihrer Diskursmacht abtreten müssen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Begriff der arts education, welcher für einen Teil der deutschen Diskursbeteiligten aus oben ausgeführten Gründen nicht zufriedenstellend ist, aber ihres etablierten Status wegen in der internationalen Zusammenarbeit in der Regel genutzt wird.
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Generell wird im Rahmen internationalen Austauschs die Vielfalt an kulturspezifischen Begriffen und dahinterliegenden Implikationen deutlich, die oft zu Missverständnissen, Uneinigkeiten und gar Unstimmigkeiten führen kann. Der polnische Begriff der animacja kulturalna, im Deutschen am ehesten mit Kulturvermittlung zu übersetzen, welcher auf der Tagung „Perspektiven Kultureller Bildung in Europa“ 2015 in Genshagen in der Verkehrssprache Englisch als cultural animation verwendet wurde, stieß bei einigen deutschen Fachleuten aufgrund ihrer eigenen Vorstellung von Animation auf Dissonanzen (Keuchel 2016b: 100). Da die jeweiligen Differenzen zwischen den Kooperationsbeteiligten nicht vollständig auflösbar sind (und dies im Sinne der kulturellen Vielfalt auch kaum sein sollten), muss im Rahmen internationaler Zusammenarbeit irgendeine Form von Einigung im Umgang mit den verschiedenen Konzepten und Diskursen herbeigeführt werden. Am Beispiel der Begrifflichkeiten könnte ein möglicher Weg sein, in der internationalen Zusammenarbeit von arts education zu sprechen, aber weiterhin „Kulturelle Bildung“ zu meinen1 – wobei davon auszugehen ist, dass sich die Konzepte auf lange Sicht gegenseitig überlagern und sich „schwächere“ Konzepte Kultureller Bildung „stärkeren“ unterordnen. Somit findet eine Art Souveränitätstransfer auf Ebene des Diskurses statt: Unter der Annahme, dass die Vertreterinnen und Vertreter sowie Institutionen verschiedener Staaten und Regionen ihr gemeinsames Ziel nach (mehr) Kultureller Bildung im Verbund besser verfolgen können als für sich allein, sind sie im Zweifel bereit, neue Diskurse zu übernehmen – etwa den der Diversität – um von der gemeinsamen Zusammenarbeit profitieren zu können. Dass Letzteres gegeben ist, ist notwendige Bedingung dafür, einen solchen Trade-off einzugehen.
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Eine gegenläufige Tendenz ist jedoch ebenfalls auszumachen: Einige internationale Dokumente verwenden mittlerweile den Begriff der arts and cultural education.
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Ö FFNUNG
DES
D ISKURSES
ALS
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Denn selbstverständlich ist die Öffnung für neue Konzepte nicht allein aus der Perspektive einer möglichen Bedrohung für regionale und nationalspezifische Diskurse zu sehen, sondern auch als mögliche Bereicherung. Durch internationale Kooperationen kann es beispielsweise zu Know-howTransfers zwischen einzelnen Forschungstraditionen in der Kulturellen Bildung kommen. Die „International Yearbooks for Research in Arts Education“ zeigen eindrucksvoll, welche Bandbreite an Forschungsansätzen etwa sowohl aus Perspektive der Friedens- und Konfliktforschung sowie der Entwicklungspolitik als auch im methodologischen Bereich existiert. In Deutschland wird diese Vielfalt aufgrund der philologisch orientierten Fokussierung auf Kulturelle Bildung (noch) weniger intensiv praktiziert. Eine internationale Öffnung hat das Potenzial, die jeweiligen regionalen und nationalspezifischen wissenschaftlichen Diskurse der Kulturellen Bildung zu befördern und zu bereichern. Da es sich bei Kultureller Bildung jedoch nicht nur um einen Forschungsgegenstand, sondern ein interessengeleitetes und ideell vorgeprägtes Politikfeld handelt, gehen die Herausforderungen der internationalen Zusammenarbeit weit über akademische Debatten der Kulturellen Bildung hinaus.
L ITERATUR Akuno, Emily/Klepacki, Leopold/Lin, Mei-Chun/O’Toole, John/Reihana, Tia/Wagner, Ernst/Zapata Restrepo, Gloria: (2014): Whose Arts Education? In: Fleming, Mike/Bresler, Liora/O'Toole, John (Hg.): The Routledge International Handbook of Arts and Education. Abingdon: Routledge, S. 79-105. Ammon, Ulrich (2008): Deutsch als Wissenschaftssprache: Wie lange noch? In: Gnutzmann, Claus (Hg.): English in Academia. Catalyst or Barrier? Tübingen: Narr, S. 25-43. BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung) (2015): Mehr Internationalisierung in der Kulturellen Bildung? [www.bkj.de/ kulturelle-bildung-dossiers/kulturelle-bildung-international/news/artikel/id/ 8536.html, zuletzt aufgerufen am: 12.01.2017].
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Begrenzte Körper – begrenzte Forschung? Potenziale künstlerisch-partizipativer Forschungsansätze am Beispiel Kultureller Bildung im Strafvollzug F ABIAN C HYLE UND H ENNING VAN
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E INFÜHRUNG Kulturelle Bildung wird nicht nur als primär- oder sekundärpräventives Angebot für Kinder und Jugendliche konzipiert. Auch im Strafvollzug gibt es solche Angebote. Gleichwohl findet dieser Zweig in der anhaltenden Diskussion um Kulturelle Bildung kaum Beachtung. Auch die Forschung im Kontext Kultureller Bildung hat sich zumindest in Deutschland wenig diesen Projekten zugewandt. Und die wenigen Untersuchungen in diesem Handlungsfeld können aufgrund ihres wirkungsorientierten und standardisierten Methodenzuschnitts wenig belastbare Erkenntnisse zu individuellen Nutzungs- oder Gestaltungsprozessen liefern. In diesem Beitrag sollen einerseits auf der Basis des bisherigen Forschungsstands Potenziale von körperund bewegungsbasierten Angeboten im Kontext von Kultureller Bildung für Straftäter herausgestellt werden. Andererseits stehen die Potenziale partizipativer Forschung und qualitativer Methoden – als Alternative zu Wirkungsforschung und deren standardisierten Instrumentarien – für deren Erforschung im Blickfeld.
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S TRAFGEFANGENE – EINE K ULTURELLER B ILDUNG
VERGESSENE
Z IELGRUPPE
Kulturelle Bildung wird heute vor vielerlei Hintergründen thematisiert. Nach wie vor dominiert im breiten Zielgruppenspektrum Kultureller Bildung die Zielgruppe der – bildungsfernen und sozial benachteiligten – Kinder und Jugendlichen. Im Zuge des demografischen Wandels werden auch zunehmend Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter ebenso wie im Zuge des Ausbaus institutioneller Fremdbetreuung zunehmend Klein- und Vorschulkinder von Angeboten Kultureller Bildung adressiert. Eine Zielgruppe und ein damit eng verbundenes Praxisfeld findet jedoch kaum Beachtung: Kulturelle Bildung mit Strafgefangenen. Die Arbeit mit Strafgefangenen stellt Künstlerinnen und Künstler wie Kulturpädagoginnen und -pädagogen gleichermaßen vor große Herausforderungen. Zum einen findet die Arbeit in einem Zwangskontext statt – Freiwilligkeit der Teilnahme als handlungsleitendes Ziel dezidiert kulturpädagogischer Ansätze ist hier nicht gegeben. Zum anderen werden Strafgefangene von einer eigenen Lebenswelt umschlossen, die vielen Vermittlungsakteurinnen und -akteuren der Kulturellen Bildung fremd ist. Somit sind Erbringungsverhältnis, -situation und -kontext von einer Vielzahl von Eigenarten und Besonderheiten gekennzeichnet, die sich häufig erst im direkten Kontakt mit der Institution und ihren Insassen zeigen. Diese speziellen Herausforderungen zu erkennen und zu bewältigen, gestaltet sich langwieriger und mühevoller als in anderen Handlungsfeldern Kultureller Bildung. Hinzu kommt, dass der vor diesem Hintergrund umso mehr erforderliche Austausch jener Personen, die bereits über entsprechende Erfahrungen mit tanz- und bewegungsbasierten Angeboten Kultureller Bildung im Strafvollzug verfügen, gering ausgeprägt ist. In der Ausbildung findet das Handlungsfeld Strafvollzug kaum Beachtung. Auch innerhalb der Forschung über Kulturelle Bildung gibt es wenig Arbeiten, die solche Angebote mit Strafgefangenen empirisch untersucht haben. Noch überschaubarer wird es, wenn man nach Studien sucht, die ihre Erkenntnisse an theoretische Bezüge rückkoppeln oder für die Praxis in verwertbarer Weise aufbereiten konnten. Dabei wären doch insbesondere hier Theoriebildung und Wissenstransfer gleichermaßen von hoher gesellschaftlicher Relevanz: Schließlich ist der Strafvollzug der vorrangige Ort für Resozialisierungsmaßnahmen.
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K ÖRPER - UND BEWEGUNGSBASIERTE A NGEBOTE DER K ULTURELLEN B ILDUNG FÜR INHAFTIERTE S TRAFTÄTER – B EFUNDE UND P OTENZIALE 1 Unter körper- und bewegungsbasierten Maßnahmen der Kulturellen Bildung subsumieren sich Angebote, die primär Bewegung und Körperausdruck einsetzen, also insbesondere Theater, Tanz und performative Künste. Körper- und bewegungsbasierte Angebote der Kulturellen Bildung im Strafvollzug können potenziell im Kontext von edukativen, künstlerischen, therapeutischen oder Freizeitmaßnahmen realisiert werden. Diese Angebote reichen von Theater- oder Tanzprojekten über bewegungsbasierte Trainingsangebote hin zu körper- und bewegungstherapeutischen Maßnahmen. Allen gemeinsam ist die Verwendung und Instrumentalisierung von körperbasierten künstlerischen Interventionen, um Entwicklungs- und Bildungsprozesse zu initiieren und zu fördern. Eine Mehrheit der körper- und bewegungsbasierten Maßnahmen ziehen ihre Legitimation daraus, dass künstlerische Ausdrucksformen eng verbunden sind mit der Aktivierung von Emotionen und Gefühlen (vgl. van den Broek/Keulen-de Vos/ Bernstein 2011: 326). Wissenschaftliche Untersuchungen zu körper- und bewegungsbasierten Angeboten der Kulturellen Bildung lassen sich insbesondere im künstlerischen und kreativtherapeutischen Bereich finden. David Reiss, Marie Quayle, Tim Brett und Clive Meux (1998: 146ff.) untersuchten beispielsweise in einer unkontrollierten klinischen Studie einen fünftägigen TheaterWorkshop der Geese Theatre Company die Effekte im Bereich von Aggressionsmanagement und Impulskontrolle. Die Ergebnisse der Pre-Post-TestFollow-up-Befragung von zwölf Sexual- und Gewaltstraftätern, die im Rahmen des Workshops eigene theatrale Gestaltungen entwickelten, zeigten signifikante und nachhaltige Verbesserungen im Umgang mit Aggressionen respektive Erlernen von Handlungsalternativen (vgl. ebd.). Über einen Zeitraum von zwei Jahren untersuchten Jennifer Brown, Sarah Houston, Lisa Lewis und Gerda Speller (2004: 9ff.) mithilfe qualitativer (teilnehmende Beobachtung, Bildinterpretation, Interviews und Fokusgruppengespräche) und quantitativer Messinstrumente (psychometrische Testreihen) 1
Der folgende Abschnitt war bereits Teil einer Veröffentlichung in der Zeitschrift „forum kriminalprävention“ (van den Brink/Chyle 2017).
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ein Tanzprojekt und deren Kurz- und Langzeiteffekte auf das Selbstkonzept, die emotionale Kompetenz und die Selbstwahrnehmung der Gefangenen. Die Forschungsergebnisse zu dem Projekt, das vornehmlich die Tanztechnik der Kontaktimprovisation einsetzte, sind widersprüchlich: Während die Teilnehmer in den qualitativen Erhebungen über intensive emotionale Erfahrungen berichteten und ein höheres Maß an emotionaler Kompetenz bei sich wahrnahmen, konnten in den psychometrischen Testreihen keine Effekte im Umgang mit Emotionen oder der Reflexionsfähigkeit im Vergleich zur Kontrollgruppe (n=6) festgestellt werden (vgl. ebd.: 41ff.). Amie Dowling (2011) untersuchte das interdisziplinäre Tanz-/PerformanceProjekt „59 Places“, das in einem Zeitraum von sechs Monaten mit elf Straftätern in einem amerikanischen Gefängnis stattfand. Er kommt zu dem Schluss, dass die aus der performativen Kunst entwickelten bewegungsund körperbasierten Interventionen als unterstützend zur Förderung von Körperwahrnehmung, Körpergrenzen, zur Bearbeitung biografischer Themen und als Hilfestellung während der Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft wahrgenommen wurden (vgl. ebd.: 70ff.). Elsa van den Broek, Marije Keulen-de Vos und David Bernstein (2011) stellten in ihrer Studie fest, dass künstlerische Therapien effektiver in der Aktivierung von positiven bzw. negativen Emotionen sind als herkömmliche psychotherapeutische Behandlungen. Solche eindeutigen Ergebnisse konnte dagegen die Studie von Elizabeth McNamara (2001) nicht liefern. Mittels Kontrollgruppentest wurden die Effekte einer achtwöchigen tanzund bewegungstherapeutischen Behandlung bei Gefangenen mit dualer Diagnose auf deren individuelles Gewaltpotenzial untersucht. Je nach eingesetztem Fragebogen war eine Reduktion der allgemeinen Symptomatik und insbesondere der Symptomatik, die mit Selbst- oder Fremdgefährdung assoziiert wird, mal nachweisbar, mal nicht. Ähnlich widersprüchlich fielen auch die Befunde der Studie von Sabine Koch, Thomas Ostermann, Anna Steinhage, Philipp Kende, Karl Haller und Fabian Chyle (2015) aus, die ein fünftägiges Intensivtraining mit 47 Gefängnisinsassen untersuchten und die Daten aus Fragebögen, Tests, Fokusgruppen und Bewegungsbeobachtung gewannen. Zwar zeigten sich bei der Beantwortung von Fragen zu Wut und Aggression keine signifikanten Unterschiede zwischen Behandlungs- und Kontrollgruppe, aber dafür positive Veränderungen bezüglich Körperwahrnehmung, sozialer Kompetenzen sowie Distanz gegenüber der eigenen Aggression und der erlebten Nähe zur Gruppe und zum Trainer. In der
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Auswertung der Fokusgruppen zeigten sich ebenfalls positive Veränderungen bei der Perspektivübernahme, Emotionserkennung und Empathie. Eine der wenigen qualitativ ausgerichteten Forschungsunternehmungen führten Henk Smeijsters und Corry Cleven (2006) durch. Die Auswertung von Fragebögen, Interviews und Fokusgruppengesprächen mit 31 Therapeutinnen und Therapeuten ergab, dass künstlerische Therapieformen im Strafvollzug Spannungsregulation, Impulskontrolle und Empathievermögen steigern können. Insbesondere tanz- und bewegungstherapeutische Interventionen ermöglichten es den Klienten – so das zentrale Untersuchungsergebnis –, unterdrückte Aggressionen in einer sozial adäquaten Form auszudrücken und alternative Handlungsstrategien zu entwickeln. Körperliche Darstellungsformen fördern die Regulierung aggressiver Impulse und schaffen Distanz, um in der Folge individuelle kognitive Konstruktionen in Bezug auf Aggression identifizieren und reflektieren zu können (vgl. ebd.: 50ff.). Auf der Basis einer ähnlichen Untersuchungsanlage evaluierten Henk Smeijsters, Julie Kim und Han Kurstjens (2011) künstlerische Therapieformen in der Arbeit mit jugendlichen Gewaltstraftätern. Dabei stellte sich heraus, dass künstlerische Therapieformen tendenziell den Fokus auf problematische Kerngebiete – anstatt auf Pathologien – ausrichten und dementsprechend eher die Ursachen als die Ausformung delinquenten Verhaltens thematisieren (vgl. ebd.: 44f.). Maggie McAllister (2011) legte ihrer Untersuchung die These zugrunde, dass Straftäter ein Defizit in der Fähigkeit aufweisen, symbolische Räume aufzubauen. Infolgedessen können sie innere Konflikte und Spannungslagen nicht aushalten, sondern müssen sie körperlich ausagieren. In Anlehnung an den „symbolhaften Übergangsraum“ (Winnicott 1994: 102f.) versteht McAllister den darstellenden Körper als Container, der die Möglichkeit schafft, eben solche emotionalen Spannungen auszuhalten und überhaupt erst einmal zu thematisieren. Als Effekte dieser symbolischen Verkörperung innerhalb des dramatherapeutischen Prozesses identifiziert McAllister (2011: 153ff.) eine erhöhte Therapiemotivation und eine größere Bereitschaft, deliktspezifische Details im therapeutischen Prozess preiszugeben. Auch nach Jacqueline Blatt (1996: 567f.) nutzen Straffällige die Bewegungsprozesse in tanz- und bewegungstherapeutischen Angeboten dazu, sich über die symbolische Ebene des Nonverbalen auszudrücken und miteinander zu interagieren. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Angela Dalessi
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(1998) und Rebecca Milliken (2002), die in dem Bewegungsprozess einen Schutzraum für die Straftäter sehen, der es ihnen ermöglicht, Widerstände abzubauen und deliktspezifische Themen zu bearbeiten. Die deliktspezifischen Themen werden aktualisiert, ohne dass das Delikt erneut begangen werden muss (vgl. Dalessi 1998: 134ff.). Die Straffälligen erlangen über Bewegungsprozesse ein gesteigertes Körpergefühl für Balance und Kraft und entwickeln konstruktive Beziehungsformen und Verantwortungsgefühl (vgl. Milliken 2008: 18ff.). Insgesamt betrachtet bescheinigen die Studien, die – wie viele Studien in anderen Handlungsfeldern der Kulturellen Bildung auch – der Wirkungsforschung zugerechnet werden können und die allesamt ausschließlich männliche Probanden hatten, den körper- und bewegungsbasierten Angeboten im Strafvollzug positive Effekte, sowohl unmittelbar auf die Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle und das Empathievermögen der Gefangenen als auch mittelbar über Öffnungsprozesse gegenüber den Maßnahmen. Aber ganz so eindeutig, wie die Plausibilitätsannahmen es suggerieren, stellen sich die Befunde nicht dar. Auch lassen sich kaum Aussagen über Gelingensbedingungen kultureller Bildungsangebote für Strafgefangene ableiten. Die aufgeführten Studien wurden überwiegend mithilfe rechtspsychologischer Untersuchungsmethoden und im Kontext von projektbezogenen Wirksamkeitsnachweisen durchgeführt. Dabei kamen regelmäßig ein oder mehrere standardisierte Fragebögen und Skalen zum Einsatz. Diese Fragebögen wurden jeweils vor und nach der Intervention den teilnehmenden Strafgefangenen und einer Kontrollgruppe vorgelegt. Allerdings lässt die starke standardisierte Ausrichtung der bisherigen Forschung wenig Raum für das Aufspüren von bislang unbekannten Wirkungen und Wirkungsmechanismen, sondern kann nur vorher getroffene Annahmen bestätigen oder widerlegen. Ebenso weisen insbesondere die hier aufgeführten Mixed-Method-Studien deutliche Unterschiede auf – zum Beispiel zwischen den Ergebnissen der Auswertungen der quantitativen gegenüber den qualitativen Daten (vgl. McNamara 2001; Koch et al. 2015). Hier stellt sich die Frage, wie körper- und bewegungsbasierte Angebote der Kulturellen Bildung gegenstandsangemessen evaluiert werden können und wie damit der zwingend notwendige Wissens- und Erfahrungstransfer sowohl ins Feld der Kulturellen Bildung als auch in den Kontext des Strafvollzugs gewährleistet werden kann.
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F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN IN DER E VALUATION VON KÖRPER - UND BEWEGUNGSBASIERTEN A NGEBOTEN Körper- und bewegungsbasierte Angebote der Kulturellen Bildung integrieren nonverbale, körper-leibliche und künstlerische Methoden und Prozesse und zeichnen sich durch ein hohes Maß an Vielschichtigkeit und Prozessgebundenheit aus. Von daher ist es unter Umständen zu kurz gedacht, mögliche Potenziale und Entwicklungen von kulturellen Bildungsaktivitäten im Strafvollzug ausschließlich nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip zu evaluieren. Mit Blick auf körper- und bewegungsbasierte Angebote im Strafvollzug und deren Analyse stellen sich folgende Fragen: 1) 2)
3)
4)
Wie können primär nonverbale Prozesse über sprachbasierte Methoden umfassend dargestellt werden? Wie können das Erfahrungswissen und die Perspektiven der Teilnehmer der zu evaluierenden Bildungsangebote in die Forschungsmethodik und in den Forschungsprozess einfließen? Wie kann in dem von Hierarchie geprägten Kontext Strafvollzug ein Forschungsdesign entwickelt werden, das das Machtgefälle sowohl innerhalb eines Forschungsprojekts (Forscherin und Forscher versus Teilnehmer) als auch innerhalb des Strafvollzugs in die Überlegungen miteinbezieht? Welche Forschungsmethoden sind in der Lage, die leiblichkünstlerischen Gestaltungsprozesse in ihrer Polyfunktionalität und Polyvalenz adäquat zu erfassen?
Die Haltung zu diesen Fragen beeinflusst alle Entscheidungen in den einzelnen Schritten und Stufen des gesamten Forschungsprozesses. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten der körper- und bewegungsbasierten Prozesse im Bereich der Kulturellen Bildung werden im Folgenden einige ausgewählte methodische und methodologische Überlegungen zusammengetragen.
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A NSCHLUSSFÄHIGE F ORSCHUNGSPARADIGMEN Auch wenn es in der sozialwissenschaftlichen Forschung um die (Er-) Lebenswelt der Menschen geht, sind partizipative Forschungsansätze eher selten und werden in der Regel von Skepsis und Fragen hinsichtlich ihrer Wissenschaftlichkeit begleitet. Bei partizipativen Forschungsansätzen geht es weniger um eine eigenständige Methode, sondern mehr um eine Forschungshaltung, in deren Mittelpunkt die Frage steht, „in wie weit die Akteure und Praktiker/innen als Expert/innen ihrer sozialen Lebenswelt am Forschungsprozess als kollaborative Mitforscher/innen partizipieren können“ (Bergold/Thomas 2010: 333). Partizipative Ansätze zielen auf einen „gemeinsamen Erkenntnisprozess von Forschenden und Mitforschenden“ (ebd.: 335) ab und zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich aus verschiedenen Wissensfeldern – vor allem Anthropologie, Gesundheitswissenschaften, Sozialwissenschaften – mit unterschiedlichen Methoden entwickelt haben. Sie verbinden „action and reflection, theory and practice, in participation with others, in the pursuit of practical solutions to issues of pressing concern to people, and more generally the flourishing of individual persons and their communities“ (Reason/Bradbury 2001: 1). Ziel ist es, Wissen zu generieren, das eine unmittelbare Relevanz für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung wie für den sozialen Wandel von Gemeinschaften und Gesellschaften entfaltet (Brydon-Miller/Greenwood/Maguire 2003; Minkler 2000). Theoretische und methodische Bezugsrahmen bilden unter anderem die Arbeiten von Kurt Levin, Jacob Levy Moreno, Paulo Freire (Minkler 2000). Partizipative Forschungsparadigmen schaffen eine Schnittmenge zwischen den körper- und bewegungsbasierten Angeboten der Kulturellen Bildung im Strafvollzug und dem Forschungsprozess: Beide zielen auf die Entwicklung und ggf. die Veränderung der individuellen oder auch der kulturellen Verhältnisse ab. Zudem bieten diese Projekte zum einen per se Handlungssituationen, die als notwendige Experimentierräume für Strafgefangene dienen (vgl. Wischka 2012). Zum anderen können künstlerische Prozesse Möglichkeiten der Partizipation herstellen, welche die Machtstrukturen innerhalb des Gefängnisses und dadurch die Position des Gefangenen innerhalb dieses Systems für die Zeit des Angebots verändert. Insbesondere in den Formen des zeitgenössischen Theaters, des Tanzes und der performativen Künste werden zunehmend Machtverhältnisse innerhalb der künstlerischen Produktion thematisiert und die Enthierarchisierung der
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künstlerischen Prozesse angestrebt. Das zentrale Motiv der partizipativen Forschung – Forschung mit Menschen, weniger über Menschen (Bergold/ Thomas 2010) – findet sein Äquivalent in dem Bestreben vieler körper- und bewegungsbasierten Aktivitäten der Kulturellen Bildung, den Teilnehmer in den Mittelpunkt zu stellen und so Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Partizipative Forschungsansätze schließen an Ansätze der performativen Sozialforschung an, die ebenfalls eine Verbindung von Forschung und gesellschaftlichem Engagement anstreben (Gergen/Gergen 2010: 358). Diese Ansätze integrieren künstlerische Praxen (wie Malerei, Theater, Multimedia u.a.) in den Forschungsprozess (ebd.) – und rücken dadurch in die Nähe künstlerischer Forschung. Zentraler Ausgangspunkt künstlerischer Forschungsparadigmen ist die Überzeugung, dass künstlerische Prozesse ebenfalls forschend sein können und neues Wissen hervorbringen. Künstlerische Methoden und Praktiken können einzelne Forschungsschritte bzw. Forschungsaspekte oder den ganzen Forschungszyklus bis hin zur Reflexion und Darstellung der Ergebnisse prägen, wobei in künstlerischen Forschungsprojekten nicht per se künstlerische Fragestellungen untersucht werden, sondern unabhängig vom Forschungsfeld künstlerische Praktiken im Sinne des Erkenntnisgewinns eingesetzt werden (vgl. Roesner 2015: 25). Zwangsläufig lotet künstlerische Forschung hierbei immer wieder aufs Neue das Verhältnis zwischen Forschung und Kunst aus, wobei hier die Begriffe Kunst, Forschung und Wissenschaft durchaus als fluide und flexible Konstruktionen gehandhabt werden. Julian Klein (2011: 2) stellt die künstlerische Erfahrung, „sich selbst von außerhalb eines Rahmens zu betrachten und gleichzeitig in denselben einzutreten“, und die damit verbundenen Wahrnehmungsmodi in engen Zusammenhang mit künstlerischer Forschung und betont, dass weniger „die Kunst zur Forschung mutiert“, sondern die Forschung durch künstlerische Praktiken, Strategien und Erfahrungen „künstlerisch“ wird (ebd.). Überlegungen zu den Möglichkeiten der künstlerischen Forschung entstanden auch vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass selbst innerhalb objektivierbarer Forschungsansätze Parameter wie Kreativität und Intuition Einfluss auf die Forschungsergebnisse und das damit generierte Wissen haben können (vgl. Badura/Dubach/Haarmann 2015: 9). Künstlerische Forschungsansätze haben sich nicht in einem Vakuum entwickelt, sondern zeigen deutliche Schnittmengen und Anknüpfungspunkte zu den Geistes-
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wissenschaften, den traditionellen Ansätzen der Kulturwissenschaften oder auch der Aktionsforschung (vgl. Borgdorff 2015: 70ff.). Körper- und bewegungsbasierte Angebote der Kulturellen Bildung im Strafvollzug im Rahmen von künstlerischen Forschungsprojekten zu dokumentieren, würde die künstlerischen Prozesse und Ergebnisse in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses stellen und Inhalt und Methodologie enger miteinander verzahnen. Wissen, das sich in den künstlerischen Erfahrungsräumen konstituiert, kann leichter und wahrscheinlich zuverlässiger in den Forschungsprozess integriert werden als durch nachher ausgefüllte standardisierte Fragebögen. Zudem stellen sie – wie die partizipativen Ansätze auch – die Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt und tragen damit zum Empowerment der Strafgefangenen bei.
B EWEGUNGSBASIERTE E RHEBUNGSMETHODEN Im Zentrum von körperbasierten Angeboten der Kulturellen Bildung im Strafvollzug stehen Bewegungs- oder körperliche Gestaltungsprozesse. Diese werden bislang zumeist mit sprachbasierten Erhebungsmethoden (Fragebögen, Interviews, Fokusgruppengespräche) erhoben. Bei sprachbasierten Erhebungen besteht die Gefahr, dass die von körper- und bewegungsbasierten Prozessen ausgelösten Wirkungen nicht hinreichend rekonstruiert und abgebildet werden, da sie auf der Möglichkeit kognitiver Übersetzungsleistungen basieren. Relevante Veränderungen können so nicht in die Betrachtung aufgenommen und Ergebnisse verfälscht werden. Auch für den Kontext Strafvollzug ist dies eine wichtige Überlegung, die etwa McNamara (2001: 74) in ihrer Diskussion der Ergebnisse am Beispiel des forensischen Klienten aufgreift: Wie können Studienteilnehmer ihre körperlichen Prozesse angemessen einschätzen, wenn bei ihnen häufig in den Bereichen Körper- und Selbstwahrnehmung starke Defizite und Einschränkungen diagnostiziert sind? Naheliegend wäre es, die körper- und bewegungsbasierten Prozesse mittels Bewegungsbeobachtungsverfahren zu evaluieren. Im Kontext der tanz- und bewegungstherapeutischen Forschung haben sich hier insbesondere die Laban-Bewegungsanalyse (LBA), das Kestenberg Movement Profile (KMP) und die Movement Pattern Analysis (MPA) innerhalb der empirischen Forschung als probates Mittel erwiesen (Chyle 2017). Insbesondere
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das LBA und das KMP sind breit ausdifferenziert und dadurch in der Lage, Bewegungsprozesse in ihrer Vielschichtigkeit abzubilden. Das KMP hat seine Stärke in der Möglichkeit der entwicklungspsychologischen Verortung der Bewegungsmuster. Die LBA, die ihren Ursprung im künstlerischen Tanz hat, ist dagegen das Beobachtungsinstrument, welches am besten geeignet ist, die gestalterischen Aspekte von körper- und bewegungsbasierten Interventionen aufzunehmen. Der Einsatz von Bewegungsbeobachtungsverfahren zwingt die Forscherin oder den Forscher im Vorfeld dazu, Hypothesen in Bezug auf Bewegungsprozesse zu formulieren bzw. innerhalb der Forschungsfrage körperliche Dimensionen zu explizieren. Das würde den Forschungsprozess deutlicher im Medium Körper und Bewegung verorten und methodologisch näher an den Forschungsgegenstand heranführen. Zumeist kommen Bewegungsbeobachtungsverfahren in der Analyse von Videodaten zum Einsatz – im Gegensatz zur Arbeit einer Forscherin oder eines Forschers, die oder der vor Ort die Bewegungen beobachtet und notiert. Videoaufnahmen sind immer eine Rekonstruktion des Originalgeschehens und implizieren eine Differenz zwischen Original und Aufnahme. In einer Aufzeichnung wird das Gesamtgeschehen zugunsten seiner Reproduzierbarkeit einerseits in Bezug auf Perspektive und Ausschnitt festgelegt sowie reduziert und andererseits um die Möglichkeit einer mikroanalytischen und wiederholbaren Analyse erweitert. In der Folge analysieren die Beobachterinnen und Beobachter eine rekonstruierte Situation auf der Basis ihrer subjektiven Möglichkeiten und Erfahrungen. Auch wenn zum Beispiel für das KMP die Interrater-Reliabilität überprüft wurde und mit 75 Prozent vergleichsweise hoch liegt (vgl. Koch 2010: 21), bleiben es dennoch subjektiv überlagerte, rekonstruktive Prozesse. Unabhängig vom unterschiedlichen Einsatz beinhalten Bewegungsbeobachtungsinstrumente immer einen rekonstruktiven Prozess, der mehrere Übersetzungsebenen und Übersetzungsleistungen umfassen kann. Diese müssen sorgfältig innerhalb des Forschungsprozesses reflektiert werden, um einen sinnvollen und effektiven Einsatz dieser Instrumente zu gewährleisten.
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F AZIT Die Vielschichtigkeit der körper- und bewegungsbasierten Angebote der Kulturellen Bildung generell und der besondere Kontext Strafvollzug stellt Forschungsaktivitäten vor besondere Herausforderungen. Alternativ oder zusätzlich zu wirkungsorientierten Forschungsansätzen, die im hohen Maße standardisiert sind und auf Verhaltens- und Einstellungsänderungen ausgerichtet sind, die sich während und unmittelbar nach der Intervention zeigen, sollten in Zukunft stärker partizipativ und künstlerisch angelegte Untersuchungen durchgeführt werden. Die konzeptionelle und methodische Öffnung bei der Erforschung von körper- und bewegungsbasierten Angeboten umfasst beispielsweise den Einbezug bewegungsbasierter Erhebungsmethoden ebenso wie die partizipative Ausgestaltung des Forschungsprozesses. Mit einem derart erweiterten Sichtfeld stehen die Chancen gut, ein differenzierteres Bild davon zu erhalten, wie sich Gestaltungs-, Nutzungs-, Entwicklungs- und Bildungsprozesse vollziehen, wenn Strafgefangene mit Kultureller Bildung konfrontiert werden. Weiterhin können interdisziplinäre Forschungsinitiativen, die künstlerische, bildungswissenschaftliche, psychologische und kriminologische Perspektiven vereinen, die Herausforderungen im Handlungsfeld Kultureller Bildung mit Strafgefangenen umfassender berücksichtigen und versprechen dadurch wahrscheinlich präzisere Erkenntnisse. Hier könnte sich auch die Kombination mit biografischer Forschung, die innerhalb der Forschung über Kulturelle Bildung zunehmend an Bedeutung gewinnt, als geeigneter Zugang erweisen. Der Mehrwert, der aus dem hier umrissenen Paradigmenwechsel hinsichtlich Forschungsdesign und Forschungsverständnis entstehen könnte, dürfte sich sicherlich nicht nur bei Forschungen über Kulturelle Bildung im Strafvollzug entfalten, sondern auch in anderen Handlungsfeldern Kultureller Bildung. Aber mit Blick auf die angestrebte vollständige Resozialisierung von straffällig gewordenen Menschen sind Untersuchungen zu den langfristigen Folgen und Auswirkungen von körper- und bewegungsbasierten Angeboten der Kulturellen Bildung von besonderem Interesse – für die Betroffenen wie für die Gesellschaft.
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Kapitel III Thema Wertewandel in Methodik und Fortbildung
Ansätze zur Wertevermittlung im Kontext handlungsorientierter Medienpädagogik H ORST P OHLMANN
Seit jeher transportieren Medien Ansichten und Werte. Manche sind offensichtlich intendiert, andere werden unterschwellig vermittelt. Auch in den digitalen Medien, die wir – und vor allem Kinder und Jugendliche – heutzutage nutzen, findet eine Wertevermittlung statt. Die Frage ist, welche Werte das sind, wo man sie findet und wie sie das Individuum und die Gesellschaft beeinflussen. Anhand von Beispielen, rings um Computerspiele, soll beleuchtet werden, wie Wertevermittlung über digitale Medien vonstattengeht und wie eine handlungsorientierte Medienpädagogik dazu beitragen kann, sie zu thematisieren.
D ER W ERT
DES
S PIELS
Auf dem Bildschirm lodert ein Feuer in einem Zelt; es folgt ein Schnitt auf die Sphinx und die anschließende Kamerafahrt öffnet den Blick auf die antike Baustelle der gigantischen Pyramide im Hintergrund; aus dem Off erklingt in dunkler und seriös anmutender Erzählerstimme: „A moment comes, which comes but rarely in history, when we step out from the old to the new; when an age ends; and when the soul of a nation long suppressed finds utterance.“ Dieses historische Zitat des indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru ist eingebettet in den Trailer des Computerspiels „Civilization V“ (2K Games/Firaxis 2014).
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Historisch gesehen befinden wir uns (mal wieder) an einem dieser Wendepunkte in unserer Geschichte: Die Welt ist dank der digitalen Technologien global vernetzt; Roboter verfügen zunehmend über künstliche Intelligenz; mittels Smartphones sind wir jederzeit erreichbar und „sie“ wissen auch, wo wir gerade sind und was wir tun. Gleichzeitig hat die Menschheit so viele Informationen und Daten elektronisch gesammelt, dass der Speicherplatz knapp wird und manch eine pessimistische Stimme verlautet, besser wieder zu den alten Steintafeln zurückzukehren, die immer noch eine längere Haltbarkeit versprechen als Bits und Bytes auf magnetischen Datenträgern. Wenn die Menschheit oder zumindest ihre kulturellen Errungenschaften überdauern sollen, so die Forderung, müssen wir uns etwas einfallen lassen, um unser Wissen zu archivieren und der Nachwelt zu überlassen, wie es vielleicht auch schon die ägyptischen Pharaonen mit den Pyramiden versucht haben. Die historischen Wendepunkte, die auch Nehru im Zitat anspricht, sind Einzelereignisse, die von einem Teil der Bevölkerung geteilt und deren Auswirkungen von ihnen in den Folgejahren miterlebt werden. Der Fall der Mauer oder die Geschehnisse des 11. September 2001 sind solche Ereignisse, die im kollektiven Gedächtnis einer Generation – besser gesagt einer Nation – verankert sind. Auch das Atomzeitalter lässt sich mit dem Datum der ersten Atomspaltung fixieren, selbst wenn erst Jahre später der Begriff geprägt wurde. Aber das Informationszeitalter? Mal ehrlich: Wer empfindet sich mit einem Smartphone in der Hand als Teil eines Umbruchs in der Geschichte der Menschheit? Vermutlich derzeit niemand; und auch keiner der beiden nachfolgenden Generationen. Die Macherinnen und Macher von „Civilization“ haben das Zitat natürlich bewusst gewählt. Eine Spielerin oder ein Spieler wird nämlich den Eindruck haben, dass das, was sie bzw. er im Spiel tut, tatsächlich Relevanz hat. Vielleicht nicht, und darüber ist sich eine Gamerin oder ein Gamer durchaus bewusst, für die real existierende Menschheit, aber zumindest für den Ausgang der Spielpartie. Und die Beschäftigung mit dem Spiel, die Handlungen, die er umsetzt und das Erreichen eines (selbst) gesteckten Ziels, sind als erlebte Spielgeschichte in seinem Gedächtnis verankert. Er könnte von den Leistungen „seiner“ Zivilisation berichten und das Erlebte seinen Enkelkindern in Geschichten am Lagerfeuer erzählen. Wohlgemerkt: „könnte“, denn im Zweifelsfall wird sich niemand dafür interessieren, wie und warum er die Welt erobert oder einen Wissenschaftssieg errungen hat. Schließlich war alles nur ein Spiel. Außer vielleicht andere Gamerinnen
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und Gamer, die das Spiel auch gespielt haben. Sie werden die Leistungen zu ihren eigenen im Spiel in Bezug setzen und darüber urteilen. So kommt es dann, dass Gamerinnen und Gamer „eine andere Sprache sprechen“, nämlich die, die sich aus dem Spiel und dem Erlebten ergibt, wenn die Barbaren niedergeschlagen oder Rom eingenommen wurden. Die persönliche Wahrnehmung ist, dass nicht die Spielfigur die Aufgabe gemeistert hat, sondern die spielende Person selbst. Geschichte wird bekanntlich von Siegern geschrieben und das gemeinsame Computerspiel ist so angelegt, dass „ich“ als Spielerin oder Spieler siegreich herausgehe, wenn ich auch einige Mühen darauf verwenden musste. Und eben dieser Spielerfolg nach einigen Anstrengungen ist dann das, was unterm Strich im Kopf übrigbleibt. NichtGamerinnen und -Gamer werden dafür kein Verständnis aufbringen. Der „Wert des Spiels“ ist demnach zunächst subjektiv. Aber welchen Wert hat es darüber hinaus?
L ERNEN
DURCH
G AMES
„Civilization“ ist eine der erfolgreichsten Computerspiel-Reihen. Der erste Teil wurde 1991 veröffentlicht, 2010 folgte der fünfte Ableger und just im Herbst 2016 erschien die sechste Neuauflage des klassischen rundenbasierten Strategiespiels. Die Aufgabe besteht darin, eine Zivilisation mit historischem Vorbild von der Steinzeit bis ins Weltraum-Zeitalter zu führen und sich wirtschaftlich, kulturell, diplomatisch oder/und auch kriegerisch gegen andere Völker durchzusetzen. Für welchen Weg er oder sie sich entscheidet, obliegt der Spielerin oder dem Spieler selbst. Wenn nicht die kriegerische Auseinandersetzung gewählt wird, ist das Spiel grundsätzlich kompetitiv aufgebaut, wie übrigens die Mehrzahl der Computerspiele. Jede Zivilisation hat spiel-beeinflussende Vor- und Nachteile, die sich aber gegenseitig und mit entsprechender Spieltaktik aufheben lassen. Das muss auch so sein, damit alle die gleichen Chancen haben. Somit ist es letztlich unerheblich, ob man als Gandhi, Caesar oder Kaiser Friedrich das Spiel bestreitet. Auch wenn die Völker den historischen Vorbildern folgen, bestimmen die Spielerinnen und Spieler, wie sich die Zivilisation entwickeln soll. Mit der ersten Eingabe der Gamerin oder des Gamers ist der tatsächliche historische Verlauf aufgehoben und Geschichte obsolet. Dennoch kann „Civilization“ dazu dienen, Geschichtswissen zu vermitteln. Entsprechende
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Projekte in Schule und Jugendarbeit verwenden das Spiel als Ausgangsbasis, um tatsächliche historische Entwicklungen zu recherchieren. Beispielsweise starten im Spiel alle Völker gleichzeitig, auch wenn sie sich in Wirklichkeit nie hätten begegnen können, wenn ihre Hoch- und Blütezeiten in unterschiedlichen Epochen stattgefunden haben. Schülerinnen und Schüler haben dann die Aufgabe, die Geschichte der Zivilisationen im Internet und/oder dem Geschichtsbuch zu recherchieren, auf einer Zeitleiste festzuhalten und gegenüberzustellen. Natürlich könnte diese Aufgabe auch ohne das Computerspiel gegeben und umgesetzt werden. Hier wird das Spiel funktionalisiert und als Motivator eingesetzt, sich überhaupt und mehr oder weniger freiwillig mit dem Thema zu beschäftigen. Es wird somit also lediglich ein Bezug zur medialen Lebenswelt der Heranwachsenden hergestellt. Neben der expliziten Geschichtsaufgabe wird auch das Medium selbst Gegenstand der Auseinandersetzung, indem hinterfragt wird, welches Geschichtsbild das Spiel vermittelt. Im Sinne einer Förderung von Medienkompetenz erfolgt eine kritische Analyse des Spiels – eine mögliche Herangehensweise in einer handlungsorientierten Medienpädagogik. Das Konzept ist in der Publikation „Best-Practice-Kompass: Computerspiele im Unterricht“ der Landesanstalt für Medien NRW dokumentiert (LfM 2010). Die Motivation, sich auf Lernprozesse einzulassen, geschieht in dem skizzierten Beispiel zunächst extrinsisch: Die Lehrperson stellt die zu bearbeitende Aufgabe. Erkenntnisse der Lernforschung weisen aber der intrinsischen Motivation eine größere Bedeutung zu, wenn sich Lernende aus eigener Motivation heraus mit Lerninhalten auseinandersetzen. In einer Spieletester-Gruppe zur pädagogischen Beurteilung von Computer- und Videospielen für den Spieleratgeber-NRW (Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW o.J.) testete ein 12-jähriger Schüler das Spiel „Civilization“. Im Spiel hatte er die Möglichkeit, das Weltwunder Angkor Wat zu errichten, von dem er bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Im Spiel eingebaut ist eine „Civilopädie“, in der man Spielinhalte nachschlagen kann. Wenn das Spiel-Lexikon auch gut gemacht ist und die wichtigsten Informationen gegeben werden, reichten dem Schüler aber die hier vermittelten Fakten nicht aus. Er beendete daraufhin das Spiel, begann im Internet zu recherchieren und gelangte so über Wikipedia zur Welterbe-Seite der UNESCO und informierte sich über zahlreiche andere kulturhistorische Stätten auf der ganzen Welt. Das Spiel, das die intrinsische Motivation für das eigene Lerninteresse ausgelöst hat, ist in Vergessenheit geraten. Es ist also durch-
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aus möglich, dass Impulse aus Games zu einem intrinsischen Lerninteresse führen können, wenn auch nicht in der Regel. Ein Problem, das sich hier allerdings stellt, ist die Frage, ob Spielinhalte wie auch Einträge in der Wikipedia überhaupt korrekt sind und auch, ob unterschwellig Werte vermittelt werden. Gerade, wenn Games in Lernkontexten verwendet werden, müsste das vorher zumindest überprüft werden. Thomas Kubetzky kommt in seiner Analyse von „Civilization III“ zur Vermittlung historischer Geschichtsbilder zu dem Schluss: „Die Konzeption entsprechender Spielinhalte für Zwecke der Wissensvermittlung kann in diesem Zusammenhang nicht einfach den Programmierern oder den Befürwortern von ‚E-Learning‘ und ‚Serious Games‘ überlassen bleiben. Hier ist, wie beispielsweise im Falle von Geschichtsbüchern, der Rat und das Urteil der Fachwissenschaft gefragt.“ (Kubetzky 2010: 87)
Und dies geschieht bislang nur bei sehr wenigen Computerspielen. Hinzu kommt, dass die meisten Computerspiele aus den USA und Asien kommen und hier werden natürlich auch durch die entsprechenden Kultureinflüsse Werte weitergegeben: „Aber die Menschen, die unsere Spiele machen, setzen in ihren Spielen ihre politischen Ansichten zum Teil bewusst, zum Teil auch unbewusst mit um, Spieleentwickler sind Teil einer Medienindustrie, sie sind Kulturschaffende und nutzen ihre und unsere Bilder von der Welt für ihre Produkte.“ (Heinz et al. 2016: 188)
Hier zeigt sich aber eine grundsätzliche Herausforderung der medienpädagogischen Arbeit, die Medien zum Einsatz bringt, die zu Unterhaltungszwecken konzipiert wurden und nicht für die Vermittlung von Wissen. Dies ist allerdings auch zum Beispiel bei Romanen der Fall, die im Deutschunterricht zum Einsatz kommen. Die Methode der Medienanalyse ist alt, nur das Medium vermeintlich neu.
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T RANSPARENTE G AMERINNEN UND G AMER UND DIE A USWIRKUNGEN SPIELERISCHEN H ANDELNS Wie die Mehrzahl aktueller Computerspiele, wird auch „Civilization“ über die Online-Plattform „Steam“ vertrieben und gespielt. Die hierzu erforderliche Online-Verbindung ermöglicht es dem Betreiber, statistische Daten über die Gamerinnen und Gamer, ihre Spielzeiten und sogar Spielweisen zu erheben. Demnach wurde „Civilization V“ weit über sechs Millionen Mal verkauft und bis heute spielen es im Schnitt rund 30 000 Gamerinnen und Gamer im Monat (Steam 2016), obwohl bereits ein Nachfolger auf dem Markt ist, der in etwa ähnlich häufig gespielt wird. Durchschnittlich dauert eine Partie rund fünf Stunden. Die von Steam ermittelten Daten zu den Spielweisen sind nicht öffentlich zugänglich, jedoch ist bekannt, dass die Herstellerfirmen sie nutzen, um ihre Spiele zu verbessern. Stellen sie beispielsweise fest, dass ein bestimmtes Spielelement nicht genutzt wird, können sie daraufhin die Spielmechanik anpassen und dem Element eine größere Bedeutung innerhalb des Spielablaufs zuweisen. Theoretisch wäre es aber auch möglich, Spielweisen einzelner Gamerinnen oder Gamer zu analysieren – sprich: wer wann wie lange und mit welchen Taktiken spielt, ist zumindest hinter den Kulissen personalisiert auswertbar – „Big Data“ par excellence. Die wenigsten Gamerinnen oder Gamer, und erst recht nicht Kinder und Jugendliche, sind sich dessen bewusst oder kritisieren die Sammlung und Auswertung der zum Teil höchst persönlichen Informationen. Im Umgang mit Big Data bedarf es dringend medienpädagogischer Konzepte zur Sensibilisierung von Nutzerinnen und Nutzern und hier schließe ich bewusst Erwachsene mit ein. Aber Gamerinnen und Gamer, die viel Zeit mit Spielen verbringen, sind auch stolz auf ihre spielerischen Leistungen, die natürlich auch mit der Spielzeit einhergehen, und berichten öffentlich darüber. Im Steam-Forum diskutierten ab April 2015 Gamerinnen und Gamer über ihre „Civilization“Spielzeiten, die von Steam erfasst und auf dem jeweiligen Profil der Spielerinnen und Spieler öffentlich eingesehen werden können. Die Spanne in der Diskussion reicht von schon beeindruckenden 1400 Spielstunden bis zu erschreckenden mehr als 15 000 Stunden (Steam 2015). Angesichts solcher Spielzeiten stellt sich die Frage, was die Personen – außer Games zu spielen – rein zeitlich überhaupt noch anderes im Leben tun können. Und auch wenn dies hier Extrembeispiele sind, haben immer mehr Eltern und Päda-
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goginnen und Pädagogen die Befürchtung, dass die Beschäftigung ihrer Kinder mit Games überhandnimmt. Hier helfen im Zweifel nur ein aktives Gegensteuern und das Anbieten alternativer Freizeitbeschäftigungen. Ein medienpädagogischer Ansatz, Kinder und Jugendliche zu Alternativen hinzuführen, wäre, das Interesse an Games aufzugreifen – getreu der Prämisse, die Zielgruppe dort abzuholen, wo sie steht – und zum Beispiel mit anderen Kulturtechniken zu verknüpfen. So können Computerspiele spielpädagogisch in Brett- oder Geländespiele überführt, theaterpädagogisch einstudiert und nachgespielt oder werkpädagogisch aufgegriffen werden, um Spielinhalte in der Realität nachzubauen. Auch im Rahmen der Literaturvermittlung können Games zum Zuge kommen, wenn Gamerinnen oder Gamer beispielsweise ihre erlebten Spielgeschichten in Erzählungen oder Aufsätzen aufarbeiten. Und dann ist es nicht das schönste Ferienerlebnis, sondern das spannendste Abenteuer in der virtuellen Welt. Diese Verknüpfung von unterschiedlichen Kultursparten hat bezogen auf die Computerspiele noch den Effekt, dass die mediale Lebenswelt zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht wird, was Heranwachsende selten erleben, denn normalerweise interessieren sich Erwachsene nicht dafür, was Kinder und Jugendliche spielen und beziehen eher eine kritische Gegenposition. Den Dialog über die virtuellen Spielwelten aufrechtzuerhalten, ist aber pädagogisch ein wichtiger Schritt, um den Anschluss nicht vollends zu verlieren und Kinder und Jugendliche mit ihren Medienerlebnissen nicht allein zu lassen. Solche Ansätze werden im Rahmen der Fortbildungen im Fachbereich Medienpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW vermittelt. Gerade in Deutschland herrschen in der Erwachsenen- oder besser gesagt der Nicht-Gamer-Welt häufig zunächst die negativen Aspekte oder Risiken digitaler Medien vor. Das betrifft vor allem die Fragen nach der Übertragbarkeit von Gewaltinhalten in Games auf das reale Leben und nach dem möglichen Zusammenhang der exzessiven Nutzung und der Spielzeiten auf eine Spielsucht. Das geht aber noch weiter: Der Forscher Moshe Rappoport von IBM-Research in Zürich skizzierte 2008 auf der Konferenz „Future-Network“ zu den Auswirkungen digitaler Technologien: „Die meisten Jugendlichen haben bis zu ihrem 20. Lebensjahr Tausende Computerspiel-Stunden hinter sich und eignen sich dadurch Fähigkeiten und Denkmuster an, die der älteren Generation völlig fremd sind.“ (Pressetext Schweiz 2008) Bezogen auf das Verhalten einer mit Games aufgewachse-
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nen neuen Manager-Generation spricht er von einer „Game-over“Mentalität, in der Risikobereitschaft und schnelles Handeln im Mittelpunkt geschäftlicher Entscheidungen stehen, haben sie ja in Games gelernt, dass bei Misserfolg das Spiel einfach neu von vorne gespielt werden kann. Unter anderem macht er dieses spieltypische Risiko-Verhalten für den Börsencrash verantwortlich und argumentiert für eine gemischt aufgestellte Manager-Ebene in Konzernen mit älteren erfahrenen und jungen Managerinnen und Managern mit neuen Ansichten und Ideen, die sich wechselseitig befruchten können. Das ist sicherlich keine neue Idee, denn Lebenserfahrung auf der einen Seite und innovative Denkweisen auf der anderen, gelten in der Zusammenstellung von kollaborierenden Teams schon lange als Königsweg in der Unternehmensführung. Auch solche möglichen Auswirkungen von digitalen Medien auf die Gesellschaft müssen in medienpädagogischen Projekten thematisiert werden, was bisher nicht oder nur in wenigen Konzepten Berücksichtigung findet.
M ORAL
KOMMT INS
S PIEL
Es ist kein Geheimnis, dass Kinder und Jugendliche in einer medial geprägten Welt aufwachsen, die sie als selbstverständlich und gegeben wahrnehmen und schlicht gar nicht anders kennen. Für sie sind es keine „Neuen Medien“, wie sie häufig und fälschlicherweise noch von Erwachsenen bezeichnet werden, sondern einfach ein normaler Bestandteil ihrer Lebenswelt. Hier kristallisieren sich mehrere Herausforderungen für die medienpädagogische Arbeit heraus: Medienkenntnis, Berücksichtigung der medialen Lebenswelt Heranwachsender im Rahmen Kultureller Bildung und eine Akzeptanz der Mediennutzung. Hinzu kommen das Verständnis von Medienwirkungen und das Aufgreifen von Chancen, aber auch Risiken innerhalb von Projektkontexten. Pädagoginnen und Pädagogen, aber auch Eltern müssen wissen, wie Kinder und Jugendliche Medien nutzen, welche Angebote sie konsumieren, wie sie Medienerfahrungen in ihren Lebensalltag integrieren und im Rahmen von kreativen und/oder kulturellen Beschäftigungen miteinander in Verbindung bringen (können). Die von Marc Prensky etablierten Begriffe der Digital Natives (Prensky 2001), die bereits mit Medien aufgewachsen sind und den Digital Immigrants, die den Umgang mit den Medien erst noch lernen müssen, hat auch hier Re-
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levanz. Die Chance für die (medien-)pädagogische Arbeit mit den Digital Natives besteht darin, dass eine Vermittlung von nichtdigitalen Kulturtechniken im Grunde nur von den Digital Immigrants kommen kann, denn ein programmiertes Spiel wird nicht dazu in der Lage sein, Lebenserfahrungen zu vermitteln. Dies kann nur im interpersonalen Dialog und im Austausch von Generationen geschehen. Dann sind wir wieder bei Moshe Rappoport und der Forderung, Teams nach Lebenserfahrung und Kenntnissen der digitalen Kultur zusammenzubringen, nur, dass es hier ein Team oder ein Dialog von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen ist, der zum Ziel führt. Letztlich obliegt es also der nichtdigital aufgewachsenen Generation, Werte, Ethik und Moral zu vermitteln und sie auf digitale Medien und deren Nutzungsweisen zu übertragen. Die Medien selbst werden nämlich genau das nicht machen können oder wollen. Wobei allerdings auch in GamerKreisen durchaus über ethisch-moralische Entscheidungen in Games heftig diskutiert wird. Ein Ansatz könnte sein, eben solche moralischen Entscheidungen mit Gamerinnen und Gamern zur Diskussion zu stellen. Rüdiger Funiok und Sebastian Ring (2014: 115) haben dies unternommen und kommen zu dem Schluss: „Das Spielen ermöglicht es somit auch, aus einer bestimmten – durch das Spiel vorgegebenen – Perspektive sich selbst als moralisches Wesen zu reflektieren. Die alte ethische Frage ‚Was soll ich tun?‘ wird so für die Spielenden im Spiel erfahrbar.“
Hintergrund dieser Betrachtung ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren vor allem von kleinen, unabhängigen Programmierteams Spiele umgesetzt werden, die Gamerinnen und Gamer mit ethisch-moralischen Dilemmata konfrontieren. Wollen sie das Spiel gewinnen, müssen sie Entscheidungen treffen, die fragwürdig sind. Das eröffnet die Möglichkeit, Gamerinnen und Gamer dazu zu bringen, sich darüber auszutauschen. Und nicht selten kommen sie zu dem Schluss, dass sie bestimmte Spielinhalte in den Games nicht haben wollen und die Programmiererinnen und Programmierer oder Firmen dafür kritisieren, sie überhaupt ins Spiel eingebaut zu haben. Im Beispiel von „Civilization“ als historisch aufgestelltes Strategiespiel ist es selbstverständlich möglich, gegnerische Städte mit Atomraketen zu bombardieren, was nicht nur feindliche Militäreinheiten zerstört, sondern auch die Bevölkerung der angegriffenen Stadt dezimiert und das umliegen-
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de Land durch den radioaktiven Fallout für viele Runden unnutzbar macht. Innerhalb der Spielmechanik hat der Abwurf nuklearer Bomben negative Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen mit den anderen Völkern, die die Spielerinnen und Spieler als Kriegstreibende ansehen, was sich wiederum beim Handel bemerkbar macht und die Spielerinnen und Spieler auch wirtschaftlich isoliert. Diese Auswirkungen spielerischen Handelns innerhalb der Spielwelt sind aber nicht so groß, als dass sie nicht überwunden werden können. In einem Forum diskutierten Gamerinnen und Gamer darüber, ob „Civilization“ die Atombombe verharmlost (Civforum 2005). Der Gamer „Jabberwocky“ fasst seine Sichtweise so zusammen: „Die Atombombe wird natürlich verharmlost, so wie aber auch alles andere. Solange es nicht für den Spieler selbst lebensgefährlich ist, wenn er Krieg führt und nicht plötzlich ein gegnerischer Soldat aus dem PC springt und den Spieler aufschlitzt, wird niemand mitbekommen, dass Krieg Plünderungen, den Verlust des gesamten Hab und Gutes, Vergewaltigung, Tod, Verstümmelung, Folter und dergleichen mit sich bringt. Aber Civ ist auch nicht dazu da, um uns die Schrecken des Krieges näher zu bringen. Ich spiele Civ, so wie ich Schach spiele. Und da schreit ja auch keiner, wenn ich mit meinem Springer einen Bauer schlage, dass ich ein Mörder bin. Ein Spiel ist ein Spiel. Gefährlich wird’s erst, wenn es jemand mit der Realität verwechselt.“
Gamerinnen und Gamer wissen, dass das, was sie im Spiel tun, zunächst keine Auswirkungen auf die Realität hat (Rahmungskompetenz) und sie beharren auch auf diesem Standpunkt, wenn von Nicht-Gamern oder -Gamerinnen entsprechende Kritik kommt. Von den vielen „Civilization“Spielerinnen und -Spielern wird vermutlich niemand real vor dem roten Knopf sitzen und wenn doch, werden sie spätestens dann wissen, dass das, was sie tun, reale Konsequenzen haben wird und ihre Entscheidung, sofern sie die Wahl haben, entsprechend abwägen. Die Frage bleibt, ob solche Inhalte überhaupt in ein Spiel gehören und hier gehen die Meinungen offensichtlich auseinander. Innerhalb des Spielgeschehens werden Gamerinnen und Gamer allerdings nicht dazu kommen, darüber nachzusinnen, da die Spielforderungen im Mittelpunkt des Handelns stehen und schlicht keine Zeit da ist, sich über Entscheidungen ernsthafte Gedanken zu machen. Hier braucht es also entsprechenden Raum, den die Pädagogik für die Auseinandersetzung mit ethisch-moralischen Werten bereitstellen müsste.
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D IGITAL - ANALOGE V ERSTÄNDNISBRÜCKEN Es scheint ratsam, Kommunikationsbrücken zu etablieren, um die selbstverständliche Mediennutzung Heranwachsender mit den Sorgen und Befürchtungen Erwachsener in Einklang zu bringen, ohne mit erhobenem Zeigefinger eine ernsthafte Auseinandersetzung von vorneherein zu unterbinden. Beispielsweise werden sich Kinder und Jugendliche erfahrungsgemäß gegen direkte und präventiv ausgerichtete erwachsene Medienkritik wehren und den Dialog oder die Auseinandersetzung mit erwachsenen Sichtweisen dann nicht zulassen und sich verwehren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Ansichten keine Berücksichtigung finden. Wenn sie hingegen ein ernsthaftes Interesse der Erwachsenen an ihrer Medienwelt bemerken und das Gefühl haben, dass sie selbst und ihre Meinungen und Erfahrungen in der Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, sind sie eher bereit, in die Diskussion einzutreten und Impulse von Erwachsenen aufzugreifen (Dialog auf Augenhöhe). Das bedeutet, dass gerade medienpädagogische Projekte die Partizipation Heranwachsender in den Mittelpunkt rücken sollten, auch schon allein deswegen, da die Kinder und Jugendlichen die Expertinnen und Experten der (technischen) Mediennutzung sind, was nicht heißt, dass sie hier nicht auch von Erwachsenen lernen können – im Gegenteil. Dennoch können Medienpädagoginnen und -pädagogen von der Expertise profitieren und Räume schaffen, in denen eine kreative Auseinandersetzung mit Medien ermöglicht wird, die Heranwachsende entsprechend nutzen und füllen können. Unsicherheiten ergeben sich aufseiten der Projektdurchführenden hierbei vor allem mit Blick auf die sich ändernde Rolle von Lehrenden und Lernenden, die so strikt nicht mehr trennbar zu sein scheint. Kursangebote in der Weiterbildung sollten versuchen, die Teilnehmenden darin zu bestärken, Projekte mit kreativen Spiel- und Schaffensräumen zu ermöglichen und vor allem Kindern und Jugendlichen mehr Mediennutzungskompetenz zuzusprechen, als es gemeinhin als gegeben angenommen wird. Ein Beispiel eines solchen Ansatzes ist das im Oktober 2016 in der Akademie der Kulturellen Bildung umgesetzte Barcamp mit Jugendlichen und Pädagoginnen und Pädagogen im Rahmen des Projekts „Ethik & Games“ der Technischen Hochschule Köln. Hier diskutierten die Erwachsenen zweieinhalb Tage lang auf Augenhöhe mit den jugendlichen Gamerinnen und
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Gamern und erarbeiteten gemeinsam Ideen und Ansätze für medienpädagogische Projekte zum Thema. Der Medienpädagoge Franz Josef Röll von der Technischen Universität Darmstadt hat den partizipativen Ansatz mit seiner „Pädagogik der Navigation“ begründet, die inzwischen vor allem in der Medienpädagogik zahlreich in Projektkonzepten Berücksichtigung findet (Röll 2003). Erweitert auf die Kulturelle Bildung gilt es, Mediennutzung mit anderen Kulturtechniken oder Fachausrichtungen in Verbindung zu setzen. Genau hierzu haben Heranwachsende im Alltag nämlich kaum Gelegenheit. Anders beschrieben bleiben Pädagoginnen und Pädagogen die Expertinnen und Experten in ihren altbekannten kulturellen Arbeitsfeldern und die Einbindung von Medien ist der Motivator für Heranwachsende, sich auf die handlungsorientierten Medienprojekte einzulassen, in den Dialog zu treten, Neues zu lernen und Kulturangebote anzunehmen, mit denen sie bisher nicht oder nur kaum in Berührung gekommen sind (Lebensweltbezug).
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Als in den 1980er Jahren die Serie „Star Trek – The Next Generation“ über die heimischen Bildschirme flackerte, war für die damalige GamerGeneration klar: Wir brauchen das Holodeck. Und in der Tat wurde damals versprochen, dass die Technologie bald verfügbar sein würde. Dies hat leider nochmal rund 30 Jahre gedauert, aber mit den jetzt verfügbaren Virtual-Reality-Brillen wird sich die Immersion in virtuelle (Spiel-)Welten dramatisch verändern. Abgekapselt von der realen Umwelt entsteht ein Mitten-drin-Gefühl und die Realität gerät für die Nutzungsdauer komplett in den Hintergrund. Die möglichen Auswirkungen auf die Wahrnehmung und die Rahmungskompetenz sind noch nicht erforscht und es wird auch noch eine Weile dauern, bis entsprechende Forschungsergebnisse vorliegen. Erste Ergebnisse sind aber, dass Umgebungen der Virtuellen Realität (VR) Einfluss auf die eigene Körperwahrnehmung haben können, die auch Psyche und Selbstwahrnehmung beeinflussen. Beispielsweise wurde beobachtet, dass, wenn der Avatar – die Stellvertretung des Spielenden in der virtuellen Welt – deutlich älter dargestellt wird, als die Person im realen Leben tatsächlich ist, die Probandinnen und Probanden „[…] die Tendenz
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aufweisen, mehr Geld für ihre Alterssicherung aufzuwenden. VirtualReality-Anwendungen könnten somit als „Einfallstor für mögliche psychologische Manipulationen missbraucht werden […].“ (Ziegler 2016: 48) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern, im Sinne eines Verhaltenskodex ethische Empfehlungen zu erarbeiten, um den Risiken entgegenzuwirken (Madary/Metzinger 2016). Unabhängig von der Wirkungsdiskussion ist es spannend, das Spiel mit virtuellen Realitäten im Rahmen von Kultureller Bildung zu betrachten: Eine Virtual Reality erweitert die Realität mithilfe von Erzählungen, Spielumgebungen oder Technikeinsatz. Daneben steht der Ansatz der Augmented-Reality (AR), die versucht, die Realitäten durch Überlappung miteinander zu verbinden. Ein Beispiel hierfür wäre das Smartphone-Spiel „Pokemon Go“, in dem die Pokemons sozusagen in der realen Umgebung platziert sind, aber nur mit dem Bildschirm des Smartphones sichtbar gemacht werden können. Realität und Virtualität verschmelzen miteinander und beides wird als real wahrgenommen. Der Medienwissenschaftler Matthias Mertens (2008) beschreibt es so: „Realität ist, was wir mit Mitteln wahrnehmen können, die uns selbstverständlich geworden sind.“ Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung definiert „Kulturelle Medienbildung“ folgendermaßen: „Eine nachhaltige und zukunftsorientierte kulturelle Bildungsarbeit setzt sich […] mit digitalen Medien in ihrer Wechselwirkung zur analogen Welt konstruktiv auseinander.“ (BKJ o.J.) Oder anders formuliert: Kulturelle Medienbildung gelingt, wenn die Realitäten verschiedener Lebenswelten miteinander verbunden werden. Wenn die Augmented Reality qua definitionem das Ziel hat, Realitäten zu erweitern und zu „mischen“, und die Kulturelle Medienbildung ebenfalls die Realitäten miteinander verbindet, wäre dann nicht die Kulturelle Medienbildung eigentlich auch eine Real Augmented Reality? Das mag wie ein nettes Wortspiel aussehen, aber letztlich ermöglicht es die Verknüpfung von Medien- mit Kultureller Bildung und die Etablierung entsprechender Projekte für Kinder und Jugendliche, die Zielgruppe auch für Kulturangebote zu begeistern und ihnen Alternativen zur medialen Freizeitbeschäftigung zu bieten. Im Sinne einer ganzheitlichen Kulturellen Bildung kommt die Pädagogik nicht umhin, die Lebenswelten von Heranwachsenden ernst zu nehmen und als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit kulturellen Praktiken zu nutzen. Und dies kann am ehesten gelingen, wenn Partizipation und Dialog auf Augenhöhe in den Projektansätzen praktiziert werden.
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Die Zukunft gestalten Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung G ÜNTER K LARNER
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In der Studie Zukunftsfähiges Deutschland des Wuppertal Instituts (2009: 110ff., 234ff.) stellen die Autorinnen und Autoren fest, dass der Reichtum in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zwar gestiegen ist, nicht aber der Glücksindex. So scheint sich die Idee, das Wohlbefinden der Menschen über wirtschaftliches Wachstum zu steigern, als Illusion zu erweisen. Wohl aber erzeugt der Versuch, mit immer weiter fortschreitendem wirtschaftlichem Wachstum in einer endlichen Welt ein glückliches Leben zu ermöglichen, erhebliche Probleme für die nächsten Generationen. Schon jetzt wird zur Bedürfnisbefriedigung der Menschen die Leistung von 1,6 Planeten benötigt. Dabei ist das Recht der ärmeren Länder, den gleichen Standard wie die Industrienationen zu erreichen, noch nicht eingerechnet. Würden alle Menschen so leben wollen wie die Bundesbürgerinnen und -bürger, wären sogar mehr als drei Erden nötig (Chow 2016). Die Auswirkungen sind indes schon sichtbar: Der Klimawandel ist eine Folge unserer Lebensweise. Die Ressourcen der Erde stellen sich als begrenzt und am Rande der Erschöpfung heraus – und die Umwandlung von Naturstoffen in Gebrauchsgüter schafft ein großes Müllproblem. Biologinnen und Biologen stellen einen massiven Schwund der Biodiversität unseres Planeten fest: Die Weltnaturschutzunion International Union for Conservation of Nature (IUCN) geht dabei davon aus, dass die gegenwärtige Aussterberate 1000- bis 10 000-fach über der sogenannten nor-
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malen Hintergrundaussterberate liegt. „Der Mensch verursacht gerade das größte, globale Artensterben seit Verschwinden der Dinosaurier“, warnte daher Eberhard Brandes, Vorstand des WWF Deutschland Ende 2016 (WWF 2016). Diese Folgen ungehemmter Ausbeutung der Natur (bei allem Bestreben, umweltfreundlichere Produktionsweisen zu entwickeln) haben ihre Ursache unter anderem in der Vorstellung, Wohlstand oder Reichtum könnten ein glückliches Leben garantieren. Methodische Anregung: Sokratisches Gespräch Das sokratische Gespräch geht – wie der Name schon sagt – auf den griechischen Philosophen Sokrates zurück, der seine philosophischen Dispute mit seinen Schülern mit der Frage: Was ist …? begonnen haben soll. Die Frage: „Was ist Glück?“ ermöglicht einen Einstieg in einen Gestaltungsprozess. Die moderierende(!) Gesprächsleitung nimmt dabei eine unwissende Haltung ein. Ihre Aufgabe ist es, alle Teilnehmenden durch Nachfragen zu einer Auseinandersetzung mit ihren eigenen Haltungen zu führen. In diesem Gespräch gibt es kein Richtig oder Falsch, alle Teilnehmenden äußern sich gleichberechtigt und auf Augenhöhe. Es wird ergebnisoffen diskutiert. Ziel ist es, eine Definition oder Beschreibung zu finden, mit der alle Beteiligten einverstanden sein können. Zu Beginn erzählen die Teilnehmenden von einer Situation, die sie als besonders glücklich erlebt haben. Anschließend können sie erläutern, warum sie diese Situation als außergewöhnlich empfunden haben. Im Verlauf des Gesprächs erleben die Teilnehmenden, wie die Begrenztheit individueller Perspektiven aufgehoben wird, wenn sie mit denen der anderen in Beziehung gesetzt werden. Sie erleben sich dabei aber als Subjekte, die eine Beziehung zur Welt haben. Im gleichen Verfahren können auch Zukunftsvorstellungen formuliert und ausgetauscht werden, zum Beispiel mit der Frage: Was wäre, wenn … Armut beseitigt wäre? … Gerechtigkeit herrschen würde? … etc. (PPA 2012; Draken 2013: 17ff.). Aber was ist Glück? Dem römischen Philosophen, Politiker und Naturforscher Seneca (von ca. 1 bis 65 n. Chr.) wird die Formulierung zugeschrieben: „Wir alle streben nach Glück und einem erfüllten Leben.“ Schon im-
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mer haben die Philosophen nach dem Glück und dessen Entstehungsbedingungen gesucht. Schier unüberschaubar ist die Fülle von Büchern und praktischen Anleitungen zu den Themen Glück und glückliches Leben. Die Suche nach dem Glück scheint ein zentrales Motiv des menschlichen Lebens zu sein. Der Versuch aber, Glück über materiellen Wohlstand und mehr Besitz zu erreichen, übersteigt nicht nur die Biokapazität des Planeten, er führt auch nicht zum erwarteten Ergebnis (ganz abgesehen von all jenen, die mit prekären Beschäftigungsverhältnissen davon ausgeschlossen werden), wie der „Weltglücksreport“ (Helliwell/Layard/Sachs 2016) zeigt. Deutschland lag hier (zur Berechnung dienten Daten aus den Jahren 2013 bis 2015) weltweit auf Platz 16. Knapp vor Deutschland lagen Puerto Rico und Costa Rica, knapp dahinter Brasilien und Belgien. Und die Studie Zukunftsfähiges Deutschland kam im Jahr 2008 zu dem Ergebnis: „In Europa ist in den vergangenen vierzig Jahren ein Anstieg der Wirtschaftskraft um 75 Prozent zu verzeichnen, während […] die Lebenszufriedenheit nicht nennenswert zunahm […]. Anders formuliert: Das Wirtschaftswachstum hat nur wenig zur subjektiven Lebensqualität beigetragen, wurde aber durch einen enormen Anstieg der Umweltbelastung erkauft […].“ (Wuppertal Institut 2009: 111)
Was aber macht denn dann glücklich? In ihren Forschungen stellt die Neurowissenschaftlerin Tania Singer1 fest, dass Mitgefühl starke Gefühle wie Freude, Glück oder Zufriedenheit hervorrufen kann. Anteil zu nehmen am Leben der Mitmenschen, scheint ein starker Garant für das Glücksempfinden zu sein. Ein zweiter Baustein für das Glück verbirgt sich hinter dem Begriff Eudaimonia. Die griechischen Philosophen verstanden darunter die Glückseligkeit des guten und tugendhaften Lebens, das der Mensch nur durch seine Tätigkeit erreichen kann. Dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, der über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausgeht, schafft eine Zufriedenheit, die durch materielle Güter kaum erreicht werden kann. Ein weiterer Baustein für das Glück wird von Mihaly Csikszentmihalyi (2010) beschrieben. Er spricht vom „selbstvergessenen Tun“ als „Flow“. Dabei gehen Menschen in ihrer (gestaltenden) Tätigkeit vollkommen auf, erleben mitunter einen rauschhaften Zustand, der imstande ist, Glückshor-
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Einen umfassenden Einblick in das Konzept Mitgefühl („compassion“) gibt ein multimediales eBook von Tania Singer und Matthias Bolz (2013).
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mone im Körper freizusetzen. Diese Erfahrung kann in künstlerischen Prozessen immer wieder gemacht werden – egal, ob mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen: Sie finden Erfüllung im gelingenden Tun. Aber kann es ein individuelles Glück geben, solange es nur für einen kleinen Teil der Menschheit eine ausreichende Versorgung der Grundbedürfnisse gibt? Kann es ein glückliches Leben geben, während ein großer Teil der Menschheit im Unglück leben muss?
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Am 1. Januar 2016 traten die Sustainable Development Goals (SDGS) (Schreiber/Siege 2016: 48ff.) in Kraft.2 Zur Konkretisierung dieser 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung wurde ein Katalog mit 107 inhaltlichen Teilzielen und 62 Maßnahmen verabschiedet. Sie wurden von den Vereinten Nationen (UN) in Anlehnung an die Millenniumsentwicklungsziele (die bis 2015 galten) entwickelt. Die 17 Ziele sind: „1) Weltweite Beendigung der Armut in allen ihren Formen. 2) Beendigung von Hunger, Erreichung von Ernährungssicherheit und verbesserter Ernährung und Förderung nachhaltiger Landwirtschaft. 3) Sicherstellung von gesundem Leben und Förderung des Wohlbefindens aller Menschen jeder Altersgruppe. 4) Sicherstellung einer inklusiven und gerechten Bildung von hoher Qualität und Förderung der Möglichkeit des lebenslangen Lernens für alle. 5) Erreichen der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung aller Frauen und Mädchen. 6) Sicherstellen der Verfügbarkeit und des nachhaltigen Managements von Wasser und sanitärer Einrichtungen für alle. 7) Sicherstellung des Zugangs zu erschwinglicher, zuverlässiger, nachhaltiger und moderner Energie für alle.
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Ausführliche Darstellung mit einer Differenzierung in Teilziele vgl. SGDS 2017.
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8) Förderung von kontinuierlichem, inklusivem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle. 9) Aufbau von belastbarer Infrastruktur, Förderung von inklusiver und nachhaltiger Industrialisierung und Innovation. 10) Reduzierung der Ungleichheiten in und zwischen Ländern. 11) Inklusive, sichere, belastbare und nachhaltige Städte und Siedlungen. 12) Sicherstellen nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen. 13) Ergreifen dringender Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen. 14) Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeres-ressourcen für eine nachhaltige Entwicklung. 15) Schutz, Wiederherstellung und Förderung der nachhaltigen Nutzung der terrestrischen Ökosysteme, nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder, Bekämpfung der Wüstenbildung, Stopp und Umkehrung der Landdegradierung und Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. 16) Förderung friedlicher und inklusiver Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung, Ermöglichen des Zugangs zu Rechtsmitteln für alle und Aufbau von effektiven, rechenschaftspflichtigen und inklusiven Institutionen auf allen Ebenen. 17) Stärkung der Umsetzungsmittel und Wiederbelebung der globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung.“ (Deutsche Welthungerhilfe o.J.)
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Methodische Anregung: Ein philosophisches Dilemma konstruieren Die Diskussion von Dilemmasituationen kann helfen, sich seines Standpunkts und der damit verknüpften Probleme klar zu werden. Dilemmata zeichnen sich dadurch aus, dass jede Entscheidung zu einem unerwünschten Ergebnis führt. So erzeugt die verstärkte Nutzung der Windkraft einen Konflikt zwischen Natur- und Artenschutz auf der einen und der Notwendigkeit, mehr regenerative Energie zu nutzen auf der anderen Seite. Ein weiteres Beispiel ist die Diskussion um die Produktion von Agrarkraftstoffen aus nachwachsenden Pflanzen wie Raps oder den Früchten der Ölpalme. Die dafür genutzten Flächen werden entweder dem Anbau von Nahrungsmitteln entzogen oder es werden wertvolle Regenwaldgebiete dafür gerodet (eine Anleitung für eine Dilemmadiskussion siehe Lind 2003 und zum Palmöl Greenpeace e.V. 2016b). 2004 erklärte die United Nations Organization (UNO) die folgenden zehn Jahre (bis 2014) zur Dekade „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“. In der Fortsetzung hat die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) für die Jahre von 2015 bis 2019 das Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. Mit dem Weltaktionsprogramm soll das Unterziel 4.7 dieser „Sustainable Development Goals“ umgesetzt werden: „Bis 2030 [soll es] sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung.“
Dieses Bildungskonzept ist auf die Zukunft gerichtet und soll die Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigen: Dabei meint Nachhaltigkeit nicht, von der Substanz der Erde, sondern von ihren Erträgen zu leben, und damit die Regenerationsfähigkeit der Erde zu erhalten.
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„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält.“ (Deutsche UNESCO-Kommission o.J.)
Nachhaltige Entwicklung wird also von einem doppelten Verständnis geprägt: die Lebensweise der heutigen Generation soll verbessert, die der nachfolgenden Generationen aber nicht gefährdet werden. Sie steht daher für den Erhalt der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Grundlagen. Es geht also sowohl um eine Entwicklung der Gesellschaft oder der Weltbevölkerung, um eine Verbesserung der Situation vieler heute lebender Menschen zu erzielen, als auch um den Erhalt lebenswichtiger natürlicher, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Ressourcen, um auch zukünftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlassen zu können. Eine nachhaltige Entwicklung erfordert damit, dass die Menschen Verantwortung übernehmen – und zwar für künftig lebende Menschen ebenso wie für die heute Lebenden: Wie beeinflussen meine Entscheidungen Menschen nachfolgender Generationen oder anderer Erdteile? Welche Auswirkungen hat es beispielsweise, wie ich konsumiere, welche Fortbewegungsmittel ich nutze oder welche und wie viel Energie ich verbrauche? Welche globalen Mechanismen führen zu Konflikten, Terror und Flucht? Bildung für nachhaltige Entwicklung soll jede und jeden Einzelnen dazu befähigen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Im Bildungskonzept Bildung für nachhaltige Entwicklung wurden die dazu nötigen Kompetenzen unter dem Begriff Gestaltungskompetenz entwickelt und erprobt: „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) dient dem Erwerb von Gestaltungskompetenz. Mit Gestaltungskompetenz wird die Fähigkeit bezeichnet, Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierende Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzen zu können, mit denen sich nachhaltige Entwicklungsprozesse verwirklichen lassen.“ (de Haan 2007: 6)
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Die Gestaltungskompetenz lässt sich in zwölf Teilkompetenzen ausdifferenzieren: Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen. Vorausschauend Entwicklungen analysieren und beurteilen können. Interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen und handeln. Risiken, Gefahren und Unsicherheiten erkennen und abwägen können. Gemeinsam mit anderen planen und handeln können. Zielkonflikte bei der Reflexion über Handlungsstrategien berücksichtigen können. 7) An kollektiven Entscheidungsprozessen teilhaben können. 8) Sich und andere motivieren können, aktiv zu werden. 9) Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können. 10) Vorstellungen von Gerechtigkeit als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage nutzen können. 11) Selbständig planen und handeln können. 12) Empathie für andere zeigen können (Freie Universität Berlin o.J.).3 1) 2) 3) 4) 5) 6)
Nach dem Auslaufen der UN-Dekade im Jahr 2014 hat die UNESCO von 2015 bis 2019 das Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen, um die entwickelten Ansätze fortzuführen. Darin wird die besondere Rolle der „Change Agents“ betont. Ausdrücklich genannt als Agentinnen und Agenten für einen grundlegenden Wandel werden Pädagoginnen und Pädagogen als Vermittelnde sowie Jugendliche, die ein besonderes Interesse an einer besseren Zukunftsgestaltung haben und daher in zunehmendem Maße eine Antriebskraft für Bildungsprozesse sind.
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Vor allem unter jungen Menschen entwickeln sich neue Werthaltungen. Sie stellen sich die Frage: „Wie wollen wir leben?“ und setzen der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ein anderes Lebenskonzept entgegen: Gut leben statt viel haben. Als Vorlage dafür kann das südameri-
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Ausführlich mit detaillierten Operationalisierungen siehe Freie Universität Berlin 2007.
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kanische Konzept des „guten Lebens“ („Buen Vivir“) gelten. „Buen Vivir ist scharf abgegrenzt von der Idee des individuellen guten Lebens. Es ist nur im sozialen Zusammenhang denkbar, vermittelt durch die Gemeinschaft, in der die Menschen leben.“ (Fatheuer 2011: 20) Der Vorstellung, das Glück sei durch wachsenden Wohlstand beliebig vermehrbar, wirtschaftliches Wachstum mithin der Garant für ein gutes Leben, wird die Notwendigkeit einer Transformation der Gesellschaft in eine Postwachstumsgesellschaft entgegengestellt. Methodische Anregung: Zeitrafferaufnahmen Benötigt werden: eine Webcam, ein Computer und eine Trickfilmsoftware, zum Beispiel AnimatorDV simple. Zu den Tools des Programms gehört die Funktion Time Laps, mit der sich die Webcam steuern lässt. Sie wird so eingestellt, dass sie etwa alle zwei Minuten ein Foto macht. Mit dem Programm werden die fertigen Fotos als Film (.avi) abgespeichert. Als Objekte eignen sich zum Beispiel Weizenkörner, Kressesamen oder Erbsen. Der fertige Film regt zu Diskussionen an: Was kann ich als Mensch erkennen, was ist Zeit, was ist Leben?4 Diese Transformation von unten ist unter anderem geprägt von einer Bewegung der Selbstversorgung und des Selbermachens. Teilen und Tauschen und das gemeinschaftliche Ausprobieren neuer Lebensweisen lässt Experimentierfelder entstehen, die Wege in eine nachhaltigere Zukunft zeigen könnten. Im Zentrum stehen Vorstellungen, die das Wohl von Mensch und Umwelt zum obersten Ziel des Wirtschaftens macht. Initiativen betreiben Gemeinschaftsgärten, organisieren Kleidertauschpartys oder veranstalten Repair-Cafés. Konsumkritische Stadtrundgänge dienen der Auseinandersetzung mit Verbrauch und Verschwendung. Mit „Samenbomben“ werden Brachflächen in Städten und Dörfern in Blumenwiesen verwandelt – so kann biologische Vielfalt wieder entstehen. Urban Gardening dient der Verwandlung von Innenstädten in Gärten und das
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Ein Beispiel für keimende Erbsen siehe www.youtube.com/watch?v=V1RQ2 isJB7U.
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Konzept der Essbaren Städte5 verwandelt öffentliche Parks und Grünanlagen in Gärten, aus denen sich Bürgerinnen und Bürger ernähren können. Die oft jungen Akteurinnen und Akteure nutzen digitale Medien, um viele Mitwirkende zu erreichen, die dann „offline“ lokal aktiv werden. Sie kommunizieren erlebnisorientiert, interaktiv und positiv und verbinden das Thema Zukunftsfähigkeit mit Lebensfreude und einer neuen Kultur nachhaltigen Lebens. Dem Problem der Nahrungsmittelverschwendung werden zum Beispiel Schnibbelpartys entgegengesetzt: Viele Menschen treffen sich zu einer Party, bei der gemeinsam aus Lebensmitteln, die vor der Mülltonne gerettet wurden, ein Dinner gekocht wird.6 Geschichten des Wandels zeigen: Nicht die Produktion nachhaltiger Produkte wird als Lösung betrachtet, sondern die Entwicklung nachhaltiger Lebensstile (ANU o.J.).7 In den letzten Jahren hat der Verbrauch von Bio-Produkten erheblich zugenommen. Zu beobachten ist auch ein Anwachsen veganer oder vegetarischer Ernährung. Dabei stehen gar nicht so sehr die persönlichen Vorteile durch eine gesunde Ernährungsweise im Vordergrund, sondern moralische Konzepte. Die Nutzung von Bio-Lebensmitteln schützt Böden, Luft und Grundwasser vor einem Schadstoffeintrag. Veganerinnen und Vegetarier beschäftigt nicht nur die Frage nach dem Tierwohl. Der Verzicht auf Fleisch wird oft im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Massentierhaltung gesehen: Durch die Nutztierhaltung werden erhebliche Mengen Methan freigesetzt, das erheblich klimaschädlicher ist als CO². Zur Erzeugung eines Kilos Rindfleisch werden etwa 15 000 Liter Wasser verbraucht (Chapagain/Hoekstra 2004 zitiert in Vereinigung Deutscher Gewässerschutz e.V.). Fast 20 000 Kilo pflanzliches Futter benötigt ein Rind während seines Lebens – der Anbau (Mais und Soja) geht oft auf Kosten wertvoller Regenwaldflächen, die dafür gerodet werden müssen.
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Eine Liste ist auf der Seite der „Essbaren Stadt Minden“ zu finden, siehe www.
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Siehe dazu www.schnibbelparty.de.
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Beispiele für „Wandelgeschichten“ sind im Projekt „Transformation“ der Ar-
essbare-stadt-minden.de/wissenswertes/links-essbare-stadte.
beitsgemeinschaft Natur- und Umweltbildung (ANU) zusammengestellt (vgl. ANU o.J.). ANU ist der Dach- und Fachverband von inzwischen ca. 1160 Umweltzentren, Initiativen, Anbieterinnen und Anbietern, Freiberuflerinnen und Freiberuflern sowie Selbstständigen und weiteren Einzelpersonen, die in der außerschulischen Umweltbildung tätig sind.
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Methodische Anregung: Ein Fotoprojekt zum Perspektivwechsel Mit einer Fotokamera kann die unterschiedliche Wirkung verschiedener Perspektiven ausprobiert werden. Fotos werden dazu aus immer der gleichen – ungewöhnlichen – Perspektive gemacht. Zum Beispiel wird ausschließlich aus Bodennähe fotografiert. Aus den Fotos lassen sich mit einfachen Videoschnittprogrammen (z.B. Moviemaker oder IMovie) kleine Fotoshows herstellen, die mit unterschiedlicher Musik (drohend, lustig etc.) vertont werden. Alternativ kann die Kamera als Medium des Entdeckens genutzt werden: Eine Aufgabe kann zum Beispiel sein: Fotografiere Verschwendung, Fremdheit etc. Anschließend lassen sich die Ergebnisse diskutieren: Woran erkennt man die fotografierten Kriterien? (Spalt o.J.) Ohne Gerechtigkeit kann es keine nachhaltige Entwicklung geben – die enge Verknüpfung des Reichtums der Industrieländer mit der Armut vieler Völker ist zwar keine neue Erkenntnis, rückte aber im Rahmen der UNDekade stärker in den Blick der Akteurinnen und Akteure. Die fortschreitende Globalisierung hat zum Beispiel für die Menschen in afrikanischen Ländern verheerende Folgen: So werden Reste aus der Geflügelfleischproduktion aus Europa als Billigfleisch in afrikanische Länder exportiert – mit der Folge, dass die einheimischen Bauern nicht mithalten können und pleitegehen (Obert 2014; Lehrer Online 2015). Ähnliches passiert mit Überschüssen aus der Milchproduktion: Milchpulver aus Europa wird nach Afrika exportiert und verhindert, dass die lokalen Bauern ihre Erzeugnisse zu akzeptablen Preisen verkaufen können (ausführlicher Reichert/Leimbach 2015). Oft sind die Folgen unseres Konsums aus unserer Wahrnehmung ausgeblendet. So landen jährlich etwa 30 Mio. Tonnen Elektroschrott, der größte Teil davon aus Deutschland, auf den Deponien in Ghana, China, Pakistan und Indien. Händler verkaufen die enthaltenen Metalle, die von Kindern und Jugendlichen durch das Verbrennen der Platinen unter erheblicher gesundheitlicher Gefährdung gewonnen werden (ausführlicher in einer Broschüre des Umweltbundesamts 2010). Deutlich wird: Eine nachhaltige Entwicklung ist nur unter dem Gedanken der Einen Welt denkbar. Ohne die Fähigkeit, über die Konsequenzen
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des eigenen Tuns in anderen Regionen nachzudenken, ohne die Bereitschaft, das Recht anderer auf ein gutes Leben anzuerkennen, ist sie nicht nur unter ethischen Gesichtspunkten unvorstellbar – sie kann so auch nicht gelingen. Die Versuche, über Bildungskonzepte eine nachhaltige Entwicklung zu forcieren, greifen aber oft zu kurz – verfallen sie doch oft genug einer linearen Logik, die einem Zweckbewusstsein folgt und einfache Wenn-dannLösungen bevorzugt. Sacha Kagan (2012: 16) fordert: „Aus einer kulturellen Perspektive kann Nachhaltigkeit als eine Suche nach einer Reihe von alternativen Werten und Erkenntnissen über die Welt verstanden werden. […] Der kulturelle Aspekt steht somit am Grunde jeder weiteren Suche nach einer wahren Nachhaltigkeit.“
Methodische Anregung: Komplexe Systeme mit Strömungsbildern untersuchen Ein erster Schritt: Fließendes im Bach beobachten. Eine erste Aufgabe: einen Wasserwirbel entdecken und abzeichnen. Eine erste wichtige Erfahrung: Es ist nahezu unmöglich, das Fließen abzuzeichnen. Das fließende Wasser ändert die Form des Fließens ununterbrochen. Zweiter Schritt: Strömungsuntersuchungen mit der Technik des Marmorierens. In einer Wasserwanne befindet sich Wasser mit etwas Kleister. Verdünnte Ölfarbe wird darauf getropft, ein Stöckchen wird hindurchgezogen, sofort ein Blatt Papier aufgelegt und wieder abgehoben. Die fertigen Bilder werden verglichen und besprochen: Lassen sich zwei gleiche Bilder erzeugen? Lassen sich die Ergebnisse gezielt herstellen? Mit ästhetischen Mitteln lässt sich so die Unberechenbarkeit und Unbeherrschbarkeit eines Systems untersuchen und auf andere Systeme (z.B. Klimageschehen) übertragen (Klarner o.J.; Lehrer Online 2014). Eine Möglichkeit, in komplexeres Denken einzusteigen, kann über eine Dilemmadiskussion erfolgen. Dilemmata zeichnen sich durch Situationen aus, in denen jede Entscheidung problematisch ist. Die Notwendigkeit, verstärkt erneuerbare Energien zur Versorgung der Bevölkerung mit Strom einzusetzen, führt in vielen Gegenden zu einer Auseinandersetzung mit Naturschützerinnen und -schützern. Nachwachsende Rohstoffe zur Produk-
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tion von Agrarkraftstoffen zu verwenden, gerät in einen Konflikt mit der Nahrungsmittelproduktion. Rosen aus Kenia zu kaufen, schafft dort zwar Arbeitsplätze, verbraucht aber erhebliche Mengen an Trinkwasser durch die Bewässerung, die der Bevölkerung nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine nachhaltige Entwicklung kann nur durch Menschen gestaltet werden – und dies ist immer auch ein sozialer und politischer Prozess.
D AS V ERMÄCHTNIS B EUYS ʼ Immer noch ist vielen der Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys (1921-1986) vor allem bekannt als der Urheber des oft kolportierten Satzes „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Allerdings meinte er damit nicht, dass jeder Mensch ein Maler, eine Bildhauerin oder ein Musiker sei. Aber jeder Mensch verfüge über Kreativität und das Vermögen, sich gestaltend an der Welt und den Gesellschaften zu beteiligen. In einem demokratischen Prozess könne das aber immer nur in einem sozialen Kontext geschehen. So gehe es darum, „einen sozialen Organismus, also ein soziales Ganzes so zu gestalten, daß in ihm ein gedeihliches Leben für den Menschen möglich ist, ein gedeihliches Leben dadurch, daß die Fähigkeiten der Menschen sich weiter entfalten können, zur Produktivität aufgerufen sind, das Äußerste, was den Menschen in ihrer Entwicklung zu tun aufgegeben ist, auch zu erreichen, einerseits – damit verbunden aber auch das Leben der Natur auf einen Höchststand ihrer Entwicklung im Zusammenhang mit der menschlichen Arbeit zu bringen.“ (Beuys 1987/1997: 11f.)8
Beuysʼ Konzepte des „erweiterten Kunstbegriffs“ und der „Sozialen Plastik“, unter der er eine kreative Mitgestaltung der Menschen an der Gesellschaft durch die Kunst verstand, bilden den Rahmen seiner These, dass jeder Mensch eine Künstlerin oder ein Künstler sei. Schon das Denken sei mit der Arbeit an einer Plastik vergleichbar:
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Bei diesem Text handelt es sich um die Einführungsrede bei einem öffentlichen Podiumsgespräch zwischen Joseph Beuys und Michael Ende im Festsaal der Wangener Waldorfschule im Februar 1985.
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„Ich finde es vom Standpunkt der Erkenntnistheorie wichtig, hier vom Kunstwerk zu sprechen, weil es sich um eine Formgestalt handelt. Wenn man zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Verständigung zwischen Menschen ganz allgemein nur durch das Kunstwerk des Denkens und der Sprache vollziehbar ist – vorausgesetzt wie jetzt immer, dass man auf diesen anthropologischen Punkt kommt, wo Denken bereits eine Kreation und ein Kunstwerk ist, also ein plastischer Vorgang und fähig ist, eine bestimmte Form zu erzeugen, und sei es nur eine Schallwelle, die das Ohr des anderen erreicht –, wenn ich das also jetzt niederschreibe, gibt es in der Welt eine Form, die ist zweifellos vom Menschen gemacht.“ (Harlan 2001: 81)
Methodische Anregung: Recyclingmöbel Ein Trend ist zurzeit das Bauen von Möbelkunstwerken aus Europaletten. Bei vielen örtlichen Betrieben sind Einwegpaletten preiswert oder umsonst zu erhalten. Europaletten sind über Ebay gebraucht oft schon für wenige Euro zu erhalten.9 So bringt das Denken Ideenmaterial hervor, das – wenn auch zunächst keine physische, so doch eine gedankliche Form hat. Imaginationen als „EinBildungen“ können als Vorstellungen einer zu gestaltenden Welt auch Ursache einer Selbstgestaltung der Menschen werden. Die Dialektik von Welt- und Selbstgestaltung ist damit angesprochen – und damit ein pädagogisches Grundproblem: Wie können Bildungsprozesse so gestaltet werden, dass sie die Menschen in die Lage versetzen, eine nachhaltige Entwicklung zu gestalten? Das plastische Gestalten in diesem Sinne ist nicht nur ein Gestalten physischen Materials – auch das Denken, Fühlen, Wollen der Menschen ist hier einbezogen. Weniger das Ergebnis einer gestaltenden Tätigkeit als vielmehr der Prozess, also die gestaltende Tätigkeit selbst, ist das Ziel pädagogischer Handlungen. Dies aber vollzieht sich nicht im individuellen Tun, sondern ist immer auch Bestandteil eines sozialen Prozesses. Damit rückt das menschliche Zusammenleben als Gesamtkunstwerk in den Blick. Als Teil ist jeder Mensch aufgefordert, sich selbst zu formen und als Bestandteil
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Einige Beispiele siehe auf Pinterest unter https://de.pinterest.com/explore/ palettenm%C3%B6bel-904637994679 und auf Dea Vita unter https://deavita.com/ mobel/ideen-palettenmoebel-europaletten-bauen.html.
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dieses Gestaltungsprozesses zu empfinden. Dieser Formungsprozess ist Resultat der Erfahrung, die der Mensch bei der Arbeit am Gesamtkunstwerk Welt macht. Es handelt sich also um eine produktive Wechselbeziehung: Indem ich die Welt gestalte, gestalte ich mich. Das ist in der Bedeutung des Worts Bildung enthalten. So wird die pädagogische Situation selbst zur sozialen Plastik. Eine Neuformung der Gesellschaft – die große Transformation – braucht Menschen, die in der Lage sind, sich mit sich und ihrer (möglichen) Rolle auseinanderzusetzen. „Hast du etwas zu sagen, dann sag es. Warte nicht, bis du komplexe Techniken oder alle Dur- und Molltonleitern beherrschst. Nutze, was du schon kannst – sprich, zeige, singe, tanze und teile dich mit“, fordert Ulrich Puritz (2011: 31) und zieht die pädagogische Konsequenz: „Das Weiterlernen kommt mit dem Wollen, der Fantasie, dem Austausch mit Deinesgleichen, mit Reibungen und mit dem Neugierig-bleiben: Learning by Doing.“ Methodische Anregung: Lebende Architektur – Bauen mit Weiden Bauen mit lebenden Weiden bedeutet, wachsende Häuser bauen zu können. Jedes Jahr im Februar werden Kopfweiden geschnitten. Die dabei anfallenden Weidenruten werden ca. eine Handbreit am unteren Ende geschält, und dann in vorbereitete Erdlöcher gesetzt (ca. 50 cm tief). Sie lassen sich zu Kuppeln, Zäunen oder aber zu Figuren und Skulpturen flechten. So entstehen aus einem Naturstoff wachsende Gebilde. Umsetzen lässt sich das schon mit Grundschülerinnen und -schülern.10
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Erkennen „Muss nur noch kurz die Welt retten“, singt Tim Bendzko. Aber wer die Welt retten will, muss sie zunächst verstehen und die zu lösenden Probleme erkennen können. Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten beschrieb Mitte des 18. Jahrhunderts „Aesthetik“ als „sinnliche Erkenntnis“. Eine 10 Siehe www.sanftestrukturen.de.
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erste Auseinandersetzung mit den eigenen Weltbildern kann über das Medium der Fotografie geschehen, mit dem diese sichtbar und mit der Wirklichkeit in Beziehung gesetzt werden können. In einer Gruppenarbeit lassen sich diese auch noch mit den Bildern der anderen vergleichen. Themen wie zum Beispiel „Natur in der Stadt“ oder „Fremd-sein“ können schnell zeigen, dass sich die Vorstellungen, die Menschen von der Wirklichkeit haben und die fotografischen Ergebnisse sehr unterscheiden können. Im Vergleich mit den Ergebnissen der anderen zeigt sich auch schnell, dass es nicht nur eine Wirklichkeit gibt: Andere Perspektiven erzeugen andere Wirklichkeiten. So kann ein Fotoprojekt auch ein Anlass für ein Sokratisches Gespräch zum Thema „Was ist Wirklichkeit“ oder „Was ist Wahrheit“ werden (siehe auch „Methodische Anregung: Sokratisches Gespräch“ und „Ein Fotoprojekt zum Perspektivwechsel“). Ein zweites medienpädagogisches Projekt können Zeitrafferaufnahmen (siehe „Methodische Anregung: Zeitrafferaufnahmen“) sein. Sie lassen erkennen, dass die menschliche Wahrnehmung begrenzt ist: Das Wachsen eines Grashalms und dessen Bewegung können wir nicht wahrnehmen. Es gibt also Veränderungen, die wir Menschen nicht beobachten, wohl aber über Schlussfolgerungen ergründen können. Um zu verstehen, was ein Klimawandel für das Leben der Menschen auf der Erde bedeuten kann, ist es notwendig, mit Komplexität umgehen zu können. Komplexe Systeme funktionieren nicht nach einer linearen Logik, sondern aus Wechselwirkungen vieler verschiedener Parameter. Mit ästhetischen Experimenten zum Fließen und Strömen von Wasser lassen sie sich modellhaft untersuchen. Dabei kann die Unberechenbarkeit – und damit auch die Unbeherrschbarkeit – natürlicher Systeme erkannt werden (siehe „Methodische Anregung: Komplexe Systeme mit Strömungsbildern untersuchen“). Bewerten Handeln setzt Bewertungen voraus: Was soll ich tun? Was muss ich tun? Was darf ich tun? Was ist richtig? können Fragen sein, mit denen man sich der Entwicklung von Werthaltungen nähern kann. Die Deutung von Wirklichkeit ist kein objektiver Vorgang, vielmehr hängt sie ab von individuellen und (Gruppen-)Perspektiven und unterschiedlichen Interessen. Dabei wird es immer wieder zu scheinbar unlösbaren Problemen kommen. Sokra-
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tische Gespräche und Dilemmadiskussionen (siehe „Methodische Anregungen: Sokratische Gespräche“ und „Ein philosophisches Dilemma konstruieren“) bieten sich an, um sich der Frage: Welche Welt wollen wir? zu nähern. Handeln Ein Wandel der Lebensstile ist nötig. Orientieren sollen sie sich an der Frage: Was ist zukunftsfähig, was ist „enkeltauglich“, welche Lebensstile gewähren allen Menschen das gleiche Recht zu leben? Dabei geht es darum, eine gemeinsame Vision für die Zukunft zu entwickeln, in der nicht mehr das Haben, sondern das Sein entscheidend ist. Kulturelle Bildung kann in ihren verschiedenen Feldern Mittel zur Verfügung stellen, mit denen diese Visionen auf die individuellen Vorstellungen von einem guten Leben projiziert werden können.
K ULTURELLE B ILDUNG „Angebote kultureller Bildung schaffen für junge Menschen aktive und rezeptive Zugänge zu ästhetischen, künstlerischen und kulturellen Ausdrucksformen, fördern ihre eigene ästhetisch-kulturelle Praxis und befähigen sie, sich die Welt über Kunst und Kultur differenziert zu erschließen sowie sich aktiv gesellschaftlich zu engagieren. Sie fördern die gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen sowie gleichermaßen personale, soziale und methodische Kompetenzen.“ (BMFSFJ 2016: 813)
Mindestens vier Dimensionen Kultureller Bildung für eine nachhaltige Entwicklung lassen sich in diesem Zusammenhang beschreiben: 1) Kulturelle Bildung will Menschen dazu befähigen, ihr eigenes Leben zu
gestalten und zu einer sozial gerechteren Welt beizutragen. Damit wird nachhaltige Entwicklung zu einem Thema Kultureller Bildung. 2) Kultur und die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen sind eine der Grundlagen für soziale und politische Entwicklungen und müssen daher als solche untersucht und erforscht werden. 3) Die Kommunikation über mögliche und wünschenswerte Entwicklungen bedient sich kultureller Ausdrucksformen. In diesem Zusammen-
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hang sind auch Wertorientierungen zu reflektieren und dabei die unterschiedlichen Interessen zu diskutieren. 4) Und nicht zuletzt ist Kulturelle Bildung in der Lage, eine Ästhetik der Nachhaltigkeit zu entwickeln, bei der zum Beispiel die Frage gestellt werden kann, wie denn ein gutes Leben aussehen kann.
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Nicht zu unterschätzen ist ein eher psychologischer Effekt. Beteiligte erleben sich als Verursacherinnen oder Verursacher eines gelingenden Prozesses. Dabei entsteht auch so etwas wie Selbstbewusstsein und Stolz auf das Ergebnis. Die wichtigste Erfahrung ist dabei: Ich kann was! Eine Zukunft werden nur die Menschen gestalten können, die davon überzeugt sind, dass sie dazu auch in der Lage sind. Aus der Vielzahl unterschiedlicher Projekte, die sich im engeren oder weiteren Sinn mit Fragen einer nachhaltigen Entwicklung beschäftigt haben, einige Beispiele: Ideen zu einer Architektur, die nachwachsende Rohstoffe nutzt, liefert das Bauen mit Weidenruten (siehe „Methodische Anregung: Lebende Architektur – Bauen mit Weiden“). Die dabei entstehenden Gebäude wachsen weiter. Aber auch begehbare Skulpturen können damit gebaut werden. Die Gestaltung der Lebensräume von Menschen steht im Mittelpunkt vieler Projekte. Lange Zeit war die Gestaltung der Stadträume vor allem dem Verkehrsfluss unterworfen. Zunehmend wird die Stadt aber wieder als Lebensraum entdeckt (VCD 2016; VCD o.J.; Greenpeace e.V. 2016a). Dazu gehören Projekte wie Urbane Gärten11, Guerilla Gardening12 und die Begrünung von Brachflächen durch das Werfen von „Samenbomben“. Ein eher klassischer Bereich der Umweltbildung dreht sich um Müll, Müllvermeidung, Recycling und Upcycling. Eine Vielzahl mehr oder weniger brauchbarer Anleitungen, wie aus scheinbar nutzlos gewordenen Materialien allerhand Nützliches hergestellt werden kann, werden als „Life Hacks“ in Social Communitys verbreitet. Ein Beispiel ist die Herstellung von Möbeln aus Holzpaletten (siehe auch „Methodische Anregung:
11 Siehe dazu http://anstiftung.de/urbane-gaerten. 12 Beispiele siehe www.guerrillagardening.org.
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Recyclingmöbel“). Zunehmend entwickelt sich auch eine „Do it Yourself“Bewegung (DIY-Bewegung)13, zu der auch Repair-Cafés14, Fab Laps und Maker Spaces15 gehören. In diesen Werkstätten werden Erfahrungen, Werkzeuge und gegenseitige Hilfen bei der Reparatur oder der Herstellung von Gegenständen geteilt oder gemeinsam genutzt. An der Freien Universität Berlin setzte sich in einem offenen Kunstund Raumlabor die 2011 gegründete Initiative Sustain it! (vgl. 2012) mit dem ressourcenintensiven Konsumtrend „Coffee-to-go“ auseinander. Das Deutsche Jugendherbergswerk veranstaltete in den Jahren 2012 bis 2014 den Wettbewerb „Trickreich in die Zukunft“16. Der Wettbewerb richtete sich an Kinder (7 bis 12 Jahre) und Jugendliche (13 bis 21 Jahre). Aufgabe war es, sich mit Themen nachhaltiger Entwicklung zu beschäftigen und darüber einen Trickfilm zu machen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ) beschäftigen sich regelmäßig in ihren Seminaren mit Themen wie Verschwendung, Biodiversität, Wasser, Luft, Boden und Gerechtigkeit. Dazu werden Konsumkritische Stadtrundgänge17 besucht und die Erfahrungen in Fotogeschichten, Theaterstücken und Trickfilmen zu kleinen Kunstwerken verarbeitet. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Beziehung zu Natur und Landschaft wird in Landart-Projekten gesucht (siehe dazu Kreuzinger 2002).18 „Wenn die Kultur das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und Umwelt reguliert, dann ist die heutige Umweltkrise eine kulturelle Krise. Sie braucht deshalb kulturelle Lösungen und eine kulturelle Strategie. Die globalisierte Kultur soll dabei durch eine Vielfalt von Kulturen der Nachhaltigkeit ersetzt werden.“ (Brocchi 2007: 17)
13 Siehe dazu http://anstiftung.de/selbermachen. 14 Eine Liste ist unter https://repaircafe.org/de zu finden. 15 Eine Liste ist unter https://3druck.com/labs zu finden. 16 Siehe www.nachhaltige-trickfilme.de. 17 Siehe www.weltbewusst.org/stadtrundgang. 18 Ergebnis aus einem Kurs in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, siehe www.facebook.com/330256183763077/photos/? tab=album&album_id=711054465683245.
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Und dabei gilt es, in einem partizipativen Prozess Werthaltungen zu entwickeln, die unter den Gesichtspunkten Verantwortung, Anteilnahme, Gerechtigkeit und Teilhabe eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen zu garantieren in der Lage ist.
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Das Politische in der Kulturellen Bildung – (k)ein Thema? D OLORES S MITH
E INFÜHRUNG Es liegt nahe, sich im Rahmen einer Publikation zum Thema „Wertewandel in der Kulturellen Bildung“ auch und gerade mit politischen Themen und dem Verhältnis von Politischer und Kultureller Bildung auseinanderzusetzen. Während Kulturelle Bildung immer zu klären hat, ob und wie sie inhaltlich und methodisch auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren sollte, zwingt die brisante politische Lage derzeit jedoch noch stärker zur Reflexion der dabei einzunehmenden fachlichen Positionen: Wie direkt oder indirekt soll Kulturelle Bildung politisch bilden? Setzt sie in Zeiten kurzer Aufmerksamkeitsspannen auf direkte inhaltlich-thematische Auseinandersetzung oder verlässt sie sich in ihren Konzepten auf die Stärkung des Individuums, die Förderung seiner Kreativität, auf das Politische im Ästhetischen? Diese Fragen können im Rahmen eines einzelnen Beitrags nicht geklärt werden, sondern müssten von Vertreterinnen und Vertretern der Kulturellen Bildung jeweils im Hinblick auf ihre Ziele, Inhalte und Praxisfelder untersucht werden. Im Rahmen dieses Beitrags beschränke ich mich daher auf die Klärung der Frage, wo die Kulturelle Bildung derzeit angesichts zahlreicher problematischer Entwicklungen und Gefährdungslagen die Politische Bildung am sinnvollsten mit eigenen Fortbildungen ergänzen sollte: Welche Themen gehören aktuell, welche dauerhaft auf ihre Agenda? Gibt es aufgrund des gesellschaftlichen Wandels neue Aufgaben, für welche die Kulturelle Bil-
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dung neue Fortbildungsformate entwickeln muss? Und: Sollte eine Kulturelle Bildung, die sich auch als Politische Bildung versteht, sich primär auf die Jugend- und Erwachsenenbildung konzentrieren oder alle Altersgruppen konzeptionell berücksichtigen? Dies soll im Folgenden untersucht werden.
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POLITISCH SENSIBEL Mit der Zunahme gesellschaftlicher und globaler Veränderungen und Krisen und der Suche nach neuen Problemlösestrategien sind die Erwartungen an die Kulturelle Bildung ständig gewachsen: „Im politischen und gesellschaftliche Diskurs könnte das Interesse an Kultureller Bildung gegenwärtig, zumindest vordergründig, kaum größer sein“, heißt es in einer neueren Untersuchung zur Kulturellen Bildung (Fleige/Gieseke/Robak 2015: 11). Allerdings kritisieren die Autorinnen, dass das anhaltende Interesse der Politik an Kultureller Bildung das Feld der kulturellen Erwachsenenbildung außerhalb der Fachkräfteausbildungen kaum erreicht: „In der Bildungspolitik scheint der Glaube vorzuherrschen, das schulische und außerschulische Lernen in diesem Bereich reiche aus. Die teils implizite, teils explizite Annahme lautet, dass wenn der Mensch seine Kulturfähigkeit und Kreativität in der Schule ausreichend anlegt, sie sich in späteren Lebensphasen im Selbstlauf weiterentwickeln. […] Nirgends wird hinterfragt, ob solche Entwicklungen über die Lebensspanne wirklich stattfinden, und überhaupt nicht, wie sie sich vollziehen.“ (Ebd.: 12)
Natürlich wäre es auch für eine politisch sensible kulturelle Bildungsarbeit wichtig zu fragen, was von dem, was sie vermittelt auf welche Weise bildet, denn „Kulturfähigkeit und Kreativität“ sind keineswegs ein Wert an sich – wie vielfach angenommen wird. Kreativität kann destruktive Erfindungen hervorbringen, und die Fähigkeit, Kunst und Kulturgüter zu verstehen und wertzuschätzen, findet sich auch bei Menschen, die sie im Dienst von Unterdrückung und Gewalt einsetzen. Somit kann, wer kulturell bildet, nicht umhin, politisch Stellung zu beziehen. Es ist demnach sowohl für die kulturelle Kinder- und Jugendbildung als auch für die kulturelle Erwachsenenbildung unerlässlich zu klären, welche Rolle das Politische in ihren inhaltli-
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chen und methodischen Konzepten spielen soll. Ich werde darauf später in diesem Beitrag zurückkommen. Wenn Marion Fleige und ihre Mitautorinnen hier monieren, dass sich kulturelle Bildungsarbeit zu sehr auf die frühen Phasen des Lernens konzentriere, sprechen sie damit auch einen anderen „blinden Fleck“ in der kulturellen Bildungsplanung an. Eine zu starke Konzentration auf die kulturelle Kinder- und Jugendbildung blendet nämlich aus, dass innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung der Anteil der Menschen wächst, die in und mit anderen Bildungssystemen aufgewachsen, also keine sogenannten „Bildungsinländer“ sind. Ob es Menschen sind, die durch Flucht und Vertreibung gezwungen sind, sich hier dauerhaft ein neues Leben aufzubauen oder Menschen, die als Arbeitskräfte aus der Europäischen Union (EU) oder dem außereuropäischen Ausland einwandern oder auch ausländische Akademikerinnen und Akademiker, die man aufgrund zunehmenden Arbeitskräftemangels dafür gewinnen möchte, nach einem Studium längerfristig in Deutschland zu bleiben – sie alle sind Erwachsene, die nicht nur im Rahmen der Sprachförderung oder beruflichen Bildung, sondern auch als Eltern und Bildungsbegleiterinnen und -begleiter, Bürgerinnen und Bürger oder Kulturpublikum und Kulturgestalter in der Kulturellen Bildung mitgedacht werden müssen. Fleige und ihren Mitautorinnen ist daher beizupflichten, wenn sie neben der kulturellen Kinder- und Jugendbildung auch im Erwachsenenalter einen großen und wachsenden Bedarf an kulturellen Bildungsangeboten sehen, die, auch wenn sie nicht explizit als Medium der Politikvermittlung verstanden werden, politisch bilden: „Die Anforderungen des Lernens an und über Kultur in unserer Gesellschaft sind unüberschaubar. Dies gilt besonders angesichts tiefgreifender Veränderungen in der Gesellschaft und in den Lebenswelten, auf die Kulturelle Erwachsenenbildung rekurriert.“ (Ebd.: 14)
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Wenn die Autorinnen hier von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen sprechen, dann bezieht sich das natürlich vor allem auf die Perspektive all derer, die über lange Zeiträume eine andere bundesrepublikanische Gesellschaft erlebt haben. Diese war keineswegs krisen- und konfliktfrei.
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Auch ein beschleunigter Wandlungsdruck und anomische Tendenzen waren bereits vor 15 Jahren deutlich spürbar. Die meisten der heute nicht mehr zu ignorierenden problematischen Entwicklungen waren jedoch lange Zeit durch alltagsweltliche Kontinuitäten überdeckt oder konnten dadurch ausgeblendet werden, dass man sich zwar mit Europa und der Welt vernetzt, aber nicht in wechselseitigen Abhängigkeiten sah. In den letzten zehn Jahren ist demgegenüber das Bewusstsein der Bevölkerung hinsichtlich weltweiter Abhängigkeiten gewachsen. Wenn bisher die Krisen der Welt, vermittelt über die Medien, immer noch sehr weit entfernt schienen, sind sie spätestens seit der globalen Finanzkrise in 2008, der verstärkten Flüchtlingszuwanderung, Terroranschlägen und einem inzwischen auch hierzulande immer deutlicher spürbaren Klimawandel nicht mehr auszublenden. Die neuen kognitiven Realitäten haben jedoch nicht überall zu einem differenzierteren Problembewusstsein geführt, sondern vielfach den Wunsch hervorgebracht, zu einer Zeit zurückkehren, in der die Verhältnisse scheinbar überschaubarer waren. Rechtspopulistinnen und -populisten und andere politisch rückwärtsgewandte bis extreme Gruppierungen nähren diese Illusion, um an Einfluss zu gewinnen. Sie suggerieren, dass Probleme dadurch zu lösen seien, dass man Migration verhindert und internationale Bündnisse verlässt und schüren Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen. Zurückzukehren ist aber nicht zu übersichtlicheren Verhältnissen, sondern allenfalls zu schlichteren Deutungen dieser Verhältnisse. Populismus und Rechtsextremismus waren allerdings schon vor mehr als 20 Jahren virulent. In einem wissenschaftlichen Beitrag aus dieser Zeit heißt es: „Der neorassistische Diskurs stößt in den letzten Jahren auf immer breitere Resonanz. Das zeigt sich nicht nur am Erfolg der neuen rechtsradikalen Parteien, wie der ‚Front National‘ von Le Pen in Frankreich, von Haiders ‚Freiheitlichen‘ in Österreich, der separatistischen ‚Liga Nord‘ in Italien und der ‚Republikaner‘ in Deutschland. Rechtspopulistische Strömungen erfassen auch – überall in Europa – Teile der großen staatstragenden Parteien und ihrer Wählerschaft.“ (Gaitanides 1994: 52f.)
Der Autor bezieht sich damit auf die späten 1980er und frühen 1990er Jahre. In diese Zeit fällt die Öffnung der Grenzen in Osteuropa ebenso wie die Jugoslawienkriege, in deren Folge die Zahl von Flüchtlingen stark anstieg und mit der Asylfrage Politik gemacht wurde. Die 1983 als rechte Abspal-
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tung der CSU gegründete Partei der Republikanerinnen und Republikaner, die sich von Anfang an mit ausländerfeindlichen Parolen profiliert hatte, war 1989 ins Berliner Abgeordnetenhaus und ins Europaparlament eingezogen und entgegen Warnungen besonnenerer Parteikolleginnen und -kollegen machten sich Anfang der 1990er Jahre auch führende Politikerinnen und Politiker etablierter Parteien Wahlkampfstrategien von rechtsaußen zu eigen. Schaut man zurück auf diese Zeit, so sind Parallelen zu heute unabweisbar und lassen daran zweifeln, dass der heutige Rechtspopulismus und -extremismus auf einen Wertewandel in der Gesellschaft zurückzuführen ist. Vielmehr stellt sich die Frage, ob der Rechtsextremismus in der Zwischenzeit tatsächlich mehr Zulauf bekommen hat oder ob derzeit nur unter neuem Label langjährige Sympathisantinnen und Sympathisanten aus der Deckung kommen. Auch die Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) lässt fragen, ob nach den Brandanschlägen gegen Flüchtlinge und Einwanderer und Einwanderinnen, in deren Folge in Solingen im Mai 1993 fünf Frauen und Mädchen starben, tatsächlich ein Umdenken stattgefunden hat. Eine politisch sensible Kulturelle Bildung muss sich mit dem Thema des politisch oder religiös begründeten Extremismus beschäftigen. Damit eng verbunden und ein Thema, das die Kulturelle Bildung erst recht interessieren sollte, ist das der „geistigen Brandstiftung“, die gestern wie heute mit erschreckend einfachen Mitteln große Wirkung erzielt. Wie schnell auch in demokratischen Gesellschaften ein Klima der Bedrohung und Angst erzeugt werden kann, zeigt der Rückblick auf die Zeit vor den progromartigen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten in Rostock, Hoyerswerda, Solingen und Mölln. Seinerzeit wurde der Volkszorn gezielt geschürt, um das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen. In seinem Artikel „‚Das Boot ist voll‘ – Schreckensvisionen des vereinten Deutschland“ analysiert Cord Pagenstecher Sprache und visuelle Mittel, mit denen seinerzeit der Eindruck von Angriff und Bedrohung durch Migranten erzeugt und in Kettenreaktionen von immer mehr Medien – und selbst der Werbung – weiterverbreitet wurden (vgl. Pagenstecher 2008). Mit Artikeln, in denen von einer „Massenflucht in den Westen“, „AsylantenFluten“ und einem „Ansturm der Armen“ die Rede war, wurde eine Atmosphäre der Angst und Hilflosigkeit verbreitet. Mit Debatten über „Scheinasylanten“ sowie „Wirtschaftsflüchtlinge“ und mit Musterentwürfen für
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Ratsbeschlüsse, Presseerklärungen und Anfragen – wie zum Beispiel die, wie viele Kindergärten sich mit dem Geld für die Flüchtlingsversorgung finanzieren ließen – wurde Wut gegen Asylsuchende erzeugt. Hier scheint inzwischen – was die Politik und Presse in der Bundesrepublik angeht – ein Lernprozess stattgefunden zu haben, denn heute werden die meisten politischen Debatten weniger alarmistisch geführt und die Medien sind jenseits der Boulevardpresse herausgefordert, ein Gegengewicht zu den Sozialen Netzwerken zu bilden, wo komplexitätsreduzierte Problemanalysen und schlichte Deutungen gesellschaftlicher Krisen heute schnellere und weitere Verbreitung finden als früher. Hier hat sich leider auch ein in Teilen rechtsfreier Raum etabliert, in dem sich viele destruktive Kräfte relativ unbehelligt bewegen. Ob Populisten, Extremistinnen oder unzufriedene Zeitgenossen – innerhalb der Sozialen Medien haben sie einen neuen Ort für falsche Nachrichten, Agitation und Propaganda gefunden, um Menschen aufzuwiegeln, die sich dann ohne Unrechtsbewusstsein als Vollstreckende einer Mehrheitsmeinung verstehen und nicht selten auch legitimiert fühlen, verbal und physisch Gewalt gegen andere auszuüben. Dass dies nicht der Digitalisierung und den Sozialen Medien anzulasten ist, wurde bereits deutlich gemacht. Die Strategie, über die Erzeugung und Verbreitung von Feindbildern von tatsächlichen Problemen oder geplantem Unrecht abzulenken, große Gruppen von Menschen auf Nebenkriegsschauplätzen gegen angebliche Feinde zu mobilisieren und so erzeugte Mehrheitsmeinungen zur Legitimierung von Unrecht und Gewalt heranzuziehen hat auch schon funktioniert als es noch kein Internet gab. Geändert hat sich nur, dass heute praktisch jede und jeder, die oder der das Internet und Soziale Netzwerke geschickt zu nutzen weiß, den Anschein einer millionenfach unterstützten politischen Meinung oder Bewegung erwecken kann. Nach allen bisherigen Erörterungen stellt sich die Frage, ob es die Gesellschaft – und somit auch die Kulturelle Bildung – tatsächlich mit einem grundlegenden Wertewandel oder aber mit einer Reihe bisher ungelöster Probleme zu tun hat, die erst jetzt in ihrer vollen Tragweite wahrgenommen werden. Wurden problematische Entwicklungen vielleicht einfach über lange Zeit verharmlost oder wurde aufgrund falscher Ursachenanalysen mit den falschen Strategien auf sie reagiert? Konzentrierte man sich auf die Symptomebene statt auf die zugrunde liegenden Probleme?
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P ROBLEMVERSCHIEBUNGEN Viele problematische Entwicklungen, die uns aktuell beschäftigen, sind in der Vergangenheit auf Migration und kulturelle Differenzen zurückgeführt worden. Von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Weitblick wurden sie bereits vor Jahrzehnten antizipiert – allerdings mit anderen Ursachenanalysen. Diese bezogen sich nicht hauptsächlich auf migrationsbedingte kulturelle Differenz, das heißt nicht auf Kultur in ihrer Identitätsund Distinktionsfunktion, sondern auf die Orientierungsfunktion von Kultur bzw. deren Verlust. Sie wiesen schon sehr früh auf die Gefahren hin, die von einem zunehmenden Sinn-Vakuum und einer sich gleichzeitig rasant ausbreitenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausgingen. So diagnostizierte Jürgen Habermas schon Mitte der 1980er Jahre (1985: 166) ein „Erlahmen der sozialen Bindungskräfte, Privatisierung und Entzweiung“ und Wilhelm Heitmeyer (1997a: 14) prognostizierte angesichts von Pluralisierung und sozialer Entkonventionalisierung bereits Ende der 1990er Jahre, dass „[…] Bedrohungsgefühle von Kontingenz, daß alles auch ganz anders sein könnte […]“ zunehmen würden. Nicht Pluralisierung oder Enttraditionalisierung an sich stellten jedoch ihm zufolge eine Gefahr dar, sondern die Tatsache, dass diese vor dem Hintergrund eines „entfesselten Kapitalismus“ stattfänden. Dessen Konkurrenz- und Verwertungslogik, so Heitmeyer, erzwinge zunehmend utilitaristisch-kalkulatives Verhalten und führe zur strukturellen Auflösung übergreifender Sinnordnungen wie Solidaritätspotenzialen. Vor diesem Hintergrund befürchtete Heitmeyer, dass „[…] emotionalisierungsfähige und glaubensträchtige Sinnkategorien vorrangig nationaler oder ethnisch-kultureller Qualität an ordnungsversprechender Relevanz gewinnen“ (ebd.: 18) und unter anderem über politische Funktionalisierungen zur Basis ethnisch-kultureller Konflikte würden. Ebenso warnte er vor einer Rückbesinnung auf religiöse Weltdeutungen, wenn sie zu Überlegenheitsansprüchen und in der Folge zur „Re-Aktivierung oder Verfestigung harter traditionaler Verhaltensmaßstäbe“ führe: „Die für fundamentalistische Bewegungen typische Halbierung der Moderne, also die Ablehnung der kulturellen Seite und die gleichzeitige Nutzung der technologischen Möglichkeiten, birgt gefährliche politische Inkonsistenzen in sich, die die
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Neigungen nähren könnten, sie über Gewalt zu klären.“ (Heitmeyer/Müller/Schröder 1997: 191)
Von Heitmeyers Analysen fand fast ausschließlich die FundamentalismusStudie und hier vor allem ihre Interpretation durch Politiker und Journalistinnen Eingang in die gesellschaftlichen Diskurse. Sie wurde in verkürzter Form als Warnung vor „Parallelgesellschaften“ verbreitet, ohne in gleicher Weise auf den von Heitmeyer deutlich herausgearbeiteten Zusammenhang mit einer nur noch an der Funktionslogik des ökonomischen Systems orientierten gesellschaftlichen Entwicklung hinzuweisen. Ökonomische Strukturprobleme und daraus resultierende anomische Entwicklungen sah Heitmeyer auch als Ursache für eine von ihm prognostizierte Demokratiereduzierung zur Kontrolle desintegrativer Prozesse (vgl. Heitmeyer 1997a, c: 629-651). Andere Studien weisen ebenfalls darauf hin, dass, wenn in der Vergangenheit gesellschaftliche Probleme sichtbar wurden, deren ökonomische Seite in den Ursachenanalysen selten Berücksichtigung fand. Viel häufiger als eine wachsende soziale Ungleichheit oder Fragen der Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit wurden Probleme aller Art als migrationsbedingt ausgelegt. Der Soziologe Stefan Gaitanides hat demgegenüber betont, dass hiermit andere Ursachen aus dem Fokus gerückt werden konnten: „Die Lasten von Konjunkturkrisen und Modernitätsschüben konnten überproportional auf den Schultern der Migranten abgeladen werden, wodurch die Desintegration von gefährdeten Teilen der angestammten deutschen Bevölkerung vorgebeugt werden konnte. Auf diesen Zusammenhang wurde in der gesellschaftskritischen Ära der 70er Jahre immer wieder hingewiesen. […] Er wird im heutigen Integrationsdiskurs weitgehend ausgeblendet […].“ (Gaitanides 1999: 1)
Sogar wenn Kritik aus dem ökonomischen Lager selbst kam, erfuhr sie weniger Resonanz, als man hätte erwarten können. So war es nie Thema größerer gesellschaftlicher Debatten, dass ein Befürworter von Privatisierung und starker Wettbewerbspolitik, wie der Nobelpreisträger für Wirtschaft Joseph Stiglitz (2002: 246), eine ausschließlich wirtschaftlichen Zielen verpflichtete Globalisierung bereits vor 15 Jahren kritisierte: „Die Globalisierung in ihrer heutigen Form ist keine Erfolgsgeschichte. Sie hat das
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Schicksal der meisten Armen in der Welt nicht gelindert. Sie ist ökologisch bedenklich. Sie hat die Weltwirtschaft nicht stabilisiert […].“
O RIENTIERUNG , K REATIVITÄT UND S OLIDARITÄT KONTRA K ONKURRENZ - UND V ERWERTUNGSLOGIK Soweit dieser kurze exemplarische Rückblick auf einige wissenschaftliche Beiträge der späten 1990er und beginnenden 2000er Jahre. Sie sind deshalb interessant für die vorliegende Untersuchung, weil sie exemplarisch für eine Denkrichtung stehen, die sich nicht hauptsächlich auf Kultur in ihrer Identitäts- und Distinktionsfunktion und damit auf Diversitäts- und Hybriditätsdiskurse bezieht, sondern die Folgen des Verlusts der Orientierungsfunktion von Kultur in verschiedenen Aspekten thematisieren. Wie zu sehen war, beleuchten die Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen teils mehr, teils weniger die Folgen desselben Phänomens: Zu einem Zeitpunkt, als Kultur als Sinn-System zunächst unbemerkt, dann immer deutlicher ihre Orientierungsfunktion verlor, wurde dem zu wenig Beachtung geschenkt. Nötige Anpassungsprozesse, die Unterstützung gebraucht hätten, wurden als kollektives Bedürfnis nicht reflexiv gemacht und mussten weitgehend individuell geleistet werden. Weil es an übergreifenden kollektiven Zielen und Werten fehlte, konnte das ökonomische System mit Wachstumszielen, Wohlstandsversprechen und Konsum als Sinn-Surrogat allmählich an ihre Stelle treten. Vom Verlust der Orientierungsfunktion ihres Sinn- und Wertesystems waren zunächst nicht alle gleich schwer betroffen. Ob ein mitgebrachtes System kultureller Überzeugungen für Zuwanderinnen und Zuwanderer tatsächlich mehr orientierende Funktion hatte als die dominanten Wachstums- und Wohlstandsziele, mit denen sich auch die bundesrepublikanische Bevölkerung von einem Kontingenzbewusstsein noch längere Zeit ablenken konnte, ist fraglich. Dagegen waren für Menschen in Ostdeutschland die diesbezüglichen Herausforderungen nach dem Mauerfall ungleich größer als für die Bevölkerung der alten Bundesrepublik. Sie mussten von einem vertrauten Bezugssystem in ein anderes wechseln, das aber zu diesem Zeitpunkt selbst seine orientierende Funktion bereits verloren hatte. In den Alltagswelten der bundesrepublikanischen Bevölkerung wurden die bereits vor der Wiedervereinigung spürbaren Folgen von Enttraditionalisie-
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rung, Pluralisierung und das damit einhergehende Bewusstsein von Kontingenz jedoch erst allmählich deutlicher. Der Verlust eines gemeinsamen Wert- und Weltdeutungssystems wurde, wie bereits gezeigt, dadurch überdeckt, dass Wachstums- und Wohlstandsziele und Konsum an seine Stelle traten. Konsum hält beschäftigt und suggeriert Sicherheit und Kontrolle über das eigene Leben – funktioniert aber nur für diejenigen, die konsumieren können. Es sind aber inzwischen immer mehr Menschen in der Bundesrepublik, in Europa, in der Welt, die Mühe haben, das existentiell Notwendige (Nahrung, Wohnen, Gesundheit) zu erwirtschaften – für sie funktioniert Konsum als Ersatz für übergreifende Sinn-Systeme nicht. In dem Maße, wie immer mehr Menschen das Gefühl von Verfügung über das eigene Leben verlieren, steigt auch die Gefahr, dass sie Sicherheit und Kontrolle da suchen, wo es für eine demokratisch verfasste Gesellschaft gefährlich wird: in den rigiden Denksystemen eindimensionaler Weltbilder, bei Menschen, die ihnen materielle Sicherheit oder posthume Paradiese versprechen, sofern sie ihnen folgen und ihre Kritikund Denkfähigkeit einstellen, oder durch Ausübung von Dominanz, Kontrolle und Gewalt über andere, die sie für die eigenen Bedrohungsgefühle verantwortlich machen können. Das zeigt sich leider inzwischen an sehr vielen Stellen inner- und außerhalb der Gesellschaft und überall da, wo die Ökonomie übergreifende kollektive Ziele und Werte ersetzen sollte und dies spätestens in Zeiten finanzieller Krisen nicht mehr leistet. Für die bundesrepublikanische Gesellschaft wurden hier bereits mehr oder weniger ausführlich Auswirkungen eines Mangels an inklusiven Gesellschaftskonzepten bei gleichzeitig immer ungleicher verteiltem wirtschaftlichem Wohlstand thematisiert. In Bezug auf Europa lässt sich Ähnliches beobachten. Die EU wurde bisher offenbar von vielen Mitgliedern nur als europäische Wirtschafts- und nicht als Wertegemeinschaft aufgefasst. Dieser Auffassung von Europa versuchte Jacques Delors, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission bereits in den 1990er Jahren etwas entgegenzusetzen. Mit der Metapher „Europa eine Seele geben“ forderte er die Bürgerinnen und Bürger Europas auf, sich an einem Diskussionsprozess über die europäische Idee und eine gemeinsame europäische Wertebasis zu beteiligen. Diese Debatte über Ziele und Bedeutung der europäischen Integration wurde allerdings bis heute eher von den intellektuellen Eliten Europas geführt als von seinen Bürgerinnen und Bürgern. Es darf also nicht verwundern, dass
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auch auf europäischer Ebene bisher kein der Diversität der europäischen Bürgerschaft entsprechender Ziel- und Wertekanon formuliert werden konnte. Mit der Globalisierung verhält es sich ähnlich: Obwohl es immer eine Globalisierung von Kommunikation und Markt war, überlagern ökonomische Prinzipien längst auch den Bereich der Kommunikation. Weltgesellschaft wird bisher überwiegend als ökonomische Weltgesellschaft gedacht – mit allen Folgen dieser hauptsächlich an der Funktionslogik des ökonomischen Systems orientierten Entwicklung: Mensch, Umwelt und längst auch die Bildung werden überwiegend unter Verwertungsaspekten betrachtet, Solidarität und Verantwortung treten zurück hinter Kosten-NutzenKalkül und Konkurrenz. Symptomatisch für diese Entwicklung ist, dass die Vereinten Nationen (UN) immer größere Schwierigkeiten haben, in Fällen von Natur-, Hunger- und Kriegskatastrophen Solidarität in der Weltgemeinschaft zu mobilisieren. Die Utopie einer Weltgesellschaft mit kollektiven Zielen und Werten ist immer weniger greifbar. Nun könnte man einwenden, dass solche übergreifenden Ziele und Werte doch der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch das Grundgesetz, der Europäischen Gemeinschaft durch die Europäische Deklaration der Menschenrechte und der Weltgesellschaft durch die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte der UN gegeben sind. Mit diesen verhält es sich jedoch wie mit den Kulturgütern in Museen und den Büchern in Bibliotheken: wer sie nicht kennt, nicht versteht, nicht wertschätzt, für den können sie nicht handlungsleitend sein. Auch hier ist es symptomatisch für die fortgeschrittene Ökonomisierung, dass man offensichtlich Erwerb und Besitz mit Aneignung verwechselt und häufig mehr in die Gebäude investiert, in denen Wissen aufbewahrt wird, als in Menschen, die es weitergeben.
F OLGERUNGEN FÜR DIE E NTWICKLUNG KULTURELLER B ILDUNGSANGEBOTE Aus dem hier Geschilderten lassen sich eine Reihe gegenwarts- und zukunftsrelevanter Themen und Aufgaben für die Kulturelle Bildung ableiten, die im Folgenden nur benannt, aber nicht weiter ausgelegt werden können, da sie von zu vielen Vorbedingungen abhängen. Zu letzteren gehört die Frage, ob Konzepte für die Kinder-, Jugend- oder Erwachsenenbildung
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entwickelt werden sollen, ob lang- oder kurzfristig mit den jeweiligen Altersgruppen gearbeitet werden kann und wo die einzelne Einrichtung und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Beitrag und ihre konzeptionellen Stärken sehen. Und – auf welcher Ebene will man ansetzen? Aufklärung? Kommunikation? Förderung von Autonomie? Angstbewältigung? Welcher Zugang folgt welcher Diagnose und legt welche Handlungsstrategie nahe? Da hier nicht der Raum ist, diese Fragen zu klären, sollen im Folgenden zumindest durch einige Beispiele aus dem offenen Programm der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW mögliche Auslegungen zukunftsrelevanter Themen vorgestellt werden. Wie zu sehen war, existiert ein Bedarf an Angeboten zur Unterstützung der Orientierung im gesellschaftlichen Wandel, der weiter steigen wird. Dazu gehören auch Formate zur Schulung des Umgangs mit Komplexität, Informations- und Meinungsvielfalt. Wie im Rahmen dieses Beitrags bereits dargelegt, bedeutet dies auch eine stärkere Sensibilisierung für die Mechanismen von Einflussnahme, Meinungsmanipulation und Täuschung. Wenn politische oder religiöse Extremistinnen und Extremisten immer häufiger künstlerische und mediale Mittel in mehr oder weniger subtiler Form in den Dienst der Abschaffung der Meinungsfreiheit und Demokratie stellen, darf das vonseiten der Kulturellen Bildung nicht unbeantwortet bleiben. Dass das Phänomen nicht neu ist, wurde bereits erwähnt; Kunst und Medien, die heute von Salafistinnen und Salafisten geschickt genutzt werden, um junge Menschen als „Gotteskrieger“ zu rekrutieren, wurden auch im Nationalsozialismus zu Propagandazwecken, Agitation und Meinungsmanipulation genutzt. Was die Kulturelle Bildung allerdings in besonderer Weise beschäftigen muss, ist die Beobachtung, dass die intendierte manipulative Wirkung umso (fatal) einflussreicher war und ist, je professioneller die künstlerischen Mittel genutzt werden. Ralph Giordano schreibt in seinen „Erinnerungen eines Davongekommenen“ dass die nationalsozialistische Propaganda von den „[…] damals keineswegs philosemitischen Deutschen“ solange nicht beachtet wurde, wie sie künstlerisch schlecht gemacht war. Der von Joseph Goebbels in Auftrag gegebene Film DER EWIGE JUDE habe so dick mit „eindeutig verunglimpfenden Propagandaeffekten“ aufgetragen, dass er aufgrund ausbleibender Zuschauerzahlen bereits nach einer Woche abgesetzt wurde. Dagegen sei Veit Harlans Film JUD SÜß die „niederträchtigste, gemeinste und raffinierteste Form von ‚künstlerischem‘ Antisemitismus“
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und von so starker Wirkung gewesen, dass er alle und selbst einen loyalen Freund nicht am Wahrheitsgehalt der Filmaussagen zweifeln ließ (Giordano 2008: 160f.). Mit den heutigen digitalen Mitteln ist die Faktizitätsfiktion möglicherweise noch überzeugender herzustellen; die Strategie, mit künstlerischen Mitteln Wahrnehmung und Denken zu manipulieren, emotional aufzuwiegeln und Propaganda als solche zu verschleiern, bleibt jedoch die gleiche. Und diese Strategie gilt es, im Rahmen kultureller Bildungsangebote durchschaubar zu machen. So berücksichtigt beispielsweise die Akademie der Kulturellen Bildung das Thema in ihrem offenen Weiterbildungsprogramm auf mehreren Ebenen: Mit der Programmreihe „Kunst-Medien-Manipulation“ wird die Thematik dauerhaft auf der Agenda gehalten, wechselnde Fortbildungsangebote beleuchten sie in ihren jeweils aktuellen Ausprägungen und unterschiedlichen Aspekten. Derzeitiges Beispiel ist eine Fortbildung im Bereich der Extremismusprävention, die sich mit den Rekrutierungsstrategien gewaltbereiter Salafistinnen und Salafisten im Netz befasst, wobei aber über die aktuelle „Symptomebene“ hinaus die Konstruktion von Wirklichkeit mit visuellen und sprachlichen Mitteln im Fokus steht. Auf einer anderen Ebene verweist das „Symptom“ der Anfälligkeit für eindimensionale Weltbilder auch auf die Themen, Sinn- und Werteverluste/Kontingenz, die die Kulturelle Bildung ebenfalls dauerhaft beschäftigen sollten. Auch dafür gibt es verschiedenste Optionen, von denen eine die sein könnte, sowohl im Rahmen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung als auch im Bereich der Erwachsenenbildung Formate für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Demokratie und Menschenrechte zu finden und Möglichkeiten einer wertschätzenden Aneignung zu schaffen. Dies wiederum unterstützt auch die Arbeit an neuen, den gesellschaftlichen Realitäten entsprechenden Narrativen, die eine weitere wichtige Aufgabe im Rahmen der Kulturellen Bildung darstellen (vgl. Bukow 2002: 136; Fleige/Gieseke/Robak 2015: 171). Im offenen Weiterbildungsprogramm der Akademie der Kulturellen Bildung wird dies im Rahmen der neuen Programmreihe „Geschichtswerkstatt für Kosmopoliten“ versucht, die ebenfalls auf Langfristigkeit ausgelegt ist und im Rahmen von Vorträgen, Workshops oder Seminaren Beiträge zur Dekonstruktion eindimensionaler Weltbilder und zur (Re-)konstruktion der Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte und kosmopolitischer Orientierungen bieten soll.
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Grundsätzlich wünschenswert wäre es auch, im Kontext der Kulturellen Bildung über Möglichkeiten nachzudenken, der Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen nicht nur auf der Ebene der Symptombekämpfung etwas entgegenzusetzen. Anspruchsvoll wäre es, im Rahmen der Kulturellen Bildung Formate zu entwickeln, die die kulturellen Folgewirkungen des Primats der Ökonomie sichtbar, ihren Einfluss auf Denk- und Handlungsstrukturen fühlbar und damit bearbeitbar machen. Dazu würde es auch gehören, erfahrbar zu machen, dass viele gesellschaftliche Spannungen nicht der Diversifizierung der Gesellschaft durch Zuwanderung geschuldet, sondern auf soziale und ökonomische Ungleichheit zurückzuführen sind. Fleige und ihre Mitautorinnen (ebd.: 170f.) bemerken dazu: „Diese Prozesse müssen kritisch diskutiert werden mit der Frage, wie viel Selbstausbeutung eine demokratische Gesellschaft verträgt. […] Die Vorurteile gegenüber Langzeitarbeitslosen etwa belegen, dass selbst, wenn wir keine Einwanderungsgesellschaft wären, Schwächere verachtet und ausgegrenzt würden […].“
Die Liste wäre noch weiterzuführen, denn zurzeit scheinen die Aufgaben für eine politisch sensible Kulturelle Bildung endlos. Bei genauer Betrachtung zeigte sich jedoch im Verlauf dieser Untersuchung, dass viele der hier beschriebenen aktuellen Herausforderungen im Kern gar nicht neu sind. Sie sind nur durch neue technische Möglichkeiten komplexer und folgenschwerer. Dennoch ist es immer noch der Mensch, der programmiert und der Mensch, der Lösungen für die von ihm selbst verursachten Probleme finden muss. Daher gehört auf die Agenda der Kulturellen Bildung nach wie vor die Förderung von Kreativität und – weil Menschen sie immer brauchen – Solidarität.
L ITERATUR Bukow, Wolf-Dietrich (2002): Plädoyer für eine Neubestimmung von kulturellen Diskursen innerhalb der postmodernen Entwicklung. In: Neubert, Stefan/Roth, Hans-Joachim/Yildiz, Erol (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept. Opladen: Leske und Budrich, S. 121-144.
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Fleige, Marion/Gieseke, Wiltrud/Robak, Steffi (2015): Kulturelle Erwachsenenbildung. Strukturen – Partizipationsformen – Domänen. Bielefeld: W. Bertelsmann. Gaitanides, Stefan (1994): Rechtspopulismus und „Neorassismus“. In: Sozialmagazin, 12, S. 52-56. Gaitanides, Stefan (1999): Integration: Bringschuld der Einwanderer und/oder der Mehrheitsgesellschaft? In: Bildungsarbeit, 3, S. 1-10. Giordano, Ralph (2008): Erinnerungen eines Davongekommenen. Köln: Kiepenheuer und Witsch. Habermas, Jürgen (1985) Der Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (1997a): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (1997b): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heitmeyer, Wilhelm (1997c): Gesellschaftliche Integration, Anomie und ethnisch kulturelle Konflikte. In: Ders. (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 629-651. Heitmeyer, Wilhelm/Müller, Joachim/Schröder, Helmut (1997): Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Pagenstecher, Cord (2008): „Das Boot ist voll“. Schreckensvisionen des vereinten Deutschland. In: Paul, Gerhard (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band 2: 1949 bis heute. Göttingen: Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG, S. 606-613. Stiglitz, Joseph (2002): Die Schatten der Globalisierung. Berlin: Siedler.
Wertevermittlung durch Spiel Spielpädagogik als Mittel zur erfolgreichen Wertekompetenzentwicklung des Menschen G ERHARD K NECHT
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Nachspiel im Himmel „Wollen wir wieder Menschen spielen“, fragte Zeus die Götterrunde. „Lieber nicht“, erging die Antwort seines Bruders Hades. Denn als Herr über die Toten mochte er das Spielen nicht. Liebe, Lust und Leichtigkeit waren nicht so seine Sache, er stand auf den Ernst des Lebens; und er war damit zufrieden, dass die Menschen ernst und eifrig sich durch ihre Tage plagten. […] Hermes, der die Menschen mochte und Gefallen daran fand, dass sie rastlos darum ringen, Wohlstand und Profit zu schaffen, hielt dagegen und bemerkte, auch Gewinnstreben und Schlauheit seien schöne Qualitäten, die das Leben lustig machen. Aber letztlich gab er auch zu, dass die Sterblichen bei aller Schnelligkeit und Effizienz stets vergessen, was am Ende doch das Beste ist und bleibt: Leichtigkeit und Lebensfreude, Liebe und Lebendigkeit. Und so traf’s sich, dass die Götter wieder auf die Erde kamen, um das Menschenspiel zu spielen. Niemand konnte sie erkennen, gut getarnt und still und heimlich schlichen sie in Menschenhirne, lockerten darin Synapsen und erstarrte Denkstrukturen, und nach gar nicht langer Zeit war ein Wandel zu erkennen. Erst spielte ein zartes Lächeln auf dem Antlitz junger Menschen, später hörte man sie lachen, sah sie tanzen, sah sie spielen. Und das Leben kam zurück.
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Die Menschen aber staunten und bemerkten: Das Spiel beginnt.“ (Hüther/Quarch 2016: 210ff.)
Werte sind elementar für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, besonders auch für die Entwicklung jeder und jedes Einzelnen zum mündigen Menschen. Die Wertekompetenz verhilft dazu, situationsgerecht, sachbezogen und autonom Entscheidungen fällen zu können. Dabei verändern sich die gesellschaftlichen Werte im Laufe der Zeit und die daraus resultierenden Anforderungen an die Personen. Jedoch gibt es nahezu übergesellschaftliche „Grundwerte“, die das Zusammenleben in einem sozialen Gefüge vereinfachen, wie zum Beispiel Freundschaft, Verantwortung, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit … Wertevermittlung findet schon im frühesten Kindesalter statt. Kinder wachsen in einem sozialen Gefüge, im besten Fall in der Familie, auf. Hier werden bestimmte Werte alltäglich gelebt, und somit findet beim Kind informelles Lernen von bestimmten Werthaltungen ganz nebenbei statt. Und diese Werte sind beispielsweise geprägt von der gesellschaftlichen Schicht, der Religion und der Kultur der Familie, in der das Kind aufwächst. Doch Kinder wollen und müssen sich auch ihre eigenen Werte und Regeln bilden, um diese zu testen, zu verifizieren oder ggf. wieder über Bord zu werfen.
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FREIE
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DER
K LEINSTEN
Kleinste Kinder erproben und trainieren im Spiel zunächst ihre motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten: Gegenstände werden bewegt, ertastet, geworfen. Jean Piaget spricht in dieser Phase vom „Übungsspiel“. Das Kind nimmt sich und seine Umwelt spielerisch wahr, laut Piaget befindet es sich im Stadium der sensomotorischen Intelligenzentwicklung. Die nächste Phase, die der Entwicklungspsychologe in seiner Spieltheorie beschreibt, ist die des Symbolspiels. Mit dem Einsetzen des vorbegrifflichen anschaulichen Denkens, dem erfolgreichen Spracherwerb, setzt diese zweite Phase des Spielens ein. Kinder können hier ein Zeichen durch ein anderes ersetzen, so wird beispielsweise ein Schal zu einer Schlange. In der folgenden Phase der Regelspiele, die Kinder im Alter zwischen dem vierten bis siebten Lebensjahr erleben, werden neue Qualitäten im Spiel sichtbar. Piaget spricht von einer „kollektiven Symbolik“ im Rollenspiel: Dem Kind
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gelingt eine bessere Imitation der Wirklichkeit. Rollen werden ausdifferenziert wahrgenommen und nachgespielt, Kinder tragen Sorge „um Glaubwürdigkeit und um genaue Imitation der Wirklichkeit“ (Piaget 1969: 179). Diese Imitation der Wirklichkeit im Spiel hat narrativen Charakter und befasst sich mit Regeln und Werten dazu. Kinder verarbeiten ihre Wirklichkeit, ihre persönlichen Erlebnisse auf wiedererzählende und -erlebende Art und Weise im Spiel. Ihnen ist dabei bewusst, dass sie eine „Als-ob“Realität schaffen und sie die Rahmenbedingungen immer wieder selbst verändern können. Kinder erschaffen Spieleskripts; mit einigen knappen Sätzen, wie „Ich bin die Mutter und du das Kind!“, werden die Rollen geklärt. Die gespielten Verhaltensweisen und -muster sind ein Abbild der Realität oder aber auch fantasievolle Abwandlungen des persönlich Erlebten. Es sind die Regeln, die sie verabreden, wie etwas zu tun ist. Jürgen Fritz beschreibt diese Spieleskripts (2004: 75) wie folgt: „Das sind thematisch angelegte ‚Drehbücher‘, nach denen die Spieler ihre Interaktion ausrichten. Skripts bilden den Rahmen für einen gemeinsamen Spielprozess. Beliebte Skripts bei Kindern sind z.B. das ‚Einkaufen‘, der ‚Arztbesuch‘, das ‚gemeinsame Essen‘. Die Skripts erlauben längere Wechselgespräche und Interaktionssequenzen. […] Ihre Spielhandlung wird also durch die Spielidee bestimmt, die durch ihre konkrete inhaltliche Bestimmung für das Kind mehr Sinn macht, als das Befolgen abstrakter Regeln, die zu wenig stützende Hinweisreize enthält, wie man sich im Rahmen des Spielprozesses verhalten sollte. Von daher ist es sinnvoll, abstrakt wirkenden Regelspielen eine konkret inhaltliche Einkleidung zu geben, so dass jüngere Kinder sich mit ihren konkreten Lebenserfahrungen (und medialen Kenntnissen) im Spielprozess ‚wiederfinden‘ können.“
Hier wird deutlich, dass Kinder sich wertfrei in der Als-ob-Realität begegnen. Das Verabreden gemeinsamer Regeln geschieht meist im dialogischen Prozess. Das Erleben im Spiel hat dabei nur wenige Konsequenzen für die Realität. Hier können Regeln und Werte eingeübt werden, neue Regeln ausprobiert und getestet werden. Dabei werden unsinnige Regeln wieder verworfen, das Kind lernt die Logik einer sozialen Gruppe kennen und innerhalb dieser Verantwortung zu übernehmen.
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S PIELEN IN K INDERTAGESEINRICHTUNGEN In Begegnungen im freien Spiel loten Kinder sehr schnell die unterschiedlichen Regeln aus und definieren ihre eigenen Regeln für ein gemeinsames Spiel auf Augenhöhe. Durch den spielerischen und ganzheitlichen Ansatz können schon kleine Kinder die Struktur des Tagesablaufs in Kindergärten und Kindertagesstätten verstehen, zum Beispiel bieten anregende Spielgaben und rhythmisierte Gruppenaktionen mit Ritualcharakter Kindern in der sensiblen Phase der Eingewöhnungszeit Sicherheit. Das Außengelände mit anregend gestaltetem Spielplatz lädt zu sich selbsterklärenden Bewegungsaktionen ein. Die Kinder entdecken mit zunehmender Motorik und Sprache immer mehr, ihre Stärken und lernen so ihre Wünsche und Bedürfnisse zu zeigen und zu formulieren. Kinder lernen Werte implizit in ihrer Familie und ihrer Umgebung. Hier ist die Gruppe bezüglich der Werte recht homogen. Die Eltern haben im besten Fall ein gemeinsames Wertesystem entwickelt, ihre Werte miteinander abgeglichen, die sie in ihrer Familie leben und an die Kinder weitergeben. Findet sich dann das Kind außerhalb dieses familiären Schutzraums in neuen Gruppen ein, so kann es hier mit unterschiedlichen Werten konfrontiert werden. Zum einen wird der Institution Kindertageseinrichtung ein bestimmtes Wertesystem zugrunde liegen – oftmals im ihrem jeweiligen Leitbild beschrieben. Zum anderen kommen hier Kinder zusammen, häufig aus unterschiedlichen Kulturen. Sofern ihre Eltern aus einem anderen Land stammen als aus dem Land, in dem sie leben, können sich Werte unterscheiden. Kinder stehen dann zwischen den traditionellen Werten ihrer Familien und den Werten und Überzeugungen des Wohnlands. Hier geben anregende Spielgaben und rhythmisierte Gruppenaktionen mit Ritualcharakter den Kindern in der sensiblen Phase der Eingewöhnungszeit – egal aus welcher Kultur – Sicherheit. In Institutionen stehen die Werte und die Regeln für die Gruppe im Vordergrund. Kinder sind in dieser Entwicklungsphase sehr auf ihr eigenes Selbst fixiert, die eigenen Bedürfnisse und die – wenn möglich sofortige – Befriedigung derselben sind zentral. Bestimmte Spielformen, wie zum Beispiel das Fangen, existieren kultur- und nationsübergreifend. Durch gemeinsame Spielaktionen und -projekte, die jedem Kind die Möglichkeit geben, sich seinen Neigungen und Stärken entsprechend einzubringen, wird das Gruppengefühl für alle Kinder erlebbar.
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Spiel ermöglicht die Entwicklung eines Verständnisses für die anderen durch die aktive Spielhandlung. Spiel fördert im Tun selbst die Achtung anderer Kulturen, in dem man sich auf das Spiel einlässt. Spiel ist für die Mitspielenden eine intensive und innige Form menschlicher Kommunikation. Die Spielerinnen und Spieler lernen ihre Weggefährten in ihrer ganzen Bandbreite als Mensch kennen. So war es Friedrich Schiller (Hüther/ Quarch 2016: 57), der schrieb: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Durch Spiel kann Bindung entstehen, die über das Spiel hinaus anhält und weiterwirkt. Im Spiel können sich die Spielerinnen und Spieler ihre eigene Welt schaffen, ganz so, wie sie ihnen gefällt. Und die kann ganz anders sein als die, in der die Menschen aktuell leben. Ausgehend von diesen Leitgedanken zur Spielkultur bieten Spielmobile in Deutschland mit ihren Aktionen Begegnungsorte, die Menschen im Stadtteil einlädt mitzuspielen und Teil einer gemeinsamen temporären Spielgruppe zu werden. Anlass für die Begegnung sind gemeinsame Spiele oder Inhalte, die die Kinder interessieren und sie zum Mitspielen und Mitmachen bewegen. Beispiele dafür sind thematische Spielaktionen wie Spielstädte, Zirkus, Jahrmarkt oder Entdeckertouren durch den Stadtteil bis hin zu Kinderstadtteilplänen. Mobile Projekte laden zum gemeinsamen Spielen ein. Mit ihren Aktionen schaffen sie Verbindendes zwischen den Menschen. Spiel, verstanden als eigene kulturelle Praxis, als eine entwickelte Spielkultur, schafft Brücken zwischen den Menschen und ermöglicht Begegnung. Die Spiele, die man in seinem Land als Spielkultur von anderen Kindern oder von den Eltern oder anderen Erwachsenen kennengelernt und erfahren hat und die bei jedem Menschen im Verhaltensrepertoire enthalten sind, sind Ausdruck des eigenen kulturellen Erbes, sie sind Teil der Herkunft, Gegenwart und Zukunft des Menschen. Spielmobile erfüllen diese Anforderungen an Flexibilität, Mobilität und an spielkulturelle Kompetenz in hohem Maße. Sie fahren im unterschiedlichen Turnus in die Stadtteile, stehen im öffentlichen Raum und sind genau dort im Einsatz, wo sie gebraucht werden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Spielmobilen sind darin geschult und erprobt, sich schnell auf unterschiedliche Menschen und Situationen einzustellen, auf Kinder und Fami-
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lien aktiv zuzugehen und sie ins Geschehen zu integrieren, unabhängig von Kultur, Sprache und Bildungsstatus. Spielmobile in Flüchtlingsunterkünften Geflüchtete Kinder sind häufig traumatisiert. Sie verbringen viel Zeit in den Flüchtlingsunterkünften, meist auf sehr engem Raum mit wenig Privatsphäre; zudem fehlen ihnen soziale Kontakte nach außen und die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Aufgrund der ungewissen Verbleibdauer der Familien sind spiel- und kulturpädagogische Angebote in und an Flüchtlingssammelunterkünften meist nicht vorgesehen und somit in hohem Maße vom Ehrenamt engagierter Einzelner abhängig; eine vorgesehene Begleitung reduziert sich meist auf Sozialarbeitsaspekte, Krisenmanagement und auf die Unterstützung bei Ämtergängen. Hier setzt die mobile Arbeit in und an Flüchtlingsunterkünften an. Angebote stehen generationsübergreifend Kindern und Familien offen. Dahinter verbergen sich zwei Motive: Einerseits sind die Kinder ohne ihre Eltern kaum zu erreichen, da diese – geprägt durch Krisen und Katastrophen – ihre Kinder vor den Gefahren des Alltags schützen wollen. Andererseits bilden Kinder aufgrund ihrer Neugier, Anpassungsfähigkeit und schnellen Lernfähigkeit eine wichtige Brücke zwischen ihren Eltern und der Aufnahmekultur. Die stetige Fluktuation in den Flüchtlingsunterkünften, durch die sich immer wieder neue Konstellationen aus verschiedenen Nationalitäten, Herkunftskulturen, Sprachen, Altersstufen und Familienstatus ergeben, erfordert es, dass Angebote mit Blick auf Umfang, Ausrichtung und Inhalt flexibel konzipiert sind. Da geflüchtete Familien in den Sammelunterkünften häufig an wenig zentral gelegenen Orten untergebracht sind und in der Regel wenig mobil sind, sollten die Angebote selbst mobil sein und direkt vor Ort stattfinden. Mit zunehmendem Vertrauensaufbau vonseiten der Kinder und Familien kann das Angebot weiterhin im Stadtteil vernetzt werden. Das gemeinsame Spiel kann für Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen füreinander Verständnis schaffen. Aus der Erfahrung des Miteinander-Spielens können Verbindungen entstehen, die aus Unbekannten Bekannte macht, es können Beziehungen und Netzwerke entstehen, die weit über das eigentliche Spiel hinausgehen. Das Spiel bietet
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dazu die Freiräume, ob es so geschieht, hängt von den Spielerinnen und Spielern selbst ab.
S PIELEN IN
DER
(G ANZTAGS -)S CHULE
Die Schule ist ein Ort der Wissensvermittlung. Kinderund Jugendliche besuchen ihn wenigstens neun Jahre lang und mit dem Einzug der Ganztagsschule oft mehr als acht Stunden pro Tag. Der Unterricht ist in Deutschland nicht freiwillig, sondern durch Gesetze, Verordnungen und Erlasse rechtlich vorgeschrieben. Die Abläufe in der Schule sind im Vergleich zu denen im Kindergarten oder gar in Spielprozessen strenger geregelt und vorgegeben. Die Gruppenzusammensetzung ist nicht durch die Kinder oder Jugendlichen beeinflussbar oder frei gestaltbar. Die Rollen von Lehrkräften sowie von Schülerinnen und Schülern sind klar verteilt. Leistung, die sich auf die reine Lernleistung bezieht, steht oftmals im Vordergrund. Und diese wird nicht nur an dem Individuum und seinen persönlichen Erfolgen gemessen, sondern vergleichend und wertend innerhalb des Klassenverbands. Die Motivation zur Leistung erfolgt häufig extrinsisch durch die Vergabe von Noten. Die Kontrollen in Form von Tests, Klassenarbeiten und Abfragungen sind bei einigen Kindern sehr mit negativen Emotionen, etwa mit Versagensängsten, belastet. Nahezu jedes Jahr im Februar finden Nachhilfeinstitute oder ähnliche Einrichtungen regen Zulauf, damit die Kinder im „Ausleseprozess“ der Schule nicht verlieren. Diese Institutionen sind teuer, sie können wiederum nur mit einem bestimmten Zeitaufwand erreicht werden und setzen den Differenzierungs- und Ausleseprozess in der jungen Generation fort. Formen und Inhalte des Schulunterrichts, die Benotung und die Haltung der Lehrerinnen und Lehrer haben bekanntlich erhebliche nachhaltige Auswirkungen auf das Leistungsvermögen, die Motivation, die Fähigkeiten, Wertvorstellungen, Interessen und Meinungen der Schülerinnen und Schüler sowie auf ihre späteren beruflichen und sozialen Chancen. Da das Spiel im Alter der Sechs- bis Zehnjährigen eine elementare Handlung ist, da der Zugang der Kinder zu ihrer Umwelt, zu Materialien und auch zu ihren Sozialpartnern im Spielprozess eingeübt wird, sollte auch in der (Ganztags-)Schule Zeit dafür sein. Hierbei gilt es, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Entwicklung der Kinder und ihre altersgerechten Bedürfnisse Bescheid wissen.
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In mehreren Bundesländern wird der Nachmittagsbereich in der offenen Ganztagsschule durch Träger aus der Jugendhilfe gestaltet. Hierbei sollten die Arbeitsprinzipien der offenen Kinder- und Jugendarbeit auch in die Schule Einzug erhalten. Im SGB VIII ist der Auftrag wie folgt für Jugendarbeit definiert: „§ 11 SGB VIII Jugendarbeit (1)
Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.
(2)
Jugendarbeit wird angeboten von Verbänden, Gruppen und Initiativen der Jugend, von anderen Trägern der Jugendarbeit und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe. Sie umfasst für Mitglieder bestimmte Angebote, die offene Jugendarbeit und gemeinwesenorientierte Angebote.
(3)
Zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehören: 1. außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung, 2. Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit, 3. arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit, 4. internationale Jugendarbeit, 5. Kinder- und Jugenderholung, 6. Jugendberatung.
(4)
Angebote der Jugendarbeit können auch Personen, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, in angemessenem Umfang einbeziehen.“
Hier wird besonders in Punkt (3)1. deutlich, dass es viele Bildungsfelder im Auftrag der Jugendhilfe zu erfüllen gilt. Und gerade dort bieten ganzheitliche Spielaktionen und -projekte eine kindgerechte und angemessene Möglichkeit in der (Ganztags-)Schule. Spiel kann dabei mehr bewirken als nur Spaß, Unterhaltung und Freizeitgestaltung. Es kann ganzheitliche Bildungsprozesse ermöglichen, denn es bildet beispielsweise in der Motorik, in der Ausdrucksfähigkeit, in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, im sozialen Miteinander und lädt ein zum Erforschen und Entdecken. Ganzheitliches Lernen im Sinne der Selbstbestimmung ist ein elementarer Schritt zur Persönlichkeitsentwicklung. Werte werden dabei erlernt, indem dem Ge-
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genüber im Spiel Wertschätzung entgegengebracht wird und selbst hergestellte Dinge als wertvoll betrachtet werden. Benno Hafeneger (2016: 83) gibt zum Gelingen in der Kooperation an der Schule folgenden Tipp: „Die unterschiedlichen Lern- und Bildungsorte ‚Schule‘ und ‚Jugendarbeit‘ können voneinander lernen und ein produktives Verhältnis haben, wenn ihnen dreierlei gelingt: • erstens ein Verhältnis ohne Konkurrenz und ‚auf Augenhöhe‘ zu entwickeln, weil beide ihre jeweiligen Kontexte und Stärken haben und voneinander lernen können;
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zweitens im Stadtteil, in der Kommune gemeinsame Projekte durchzuführen und Erfahrungen zu machen und hier die jeweiligen Kompetenzen und Stärken einzubringen;
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drittens die junge Generation als ‚Schüler‘ (in der Schülerrolle) und ‚Jugendliche‘ (in ihrer Ganzheitlichkeit) zu sehen und sich einbringen zu können. Das kann zugleich ein Beitrag zur Fortbildung von Lehrkräften und Mitarbeitern in der Jugendarbeit sein.“
S PIELERISCHER A USDRUCK
IN DER
J UGENDKULTUR
Gelangen Kinder in die Phase der Pubertät, bedeutet das im heimischen Kontext oft neue Anstrengungen. Alte Regeln und Werte werden von den Jugendlichen infrage gestellt, Umgangsformen neu interpretiert. Das Zentrum bilden für die Jugendlichen ihre Peergroup, ihre Freizeitgestaltung und ihre Ansichten, die sich oftmals von denen der Erwachsenen deutlich unterscheiden müssen. Diese Phase ist für Jugendliche wichtig für ihren Ablösungsprozess, bringt aber oft die erwachsene Begleitung (Eltern, Lehrkräfte, Pädagoginnen und Pädagogen) an ihre Grenzen. Regeln, Normen und Werte, die bislang gelebt wurden, werden hinterfragt. Die Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2015 lässt jedoch aufatmen, wenn es um das Betrachten der Wertvorstellungen im Jugendalter geht, denn in der Zusammenfassung wird Folgendes mitgeteilt: „Die Befunde der neuen 17. Shell Jugendstudie weisen aber auch auf erste Veränderungen bei der aktuellen Jugendgeneration hin. Neu ist das wieder angestiegene
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politische Interesse. Weltweite Vorgänge werden von vielen aufgeschlossener zur Kenntnis genommen. Doch anders als in den 1970er und im Übergang zu den 1980er Jahren vollzieht sich diese Öffnung vor dem Hintergrund einer grundsätzlich positiven Beurteilung der Lage und der Zukunft der Gesellschaft. Es scheint für Jugendliche wieder etwas perspektivreicher zu werden, bei gesellschaftlichen Gestaltungsfragen auf dem Laufenden zu sein und gegebenenfalls auch an Gestaltungsprozessen mitzuwirken. Zugleich hat sich die Sicht Jugendlicher auf die Gesellschaft und die eigene Lebensführung vertieft. Respekt (gegenüber Kultur und eigener Tradition), Anerkennung (der Vielfalt der Menschen) und Bewusstheit (für Umwelt und Gesundheit) sind dabei wichtig. Jugendliche wünschen sich die Vereinbarkeit von Arbeit, Freizeit und Familie. Dabei geht es vor allem um planbare und verlässliche Gestaltungsmöglichkeiten und weniger um ‚entgrenzte Welten‘. Der Beruf soll sicher sein und ein auskömmliches Leben ermöglichen, aber auch als eine selbstbestimmte, sinnvolle und gesellschaftlich nützliche Tätigkeit erlebbar sein. Mehr als zuvor kann die Jugend von 2015 als eine ‚Generation im Aufbruch‘ bezeichnet werden.“ (Deutsche Shell 2015: S. 2f.)
Die Werte, die Jugendliche dort für sich benennen sind in vielen Punkten offen. 82 Prozent der Jugendlichen finden den erstmals erfragten Wert „Die Vielfalt der Menschen anerkennen und respektieren“ wichtig und 60 Prozent sogar ganz besonders wichtig (ebd.). Hier zeigt sich klar, dass Werte des sozialen Miteinanders, Offenheit für Diversität und Respekt bei den Jugendlichen nach wie vor im Mittelpunkt stehen. Doch auf oftmals spielerische Art verleihen Trends und Entwicklungen der digitalen Medien Jugendlichen ungeahnte Kommunikations-, Informations-, Vernetzungs-, Ausdrucks- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten. „Zentrale Funktion digitaler Medien ist für Jugendliche die Pflege und Aufrechterhaltung von Freundschaften. Entgegen weitläufiger Meinungen, dass Medien zu einer Verarmung der sozialen Beziehungen führen, haben Jugendliche selbst eher das Gefühl, ohne Medien sozial zu verarmen. Dass Jugendliche ganze Nächte allein im Zimmer mit Ego-Shootern verbringen, ist offenbar nur eine Facette intensiver Mediennutzung bzw. ein Klischee. Für den Großteil der Jugendlichen geht es vorrangig um sozialen Austausch, d.h. Informationsabgleich, Posten von Links, Musik und Verabredungen, die dann wiederum offline stattfinden. Im Unterschied zur SINUS-Jugendstudie 2012 zeigen sich hierbei kaum mehr Unterschiede zwischen den Lebenswelten. Jugendliche, die im Internet nur zuschauen, was die anderen
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machen, aber sich selbst nicht einbringen, findet man auch in den prekären Lebenswelten kaum noch.“ (Calmbach et al. 2016: 176)
Das Gaming (Computer- und Videospiele) ist als eine zentrale Form mit zu nennen, das für Jugendliche neben dem reinen Spielen (erfolgreiches Absolvieren einer Mission) einen hohen sozialen Faktor mit sich bringt, da sich durch das Internet zum gemeinsamen Spiel über jegliche räumliche Entfernung hinweg verabredet werden kann. Und viele weitere Ausdrucksformen in der Jugendkultur haben ihre Basis im Spiel, sei es, dass sie sich als Musikerin oder Sportler sehen, Maker oder Cosplayerin sind. Jugendliche sind nach wie vor wertvoll aktiv und möchten darüber berichten; die digitale Welt hilft ihnen dabei.
S PIEL
MIT ALLEN
A LTERSGRUPPEN
Die New Games Bewegung in Amerika und die Entwicklung der kooperativen Spiele in Deutschland hatten beide einen gesellschaftlichen Anlass und eine politische Vision. Sie sahen das Spiel als ein politisch zu nutzendes Mittel, um bis dahin bestehende hierarchische gesellschaftliche Strukturen infrage zu stellen. Anstelle von Konkurrenz herrscht der Wert der Kooperation, anstelle von Krieg die Liebe und anstelle von Macht und Unterdrückung steht die Freiheit. Das Spiel war ihre Methode, um diese alternativen Werte zu vermitteln. Spielen war damals Teil einer politischen Bewegung und wurde als politisches Mittel der Veränderung gesehen. Spielen bezog sich nicht nur auf die Kinder, sondern auf alle Altersgruppen. Von 1973 bis 1976 zogen eine Reihe von groß angelegten New-GamesTurnieren (Spielfeste) in der Bay Area um San Francisco Tausende von Menschen an. Die Leute kamen, um an einer Vielzahl von flexiblen Spielaktivitäten teilzunehmen, um Gemeinschaft zu feiern und um den New- Games-Grundsatz „Spiel intensiv, spiel fair, tu niemandem weh!“ zu leben. Am Ende eines jeden Festivals mussten die Spielerinnen und Spieler den Spielplatz sauberer verlassen, als sie ihn vorgefunden haben. Die Idee dahinter: Die Menschen sollen mit ihrer Umwelt schonend umgehen. Im Jahr 1974 wurde die New Games Foundation gegründet, aus einer Bewegung wurde eine Organisation. Die Akteurinnen und Akteure arbeiteten am Beginn ehrenamtlich aus einem politischen Engagement heraus. Von 1976
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bis 1981 breiteten sich New Games Feste in den ganzen Vereinigten Staaten und in Kanada, Australien und Europa aus. Die ehrenamtliche Struktur wurde ergänzt durch professionelle Trainerinnen und Lehrer. Sie vermittelten die New-Games-Philosophie, hier vor allem Kooperation anstelle von Konkurrenz, und die dazu ausgedachten Spiele in die pädagogischen Arbeitsfelder. Zentral zur Verbreitung der Idee der New Games waren die Weiterbildungen und die Publikationen „New Games 1“ und „New Games 2“. Beide New-Games-Bücher verkauften sich in einer Auflage von mehr als einer Million Exemplaren auf der ganzen Welt. Bedingt durch die Studentenrevolte und die in der Pädagogik entwickelte Diskussion um Führungsstile, hat sich vor allem im spielpädagogischen Bereich viel getan. Anstelle von autoritären Führungs- und Leitungsstilen wurde der demokratische Leitungsstil in der Gruppenarbeit eingeführt. In dem Feld der Kinder- und Jugendarbeit entwickelten sich Spielmobile und Abenteuerspielplätze als neue pädagogische Ansätze. In der Gruppenarbeit wurden die kooperativen Brett- und Abenteuerspiele entwickelt. Hier wurden unter anderem an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW kooperative Spiele entwickelt, die vor allem dem Wettbewerb der Spielerinnen und Spieler untereinander Einhalt gebieten sollten. Die Zielsetzung auf Wettbewerb, Durchsetzung und Gewinnen sollten zugunsten des hohen Werts der Kooperation, des Miteinanders sowie der Wertschätzung jeder und jedes Einzelnen verändert werden. In München wurden 1972 die ersten mobilen Spielaktionen entwickelt, die ebenfalls das kreative Miteinander in den Mittelpunkt stellten. Durch die mobile Arbeit direkt in der Stadt vor Ort auf öffentlichen Flächen wurde der öffentliche Raum, seine Spielausstattung und deren Veränderung in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt. So wurden in Aktionen gemeinsam mit Kindern Spielplätze umgestaltet, „Spielstädte“ als Simulationen für das Leben einer Stadtgesellschaft entwickelt und Kinderstadtteilpläne aus der Sicht der Kinder veröffentlicht. Diese Aktionen sollten über das reine Spiel hinausgehen und mit ihrer spielerischen Herangehensweise gesellschaftliche Strukturen sichtbar machen, auf sie einzuwirken. Im Spiel entwickelte Utopien wurden teilweise Wirklichkeit. So wurde in München nach Plänen der Kinder bereits in den siebziger Jahren die Rote Stadt gebaut. Kinder beteiligten sich nicht nur an der Planung, sondern legten beim Bauen Hand an. Auf dem (bis heute) jährlich stattfindenden „Spielmarkt“ der Akademie der Kulturellen Bildung treffen sich Spieleerfinderinnen, Spieleentwickler,
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Spielautorinnen sowie Spielinitiativen, mit dem Ziel, eine eigene kooperative und wertschätzende Spielkultur zu etablieren, jenseits vom Mainstream großer kommerzieller Anbieter. Ausstellerinnen und Workshopleiter auf dem Spielmarkt stellen vor, wie man mit einfachen Materialien kooperativ zusammenarbeiten kann. Der „Spielmarkt“ hat jedes Jahr einen Schwerpunkt, in dem aktuelle Themen behandelt werden, im Jahr 2017 war es der „Wert des Spiels“. Beispiele •
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In Workshops wird das Planspiel vorgestellt. Im Mittelpunkt des Planspiels stehen immer Interessen, zum Beispiel ein Chemiewerk möchte sich in einer Weingegend niederlassen. Die Weinbauern sind dagegen, weil sie Angst um die Vermarktung ihres Weines haben. Die Vertreterinnen und Vertreter der Chemiefabrik versprechen sich niedrig entlohnte Arbeitskräfte, weil hier viele Menschen leben, die nicht alle in der Weinproduktion arbeiten können. Der Bürgermeister erhofft sich eine höhere Gewerbesteuer und kann damit einen neuen Sportplatz für seine Gemeinde bauen. So lernen die Mitspielerinnen und Mitspieler, in verschiedenen Rollen zu agieren, miteinander in Verhandlung zu treten und damit eine Lösung finden, die für die Gegend und die dort lebenden Menschen optimal ist. Die auf dem Spielmarkt erstmals vorgestellten Parkettstäbchen als preiswertes Spiel- und Baumaterial eigenen sich für so zahlreiche Spiele und Spielvarianten, dass darüber eine eigene Veröffentlichung unter dem Titel „Was klotzt Du?“ entstanden ist. Aus Luftschlangen oder aus CDs werden Kreisel gebaut, dazu werden Spielregeln gemeinsam erfunden und vorgestellt. In Gruppenspielen wird der Wert der Kooperation erfahren und leibhaftig erlebt, wie gut Zusammenarbeit in der Gruppe hilft, ein großes Ziel zu erreichen.
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F AZIT Hat die Friedensbewegung dazu geführt, dass es keine Kriege gibt? Hat die grüne Umweltbewegung dazu geführt, dass es keine Umweltverschmutzung mehr gibt? Hat die Studentenbewegung dazu geführt, dass es universelle Liebe und reine Spielfreude gibt? Haben die Spielstädte zu einer Veränderung des politischen Lebens in einer Stadt geführt? Hat die Durchdringung der Industrieinteressen gegen Bürgerinteressen durch das Planspiel dazu geführt, dass unsere Gesellschaft kooperativer, fairer, gerechter wurde oder ist alles beim Alten geblieben? In einer globalisierten Welt, in der der weltweite Konkurrenzkampf im Mittelpunkt steht, um wirtschaftlich den meisten Reichtum in einem Land zu erzielen, ist es wichtig, dem Spiel einen festen Platz im Leben einzuräumen. Spiel kann dazu dienen, sich eine andere Welt vorzustellen als die, die nur von Marktinteressen gekennzeichnet ist. Und im Spiel können die Menschen erleben, wie es anders sein könnte. Spiel bietet einen Möglichkeitssinn und wenn daraus politisches Handeln erfolgt, wird dadurch die Selbstwirksamkeit durch die Gruppe der handelnden Personen erlebt. So wird es weiterhin einen Bedarf an Lobbyarbeit für Spielbelange geben. Veränderung geschieht langsamer, als es sein müsste, und die Kräfte des großen Gelds, der Medienkonzerne, des Materialismus und Verdrängungswettbewerbs sind stärker als jede Spielbewegung. Trotzdem gibt es positive Auswirkungen der Spieleentwicklung der vergangenen 30 bis 40 Jahre in Deutschland. Dazu gehören: •
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die kooperativen Spiel-Einflüsse in den Lehrplänen für Sportunterricht in der Grundschule und in den weiterführenden Schulen mit ihren Schwerpunkten Freizeitsport und Bewegungskultur anstelle von Leistungssport; die Methoden in den Handbüchern der Jugendverbände; die Gründung des Deutschen Spielemuseums in Chemnitz; die vielen europäischen oder internationalen Gruppen, wie die Pädagogische Aktion Spielkultur e.V. oder die Spiellandschaft Stadt e. V, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Spielmobile e.V., die Akademie der Kulturellen Bildung, die in bedeutendem Maße Spielaktionen und Fortbildungen durchführen und als Interessenvertretungen fungieren;
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die anhaltend starke Interessenvertretung für am Kind ausgerichtetes Spiel, wie sie das Deutsche Kinderhilfswerk mit dem Netzwerk Recht auf Spiel auf bundesdeutscher Ebene oder die IPA (International Play Association) auf internationaler Ebene durchführen.
Im Zusammenhang damit wird es weiterhin einen Bedarf für neue Organisationen, Bewegungen, Ausrüstungen und Materialien für das Spiel in der realen und der digitalen Welt geben. Wenn eine Balance zwischen Hightech und dem Zwischenmenschlichen entstehen soll, sollen sich Spielpädagoginnen und -pädagogen nicht davor scheuen, Prinzipien der New Games in das gegenwärtige und zukünftige digitale Zeitalter zu integrieren: Es ist ein hoher Wert, diesen Geist der Zusammenarbeit, des Friedens und des kreativen Spiels am Leben zu erhalten.
L ITERATUR Calmbach, Marc/Borgstedt, Silke/Borchard, Inga/Thomas, Peter Martin/Flaig, Berthold Bodo (2016): Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten und Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Berlin: Springer [www.wie-ticken-jugendliche.de/home.html, zuletzt aufgerufen am: 01.12.2016]. Deutsche Shell (2015): 17. Shell Jugendstudie. Jugend 2015. Hamburg: Fischer Taschenbuch [www.shell.de/ueber-uns/die-shell-jugendstudie/ multimediale-inhalte/_jcr_content/par/expandablelist_64344525expan dablesection.stream/1456210165334/d0f5d09f09c6142df03cc804f0fb 389c2d39e167115aa86c57276d240cca4f5f / flyer-zur-shell-jugendstudie2015-auf-deutsch.pdf, zuletzt aufgerufen am: 01.12.2016]. Fritz, Jürgen (2014): Das Spiel verstehen. Weinheim: Juventa. Fluegelmann, Andrew/Tembeck Shoshana (1991): Die neuen Spiele. Bd. 1 und 2. Mühlheim a.d.R.: Verlag an der Ruhr. Hafeneger, Benno (2016): Von Fairness im Sportverein bis Zuverlässigkeit im Zirkusprojekt. In: Schüler – Wissen für Lehrer. Seelze: Friedrich, S. 82-83. Hüther, Gerald/Quarch, Christoph (2016): Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist. München: Hanser.
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Knecht, Gerhard/Lusch, Bernhard (Hg.) (2008): Was klotzt Du? Spiele und Projekte mit Holzklötzchen. Freiburg: Spielmobile e.V. Piaget, Jean (1969): Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart: Klett.
Autorinnen und Autoren
Brink, Henning van den, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Ostfalia, Fakultät Handel und Soziale Arbeit, Campus Suderburg. Er studierte Soziologie/Sozialwissenschaften an den Universitäten Bielefeld und Duisburg-Essen. Chyle, Fabian, Dr., ist Choreograf, Theatermacher (BA), Tanz- und Bewegungstherapeut (MA) und Dozent für Performative Künste und künstlerische Therapieformen. Er leitet den Fachbereich Tanz an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Collard, Paul, ist Geschäftsführer von Creativity, Culture and Education (CCE) in Newcastle, einer Stiftung für kreatives Lernen für Kinder und Jugendliche inner- und außerhalb formeller Bildung, die im Rahmen des „Creative Partnerships“-Programms in England gegründet wurde. Durch die internationale Aufmerksamkeit für „Creative Partnerships“ unterstützt CCE die Bereitstellung entsprechender Programme unter anderem in Norwegen, Litauen, Deutschland, der Tschechischen Republik, Ungarn, Pakistan und Chile und arbeitet aktuell mit ca. 2500 Schulen, 750 000 Jugendlichen und 60 000 Lehrkräften zusammen. Czerwonka, Sandra, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, wo sie die Akademie als National Observatory im European Network of Observatories in the Field of Arts and Cultural Education (ENO) betreut. Sie studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und absolviert ein Zweitstudium der Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft. Sie arbeitet als freie Kulturmanagerin und hatte Lehraufträge mit
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den Schwerpunkten Kulturpolitik, Kulturökonomie und Kulturelle Bildung an den Universitäten Bochum, Hildesheim sowie der Fachhochschule Dortmund inne. Fuchs, Max, Prof. Dr., war bis Ende 2013 Direktor der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW und Präsident des Deutschen Kulturrats (2001 bis 2013). Er ist Ehrenvorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) und des Instituts für Bildung und Kultur (ibk). Er lehrt Allgemeine Pädagogik und Kulturpädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Helbig, Christian, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln. Dort ist er zuständig für die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Projekts „Kulturelle Bildung und Medienkompetenz – Kulturelle Medienbildung“ (KuBiMedia) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Kelb, Viola, Diplom-Pädagogin und Diplom-Sozialpädagogin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsstelle Ethik/Prodekanat für Akademische Entwicklung und Gender der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. Bis 2016 war sie Studienleiterin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW und bis 2013 Bildungsreferentin bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Sie arbeitet außerdem als freie Moderatorin, Autorin und Beraterin zu den Themen Kulturelle Bildung, Bildungskooperationen und Diversity. Keuchel, Susanne, Prof. Dr., war geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf), studierte Musikwissenschaft (HF), Germanistik und Soziologie an der Universität Bonn und promovierte an der Technischen Universität Berlin. Sie ist Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Dozentin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Klarner, Günter, ist freiberuflich arbeitender Pädagoge aus Bonn. Er beschäftigt sich mit der Umweltbildung zwischen Kunst, Philosophie und
A UTORINNEN
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Medien. Er ist Mitglied des Bundesvorstands der Arbeitsgemeinschaft Naturund Umweltbildung Bundesverband e.V. in Deutschland und im Vorstand des Trägervereins der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Knecht, Gerhard, Diplom-Pädagoge, ist Dozent für Spielpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und Landes NRW. Er betreut spiel- und kulturpädagogische Projekte bei der Spiellandschaft Stadt e.V. und ist Vorstandsvorsitzender von Spielmobile e. V. Er ist Autor und Herausgeber von Fachzeitschriften und Fachbüchern. Krönig, Franz Kasper, Prof. Dr., ist Professor für Elementardidaktik und Kulturelle Bildung an der Technischen Hochschule Köln. Er ist zudem Moderator der JeKits-Akademie, langjähriger Dozent für Kinder- und Jugendlichenbands an der Offenen Jazz Haus Schule Köln sowie Weiterbildungsdozent. Als Projektleiter hat er zahlreiche Projekte der Kulturellen Bildung an allen Schulformen und in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit konzipiert und geleitet. Als Singer/Songwriter hat er unter dem Namen Franz Kasper sechs Alben veröffentlicht (Day-Glo/Rough Trade). Möllers, Nina, Dr., ist promovierte Historikerin und arbeitet am Deutschen Museum und am Rachel Carson Center for Environment and Society in München. Zuletzt verantwortete sie dort als Kuratorin und Projektleiterin die Sonderausstellung „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Themen an der Schnittstelle von Mensch, Technik und Umwelt sowie Konsumgeschichte und Museum Studies. Pohlmann, Horst, ist Leiter des Fachbereichs Medien an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Er studierte Sozialpädagogik an der Fachhochschule Köln und absolvierte einen MasterAbschluss zum MedienSpielPädagogen an der Donau-Universität Krems. Er arbeitete bis 2007 bei der Fachstelle für Medienpädagogik und Jugendmedienschutz des Amts für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Köln und hatte zwischen 2007 und 2015 die Ko-Leitung von Spielraum – Institut zur Förderung von Medienkompetenz an der Technischen Hochschule Köln inne.
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Schad, Karin, M.A., Kunsthistorikerin, Volkskundlerin, Soziologin, Erwachsenenpädagogin, ist Leiterin der Kulturvermittlung des Münchner Stadtmuseums sowie Vertreterin des Bundesverbands Museumspädagogik in der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Sie ist Mitherausgeberin des „Handbuchs Museumspädagogik – Kulturelle Bildung in Museen“. Smith, Dolores, studierte Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Anglistik, Romanistik, Journalistisches und Kreatives Schreiben in Münster, England und den USA, mit den Schwerpunkten Kreativitäts- und Innovationsforschung, Diversity/Interkulturelle Kommunikation und Wissenschaftstheorie. Sie absolvierte außerdem eine Zusatzausbildung im Bereich Filmproduktion. Smith begleitete mehrere bundesweite Forschungsprojekte und leitet bei der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW den Programmbereich AkademieRegio. Tillmann, Angela, Prof. Dr., ist Professorin für Kultur- und Medienpädagogik am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln. Dort leitet sie den Forschungsschwerpunkt „Medienwelten“ und das Institut Spielraum. Sie ist unter anderem Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), Mitglied des Kuratoriums des Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrums (KJF) und Mitglied der Kommission des 15. Kinder- und Jugendberichts. Waschk, Marietheres, ist Diplom-Sozialpädagogin und Spielpädagogin. Sie führt spiel- und kulturpädagogische Projekte am Bauspielplatz Friedenspark Köln durch und widmet sich der Abenteuerpädagogik. Sie ist außerdem Dozentin für Spielpädagogik an der Akademie für Kulturelle Bildung des Bundes und des Landes NRW.
Kulturmanagement Patrick S. Föhl, Patrick Glogner-Pilz
Kulturmanagement als Wissenschaft Grundlagen — Entwicklungen — Perspektiven. Einführung für Studium und Praxis März 2017, 174 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-1164-9 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-1164-3
Birgit Mandel (Hg.)
Teilhabeorientierte Kulturvermittlung Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens 2016, 288 S., kart. 27,99 E (DE), 978-3-8376-3561-4 E-Book PDF: 24,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3561-8
Oliver Scheytt, Simone Raskob, Gabriele Willems (Hg.)
Die Kulturimmobilie Planen — Bauen — Betreiben. Beispiele und Erfolgskonzepte 2016, 384 S., kart., zahlr. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-2981-1 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2981-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturmanagement Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.)
Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld 2016, 440 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3453-2 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3453-6
Björn Lampe, Kathleen Ziemann, Angela Ullrich (Hg.)
Praxishandbuch Online-Fundraising Wie man im Internet und mit Social Media erfolgreich Spenden sammelt 2015, 188 S., kart., farb. Abb. 9,99 E (DE), 978-3-8376-3310-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3310-2 EPUB: ISBN 978-3-7328-3310-8
Steffen Höhne, Martin Tröndle (Hg.)
Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Jg. 2, Heft 2 2016, 190 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3568-3 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3568-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de