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German Pages 352 Year 2015
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule
T h e a t e r | Band 9
2009-06-15 12-31-54 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed212962508862|(S.
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Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung
2009-06-15 12-31-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed212962508862|(S.
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Gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Schwarz wie Tinte« (Theaterhaus Frankfurt am Main), © Katrin Schander, 2007 Redaktion: Eckhard Mittelstädt und Ilona Sauer Redaktionelle Mitarbeit: Meike Fechner Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1072-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Wolfgang Schneider Theater und Schule. Ein (Vor-)Wort zur kulturellen Bildung 9
1. Theater, Schule und Politik Ilona Sauer Theater und Schule. Eine Studie! Ein Modell? 15
Wolfgang Schneider Theater und Schule ... ist kulturelle Bildung. Postulate und Programme 39
2. Theater, Schule und Kunst Eckart Liebau Theatrale Bildung. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven der darstellenden Künste 53
Helle Becker Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule. Experimente, Erfolge und Perspektiven 65
Geesche Wartemann Wechselspiele der Zuschaukunst und Quelle künstlerischer Innovation. Was das Theater von der Schule erwartet 77
Marion Küster Patenschaft und Partnerschaft. Was die Schule von dem Theater erwartet 87
Ingrid Hentschel Ereignis und Erfahrung. Theaterpädagogik zwischen Vermittlung und künstlerischer Arbeit 105
Mira Sack Tut träumen weh? Zeitgenössische Theaterformate für Kinder und mit Kindern 129
Joachim Reiss TUSCH als System. Eine Basis kultureller Bildung 143
Wolfgang Sting Performance als Perspektive. Schultheater und Theaterpädagogik 149
3. Theater, Schule und Pädagogik Anne Richter »Der Mensch […] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Schulen mit Theaterprofi l 159
Franz-Josef Payrhuber Das Drama in der Schule. Anmerkungen zur schulischen Beschäftigung mit Kinder- und Jugendtheaterstücken 173
Henning Fangauf Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen im Deutschunterricht 185
Ole Hruschka Shakespeare probieren. Dramaturgie und Didaktik im Theater mit Jugendlichen 195
Henning Bleyl Das Moks. Metamorphosen und Häutungen eines »Modellversuchs« mit Künstlern und Schülern 205
Manfred Jahnke Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer 219
Thomas Lang Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater 231
4. Theater, Schule und Modelle Stefan Fischer-Fels Theaterkunst für jedes Kind? Theater und Schule in Nordrhein-Westfalen 245
Stephan Hoffmann Theater als künstlerisches Profi l? Theater und Schule in Sachsen 251
Eckhard Mittelstädt Theater und Schule in Niedersachsen. Eine Bestandsaufnahme 257
Paul Harman Mythos und Realität. Theatre in Education in Großbritannien 263
Jan-Willem van Kruyssen und Jerker Spits Gutscheine für Kultur. Theater und Schule in den Niederlanden 275
5. Theater, Schule und Perspektiven Ilona Sauer »Theater entsteht mit den Schauspielern, mit Musik, Sprache, Bühnenbild, Licht, Kostümen – und mit Euch.« Theaterpädagogik an Kinder- und Jugendtheatern 285
Susanne Heinke Kreative Prozesse eines Wechselspiels. Figurentheater in der Grundschule 307
Kristin Wardetzky Bilder der Brisanz. Erzählen als theatraler Akt in der Schule 317
Dorothea Hilliger Theater kann man studieren! Zur grundständigen Lehrerausbildung für das Schulfach Theater 331
Autoren 343
Über die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland e.V 347
Theater und Schule. Ein (Vor-)Wor t zur kulturellen Bildung Über die Zusammenarbeit von Theater und Schule ist nicht nur in Hessen schon viel geredet worden. Nun sollen endlich Taten folgen. Mit einer Bestandsaufnahme von Kassel bis Darmstadt und von Fulda bis Wiesbaden wurden umfangreiche Daten über ein wichtiges Feld der Bildung erhoben. Gefragt wurde dort sowohl nach der Wahrnehmung der Angebote der professionellen Theater als auch nach der Entwicklung des Darstellenden Spiels und der Zusammenarbeit von Theater und Schule im Bereich der Theaterpädagogik. Die Erhebung wurde an allen hessischen Schulen durchgeführt. Es liegen Daten aus allen Schulbezirken und von allen Schulformen vor. 1.060 haben geantwortet, das sind 52 Prozent aller befragten Schulen. Fast die Hälfte der Schulen und – durchaus nachvollziehbar – alle Theater wünschen sich eine engere Kooperation von Schule und Theater. Der Zusammenhang von Bildungsgrad und Kulturinteresse manifestiert sich allerdings auch in der Studie. Haupt- und Realschulen gehen mit ihren Schülern eher selten ins Theater und geben dem Theaterbesuch im Vergleich zu anderen kulturellen Aktivitäten einen niedrigen Stellenwert. Wichtigstes Ergebnis insgesamt: Theater geht auf Schule zu, Schule öffnet sich dem Theater und Wechselspiele sowie Partnerschaften haben eine Chance. Planung und Auswertung der Studie fanden in einer Arbeitsgruppe auf Einladung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Hessischen Kultusministeriums gemeinsam mit Vertretern des Darstellenden Spiels in der Schule und der professionellen Theater statt. Die vorliegende Bestandsaufnahme ist deutschlandweit die erste, die in diesem Bereich auf so breiter Basis durchgeführt wurde. Dies bietet in Hessen die Chance, die Zusammenarbeit von Theater und Schule zielgenau und modellhaft zu entwickeln. Davon können auch andere Bundesländer profitieren. Als Basis dieser Initiative dient auch der Bericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. Handlungs9
Wolfgang Schneider
empfehlungen zur »Schulischen kulturellen Bildung« verstehen sich als konkrete Arbeitsaufträge: »1. Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, die Fächer der kulturellen Bildung wie Kunst, Musik, Tanz und Darstellendes Spiel zu stärken und qualitativ auszuweiten. Dafür ist zunächst sicherzustellen, dass der vorgesehene Unterricht durch qualifizierte Lehrkräfte tatsächlich erteilt wird. […] 6. Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern und Kommunen, die Voraussetzungen für Kooperationen mit Kinder- und Jugendtheatern im Rahmen von Schulaufführungen und Schultheatertagen zu verbessern sowie Kinder- und Jugendtheaterfestivals zur Begegnung mit Künstlern und Kulturen zu stärken. […] 13. Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern und Kommunen, den Aufbau von Netzwerken der Kooperation von Schulen und Kultureinrichtungen zu fördern und allen Kindern während der Schulzeit die Begegnung mit Künstlern zu ermöglichen.« (Deutscher Bundestag 2007: 598)
Ein Ziel der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen Theatern und Schulen sollte es sein, die Rahmenbedingungen zu verbessern, die ›Systeme‹ Theater und Schule auf ihre Kompatibilität zu überprüfen und die vor allem in den Ballungsräumen vorhandenen Potenziale an professionellen Theaterangeboten weiterzuentwickeln und auch für den ländlichen Raum zu erschließen. Im föderalen Staat bieten sich Projekte an, die kurzfristig Modelle ermöglichen, mittelfristig wären interministerielle Maßnahmen zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur sinnvoll und langfristig bedarf es konzeptionell und finanziell gut ausgestatteter Landesprogramme, die kulturelle Bildung als Lernbereich implementieren. Die Ergebnisse der Studie wurden im Rahmen eines Symposiums diskutiert. Es galt für die Länder bildungs- und kulturpolitische Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Hierzu wurden Wissenschaftler, Theatermacher und Pädagogen eingeladen, um gemeinsam über die Weiterentwicklung dieses wichtigen Feldes der kulturellen Bildung nachzudenken. Ihre Beiträge befassen sich ebenso mit der Theaterkunst wie mit der Theaterpädagogik. Es geht unter anderem darum, zu klären, was die Schule vom Theater und das Theater von der Schule erwartet. Es geht aber auch um die Reflektion der kulturellen Praxis im Klassenzimmer, der Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater sowie der Dramaturgie und Didaktik im Theater mit Kindern und Jugendlichen. Und es geht um den Blick über den Tellerrand, Einblicke in die Erfahrungen aus anderen Ländern und mit anderen Konzepten. Politisch sollten Rahmenvereinbarungen auf Landesebene vorbereitet 10
Theater und Schule. Ein (Vor-)Wor t zur kulturellen Bildung
werden, welche die Zusammenarbeit von Schulen und Theatern langfristig absichern. Darüber muss in der Bildungs-, Jugend- und Kulturpolitik diskutiert werden. Die Publikation ist mehr als eine Bestandsaufnahme, sie will Handbuch sein für bildungs- und kulturpolitisches Handeln, sie versteht sich als Einladung an alle, die sich aktiv am Diskurs beteiligen und die Zusammenarbeit von Theater und Schule gemeinsam weiterentwickeln wollen. Wolfgang Schneider PS.: Vielen Beteiligten gilt es zu danken; den Förderern, insbesondere Albert Zetzsche vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst; den Referenten und Autoren, sowie den Aktiven der ASSITEJ, der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche, insbesondere Ilona Sauer, die sich als Projektleiterin große Verdienste erworben hat.
Literatur Deutscher Bundestag (2008): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg: ConBrio Verlagsanstalt.
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1. Theater, Schule und Politik
Theater und Schule. Eine Studie! Ein Modell? Ilona Sauer
»Theater und Schule sind das Traumpaar kultureller Bildung. Deshalb geht im Kinder- und Jugendtheater nichts ohne eine Partnerschaft mit Schulen. Aber Theater muss Theater bleiben und darf nicht zur 7. Unterrichtsstunde instrumentalisiert werden. Deshalb braucht es Theaterpädagogik im Bündnis mit dem Darstellenden Spiel, deshalb braucht es Theatervorstellungen in der Schulzeit – und all das so selbstverständlich wie Mathe und Englisch.« (Schneider 2005: 321)
Theater und Schule sind ein Traumpaar der gegensätzlichen Partner. Sie sind »Antipoden«, sowohl im Hinblick auf die Strukturen wie auch im Hinblick auf die Arbeitsweisen. Hier die bürokratischen Zwänge der Institution, dort die Freiheit der Kunst, deren Protagonisten die pädagogische Instrumentalisierung meiden. Das Verhältnis von Künstlern zur Institution Schule ist daher nach wie vor sehr fragil und Theater immer noch nicht hinreichend in den schulischen Alltag integriert. Blickt man zurück auf den breit angelegten Modellversuch »Künstler und Schule« am Ende der 1970er Jahre in der alten Bundesrepublik, stellt man fest, dass die meisten der Projekte letztlich scheiterten. Während der Modellversuch »Künstler und Schule« von den Schülern positiv bewertet wurde und auch die Lehrer die Durchführung des Projektes eher positiv erlebten, wollten viele der im Modellversuch tätigen Künstler diese Arbeit nicht mehr fortsetzen, da sie bei ihren Schulprojekten das Gefühl hatten, selbst nicht mehr künstlerisch tätig und ausschließlich Gebende zu sein. »Mein soziales Engagement, das mich zur Teilnahme an diesem Versuch verführte, reicht als Motivation nicht mehr aus.« (BmBW 1980: 356f.)
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Ilona Sauer
Für die Schüler dagegen war der Künstler »eine Person, die lustig, offen und immer kameradschaftlich war, die viel Geduld hatte und auf die Wünsche einging, die bereit war mit den Kindern und Jugendlichen zu reden« (ebd.). Für die Lehrer hatte der Künstler den Freiraum, den sie sich wünschten: »Die Künstler brauchen sich nicht mit den Problemen der Aufsicht und der Disziplin herumzuschlagen. Als Lehrer vertritt man eine Institution; der Künstler, der sowieso Inbegriff alles Freischaffenden ist, kann dem Schüler ganz anders gegenübertreten. Der Künstler hat den Schülern gegenüber eine Fachautorität, wir haben eine aufgepfropfte Autorität. Die Methoden der Künstler sind unkonventioneller, spontaner, vorher nicht genau geplant. Im Gegensatz zu uns Lehrern, die oft nur verbal anregen, bringen sie die Schüler zum Handeln, Ausführen und Selber-Tätig-Sein.« (Ebd.: 356f.)
Viele neue Theater-und-Schule-Projekte sind inzwischen gestartet, ohne dass die alten Modellprojekte mit ihren Fehlern aufgearbeitet, die veränderten Rahmenbedingungen reflektiert und die neuen künstlerischen Ansätze und Formate in der Theaterarbeit konsequent einbezogen wurden. Die Trennung von ›Theater sehen‹ und ›Theater spielen‹, von Produktion und Rezeption, von künstlerischer Arbeit und pädagogischem Handeln führten ebenso wie die Rahmenbedingungen und die Schulstrukturen letztlich zum Aufgeben der Künstler. In den letzten Jahren hat sich die Schule geöffnet. Die veränderten Bedingungen sind daher genau zu untersuchen, die neuen Bildungskonzeptionen zu befragen und darauf auf bauend in künstlerischen Laboren neue Konzepte der Zusammenarbeit von Künstlern in den Schulen zu entwickeln, in welchen Produktion und Rezeption verbunden sind. Bianca Blessing gibt in ihrem Resümee zum Modellprojekt der 1980er Jahre, trotz aller Kritik, einen positiven Ausblick. »Ich habe selbst zu wenig gespielt, kaum. Dennoch habe ich viel profitiert. Ich habe eine andere Form von Theater kennengelernt, habe so intensiv über szenische Zusammenhänge, psychische Situationen der einzelnen Figuren unserer Projekte nachdenken müssen, deutlicher als je zuvor erfahren, wie wichtig, ja wie unumgänglich es ist, dass Theater direkt mit beiden zu tun hat: Schauspielern und Zuschauern, dass ein fertiges Produkt nicht einfach konsumiert und für den Konsum gemacht werden sollte, sondern immer direkt mit den Beteiligten verbunden sein muss, dass für mich in Zukunft vorrangig der Anspruch sein wird, ein Stadtteiltheater zu entwickeln, in dem die Bevölkerung in ständigem Kontakt mit ihren Schauspielern ist, gemeinsam Stücke entworfen und geprobt werden, die alle Beteiligten betreffen, ein Theater, in das man geht wie in eine vertraute
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Theater und Schule. Eine Studie! Ein Modell?
Kneipe, wo sich jeder kennt, über das man sprechen und das man verändern kann, bei dem man mitarbeitet, obwohl man das ist, was man in den normalen Theatern ›Publikum‹ nennt.« (Ebd.: 263)
Eine Marburger Initiative 2004 verabschiedete die regionale Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendtheater in der ASSITEJ (LAG-Südwest) im Rahmen des Marburger Festivals »Theater sehen – Theater spielen« unter Federführung von Dirk Fröse das »Marburger Papier«1 und startete die Initiative »Theater und Schule in Hessen«. Dirk Fröse plädierte dafür, zunächst einmal das Feld zu sondieren und eine landesweite Befragung über die Zusammenarbeit von Theatern mit Schulen durchzuführen und darauf auf bauend Vorschläge für ein Landesprogramm zu entwickeln. Ausgehend von der Prämisse, dass der »Umgang mit Kunst gelernt sein will«, forderte die Marburger Initiative eine kultur-, schul- und sozialpolitische Zielformulierung, in deren Mittelpunkt kulturelle Bildung als gesellschaftliche Aufgabe steht. »Jedes Kind hat das Recht auf Begegnung mit lebendiger Kunst, denn Kunst ist nicht nur dazu da, das Leben schöner zu machen […]. Der Umgang mit lebendiger Kunst war und ist zu allen Zeiten ein wichtiger Bestandteil der individuellen und kollektiven Persönlichkeitsbildung. […] Die Begegnung mit Kunst und Künstlern weckt das Verständnis für die eigene Identität und fördert die Bereitschaft, sich mit anderen Kulturen und Lebensformen auseinanderzusetzen. […] Das Hinschauen auf Kunst, ihre Entschlüsselung und die Auseinandersetzung mit ihr sind komplexe Handlungen, die man lernen, aber nur sehr begrenzt erklären kann. Die Wirkung von Kunst ist ein ganzheitlicher Vorgang, der über den rational erfassbaren und erklärbaren Anteil hinausgeht, starke intuitive und emotionale Komponenten enthält und individuell sehr unterschiedlich sein kann.« (LAG-Südwest 2004)
Wesentlicher Bestandteil des Konzeptionspapiers war die Entwicklung der Kinder- und Jugendtheaterlandschaft für ganz Hessen, also die Forderung nach Theaterangeboten auch für strukturschwache Regionen und nach einer gezielten Gastspielförderung und einer Theaterförderung für Schu-
1. Marburger Papier: »KINDER BRAUCHEN KUNST – KINDER BRAUCHEN THEATER. Grundlegende Gedanken und konkrete Projektideen zur Förderung einer produktiven Zusammenarbeit zwischen Theatern und Schulen.«
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Ilona Sauer
len, die Etablierung von Kulturschulen und die Einsetzung von Kunstkoordinatoren sowie die Einrichtung eines Kinder- und Jugendtheaterportals.2 Geknüpft an diese Initiative war auch der Vorschlag der Theater, in den nächsten Jahren in Konzeption und Alltagspraxis an der Verwirklichung der im Marburger Papier formulierten Ziele zu arbeiten. Daher starteten die hessischen Kinder- und Jugendtheater 2005 mehrere Projekte, um die Zusammenarbeit zwischen Theatern und Schulen zu verbessern: Das Theaterhaus Frankfurt entwickelte gemeinsam mit Norbert Ebel – ehemaliger Dramaturg am Landestheater Marburg und freier Autor – die Broschüre »Wie wäscht man einen Elefanten«. Eine witzige Handreichung mit Ratschlägen rund um den Theaterbesuch. Ein kleiner Leitfaden, der pädagogische Belehrung und Maßregelung vermeidet und Schüler wie Lehrer ins Theater lockt und sichtbar macht, dass ein Theaterbesuch Spaß machen kann. Die Broschüre, die auch in anderen Bundesländern von Theatern genutzt wird, war so erfolgreich, dass sie inzwischen vergriffen ist.3 Das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst fördert die Initiativen der LAG-Südwest, die ein lockerer Zusammenschluss von ASSITEJ-Mitgliedern in Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland ist. Zur konsequenten Verfolgung ihres Konzeptes wurde die Initiative an der Geschäftsstelle der ASSITEJ angesiedelt. In der Folge rief damals die ASSITEJ gemeinsam mit der LAG Südwest die »Aktionstage Schule und Theater« ins Leben, um die Zusammenarbeit der Theater mit den Schulen praktisch weiterzuentwickeln. Der erste Aktionstag startete im Februar 2006 in Kassel. Von Anfang an wurden die Aktionstage in Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort und vor allem auch im Diskurs mit Lehrern und den ortsansässigen Schulen sowie Vertretern des Landesverbandes Schultheater in Hessen durchgeführt. Auf dem Kasseler Aktionstag diskutierten Lehrer, Theaterlehrer, Erzieher, Theaterpädagogen und Theaterkünstler aus der Region über die Theaterarbeit für Grundschulen und Kindergärten. Die Einführung von Aktionstagen, die vorrangig nicht in Ballungsräumen stattfinden, war ein wichtiger Schritt um die Initiative in die Regionen zu tragen. Die meisten hessischen Theater, von wenigen Ausnahmen abgesehen, arbeiten in Städten, kennen die ländlichen Regionen kaum und hatten sich bisher kaum mit ihren Angeboten in kleineren Städten und ländlichen Gemeinden etabliert. 2. Die Forderung nach einem Kinder- und Jugendtheaterportal wurde bereits durch das Land Hessen realisiert. Siehe: www.theaterundschule.net 3. Der genaue Titel der Broschüre lautet: »Wie wäscht man einen Elefanten? Mit Schülern mit Spaß ins Theater gehen: Ideen, Texte und andere Ermutigungen für eine erfreuliche Begegnung mit dem Theater.« Eine zweite Aufl age der Broschüre ist geplant.
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Außerdem warben die Kinder- und Jugendtheater mit einer Plakataktion an Schulen für ihre künstlerische Arbeit und boten sich als Kooperationspartner für Schulen in den Regionen an.
Eine Befragung in Hessen Eine Bestandsaufnahme über die Kooperation von Theater und Schule war der nächste Schritt auf dem Weg der Annäherung der beiden ungleichen Partner. Die landesweite Befragung, die auf Initiative der LAG-Südwest, finanziert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und unterstützt durch das Hessische Kultusministerium von der ASSITEJ e.V. auf den Weg gebracht wurde, war deutschlandweit die erste, die in diesem Bereich auf so breiter Basis mit dem Fokus auf Kinder- und Jugendtheater durchgeführt wurde. Denn befragt wurden alle hessischen Schulen und Schulformen. 4 Der Fragebogen wurde Ende 2005 entwickelt, 2006 wurde die Studie durchgeführt und ausgewertet, 2007 wurde sie der Öffentlichkeit präsentiert. Auf Einladung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Hessischen Kultusministeriums fanden Planung und Auswertung in einer Arbeitsgruppe gemeinsam mit dem Landesverband Schultheater in Hessen (LSH), dem Bundesverband Darstellendes Spiel (BVDS) und dem Landesverband Freier Theater (Laprof) statt, so dass die Perspektiven aller Verbände und der Ministerien berücksichtigt werden konnten. Ziel der Bestandsaufnahme war es, ästhetische Bildung in der Schule in der Zusammenschau von ›Theater sehen‹ und ›Theater spielen‹ als ›wahrnehmende und gestaltende‹ Auseinandersetzung mit der Theaterkunst auszuloten, Rezeption und Produktion als zusammengehörig zu betrachten und sich nicht einseitig nur auf den Theaterbesuch oder das Theaterspiel zu beziehen. Gefragt wurde in der Studie daher sowohl nach den Angeboten der professionellen Theater als auch nach der Entwicklung des Darstellenden Spiels und der Zusammenarbeit von Theatern und Schulen im Bereich der Theaterpädagogik. Befragt wurden die Ebene der Rezeption von Kunst, die Ebene der Vermittlung künstlerischer Fähigkeiten und die theoretische Vermittlung eines Grundwissens.
4. Konzept und Ausführung der Befragung lagen in Händen von Ilona Sauer und Eckhard Mittelstädt. Dirk Fröse begleitete die Studie beratend. Hingewiesen sei auch auf die Unterstützung von Gabriele Vogt vom Hessischen Kultusministerium.
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Ziel der Studie war es auch, sich ein Bild davon zu machen, wie in den unterschiedlichen Schulformen die Angebote der Theater wahrgenommen werden und welche Rolle das Theater im Unterricht und in den freiwilligen schulischen Angeboten in den verschiedenen Schulformen und in der Ganztagsschule spielt. Die umfassende Erhebung sollte vor allem auch Möglichkeiten der Strukturentwicklung sichtbar machen und daraus Handlungsempfehlungen für die Politik entwickeln, die dann in einem Landesprogramm »Theater und Schule in Hessen« münden. Im Mittelpunkt der hessischen Erhebung standen Fragen nach • den Aktivitäten im Bereich des Darstellenden Spiels; • der Angebotsstruktur und dem Rahmen, in welchem diese Aktivitäten stattfinden (Klassenverband, Wahlpflichtunterricht, DS als Unterrichtsfach, Theater AG, fächerübergreifende Theaterarbeit, szenisches Spiel als Unterrichtsmethode); • Inszenierungen und Auff ührungsmöglichkeiten für das Theater in der Schule (Klassenverband, Schulgemeinde, Schultheatertage, andere Präsentationsform); • den Räumlichkeiten und der Ausstattung der Schulen im Hinblick auf die Theaterarbeit mit den Schülern; • dem Stellenwert des Theaterspiels in der Schule im Vergleich zu den anderen Künsten (Musik und Kunst). Der zweite Teil der Befragung fokussierte auf den Theaterbesuch, die Bedeutung des Theaterbesuchs für schulische Bildungsprozesse und die Theaterpädagogik als Vermittlungskunst. Gefragt wurde nach • der Häufigkeit des Theaterbesuchs (Kinder- und Jugendtheater, Schauspiel, Oper, Tanz); • Gastspielen in der Schule; • der Form der Zusammenarbeit mit Theatern (nur Vorstellungsbesuch, Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs, Probenbesuche mit Schulklassen, Besuch von Workshops der Theater); • dem Stellenwert des Theaterbesuchs im Vergleich zu Kino, Museum und Konzert; • dem Einbezug des Theaterbesuchs in den Fachunterricht; • der Teilnahme von Lehrern an dramaturgischen Gesprächen zum Spielplan; • der Teilnahme von Lehrern an theaterpädagogischen Angeboten der Theater. Ein weiterer Fragenkomplex widmete sich der Aus- und Weiterbildung der Lehrer im Theaterbereich. Der dritte Teil der Befragung beschäftigte sich 20
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mit den Perspektiven und Möglichkeiten für eine Kooperation von Theatern mit Schulen. Gefragt wurde auch nach den Hinderungsgründen für den Theaterbesuch und den Hinderungsgründen für eine Zusammenarbeit von Schule und Theater im theaterpädagogischen Bereich. Der Fragebogen wurde über die staatlichen Schulämter an alle hessischen Schulen verschickt. 1060 hessische Schulen (das sind 52 %) antworteten. Es antworteten Schulen aller Schulformen (einschließlich der Ganztagsschulen) aus allen hessischen Regionen.5 Im Verlauf der Befragung und der ersten Auswertungen kristallisierten sich weitere grundlegende Aspekte heraus, die zu ersten Annahmen und Fragestellungen führten: Bedingen sich Theaterbesuch und Theaterspiel? Gehen Schüler, die selbst in einer Schultheater AG in der Schule Theater spielen, häufiger ins Theater? Hat der Theaterbesuch in den Schulen den gleichen Stellenwert wie das Theaterspiel? Gibt es Schulen mit dem Schwerpunkt ›Theater sehen‹ und Schulen mit dem Schwerpunkt ›Theater spielen‹ oder vielleicht sogar Schulen mit beiden Schwerpunkten? Welchen Einfluss haben Theaterlehrer auf den Theaterbesuch, auf das Theaterspiel und auf die Kooperation von Theater und Schule? Welche Rolle spielen externe Fachleute im Kontext der Ganztagsschule? Gibt es eine Verbindung von räumlicher Ausstattung und Theateraktivität? Welche Rolle spielen Schultheatertage in den Regionen? Erhöht die Teilnahme an Schultheatertagen den Stellenwert des Theaterspiels? Welchen Einfluss hat ein funktionierendes Kinder- und Jugendtheater in der Region auf den Theaterbesuch? Wie ist die Ausbildungssituation im Bereich Theaterpädagogik und Darstellendes Spiel in Hessen? Welche Rolle spielen externe Fachleute? Welche Rolle spielen die Theater im Kontext der Ganztagsschulen? Welche Aktivitäten wünschen sich die Schulen von Theatern? Welche Hinderungsgründe gibt es für eine Zusammenarbeit von Schule und Theater? Korreliert der Stellenwert des Theaterspiels mit den tatsächlichen Theateraktivitäten? Gibt es mehr Gastspiele in ländlichen Regionen? Wo und unter welchen Bedingungen wird in ländlichen Regionen Theater gesehen und Theater gespielt?
5. Die Reaktionen auf die Befragung über die Zusammenarbeit von Theatern mit Schulen waren in städtischen und ländlichen Regionen sehr unterschiedlich. Die Rücklaufquote nach Schulbezirken reichte von Fulda (100 %) bis Frankfurt und Offenbach (35 % bzw. 38 %). Für die ländlichen Regionen hat die Studie repräsentativen Charakter. In den städtischen Regionen haben fast nur diejenigen Schulen geantwortet, die sich im Bereich Theater besonders engagieren.
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Theater in der Schule gew innt an Bedeutung Im schulischen Bereich gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Theateraktivitäten. Die Palette erstreckt sich vom szenischen Spiel über die Dramenlektüre und Darstellendes Spiel als Unterrichtsfach, Projekttage, freiwillige Theater AGs am Nachmittag, in denen künstlerisch gearbeitet wird, bis hin zu Schulen mit Theaterprofi l. Hier entstehen Theaterauff ührungen mit Kindern und Jugendlichen auf hohem künstlerischem Niveau und mit großem Engagement von Seiten der Schulen und das Schultheater hat sich als eigene Kunstform an den Schulen etabliert. In den neueren Bildungsplänen wird die bildende Wirkung des Theaters betont. Theaterpädagogische Verfahrensweisen werden zu Modellen für Lernen überhaupt. Dies zeigt auch die Befragung der hessischen Schulen. An 88 Prozent der die Umfrage beantwortenden Schulen wird Theater gespielt, 79 Prozent dieser Schulen setzen das szenische Spiel als Unterrichtsmethode ein. Szenisches Spiel als Unterrichtsmethode ist inzwischen anerkannt und in der schulischen Praxis angekommen. Genutzt werden die Methoden des szenischen Spiels in allen Schulformen vorwiegend im Fach Deutsch (91 %), im Fremdsprachenunterricht (37 %), in Grund- und Haupt- und Realschulen sogar in Mathematik (3 %). Der Theaterbesuch wird zum Fremdsprachenerwerb ebenso benutzt wie zur Ergänzung der Dramenlektüre. Die Schulen wollen in der Regel auch bei ihren Theateraktivitäten eine Verbindung zum Unterrichtsstoff und zum Lehrplaninhalt herstellen.6 Das Szenische Spiel als Unterrichtsmethode folgt zumeist vor allem didaktischen Zielsetzungen im Rahmen der Lehrpläne, also nicht künstlerischen Prozessen. Ästhetische Bildungsprozesse jedoch fokussieren nicht auf vorgegebene und zu erreichende Lernziele (vgl. Hentschel U. 2007). Da ästhetische Bildungsprozesse auf Offenheit und der Freiheit des Spiels in der Begegnung von Kindern und Jugendlichen mit der ihnen zumeist noch fremden Theaterkunst basieren, lassen sie sich als Selbstbildungsprozesse nicht in vorgegebene Zeitrhythmen und Lernziele pressen. Je mehr sich jedoch die Lernprozesse in der Schule auf den Lernprozess selbst und auf das Erforschen der Dinge richten, umso stärker ist die Chance, dass auch im schulischen Rahmen Selbstbildungsprozesse zum Tragen kommen. Derzeit versuchen viele Theater in ihren Schulprojekten den Lernzielen und Wünschen nach Kompetenzvermittlung zu folgen, indem sie sich auf die von den Schulen vorgegebenen Rahmen einlassen. Für eine gelungene Begegnung von Theater und Schule ist es jedoch wesentlich, sich nicht 6. 83 % der Schulen beantworteten die Frage nach der Einbindung des Theaterbesuchs in den Unterricht mit Ja.
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einander anzugleichen, sondern an der ›Fremdheit‹ festzuhalten und die ›Differenzerfahrung‹ selbst zum Gegenstand der Begegnung zu machen (vgl. Vaßen 2005: 6f.). 91 Prozent der hessischen Schulen gaben an, dass bei ihnen in der Theaterarbeit mit Schülern Auff ührungen entstehen, 66 Prozent spielen im Klassenverband Theater, 62 Prozent haben eine Theater AG an ihrer Schule, wobei die nachmittäglichen Aktivitäten je nach Schulformen differieren. 21 Prozent haben Theater als Wahlpflichtunterricht, und 5 Prozent Darstellendes Spiel als Grundkurs in der Sekundarstufe II. Die wenigsten Theater AGs gibt es an Grundschulen, dennoch haben immerhin 51 Prozent der antwortenden hessischen Grundschulen eine Theater AG. In der Befragung »Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule«, die Susanne Keuchel für das Zentrum für Kulturforschung durchführte, untersuchte sie auch die Rolle der freiwilligen Angebote am Nachmittag und kommt zu folgendem Schluss: »Grundsätzlich zeigt sich aber, dass man junge Menschen am besten erreicht, wenn die kreativen Angebote in das reguläre Schulangebot einbezogen sind. Freiwillige (nachmittägliche) künstlerische Angebote werden in der Schule nur von 11 Prozent der jungen Leute wahrgenommen, und die Gruppe, die damit erreicht wird, ist in der Freizeit in der Regel sowieso schon in anderen Zusammenhängen künstlerisch aktiv, z.B. mit Freunden oder Eltern, in der Musikschule, im Verein, in der Kirche etc.« (Zentrum für Kulturforschung 2007: 17)7
Und so kommen auch bei den freiwilligen Angeboten die bildungsspezifischen Voraussetzungen des Elternhauses zum Tragen. Die Theater AG ist das Angebot, das am zweithäufigsten von Schülern gewählt wird. An erster Stelle steht die Schülerzeitung. Sie zieht daraus das Fazit, dass sich an Schulen bei den künstlerischen Schul- und Freizeitaktivitäten solche Angebote etablieren können, die wenig Equipment brauchen und leicht in den Schulalltag einzubinden sind (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2007: 19). Dies zeigte sich auch in der flächendeckenden Befragung an hessischen Schulen, denn viele Schulen verfügen über keine geeigneten Räume für Theateraktivitäten. Das Angebot wird dann den vorhandenen Räumlichkeiten angepasst. In ländlichen Gebieten wird zudem die Teilnahme an nachmittäglichen Theateraktivitäten durch die schlechten Verkehrsverbindungen erschwert oder verhindert. 7. Die Studie von Susanne Keuchel bezieht sich auf Ganztagsschulen. Es handelt sich hier um keine fl ächendeckende Befragung, vielmehr eine Feldbefragung: Es wurden eine Auswahl repräsentativer Ganztagsschulen in vier Bundesländern aus städtischen und ländlichen Regionen befragt (379 Schulen). Die Befragung fand in schriftlicher und mündlicher Form statt.
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Die meisten hessischen Schulen besuchen Kinder- und Jugendtheater Auch der Theaterbesuch ist für 91 Prozent der antwortenden Schulen Bestandteil der Schulkultur. Entsprechend der Altersverteilung der Schüler stehen dabei die Kinder- und Jugendtheater mit 90 Prozent deutlich an der Spitze des Interesses, daneben besuchen Schüler Schauspiel (38 %) und Oper (30 %), allerdings besuchen laut Studie nur wenige Schulen Tanztheaterauff ührungen. Gerade in den vergangenen Jahren – nach der ersten PISA-Studie – ist in Hessen ein deutlicher Anstieg der Theateraktivitäten zu beobachten: • verstärkte Einführung des Darstellenden Spiels;8 • verstärkte Nutzung des szenischen Spiels als Unterrichtsmethode (80 %); • Auf bau von Kontakten zu professionellen Theatern (45 %). Die Studie machte auch deutlich, dass es zahlreiche Schulen gibt, zu deren Schulprofi l die intensive Begegnung mit dem Theater gehört. Es gibt Schulen mit dem Schwerpunkt: »Theater schauen« und Schulen mit dem Schwerpunkt »Theater spielen«, aber auch einige Schulen, in deren Schulprofi l beide Seiten gleichen Stellenwert und gleiche Wertigkeit haben, der Theaterbesuch und das Theaterspiel gleichermaßen gefördert werden. Wenig überraschend: Vorreiter sind hier vor allem die Privatschulen. Der Zusammenhang von Bildungsgrad und Kulturinteresse manifestierte sich auch in der Studie »Theater und Schule in Hessen«. Dies zeigt sich bereits an den Rückläufen. Unter den unterschiedlichen Schulformen hatten die Gymnasien die höchste Rücklaufquote (76 %), von den Grundschulen haben 60,5 Prozent geantwortet. Haupt- und Realschulen gehen mit ihren Schülern am seltensten ins Theater und geben – dies analog zu anderen Schulformen – dem Theaterbesuch im Vergleich zu anderen kulturellen Aktivitäten einen niedrigen Stellenwert. Andererseits liegt gerade in diesen Schulen ein Entwicklungspotenzial, denn Haupt- und Realschulen haben das stärkste Interesse an einer Intensivierung der Kooperation von Theater und Schule. 61 Prozent der antwortenden Schulen dieser Schulformen wünschen sich eine Verstärkung der Kooperation. Ein positives Signal ist, dass die Haupt- und Realschulen den Ergebnissen der Studie zufolge mit der verstärkten Einführung von Darstellendem Spiel (50 % seit 2000) und szenischem Spiel als Unterrichtsmethode auf 8. 27 % der antwortenden Schulen geben an, seit 2000 Theateraktivitäten an ihrer Schule zu haben, 23 % seit 1990. Den höchsten Anstieg der Theateraktivitäten im Zeitraum 2000-2006 verzeichnen die Haupt- und Realschulen.
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die bildende Wirkung von Theater setzen. Dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf Teilhabe an Kultur tragen die Schulen insofern Rechnung, als 80 Prozent der Schulen angeben, dass sie ein- bis zweimal im Jahr ins Theater gehen. Nach wie vor gehen Hauptschüler am seltensten ins Theater. 75 Prozent der antwortenden Hauptschulen gaben an, selten oder nie ins Theater zu gehen.9 Auch bei den Förderschulen liegt der Theaterbesuch unter dem Durchschnitt. Insbesondere Förderschulen beklagen jedoch auch mangelnde Angebote für ihre Schüler. In den Gymnasien genießt die Begegnung mit Theaterkunst, mit Literatur und Drama traditionell einen hohen Stellenwert und dient der Ergänzung des Deutschunterrichts, dies zeigt auch diese Befragung. Gymnasien wertschätzen sowohl den Theaterbesuch wie auch das Theaterspiel. 95 Prozent der Gymnasien besuchen mit ihren Schülern regelmäßig Theater und 96 Prozent haben Aktivitäten im Bereich des Theaterspiels. An etlichen Gymnasien ist Darstellendes Spiel als Unterrichtsfach realisiert und in dieser Schulform arbeiten die meisten Lehrer für Darstellendes Spiel. Gleichzeitig jedoch wächst derzeit durch Lehrermangel, erhöhte Stundendeputate, »Unterrichtsgarantie plus« und durch die G8-Jahrgänge der Druck auf die Schulen. Theaterbesuche sind oftmals nur noch in eng vorgegebenen Zeitfenstern möglich. Die Kluft zwischen Alltagsrealität und Einsicht in die Notwendigkeit von kultureller Bildung vergrößert sich zunehmend. Die Theater berichten, dass seit der Einführung der »Unterrichtsgarantie plus« in Hessen Schulen weit weniger Theater besuchen als zuvor. Auch kulturell engagierte Lehrer klagen, dass in den Schulen ›nach PISA‹ immer weniger Freiräume für kulturelle Bildung existieren. Abhilfe würde hier zumindest in Ansätzen die Einführung des Unterrichtsfachs Theater schaffen, denn dann wäre der Theaterbesuch fester Bestandteil der Lehrpläne.
Gemeinsame Konzepte für Kulturschulen Die Bedeutung des Theaterbesuchs wird von den Schulen aus unterschiedlichen Perspektiven beantwortet. Zum einen aus der Perspektive der Kinder: Hier ist Theater ein Erlebnis, das Freude bereitet. Zum anderen aus der Perspektive der Schule: Theater als Ergänzung zum Unterricht und als Möglichkeit, allen Kindern, auch denen, die nicht von Hause aus gefördert werden, eine Begegnung 9. Zum Vergleich: Bei den Haupt- und Realschulen in einem Schulkomplex, die nur einmal den Fragebogen beantworteten, waren es 33 %.
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mit der Theaterkunst zu ermöglichen. Auch die Perspektive der Eltern wird von den Schulen benannt: Bei diesen besteht oftmals kein Interesse an kultureller Bildung, da sie Geld kostet. Knapp die Hälfte aller Schulen gab an, dass sie ein- bis zweimal jährlich ins Theater gehen. Wie viele Klassen einer Schule Theaterauff ührungen besuchen, bleibt hierbei ebenso offen wie die Frage nach der künstlerischen Qualität der gewählten Auff ührungen. Häufig dürfte es sich hierbei nämlich um den jährlichen Besuch des Weihnachtsmärchens oder um ein einmaliges Gastspiel in der Schule handeln. Bei der Frage nach der Einbindung in den Unterrichtsalltag gaben 97 Prozent der Schulen an, dass sie den Theaterbesuch vor- und nachbereiten, 55 Prozent besuchen nur die Vorstellung. 83 Prozent binden den Theaterbesuch in den Unterricht ein. Obwohl die Theater, insbesondere die Kinder- und Jugendtheater, über eine Palette theaterpädagogischer Angebote verfügen, werden diese zwar von den Schulen gewünscht oder gelobt, aber in der Praxis nicht immer genutzt.10 Nur 13 Prozent aller Schulen arbeiten im Bereich des Theaterspiels mit Theatern zusammen. Hier fällt auf, dass Gymnasien und noch stärker Kooperative Gesamtschulen (17 %) die Zusammenarbeit mit Theatern im Bereich der Beratung und des Austausches suchen. Dagegen treten im Bereich der Leitung von Theaterprojekten gerade Hauptschulen mit Wünschen nach Zusammenarbeit an die Theater heran. In den meisten Schulen spielen die Schüler bei verschiedensten Anlässen Theater. Auf Schulfesten, Weihnachtsfeiern, Einschulungen und Klassenfeiern werden Aufführungen, Sketche oder Rollenspiele präsentiert. Manchmal wird hier der Faden zwischen Spiel und Kunst aufgenommen. Aber um die Theaterarbeit zu einem integralen Bestandteil der Schule zu machen, braucht man ausgebildete Theaterlehrer und vor allem auch die Begegnung mit der Theaterkunst, denn die ›Kunst des Zuschauens‹ muss bei Kindern und Jugendlichen ebenso entwickelt werden wie das Theaterspiel. Obwohl sich die Theater intensiv um den Austausch mit Lehrern bemühen und vielfältige Angebote bereithalten – vom Inszenierungsgespräch über Spielplanvorstellungen, Probenbesuche, Workshops, Diskussionen bis zu Materialienheften – verneinten 86 Prozent der Lehrer eine Fortbil-
10. Nutzung der Angebote der Theater: Probenbesuche 16 %, Workshops der Theater 12 % bzw. theaterpädagogische Projekte zu Inszenierungen. 804 Schulen gaben an, dass sie das Angebot der Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs annehmen. Es bleibt jedoch zu vermuten, dass die Vor- und Nachbereitungen häufig in Eigenregie durchgeführt werden.
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dung durch Theater in Bezug auf den Theaterbesuch und im theaterpädagogischen Bereich. Nur 13 Prozent der Lehrer nehmen Dramaturgische Gespräche der Theater zum Spielplan wahr. Die Studie fragte auch nach der Zusammenarbeit mit externen Fachleuten allgemein. Hier ergab sich ein ähnliches Bild: Nur 23 Prozent der Schulen arbeiten mit externen Fachleuten zusammen, am häufigsten die Gymnasien, am seltensten die Grundschulen. Auch Susanne Keuchel kam in ihrer Studie zu ähnlichen Ergebnissen wie die flächendeckende Befragung in Hessen: In der Tat kann man feststellen, dass das Engagement der Gymnasien bzw. der Gesamtschulen im Bereich der Schaff ung von Theaterangeboten am höchsten ist. Am schlechtesten schneidet wiederum die Hauptschule ab. (Zentrum für Kulturforschung 2007: 60) »Institutionalisierte Kooperationen mit Trägern außerschulischer Theaterarbeit sind bislang eher die Ausnahme, die Regel sind eher ad-hoc Kontakte und einzelne Projekte.« (Ebd.: 61)
Schule ist noch immer eine Institution, die sich mit der Öffnung schwertut, denn eine Kooperation mit anderen Personen und Institutionen findet nach wie vor relativ selten statt. In der hessischen Studie zeigte sich, dass sich hier noch keine intensive Zusammenarbeit der Ganztagsschulen mit Theatern entwickelt hat: Lediglich 22 Prozent der Ganztagsschulen arbeiten im Bereich des Theaterspiels mit Theatern zusammen. 3 Prozent der Ganztagsschulen ziehen Theaterleute im Bereich der Leitung von Aktivitäten im Bereich des Theaterspiels heran. Theater ist ein Angebot unter vielen. Die Zusammenarbeit von Theaterkünstlern, Theaterpädagogen und Fachlehrern (Lehrer für Darstellendes Spiel bzw. Kulturbeauftragte) an den neuen Schulkonzepten ist in Hessen bisher weder konzeptionell noch strukturell verankert. Die hessische Landesregierung hat sich in ihrem Konzept »Ganztagsschule nach Maß« unter anderem die Einbeziehung außerschulischer Angebote und die Erschließung neuer Lernorte durch Kooperationen mit Trägern der Jugendhilfe zum Ziel gesetzt. Bisher wurden dabei die Theater (im Gegensatz etwa zu Musikschulen) kaum berücksichtigt. Auch Susanne Keuchel kommt hier zu ähnlichen Schlüssen wie die hessische Studie: »Obwohl Ganztagsschulen für die Erkundung außerschulischer Lernorte mehr Zeit haben als Halbtagsschulen, wird dieses Potential von Kultureinrichtungen, wie Theatern, Orchestern etc. noch nicht ausreichend genutzt. Nur 46 Prozent der Ganztagschulen kooperieren derzeit punktuell mit Kultureinrichtungen. […] Den
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Kultureinrichtungen sollte mehr personeller und finanzieller Spielraum für mehr Kooperationen gegeben werden. Es fehlt vor allem an Angebotskonzepten für Grundschulen und Hauptschulen.« (Zentrum für Kulturforschung 2007: 48)
Keuchel stellt weiter fest, dass die Theaterangebote im außerschulischen Ganztag jedoch weniger vertreten seien als Musikangebote. Dies werfe die Frage auf, ob spezielle Rahmenbedingungen an Schulen gegeben sein müssten, um theatrale Angebote im Ganztagsschulalltag zu fördern, und ob hier auch ein unterschiedliches Engagement der einzelnen Schulformen zu beobachten sei. (Ebd.) Dieser Aspekt wurde in der hessischen Studie ebenfalls befragt. In den Ganztagsschulen gibt es eine höhere Gastspielaktivität als im Schnitt. 86 Prozent laden regelmäßig Theatergastspiele ein. Dennoch zeigt auch die Studie bei den Ganztagsschulen keine überdurchschnittliche Zusammenarbeit von Theater und Schule im theaterpädagogischen Bereich. Immerhin arbeiten aber 45 Prozent der Ganztagsschulen mit externen Fachleuten zusammen. Im Bereich der Theaterpädagogik beschränkt sich die Kooperation mit Theatern jedoch auf 13 Prozent.11 Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Personen sei derzeit generell ein Stolperstein bei der Ganztagsschulentwicklung, schreibt Guido Seelmann-Eggebert in seinem Beitrag über die »Ganztagsschulen in Hessen zwischen Anspruch und Wirklichkeit«, denn Kooperationen mit gemeinsamer Konzeptentwicklung seien nach wie vor noch selten. Kooperation werde oftmals nur im Sinne der Inpflichtnahme eines Reparaturbetriebes für problematische Biografien verstanden. »Nur in ganztägig arbeitenden Schulen, in denen Schule nicht als reine Lehranstalt, sondern als Lebensraum entwickelt wird, kann die Kooperation wirklich zustande kommen.« (Seelmann-Eggebert 2006: 61)
11. Viele Schulen benannten die Zusammenarbeit mit dem Schultheaterstudio. In der Freitextauszählung der Studie wurde die Zusammenarbeit mit freischaffenden Theater-, Tanz- und Musikpädagogen ebenso benannt wie die Kooperation mit dem Hessischen Kulturmobil. 46 der antwortenden Ganztagsschulen zogen externe Fachleute zur Beratung heran, 51 zur Leitung und Durchführung von Projekten, 22 zur Planung und Projektentwicklung (Mehrfachwahl war möglich). Die Zusammenarbeit mit Theatern gestaltet sich wie folgt: Leitung: 7, Beratung: 23.
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Regisseure, Schauspieler und Theaterpädagogen kennen ihr Publikum Zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen die hessische Studie und die Befragung von Susanne Keuchel im Hinblick auf die Theaterangebote von Kinder- und Jugendtheatern. »Generell könnte vermutet werden, dass ein aktives Theaterumfeld rund um die Ganztagsschule einen positiven Einfl uss auf die Existenz von Theaterangeboten im außerunterrichtlichen Ganztag ausübt. Ebenso ließe sich vermuten, dass ein lebhaftes Theaterumfeld weitgehend auch von der Region abhängt, dass also in einer Großstadt die Theaterlandschaft wesentlich ausgeprägter ist als in kleineren Städten oder dörflichen Regionen.« (Zentrum für Kulturforschung 2007: 61)
Es ergäben sich jedoch keine Hinweise, dass ein Theater in der Umgebung eine entscheidende Rolle spiele. In der hessischen Studie zeigte sich hingegen deutlich, dass ein gut funktionierendes Kinder- und Jugendtheater in der Nachbarschaft oder in der Region ein wichtiger Kooperationspartner für die Schulen ist. Zu nennen wäre hier z.B. die Region Kassel, in der es eine Sparte Kinder- und Jugendtheater am Staatstheater Kassel gibt und in der mehrere freie Kinder- und Jugendtheater ansässig sind, die eng mit Schulen zusammenarbeiten, sowie das Schnawwl Theater in Mannheim, dessen Schülerabonnement von südhessischen Schulen genutzt wird, oder auch das Frankfurter Theaterhaus, das eng mit den Schulen in der Nachbarschaft kooperiert. Susanne Keuchel spezifiziert ihre Aussage im Hinblick auf die Grundschulen. Die Aussage von Wolfgang Schneider, »Kindertheater ist für das Theater wie das Bilderbuch für die Literatur. Einstieg in das Medium und Kunstwerk an sich« (Zentrum für Kulturforschung 2007: 132), ließe erwarten, dass Grundschulen besonders häufig Kinderund Jugendtheatern begegnen. Dies sei aber nicht der Fall: »Die Vermutung, dass das Kinder- und Jugendtheater, bedingt durch seine besonderen inhaltlichen Formate und Formen, in seiner Zielgruppenansprache stärker auf Grundschulkinder eingehe und so die vorher aufgezeigten Defizite ausgleiche, lässt sich durch die Daten leider nicht bestätigen […]. Im Ranking stehen die Grundschulen in der Kooperation mit Kinder- und Jugendtheatern auf dem vorletzten Platz, noch vor der Hauptschule, die auch hier den letzten Platz einnimmt.« (Ebd.: 133f.).
Gymnasien und integrierte Gesamtschulen sind auch hier an der Spitze. Die Sekundarstufen kooperieren vor allem in den neuen Bundesländern 29
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mit den Kinder- und Jugendtheatern, was auch auf die Tradition zurückzuführen ist. (Vgl. ebd.) In der hessischen Studie ergab sich in Bezug auf die Grundschulen ein ambivalentes Bild. Der Theaterbesuch genießt in den Grundschulen einen hohen Status: 47 Prozent messen dem Theaterbesuch im Vergleich zu anderen kulturellen Aktivitäten einen hohen Stellenwert bei, nur neun Prozent einen niedrigen Stellenwert. 89 Prozent aller antwortenden Grundschulen haben Aktivitäten im Bereich des Theaterspiels, 80 Prozent aller Grundschulen nutzen das szenische Spiel als Unterrichtsmethode. 51 Prozent der antwortenden Grundschulen haben eine Theater-AG. Dies kennzeichnet eine positive Entwicklung im Grundschulbereich. Hier wird vorwiegend im Klassenverband Theater gespielt (81 %). Dabei werden die Möglichkeiten, fächerübergreifend zu arbeiten, ebenso genutzt wie die Möglichkeiten, jenseits vorgegebener Zeitrhythmen zu arbeiten. Gerade im Grundschulbereich ist der Klassenverband der Ort, an dem Spielen und Lernen verbunden werden und Leiblichkeit, Spiel und Kunst ineinandergreifen können. Dies legt die Aufnahme des Darstellenden Spiels in die Bildungsstandards der Grundschule nahe. Die Studie zeigte jedoch auch eine gravierende Diskrepanz zwischen den vorhandenen Theateraktivitäten und der Wertschätzung der eigenen Arbeit. Obwohl in der Grundschule eine Vielzahl von Theaterspielaktivitäten stattfinden, genießen diese im Vergleich zum Theaterbesuch einen niedrigen Stellenwert. Nur neun Prozent der Grundschulen geben dem Theaterspiel im Vergleich zu Musik- und Kunstunterricht einen hohen Stellenwert, 48 Prozent sehen ihn als niedrig an. Dies entspricht dem Status des Darstellenden Spiels, das in der Grundschule noch kein Fach ist wie Musik und Kunst. Eine weitere Ursache liegt darin, dass es im Grundschulbereich nach wie vor an fundiert theaterpädagogisch ausgebildeten Lehrkräften fehlt. Die Lehrkräfte verfügen also häufig nicht über hinreichende Fachkenntnisse, was das Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen Theaterarbeit und deren Qualität beeinflussen könnte.
Die Rolle der Kinder- und Jugendtheater im Bildungsprozess Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland« werden auch einige Aspekte der Zusammenarbeit von Theatern mit Schulen hervorgehoben, welche die Ergebnisse der hessischen Befragung auch in den übergreifenden kulturpolitischen Forderungen untermauern. Dies betriff t die Notwendigkeit der aktiven und rezeptiven Beschäftigung mit Theater, wie die Notwendigkeit institutioneller Förderung und Professionalisierung der Zusammenarbeit von 30
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schulischer und außerschulischer Jugendbildung. Im Enquetebericht wird konstatiert, dass viele Projekte ›Eintagsfliegen‹ seien, da vieles derzeit stärker auf dem Engagement Einzelner als auf einer Struktur beruhe (Deutscher Bundestag 2008: 386). Auch dies bestätigt die Studie Theater und Schule in Hessen. Ein weiterer Aspekt für das Gelingen sei die professionelle Organisation, so die Enquetekommission. Dazu gehöre eine beidseitige Verständigung über die Kompetenzen, Rechte und Pflichten der Künstler und Kulturpädagogen, sowie die Fortbildung von Lehrern zur Einbeziehung außerschulischer Angebote in den Unterricht. Ohne diese Schulungen könnten entsprechende Vorgaben zu den Lehrplänen nicht in vollem Umfang wirksam werden. »Es sollte zur Normalität werden, dass die Angebote der Theater von den Lehrern verantwortungsvoll wahrgenommen werden und produktiv zum integralen Bestandteil des Curriculums gemacht werden« (ebd.: 387), heißt es in dem Enquetebericht weiter. Auch dies ist in Hessen noch keine Normalität und muss erst mühsam aufgebaut werden. Betont werden auch die besondere Rolle der Kinder- und Jugendtheater im Bildungsprozess und die besondere Rolle der freien Theater für ländliche Regionen (vgl. ebd.: 109). »Freie Theater erschließen neue Stoffe, Themen und Spielweisen für das Theater, arbeiten oft genreübergreifend und an theaterfernen Orten.« (Ebd.: 110) Die Enquetekommission empfiehlt den Ländern und Kommunen auch »die Voraussetzungen für Kooperationen mit Kinder- und Jugendtheatern im Rahmen von Schulaufführungen und Schultheatertagen zu verbessern sowie Kinder- und Jugendtheaterfestivals zur Begegnung mit Künstlern und Kulturen zu stärken« (ebd.: 398). In Hessen finden im Bereich der Schultheatertage Kooperationen mit den Kinderund Jugendtheatern nur punktuell statt. Schultheaterszene und Kindertheaterszene haben sich hier in den vergangenen Jahren getrennt voneinander entwickelt. Generell gibt es hier ebenso einen Nachholbedarf wie im Bereich qualitätsvoller Theateraufführungen im ländlichen Raum. Hier müssen sowohl Strukturen wie auch Qualitätsbewusstsein erst entwickelt werden. Schulen melden Bedarf an: Hessische Schulen möchten ihre theaterpädagogischen Aktivitäten massiv verstärken durch mehr Kooperation zwischen Schule und Theater (45 %) und durch Fortführung der zweijährigen Qualifizierungsmaßnahme für das Darstellende Spiel (35 %), aber auch durch andere, kürzere Fortbildungen und Workshops (51 %). Nur 27 Prozent halten das derzeitige Angebot für ausreichend! Am stärksten ist der Wunsch nach Kooperation von Schule und Theater bei den Haupt- und Realschulen (61 %). 57 Prozent der antwortenden Ganztagschulen wünschen sich die Verstärkung der Kooperation von Schule und Theater im Hinblick auf die theaterpädagogischen Aktivitä31
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ten der Theater. Als Haupthindernis für die gewünschte Kooperation mit Theatern wird Zeitmangel an den Schulen angegeben, daneben fehlende Geldmittel und fehlende Kontakte sowie die Entfernung zum nächsten Theater. Parallel dazu zeigen die Daten, dass Angebote leistungsfähiger Theater in erreichbarer Entfernung regelmäßig auch von den Schulen des Umkreises genutzt werden. Die Perspektiven aller Beteiligten sollten bei der Interpretation der Studie zum Tragen kommen, um so eine Plattform für gemeinsames Handeln zu entwickeln. Die politisch Verantwortlichen, die die Studie mit finanziellen Mitteln gefördert hatten, nahmen die Herausforderung an. Die Staatssekretäre der beiden Ministerien präsentierten im Rahmen einer Pressekonferenz die Ergebnisse der Studie und versprachen, im Hinblick auf ein Landesprogramm aktiv zu werden. Ein Ergebnis dieses politischen Prozesses war die Durchführung des von der ASSITEJ gestalteten Symposions »Theater und Schule. Eine Studie! Ein Modell?«. Im Januar 2008 wurden im Frankfurter Theaterhaus die Ergebnisse der Studie von Wissenschaftlern, Theatermachern, Pädagogen und Lehrern erneut diskutiert, mit dem Ziel, bildungs- und kulturpolitische Handlungsempfehlungen zu entwickeln.
Regionen als Bildungsräume begreifen In vier Arbeitsgruppen wurden unterschiedliche Aspekte der Studie erörtert. Die Aspekte und Fragestellungen sollen im Folgenden benannt werden. Theater und Schule im ländlichen Raum Diese Arbeitsgruppe diskutierte spezifische Rahmenbedingungen und Strukturen, die für den ländlichen Raum entwickelt werden müssen. • Von welchem kulturellen Selbstverständnis gehen Lehrer, Schüler, Theaterlehrer, Theaterpädagogen und Theaterkünstler aus, wenn der ländliche Raum ihr kulturelles Betätigungsfeld ist? • Wie kann man die Besonderheiten der jeweiligen Regionen und Gemeinden besonders für die Begegnung von Theater und Schule nutzen (auch landschaftliche Qualitäten und kulturelle Besonderheiten)? • Welche Projekte und künstlerische Konzeptionen sind hier geeignet? • Wie kann man im Dreieck ›Schule-Theater-Gemeinde‹ die Kulturveranstalter, Kirchengemeinden, Vereine und ortsansässige Künstler als Partner gewinnen? • Wie kann man die Partner vor Ort, die oftmals nur über wenige Qualitätskriterien verfügen, um die Kunst für und mit Kindern und Jugendlichen zu beurteilen, qualifizieren? 32
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Theater und Schule in Gemeinden mit sozialen Brennpunkten In dieser Arbeitsgruppe wurde der Frage nachgegangen, welche spezifischen Angebote und Projekte Schulen benötigen, die in Stadtteilen oder Gemeinden mit einer schwierigen Sozialstruktur liegen. Hier wurden von den teilnehmenden Lehrern Hilfen bei der Suche nach geeigneten Theaterpartnern gefordert, damit auf die konkreten Bedürfnisse der jeweiligen Schule und ihr Umfeld eingegangen werden kann. Theater an Hauptschulen Die Arbeitsgruppe machte sich zur Aufgabe, den Diskurs der Tagung auf den Sonderfall Hauptschule anzuwenden, damit auch Hauptschüler, insbesondere Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, Theater erleben können. Besonders beleuchtet wurden Theatervorstellungen für Hauptschüler, deren Themen, Formate und die ergänzenden theaterpädagogischen Aktivitäten. Diskutiert wurde vor allem die Frage nach der Erweiterung des Theaterbegriffs, der Einbezug ›theatraler Popularkulturen‹ und die entsprechenden Aktivitäten im Rezeptionsbereich sowie im theaterpädagogischen Bereich. • Wie kann bei Hauptschülern eine Zuschaukultur entwickelt werden? • Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, damit diese Schüler den Theaterbesuch als einen gewohnten und vertrauten Vorgang empfinden? • Wie können hier Traditionen und Standards entwickelt werden und wie die Erfahrungen mit dem Besuch anderer Veranstaltungen und Kulturinstitutionen wie Museum, Kino und Konzert vernetzt werden? • Welche theaterpädagogischen Methoden in Kombination mit musikund medienpädagogischen Methoden im Unterricht sowie in der AGStruktur müssen hier entwickelt werden und welche spezifischen Bedingungen, Methoden und Anforderungen einer theater- und medienpädagogischen Arbeit in der Sekundarstufe I – vor allem in Haupt-, Real- und Gesamtschulen müssen berücksichtigt werden? Organisationsstrukturen und Kooperationen Im Mittelpunkt stand in dieser Arbeitsgruppe die Frage danach wie im ländlichen Raum Modelle zur Beteiligung der Kommunen an der Gastspielförderung entwickelt werden können. • Wie muss ein regionales Modellprojekt zur Erprobung und Demonstration der vorgeschlagenen Fördermechanismen strukturiert sein, damit es auch anderen Regionen Anregung geben kann? • Wie kann man freie Gruppen vernetzen, deren Angebote bündeln und effektiver verbreiten? • Wie können die Informationen über Theaterangebote, Organisation 33
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und Förderung von Gastspielen und Besuchen flächendeckend strukturiert werden? Wie kann die kulturelle Profilbildung an Schulen gefördert werden? Wie kann die Theaterpädagogik ausgebaut werden, sowohl an den freien Theatern wie auch an den großen Häusern?
Besonders erfreulich war das große Interesse der Lehrerschaft. Daher war es (neben den kulturpolitischen Impulsen) mit Sicherheit ein Verdienst des Symposions, dass sich die Vertreter von Theater und Schule besser kennen lernen und Vorurteile abbauen konnten. »Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sind immer einzelne Personen: der Lehrer, der die Theaterbegeisterung in der Schule verbreitet, die Lehrerin, die mit ihrer Klasse an einem Theaterprojekt teilnimmt […]. Diese Einzelnen sind es, die als Türöffner in die Institution Schule wirken. Hier ist vieles möglich. Aber nur wenn diese Einzelnen den Rückhalt in ihrem Kollegium herstellen können, gelingt eine weitergehende Zusammenarbeit auf breiter Basis.« (Freiling 2007: 43)
Theater und Politik. Auf dem Weg zu einem Landesprogramm Die Ergebnisse der Studie, des Symposions und der ministeriellen Arbeitsgruppe mündeten in einen von allen Verbänden getragenen Aktionsplan, der einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu einem Landesprogramm darstellte (siehe Anhang). 2008 unterbreitete die ASSITEJ im Diskurs mit allen Beteiligten Vorschläge für ein Landesprogramm Theater und Schule in Hessen. Förderung von Theaterbesuchen in Schulen und Kindereinrichtungen Die Möglichkeiten für Schulen und Kindergärten, Theater in ihre Einrichtungen einzuladen, sollte finanziell gefördert werden (Übernahme von 50 % der Gage). Die Kosten für Vor- und Nachbereitungen der Stücke durch Theaterkünstler oder Theaterpädagogen müssen übernommen werden, sie sind Bestandteil der Gage. Förderung der Fahrtkosten Die entstehenden Fahrtkosten von Schulklassen aus dem ländlichen Raum, die eine Theaterauff ührung im Nachbarort oder in städtischen Regionen besuchen wollen, sollten übernommen werden. Förderung einer Veranstaltungsreihe für Schulen Eine Gastspielreihe im ländlichen Raum in Kooperation mit Schulen, Kommunen und Gemeinden sollte etabliert werden. Die entstehenden Kosten 34
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sollten zwischen dem Land Hessen und den Kommunen und Gemeinden aufgeteilt werden. Förderung von Schulen, die kontinuierlich mit Theatern zusammenarbeiten Schulen, die im Rahmen des Landesprogramms »Theater und Schule« kontinuierlich mit Theatern zusammenarbeiten, sollten bevorzugt behandelt werden. Hier sollte ein Bonussystem für diese Schulen eingeführt werden. Förderung von Aktionstagen Theater und Schule Die Durchführung eines Aktionstages/Theatertages in allen Schulamtsbezirken (15) einmal pro Schuljahr dient der Information über vorhandene Angebote und dem Austausch von Schülern, Lehrern und Eltern mit den Theatern. Förderung eines Pilotprojektes in einer ländlichen Region Das Modellprojekt dient der Strukturentwicklung im ländlichen Raum. Eine nachhaltige Partnerschaft zwischen Theatern und Schulen kann nur entwickelt werden, wenn eine Brücke zwischen Theaterbesuch und Theaterspiel gebaut wird. Die Partnerschaften müssen langfristig (mindestens über zwei Jahre) geknüpft werden, um nachhaltig zu wirken.12 Eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit einer Hochschule ergänzt das Projekt. Förderung nachhaltiger Strukturen der Zusammenarbeit von Theatern und Schulen Ein wesentlicher Aspekt für das Gelingen eines Netzwerkes von Theaterkünstlern, Theaterpädagogen und Theaterlehrern für Schulprojekte ist die professionelle Organisation der Zusammenarbeit von Theater und Schule. Es sollte zur Normalität werden, dass die Angebote der Theater von den Lehrern verantwortungsvoll wahrgenommen werden und produktiv zum integralen Bestandteil des schulischen Lebens werden. Dazu gehört auch die beidseitige Verständigung über die jeweiligen Kompetenzen sowie die Fortbildung von Lehrern zur Einbeziehung von Theater in den Unterricht. Für die Professionalisierung sollten Netzwerke aufgebaut werden. Diese Netzwerke benötigen verbindliche Ansprechpartner von Seiten der Theater und von Seiten der Schulen. Eine Rahmenvereinbarung mit dem Land Hessen, die verbindlich die Zusammenarbeit von Theater und Schule regelt, sollte abgeschlossen werden.
12. Das Pilotprojekt wurde für die Region Fulda konzipiert.
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Förderung einer Beratungsstelle Theater und Schule Hierzu ist die Benennung von Kulturbeauftragten an Schulen sowie die Benennung eines Koordinators von Seiten der Theater notwendig. Die ASSITEJ übernimmt für einen Zeitraum von zwei Jahren die Koordination und Beratung für die Theaterseite. Insbesondere für den Ganztagsschulbereich ist eine gemeinsame Konzeptentwicklung von Theaterkünstlern, Lehrern und Theaterpädagogen unabdingbar. Hierzu gehören auch Mitbestimmungsrechte für Theaterkünstler und Theaterpädagogen, die regelmäßig in der Schule arbeiten. Darstellende Kunst in der Lehrer-, Aus- und Weiterbildung Lehrer sollten mit der Dramatik, den Themen, Stoffen und Spielweisen des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters sowie mit Ansätzen der Rezeptionsforschung bekannt gemacht werden. Darüber hinaus sollen theaterpädagogische Arbeitsweisen erkundet und erprobt werden. Perspektivisch sollten Kinder- und Jugendtheaterhäuser bzw. Kinderund Jugendkulturzentren als öffentliche Orte der kulturellen Begegnung von Jung und Alt auch im ländlichen Raum etabliert werden.
Ein Projekt und seine Folgen Über die Zusammenarbeit von Theater und Schule ist – nicht nur in Hessen – schon viel geredet worden. Der »kulturelle Schulrucksack« ist auch für Hessen gepackt.13 Die Politik reagierte parteiübergreifend positiv auf die Vorschläge für ein Landesprogramm. Erste Erfolge sind zu verzeichnen: 2009 startet eine Gastspielreihe mit theaterpädagogischer Begleitung für Schulen im ländlichen Raum und für Schulen, die bislang wenig Kontakt zu Theatern hatten: 50 Auff ührungen plus 50 theaterpädagogische Vor- und Nachbereitungen. Der Schwerpunkt der theaterpädagogischen Begleitung liegt auf neuen Formaten der Kunstvermittlung. Ein Auswahlgremium bestehend aus Theaterlehrern, Theatermachern und Veranstaltern wählt die Inszenierungen der Veranstaltungsreihe für Schulen aus. Einbezogen in das Netzwerk werden auch die ortsansässigen Kulturveranstalter und die Gemeinden. Die ASSITEJ koordiniert, berät und begleitet die Veranstaltungsreihe. Die Veranstaltungsreihe soll vor allem auch längerfristige Partnerschaften von Theatern mit Schulen im ländlichen Raum anbahnen und startet mit einem Aktionstag. Weitere Aktionstage 13. Der Begriff »kultureller Schulrucksack« beschreibt die Förderung der Zusammenarbeit von Theater und Schule in Norwegen. Auch in NRW wurde eine Initiative »Kultureller Schulrucksack« gestartet.
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für Lehrer und Veranstalter über die »Kunst des Zuschauens« und über Rezeptionsforschung flankieren die Veranstaltungsreihe. Im Umfeld der Studie sind weitere Projekte entstanden, so etwa das TUSCH-Projekt Rhein-Main. Es wurde vom Schultheaterstudio Frankfurt ins Leben gerufen, Erfahrungen aus dem ersten TUSCH-Jahr liegen bereits vor. Auch das Projekt des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland, das Schulen eine Zusammenarbeit mit Theaterautoren ermöglichen soll, entstand in diesem Kontext. Die hessischen Theaterfestivals »Starke Stücke Rhein-Main«, »Theater sehen und Theater spielen« in Marburg und das Festival »Kaleidoskop« im ländlichen Raum bieten den Schulen die Möglichkeit Theater aus ganz Deutschland und Europa zu sehen. Die hessischen Stadt- und Staatstheater haben ebenfalls ihr Angebot für Schulen erweitert. Längst sind noch nicht alle Initiativen finanziert und vernetzt. Aber ein Anfang ist gemacht und auch der politische Wille, ein Landesprogramm Theater und Schule langfristig zu etablieren, ist erkennbar. Dies ist auch ein Signal für andere Bundesländer, hier tätig zu werden.
Literatur ASSITEJ (Hg.) (2007): Studie ›Theater und Schule in Hessen‹. Eine Umfrage der ASSITEJ e.V. Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main: ASSITEJ. Böhnisch, Siemke (2005): »Theater im kulturellen Schulrucksack. Grundversorgung mit Gegenwartskunst in Norwegen«. In: IXYPSILONZETT 1, Berlin: Theater der Zeit, S. 4-7. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1980): Modellversuch »Künstler und Schüler«. Abschlussbericht, Bonn. Deutscher Bundestag (2008): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg: ConBrio Verlagsanstalt. Freiling, Susanne (2007): »Partnerschaft zwischen Theater und Schule – Am Beispiel Theaterhaus Frankfurt«. In: Karl Ermert (Hg.), Kulturelle Bildung und Schule – Netzwerke oder Inseln? (Wolfenbütteler AkademieTexte 28), Wolfenbüttel: Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, S. 41-45. Hentschel, Ulrike (2007): »Theaterspielen als ästhetische Bildung«. In: Gerd Taube, Kinder spielen Theater, Milow: Schibri, S. 88-102. Länderarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendtheater Südwest (Hg.) (2004): Marburger Initiative Theater und Schule, Download: www.thea
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terundschule.net/cms/images/pdf/Marburger_Initiative_Theater_ Schule.pdf, verifiziert am 30.1.2009. Länderarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendtheater Südwest in der ASSITEJ (Hg.) (2006): Wie wäscht man einen Elefanten? Mit Schülern mit Spaß ins Theater gehen: Ideen, Texte und andere Ermutigungen für eine erfreuliche Begegnung mit dem Theater, Frankfurt am Main: ASSITEJ. Schneider, Wolfgang (2005): Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zur Theorie und Praxis, Hildesheim: Olms. Seelmann-Eggebert, Guido (2005): »Ganztagsschulen in Hessen zwischen Anspruch und Wirklichkeit«. In: Stefan Appel/Harald Ludwig/Ulrich Rother/Georg Rutz (Hg.), Jahrbuch Ganztagsschule. Schulkooperationen 2006, Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 54-64. Vaßen, Florian (2005): »Ganztagsschule – Den ganzen Tag Theater? Perspektiven und Probleme der Ganztagsschulen«. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 46, S. 6-10. Zentrum für Kulturforschung (Hg.) (2007): Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule. Eine aktuelle empirische Bestandsaufnahme von Susanne Keuchel, Bonn: ARCult media.
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Theater und Schule … ist kulturelle Bildung. Postulate und Programme Wolfgang Schneider
»Erwachsenwerden ist eine gewaltige Herausforderung. In einer Welt immer größerer Komplexität, wachsender Datenflut und zunehmender Zerstreuungsangebote bedürfen unsere Kinder und Heranwachsenden vieler Möglichkeiten, eine Orientierung zu finden. Dies auch mit Mitteln der Kunst«, schreibt Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Staatssekretär für Kultur in Nordrhein-Westfalen, in seinem Grußwort zum Kinder- und Jugendtheater-Treffen NRW. (Grosse-Brockhoff 2006) Kunst als Mittel zum Zweck? Kulturpolitik macht Bildungspolitik? Theater für junge Zuschauer als Fortsetzung von Schule mit anderen Mitteln? Die Argumente heutzutage, insbesondere Kunst für Kinder zu begründen, um vor allem ihre Förderung zu legitimieren, sind sicherlich ehrenwert; denn wer wollte nicht, dass den sogenannten Heranwachsenden auch im Theater Orientierung gewährt werden sollte. Und sie liegen im Trend der Zeit. Bildung ist zu einem Gut gereift, das in der Gesellschaft positiv konnotiert wird. Nach dem schlechten Abschneiden der Deutschen bei Internationalen Schulleistungsvergleichen lässt sich mit Bildung gesellschaftspolitisch argumentieren. Kein Wunder also, wenn auch die Kultur sich dieses Phänomen zu Nutze macht. Wege zur Kultur für Kinder und Jugendliche beschreibt zum Beispiel eine Initiative der Kulturstiftung der Länder, die mit Kongressen und Wettbewerben »Kinder zum Olymp« führen will. Das Motto steht für die Einsicht, »dass durch frühzeitige Heranführung an die bildenden Künste, an die Musik und an das Theater aus Kindern und Jugendlichen rundum gefestigte, kreative und innovationsfreudige Menschen werden können, die in der Lage sind, die Werte unseres kulturellen Erbes als Bereicherung ihres Lebens zu erkennen«, formuliert es die Kultursenatorin 39
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der Freien und Hansestadt Hamburg, Prof. Dr. Karin von Welck, in der Publikation zum Projekt. (von Welk 2004) Das hat zwar, so wie es die ehemalige Stiftungsgeneralsekretärin gerne hätte, bisher noch niemand nachweisen können, aber es spricht auch nichts dagegen, es zu behaupten. Ganz falsch kann die Begegnung mit den Künsten nicht sein, ob erfolgreiche Kulturvermittlung aber immer bessere Menschen zur Folge hat, bleibt ungeklärt. Fakt ist, dass über das Verhältnis von Kultur und Bildung nachgedacht wird, Fakt ist aber auch, dass es vornehmlich die Künste selbst sind, die eine Beziehungspartnerschaft reklamieren. Denn in der Reformdebatte der institutionalisierten Bildung kommt Kunst nur allzu selten vor. In den Konzepten zur Ganztagsschule finden sich keinerlei Ansätze, die kulturelle Bildung auszuweiten, zu ergänzen oder gar neu zu justieren. Der Fächerkanon bleibt in diesem Bereich konstant; Kunsterziehung und Musik werden mehr schlecht als recht gewürdigt, vom flächendeckenden Lehrplan für Darstellendes Spiel oder gar von einem Fach Theater ist man meilenweit entfernt. Bleibt also der Blick auf die Programmatik der Kulturinstitutionen und ihre neue Ausrichtung auf Bildungszusammenhänge insbesondere im Theater.
Der »Bildungsauf trag« hat Tradition Erste Feststellung: So neu ist da gar nichts! Vor kurzem feierte das Theater der jungen Welt in Leipzig seinen 60. Geburtstag – ist also Deutschlands ältestes Kinder- und Jugendtheater – und präsentierte das wohl erste Kinderstück in deutscher Sprache, Christian Felix Weißes »Der Geburtstag«, das vor mehr als zweihundert Jahren aus der Feder des Zittauer Schulmeisters und »Kinderfreundes«, wie seine damalige Zeitschrift hieß, entstanden ist. Die sogenannten ›Dramuletten‹ dienten der häuslichen Erziehung des gebildeten Bürgertums und waren Instrument der moralischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Ihre lasterhaften Figuren bedürfen zur Überwindung ihrer Fehler und Schwächen selten der willkürlichen Strafen eines Lehrers; sie kehren meist freiwillig, aufgrund eigener Einsicht, auf den Pfad der Tugend zurück. Auch die Institutionalisierung des Kinder- und Jugendtheaters im 20. Jahrhundert in der frühen Sowjetunion lässt sich von der meist unglücklichen Nähe zur Volksbildung ableiten. Und erst in der Wendezeit der DDR wurde in den Häusern in Halle, Dresden, Leipzig, Berlin und Magdeburg die Theaterkonzeption »Beziehungen anstelle von Erziehung« gepflegt. Doch auch in der alten Bundesrepublik und insbesondere in West-Berlin hatte Kinder- und Jugendtheater lange Zeit einen »Bildungsauftrag«. Erfinder der sogenannten Vor- und Nachbereitungen von Theaterauff ührungen für ein junges Publikum war das 40
Theater und Schule ... ist kulturelle Bildung
Grips Theater, das mit Materialienbänden die Themen der dramatischen Werke für den Lehrplan auf bereitete. Die Stücke wurden auf ihre Brauchbarkeit für das schulische Curriculum hin untersucht, Vorschläge für die Gestaltung des Unterrichts sollten der Vertiefung des theatralen Stoffes dienen. Die Methode verselbständigte sich zunehmend. Die Epigonen des erfolgreichsten Kinder- und Jugendtheaters fielen vor allem in den 1980er Jahren durch die Funktionalisierung des Theaters auf: Prävention und Prophylaxe bestimmten das Traumpaar Jugendtheater und Jugendschutz; Aids, Sucht und Gewalt waren die Themen, die auf der Bühne verhandelt wurden. Theaterästhetik wurde gelegentlich durch sozialarbeiterische Fachkompetenz ersetzt, Theater verkam zur Mogelpackung, da es suggerierte, mit der dramatischen Kunst, die Welt verändern zu können. Diese Erscheinungsformen gab und – der Markt will es – gibt es. Aber davon soll hier nicht weiter die Rede sein. Vielmehr geht es um die zeitgenössische Praxis des Kinder- und Jugendtheaters, die gemäß ihres Anspruchs Theaterkunst auch als Bildungsangebot verstehen muss.
Theater und Schule – eine unheilige Allianz? Schule benutzt Theater zur Lehrplanbegleitung, Theater reduziert Schule zum Zuliefererbetrieb. Wir wissen alle, dass das so nicht stimmt. Und doch: Lehrer sind die wichtigsten Multiplikatoren der Theater, die Schüler das Hauptpublikum. Lehrer stellen deshalb auch Forderungen an Theater, nehmen teilweise sogar Einfluss auf die Spielplangestaltung und mischen sich meistens pädagogisch ein, wenn diese oder jene Inszenierung missfällt. In den schlechtesten Fällen boykottieren sie Theater. So hat sich in der jüngsten Geschichte des Theaters für Kinder und Jugendliche in Deutschland eine Art Hassliebe zur Schule entwickelt. Andere sprechen von Notgemeinschaft, um den Schülern wenigstens durch Theaterbesuche Kunst und Kultur nahe zu bringen. Doch dieser Ansatz ist oft zum Scheitern verurteilt. Theaterzwang weckt Aggressionen. Und ein Lehrer, der den Theaterbesuch als Freistunde einschätzt, als Freizeitveranstaltung nutzt oder gar ohne viel Arbeit zu haben, damit den Wandertag füllt, braucht sich über das Verhältnis seiner Schüler zum Theater nicht zu wundern. Und so verkommen die Fragen der Kunst zu Fragen der Disziplin im Theater. Nicht selten spielen Schauspieler und Publikum dann gegeneinander. Und das kann wahrlich nicht im Sinne des Erfinders sein. Also schuf man die Theaterpädagogen. Sie bereiten alle und alles vor und nach. Sie durchforsten die Lehrpläne nach Anknüpfungspunkten, behaupten steif und fest, dass im Literaturunterricht auch dramatische Literatur und auch noch dramatische Kinderliteratur Platz haben könnte, kurz41
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um, sie schlagen zurück und mischen sich in die Schule ein. Die Theaterpädagogen erklären Theater, wo das Theater keiner Erklärung bedarf. Sie haben aber noch eine andere Chance, unsere Theaterpädagogen. Um Schüler für Theater zu begeistern, können sie sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie laden ein hinter die Kulissen, heben den Vorhang und öffnen das Theaterhaus. Führungen zum Schnürboden, durch die Werkstätten, in die Garderoben und unter die Bretter, die die Welt bedeuten sollen, lassen Faszination beim potentiellen Abonnentenpublikum aufkommen. Und Tags darauf wird noch eine Zugabe ermöglicht, indem in der Schule die Theatermacher höchstpersönlich präsentiert werden. Hoch in der Publikumsgunst stehen natürlich die Schauspieler, schließlich können die zuschauenden Schüler nur sie auf der Bühne kennen lernen. Die Schauspieler zum Anfassen, wie der Bäckermeister oder der Kraftfahrzeugmechaniker, den man auch schon zu Gast hatte. Wer von Seiten der Schüler nun angebissen hat, den werben die Theaterpädagogen für den Jugendclub des Theaters ab. Wie viele engagierte Deutschlehrer, die in mühevoller Kleinarbeit die AG für Darstellendes Spiel auf bauten, haben sich schon über die Konkurrenzunternehmungen der Theater beschwert? Das Theaterspiel in der Schule soll es ja mittlerweile auch schon in einigen Bundesländern als Fach geben. Aber was kann die Schule eigentlich in Sachen Theaterspiel gegen das Theater selbst ausrichten? Es soll Theater geben, die tatsächlich behaupten, dass sie nicht nur mehr vom Theater mit Schauspielern sondern auch mehr vom Theater mit Schülern verstehen. Das war die Geburtsstunde des Jugendclubs! Und die gehen mittlerweile sogar so weit, dass sie Theater spielen wie die Profis, Produktionen produzieren und ein Stück inszenieren, das dann viele Abende (und kaum Vormittage!) gezeigt wird. Es sind oft die für das Theater preiswertesten Vorstellungen, denn Schüler können ja nicht wie Schauspieler bezahlt werden, aber Zuschauer können auch für den Jugendclub Einnahmen erbringen und die Statistik puschen.
Theaterkunst als kulturelle Bildung Es soll ja aber auch aufgeschlossene Menschen geben, die sich in gegenseitiger Achtung weder Theater noch Schule madig machen. Die einen, aus dem Theater kommend, schätzen die prozessorientierte Theaterarbeit in der Schule und die Rückmeldungen zur eigenen Arbeit von den Schülern, die ein ernst zu nehmendes Publikum hier und heute darstellen, auch weil es noch nicht das auserlesene Publikum ist. Die anderen, aus der Schule kommend, respektieren das Kunstereignis eines Theaterbesuchs und dessen Besonderheit, die man zwar vor- und nachbereiten kann, ohne aber 42
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Theater für die Schule zu funktionalisieren. Theater wäre dann ein Kulturzentrum, das transparent der Kunst dient. Theater könnte in vielfältiger, auch praktischer Form, Kommunikationsfähigkeit erweitern und zur ästhetischen Sensibilisierung beitragen. »Selbstverständlich ist die Kunst des Kinder- und Jugendtheaters kulturelle Bildung«, postulierte Dr. Gerd Taube beim Festakt zum Zehnjährigen des Jungen Staatstheaters Wiesbaden, »auch wenn die Künstlerinnen und Künstler dieser Vierten Sparte gerne etwas fl üchtig über diesen Begriff und das sich damit verbindende Konzept hinweggehen, um zu ihrem Eigentlichen zu kommen, der Theaterkunst für Kinder und Jugendliche. Dabei übersehen sie leicht, dass ihrer Kunst nicht nur ein kultureller, sondern auch ein Bildungsauftrag gegeben ist, und dass kulturelle Bildung mehr ist als einfach nur Kunstrezeption, weshalb sich die Macherinnen und Macher des Kinder- und Jugendtheaters in Zukunft sehr viel stärker mit jenem Konzept kultureller Bildung auseinandersetzen sollten, dem das Wechselverhältnis von künstlerischen Rezeptionsprozessen und kreativen Prozessen der Kinder und Jugendlichen zugrunde liegt. Die professionellen Kinder- und Jugendtheater verfügen über das künstlerische Potential, diese Liaison von Zuschaukunst und eigener kreativer Theaterarbeit zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen, denn sie sind sehr dicht an ihrem Publikum dran.« (Taube 2007)
Der Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland plädiert für eine neue Liaison in Sachen Kunst und Bildung. Die Kinder- und Jugendtheater könnten in der Tat Vorreiter sein einer qualitativen Erneuerung von Theaterarbeit, die vom Publikum ausgeht. Nicht die Frage, was nützt der Schule, stünde im Mittelpunkt, sondern was kann das Theater mit den Mitteln des Theaters zur Rezeption von Theater beitragen. Das wäre Bildung genug, wenn, ja wenn an der Schnittstelle von Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik tatkräftig Strukturen geschaffen würden. Auf bundespolitischer Ebene böte sich zum Beispiel das Kinderund Jugendhilfegesetz an, in dem Kunst und Kultur zu zentralen Kategorien erhoben und Ästhetische Bildung zum Schwerpunkt des Auftrags definiert werden könnte. Auch die Gesetze für Kindertagesstätten und Schulen könnten Kulturelle Bildung besonders herausstellen. In Dänemark gibt es ein Schulgesetz, das es den Schülern ermöglicht zwei Mal im Jahr ein Theater zu besuchen, in Schweden gibt es hierzu einen Erlass des Kultusministeriums, in Israel ist ästhetische Bildung auch im Kulturministerium institutionalisiert. »Der kulturelle Schulrucksack« propagiert ein umfangreiches Kulturangebot in Norwegen. Der metaphorische Titel des Programms für kulturelle Bildung in Norwegen will darauf verweisen, dass alle Kinder 43
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einen sinnbildlichen Rucksack mit Kunst und Kultur in ihre Zukunft mitnehmen können. Ästhetische Früherziehung ist Kulturauftrag in Italien, Frankreich und Belgien. Gefördert werden Künstler in Kinderkrippen. Spielerisches Lernen und Lernen mit ästhetischen Vorgaben sind dabei die wesentlichen Methoden. Die Frage nach der besseren Berücksichtigung der Interessen von Kindern und Jugendlichen in den kulturellen Angeboten kann meiner Meinung nach aber nicht nur quantitativ beantwortet werden, sondern muss die Qualität der kulturellen Angebote beachten. Insofern kann eine Verpflichtung der aus öffentlichen Mitteln geförderten Kulturträger zur stärkeren Beachtung der Interessen von Kindern und Jugendlichen nur der Anstoß zur intensiveren Auseinandersetzung mit den Belangen und den Prinzipien kultureller Bildung darstellen. »In anderen Ländern sind Theaterbesuche selbstverständlicher Bestandteil der Rahmenpläne der Schulen. Ich fordere dies seit 35 Jahren«, echauffierte sich das Kinder- und Jugendtheater-Urgestein, Volker Ludwig aus Berlin, anlässlich der Verleihung des deutschen Theaterpreises »Faust« Ende 2008, »und ernte dafür seit 35 Jahren Gelächter. Es ist ein Skandal!« Der Erfinder und Leiter des Grips Theaters hat Recht. Theater und Schule sind füreinander da; denn Theater kann Schule des Sehens sein.
Theater braucht Substanz, Br isanz und Relevanz Wie es auch immer mit der Philosophie begonnen haben mag, denkbar wäre, dass diejenige Person, die als erste Philosophin oder erster Philosoph gelten könnte, den Fuß an einen Stein stieß und dass dieser Unfall zu folgenden Fragen motivierte: Warum liegt der Stein hier herum oder warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Warum ist der Stein so hart und was ist das Wesen dieses Steins? Warum bin ich davor gelaufen, bzw. wie sollte ich eigentlich handeln? Stimmt was mit meinen Augen nicht, oder was ist Hinsehen überhaupt? Wir wissen nicht, wie diese Frage damals philosophisch beantwortet wurde, doch sicher ist auch, dass nicht jeder, der hinsieht, auch etwas sieht. Denn sehen ist wahrscheinlich auch immer übersehen, versehen und absehen. Hinsehen, so könnte man unterstellen, ist als solches der Versuch, so wahrzunehmen, dass der transparente Sehraum das intransparente Gesehene deutlich werden lässt. Was natürlich die Frage aufwirft, wie man sehen muss, um sehen zu können. In Zeiten der Zeichen, die massenhaft auf uns einstürzen, macht es Sinn, das Sehen zu schulen. Und die beste Methode scheint noch immer die zu sein, Interesse für das zu Sehende zu wecken. 44
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Das Theater bietet die Möglichkeit, das Sehen einzubinden in einen Kommunikationsprozess, der zwischen Schau-Spielern und ZuschauSpielern die Zeichen der Zeit kodiert und dekodiert. Voraussetzung ist allerdings, dass das Theater interessant genug ist, vielleicht sogar neugierig macht, vor allem aber etwas Bedeutsames zu bieten hat. Es braucht ein Motiv, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die nicht oberflächlich bleibt, sondern den Zuschauer bewegt, an- und umtreibt. Es braucht Motivation, ein »Sich-gegenseitig-Bedingen« wie es die Psychologie definiert. Es braucht, Brisanz und Relevanz, um sich angesprochen zu fühlen, um sehen zu können, sich Gedanken zu machen. Zur Entwicklung eines differenzierten Wahrnehmungs- und Urteilsvermögens kann das Theater für Kinder und Jugendliche ebenso beitragen wie zur künstlerischen Geschmacksbildung, indem es mit seinen mehrdimensionalen, dichterischen Bildern sinnliches Anschauungsmaterial liefert. Allein die Bedeutung, die der Geschichte und ihrer dramatischen Darbietung beigemessen wird, kann dazu beitragen. »Es gibt nach meiner Erfahrung überhaupt nur eine verbindliche Forderung an Stücke bzw. Inszenierungen für das Kindertheater, und das ist die nach abgründigen Geschichten, also nach Geschichten, die bis an den Abgrund gehen, die Konflikte nicht bagatellisieren, beschwichtigen, wegkuscheln, sondern in ihrer existentiellen Tragweite den Kindern zumuten.« Die frühere Professorin für Theaterpädagogik an der Universität der Künste in Berlin, Kristin Wardetzky, schreibt dazu: »Das Leben der Kinder ist kein Spaziergang durch ein Paradiesgärtlein. Es kann die Hölle sein – und wenn man Kinder im Theater nicht betrügen will, dann gehört die Hölle auf die Bühne. Wenn das Kindertheater sich nicht scheut vor der Härte der sozialen Praxis, dann erledigen sich auch die Debatten um den Formenkanon. Kinder wollen im Theater nicht geschont werden. Sie fühlen sich erst dann wirklich ernstgenommen, wenn im Spiel auf der Bühne ihre eigenen Grenzerfahrungen sichtbar und erlebbar werden.« (Wardetzky, nach Schneider 2005)
Kulturelle Bildung für alle Die heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen unter dem Einfluss des demografischen Wandels und den Auswirkungen der Globalisierung komplexe Anforderungen an jeden Menschen. Insbesondere für junge Menschen hat das zur Folge, sich von früh an immer wieder mit der eigenen Entwicklung und Zukunftsperspektive kritisch auseinander zu setzen, immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, gegebenenfalls neue Wege zu gehen und selbst organisiert zu handeln. Für diesen 45
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Prozess brauchen junge Menschen eine starke Persönlichkeit. Diese können sie an verschiedenen Orten entwickeln: in der Familie, in der Schule, aber auch bei allen anderen Aktivitäten im Bildungssektor. Die kulturelle Kinder- und Jugendbildung ist ein solcher unverzichtbarer Bildungsort. Sie kann Kunst und Kultur vermitteln und durch sie können grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben werden: Entwicklung von Lesekompetenz, Kompetenz im Umgang mit Bildsprache, aber auch Disziplin, Flexibilität und Teamfähigkeit. Mit kultureller Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskriterien für das eigene und das Leben anderer sowie für die Relevanz des erworbenen Wissens ermöglicht. Kulturelle Bildung geht nicht in Wissensvermittlung auf, sondern ist vor allem auch Selbstbildung. Neben diesen Effekten für die Persönlichkeit des Einzelnen kann kulturelle Bildung auch eine Wirkung für die Kultur selbst haben: Sie sorgt für die Nachwuchsbildung, sowohl auf der Seite der Kulturschaffenden als auch auf der Seite der Kulturnutzer. Kulturelle Bildung trägt nicht zuletzt zur Wahrung und Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe in Deutschland bei. Kulturelle Eigenaktivität und Beteiligung sind somit entscheidende sozialisierende Instanzen und bedürfen des Schutzes und der Förderung durch nationale wie internationale Politik. Die UN-Kinderrechtskonvention formuliert zur Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben im Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention folgendes: »(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben. (2) Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung.«
Deutschland hat sich aufgrund seines Verständnisses als Kulturstaat zur Aufgabe gemacht, kulturelle Bildung unter den besonderen Schutz und die kontinuierliche Förderung des Staates sowohl auf Bundes- wie Länderebene zu stellen. Die Rahmenbedingungen sind geschaffen, aber die Umsetzung ist problematisch: Kulturelle Partizipation, ob produktiv oder rezeptiv, ist nicht für alle jungen Menschen gleichermaßen zugänglich. Hier gilt es, mehr zu tun! Wie kann es aber gelingen, Chancengerechtigkeit für alle Kinder und Jugendlichen auch im Sinne des »Bürgerrechts Kultur« stärker umzusetzen? Die allgemeinbildende Schule (Primarstufe und Sekundarstufe I) ist die einzige Einrichtung im Bildungswesen, die alle jungen Menschen er46
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reichen kann. Sie ist diejenige Institution, die einen für alle verbindlichen und verlässlichen Grundstein Kultureller Bildung für junge Menschen legen kann. Aus diesem Grund wäre für die Einführung eines Lernbereichs »Kulturelle Bildung« zu votieren.
Plädoyer für einen Lernbereich »Kulturelle Bildung« Der Lernbereich »Kulturelle Bildung« soll aus bildungs- und kulturpolitischer Perspektive mit dem Ziel eingeführt werden, die Idee einer »Kultur für alle« in der allgemeinbildenden Schule als zweiter Sozialisationsinstanz verbindlich umzusetzen. Er soll ein Gegengewicht zu den so genannten PISA-Fächern bilden und Kultur als gleichwertigen Part in der Schule verankern. Er versteht sich explizit nicht als Gegenmodell zur außerschulischen kulturellen Bildung, sondern als Erweiterung und Unterstützung der gleichen Anliegen und Ziele. Durch die Einführung dieses neuen Lernbereichs soll zum einen die Bedeutung der Künste für die allgemeine Bildung des Menschen unterstrichen und zum anderen der Konzentration auf einzelne Kunstsparten entgegenwirkt werden. Durch den Lernbereich »Kulturelle Bildung« erhalten alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen einen Zugang zu Kunst und Kultur. Sie bekommen einen spartenübergreifenden Einblick in deren Produktion und Rezeption. Sie lernen das kulturelle Erbe Deutschlands in allen seinen Facetten auch im Zuge der Entwicklungen der Globalisierung kennen und reflektieren. Der Lernbereich »Kulturelle Bildung« trägt dazu bei, dass die jungen Menschen bereits von früh an eigene künstlerische Interessen und Stärken entdecken und ausbilden können. Die langjährigen Erfahrungen kultureller Bildungsarbeit zeigen, dass sich die Beschäftigung mit Kunst und Kultur auf die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen insgesamt auswirkt: Ihre Eigentätigkeit wird angeregt, ihre Wahrnehmungsfähigkeit geschult und wichtige Schlüsselkompetenzen gefördert. Künstlerische und kulturelle Prozesse reflektieren zu lernen bedeutet auch, sich und seine Umwelt, seine Zukunft und Vergangenheit bewusst und kritisch in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne ist der Lernbereich »Kulturelle Bildung« ein wichtiger und unverzichtbarer Teil allgemeiner Bildung. Der Lernbereich »Kulturelle Bildung« vermittelt Kunst und Kultur in Produktion, Rezeption und Reflexion. Er gibt den Schülern einen theoretischen Einstieg in die verschiedenen Kunstsparten (Baukultur, Bildende Kunst, Film, Fotografie, Literatur, Medien, Musik, Tanz, Theater, Zirkus), deren Geschichte und ihre Bedeutung für das kulturelle Erbe. Die Fächer Musik und Kunsterziehung bzw. Darstellendes Spiel werden zum inte47
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gralen Bestandteil des neuen Lernbereichs »Kulturelle Bildung«. Es wird besonders darauf zu achten sein, dass die jeweilige Spezifi k und Fachlichkeit der einzelnen Kunstsparten ebenso wie ihre Gemeinsamkeiten herauszustellen und zu erhalten sind. Zugleich qualifizieren sich die Schüler praktisch für eine von ihnen freiwillig ausgewählte Kunstsparte. Für die Einsetzung dieses neuen Lernbereichs wird ein pädagogisch tragfähiges und hinsichtlich der Umsetzung realistisches Konzept zugrunde gelegt. Seine Inhalte werden curricular verankert, eine fachspezifische Methodik und Didaktik erarbeitet und geeignete Lehr- und Lernmittel entwickelt. Der Lernbereich »Kulturelle Bildung« wird von Fachkräften vermittelt, die für einzelne Kunstsparten qualifiziert sind und sich für die »Kulturelle Bildung« weitergebildet haben und permanent weiterbilden. Diese »Kulturlehrer« arbeiten nach den Prinzipien kultureller Bildungsarbeit: Freiwilligkeit, Stärken- und Prozessorientierung, wobei sie eng mit den Fachkräften, Einrichtungen und Trägern außerschulischer kultureller Kinder- und Jugendbildung kooperieren. Es bietet sich an, »Kulturelle Bildung« mit anderen Lernbereichen zu verzahnen, sie soll aber einen vergleichbaren Umfang wie Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen einnehmen. »Kulturelle Bildung« findet daher auch an mehreren Schultagen und nicht nur am Nachmittag statt. Im Rahmen von Ganztagsschulen kann das Angebot entsprechend ausgeweitet werden. Bildung und Kultur bedürfen, neben der Förderung durch die einzelnen Länder, der Förderung durch den Bund. Durch die Einrichtung des Lernbereichs »Kulturelle Bildung« kann die, bereits im nationalen Aktionsplan »Für ein kindgerechtes Deutschland 2005 bis 2010« des Bundesjugendministeriums geforderte, Chancengerechtigkeit durch Bildung und Zugang zur Kultur für alle jungen Menschen in Deutschland aktiv unterstützen. Zu diesem Zwecke sollte der Bund die Länder durch ein »Impulsprogramm für kulturelle Bildung in der Schule« sowie bundesweite Rahmenlehrpläne begleiten und unterstützen. Voraussetzungen für einen regulären Lernbereich sind: Vertretung in den Stundentafeln aller Schularten und Schulstufen, die Existenz von Lernplänen bzw. Rahmenrichtlinien, eine institutionalisierte Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung, ein fachkompetent besetztes Referat in der Schulverwaltung und eine ausreichende Ausstattung der Schulen mit Fachräumen und fachgerechter Technik. Die Länder sollen hierfür eine interdisziplinär zusammengesetzte Expertengruppe einsetzen, die die fachliche und strukturelle Entwicklung dieses neuen Lernbereichs voranbringt.
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Theater und seine Vermittlung »Im Theater treten die Künste in Wechselwirkung. Die Theaterkunst bietet dem Rezipienten vielschichtige Wahrnehmungsreize und komplexe Angebote zum Interpretieren und Entschlüsseln von körperlichen Gesten, sprachlichen Symbolen und szenischen Zeichen. Es knüpft damit an das natürliche Interesse von Kindern und Jugendlichen am Entschlüsseln und Enträtseln an und aktiviert den Zuschauer geistig. Die so geübte Zuschaukunst ist eine besondere Form des kritischen und analytischen Denkens, eine Fähigkeit, die Kinder und Jugendliche heute in Bildung und Ausbildung und später im Beruf und im Leben benötigen«, (Deutscher Bundestag 2007: 390) heißt es im Bericht der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages.
Auf dieser Grundlage gilt es, bildungs- und kulturpolitisch zu agieren. Mögen die abschließenden Postulate das Verständnis befördern, dass Theater ein zentraler Gegenstand von Schule sein kann, dass der Theaterbesuch keinen Unterrichtsausfall bedeutet, und dass dieser zusammen mit dem Theaterspiel kulturelle Bildung ermöglicht. Erstens Theater ist nicht Schule mit anderen Mitteln; Theater ist – im besten Falle – anders! Zweitens Theater für Kinder ist nicht eine Alternative am Wandertag; Kindertheater ist – im besten Falle – außerschulischer Lernort kultureller Bildung! Drittens Theater für Jugendliche dient nicht dem Jugendschutz; denn Jugendtheater ist – im besten Falle – jugendgefährdend! Viertens Theater spielen und Theater sehen sind zwei Seiten einer Medaille: Das Darstellende Spiel in der Schule und der Schulbesuch im Theater; da wächst – im besten Falle – zusammen, was zusammen gehört! Fünftens Theater braucht eine curriculare und personelle Verankerung in den Schulen! Das heißt – im besten Falle: • Einführung eines Schulfaches Theater, besser eines Lernbereichs Kulturelle Bildung; • grundständige Studiengänge für Theater und seine Vermittlung; 49
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Ausbildung aller Lehrer im Bachelor of Arts durch ein Modul Theater; Kooperationen zwischen Theatern und Schulen; Schulbudgets für Theaterbesuche und Theatergastspiele.
»Es sind insbesondere die Kinder- und Jugendtheater«, formuliert es die Enquete-Kommission, »die […] diesen Bildungsauftrag wahrnehmen und als außerschulische Lernorte in enger Vernetzung mit Schulen agieren. Es sollte zur Normalität werden, dass die Angebote der Theater von den Lehrern verantwortungsvoll wahrgenommen und produktiv zum integralen Bestandteil des Curriculums gemacht werden. Außerdem erreicht das Kinder- und Jugendtheater mit Schulaufführungen alle sozialen Schichten einer Altersgruppe und ermöglicht auf diesem Wege den chancengleichen Zugang zu kulturellen Angeboten.« (Ebd.: S448-449)
Literatur Deutscher Bundestag (Hg.) (2007): »Bericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹«. In: Drucksache 16/7000, Berlin, S. 390. Welck, Karin von (2004): »Begrüßung«. In: Kulturstiftung der Länder (Hg.), Kinder zum Olymp! Wege zur Kultur für Kinder und Jugendliche, Köln: Wienand Verlag, S. 3-4. Schneider, Wolfgang (2007): »Sondervotum ›Kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche‹«. In: Deutscher Bundestag (Hg.), »Bericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹«, Drucksache 16/7000, Berlin, S. 448-449. Schneider, Wolfgang (2006): »Wie muss man sehen, um sehen zu können? Grundsätzliche Überlegungen zur Kulturellen Bildung im Kinder- und Jugendtheater«. In: Theater der Zeit 12, S. 11-13 Wardetzky, Kristin: Zitiert in: Wolfgang Schneider (2005), Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und Praxis, Hildesheim: Olms, S. 307
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2. Theater, Schule und Kunst
Theatrale Bildung. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven der darstellenden Künste1 Eckart Liebau
Wenige Felder sind so geeignet zur Förderung von Bildung wie das Theater. Die Gründe für diese These sollen im Folgenden erörtert werden. Drei Argumentationslinien sollen skizziert werden, eine sozialisations- und qualifi kationstheoretische, eine pädagogisch-anthropologische und eine ästhetisch-bildungstheoretische. Daraus folgen einige programmatische Thesen. Ich werde mich dabei im Wesentlichen auf die produktionsästhetische Perspektive konzentrieren; es gehört ja auch zu den Ergebnissen der Hessen-Studie, dass gerade in dieser Hinsicht der Bedarf nach wie vor sehr groß ist.
Politik : Kompetenz und Kompensation Im Sommer 1997 fand in New York eine intensive Debatte über die Schulentwicklung und die Schulreform statt. Interessanterweise spielten dabei die Künste eine zentrale Rolle. Als Ziel wurde definiert, allen Schülern einen erweiterten aktiven Zugang zu den Künsten zu eröff nen. In dieser Debatte wurden die Künste nicht mehr als Luxus, sondern als zentrales Element des schulischen Lehrplans angesehen. Dabei waren es nicht 1. Der vorliegende Text ist der am 17.1.2008 in Frankfurt am Main gehaltene Vortrag und beruht in erheblichen Teilen auf verschiedenen eigenen Publikationen zum Thema (vgl. insbesondere Liebau 1992, 2005).
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Eckar t Liebau
philanthropische Motive, die dafür den Ausschlag gaben, sondern gesellschaftlich funktionale: Man erwartete von einer Stärkung der Künste eine Verbesserung der Qualifikationsleistungen der Schule, gerade auch hinsichtlich der ›Schlüsselqualifi kationen‹, und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Sozialintegration. Man hoff te also auf die ›Nebenwirkungen‹, auf Prävention gegen Drogen und Gewalt, auf bessere Gesundheit, bessere Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten, bessere Aufmerksamkeit, bessere allgemeine Lernfähigkeit. Diese Hoffnungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Mit Ich-Kompetenz, Sach-Kompetenz und Sozial-Kompetenz kann man in diesem Zusammenhang immer argumentieren. Politisch ist das sogar eine relativ starke Argumentation. Man findet sie auch im Bereich der theatralen Bildung. So finden sich z.B. im ›Theaterkapitel‹ der bereits 1990 vorgelegten Kunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg folgende Ausführungen zur Begründung der Förderung des Schultheaters: »Theaterspiel kann wie keine andere Kunstform viele Bereiche vereinigen. Es dient der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung des Schülers, indem es gleichermaßen seine rationalen wie emotionalen, intellektuellen wie kreativen, physischen wie musischen, individuellen wie sozialen Fähigkeiten fördert. Schultheater hat auch eine enge Beziehung zur Literatur, trägt zur kulturellen Entwicklung des Schülers bei und bereichert zugleich das kulturelle Angebot der Schule. In einer von raschem technologischem Wandel und von elektronischen Medien geprägten Welt gewinnt das Schultheater zunehmende Bedeutung. Es kann junge Menschen erlebnisfähiger machen, was sich positiv auf die gesamte Schulleistung und das Freizeitverhalten auswirkt. Der Schüler lernt, mit anderen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und selbstbewusst vor die Öffentlichkeit zu treten.« (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden Württemberg 1990: 34)
Die »ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung« bildet also den Begründungsschwerpunkt. Erwartet werden Qualifi kation und Kompensation: eine Argumentation in der Tradition der Aufklärung, für die Erziehung zur Mündigkeit einerseits, Erziehung zu Nützlichkeit und Brauchbarkeit andererseits im Mittelpunkt standen.
Pädagogische Anthropologie : Leiblichkeit Das ist, wie gesagt, eine politisch durchaus erfolgversprechende Argumentation. Pädagogisch bleibt sie allerdings eher unbefriedigend. Die Gründerväter der modernen Pädagogik, Rousseau und Pestalozzi, die Reform54
Theatrale Bildung. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven
pädagogen verschiedenster Provenienz, Hermann Lietz, Paul Geheeb, Rudolf Steiner, Kurt Hahn, Martin Luserke, Peter Petersen usw. – sie alle haben anders argumentiert. Pestalozzi hat das Stichwort gegeben: Kopf, Herz und Hand müssen gemeinsam gebildet werden, wenn der Bildungsprozess gelingen soll. Hartmut von Hentig hat das in moderner Sprache auf die Formel »Die Menschen stärken, die Sachen klären« (Hentig 1985) gebracht. Dazu werden die Künste, dazu wird auch das Schultheater als höchst komplexe Form der Leibeskunst gebraucht. Denn der Mensch ist nun einmal ein leibliches Wesen, das – auch bei den kühnsten abstrakten Gedanken – nicht aus seiner Haut kann, ein lebendiges, sterbliches Wesen, das zugleich auf Bewegung und auf Sozialität angelegt ist und das nur auf dieser doppelten Grundlage Kultur erzeugen und erhalten kann. Leiblichkeit klingt altertümlich, ist es aber nicht: Der Begriff macht darauf aufmerksam, dass der Mensch seinen Leib als Werkzeugleib, mit dem er arbeitet, als Sinnenleib, mit dem er wahrnimmt, und als Erscheinungsleib, mit dem er sich darstellt (Bittner 1990), wahrnimmt und gebraucht. Für die Medizin, auch für große Teile der Psychologie oder des Sports ist eine solche, leibzentrierte Perspektive eher ungewöhnlich; hier herrscht weithin das Konzept des Körpers, der Körpermaschine vor. Hier ›hat‹ der Mensch einen Körper, der ihm letztlich fremd gegenübersteht und den er nur aus der und durch die Perspektive des anderen, genauer: des dafür zuständigen Experten wahrnehmen kann: Für die Gesundheit ist der Mediziner zuständig, für die Leistung der Trainer, für Geist und Seele der Psychologe. Leiblichkeit verweist demgegenüber auf Subjektivität. Denn der Mensch ›hat‹ seinen Körper eben nicht, er ›ist‹ Leib. Es ist evident, dass das Schultheater – neben allem anderen – im Kern Leibesübung erfordert. Es geht also um die Aneignung von Fähigkeiten und Dispositionen: und zwar nicht nur als ›Grundlage‹ irgendwelcher abstrakteren Fähigkeiten, auch nicht nur zur Kompensation körperlicher Bewegungsdefizite etc., sondern als zentraler, anthropologisch eigenständiger Elemente humaner Existenz. Der Leib, der ich bin, braucht Übung, Pflege, Aufmerksamkeit, Entwicklung; das Spiel, das ich allein, vor allem aber auch gemeinsam mit anderen spielen will, braucht Zeit, Raum, Kenntnis und Übung. Darauf lässt sich eine komplexe Begründung des Schultheaters aufbauen, die insbesondere den anthropologischen Sinn des Übens betont. Das hat auch etwas damit zu tun, dass eben nicht die Sprache das Medium der leiblichen Tätigkeit und der leiblichen Erfahrung ist, sondern der Leib selbst. Auch beim Theaterspielen ist das Skript nur Voraussetzung; lebendig wird es erst durch das Spiel. Die verbale Vermittlung – und sei sie noch so reflexiv – bleibt in allen leiblichen Bereichen ganz unzureichend; die Tätigkeiten müssen getan, sie müssen bis zu einem befriedigenden Können und dann, 55
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bei komplexeren Aktivitäten, zur Erhaltung und Weiterentwicklung dieses Könnens immer wieder geübt werden. Es gibt dabei keine Obergrenze einer objektiven Perfektion, sondern nur subjektive Maße. Selbst so scheinbar einfache Tätigkeiten wie das Gehen auf der Bühne bedürfen der regelmäßigen Übung: Die Fähigkeiten und Dispositionen stecken hier eben nicht nur im Kopf, sie stecken in den Beinen und Füßen, im Bewegungsablauf, in der Atmung etc. Eine solche anthropologische Argumentation steht in bestimmter Hinsicht insbesondere in romantischer Tradition; es geht um die Entfaltung der Person. Und das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft wird eher zu Gunsten der Gegenwart entschieden.
Theaterpädagogik : Theatralität Aber auch eine solche Argumentation bleibt im Blick auf die theatrale Bildung unbefriedigend. Sie gilt für alle performativen Künste und bietet damit kein spezifisches Unterscheidungsmerkmal zur Begründung der theatralen Bildung. Aber was macht die Besonderheiten aus? Dieser Frage soll nun etwas genauer nachgegangen werden. Nicht zufällig wird dabei eine im engeren Sinne bildungstheoretische Perspektive im Mittelpunkt stehen, die auf die klassische, idealistisch-neuhumanistische Bildungstheorie rekurriert. Meine Überlegungen gehen dabei von der traditionellen systematischen Unterscheidung zwischen den drei ästhetischen Perspektiven der Produktions-, der Werk- und der Rezeptionsästhetik aus.
P RODUK T IONSÄ S THE T IK Theater ist ein zwischenleibliches Geschehen. Die Spieler nutzen ihren Leib als Werkzeugleib, als Sinnenleib, als Erscheinungsleib, als Sozialleib und als Symbolleib, also als Instrument der Handlung, der Wahrnehmung, des Ausdrucks, der Beziehung und der Bezeichnung. Sie sind und bleiben dabei sie selbst; und sie sind nicht sie selbst, sondern Schauspieler; und als Schauspieler verkörpern sie nicht sich selbst, sondern etwas anderes – meistens Charaktere. Im Schultheater sind sie dies alles zugleich als Schüler: sie tun ja nur so, als ob sie Schauspieler wären. Aber sie spielen wirklich Theater: mit einem Regisseur, der nicht Regisseur, sondern in der Regel Lehrer ist; vor einem Publikum, das ein Publikum ist, das kein (normales) Publikum ist; meist in einem Raum, der ein Theater ist, das kein Theater ist; in einer Zeit, die Auff ührungszeit ist und doch auch Schulzeit. Es sind also ziemlich viele Fiktionen im Spiel. Und alle sind gleichzeitig und real. Das will geübt sein. Das kann man nur hier üben. Das Spiel mit den Ebenen, das Spiel mit den Fiktionen, das Spiel mit den Möglichkeiten 56
Theatrale Bildung. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven
der Handlung, der Wahrnehmung, der Gestaltung, der Beziehung und den Zeichen konstituiert den schultheatralen Schwebezustand ›des Spiels und des Scheins‹, dieses Zwischenreich im Zwischenraum und der Zwischenzeit, das »dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet«, wie Schiller im 27. seiner Briefe zur Ästhetischen Erziehung ausgeführt hat: aber seine eigenen Zwänge, Regeln und Forderungen absolut rücksichtslos und im höchsten Maße anspruchsvoll zur Geltung bringt; und der daher höchst theaterspezifische Fähigkeiten und Dispositionen erfordert – um dann seine eigenen Wirkungen auf Spieler und Publikum auf nicht kalkulierbare Weise zu entfalten. Genau hier liegt der Schlüssel zur bildenden Wirkung dieses Theaters. Kunst kommt von Können. Wenn die Inszenierung, die die Selbst-Inszenierung jedes Einzelnen einschließt und erfordert, nicht stimmt, wenn die Spieler, jeder einzeln und alle gemeinsam, in der einmaligen Auff ührung nicht präsent sind, wenn die Zeichensysteme, also »Wörter, Stimmbeugung, Gesichtsmimikry, Gesten, Körperbewegungen, Haartracht, Kostüm, Accessoires, Bühnenbild, Beleuchtung, Musik und Geräusche« (Tedeusz Kowzan, nach Eco 2002: 264) nicht zusammenstimmen, kommt schwaches Theater, kommt schwache Kunst heraus. Theater ist Kunst, und Theater ist Theater, gleich, wo und von wem es gespielt wird. Und jede Form des Theaters hat seine eigene Perfektibilität, also auch das Theater in der Schule. Aber Kunst geht in Können nicht auf. Die Spieler bringen das Spiel hervor, das Spiel bringt die Spieler hervor. Was die Auff ührung mit dem Spieler macht und was sie aus ihm macht, kann er in der Probenzeit vor dem Ereignis selbst weder wissen noch gar planen. Genau das bringt ihn weiter. Bildung kommt nur, wirklich ausschließlich!, zustande durch das Wechselspiel von Ich und Welt, also durch die Wechselwirkung: Ich gestalte etwas; dieses Etwas tritt mir als Fremdes gegenüber und wirkt auf mich zurück und fordert neue Gestaltung – und immer so fort, unabschließbar. Ohne verändernden Eingriff in die Welt gibt es keine Bildung des Ich. Das Spiel tritt mir als Fremdes gegenüber, weil sein performativ und semiotisch erzeugter Sinn-Gehalt meine Intentionen und Imaginationen weit übersteigen. Damit muss ich mich auseinandersetzen. In der produktionsästhetischen Perspektive geht es darum, den Prozess der ›Erarbeitung‹ – besser wäre vielleicht von Erschließung, Erfindung, Erspielung, Erübung zu reden – als einen Bildungsprozess zu vervollkommnen, ganz im Humboldt’schen Sinn nicht nur der wechselseitigen Erschließung von Ich und Welt, sondern auch ihrer wechselseitigen Vervollkommnung. Im Zentrum steht die Suche nach der richtigen Form, die sich nur finden lässt, wenn auch alle Akteure sich auf die Ver57
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vollkommnung ihrer Form einlassen. Die Inszenierung bildet das Ergebnis dieses Suchprozesses, in dem alle Einzelheiten und ihre Verbindung auf dem Spiel stehen: Text, Bühne, Licht, Bewegung, Stimme, Kostüme etc. Im schulischen Theater kommt es dabei besonders darauf an, jeden einzelnen Beteiligten von vornherein aktiv zu beteiligen; es kann nur als gemeinsames Werk gelingen. Daher sind auch nicht nur die Bühnenakteure interessant; auch die Beleuchter, Bühnen- und Maskenbildner, Musiker, Techniker, Programmgestalter, Geldsammler, Platzanweiser, Souffleure werden gebraucht. Für alle Beteiligten müssen »Rollen« gefunden werden. Eine nach aller Erfahrung besonders schwierige Aufgabe besteht dabei in der Besetzung der Bühnenrollen. Der Konflikt zwischen individuellen Auftritts- und Erfolgswünschen und den Anforderungen des Spiels wird häufig genau an dieser Stelle virulent und kann zu dramatischen Auseinandersetzungen führen. Der entscheidende Bildungsprozess besteht hier darin, dass die selbständige Vorherrschaft des Spiels anerkannt werden muss, auch wenn das eigenen Ambitionen widersprechen mag. Für die Bühnenspieler schließlich besteht die Herausforderung darin, die für das Spiel richtige Geste, die richtige Haltung, den richtigen Ausdruck zu finden; den Maßstab bildet das immer bessere Gelingen des Spiels. Nicht der Spieler, das Spiel steht im Mittelpunkt; der Spieler ist nur interessant als Medium des Spiels. Das gilt für alle Beteiligten. Die bildende Wirkung liegt an dieser Stelle. Schultheater bietet also in produktionsästhetischer Hinsicht ein Musterbeispiel für die Tragfähigkeit und den Sinn impliziter Erziehung: Es ist immer auch ›moralische Anstalt‹ für alle Mitwirkenden; und dies ist ein notwendiger Teil seiner Dramaturgie. Aktives Theaterspiel hat also aus fünf Gründen fundamentale pädagogische Bedeutung: • Erstens eröffnet das Spiel mit den Fiktionen und den Möglichkeiten auf inszenatorischer, performativer und semiotischer Ebene höchst komplexe Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten, die nur im Theater und in keiner anderen Kunstform (und schon gar nicht in den Wissenschaften) gewonnen werden können. • Zweitens eröffnet dieses Spiel auf einer Meta-Ebene Erfahrungen mit dem Bildungsprozess selbst, also die Erfahrung der Möglichkeit von Bildung als Bildung, und das heißt zugleich: der Möglichkeit der Gestaltung von Ich und Welt in ihrer gerade nicht kalkulierbaren, kontingenten und genau dadurch bildenden Wechselwirkung. • Drittens integriert Theater als ›unreine‹ Kunstform Sprache, Musik, bildende Kunst, Video, Medien, Sport, Tanz etc. Die damit verbundene inhaltliche und kulturelle Komplexität und genuine Interdisziplinarität bietet kein anderes Schulfach. • Viertens erfordert die Kunstform Theater für ihr Gelingen eine strikte 58
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Aufgabenorientierung und damit eine Fülle unterschiedlichster Fähigkeiten und Fertigkeiten, die hier gleichsam nebenbei erworben werden und erworben werden müssen. Fünftens eröffnet die Kunstform Theater Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Spiel als einer anthropologisch und kulturell fundamentalen Dimension menschlicher Existenz. Damit kommt ihm zentrale Bedeutung für die Bildung insgesamt zu (Liebau u.a. 2005).
W ERK Ä S THE T IK Die werkästhetische Perspektive geht bekanntlich ausschließlich von den Anforderungen des Kunstwerks aus. Aber was bedeutet eine solche Feststellung im Blick auf das Theater der Schule? Was ist hier unter dem Kunstwerk zu verstehen? Worin könnte hier die mögliche Vollkommenheit bestehen? Was könnte hier ›Kunst‹ bedeuten? Lassen sich spezifische Merkmale identifizieren, an denen diese Kunst gemessen werden kann? Wiederum bietet es sich an, von der Differenz zum Profi-Theater auszugehen. Schultheater ist Laientheater; und es sind besondere Laien, die da spielen. Seine Legitimation ist durch den schulischen Rahmen bestimmt; in der Schule geht es um die Ermöglichung von Bildungsprozessen. Das hat Folgen für das Kunst- und damit auch das Werk-Verständnis. Es ist evident, dass dieses Theater in mancher Hinsicht anderen ästhetischen Aspekten folgt und folgen muss als das Profi-Theater. Denn die Ästhetik des Schultheaters folgt nicht zuletzt aus der Notwendigkeit der Inszenierung von unabgeschlossenen Bildungs- und Entwicklungsprozessen. Es sind Kinder und/oder Jugendliche, die dort auf der Bühne agieren; für sie stellt das Mitspiel eine ganz andere Herausforderung dar als für die Profis der Profi-Bühne. Die Kunst der Profi-Bühne entsteht vor dem Hintergrund der von Regie und Schauspielern zu führenden Auseinandersetzung mit der gesamten Theatergeschichte in Produktion und Rezeption; sie ist also notwendig in einem Feld voller historischer und aktueller kultureller Auseinandersetzungen verankert; und sie wäre gänzlich unprofessionell, wenn sie diesen Hintergrund nicht aktiv präsent hielte. Die Kunst des Schultheaters dagegen entsteht vor dem Hintergrund von Erstbegegnungen zwar nicht des Theaterlehrers, aber doch der meisten Mitwirkenden mit den Herausforderungen des Stoffes, des Stücks, des Textes, der Idee, die notwendigerweise naiv und original erfolgen müssen. Hier wird das Theater durch die Mitwirkenden gewissermaßen immer wieder neu erfunden, auch wenn es in Wirklichkeit nur neu gefunden wird. Dass es Teil von Bildungsprozessen ist, ist für dieses Theater konstitutiv. Seine Vollkommenheit erreicht es dann, wenn die Grenzen des unter diesen Bedingungen Möglichen und Sinnvollen erreicht werden. Gutes Schul59
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theater kann daher niemals ›Serientheater‹ sein; es legt vielmehr Zeugnis ab von dem besonderen, einmaligen Prozess, den die auff ührende Gruppe bis zur Auff ührung hinter sich gebracht hat. Dass die allgemeinen Gesetze der Bühne nicht negiert werden können, gehört dabei zu den wesentlichen Erfahrungen, die alle Gruppen machen; auch daraus folgen Qualitätsmaßstäbe. Dass Schultheater meist zugleich ›armes‹ Theater ist, kommt in der Regel, wenn gewisse Mindestbedingungen eingehalten werden, der ästhetischen Qualität eher zugute. Wie jedes Lebensalter, jede Entwicklungsstufe ihre eigene Vollkommenheit hat, so hat eben auch jede Form des Theaters ihre eigene Vollkommenheit. Gutes Schultheater macht Bildungsprozesse sichtbar, ohne sie als solche vorzuführen. Es zeigt zugleich mit dem Bühnengeschehen mitlaufende latente Sinnstrukturen, objektiven Sinn ohne subjektive Absicht. Dass das aktuelle Bühnengeschehen für die beteiligten Akteure latente Sinngehalte bereitstellt, die sich erst in der Zukunft und in der Retrospektive erschließen werden, ist ein wesentlicher Teil des Geschehens selbst: ein Aspekt, der zwar dem Theaterlehrer und dem erwachsenen Publikum präsent sein mag, den Akteuren aber allenfalls als Ahnung erscheint. Für die spielenden Schülerinnen und Schüler stellt die Mitwirkung am Theater zwar auch subjektiv ein Element ihres allgemeinen Bildungs- und Entwicklungsprozesses dar, insbesondere aber eine aktuell attraktive Möglichkeit, die eigene Zeit durch ein aufregendes, gemeinsam mit anderen zu bewältigendes Theaterprojekt zu füllen – mit allen damit verbundenen Implikationen, Risiken und Chancen: Triumph und Scheitern, Grandiosität und Inferiorität, Selbst-Inszenierung und Selbst-Zweifel. Die Inszenierung muss also ihr Maß an der spezifischen Vollkommenheit und Perfektibilität der jeweiligen kindlichen oder jugendlichen Gegenwart finden; nur dann kann sie die ästhetische Valenz dieser besonderen Konstellation entfalten und zur Geltung bringen. Die explizite ästhetische Erziehung muss sich also – und kann sich auch nur – ausschließlich auf den aktuellen Prozess und das aktuelle Produkt beziehen: die pädagogische Aufgabe besteht ausschließlich darin, mit allen Beteiligten die unter den gegebenen (Entwicklungs-)Möglichkeiten bestmögliche Form der Darstellung zu finden und einzuüben. Darin besteht die Kunst. In werkästhetischer Hinsicht erschließt das Schultheater damit eine Dimension der Bühne, die keiner anderen Theaterform zugänglich ist. Für das Schultheater erhält also (wie für alle anderen pädagogischen Prozesse auch) die implizite Erziehung entscheidende Bedeutung – die, mit Rousseau gesprochen, »negative« Erziehung also, die sich durch die Erfordernisse eines bestimmten, pädagogisch inszenierten Arrangements quasi natürlich, wie von selbst ergibt: aus der Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Sache selbst. Diese Auseinandersetzung zu ermöglichen, ist die zentrale pädagogische Aufgabe. 60
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R E ZEP T IONSÄ S THE T IK Was bewegt die Zuschauer beim Schultheater? Es ist in der Regel ein sehr spezifisches, sehr besonderes Publikum, das die Auff ührungen wahrnimmt. Schülerinnen und Schüler, manchmal auch Ehemalige finden sich ein, Eltern und Verwandte der Akteure und andere Eltern, Lehrerinnen und Lehrer. Manchmal werden von den verschiedenen Gruppen auch interessierte Freunde mitgebracht. Inzwischen kommt es häufiger vor, dass auch die allgemeine Öffentlichkeit eingeladen wird. Diese Gruppen haben sehr unterschiedliche Perspektiven; es ist zu vermuten, dass sie auch sehr Unterschiedliches wahrnehmen. Leider gibt es jedoch bisher keinerlei systematische empirische Forschung zu dieser Frage. Aber die Erfahrungen legen doch einige Vermutungen nahe. Sicher ist dabei, dass bei diesen Theatererlebnissen eine ganz besondere Aufmerksamkeit den Bühnenakteuren gilt, die hier in anderen als den Alltagsrollen sichtbar werden und wahrgenommen werden können. Für das jugendliche Publikum werden hier häufig ungeahnte Seiten an ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sichtbar, die zur Differenzierung der Bilder des Anderen beitragen, aber zugleich auch eigene bisher nicht realisierte Möglichkeiten aufscheinen lassen können. Auch für das erwachsene Publikum, die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer, spielt dieser erhellende Verfremdungsaspekt sicher eine zentrale Rolle. Es kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu: Es ist wohl vor allem die Einzigartigkeit der Verbindung des sicht- und hörbaren Bühnengeschehens mit den Bildungsprozessen der Akteure, die der notwendig naiven Auff ührungspraxis ihre unnachahmliche Suggestion gibt. Die Rührung des erwachsenen Publikums folgt aus der besonderen Anmut der Darstellung, der frischen Begegnung mit der Aufgabe und damit der unerwarteten eigenen Begegnung mit dem einzigartigen Bühnengeschehen. Es ist die Begegnung mit dem hier sichtbar werdenden Bildungsprozess selbst, der das Schultheater zur moralischen Anstalt für das erwachsene Publikum macht. Es ist damit zugleich die Erinnerung und das Gedächtnis an den eigenen Bildungsprozess, die eigenen gewonnenen und verlorenen Möglichkeiten. Die Wahrnehmung von Schultheater erinnert daran, dass Menschen sich und ihre Welt bilden können: Probebühne für das Welttheater und damit ein Ort der Hoffnung. An die eigene Hoff nung, die eigenen Möglichkeiten erinnert zu werden, dies aber selbstverständlich im Bewusstsein von Risiken, Scheitern und auch Vergänglichkeit, ist die vielleicht wichtigste bildende Wirkung für den erwachsenen Zuschauer. Schultheater als ein Ort der Generationenbegegnung hat damit einzigartige, vom Profi-, aber auch vom sonstigen Laien-Theater zu unterscheidende ästhetische Wirkungen. Der törichten Begrenzung schulischer Bildung auf Wissenschaftsorientierung muss also, das zeigt das Schulthea61
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ter, endlich ein weiteres, offeneres Modell der Bildung entgegengesetzt werden, das sich auf das Leben im Ganzen, also auf Alltag und Sonntag, Arbeit und Ehrenamt, Politik und Öffentlichkeit, Religion, Wissenschaft und Kunst bezieht – und dabei die Leiblichkeit und Endlichkeit des Menschen ernst nimmt. Schultheater kann die Gewohnheit bilden, sich voll Spannung und Neugier dem Fremden zu nähern: dem fremden Text, den fremden Ausdrucksformen, dem fremden Spiel, den fremden Partnern, dem fremden Publikum und – am allerwichtigsten – dem fremden Selbst. Und es kann die Gewohnheit bilden, mit den Überraschungen, die einem dabei begegnen, zugleich gespannt und gelassen umzugehen. Wenn das keine Schlüsselqualifikationen sind.
Theater : Ein künstler isches Fach Jedes Kind, jeder Jugendliche muss im Lauf seiner Schulzeit mehrfach aktive Bühnenerfahrungen machen können. Das Theater muss dabei das Zentrum bilden, weil es als einzige Kunstform alle anderen Kunstformen verbinden kann. Nötig ist also Theater als drittes künstlerisches Fach neben Musik und Kunst in allen Schularten und auf allen Schulstufen; dies zu ermöglichen, gehört zu den wichtigsten bildungspolitischen Entwicklungsaufgaben. Es ist selbstverständlich, dass die Didaktik auch dieses zu entwickelnden Faches produktions-, rezeptions- und werkästhetische Perspektiven verbinden muss, dass es daher auch von vornherein eines engen Bezugs auf die professionelle Theaterkunst in allen ihren Varianten und auf die Theaterwissenschaft einschließlich der Theatergeschichte bedarf. Das Theater als Teil der Künste bildet zugleich einen zentralen Bestandteil von Schulkultur. Ihm kommt damit neben den Wissenschaften im Blick auf eine pädagogisch gehaltvolle Schulentwicklung entscheidende Bedeutung zu. Die bisher vor allem organisationstheoretisch orientierte Schulentwicklungsdiskussion wie auch die entsprechende Praxis in den Schulen leiden seit jeher unter mangelnder pädagogischer Substanz; es fehlt hier einfach eine tragfähige Bildungsidee. Für eine aussichtsreiche Schulentwicklung wird also an erster Stelle ein substanzieller Bildungsbegriff gebraucht. »Theatre and Science« (Hentig 1985) hat Hartmut von Hentig dazu vorgeschlagen. Dem kann ich mich anschließen. Die Idee der Schule als kulturelles Zentrum für Schüler, Lehrer, Eltern und Öffentlichkeit bietet hier eine pädagogisch und politisch höchst attraktive Perspektive. Diese Idee wird umso reizvoller, wenn die Schule als Teil eines übergreifenden sozialräumlichen Bildungszusammenhangs konzipiert wird, also als ein wesentlicher Knoten in den Netzen kultureller Bildung der Stadt oder der Region, in die alle öffentlichen und öffentlich geförderten Bildungsorte 62
Theatrale Bildung. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven
verwoben sind: die Schulen, die Hochschulen und die Museen, die Theater und die Sportvereine, die Volkshochschulen und die Galerien, die Kinos und Tanzschulen, die Jugendhäuser, die Musikschulen und die Jugendkunstschulen, die Parks, die zoologischen und botanischen Gärten etc. (Guerra 1997). Für eine solche Perspektive auf die Stadt bzw. die Region als ästhetisch-kulturellen Bildungsraum stellt die Entwicklung einer systematischen Kooperation zwischen den Lehrern der künstlerischen Fächer, den Künstlern der entsprechenden Sparten und den außerschulischen Kulturpädagogen eine entscheidende Herausforderung dar. Die Schule soll und kann also nicht nur ein Lebens- und Lernzentrum, ein Kulturzentrum für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die sie tragende und mit ihr verbundene Öffentlichkeit sein bzw. werden. Dazu bietet wiederum gerade das Theater vielfältige Möglichkeiten. Es bildet eine kulturelle Ressource für die Öffentlichkeit und kann auf besondere Weise dazu beitragen, kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen für die einzelne Schule zu erschließen. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, allen Kindern und Jugendlichen ihren eigenen produktiven und rezeptiven Zugang zu den Künsten zu eröffnen, also die ästhetische Bildung innerhalb und außerhalb der Schule massiv und nachhaltig zu stärken und zugleich dauerhaft institutionell abzusichern. Wir brauchen die Künste um der Bildung – und um der Künste – willen für alle Kinder und Jugendlichen! Wir brauchen sie gerade auch für die Benachteiligten, die Migrantenkinder, die Kinder aus den bildungsarmen Milieus – und wir brauchen sie ebenso dringend für alle die, die in ihren bürgerlichen Familien arm dran sind. Dabei kommt dem Theater in Produktion und Rezeption höchste Bedeutung zu. Also: Bühne frei für jedes Kind und jeden Jugendlichen! Wir brauchen Theater mit produktions-, rezeptions- und werkästhetischen Perspektiven als drittes künstlerisches Fach neben Musik und Kunst in allen Schularten und auf allen Schulstufen! In allen Bundesländern müssen entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung und entsprechende berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten eingerichtet und angeboten werden, und wir brauchen sowohl im Schulalltag wie auch in der Lehrerbildung die systematische Kooperation zwischen den Theatern aller Art und den pädagogischen Einrichtungen. Dem Theater kommt neben den Wissenschaften im Blick auf eine pädagogisch gehaltvolle Schulentwicklung entscheidende Bedeutung zu. Für die Schulentwicklung wird ein substantieller Bildungsbegriff gebraucht: Wir brauchen die Schule als kulturelles Zentrum für Schüler, Lehrer, Eltern und Öffentlichkeit. Für den Ausbau des Theaters müssen die Theaterlehrer, Theatermacher und Theaterpädagogen die Kooperation lernen. Wir brauchen die 63
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Stadt bzw. die Region als theatralen Bildungsraum. An dieser Stelle liegt auch die Verbindung zur außerschulischen Pädagogik: Gerade in der sozialpädagogischen Jugendarbeit in allen ihren Formen bietet die theatrale Arbeit ganz besondere Chancen, präventiv, interventiv und therapeutisch. Dass Unterrichten und Erziehen mehr mit Inszenierung und Darstellung als mit Wissenschaft zu tun haben, weiß jeder Lehrer, jeder Pädagoge. Theatrale Bildung ist daher nicht nur eine Aufgabe für die Schüler, sondern auch für die Lehrerinnen und Lehrer, für die Pädagoginnen und Pädagogen. Für die Kunst des Unterrichtens und Erziehens brauchen alle Lehrer und Pädagogen nicht nur wissenschaftliche, sondern auch theatrale Bildung. Wir brauchen eine theatrale Ergänzung der Lehrerbildung und der Pädagogenausbildung.
Literatur Bittner, Günther (1990): »Erscheinungsleib, Werkzeugleib, Sinnenleib. Zur Ästhetik kindlichen Leiberlebens«. In: Ludwig Duncker u.a. (Hg.), Kindliche Phantasie und ästhetische Erfahrung. Wirklichkeiten zwischen Ich und Welt, Langenau-Ulm: Armin Vaas Verlag, S. 63-78. Eco, Umberto (2002): »Semiotik der Theaterauff ührung«. In: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Von der Sprachphilosophie zu den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 262-276. Hartmut von Hentig (1985): Die Menschen stärken, die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Auf klärung, Stuttgart: Reclam. Guerra, Luigi (1997): »Die erziehende Stadt«. In: Gerold Becker/Johannes Bilstein/Eckart Liebau (Hg.), Räume bilden. Studien zur pädagogischen Topologie und Topographie, Seelze: Friedrich Verlag, S. 221-232. Liebau, Eckart (1992): Die Kultivierung des Alltags. Das pädagogische Interesse an Bildung, Kunst und Kultur, Weinheim/München: Juventa Verlag. Liebau, Eckart/Klepacki, Leopold/Linck, Dieter u.a. (Hg.) (2005): Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim/München: Juventa Verlag. Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden Württemberg (Hg.) (1990): Kunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart.
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Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule. Exper imente, Er folge und Perspektiven Helle Becker
Durch den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen erweitert sich erfreulicherweise auch die Präsenz kultureller Bildung in der Schule. Ob als Nachmittags-Angebot, ob in Kooperation mit Fachunterricht oder in Form von Projektwochen – die Ganztagsschule bietet mehr Zeit und Gelegenheiten als die bisherige Halbtagsschule, Kinder und Jugendliche mit Kunst und Kultur bekannt zu machen. Außerschulische Träger kultureller Bildung haben langjährige Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Schulen. In der Ganztagsschule allerdings gibt es neue Bedingungen. Während bei bisherigen Kooperationen der außerschulische Partner eine punktuelle, zeitlich begrenzte Partnerschaft einging, eher die ›Ausnahme‹ bildete zum übrigen Schulgeschehen und als Gast in der Schule oder, z.B. im Theater oder in der Jugendkunstschule, als Gastgeber eine klare, meist selbst definierte Rolle einnahm, gehen Kooperationspartner von Ganztagsschulen in der Regel andere Verpflichtungen ein. Hier muss sich der außerschulische Partner zeitlich und meist auch räumlich in den Ganztagsbetrieb einfügen. Damit ist die Kooperation in der Regel auf Dauer gestellt und die Schule das ›Referenzsystem‹, in dem der Partner, neben anderen, eine ergänzende Rolle spielt. Diese Kurzvorstellung vernachlässigt zugegeben Ausnahmen, ist aber darüber hinaus eine Quersumme bisheriger Erfahrungen, die im Weiteren aus vier Quellen gezogen werden soll: In einer bundesweiten Befragung wurden im Rahmen des Projekts »Kultur macht Schule« der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) Teilnehmer des Wettbewerbs »Mixed up« anhand von Fragebögen befragt, acht Expertisen geschrieben sowie mehrere Workshops durchgeführt, in denen Ergebnis65
Helle Becker
se diskutiert und Qualitätsanforderungen erarbeitet wurden. Als Ergebnis wurde ein Qualitätsmanagementinstrument für Kooperationen mit Ganztagsschulen entwickelt (vgl. Becker 2007). Das Projekt »Politik & Partizipation in der Ganztagsschule« der Gemeinsamen Initiative der Träger politischer Jugendbildung (GEMINI) begleitete und evaluierte ein Schuljahr lang Kooperationen an neun Standorten in sieben Bundesländern. Am Ende wurden die Ergebnisse aus dem BKJ- und dem GEMINI-Projekt im Hinblick auf die Bedingungen außerschulischer Kinder- und Jugendbildung in der Ganztagsschule verglichen (vgl. Becker 2008). Mit eingeflossen sind auch Beobachtungen und Untersuchungen aus der Offenen Ganztagsschule in Nordrhein-Westfalen, das als einziges Bundesland eine eigene, langfristige und flächendeckende wissenschaftliche Begleitung hat.1 Leitend für die folgenden Ausführungen ist die Frage: Bekommen Kooperationen zwischen der außerschulischen kulturellen Bildung und der Schule im Ganztag eine neue Qualität? Die Frage geht von zwei Prämissen aus; erstens: Außerschulische Bildung und schulische Bildung sind verschieden. Zweitens: Kooperationen unterliegen in der Ganztagsschule anderen Bedingungen als (die bisherigen) Kooperationen mit Halbtagsschulen.
Bildung und Bildung ist verschieden Auch wenn kulturelle Bildung zurzeit eine breite Zustimmung erfährt und sich mindestens auf einer allgemeinen Ebene die Akteure in der Bildungsszene über ihren Wert einig sind, gibt es eine ganze Brandbreite von Motiven von Politikerinnen und Politikern, Künstlerinnen und Künstlern, Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrkräften oder Eltern, für mehr kulturelle Bildung in der Schule zu plädieren. Die Akteure unterscheiden sich zum Teil erheblich im Hinblick auf pädagogische Intentionen und Erwartungen, Methoden und Formate, auch auf Kunstsparten oder das aktive Personal. Über ›die‹ kulturelle Bildung in der Ganztagsschule zu reden ist also zu ungenau. Vielmehr sollten die jeweiligen Perspektiven explizit gemacht werden, um eine produktive Zusammenarbeit zu befördern. An dieser Stelle sollen zumindest die Akteure oder Anbieter kultureller Kinder- und Jugendbildung unterschieden werden, die bei Kooperationen mit den Ganztagsschulen eine Rolle spielen. 1. Siehe laufende wissenschaftliche Begleitung der OGS in Nordrhein-Westfalen: www.spi.nrw.de/oggs-verbund/index.html
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Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule
Kulturelle Bildung in der Schule findet in der Regel im Rahmen des Fachunterrichts, zunehmend auch in Form von fächerübergreifendem oder fächerverbindendem Unterricht und in Projekten, statt. Die Schule hat einen demokratischen und egalisierenden Bildungsauftrag für alle Kinder und Jugendlichen, die daher auch der Schulpflicht unterliegen. Sie soll jedem Kind und Jugendlichen, gleich welcher Herkunft, die bestmögliche Bildung zukommen lassen, und so eine vertikale gesellschaftliche Mobilität ermöglichen. Die Grundidee ist, dass (Fach-)Standards, die für alle gelten, sowohl gleiche Anforderungen definieren wie vergleichbare Leistungsergebnisse garantieren sollen. Bildungsziele werden daher vorgegeben, Bildungserfolge werden an den gesetzten Standards überprüft. Damit erfüllt die Schule zugleich eine Selektionsfunktion, mit der mehr oder weniger der künftige soziale Status der Kinder und Jugendlichen (mit-) bestimmt wird. Durch ihren gesellschaftlichen Auftrag kann die Schule also, auch im Rahmen von reformerischen Ansätzen, im Grundsatz das Leistungs- und Bewertungsprinzip nicht vernachlässigen. Außerschulische kulturelle Kinder- und Jugendbildung ist Teil der Jugendhilfe und speziell der Jugendarbeit, die ebenfalls einen egalisierenden und demokratischen Bildungsauftrag hat: »Jugendhilfe soll […] insbesondere junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen.« (Kinder- und Jugendhilfegesetz [KJHG], §1) Die außerschulische Jugendbildung als Teil der Jugendhilfe soll zudem »die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote […] zur Verfügung […] stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.« (§11)
Im Bereich der Jugendarbeit defi niert die »kulturelle Jugendbildung« (§ 11) einen eigenen Bereich von Angeboten für Kinder und Jugendliche. Die Angebote folgen den theoretischen und praktischen Parametern der Jugendarbeit: der Orientierung an den Interessen und der Lebenswelt der Teilnehmenden sowie an ihren individuellen Stärken (Ressourcenorientierung), der Freiwilligkeit der Teilnahme sowie der Partizipation der Teilnehmenden an der Ausgestaltung der Angebote. Schon eine Teilnahmeverpflichtung, vor allem aber eine Bewertung von Leistungen nach standardisierten Zielvorgaben liegen außerhalb dieser Parameter. »Auf der einen Seite steht für die Schule ein staatlich geregelter Bildungsauftrag mit recht klar formulierter Zielsetzung und Schulzwang. Auf der anderen Seite
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Helle Becker
steht eine Einrichtung, die sich vor allem dem Kinderwillen verpflichtet fühlt, die mit sehr viel Engagement ein außerschulisches Bildungskonzept entworfen hat, das sich auf dem freien Angebotsmarkt behaupten muss. Nach den Prinzipien der Freiwilligkeit und Teilhabe entwickeln die Teilnehmer der Angebote ein eigenständiges Sinnverständnis für den Bildungsprozess. Dieser Filter ist der Garant für den Erfolg oder Misserfolg der kulturpädagogischen Arbeit und reguliert den Zuspruch durch die jungen Besucher. Unter diesen unterschiedlichen Bedingungen haben beide Einrichtungen ein professionelles System der Motivation und Unterstützung der Kinder im individuellen Bildungsprozess entwickelt.« (Heidkamp 2006: 8)
Professionelle Kultureinrichtungen wie Theater, Museen, Bibliotheken u.a. definieren ihren öffentlichen Auftrag zur Kulturvermittlung in den letzten Jahren zunehmend emphatischer auch als Bildungsauftrag. Auch über die Annahme hinaus, dass sie »durch ihre Arbeit für ihre Besucher faktisch immer auch kulturell bildend« wirken (Ermert 2008), unternehmen sie inzwischen vielfach zielgerichtete, auch bewusst pädagogisch ausgestaltete Aktivitäten, die Kindern und Jugendlichen vor allem Kunst nahe bringen wollen. Sie tun dies auch »als Akt des audience development. Sie wollen und müssen ihr Publikum selbst heranbilden, nachdem deutlich wurde, dass die nachwachsenden Generationen ihren Weg zu ihnen nicht mehr wie früher finden.« (Ebd.) Die Intentionen, Perspektiven und Voraussetzungen, mit denen sie kulturelle Bildungsangebote machen, sind sehr unterschiedlich und lassen sich auch nicht auf ein eigenes theoretisches Bildungskonzept beziehen. Nimmt man die zahlreichen nicht-professionellen Kultur-Organisationen und -Einrichtungen hinzu (Amateurtheater, Chöre, Orchester, Literaturgruppen, Kunstvereine etc.), von denen viele Jugend- und Nachwuchsarbeit leisten, so wird deutlich, dass hier die Grenzen fließend sind und die kulturellen, künstlerischen wie pädagogischen Intentionen sehr unterschiedlich sein können. Eines haben die beiden letztgenannten Trägergruppen gemeinsam: Sie sind immer häufiger Partner von Schulen mit Ganztagsangeboten. Damit gibt es einen Verständigungsbedarf bezüglich der jeweiligen pädagogischen Intentionen und Prämissen ebenso wie im Hinblick auf die jeweiligen Rollen aller Beteiligten. Ein bundesweiter Überblick über aktuelle Erfahrungen von Kooperationen für Angebote kultureller Bildung in der Ganztagsschule muss davon absehen, dass es erhebliche Unterschiede bei den politischen, rechtlichen, finanziellen und organisatorischen Bedingungen in einzelnen Bundesländern und Schulformen2 sowie hinsichtlich der Verbreitung der Ganztags2. Einen Überblick bietet die Ländersynopse der BKJ.
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Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule
schule3 gibt. Aber auch jenseits spezifischer Bedingungen können Gelingensbedingungen wie Herausforderungen identifiziert werden, die für die weitere Entwicklung von Ganztagskooperationen nutzbar gemacht werden können und sollten.
Verständigung : Unterschiede akzeptieren Wenig überraschend sind der Wille zur Zusammenarbeit und die grundsätzliche Übereinstimmung in der Wertschätzung kultureller Bildung eine wichtige Voraussetzung für eine gedeihliche Zusammenarbeit. Das setzt gegenseitiges Wissen über Besonderheiten sowie die Anerkennung der Fachlichkeit des Partners voraus. Gelingende Kooperationen werden daher durchweg getragen von einer beiderseitigen hohen Motivation, großem persönlichen Engagement und guten persönlichen Beziehungen (vgl. Riß/Thimmel 2006). Es ist wenig verwunderlich, dass solche Kooperationen weniger organisatorische Probleme haben als andere, ja sogar äußere Bedingungen wie beispielsweise administrative Hindernisse leichter meistern (vgl. 2007a: 42-46). Allerdings ist bereits hier anzumerken, dass sich schon die Motive der außerschulischen Partner kultureller Bildung auf die Schule ausrichten: Sie bestätigen, dass sie »an einer Reform der Schule mitwirken und perspektivisch Jugendkulturarbeit und Schule unter ein Dach bringen« wollen (vgl. Becker 2007a: 21). Träger kultureller Bildung wollen folgerichtig die Ausgestaltung der Ganztagsschule mitgestalten und wünschen sich eine pädagogisch-fachliche Auseinandersetzung. Eine ›verträgliche‹ Abstimmung schulischer und nicht-schulischer Bildungsinszenierungen, bei der die Qualität beider erhalten bleibt und sich gegenseitig befruchtet, wird nicht als ein bloßes konfliktfreies Nebeneinander beider Bereiche verstanden. Die Mehrheit der von der BKJ befragten Träger kultureller Bildung 3. An der Spitze steht Nordrhein-Westfalen mit inzwischen rund 2.900 offe-
nen Ganztagsschulen im Primarbereich, 250 neuen erweiterten Ganztagshauptschulen und demnächst 108 Ganztagsgymnasien und 108 Ganztagsrealschulen. In Bayern gibt es derzeit rund 875 offene Ganztagsschulen und 223 gebundene Ganztagsschulen, darunter 161 Hauptschulen, zehn Realschulen, 40 Grundschulen und zwölf Gymnasien. Im Schuljahr 2007/2008 gibt es in Hessen 470 ganztägig arbeitende Schulen sowie 70 kooperative Ganztagsschulen mit gebundener Konzeption, 35 kooperative Ganztagsschulen mit offener Konzeption und 365 Schulen mit pädagogischer Mittagsbetreuung. Bis 2015 soll es an allen rund 2.000 hessischen Schulen ein freiwilliges Ganztagsangebot bis ca. 17.00 Uhr geben.
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– 58,5 Prozent – wünscht sich eine engere Zusammenarbeit mit der Schule (vgl. Becker 2007a: 62). Dabei wird die zeitliche Organisation (z.B. ob ein ›Nebeneinander‹ von Vor- und Nachmittag oder eine so genannte ›Rhythmisierung‹) nicht als Kriterium für gute oder schlechte Zusammenarbeit gewertet. Viel schwerwiegender ist der Bedarf an einer pädagogischen Stimmigkeit der Angebote innerhalb eines pädagogischen Gesamtkonzepts. Um diese zu erlangen, brauchen beide Partner den Austausch über die jeweiligen Bildungsverständnisse und die gemeinsame Zielstellung. Vor allem dort, wo Träger den Eindruck hatten, dass ihre Arbeit für andere als die selbst gesetzten Zwecke instrumentalisiert werden sollten, wurde eine entsprechende Verständigung angemahnt: Genannt wurden die Erwartung von Seite der Schulen, die Angebote müssten zur Disziplinierung von Schülerinnen und Schülern beitragen (vgl. Becker 2007b: 77; Riß/ Thimmel 2006: 40), die Annahme, sie würden sozialpädagogische Hilfen ersetzen (vgl. Becker 2007a: 48-50) oder auch Situationen, in denen kulturelle Bildungspartner die Rolle der interessanten ›Exoten‹ einnehmen (vgl. Becker 2007a: 59f) . Wo die Nähe zum Fachunterricht gegeben ist, besteht daneben offenbar die Gefahr, als ›Ersatzlehrkraft‹ (vgl. Brademann 2006: 10; Becker 2007a: 59) oder als Kompensation für eine mangelnde Präsenz in der Stundentafel zu dienen 4 . Uneinigkeit in pädagogischen Fragen bestehen vor allem in der Frage der Freiwilligkeit und der Offenheit in der Gestaltung der Angebote5 . Dabei sind die Ausformungen von »Freiwilligkeit« vielfältig und changieren zwischen Zugangswahl, aber Teilnahmepflicht, schulisch bestimmtem Curriculum, aber Themenauswahlfreiheit für die Schüler, freier Themen- und Methodenwahl, aber Leistungsbewertung, bis hin zu frei, das heißt täglich, wählbaren und auch meidbaren (!) Angeboten. Hier sehen sich Träger außerschulischer kultureller Bildung auch mit dem Phänomen konfrontiert, dass die Teilnahme an kulturellen Bildungsangeboten für einige Schülerinnen und Schüler aus diversen Gründen (wie er4. »In einigen Fällen beobachteten wir, dass der künstlerische Partner als Ersatzlehrkraft wahrgenommen wird und ihm somit alle Pflichten einer pädagogischen Fachkraft im Schulbetrieb übertragen wurden. […] Der damit verbundene Zuwachs an Aufgaben des außerschulischen Partners, die Betreuung der Kinder und Jugendlichen während der Theaterarbeit, die Übernahme der Aufgaben des Schulalltags […] ist nicht leistbar und nicht im Sinne der Konzeption.« (Brademann 2006: 10) 5. »Ängste treten bereits im Vorfeld bei dem Lehrpersonal hinsichtlich dieser Autoritätseinbußen und Veränderungen im Schulsystem auf. Im Fall einer Kooperationspartnerschaft verweigerten sich sowohl die Fachlehrer mit Spielleitererfahrung, als auch die Schüler dieser ›neuen‹ Form der Theaterarbeit, die vielmehr prozess-, als zielorientiert war.« (Brademann 2006: 11)
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hofften kompensatorischen Wirkungen) »empfohlen« oder umgekehrt als disziplinarische Maßnahme eine Teilnahme am beliebten Zusatzangebot »verboten« wird (vgl. Becker 2007b: 75-78). Ein in diesem Kontext immer wieder zitiertes Thema ist die Leistungserwartung der Schule (und/oder der Eltern) und eine damit einhergehende Instrumentalisierung kultureller Bildung. So wird mit diesen Angeboten auch oftmals die Hoffnung auf mehr Pünktlichkeit und Disziplin oder soziales Lernen, vor allem durch Musizieren und Theaterspielen, verknüpft, weniger die Erwartung, Theater spielen zu lernen, zu verstehen und zu genießen. Die mit der Schule verknüpfte Leistungsorientierung wird auch häufig, sobald die Angebote außerschulischer Träger mit dem Fachunterricht oder der regulären Stundentafel verknüpft werden, zur Frage der Leistungsmessung und -bewertung (vgl. Becker 2007a: 80-82). Die schulischen Rahmenbedingungen setzen sich – sofern sie nicht bewusst von den Partnern neu gestaltet werden – häufig als ›heimlicher Lehrplan‹ im außercurricularen Angebot fort, erzeugen pädagogische Probleme und stellen Anforderungen an die Akteure, die diese aus außerschulischen Zusammenhängen nicht kennen und/oder für die sie professionell nicht gewappnet sind (vgl. Becker 2007b: 73-78). »Jenseits der Herausforderung durch schwierige Schüler liegt ganz allgemein eine große erzieherische Herausforderung im Umgang mit Störungen, Widerstand, Unaufmerksamkeit und Desinteresse, da dies alles Aspekte sind, mit denen man sich im Rahmen freiwilliger kultureller Angebote kaum konfrontiert sieht.« (Wenzlik 2006: 9) »Im Unterschied zu den Angeboten in unserer Einrichtung ist die schulische Situation gekennzeichnet z.B. durch heterogene Gruppen, spannungsgeladene Dauerkonflikte, eingeschliffene Umgangsformen und einer Teilnahmeverpflichtung für die angemeldeten Kinder des Ganztagsbereiches. Von den eingesetzten Kulturpädagogen, Künstlern, Musikern oder Tänzern muss im schulischen Kontext ein viel größeres pädagogisches Grundverständnis erwartet werden, ihre fachlichen Qualitäten müssen sie flexibel einsetzen und sie sollten auch pädagogische Umwege gehen können.« (Heidkamp 2006: 5)
Ein weiterer zwischen den Partnern zu klärender Punkt ist zudem die Nutzung außerschulischer Räume. Es stellt vor allem für eine dauerhafte Zusammenarbeit vielfach eine Herausforderung für die Schule dar, außerschulische Lern- und Bildungsorte in den Ganztagsbetrieb einzubeziehen. Erste Analysen zeigen, dass Schulen die Nutzung außerschulischer Bildungs- und Lernorte sehr weitgehend zulassen können, wenn sie vom pädagogischen Wert alternativer Lernräume (und fast immer auch alternativer Zeit-Räume) überzeugt waren. Bisher sind dies jedoch Ausnahmen. Die 71
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Frage stellt sich für bestimmte Sparten kultureller Bildung aber innerhalb der Schule, z.B. für Tanz- oder Theaterprojekte, für Mal- und Musikaktivitäten und für die Auf bewahrung von Material (vgl. Becker 2007a: 25-28).
Ressourcen : Mehr Bildung ist auf wändig(er) Die Frage der Raumnutzung betriff t bereits den kritischen Punkt der Ressourcen. Es ist inzwischen vielfach öffentlich darauf hingewiesen worden, dass der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen finanziell unzureichend ist. Das betriff t insbesondere die Refinanzierung des Aufwands der außerschulischen Partner. Für 71,4 Prozent der von der BKJ befragten Träger ist die Finanzierung ihres Ganztagsangebots nicht ausreichend und zwar unabhängig davon, in welcher Schulform oder Altersgruppe sie tätig sind. So kann man verallgemeinernd sagen, dass viele Träger in Ganztagskooperationen hauptamtliches Personal einsetzen (zu Lasten anderer Aufgaben), das Material mitbringen (das bestätigen 74,1 % der von der BKJ Befragten), teilweise die Räume stellen, die Kooperation unentgeltlich managen, häufig Personalprobleme auf eigene Kosten abfedern und auch diejenigen Partner sind, die zusätzliche Mittel akquirieren. »Unsere Erfahrungen zeigen […], dass der schulische Partner oftmals etwas unbeholfen ist, wenn es um Kooperationsstrukturen und um Mittelbeschaffungen geht. […] Im schulischen Alltagsgeschäft sind Projektfinanzierungen nicht erforderlich. Ganz anders in der Kulturarbeit: […] Vor diesem Hintergrund entsteht die paradoxe Situation, dass die außerschulischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendkulturarbeit Projekte beantragen und die finanziellen Mittel besorgen, während es sich die Schule leisten kann, aus den Kooperationsanfragen selektieren zu können.« (Palme 2006: 10)
So ist die Kooperation für viele entweder eine zusätzliche Belastung, die in der Regel zu Lasten anderer, grundständiger Aufgaben geht, oder die Träger sind gezwungen, Abstriche an der gewohnten Qualität ihrer Angebote zu machen. Das eigentliche Problem scheinen daher die heimlichen Kompensationen zu sein, die sich negativ auf die Leistungsfähigkeit der Träger oder die Qualität, vor allem aber auf die Bandbreite und Vielfalt der Angebote auswirken. 60 Prozent der von der BKJ befragten Träger gaben an, dass ihre Arbeitssituation in der Schule eingeschränkter sei als die im eigenen Haus und für die in eigener Regie durchgeführten Angebote. 36 Prozent der Träger haben in der Schule schlechtere zeitliche, 28 Prozent schlechtere räumliche Bedingungen. 26 Prozent können nicht alle Methoden einset72
Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule
zen und 38,6 Prozent der Befragten antworten, dass sich Formate und Themen einschränken. Die an diesen Ergebnissen ablesbare strukturelle und organisatorische Dominanz der Schule wird dabei vielfach hingenommen – von Lehrkräften und Schulleitungen ebenso wie von den außerschulischen Partnern. »Die Schule« gilt eben als weniger flexibel, auch als weniger kompetent, mit fragilen oder vorläufigen Umständen umzugehen. Neben fachlichen Einbußen berichten Träger von betriebswirtschaftlichen und organisatorischen Rückwirkungen. Dies betriff t vor allem solche, deren Engagement in der Ganztagsschule umfassend ist oder die durch ihre Einbindung und Abhängigkeit von der kommunalen Bildungsszene die Auswirkungen mittelbar spüren. So sehen sich einige neuen Anforderungen im Personalmanagement gegenüber (Honorarstellen, Koordinationsstellen, Sicherung von Kontinuität, Fortbildung), einer betriebswirtschaftlichen Umstellung mit wachsender Abhängigkeit von öffentlichen Geldern (Zuschüsse für Schulkooperationen), Verwerfungen im Honorargefüge (ganz deutlich bei den Musikschulen, deren übliche Honorare in der Ganztagsschule nicht gezahlt werden können) oder eine Verschiebung von Zeitfenstern und Zielgruppen (z.B. die Umstellung des nachmittäglichen Kursbetriebs auf die Abendzeiten)6 (Becker 2007a: 94-97).
Er folge Nach dieser Auflistung von Problemen und Konfliktlinien soll nicht verschwiegen werden, dass der gemeinsame Innovationswille von Schulen und außerschulischer kultureller Bildung selbstverständlich auch für erfreuliche Erfolge verantwortlich ist. So wird von einer großen Mehrheit der Akteure beider Seiten bestätigt, dass die Kooperationsprojekte vielen Kindern und Jugendlichen mehr Möglichkeiten bieten, kulturelle Bildungsangebote wahrzunehmen und einen Zugang zu Kunst und Kultur, ästhetischen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten sowie fach- und spartenspezifische Kompetenzen zu finden. Die größte Veränderung, die die von der BKJ befragten Träger nennen, ist die Erschließung neuer Zielgruppen und die Steigerung von Teilnehmerzahlen (das bestätigen 40,4 % der BKJ-befragten Träger). 69 Prozent der sich selbst als erfolgreich einstufenden Befragten geben an, dass ihre Angebote an den Fachunterricht angebunden sind, 50 Prozent sagen, dass sie in die Gesamtkonzeption der Schule eingepasst sind. Dem entspricht, dass inzwischen bereits mehrjährige Ganztags-Kooperationen zu beobachten sind und deren fachliche 6. Vgl. dazu Detlev Heidkamp a.a.O., der die Rückwirkungen auf den Betrieb einer Jugendkunstschule ausführlich darstellt.
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Weiterentwicklung Modelle einer alternativen Bildungslandschaft hervorbringen, in der spezifische Bedingungen außerschulischer Bildung erhalten bleiben können, außerschulische Bildungs-, Lern- und Spielorte einbezogen werden, alternative Zeitformate erprobt werden und es gelingt, die Freiwilligkeit des Zugangs zu sichern (vgl. BKJ 2008).
Perspektiven Die bisherigen Erfahrungen mit Kooperationen kultureller Bildung in der Ganztagsschule verweisen auf drei zentrale Herausforderungen für die weitere Entwicklung.
P ÄDAGOGI SCH - KONZEP T IONELLE A RBE I T
I S T DER
K ERN
Bei allen finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten wird deutlich, dass perspektivisch das zentrale Feld der Auseinandersetzung weniger im Praktisch-Organisatorischen liegt als vielmehr im Pädagogisch-Konzeptionellen. Dieser Bereich ist allerdings als Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit weniger leicht und auch weniger administrativ-geregelt gestaltbar. Vielmehr verlangt eine fachliche Auseinandersetzung neben der individuellen Bereitschaft und Befähigung der Beteiligten eine geregelte Kommunikation und günstige Bedingungen in Form von Zeit sowie finanzieller und personeller Absicherung. Falls dieses zutriff t, sollten sich die Appelle von Politik, Administration und Fachorganisationen auf die Frage richten, dass und wie entsprechende Maßnahmen und Ressourcen für eine längerfristige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten und Systemen sowie eine gemeinsame Entwicklung (und Qualifizierung) ermöglicht werden können. Viele Aussagen erfahrener Träger lassen darauf schließen, dass sich die außerschulische Vielfalt in der Ganztagsschule reduziert und dass Angebotsformen, die eine ›sperrigere‹ Zeit- oder Raumstruktur, aufwändigere oder nicht-schulkonforme Personalressourcen, Zugänge und Methoden verlangen, in der Ganztagsschule nicht oder seltener vorkommen. Es gibt darüber hinaus Indizien dafür, dass auch die künstlerischen Sparten höchst ungleich verteilt eingebunden sind (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2007). Gleichzeitig stellt zurzeit eindeutig die Schule das Primat dar, an der sich diese selbst und die Kooperationspartner ausrichten. Die Kooperation wird aus Trägersicht aber nur dort als erfolgreich beschrieben, wo auch der Schulpartner bereit ist, sich im Sinne eines gemeinsamen Bildungskonzepts zu bewegen. Eine bildungspolitische Aufgabe wäre es im Sinne kultureller Bildung, die innovative Kraft der außerschulischen Päd74
Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule
agogik als förderlich und vorbildlich für die Schulentwicklung, besser: für die Entwicklung ganzheitlicher Bildungsangebote, herauszustellen und zu unterstützen. Bisher scheint die Vorannahme verbreitet, dass eine Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern vor allem der ›Belebung‹ der Schule als System dient, ohne diese systematisch zu verändern. Dies führt oder bestärkt – zusätzlich zu anderen, tatsächlichen Ungleichheiten – ein nicht reziprokes Verhältnis der beiden Partner und verfestigt das Bestehende eher, als dass es hilft, dieses aufzubrechen und zu verändern. Dies und Veränderungen der Organisationen und Einrichtungen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung selbst, die Träger als ›schleichende‹ Umgestaltung bezeichnen, sollte Grund und Anlass sein, eigene Zielvorstellungen und Grenzen einer Veränderungsbereitschaft sorgfältiger zu bedenken.
… und Exper imente Um die Reformierung und Umstrukturierung der Bildungslandschaft aktiv mitzugestalten und einen genuinen Raum für die außerschulische kulturelle Bildung zu erhalten, ist es notwendig, ausreichende Ressourcen und Gestaltungsfreiheiten, auch für Experimente, vorzuhalten, Vielfalt, auch ›Sperriges‹, zu fördern und zu ermutigen. Diese Aufforderung richtet sich sowohl an die Kooperationspartner als auch an die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung. Aber Experimente brauchen Fehlerfreundlichkeit und Zeit. Beides scheint bei der zum Teil stark auf Quantität setzenden bildungspolitischen Entwicklung zurzeit Mangelware. Auf der anderen Seite sind die außerschulischen Akteure aufgefordert, differenzierend zu kommunizieren, welche Qualitäten, aber auch welche Bedürfnisse für eine qualitätsvolle Umsetzung kulturelle Kinder- und Jugendbildung hat. Hier ist zu unterscheiden zwischen einer innerfachlichen Diskussion zur Selbstvergewisserung, einer Diskussion im Zusammenhang mit Akteuren, die über die administrativen und politischen Rahmenbedingungen entscheiden, und der Kommunikation, die mit Praxispartnern, vor allem den Schulen, weiteren Partnern im Ganztag sowie den Eltern, erfolgen muss.
Literatur Becker, Helle (2007a): Abschlussbericht zum Evaluationsvorhaben im Rahmen des Projekts »Kultur macht Schule« der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., Download: www.kultur-macht-schule.de (Menüpunkt Modellergebnisse – Evaluation). 75
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Becker, Helle (2007b): »Auf dem Weg zur neuen Bildung – Trägererfahrungen evaluiert«. In: Viola Kelb (Hg.), Kultur macht Schule. Innovative Bildungsallianzen – Neue Lernqualitäten, München: KoPäd Verlag, S. 73-90. Becker, Helle (Hg.) (2008): Politik und Partizipation in der Ganztagsschule. Hoff nungen und ›Hausaufgaben‹ aus Sicht der außerschulischen Jugendbildung, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Brademann, Katrin (2006): Zusammenarbeit bzw. Abgrenzung zum Fachunterricht. Erfahrungen aus dem Landesmodellprojekt »KlaTSch! Kulturelles Lernen an (Off ) Theatern und Schulen in Sachsen-Anhalt. Expertise im Rahmen des Projekts »Kultur macht Schule« der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., Remscheid: BKJ. Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. (Hg.) (2008): Mixed Up! 25 Kooperationsprojekte zwischen Kultur und Schule, Remscheid: BKJ. Ermert, Karl (2008): Was ist kulturelle Bildung? Dossier: Kulturelle Bildung, Download: www.bpb.de/themen/Y4KBG5.html, verifiziert am 3.10.2008. Heidkamp, Detlef (2006): Rückwirkungen von Kooperationen mit Schulen auf die eigene kulturpädagogische Arbeit. Expertise im Rahmen des Projekts »Kultur macht Schule« der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., Remscheid: BKJ. Kelb, Viola (2007): Kulturelle Bildung und Ganztagsschulen: Rahmenbedingungen und Umsetzung von Kooperationen in den Ländern, Download: www.kultur-macht-schule.de, verifiziert am 1.10.2008. Zentrum für Kulturforschung (Hg.) (2007): Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule. Eine aktuelle empirische Bestandsaufnahme von Susanne Keuchel, Bonn: ArCult Media. Palme, Hans-Jürgen (SIN – Studio im Netz e.V., Haus der Medienbildung München) (2006): Fördernde und hindernde Bedingungen für Kooperationen zwischen Ganztagsschulen und Trägern kultureller Bildung. Expertise im Rahmen des Projekts »Kultur macht Schule« der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., Remscheid: BKJ. Riß, Katrin/Thimmel, Andreas (2006): Evaluationsbericht zum GEMINIVerbundprojekt »Politik und Partizipation in der Ganztagsschule«, Download: www.politikundpartizipation.de, verifiziert am 1.10.2008. Wenzlik, Alexander (Pädagogische Aktion München/Spielen in der Stadt e.V.) (2006): (Sozialpädagogische) Anforderungen. Expertise im Rahmen des Projekts »Kultur macht Schule« der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., Remscheid: BKJ.
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Wechselspiele der Zuschaukunst und Quelle künstler ischer Innovation. Was das Theater von der Schule er war tet 1 Geesche Wartemann
Schaut man sich das Feld gegenwärtiger Kooperationen zwischen Theater und Schule an, lassen sich drei Ebenen der Zusammenarbeit unterscheiden:
Auf führungen professioneller Theaterkunst und ihre theaterpädagogische Rahmung Die Schulklassen besuchen Auff ührungen in den Theaterhäusern oder mobile Produktionen der freien und institutionalisierten Theater werden in den Schulen gespielt. Hinzu kommen theaterpädagogische Vor- und Nachbereitungen der Auff ührungsbesuche, die ebenfalls im Theater oder in der Schule, in direkter Anbindung oder mit einigem zeitlichen Abstand stattfinden. Eine intensivere Auseinandersetzung findet mit ausgewählten Patenklassen statt, die schon im Probenprozess eingebunden werden. Ein Angebot, das heute zum Standard theaterpädagogischer Angebote an festen Häusern zählt. Bei diesen Auff ührungs- und Probenbesuchen samt theaterpädagogischer Einbettung geht es immer darum, Kindern und Jugendlichen sowie den Lehrkräften eine mal flüchtigere, mal intensivere Begegnung mit dem Theater professioneller Künstler zu eröffnen. Theater1. Der vorliegende Text basiert auf dem am 17.1.2008 in Frankfurt am Main gehaltenen Vortrag.
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kunst wird vorgeführt und je nach Bedarf und Möglichkeit über das Aufführungsereignis hinaus vermittelt.
Anregungen und Förderung des Theaterspiels von Kindern und Jugendlichen durch Künstler und Theaterpädagogen Eine zweite Ebene der Zusammenarbeit bilden für mich all jene Unternehmungen, in denen professionelle Künstler und Theaterpädagogen Kindern und Jugendlichen Impulse für die eigene theatrale Praxis geben. Hierzu zählen theaterpraktische Workshops oder Projekte im Rahmen von Theater AGs, Projektwochen und Schultheatertagen. Abhängig von den vorhandenen Räumlichkeiten, der Mobilität von Schülern und Theaterpädagogen bzw. Künstlern, aber auch von der Zielsetzung finden diese spielpraktischen Begegnungen mal in den Schulen, mal im Theater statt.
Qualif izierung von Lehrern Ein drittes Handlungsfeld in der Zusammenarbeit von Schule und Theater ist die Qualifizierung von Lehrern. Da eine grundständige Ausbildung für das Fach Darstellendes Spiel bundesweit nur in einem einzigen Studiengang, dem Studiengang Darstellendes Spiel im Kooperationsverbund von fünf niedersächsischen Hochschulen (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Universität Hannover, Stiftung Universität Hildesheim, Hochschule für Musik und Theater Hannover, Technische Universität Braunschweig) und als Auf baustudiengang bzw. Ergänzungsfach an wenigen weiteren Universitäten angeboten wird, besteht hier ein besonderes Bedürfnis seitens der Schule. Der Mangel ausreichender universitärer Qualifizierungsangebote führt zu kompensatorischen Fort- und Weiterbildungsstrategien. Vor diesem Hintergrund kommen heute auch die Theater in die Rolle, Lehrer theaterpraktisch weiterzubilden. Diese Angebote sind punktuell; ihnen liegt kein curriculares Konzept zugrunde. Auch die befragten hessischen Schulen unterscheiden in der vorliegenden Studie drei Ebenen der »Theateraktivitäten«: • Theater als theoretischer Unterrichtsgegenstand: Vermittlung von Grundwissen und Kompetenzen in den literarischen Fächern sowie dem Unterrichtsfach Darstellendes Spiel; • Theater als spielpraktische Aktivität, die überwiegend auf freiwilliger Teilnahme basiert (AGs, Nachmittagsangebote) oder im Rahmen des Unterrichtsfachs Darstellendes Spiel stattfindet; 78
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•
Theater als Begegnung mit künstlerischen Darbietungen: Das Theater ist für die Schule in jeder Hinsicht ein attraktiver außerschulischer Lernort: Ein Dramaturg stellt das Inszenierungskonzept eines im Deutschunterricht behandelten Dramas vor, die Theaterpädagogin bringt frischen Wind in die Theater AG und auch für den Englischkurs ist die Auff ührung eines Stückes von Shakespeare eine willkommene Abwechslung.
Grundsätzlich sind alle drei genannten Ebenen potentielle Handlungsfelder für eine Kooperation von Theater und Schule. Die zentrale Aufgabe der Theater ist und bleibt aber selbstverständlich die Kunstproduktion. Darüber hinaus engagieren sich die Theater zunehmend im Bereich der Theatervermittlung. Im Rahmen dieses theaterpädagogischen Engagements fördern die Theater auch das Theaterspiel der Kinder und Jugendlichen und machen Angebote für die Lehrerfortbildung. Erst die wachsende Einsicht, dass die Vermittlung einen wichtigen Aufgabenbereich der Kunstinstitutionen darstellt, schaff t in den Theatern überhaupt die Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen Theater und Schule, die über den Aufführungsbesuch bzw. das Gastspiel hinausgeht. Die Kinder- und Jugendtheater haben hier eine Vorreiterrolle. Die Vermittlung ist ein expandierendes Tätigkeitsfeld der Theater, aber – um dies schon an dieser Stelle in aller Deutlichkeit zu sagen – der Bezugspunkt bleibt für die Theater als Institutionen der Kunstproduktion auch in ihrer Vermittlungsarbeit immer die Kunst. Ein großer Teil der in der hessischen Studie erwähnten »Theateraktivitäten«, das Theater als Training sozialer Kompetenzen oder als didaktische Methode sowie das Theater als Unterhaltung im Rahmen unterschiedlichster Schulfeste, verfolgen gänzlich andere Zielsetzungen. Daran ist überhaupt nichts auszusetzen. Aber je weniger sich die Aktivitäten auf die Inszenierungen der Theater beziehen oder das Theater als Kunstform erfahrbar machen wollen, desto weniger gehören solche Aufgaben auch zum Aufgabenbereich der Theater und desto weniger eignen sie sich für eine Zusammenarbeit mit dem Theater.
Ziele einer Kooperation Das aktuelle Interesse der Theater an der Vermittlung und damit auch an der Kooperation mit Schulen als einem wesentlichen Teil der Vermittlungsarbeit besteht immer darin, künstlerische Rezeptions- und Produktionsprozesse zu fördern. Sie zielt darauf, allen gesellschaftlichen Gruppen die Teilhabe an Kunst zu ermöglichen. Beanspruchten die Begründer des bürgerlichen Theaters im 18. Jahrhundert noch, ihr Theater verhan79
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dele und repräsentiere das Allgemeinmenschliche, sind Gesellschaft und Theater heute durch eine ungleich größere Heterogenität gekennzeichnet. Während das angeblich Allgemeinmenschliche noch eine Allgemeinverständlichkeit beanspruchen oder unterstellen konnte, geht mit der heutigen Vielfalt der Darstellungsformen und Publikumsschichten ein Verständigungsproblem einher. Hinzu kommt eine mediale Sozialisation der Zuschauer, die ein bestimmtes Verständnis theatraler Darstellungs- und Rezeptionsweisen präfiguriert und einübt. Notwendig und aktuell ist die Vermittlung der Theaterkunst also, weil die kulturpolitische Maxime einer »Kultur für alle« zu Grunde gelegt wird und gleichzeitig, aufgrund gesellschaftlicher und medialer Veränderungen eine immer größere Vielfalt und Unübersichtlichkeit medialer und theatraler Darstellungsformen entstanden ist, es immer mehr Menschen gibt, denen das Theater im Ganzen oder bestimmte Theaterformen fremd geworden sind. Und wer keinen persönlichen Bezug mehr findet zu den Darstellungen auf der Theaterbühne, bleibt ihr fern. Das gilt für die nachwachsenden Generationen in verschärfter Weise. Mit der Vermittlung will das Theater dem entgegen wirken und nimmt seinen gesellschaftlichen Auftrag ernst, möglichst vielen Menschen eine Teilhabe an der Kunstform Theater zu eröffnen; denn, so formuliert es der Rat für die Künste in Berlin: »Teilhabe an Kultur, ein Grundrecht aller Menschen, kann nur realisiert werden, wenn auch das Recht auf kulturelle Bildung realisiert wird. Voraussetzungslose Proklamation von Teilhabe bleibt ein Papiertiger.« (Der Rat für die Künste und das Aufgabenfeld kulturelle Bildung 2006: 22) Die Schule ist in diesem Zusammenhang ein außerordentlich wichtiger Partner, da nur über die Schule junge Menschen aller gesellschaftlichen Schichten mit dem Theater in Berührung gebracht werden können. Die Schule hat also eine wichtige Mittlerfunktion. Ohne die Schulen kommen diese Publikumsschichten nicht ins Theater. Natürlich geraten die Theater bei schwindenden Zuschauerzahlen auch unter ökonomischen Druck. Und manchen Intendanten mag vor allem dieser Umstand bewegen, sich stärker im Bereich der Vermittlung zu engagieren. Vermittlung meint hier Marketing. Doch viele Theaterleiter wollen ernsthaft auf den gesellschaftlichen und theaterästhetischen Wandel reagieren. Sie erkennen und akzeptieren einen aktuellen Vermittlungsbedarf, da gerade im medialen Vergleich die liveness des Theaters als seine spezifische Qualität hervorgehoben wird und sie den Zuschauer als konstitutiven Teil der Theaterkunst und co-creator (Kattwinkel 2003) im Aufführungsereignis wiederentdecken. Die Notwendigkeit und Relevanz der Vermittlung von Rezeptionskompetenzen ist offenkundig, wenn man mit Manfred Pfister in der »Kollektivität von Produktion und Rezeption« (Pfister 2001) ein 80
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spezifisches Merkmal des Theaters erkennt. Theater ist ein Wechselspiel zwischen Produzenten und Rezipienten, das erst sinnhaft wird und allen Beteiligten Spaß macht, wenn man sich über grundlegende Spielregeln verständigt hat. Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang das Schlagwort der ›Sehschule‹ oder auch der ›Alphabetisierung‹. Das Theater und seine Vermittler sind in der Rolle der Experten, die in theoretischen Lektionen oder praktischen Übungen ihr Wissen an ungeübte Zuschauer weiter geben wollen. Dennoch findet diese Form der Vermittlung im ureigensten Interesse der Theater und der Kunstproduktion statt. Es ist keine der Kunst nachgeordnete, sondern eine die Kunst bedingende Aufgabe! Dass Vermittlung tatsächlich im eigenen Interesse der Theaterkunst stattfindet, dass sie nicht allein im Dienste der Zuschauer zu verstehen ist, das hat Uta Plate, langjährige Theaterpädagogin an der Berliner Schaubühne, mit dem Begriff des ›Tauschhandels‹ kenntlich gemacht. Nicht nur die Zuschauer und Spieler der Jugendclubs profitieren von der Vermittlung, sondern auch die Theatermacher. Der Umstand, dass Darstellungs- und Zuschauerkonventionen wenig oder gar nicht bekannt sind, kann produktiv werden, wenn Künstler dadurch Darstellungsroutinen erkennen und hinterfragen können. In diesem Fall können die Kenntnis und der Austausch mit dem Theater fremden gesellschaftlichen Gruppen künstlerisch innovativ wirken: »Entwicklung und Innovation der Künste, Veränderungen der ästhetischen Produktion bedarf der Involvierung immer neuer Menschen und immer neuer Vorstellungen, die Wissen über und Interesse an den Künsten mitbringen und entwickeln müssen: Ohne kulturelle Bildung keine innovative Kunstproduktion.« (Der Rat für die Künste und das Aufgabenfeld kulturelle Bildung 2006: 24)
Problemfelder der Kooperation Stelle ich diesen Zielsetzungen und Interessen der Theater nun die Ergebnisse der hier diskutierten Studie gegenüber, zeichnen sich für mich folgende Problemfelder ab:
O F F ENHE I T
DER
K UNS T
VS .
Z IELOR IENT IERUNG
DER
P ÄDAGOGEN
Wenn es im ersten Punkt heißt, dass die Theater eine Teilhabe an Kunst allen, also auch bildungsfernen Schichten, ermöglichen wollen, scheint dies auf den ersten Blick gut zusammen zu passen mit dem in der Studie formulierten Wunsch nach intensiverer Zusammenarbeit gerade der Hauptund Realschullehrer. Begründet wird dieser Wunsch allerdings damit, dass 81
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Theater besonders gut zur Sprachförderung und sozialen Integration von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund beitragen könne. In den Grundschulen scheint diese Funktionalisierung noch ausgeprägter zu sein. Basiskompetenzen wie Empathie, Teamfähigkeit, Verantwortungsgefühl etc. soll das Theater schulen (vgl. ASSITEJ 2007: 4f.). Solche Effekte des Theatersehens und vor allem des Theaterspielens sollen nicht geleugnet werden. »Ich könnte viel darüber erzählen, was sich im Umfeld alles tut«, sagt Elmar Lampson als Präsident der Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2004 auf einer Podiumsdiskussion zur »Zukunft durch ästhetische Bildung« des Deutschen Bühnenvereins. »Nur«, so fährt er fort, »wenn man es für dieses Umfeld tut, dann ist die Sache mausetot. Wenn man Dirigieren mit Managern macht, damit die bessere Manager werden, ist die Sache mausetot.« (Vgl. Deutscher Bühnenverein und Kulturwissenschaftliches Institut 2004: 62) Und so scheint es mir doch fraglich, ob Schulen und Theater allein schon durch den aktuellen Bildungsdiskurs »näher zusammen rücken«, wie es im Resümee der hier diskutierten Studie heißt. Es könnte gerade eine Schwierigkeit für die Zusammenarbeit darin liegen, dass diese Institutionen unterschiedliche Bildungsbegriffe ansetzen. Wolfgang Schneider hat in einer Diskussion über Kunst und Bildung am Deutschen Theater in Göttingen einmal ein schönes Zitat des Literaturredakteurs Dr. Thomas Steinfeld eingebracht, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: »Es gibt ein grundsätzliches Missverständnis von Bildung. Denn Bildung hat meiner Meinung nach nichts mit unmittelbarer Verwertbarkeit zu tun. Der Widerspruch liegt darin, dass man Bildung mit Kategorien von Kompetenz zu behandeln anfängt.« Das Theater macht dagegen einen Bildungsbegriff stark, der sich von einer derartigen Wissensvermittlung abgrenzt. Stellvertretend sei hier eine Positionierung George Podts, Intendant der Münchner Schauburg, zitiert: »Ist die Vorstellung nicht zu kompliziert für Kinder? Diese Frage wird uns immer noch und wieder im Zusammenhang mit unseren Vorstellungen gestellt. […] Ein Rezept, das im Umgang mit Kindern und Jugendlichen unausrottbar scheint, ist die Vereinfachung. Mit einfachen Antworten oder Lösungen allerdings wird kein Kind und kein Jugendlicher sein unübersichtliches Lebensknäuel durchschauen können.« (Schmidt 2006: 5)
Damit einher geht auch die allen Theaterpädagogen vertraute Erwartung von Schülern und Lehrern, dass ihnen die Inszenierung in den Vor- und Nachbereitungen erklärt werde. Dem hält Ulrich Khuon, Intendant des Hamburger Thalia Theaters entgegen:
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»Nicht alles verstehen oder alles schnell verstehen ist richtiges Verstehen. Das ist eine der wichtigsten zu vermittelnden Beobachtungen, die mit Ästhetik zu tun haben. […] Im Grunde sind wir eine Art Rätselkammer. […] Das heißt eben […], dass wir mit Hilfe der Ästhetik, mit Hilfe der Form produktive Rätsel herstellen […], dass der Zuschauer Lust hat, sie zu dechiffrieren oder Lust hat, mit dem Rätsel zu leben. Es gibt viele Lebensrätsel, die wir eben nicht lösen. Wichtig ist eher, dass wir Lust haben, mit ihnen zu leben. Man kann nicht überall an Enden kommen im Sinne der Erklärung. Also Lust auch auf Komplexität!« (Khuon 2007: 25)
Diese Offenheit auszuhalten und keine eindeutigen Lösungsangebote vorzugeben, erfährt man im Kontakt mit Lehrern immer wieder als Schwierigkeit.
Zusammenhang von ›Theater sehen‹ und ›Theater spielen‹ Die deutschen Theater haben in den letzten rund 20 Jahren einen Erkenntnisprozess durchlaufen, der zur Verankerung der Theaterpädagogik an fast allen subventionierten Häusern führte. Und selbst die Freien Theater, obwohl dies strukturell manchmal schwierig ist, kümmern sich zunehmend um die Vermittlung. Stiftungen und andere Förderer lernen vom englischen Vorbild und binden ihre Förderung inzwischen – nicht immer zur Freude der Theater – an entsprechende education oder audience development Programme. Ein zentraler Gedanke ist dabei, dass theaterpraktische Erfahrungen auch für die Rezeption von Theater förderlich sind. Jugendclubs an den Theatern sind in diesem Sinne auch eine spezielle Form der Publikumsentwicklung. Ein besonders ausgeprägtes Modell praktiziert das Junge Theater am Mannheimer Schnawwl: Hier erhalten alle Teilnehmer der Spielclubs einen Ausweis, der sie berechtigt jede Inszenierung des Hauses kostenfrei anzusehen. Das ist eine großzügige Investition, die legitimiert wird durch die Überzeugung (und bestätigende Erfahrungen), dass dieses Modell beides, die Theaterrezeption wie die Theaterproduktion verbessert, sich auf diese Weise ein Kunstverständnis der beteiligten Jugendlichen besonders gut entwickelt. Selbst einen Probenprozess von der ersten Idee bis zur Aufführung durchlaufen zu haben, sensibilisiert mich für die Inszenierungsmittel und -entscheidungen. Umgekehrt können professionelle Theaterproduktionen die szenische Fantasie und die Reflexion der eigenen Bühnendarstellung anregen. Damit rede ich selbstverständlich nicht einer falsch verstandenen Imitation das Wort. Es geht um Auseinandersetzung, um ein
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Sich-in-Beziehung-Setzen, das ein wichtiger Teil künstlerischen Schaffens ist und durchaus zu einer (begründeten) Abgrenzung führen kann. Die besondere Pointe, auf die ich nun hinaus will, ist, dass die Entwicklung künstlerischer Expertenschaft überhaupt nicht in Konkurrenz zu pädagogischen Zielsetzungen steht. Es gibt nicht die Alternative Kunst oder Bildung, sondern gerade eine künstlerisch avancierte theaterpädagogische Arbeit eröffnet Bildungsprozesse. Der Kunstbezug theaterpädagogischer Arbeit muss demnach auch im Interesse der Pädagogen sein. Mussten die Künstler in den Theatern erst lernen, dass die theaterpädagogische Praxis sich unmittelbar positiv auf ihre Kunst auswirkt, ist es nun an den Schulen, ihre theaterpädagogische Praxis noch stärker in Beziehung zu setzen zur professionellen Theaterkunst. Die Kooperation darf also nicht einseitig auf das Spiel der Kinder und Jugendlichen bzw. die Qualifizierung der Lehrer zielen – dieser Wunsch geht aus der Studie sehr deutlich hervor – sondern muss dies immer wieder auf professionelle Inszenierungen beziehen. Wie das Theater sehen das Theater spielen braucht, benötigt auch das Theater spielen das Theater sehen!
Strukturelle Bedingungen der Zusammenarbeit Theater ist in gewisser Hinsicht ein anachronistisches Medium, Florian Vaßen, Professor für Literatur und Darstellendes Spiel an der Universität Hannover hat einmal formuliert, es sei »anthropologisch im besten Sinne konservativ« (Vaßen 1997: 63). Das heißt, Theater ist körperlich, es braucht die leibhaftige Begegnung von Menschen. Es braucht Zeit und Raum. Das kostet auch Geld. Ich bin mir nicht sicher, ob dies wirklich ein Streitpunkt zwischen Theater und Schule ist; denn auch in der Studie werden Zeitmangel und fehlende Geldmittel thematisiert. Es gilt genauer zu klären, ob Theater und Schule hier nicht eher Mitstreiter sind, die gemeinsam für eine Öffnung rigider Strukturen, letztlich neue Lehr- und Lernformen kämpfen, die zum Beispiel über das Darstellende Spiel etabliert werden könnten. Andererseits werden doch immer wieder unterschiedliche Vorstellungen der Künstler und Lehrer deutlich, wie die Erfahrungen des Rats für die Künste zeigen: »Das Schulsystem wehrt sich gegen Kooperationen mit schulfremden Menschen und schulfremden Strukturen. Dies trifft Künstler wie künstlerisches Arbeiten, welches nicht in Stundentafeln pressbar ist, sondern Projektarbeit und Autono-
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mie erfordert.« (Der Rat für die Künste und das Aufgabenfeld kulturelle Bildung 2006)
Das Theater erwartet, dass die Schulen in die Theater kommen (und/oder gute Bedingungen für Gastspiele bieten); • das Theater erwartet von den Lehrern eine Bereitschaft zur offenen Auseinandersetzung mit der »Rätselkammer« Theater; • das Theater erwartet, dass die eigene theatrale Praxis von den anleitenden Lehrern – in der gymnasialen Oberstufe auch von den Schülern selbst – in Beziehung gesetzt wird zur professionell betriebenen Theaterkunst; • das Theater erwartet, dass notwenige zeitliche und räumliche Strukturen für eine Zusammenarbeit geschaffen werden; • das Theater erwartet eine finanzielle Beteiligung der Schulen. Die Weiterbildungsmaßnahmen der Theater können nicht eine grundständige, universitäre Ausbildung im Fach Darstellendes Spiel ersetzen! Ich bin mir an dieser Stelle nicht sicher, ob ich im Namen der Theater spreche. Für sie sind die Qualifizierungsangebote auch ein interessantes Aufgabenfeld. Aber könnten Sie sich ernsthaft vorstellen, dass in irgendeinem anderen Fach die Lehrerausbildung von den Institutionen der jeweiligen Fachpraxis übernommen würde? Die Museen als Ausbildungsorte der Kunstlehrer? Die Orchester als Ausbildungsstätten der Musiklehrer? Die pharmazeutischen Labore als Ausbildungseinrichtungen der Chemielehrer? Natürlich ist ein solcher Kontakt mit der Fachpraxis sinnvoll, lehrreich und anregend. Eine grundständige Ausbildung kann sie hingegen nicht ersetzen oder kompensieren. Alle Akteure (Schulen, Theater, Weiterbildungseinrichtungen) sollten sich deshalb für eine universitäre Ausbildung für das Schulfach Theater stark machen.
Literatur ASSITEJ (Hg.) (2007): Studie ›Theater und Schule in Hessen‹. Eine Umfrage der ASSITEJ e.V. Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main: ASSITEJ. Rat für die Künste (2006): Der Rat für die Künste und das Aufgabenfeld kulturelle Bildung, Download: berlin.de/fi leadmin/user_upload/projekte/ offensive_kubi/Doku_Konf_2006.pdf, verifiziert am 30.12.2008. Deutscher Bühnenverein und Kulturwissenschaftliches Institut Essen (Hg.) (2004): Zukunft durch ästhetische Bildung. Dokumentation eines
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Geesche War temann
Symposions zur ästhetischen Bildung im Mai 2004, Köln: Deutscher Bühnenverein. Kattwinkel, Susan (2003): Audience participation: Essays on Inclusion in Theatre, New York: Praeger Publishers. Khuon, Ulrich »(2007): In: dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 1, S. 25. Pfister, Manfred (2001): Das Drama: Theorie und Analyse, München: Fink Verlag. Schmidt, Dagmar (2006): Kompliziertheit gegen Vereinfachung II. Kinderund Jugendtheater im neuen Jahrtausend. Eine Standortbestimmung für die Schauburg, Download: www.schauburg.net/download/schauburgbuecher/SchauB1990-06_56seitig.pdf, verifiziert am 1.2.2009. Vaßen, Florian (1997): »Verkehrte Welt? Der Stellenwert von Ästhetik in Theaterwissenschaft und Theaterpädagogik«. In: Jürgen Belgrad (Hg.), Ästhetik des Amateur- und Schultheaters, Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 57-66.
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Patenschaft und Par tnerschaft. Was die Schule von dem Theater er war tet 1 Marion Küster Erwartungen Von Gedichten erwartet man was man von einer Frau mit der man intim ist erwartet nämlich dass es nicht immer nur das wird was man erwartet und dass man beim Erkennen noch manchmal erkennt dass es nicht genügt wenn man wartet und etwas erwartet sondern dass man wenn man von einem Gedicht oder einer Frau mit der man intim ist oder von anderen Dingen zum Beispiel von einem Sonnenuntergang oder vom Leben nur einfach etwas erwartet eine falsche Erwartung hat Erich Fried
1. Der vorliegende Text basiert auf dem am 17.1.2008 in Frankfurt am Main gehaltenen Vortrag.
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Mir erscheint das Verhältnis von Theater und Schule, das Zusammenwirken mit oder eben der Ausschluss von der Pädagogik, oder das mal geachtete, mal gleichgültige ›Nebeneinanderherleben‹ der beiden Bereiche wie eine schon lang bestehende eheähnliche Gemeinschaft ohne Trauschein zu sein, also etwas, zu dem man sich eben nicht entschließen kann. Und wer weiß: Vielleicht ist das ja auch gut so, ehe man die Erwartungen des jeweils anderen gnadenlos, wie laut Vertrag vereinbart, erfüllen muss. Und vielleicht sind ja auch alle zufrieden mit dem Zustand der unverbindlichen Verbindlichkeit. Und doch scheint es so zu sein, als drängte es einen jeden Partner, Schule wie Theater, nach Gemeinschaft, die ja auch eine bedeutende Kraft nach außen darstellt: Bündelung von Ressourcen, sich gegenseitig stärkend in schwachen Zeiten, voneinander lernend, sich austauschend, beflügelnd, Anerkennung findend. Und nicht zu vergessen: Gemeinschaft bildet ja auch einen ökonomischen Vorteil, wenn man in der Lage ist gerecht und sinnvoll miteinander zu wirtschaften. Aber dem geht voraus, dass man den Prozess der eigenen Emanzipation durchlebt und sich aus der Hierarchie der gutbürgerlichen Ehe hinausbewegt hat, in der eine Rollenfestlegung zwischen Groß und Klein, bedeutend und weniger bedeutend, beschützend und schutzlos, versorgend und versorgt, außen und innen, zwischen Verdiener und Nichtverdiener die Ordnung bestimmte. In diesem Sinne: Was erwartet die Schule vom Theater? Erwartet die Schule etwas vom Theater? Ich denke, hier zeichnet sich bereits eine Schwierigkeit ab: Wir haben es mit einem Bündel von Erwartungen zu tun, sowohl mit individuellen als auch institutionellen, Schule und Theater, mit Erwartungen von Schülern, von Lehrern für ihre Schüler. Das Bündel muss immer wieder neu, den Entwicklungen im Inneren eines jeden Partners und im Blick auf alle Partner und der gesamtgesellschaftlichen Stellung der Partner entsprechend, betrachtet und entwirrt werden. Also ist es ein fortwährender Prozess. (Und dabei gehe ich bereits davon aus, dass wir von Partnerschaft überhaupt reden, was meine Erwartung an Theater und Schule ausdrückt.) Dann stünde damit im Zusammenhang die Frage, wie wollen wir diese Partnerschaft zwischen Schule und Theater heute und zukunftweisend gestalten, und wozu? In den letzten Jahren hat sich eine enorme Entwicklung, ein großes Wachstum an Formenvielfalt in Theatern und Theater in der Schule, aufgetan. In Vorbereitung auf diesen Beitrag habe ich mit großer Bewunderung die von der ASSITEJ erstellte Studie »Theater und Schule in Hessen« betrachtet, und mich dann mit Studenten, Lehrern, Theaterpädagogen und Schauspieldozenten vorrangig aus Mecklenburg-Vorpommern zu diesem 88
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Thema ausgetauscht. In den Gesprächen wurde mir erneut bewusst, welch Fortschritt und gewaltige Annäherung zwischen Theater und Schule bereits erreicht wurde. Ich darf sagen, dass ich, beginnend als Schauspielerin an ostdeutschen Theatern, das Glück hatte, die unterschiedlichsten Anwendungsfelder von Theater und Pädagogik zu durchlaufen. Nachdem ich zwölf Jahre zu Ostund Westbedingungen, Kinder- und Jugendtheater eingeschlossen, intensiv Theater gespielt habe, verließ ich den Musentempel und begann, mich über das Unterrichten von Schauspielstudenten mit dem Bereich der Theaterpädagogik im engeren Sinne zu befassen. Mit der Öffnung der Grenzen ergab sich unter Prof. Wolfgang Nickels Leitung die wunderbare Chance an der damaligen Hochschule der Künste (HdK) Theaterpädagogik zu studieren, was mir eine enorme Vielfalt der Einsetzbarkeit von Theater eröffnete: Über Theater in soziokulturellen Feldern, theaterpädagogische Arbeit an Theatern, später im Chor- und Orchesterbereich bis hin zur Anwendung von Theaterspiel in klinisch-therapeutischen Zusammenhängen einer Kinderund Jugendpsychiatrie, ja schließlich heute als Theaterlehrerin für Darstellendes Spiel in der Ausbildung von Lehramtstudenten an der Hochschule für Musik und Theater Rostock, konnte ich all diese Bereiche durchwandern und werde im Folgenden Ihnen meinen sehr persönlichen Ein- und Ausblick wiedergeben. So gesehen möchte ich den Leser einladen, mir auf eine Wanderung durch die unterschiedlichen Stationen zu folgen.
Mein Bild von der Schule in Deutschland Vorausschicken muss ich, dass ich kein Experte für Schulfragen bin. Dennoch möchte ich meine Wanderung an diesem Punkt beginnen. In besonderer Weise sind Menschen doch alle Experten auf diesem Gebiet, denn jeder hat die Schule in ausreichendem Maß durchlaufen. Und sicher teilen die meisten Menschen meine Auffassung: In der Gesamtheit sind unsere Schulen nach wie vor kaum zufriedenstellende Einrichtungen. Das Phänomen, mit großer Vorfreude den Tag des Eintritts in die Schule zu ersehnen und spätestens nach Abschluss der vierten Klasse in der Erwartung, den Wissensdurst lustvoll gestillt zu bekommen, enttäuscht zu sein, gehört in der Regel leider nicht der Vergangenheit an. Deutschland verfügt über ein breites Spektrum der verschiedensten Schulmodelle; die Zahl der privaten Schulen steigt. Aber darf es Ziel einer Gesellschaft sein, Bildung privaten Initiativen zu überlassen? Im Regelschulsystem verändert sich in Abhängigkeit von Legislaturperioden der Politiker viel in der äußeren Struktur, da wird hier ein Topf geöffnet, da ein anderer geschlossen. Die Lehrerschaft ist diesem Wandel 89
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ausgesetzt und hat die Kontinuität gegenüber den Schülern zu halten. Trotz williger Haltungen ist dieser Prozess ermüdend und zermürbend und endet nicht selten in resignierendem Rückzug. Wenn ich mit meinen Studenten zu den wöchentlichen schulpraktischen Übungen und Projekten die Regelschulen besuche, treffen wir auf bemühte Lehrer, die meine ganze Achtung haben, weil sie sich jeden Tag aufs Neue den Bedingungen stellen und aus diesen das Beste zu machen versuchen. Sie arbeiten mit großen Klassenstärken, mit Gruppen von teilweise interessierten aber oft schwer über längere Zeit konzentrierbaren Kindern und Jugendlichen, von denen viele einen mehr oder weniger komplizierten sozialen Hintergrund haben. Sie sind bemüht, gemeinsam mit den Kindern hässliche Räume schön und Lernstoff darin lebendig werden zu lassen. Als mein heute 55-jähriger Bruder seine Probleme mit dem damals bevorstehenden Wehrdienst meinem Vater gegenüber äußerte, hatte dieser, als junger Soldat durch Kriegserlebnisse massiv verängstigt und in seiner Psyche davon lebenslang gezeichnet, die Auffassung, die Disziplin des Wehrdienstes schade keinem und führe zu Ordnung und der Fähigkeit sich einzufügen. Das ist lange her. Doch muss ich an diesen Satz, wenn ich auch heute noch eine Vielzahl von Schulgebäuden sehe, immer wieder denken und frage mich, wirkt diese Auffassung des Lernens immer noch? Warum ist Schule nach wie vor so wenig lustbetont? Vielleicht, weil wir dauerhaft die ungestüme Lust unserer Kinder nicht ertragen? Warum bestrafen wir uns nach wie vor mit Strenge und stressen uns gegenseitig mit überhöhten Leistungserwartungen? Wobei ich Leistung durchaus befürworte, aber den Weg, Leistungsbereitschaft zu erreichen, hinterfrage ich. Und ich frage mich, ob wir deshalb so träge in unserer Veränderungswilligkeit sind, weil wir in der Praxis immer noch unbewusst unsere Kinder bestrafen für das, was uns selbst an Erziehung zuteil wurde. Ein Mensch hat es schwer, die Grenzen des selbst Erlebten zu überschreiten, und sind einmal angeeignete Strukturen automatisiert, kann er sie im Laufe des Lebens wohl schwer aufgeben. Sparen wir deshalb an Mitteln für Bildung? Gestalten wir deshalb unsere Schulhäuser und -systeme so unwürdig, dass Kinder wie Lehrer gestresst sind? Dauert es deshalb so lange, Theater in der Schule bundesweit zu integrieren? Dabei fehlt es doch schon lange nicht an ausreichend Erkenntnissen, Forderungen und mahnenden Stimmen. In seinem Artikel benennt Joachim Reiss die Situation zwischen Schule und Theater bildhaft konkret und bezieht sich auf die Bildungsforscherin Prof. Anne Bamford wie folgt: » [Sie] weist nach, dass ästhetische Bildung nicht einmal erworben wird und dann als vorhanden vorausgesetzt werden kann, sondern dass die Bildungsprozesse des Theaterspielens in 90
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jeder Entwicklungsphase eine besondere Bedeutung und Wirkung haben, also vom Kindergarten bis zum Studium regelmäßig angeboten werden müssen.« (Reiss 2007: 16f.) Und zur Ergänzung eine Erinnerung von Friedericke Schulz, eine meiner Studentinnen, an den Unterricht im Darstellenden Spiel in der Schule: »Theater war für mich immer die rettende Insel im Schulalltag, hier ging es um meine Mitschüler und mich, nicht um Stoff, der vermittelt werden musste, hier konnte jeder Ideen einbringen, über das Leben und sein Handeln nachdenken.«
Mein Bild von der Vielfalt des Theaters in Deutschland Indem ich von meinem eigenen Weg zum Theater berichte, lade ich auch den Leser auf eine Erinnerungsreise zu ersten Begegnungen mit dem Theater ein. Denn ich denke, es ist wichtig sich immer wieder darauf zu besinnen, um die lebendige Bindung zwischen dem eigenen Erleben und unserem jetzigen Tun zu erhalten. Es waren zunächst die Musik und der Tanz, die mich in die Nähe der Muse brachten. Eine Lehrerin in der Vorschule war es, und ich bin ihr bis heute dankbar, die meine Eltern dazu bewegte mich mit fünf Jahren zum Ballettunterricht anzumelden. Ein aufwändiges Unternehmen, denn wöchentlich wurde ich fortan von Eltern und Verwandten mit dem Bus in die nächstgelegene größere Stadt zum Tanzen begleitet. Ein Segen für mich, denn darüber wurde Schule leichter. Endlich gab es etwas, wo ich all meinem Bewegungs- und Ausdrucksdrang freien Lauf lassen konnte. Im Improvisieren nach Musik entstanden die schönsten Bilder, die ich mit meinem Körper malen durfte, das hätte ein Sportunterricht nicht im Entferntesten leisten können. Hier wurde ich mit meinen Träumen und Emotionen gesehen und erlebte, mich endlich in einer Fähigkeit zeigen zu dürfen und damit Anerkennung zu finden. Das Training an der Stange und die einzuübenden Tanzauff ührungen waren weniger erquicklich, doch nahm ich hier den Lernprozess an, weil ich spürte, wie darüber die Fähigkeit wuchs, das was mich innerlich bewegte, leibhaftig werden zu lassen und in dieser Weise mich meiner Umwelt mitzuteilen. Meine Erwartung, in dieser Weise fortzufahren, wurde enttäuscht: Es wurde schnell klar, dass ich sehr groß werden würde und damit für eine klassische Tanzlauf bahn ungeeignet. Aber die Zündschnur war gelegt und brannte fortan unaufhörlich. In der 8. Klasse, im Rahmen der so genannten Jugendstunden, fuhr unsere Schulklasse ins Theater, ein für die Weltliteratur gewiss unbedeu91
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tendes Stück, »Franziska Lesser«, wurde gegeben. Ein Mädchen meines damaligen Alters lehnte sich darin gegen Einengung und Angepasstsein in der Schule auf. Sie formulierte ihre Meinung und setzte eigene Vorstellungen durch, kam damit in Not, aber fand andererseits darüber Freunde und Mitstreiter. Dieses Theatererlebnis führte erneut zu einem veränderten Blick auf Schule und Lernen; darüber begann ich, eigene Gedanken zu entwickeln und Räume innerhalb der Schule für Veränderung zu entdecken. Die Darstellerin wurde von mir verehrt. Ich hatte ein Vorbild in der von ihr verkörperten Figur gefunden. Es interessierte mich, wo die Schauspielerin mitspielte, ich wollte alle Stücke sehen, eine wohl lebenslange Bindung zum Theater war entstanden. Dankbar stand ich dem Theater gegenüber, war es doch ein Ort, der meine Begeisterung zuließ, ja mobilisierte. Und anders als in der Literatur und auch der Musik empfand ich damals schon, dass Theater Menschen in ihren Beziehungen zueinander und deren Auseinandersetzungen auf der Bühne konkret und leibhaftig werden ließ. Aus dem Zuschauerraum heraus, sozusagen allein im Dunkel und doch in schützender Gemeinschaft, konnte ich Atem spürender Zeuge des Vorgehens werden. Für mich entstand der unbedingte Wunsch, die Seite zu wechseln, auf der Bühne zu stehen. Der Gedanke wurde auch deshalb so stark, weil mir zum damaligen Zeitpunkt kein Lebensraum so frei erschien wie die Bühne. Und bis zum heutigen Tag, nach vielen Jahren, in denen ich durchaus die Bühnenerfahrungen in die Lebensbühne integrieren konnte, genieße ich nach wie vor den leeren Bühnenraum, der vom Spieler Schritt für Schritt angefüllt und belebt werden kann, ein Raum für immer neue Entwürfe, die Gestalt gewinnen und zum Blühen gebracht werden. Heute, wenn ich an unserer Hochschule Schauspielstudenten die ersten Stunden im Grundlagenseminar unterrichte, befrage ich sie nach ihrer Motivation zum Beruf. Ich bekomme Geschichten von ihnen zu hören, die Variationen meines eben beschriebenen Erlebens sind. Und immer wieder höre ich gerade heute, übrigens auffallend oft von männlichen Studierenden die Antwort: Ich wollte etwas tun, wo ich mich mit dem ganzen Körper und mit meinem Gefühl ausdrücken darf. Ich möchte mich in verschiedenen Rollen ausprobieren und mich darüber mit dem Leben auseinandersetzen. Das genügt sicherlich nicht, um ein guter Schauspieler zu werden, aber es ist für mich der aufrichtigste Zugang zu einer von harten Kämpfen gezeichneten Berufslauf bahn. Immer öfter wird in diesem Zusammenhang auch von den Studierenden der Bezug zum Fach Darstellendes Spiel als einmalige und außergewöhnliche Möglichkeit des Lernens während der Schulzeit betont. So wie ich das Studium an unserer Hochschule sehe, erfüllt es in seiner Ausbildungsstruktur umfassend dieses Bedürfnis und es ist jedes Jahr 92
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beim Absolventenvorspiel faszinierend, zu beobachten, welch gewaltige Veränderung, Entwicklung und Reifung die Studenten im Verlauf des Studiums erfahren haben: Es treten individuell starke und ensemblefähige junge Schauspielerpersönlichkeiten in das Theaterleben ein. Doch werden hier dann nicht selten die durch die Ausbildung geprägten Erwartungen enttäuscht. Der Anspruch an Theater, das als Ensemblekunst bewegt und verändert, schwindet im Zwang des Überlebenskampfes der Theater in der Gesellschaft gegen die schnelleren Medien, im Bedienen des so genannten ›Publikumsgeschmacks‹, falls es den tatsächlich geben sollte. Die einen erliegen diesem Streben, die anderen schaffen sich Nischen. Alles existiert, das elitäre Theater der bürgerlichen Oberschicht, das Off -Theater, Performance, Interdisziplinarität zwischen den Künsten, Kinder- und Jugendtheater, ausreichend Formen des Mitspieltheaters. Und es gibt eine Reihe von wirklich guten Beispielen, wo an Theatern und bei Projektarbeiten genau dieses Wollen von Auseinandersetzung, Realitätsnähe und Ensemble erfüllt wird. Es wäre an dieser Stelle eine weitaus detailliertere Sicht nötig, um das Bild in all seinen Facetten zu zeigen.
Mein Bild von Darstellendem Spiel an der Schule Die Begegnung mit der Theaterpädagogik im weiteren Sinn stellte sich für mich gleich einer Erlösung dar. Die jährlich zehn bis zwölf Schauspielstudenten sind die Gewinner eines aufwändigen Auswahlverfahrens und haben die Chance, sich mit ihrem Studium ein Grundbedürfnis zu erfüllen, nämlich den in der Kindheit entrissenen Raum des Spielens, als Grundform des Lernens, im Erwachsendasein aufleben zu lassen. Aber ich fragte mich, warum der so reiche Schatz dieser Ausbildungsform, der so komplex alle Bereiche des Lebens anspricht, nur einer Elite zuteil werden kann. Darstellendes Spiel oder vielmehr Theater in der Schule ist, obligatorisch und projektorientiert in allen Schultypen, von der Grundschule bis zur Sekundarstufe 2 und auch in der Sonderpädagogik eingesetzt, ein unübertrefflicher Schatz für Lern- und Aufmerksamkeitsbereitschaft und die gesamte Schulbildung, weil dieser Unterricht in seiner Grundlagenarbeit wie kein anderer Fachunterricht die Basis für Eigen- und Fremdwahrnehmung, für Konzentration und Sensibilisierung, für Beziehungsarbeit sowie verbale und nonverbale Kommunikation schaffen kann. Und die Arbeit am auff ührungsorientierten Theaterprojekt bietet den Schülern in einmaliger Weise komplexes Lernen. Ulrike Hentschel schreibt dazu: 93
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»Spätestens seit den 1980er Jahren wird eine Entwicklung deutlich, die das Theaterspielen in der Schule nicht mehr primär aus seiner Funktion für den Gruppenprozess bzw. für die Persönlichkeitsentwicklung der Einzelnen begründet oder vor dem Hintergrund zu bearbeitender und darzustellender Inhalte legitimiert, sondern es als ein Fach ansieht, das ästhetische Bildung zum Ziel hat und sich entsprechend produktiv und rezeptiv mit der künstlerischen Praxis des Theaters auseinandersetzt.« (Hentschel 2007: 5)
An anderer Stelle bedient sie sich Wolfgang Stings Charakterisierung der Projektarbeit wie folgt: »[…] In diesem Sinne umfasst produktionsorientierte Theaterarbeit den ganzen Weg der künstlerischen Arbeit, von der Auswahl und dramaturgischen Strukturierung des Materials, der Er- und Bearbeitung des Materials als Gruppenarbeit, den sozialen Interaktionen dabei bis zur Formung eines ästhetischen Produkts und zur Realisierung einer Aufführung.« (Hentschel 2007: 10)
Aus diesen Aussagen ist komprimiert die inhaltlich enge Partnerschaft zwischen Theater und Schule erkennbar. Ich teile diese Auffassung, möchte jedoch ergänzend noch etwas hinzufügen. Das intensive Studium der Grundlagen des Schauspiels bietet für die Schauspielschüler den Boden für erfolgreiches Theaterspiel, hier wird begriffen was es heißt, einen Vorgang, eine Situation, eine Figur zu entwickeln und improvisieren zu lernen. Dieses Studium sollte auch für das Theater in der Schule nicht vernachlässigt werden, damit Theater von seinen ersten Schritten her begriffen wird. Wir wollen keine Schauspieler in diesem Unterricht ausbilden, doch bergen gerade diese Schritte ein Potential in sich, das einerseits auf die Situation der Schüler angewandt, Fähigkeiten ausbildet, Lebensprozesse im Detail beobachten, nachvollziehen und verstehen zu lernen und anderseits Achtung sowie tiefes Verständnis für die Arbeit des Schauspielers hervorbringt und ihnen vermittelt, Bühnenprozessen aufmerksam zu folgen und sie zu entschlüsseln. Darüber hinaus möchte ich, unter dem Aspekt, dass wir keine Schauspieler ausbilden wollen, wertschätzend für die kreativen, kollektiven Produkte von Theaterprojekten in der Schule, die Bedeutung des Transfers der hervorgebrachten Leistungen auf die Erfahrungsfelder der Schülerspieler betonen. Ich halte es für ausgesprochen notwendig, die Projekte sorgfältig zu reflektieren, damit die gewonnene Rollenerfahrung in das Leben integriert werden kann. Die Inhalte des Faches Theater, Grundlagenunterricht und produktionsorientierte Theaterarbeit, fügen sich so sowohl im wöchentlichen Stundenplan als auch in Projektformen zum festen Bestandteil des Fächerkanons. 94
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Nun möchte ich einen Augenblick bei der Ausbildung von Lehramtsstudenten im Fach Darstellendes Spiel verweilen. Wenn wir Theater in der Schule als drittes künstlerisch-ästhetisches Fach weiter und grundständig etablieren, muss damit einhergehen, dass das Fach in der Lehramtsausbildung an den Hochschulen und Universitäten einen gebührenden Platz erhält, denn nur gut ausgebildete Lehrer können den oben benannten Anspruch an das Fach garantieren. Darüber hinaus sollten Basismodule für das Fach Theater obligatorisch allen Lehramtstudenten vermittelt werden. An dieser Stelle möchte ich meine Studenten zu Wort kommen lassen. Daniel Münzner, ein Lehramtsstudent für Biologie, der Darstellendes Spiel als Beifach wählte, äußerte sich nach dem Wert von Darstellendem Spiel befragt so: »In einem DS-Seminar (z.B. Grundkurs, oder gerade die Schulpraktische Übung) habe ich für die Anwendung von Pädagogik und Psychologie mehr gelernt als in dem gesamten Uni-Studium. Auch didaktisch habe ich mir hier ganz neue Felder erschließen können. Vieles aus den Grundkursen, vom Ansatz bis hin zu genauen Übungen, zählt zum Standardrepertoire moderner Seminargestaltung. An der Uni wird dies nicht vermittelt. Da beginnt ja immer noch ein Seminar mit: Wir sitzen alle am Tisch und sagen brav unseren Namen.«
Stefanie Bode, eine Referendarsanwärterin für Sonderpädagogik und Darstellendes Spiel als Fach schrieb mir folgendes: »Bisher ist es leider so, dass Darstellendes Spiel in keinem Bundesland anerkannt wird. Aussagen, die ich auf der Suche nach einem Referendariatsplatz hörte waren: Das ist doch ein altes Fach aus der DDR, oder? Wie konnten Sie nur so etwas studieren? Es kann ja sein, dass das Fach ganz nett ist, aber wie wollen sie denn den Kindern Wissen vermitteln?«
Und die gleiche Studentin schreibt, nachdem sie nach langer Suche einen Platz für sich fand: »Seit August habe ich eine AG Darstellendes Spiel in der Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Es gibt massive Verhaltensauffälligkeiten und häufig Ambitionen, den Schulbesuch komplett zu verweigern. Ein Schüler meiner AG erzählte mir, dass er jetzt nicht mehr schwänzen wird, weil er immer zur AG kommen möchte. Ein weiterer Schüler ist kaum auf dem Stuhl zu halten und kann sich nur schwer konzentrieren. Auf der Bühne jedoch erstrahlt er, seine Bewegungen verändern sich von fahrig, hektisch hin zu großen, langsameren, eindeutigen Bewegungen. Er hat große Freude daran, neue Rollen auszuprobieren und sich sprachlich gewählt auszudrücken.« Sie schreibt weiter: »Für mich ist DS aus
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dem Schulalltag nicht mehr wegzudenken, da man einen anderen Zugang zu den Schülern bekommt. Durch das gemeinsame Spiel entsteht eine partnerschaftliche Ebene auf der sich mehr erreichen lässt. Darüber hinaus sind Lerninhalte anschaulicher vermittelbar, da Darstellendes Spiel auch eine Menge Möglichkeiten bietet, fächerübergreifend zu arbeiten.«
Mein Bild von der Theaterpädagogik Theaterpädagogische Angebote haben in allen Feldern unserer Gesellschaft, von den sozialen über die medizinisch-therapeutischen bis hin zu wirtschaftlichen Bereichen, erfolgreich Einzug gehalten. Als ich 1995 den Aufbau der Theaterpädagogischen Abteilung am Theater Vorpommern übernahm, war ich nahezu täglich dazu angehalten zu erklären, was dies denn bedeute und als kurze Zeit später Jugendliche in einer Vorstellungspause im Foyer zu randalieren begannen, wurde fälschlicher Weise nach mir als der dafür verantwortlichen ›Sozialpädagogin‹ gerufen. Von meinen ehemaligen Schauspielkollegen wurde zunächst bedauernd nachgefragt, welcher Karriereknick oder welches Leiden wohl verantwortlich dafür wäre, dass ich in diesem Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gelandet sei. Das ist zwölf Jahre her. Seit dieser Zeit hat sich viel verändert. Kaum ein Theater, ob Staats-, Stadt- oder Kinder- und Jugendtheater mag inzwischen auf einen Theaterpädagogen verzichten, ausgehend von anfänglichen ABM-Stellen sind Vakanzen geschaffen worden. Theaterpädagogik dient nicht mehr der Öffentlichkeitsarbeit als Vehikel, den Vorstellungen Publikum zuzuführen, sondern hat sich mit einem eigenen künstlerischen Profi l zum eigenständigen Bereich entwickelt und erschließt durch künstlerisch-ästhetische Angebote allen Bevölkerungsgruppen ungewöhnliche Zugänge an Theater teilzuhaben. Damit trägt die Theaterpädagogik zur Veränderung von Theaterstrukturen bei. »›Theater sehen‹ und ›Theater spielen‹ gehören wie ein Paar Schuhe zueinander.« Christel Hoffmann schreibt in ihrem Aufsatz »Für ein neues Volkstheater« weiter: »Die Suche nach der immer wieder neu zu definierenden gesellschaftlichen Funktion weist in diese Richtung. Auch wenn beide Seiten unter diesem Überbegriff erscheinen, muss man das Theater mit Kindern und das Theater für Kinder zunächst getrennt denken, um es zusammenzubringen. Es gilt herauszufinden, wie und wo sie sich unterscheiden, um Gemeinsamkeiten festzustellen.« (Hoffmann 2007: 16)
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Christel Hoffmann bezieht sich hier nicht explizit auf das Theater in der Schule. Doch gefällt mir der Gedanke der Trennung, um eine sinnvolle Ordnung herzustellen. Machen wir uns nichts vor: Auch wenn Theater eine Ensemblekunst ist, so sind der Theaterbetrieb und der Produktionsprozess von einer klaren Hierarchie gezeichnet und auch die unterschiedlichen Formen und Anwendungsbereiche des Theaters unterliegen dieser. Sie ist hartnäckig, hat alle geschehenen Veränderungen überlebt und wohnt immer noch fest in unseren Köpfen: Dem Staats- und Stadttheater folgen die Kinder- und Jugendtheater, die Theaterpädagogik schließt sich an und am Ende der gesellschaftlichen Anerkennungsleiter steht das Darstellende Spiel in der Schule. Ein Beispiel: Immer noch empfinden Schauspielabsolventen in den meisten Fällen das Engagement an einem Kinder- und Jugendtheater zunächst als ein Problem für ihre Lauf bahn. Nur selten habe ich es erlebt, dass ein Schauspielstudent den Wunsch äußerte, an ein Kinder- und Jugendtheater zu gehen. Das schließt nicht aus, dass sich die Beziehung dazu während des Engagements grundsätzlich in Begeisterung verwandelt. Ein anderes Beispiel: Die Lehramtsausbildung des Faches Darstellendes Spiel ist an der HMT Rostock am Institut für Schauspiel beheimatet, eine in Deutschland noch seltene Situation. Doch den fachlichen Austausch untereinander zu beleben, ja ein tatsächliches Interesse an den Inhalten der Ausbildung bei den Kollegen und Studenten des Schauspiels zu wecken, ist ein schwieriger und komplexer Prozess seit Beginn, der nicht ausschließlich einem Mangel an Zeit geschuldet ist. Auf anderer Ebene betrachtet: Am Institut studieren 40 Studenten Schauspiel, 50 Studenten Darstellendes Spiel. Für den Schauspielbereich stehen drei Lehrkräfte, für Darstellendes Spiel eine einzige hauptamtlich zur Verfügung. Aber die oben benannte heimliche Rangfolge birgt eine andere Perspektive in sich. Theaterpädagogik und Theater in der Schule standen nicht im Zentrum des Theatergeschehens. Dieses gesellschaftlich nicht ernst genommene Werden bot, zwar nicht luxuriös, aber doch gewaltigen Freiraum zum Experimentieren. Begibt man sich nicht ins beleidigte Abseits, bündelt diese Situation die Kräfte und provoziert Inhalte, Anliegen und Grenzen sowie die gesellschaftliche Berechtigung zu artikulieren. Das ist meiner Betrachtung nach in den letzten Jahren empirisch wie wissenschaftlich geschehen. Theaterpädagogik und vor allem Theater an der Schule hat sich zu einem eigen- und selbständigen und nicht mehr zu übersehenden Bereich emanzipiert und geordnet. Als Wolfgang Schneider im Sommer 2007 in Hong Kong das Grußwort der ASSITEJ zum Weltkongress an IDEA richtete, habe ich das als eine Botschaft in diesem Sinne empfunden. 97
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Mein Bild von Schule und Theater Die Tatsache, dass der Bereich des Theaters in der Schule ein gewachsener ist, hat sich für mich beim Erfassen der Studie »Schule und Theater in Hessen« deutlich vertieft. Die Befragung meiner Studenten zu diesem Thema hat mich teils erfreut und anderseits überrascht, da sie mir zunächst ausschließlich über die Vorzüge von Theater in der Schule und nur am Rande über die Beziehungen zwischen dem Theater und der Schule berichteten. Das, obwohl sie, sagen wir mal, zu 90 Prozent begeisterte Theatergänger sind. Positiv betrachtet, bestätigen mir diese Rückmeldungen das Selbstverständnis und die Unabhängigkeit vom Theater in ihrer beruflichen Zielsetzung. Das Bedürfnis, selbst Theater in den Schulen zu initiieren ist größer, als Theater zu betrachten, und dies in hoher Qualität in der zukünftigen Lehrertätigkeit zu tun, liegt im Zentrum ihres Interesses. Die Betrachtungen der Studie und der studentischen Meinungen fordern mich jedoch zum Nachdenken auf, hier besteht die Dringlichkeit, die Perspektiven der Rezeption von Theater noch mehr als einen Schwerpunkt in der Ausbildung anzusehen. Wenn wir die Frage nach den Erwartungen von Schule an Theater stellen, heißt das zunächst einmal für mich das Eine: Theaterlehrer an den Schulen brauchen die Anerkennung und Würdigung ihrer eigenständigen und gleichberechtigten Arbeit durch die Institution Theater und die Künstler. Damit sollte eine Entmystifizierung der jeweils verfestigten Rollenbilder einhergehen, denn nur so kann man das Gegenüber als realen Partner in seinen Stärken und Schwächen erkennen und tatsächliche Annäherung und Brückenbau an den richtigen Stellen werden möglich sein. Als ich vor drei Jahren an der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes Darstellendes Spiel (BVDS) in Schwerin teilnahm, wurde thematisiert, dass über die Ganztagsschule auch mehr außerschulische Bereiche Eingang in die Schule finden sollten. Vom Theater kommend begrüßte ich den Gedanken sofort und war über die teilweise abwehrende Reaktion der Lehrer völlig erstaunt. Später verstand ich die Befürchtungen: Es bestand die Angst, das mühsam erbaute und selbst im Rahmen der Schule nicht ausreichend gesicherte Gebäude des Darstellenden Spiels wieder zu verlieren und im fachspezifischen Fortschritt zurückgeworfen zu werden. Was die Schule vom Theater hier erwarten muss, ist weit reichende und wertschätzende Aufklärung über den Bereich »Theater an der Schule« an den Theatern. Wenn einerseits die völlig berechtigte und dringliche Forderung nach qualifizierten Theaterlehrern in der Schule und damit die Etablierung von weiteren Studiengängen für dieses Fach an Universitäten und Hochschu98
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len erschallt, besteht für mich ebenso in der Umkehrung die Forderung, dass auch Theaterkünstler sich auf das pädagogische Feld von Vermittlung einlassen, wenn sie am pädagogischen Prozess teilhaben wollen. Ich möchte hier nicht, um in Joachim Reiss’ Bild zu bleiben, »eine alte Baustelle«, die Pädagogisierung des Theaters, neu eröffnen. So wie »Theater in der Schule« seine Akzeptanz fordert, muss das Theater seine Eigenständigkeit bewahren. Und ich schließe mich noch einmal Christel Hoffmann an: »Für uns ist Theater keine Fortsetzung des Unterrichts mit anderen Mitteln, auch wenn es sich programmatisch an Kinder wendet. Es spricht in der Sprache der Kunst, über eine andere verfügt es nicht.« (Hoffmann 2006: 157)
Wenn Künstler in die Aus- und Fortbildung der Theaterlehrer eingreifen, sollen sie die Welt des Theaters vermitteln, aber sich auch der Spezifi k des Faches Theater an der Schule bewusst sein. Im Zuge der Studienreform an unserer Hochschule und durch die wachsende Präsenz des Faches Darstellendes Spiel, die meine Studenten und ich durch zähe Beharrlichkeit erreicht haben, eröffnet sich jetzt die Diskussion, Module des Faches Darstellendes Spiel auch für Schauspielstudenten zu öffnen und im Gegenzug im Bereich Schauspiel Seminare auch mehr gemeinsam zu nutzen. Wir tun dies bereits im Rahmen des Szenenstudiums, indem DS-Studierende unter spezifisch theaterpädagogischen Aufgabenstellungen den Arbeitsprozess der Schauspieler beobachten, ein wertvoller Schritt im gegenseitigen Kennenlernen und verstehen. In der Ausbildung von DS-Lehramtstudenten ist es bereits so, dass Theaterschaffende über Lehraufträge das Lehrangebot mitgestalten. Den Bereich der Theaterpädagogik an den Theatern habe ich oben gewürdigt. Aber ist es an den Theatern nicht damit genug getan, wenn Theaterpädagogik den Bereich des Kontaktes zu den Schulen, der Beratung, Anleitung, Inszenierungsbetreuung und der Fortbildung abdeckt? Schule muss in der Institution Theater einen wohlwollenden und verlässlichen Partner sehen können, der seine Kraft und die ganze Unterstützung zur Durchsetzung der politischen Forderung nach der grundständigen Einführung des Faches Theater als drittes künstlerisch-ästhetisches Fach in allen Schultypen einsetzt. Und das darf, wie die Studie hervorragend verdeutlicht, nicht schwerpunktmäßig im Bereich der Gymnasien passieren, sondern und vor allem an Grundschulen, im Gesamt-, Regional- und Hauptschulbereich und intensiv in den Feldern der sonderpädagogischen Angebote. Es genügt nicht, wenn wir diejenigen fördern, die bereits gute Bedingungen haben. Die Studie gibt in guter Übersicht und detailliert wieder, wo bereits 99
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Brücken zwischen Schule und Theater bestehen. Und diese konzentrieren sich eben doch sehr auf den Bereich der Gymnasien. Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle Gedanken aus meinen Gesprächen mit der Direktorin und Lehrerin der Rostocker kooperativen Gesamtschule wiedergeben. Aus den Gesprächen ging hervor, dass das Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem Theater sehr groß ist und Theaterbesuche mit allen Klassenstufen zum festen Bestandteil der Unterrichtsgestaltung gehören. Die Lehrer würden sich wünschen, dass Theater noch flexibler auf die Notwendigkeit langfristiger Planung in der Schule reagiert. Schule braucht langfristige, kontinuierliche und geduldige Betreuung. Ein Problem, dass ich aus meiner Tätigkeit als Theaterpädagogin von der anderen Perspektive her bestätigen kann. Der Organisationsaufwand beider Institutionen ist hoch und sensibel zu handhaben. Auch das Theater weist in seinen Produktionszwängen Schwierigkeiten der Öffnung auf, so dass mitunter der beidseitig gute Wille im Planungswirrwarr erstickt. Allerdings muss ich hinzufügen, dass ich mich mitunter am Theater besonders bei Probenbesuchen und Führungen fragte, ob Kinder und Jugendliche in ihrer ungestümen Kraft bei den Produktionsabläufen des Theaters wirklich willkommen sind, oder ob die Theater nicht auch Spielplätze der Erwachsenen sind, wo sie sich nicht gern von Kindern stören lassen wollen. Ein kurzes Beispiel: Nach dem Probenbesuch einer Gruppe von Hauptschülern in einer Konzertprobe schlief ein Schüler ein. Im Auswertungsgespräch mit den Musikern wurde der Vorwurf erhoben, ich möchte doch bitte musikinteressierte Schüler in die Probe bringen, man wolle sich nicht prostituieren. Im Nachgespräch jedoch hatte ich eine sehr berührende Begegnung mit dem Schüler, denn er beschrieb, dass er das erste Mal klassische Musik gehört habe und diese auf ihn überraschender Weise so entspannend gewirkt habe, dass er eingeschlafen sei. Ich habe ihm geglaubt und fand einen Erfolg, dass der Junge, der sich ständig über Kopfhörer mit ›Techno‹ beschallen ließ, ein Musikerlebnis anderer Art hatte. Was ich damit sagen will ist, Schüler brauchen auch die Geduld und das Verständnis der Künstler für ihre Art, Erfahrungen zu machen. Und das ist etwas, was es, wie die Kolleginnen berichteten, den Lehrern mitunter auch schwer macht, gerade mit Nicht-Gymnasiasten in die Theater zu kommen, weil sie befürchten, den Erwartungshaltungen der Künstler an ihr Publikum nicht entsprechen zu können. Die Kolleginnen wünschen sich in diesem Zusammenhang auch, dass in der Spielplangestaltung neben der Klassik und aktuellen Jugendstücken noch mehr über den Weg von Leichtigkeit und Humor auf die Welten der Kinder und Jugendlichen eingegangen wird. Besonders für die Schüler der Orientierungsstufen und der Sekundarstufe 1 seien zu wenig altersgerechte Stückangebote im Spielplan. 100
Patenschaf t und Par tnerschaf t. Was die Schule von dem Theater erwar tet
»Es wäre wünschenswert«, sagt Hans-Peter Bergner bei der Verleihung des Deutschen Kindertheaterpreises 2006, »dass sich Jugendliche auch noch intensiver bei der Spielplangestaltung der Theater beteiligen. Ziehen Sie doch eher die Meinung eines Schülers zu Rate, wenn es um derartige Entscheidungen geht, bevor Sie die aktuellen Lehrpläne nach Unterrichtsstoff durchforsten.« (Taube 2007) Die Kolleginnen teilten mir mit, dass sie die Unterstützung des Theaters durch Vor- und Nachbereitungsmaterial und Workshops in dieser Richtung ausgesprochen begrüßen. Sie sind froh, wenn Theaterschaffende die Schule besuchen, um über besondere Angebote selbst Kontakt mit den Schülern aufzunehmen. Sie sprachen darüber, dass es mitunter Partnerschaften zwischen Schauspielern und Schulklassen gegeben habe, die sehr gut funktionierten. Das ersetze den Unterricht im Fach Theater nicht, habe aber insofern Katalysatorwirkung, als die Welt der Schule von außen her belebt und neue Perspektiven im Denken und Handeln aufgeworfen würden. Ich denke, dass die TUSCH-Projekte hier wirklich sehr gute Beispiele für diese Art Patenschaften sind. Laut Lehrermeinung helfe der Fachunterricht Theater enorm, die Schwellenangst vor dem Theater zu mindern und führe durch das Erleben des Rollenspiels dazu, dass größere Aufmerksamkeit beim Verfolgen einer Theatervorstellung gegeben sei. Die räumliche Situation für Theater an den Schulen ist oft noch schlecht. Hier könnten die Theater helfen, an den Schulen durchzusetzen, dass Theaterräume geschaffen und mit ihrer fachlichen Unterstützung ausgestattet werden. Lehrer, insbesondere Theaterlehrer, brauchen den Kontakt zu Theaterschaffenden, einschließlich Theaterpädagogen, zur kontinuierlichen Information und zum Austausch, als Impulsgeber und künstlerischen Berater, und sie stehen diesem Prozess praktischer Fortbildung aufgeschlossen gegenüber. Eine Erfahrung, die ich ebenfalls aus meiner Theaterpraxis wiedergeben kann: Lehrer sind ausgesprochen dankbare Werkstattteilnehmer und genießen es außerordentlich, wenn sie auf der Seite der Spielenden sein dürfen und die Position der Lehrenden abgeben dürfen. Eine Frage der Lehrerin am Ende des Gespräches berührte mich in besonderer Weise: »Wie viel Raum für Spiel lässt die Gesellschaft denn uns allen heute noch?« Schule und Theater müssen sich gegenüber einer Bildungs- und Kulturpolitik, die auf Sparen ausgerichtet ist – in der getrennt wird in Gruppen, die sich Bildung und Kultur leisten können und in andere, die das nicht können – als Verbündete begreifen und als solche auftreten, damit uns dieser Spielraum gesichert bleibt und das Spiel Einfluss zurückgewinnt. Und das sollten wir gerade für diejenigen tun, die Spiel am nötigsten haben, für 101
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Kinder und Jugendliche wirklich aller Schulentypen. Gemeinsam müssen Schule und Theater immer wieder an höchster Stelle mit Hartnäckigkeit begreiflich machen, dass Bildung und Kultur den Reichtum eines Landes charakterisieren.
Wahrnehmung schulen und Interesse bekunden Zusammenarbeit zwischen Schule und Theater ist eine langfristig angelegte, von Geduld gezeichnete, oft leider nicht von rauschendem Applaus begleitete Angelegenheit. Sie erfordert nicht nur oberflächliches Umdenken. Aber diese Arbeit ist lohnend darin, dass uns mit Theater hier wie da ein gemeinsames Ziel verbindet: Über Theater mit und für Kinder und Jugendliche werden Chancen eröff net werden, sich selbst, die Welt der Erfahrung, des Erlebens und der Visionen neu zu besetzen, die eigene, festgelegte Rolle eines Verlierers gegen die eines Aktiven, für Selbstverantwortlichkeit eintretenden Menschen zu tauschen. Wir sollten aufmerksam aufeinander schauen, immer wieder im Detail sorgsam prüfen, worin wir wirklich aneinander interessiert sind, und sollten es zunächst nur Überlebensstrategien sein, die aneinander binden, auch eine Notgemeinschaft kann hilfreich sein, man muss es nur wissen. Wir sollten wohl unsere Berührungsängste, sich gegenseitig etwas wegnehmen zu können, wahrnehmen, jedoch auf hören sie zu pflegen, aus der Angst heraus handelt es sich schlecht. Sowohl Schule als auch Theater sind veränderungswürdige Institutionen. Theaterpädagogik und Theater in der Schule sind Bereiche, die im Theater und der Schule das verbindende Glied bei Veränderungswilligkeit sein können, nämlich eine Besinnung auf den Gedanken des Spiels, auf Rituale, auf Ausprobieren, auf Ensemble, auf gemeinsames Gestalten mit sparsamen Mitteln, auf Bedürfnisse, auf Lebensnähe. »Wir müssen also oft und immer wieder enttäuscht werden, bis wir es gelernt haben, dass es besser ist, keine Erwartungen zu haben. Auch wenn wir es uns immer wieder vornehmen, ohne Erwartungen in gerade zwischenmenschliche Situationen zu gehen, sind sie doch da, weil einfach das Ziel den Reiz ausmacht.« (Wikipedia 2007)
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Literatur Bergner, Hans-Peter (2007): »Rede bei der Verleihung des Deutschen Kindertheaterpreises 2006«. In: Gerd Taube, »Kinder- und Jugendtheater ist Kulturelle Bildung«. In: IXYPSILONZETT 1, Theater der Zeit, S. 2627. Fried, Erich (2006): Gesammelte Werke, Berlin: Wagenbach. Hentschel, Ulrike (2007): »Theater und Schule«. In: Siemens Arts Program (Hg.), kiss. Theater und Neue Dramatik in der Schule, München: Siemens, S. 4-11. Hoffmann, Christel (2007): »Für ein neues Volkstheater«. In: IXYPSILONZETT 1, Theater der Zeit, S. 16-20. Hoffmann, Christel (1975): »Der Schauspieler und die Schule«. In: Christel Hoffmann (2006), spiel.raum.theater, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, S. 157-165. Reiss, Joachim (2007): »Alte Baustellen schließen – neue eröffnen.« In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 53, S. 16-19.
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›Theater spielen‹ und ›Theater sehen‹ sind eigentlich zwei Seiten einer Medaille, die sich allerdings immer häufiger nur noch von einer Seite zeigt: Kinder bekommen theaterpädagogische Angebote, während der Auff ührungsbesuch im Theater seltener auf der Tagesordnung von Pädagogen und Bildungsplanern steht. Im Boom der ästhetischen und kulturellen Bildung haben es professionelle Inszenierungen paradoxerweise schwer, sich zu behaupten. Im Folgenden werden grundlegende Gedanken zum Zusammenspiel von Theater und Theaterpädagogik sowie zur Bedeutung der Theaterkunst in Bildungsprozessen, in Politik und Gesellschaft entwickelt. Die Rolle der Theaterpädagogik ist dabei, sich und ihr Verhältnis zum professionellen Kunsttheater zu verändern. Freie Theater sehen sich als mobile Akademien kultureller Bildung, das Kerngeschäft, die professionelle Kunst scheint immer weniger gebraucht zu werden. Bei aller Wertschätzung der Aufsehen erregenden tanzpädagogischen Arbeit Royston Maldoons2: Es ist nicht nur dort Bildung drin, wo Bildung draufsteht. Gegenüber theater-, tanz- und kunstpädagogischen Angeboten haben es professionelle schwer, sich zu behaupten, Pädagogen und Bildungsplaner Schwierigkeiten, Argumentationen zu finden: Brauchen wir überhaupt ein 1. Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung des Vortrags im Rahmen der Fachtagung »Zwischenspiel – Theaterpädagogik und Theater«, anlässlich des Internationalen Theaterfestivals Panoptikum 14.2.2008, Nürnberg Theater Mummpitz. 2. Royston Maldoons Arbeit mit Jugendlichen ist in dem Film »Rhythm is it!« dokumentiert.
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spezielles von Erwachsenen gemachtes Kinder- und Jugendtheater, wenn doch der Workshop so viel bildungsträchtiger zu sein scheint? In einem ersten Schritt soll hier ein Blick in die Geschichte der Theaterpädagogik geworfen werden, die in enger Bindung an das Theater für Kinder und Jugendliche sowie seiner Entwicklungen entstanden ist. Um dann in einem zweiten Schritt die Frage zu diskutieren: Was ist es denn, was das ›Theater sehen‹ und das ›Theater spielen‹ so wichtig für Bildungsprozesse werden lässt? Dabei werde ich näher auf die Eigenart des Mediums Theater eingehen. In einem dritten Teil werden Ausführungen zum Bildungsbegriff gemacht und ein, wie ich meine, neuer Horizont aufgespannt, der in der Geschichte bereits angelegt ist: Die politische Dimension des Theaters und der Theaterpädagogik.
Theaterpädagogik – Von der Emanzipation zum Casting Der Weg, den die Theaterpädagogik in den vergangenen dreißig Jahren zurückgelegt hat, ist von zahlreichen Stationen gekennzeichnet, die an dieser Stelle nur kurz gestreift werden können. Ich möchte zunächst in Erinnerung rufen: Theaterpädagogik ist in Deutschland als der Versuch entstanden, dem von Natur aus flüchtigen ephemeren Theatererlebnis Nachhaltigkeit zu sichern. Das Grips-Theater war in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur Wegbereiter für ein spezielles Theater, das sich an ein neues Publikum – nämlich die Kinder – wendete, sondern auch Initiator der Theaterpädagogik an Theatern in Form von gezielter Vor- und Nachbereitung von Theaterbesuchen. Dazu gehörte damals aber noch nicht das aktive Spielen der Kinder und Jugendlichen, sondern es handelte sich um Begleitmaterial, Hintergrundmaterial, Unterrichtsvorschläge für Lehrer und Schüler. Aus diesen sozusagen flankierenden Maßnahmen entstand dann die Theaterpädagogik wie wir sie heute an Theatern kennen: als aktive Spielangebote für das junge Publikum, in der Schule und oder direkt an den Theatern. Ein weiterer wichtiger Grund für das Entstehen von theaterpädagogischen Aktivitäten an Theatern war die Ausbildung spezieller Theaterangebote für Kinder, also für ein Publikum, das nicht von allein, sondern nur durch die Vermittlung von Schule und Elternhaus den Weg ins Theater fand. Von daher war die Schule der wichtigste Kontaktpartner theaterpädagogischer Angebote der Theater. Parallel zur Vor- und Nachbereitung von Unterrichtsprozessen gab es den Versuch, direkt mit spielerischen Mitteln in die Alltagsrealität von Kindern einzugreifen. Volkhard Paris und Helme Ebert führten – auch 106
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motiviert von einem kämpferischen Impetus gegen das professionelle Berufstheater, das als entfremdete Institution wahrgenommen wurde – Projekte mit Kindern in sozialen Brennpunkten durch. Das Kindertheater im Märkischen Viertel in Berlin verband Rollenspiel, politisches Lernen und Spielaktionen.3 In Italien und der Schweiz entwickelte sich parallel die AnimazioneBewegung, die den Prozess des Spielens und Improvisierens sowie den Gedanken der Partizipation in den Mittelpunkt ihrer Projekte stellt. Hier ist besonders Ilse Hanl zu erwähnen. Hervorzuheben in dieser notwendig kurzen Reihung sind auch die besonderen Aktivitäten, die in der DDR den kreativen Angeboten für Kinder gewidmet waren. Die herausragende Bedeutung, die das Kinder- und Jugendtheater in der DDR einnahm, ist im Zusammenhang mit einem sozialistischen Bildungs- und Erziehungsideal zu verstehen. Theater für und mit Kindern zu machen, hieß gesellschaftliche Zukunft gestalten.
Die Geschichte eines Fachs Die Theaterpädagogik hat zwei Füße: das Theater und die Pädagogik. Beide sind nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. So ist die Theaterpädagogik geprägt durch ihre Geschichte, die in Deutschland eng verbunden ist mit der des Kinder- und Jugendtheaters aber auch mit den Entwicklungen von Erziehungsprogrammen. Sie ist abhängig von Entwicklungen der Kunstform Theater und von pädagogischen, didaktischen und politischen Bildungsvorstellungen. Ihren Namen erhält die Theaterpädagogik in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts, Theater und Spiel werden im Kontext der sozialdemokratischen Bildungsoffensive und den neuen sozialen Bewegungen als Mittel der politischen Bildung und gesellschaftlichen Emanzipation entdeckt und in Gegensatz zu einem kunstdidaktischen Verständnis gestellt. Theaterarbeit wurde verstanden als ›Erziehung zur Mündigkeit und politischen Teilhabe‹ mit dem Ziel, persönliche und politische Handlungskompetenz zu erwerben. 4 Mitte der 1980er Jahre wurden die ästhetische Erfahrung und die Vermittlung ›ästhetisch-künstlerischer Kompetenzen‹ in den Vor3. Einige Beispiele von Publikationen aus den 1970er Jahren: siehe Literaturverzeichnis. 4. In diesem Sinne gehörte Theaterpädagogik zu einem im weitesten Sinne anti-autoritären Selbstverständnis, das sich beispielsweise im Grips-Theater explizit formulierte. In einem Handzettel zu »Maximilian Pfeifferling« wurde dem Publikum mitgeteilt: »Darum vermeiden wir jede Art repressiver Pädagogik, der
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dergrund gestellt (ästhetische Bildung als Persönlichkeitsbildung). In den 1990er Jahren nahm man unter dem für die kulturelle Bildung wichtigen Begriff der »Lebenskunst« wieder beides in den Blick. Um die Realität zu bewältigen, sind ästhetische Schlüsselkompetenzen wichtig: »Erziehung und Selbsterziehung zum Leben können« (vgl. Schmid 2000).
Selbstgestaltung bedar f der äußeren Gestaltung Es gab schon früher Versuche, Theater und Spiel für pädagogische und politische Zwecke nutzbar zu machen. Ich erinnere hier nur kurz an die didaktischen Dramen der Humanisten im 16. Jahrhundert, an Amos Comenius, der den erzieherischen Wert des Spiels entdeckt, an Jean Jacques Rousseau, der das Spiel als Quelle ursprünglicher Erfahrung betrachtet, an Johann Wolfgang v. Goethe, an Johann Gottlieb Fröbel im Zusammenhang mit der Kindergartenerziehung, schließlich an die Reformpädagogik im 20. Jahrhundert, die den ganzen Menschen ansprechen wollte, um die Schäden, die durch die Arbeitsteilung in der Industriegesellschaft hervorgebracht werden, auszugleichen oder ihnen vorzubeugen. Hier sind die Namen Martin Luserke und Rudolf Mirbt, als Erfinder der Laienspielbewegung zu nennen; und natürlich spielt das politische Theater der Weimarer Zeit eine Rolle, die Lehrstücke Bertolt Brechts aus den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts, die Theaterarbeit innerhalb der KPD und schließlich die großen Theaterexperimente während der Oktoberrevolution, der »Theateroktober in Russland«, z.B. die Theaterarbeit von Asja Lacis mit Straßenkindern, formuliert von Walter Benjamin in seinem »Programm eines proletarischen Kindertheaters«. Der kurze Abriss zeigt: Die Theaterpädagogik bewegt sich auch auf dem Hintergrund der Traditionen, auf die sie sich jeweils bezieht, im Spannungsfeld von Pädagogik, Politik und Gesellschaft. Ich werde an späterer Stelle dazu kommen, dieses Spannungsfeld aktuell zu bestimmen. Anders als heute war die in den 1970er Jahren neu geborene Theaterpädagogik eine Bewegung, die aus einem kritischen Impuls der Gesellschaft gegenüber kam, die verbunden war mit den Zielen gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Aufklärung. So wurde Theater vor allem als Funktion politischer Bildung entdeckt mit seinen Potentialen, Wirklichkeit zu simulieren und kritisch darzustellen. Diese Ansätze arbeiten auf der Basis des Modelllernens wie auch der Interaktionspädagogik. Hier ist Kinder ohnehin ständig ausgesetzt sind und die sie zu angepassten Gliedern unserer kinderfeindlichen Leistungsgesellschaft machen soll.« (Kolneder 1979: 41)
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auch der bekannteste Strang der Theaterpädagogik im sozialen Bereich zu sehen, der die Tradition von Brecht fortführt, insbesondere seine Lehrstücke, wie sie von Rainer Steinweg untersucht und weiterentwickelt worden sind, oder von Augusto Boal in seinen verschiedenen Theaterformen unter dem Titel »Theater der Unterdrückten« entworfen wurde. Die Abgrenzung zur Reformpädagogik und Kunsterziehung war hier Programm. Nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft bildete den Fokus, auf den sich die spielerisch inszenierten Erfahrungen richten sollten. Erst in den 1980er Jahren lässt sich in der Theaterpädagogik eine Wende hin zur künstlerischen Orientierung feststellen (wie sie sich in derselben Zeit auch parallel im mit der Theaterpädagogik sehr verbundenen Kinder- und Jugendtheater, aber auch in der Kinderliteratur finden lässt). Dazu gehört eine Bezugnahme auf das innere Erleben von Kindern: Die Psychoanalyse wurde eine wichtige Bezugsgröße des Kindertheaters (vgl. Hentschel, I. 1988). Themen wie Träume, Phantasien, Ängste, auch Märchen und mythologische Stoffe betraten die Bühnen für junge Zuschauer. Bruno Bettelheims aus Sicht der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie verfasstes Plädoyer für Märchen wurde zum pädagogischen Bestseller (Bettelheim 1977). In der Folge beschäftigt sich die Theaterpädagogik mehr und mehr mit dem Gegenstand Theater. Nun wird die eigenständige Dimension künstlerisch-ästhetischer Prozesse und Erfahrungen zunehmend für die Theaterpädagogik formuliert, etwa von Ulrike Hentschel (eine Namensvetterin der Verfasserin), deren Dissertation »Theaterspielen als ästhetische Bildung« (1996) hier grundlegend wurde. Ulrike Hentschel deklariert Theaterspielen als ästhetische Bildung und fundiert diesen Ansatz auf dem Hintergrund von Künstlertheorien des Theaters und Schauspiels.
Theaterspielen als ästhetische Bildung Nachdem die theaterpädagogische Diskussion seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem Nutzen des Theaterspielens für unterschiedliche Bildungsziele in den Mittelpunkt gestellt hatte, beschritt Ulrike Hentschel mit ihrer Dissertation neue Wege: Sie fragte nicht, was mit dem Theaterspielen zu ereichen sei, sondern was das Theaterspielen überhaupt sei. Was wohnt dem Prozess des Theaterspiels, mithin dem Medium selbst an Erfahrungsgehalten inne? Die neue Perspektive resultierte aus einem Unbehagen an der zunehmend feststellbaren theaterpädagogischen Verzweckung und Indienstnahme des Mediums Theater für soziale, pädagogische und fachdidaktische Zwecke (vgl. Hentschel, U. 1996). Ulrike Hentschel verbindet das Erbe der emanzipatorischen Theaterpä109
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dagogik, die Erkenntnisorientierung, mit der vormals abgelehnten Kunstund Reformpädagogik. »Theaterpädagogik wird dann im engeren Sinne verstanden als eine Disziplin der ästhetischen Bildung, die sich mit der Vermittlung von wahrnehmenden und gestaltenden Prozessen im künstlerischen Medium Theater auseinandersetzt.« (Hentschel, U. 2007: 92)
Ulrike Hentschels Darstellung hebt vor allem auf die dem Medium Theater eigene Doppelstruktur der Erfahrung ab, die es ermöglicht, eine besondere Konstruktion von Wirklichkeit im Prozess des Spielens hervor zu bringen. Dabei steht sowohl beim Theater als auch beim Spiel die »Differenzerfahrung« im Mittelpunkt. Ich kann mich im Rollenspiel wie in der Theatersituation als ich selbst und als ich nicht ich selbst (vgl. Schechner) aber auch als ein anderer erleben. Ich habe immer mindestens zwei Erfahrungsweisen zur Verfügung, es können aber im Prozess des Rollen- und Figurenwechseln noch beliebig viele andere sein. Was das Theater anders als das bloße Spiel der ›Differenzerfahrung‹ hinzufügt, ist die Erfahrung des Zwischen: indem Theater anders als das Spiel der Kinder mit dem bewussten Wechsel der Positionen arbeitet. Sie hebt mit Recht hervor, dass spezifische Untersuchungen der dem Theaterspielen von Kindern innewohnenden Erfahrungen und Wahrnehmungen bis heute nicht vorliegen, deswegen bemüht sie Analogien aus der Kunstpädagogik, insbesondere der Kunst- und Musikpädagogik. Allerdings gibt es – wie ich meine – wichtige Vorarbeiten im Rahmen psychiatrischer und reformpädagogischer Experimente, wie die Theaterateliers in der Modellschule Bonneuil in Frankreich. Hier werden vor allem unbewusste und vorbewusste Prozesse in den Mittelpunkt gerückt, die »Differenzerfahrungen sind vor allem erlebte Differenzerfahrungen« (Hentschel, I. 1986). Nicht Wissen, sondern Erleben ist das Medium von Wirkung. Schlüssel der Wirkungen des Medium Theater ist sein Spielcharakter. Auch die Rezeptionssituation, das ›Theater sehen‹, kann als Spiel beschrieben werden (vgl. Hentschel I. 1988). Heute wird Theaterpädagogik vorrangig als Möglichkeit gesehen, ›Schlüsselqualifi kationen für die Lebenswelt durch ästhetische Erfahrung‹ zu erwerben, also die Eigenständigkeit künstlerisch vermittelter Erfahrung im Hinblick auf die in der Lebenswelt geforderten Kompetenzen zu betonen. Dieser Ansatz wird auch programmatisch in der kulturellen Jugendbildung vertreten, die vom Dachverband BKJ (Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V.) repräsentiert wird. An den Theatern hat Theaterpädagogik die Doppelfunktion, einerseits ein junges Publikum für die Kunstsparte zu gewinnen, im Sinne von Kundenbindung, und zum anderen die Auff ührungen vertiefend zu begleiten, indem vor- oder nach110
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bereitet bzw. durch eigene spielerische Aktivitäten ein Zugang zur Aufführung geschaffen wird. Wobei ja stillschweigend vorausgesetzt wird, dass sich die Auff ührung nicht selbst vermitteln kann. Inzwischen rückt auch im Theater die theaterpädagogische Aktivität als solche in den Vordergrund. Aber geschieht dies, weil den Inszenierungen selbst nicht mehr genügend Eigenkraft zugedacht wird? Ist es das Misstrauen der Lehrer und Erziehungspersonen, die ja die Kinder ins Theater bringen müssen oder ist es ein gestiegenes Interesse am eigenkünstlerischen Tun, das sich insgesamt in der derzeitigen Kulturentwicklung feststellen lässt? In der konkreten Arbeit der Theaterpädagogen, ob am Theater oder in den verschiedenen Bildungsinstitutionen ist bis heute die Spannbreite zwischen pädagogisch-didaktischen und ästhetischen Zielsetzungen der Theaterpädagogik virulent, die aus der Geschichte des Fachs, aber auch aus der Zwitterstellung zwischen Kunst und sozialer Praxis, Kunst und pädagogischer Indienstnahme resultiert. Wie immens die Breite theaterpädagogischer Ansätze, Methoden, Verfahren und Berufsfelder inzwischen ist, will ich mit einem kurzen Überblick deutlich machen. Denn: Die Theaterpädagogik an Theatern macht nur einen geringen Teil theaterpädagogischer Praxis aus. Nicht ohne Grund haben die Herausgeber des verdienstvollen »Wörterbuchs der Theaterpädagogik« (Koch/Streisand u.a. 2003) darauf verzichtet, diese Disziplin selbst in ihrem Buch zu behandeln. Ein Stichwort ›Theaterpädagogik‹ sucht man dort umsonst: Ist sie doch alles das, was sich an Methoden, Stichworten und Gegenstandsbereichen dort finden lässt. Damit sind die Breite und vor allem die emsige Weiterentwicklung dieses überaus kreativen, lebendigen Fachs betont, das seine Theorie und sein Selbstverständnis wie auch seine Handlungsfelder ständig erweitert.
Berufsfelder und Ausbildung Seit 30 Jahren hat sich die Theaterpädagogik in Deutschland immens ausgeweitet und zur eigenständigen Disziplin entwickelt. Die Ausbildung erfolgt inzwischen auf professionalisierter Basis, als vier-semestriger Masterstudiengang (Universität der Künste Berlin) und grundständig als Bachelor-Studiengang an der Fachhochschule Osnabrück. Ein eigener Berufsverband BuT (Bundesverband Theaterpädagogik) versucht, den Beruf des Theaterpädagogen aufzuwerten, Standards mitzubestimmen und für die Aus- und Weiterbildung zu sichern. Die Gründung einer »Ständigen Konferenz Spiel und Theater an deutschen Hochschulen« 1994 ist Signum für die Professionalisierung der Ausbildung in Hochschulformaten. Theaterpädagogik wurde auch an den in den 1970er Jahren gegründeten 111
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Fachhochschulen, insbesondere den Fachbereichen für Sozialwesen als eine relevante Methode sozialen und politischen Lernens und Intervenierens professionalisiert. Theater findet zunehmend auch in den Fachdidaktiken unterschiedlicher Studienangebote einen Platz (Wildt/Hentschel 2008). Die Anwendungsgebiete, Methoden und Verfahren haben sich inzwischen breit ausdifferenziert. Richard Schechner hat zusammen mit John Thompsen eine ganze Nummer der internationalen Fachzeitschrift The Drama Review dem Social Theatre gewidmet. Unter diesem Begriff versuchen die Autoren internationale Ansätze nicht-kommerzieller auf Partizipation beruhender Theaterprojekte zu greifen: Vom Theater in serbischen Flüchtlingscamps über Community-Theatre-Projekte in allen Erdteilen. Ich kehre zur Entwicklung der Theaterpädagogik in Deutschland und ihrem Verständnis zurück. Zu Beginn war das Berufsfeld von Theaterpädagogen vor allem die Schule. Inzwischen sind es die Theater selbst. Als weitere Arbeitsfelder und Berufsbereiche hinzugekommen sind außerdem die: • Freizeit- und Touristikbranche; • außerschulische Jugend- und Erwachsenenarbeit; • kindliche Früherziehung; • sozialtherapeutische Bereiche (Integration, Strafvollzug, Drogenhilfe) • interkulturelle Arbeit; • Resozialisierung; • Heilpädagogik, Behindertenarbeit; • Theatertherapie. Mit Einschränkungen können weitere Bereiche als Felder theaterpädagogischer Tätigkeit angesehen werden: • medizinisch-therapeutische Bereiche; • Psychotherapie; • Rehabilitation; • andere Gesundheitsberufe. Insgesamt lassen sich heute zwei große Richtungen der Theaterpädagogik festmachen, je nachdem ob in der Kombination Theater und Pädagogik die Pädagogik an erster Stelle steht und die Theaterarbeit zu ihrem Medium wird oder ob das Theater an erster Stelle steht und die Pädagogik zum Mittel wird, die schöpferischen Möglichkeiten der Beschäftigung mit der Kunstform Theater zu entwickeln. Immer noch stehen individuelle und an der ›Selbstentfaltung der schöpferischen Kräfte‹ orientierte Ansätze im Gegensatz zu solchen, die die Theaterpädagogik vor allem zur ›Erweiterung sozialer Kompetenzen‹ einsetzen möchten und die das Ziel verfolgen, ›politische Handlungsfä112
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higkeit‹ zu erwerben. Dabei geht es einmal mehr um den Begriff der ›Erfahrung‹ und des ›Erlebens‹ und zum anderen um den der ›Erkenntnis‹ und des ›Verstehens‹.
Entw icklungen im Theater und in der Theaterpädagogik Ich beobachte ein close the gap – cross the border – mit dieser Parole ist im letzten Jahrhundert die Postmoderne eingeläutet worden –, eine produktive und für beide Seiten gewinnbringende Annäherung zwischen Theater und Theaterpädagogik. Allerdings ist zu befürchten, dass in diesem Prozess die Theaterauff ührung selbst in ihrem Eigenwert vernachlässigt wird. Sicher nicht an den Theatern selbst, die ja davon leben, sondern an den Schulen, in den Freizeiteinrichtungen und von Seiten der Kultur- und Bildungspolitik. Ein Großteil der theaterpädagogischen Angebote in den eben genannten sozialen und politischen Berufsfeldern verbindet sich niemals mit Besuchen des professionellen Kunsttheaters. Häufig ist sogar zu beobachten, dass die Theaterpädagogen hier eine ablehnende Haltung einnehmen. Umgekehrt lechzt das Kunsttheater nach dem Sozialen, will raus aus den privilegierten Räumen, will wirkliches Leben, die wirkliche Wirklichkeit in Form von Laiendarstellern oder wie es bei Rimini-Protokoll heißt »Experten des Alltags«. Theater öffnet sich zum Sozialen, zur Interaktion, wildert in den angestammten Revieren der Theaterpädagogen. Die Öffnung zur Wirklichkeit der Interaktion, hin zu Performance, sozialer Intervention, Spiel und politischer Aktion ist auch in den anderen Künsten anzutreffen. Nicht nur das Theater auch die Kunst wird mit einem Ausdruck von Joseph Beuys »soziale Plastik«. Auf der anderen Seite ist die Theaterpädagogik dabei, immer mehr das Pädagogische abzustreifen, will künstlerische Praxis sein, Interaktion im Medium theatraler Prozesse, so am neu gegründeten Jungen Theater des Schauspiels Hannover, das ganze Vorstellungsserien mit Inszenierungen mit jugendlichen Darstellern bestreitet, die eigens dafür ›gecastet‹ und mit einer Vorstellungspauschale entlohnt werden, wie auch in den zahlreichen Theaterspielsclubs am Theater Magdeburg, um nur zwei aus der Fülle der Spielclubs an professionellen Bühnen herauszuheben. Werden hier die Stars von morgen entdeckt, oder wird dem Prozess eine ebenso große Wertschätzung entgegen gebracht wie dem spielplanfähigen Produkt? In jedem Falle wollen theaterpädagogische Projekte nicht lehren, sondern Theater lustvoll als künstlerische Praxis erfahrbar machen. 113
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Aber geht nicht auch etwas verloren, und ich meine nicht vordergründig die ohnehin schlecht entlohnten Arbeitsplätze im Kinder- und Jugendtheater, wenn wir den Besuch von Theaterauff ührungen, die mit allen professionell zur Verfügung stehenden Mitteln der Kunst gemacht sind, nicht mehr in den Mittelpunkt der kulturellen Aktivität stellen? Bedeutet die Öffnung zur direkten Interaktion und Aktion, sei es in der Theaterpädagogik oder in Theateraktionen selbst, nicht einen Verlust? Was ist es, was das Besondere des Mediums Theater in Form eines Auff ührungsgeschehens ausmacht? Was heißt es, Theater nicht selbst zu machen, sondern zu sehen und zu erleben?
Theater sehen und erleben Theaterrezeption ist ein komplexer und der empirischen Forschung kaum zugänglicher Prozess, der überdies den Nachteil hat, dass sein Gegenstand, die Theaterauff ührung, ein singuläres und ephemeres Ereignis ist. Von daher werde ich im Folgenden versuchen der Komplexität thesenartig gerecht zu werden. Im Zentrum des Mediums Theater steht der Mensch als Spieler/Darsteller und Zuschauer. Theater ist das Menschenmedium schlechthin. Die imaginativen Qualitäten des Theaters sind stets gebunden an die körperliche Präsenz und Co-Präsenz von Spielern/Darstellern und Zuschauern im physikalischen Raum. Der Doppelcharakter der theatralen Zeichen zwischen Sein und Bedeuten, Darsteller und Rolle, Realität und Spiel entspricht der anthropologischen Situation, wie sie Helmuth Plessner (Plessner 1983) mit dem Begriff der »Exzentrizität der menschlichen Position« formuliert hat. Im Theater sieht der Mensch sich selbst (verkörpert durch den Schauspieler) zu. Das ermöglicht sowohl für Spieler wie für Zuschauer ›Ambiguitätserfahrungen‹, die von Seiten der Anthropologie als Schwellenerfahrungen »betwixt and between« (Turner 1982) und mit dem Begriff des »Dazwischen« beschrieben werden. Diese Erfahrungen sind gebunden an die Körperhaftigkeit der schauspielerischen Aktion und die Präsenz von Spielern und Zuschauern in einem gemeinsamen Raum. Der Mensch ist existentiell angewiesen auf den anderen, auf das »angeschaut werden«, den Blick, auf Responsivität5. Eben dies sind Qualitäten des Theaters, die durch andere Medien nicht ersetzbar sind.
5. Samuel Beckett hat diese Erfahrung des ›angeblickt Werdens‹ in zahlreichen seiner Stücke behandelt.
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Per formatives Theater schaf f t Ereignisse Die neuere theaterwissenschaftliche Forschung betont weniger den imaginativen, bild-, bedeutungs- und sinnhaften, als den performativen Charakter des Mediums Theater. Dabei wird die Inszenierung als (intendierte Konzeption) von der Auff ührung als kontingentem Phänomen unterschieden, das den Zuschauer und seine Wahrnehmungsaktivität einschließt (vgl. Fischer-Lichte 2004). Auf dem Hintergrund der allgegenwärtigen Erfahrung mit den elektronischen Bildmedien rücken Liveness und Präsenz des performativen Ereignisses ins Zentrum. Das Publikum wird als konstitutiv für das Medium Theater betrachtet und in vielen Inszenierungen auch verstärkt angesprochen. Das entspricht den Entwicklungen der Theaterkunst, sich nicht als Repräsentation eines dramatischen Textes, sondern als eigenständige Kunst zu verstehen (vgl. Lehmann 1999). Theater umfasst die Einheit von Spielen und Zuschauen. Theater ist weniger Medium der dramatischen Literatur, nicht nur Vermittler von Geschichten, Werten oder Botschaften. Die Theaterauff ührung bekommt als Ereignis selbst einen Wert. Sie ist singuläres Ereignis: Das Zusammenkommen von Menschen, Schauspielern und Zuschauern in einem Raum kann als besonders und unwiederholbar einmalig erlebt werden! Dabei stellt das Theater häufig seinen Spielcharakter aus, das Theater haftet am Theater, benutzt Materialien, die aus dem Leben kommen wie Sand, Wasser, Dreck, Mehl und andere Nahrungsmittel. Das Spiel der Schauspieler ist körperhaft und vital. Theater ist auf dem Weg zur Wirklichkeit des Lebens, eine Entwicklung, die der Philosoph Robert Spaemann (vgl. Spaemann 2000) für die Künste insgesamt beobachtet. Befragt nach der Bedeutung des Theaters in der Zeit elektronischer Medien, sagt eine 17-Jährige: »Im Theater sieht man was Menschen können – ohne die Technik!!!«
Theater dient der Selbst vergew isserung Theater ist in diesem Sinne kein Medium. Es betont den Eigenwert des Menschen! Deswegen darf Theater nicht verzweckt werden, nicht in enge Didaktiken eingefügt und funktionalisiert werden. Es ist praktizierter Einspruch gegen den Verwertungsdruck und den Zwang zur Effizienz in Arbeit, Schule und Wirtschaft. Es geht im Theater nicht mehr nur darum, zu verstehen, es geht auch darum, zu erleben. In einer Qualität zu erleben, die nicht ausschließlich 115
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auf die durch die Medien beanspruchten Fernsinne fi xiert ist, sondern alle Sinne anspricht. Natürlich ist am stärksten die Phantasie, die Imagination gefordert. Theater bietet stärker als der Film und weniger stark als die Literatur, kein Gesamtbild, sondern arbeitet mit Lücken, die durch die Phantasie des Zuschauers gefüllt werden müssen. Hier ist ein immenser Platz für den Einzelnen, seine Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wünsche, Ängste ins Spiel zu bringen. Hier können ungewohnte, verrückte Zusammenhänge gestiftet, Zeichensysteme entziffert, Weltentwürfe imaginativ erprobt und hier kann, wie es im traditionellen Theater ja immer war, gemeinsames Leid erfahren, Lust geteilt und natürlich auch Unbekanntes entdeckt werden, auch – warum nicht – Tradition weitergegeben werden.
Theater ist ein Medium der Vollsinnlichkeit Dieser Begriff stammt von dem Kulturphilosophen Georg Simmel und ist geeignet, die besondere Qualität des Theaters zu kennzeichnen. Der Computer ist nicht ›das‹ Medium der Medienintegration, wie vielfach angenommen wird. Es fehlt die körperliche Präsenz im physikalischen Raum, die für das Theater konstitutiv ist, und die nicht eingespeist werden kann. Theater integriert die Augensinnlichkeit der Malerei mit der Gehörsinnlichkeit der Musik. Die körperliche Bewegung im physikalischen, realen Raum gehört unabdingbar zur Grunderfahrung des Theaterspielens. Der Körper im Prozess der Darstellung und des Spiels ist nicht Bild, nicht nur zeigender, bedeutender Körper, sondern auch erlebter und energetischer Körper. Die energetische Qualität theatraler Auff ührungen ist bisher erst in Ansätzen der Forschung zugänglich, gehört aber zur Theatralität (vgl. Fischer-Lichte 2004) wie zur Verfasstheit des Mediums Theater.
Im Theater w ird gelernt, aber anders! Theater ist Schule der Wahrnehmung, ein Medium der Zeichen. Man kann im Theater (wenn es gut gemacht ist): • beobachten; • Zeichen entziffern; • Zusammenhänge herstellen; • Staunen, in die andere Welt blicken, Vertrautes fremd wahrnehmen; • Inneres mit Äußerem verbinden; • Gefühle mit Wahrnehmungen verknüpfen; • sich in Bezug zur Gemeinschaft empfinden; • eine Erfahrung mit anderen (Zuschauern/Schauspielern) teilen; 116
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• • •
Phantasielust (Funktionslust der Phantasie) entwickeln; Intensität erleben – auch in Schmerz und Traurigkeit; Freude empfinden.
Das Theater ist das außergewöhnliche Ereignis, das es ermöglicht, alles was sonst gilt, auf den Kopf zu stellen, die gewohnten Gesetze außer Kraft zu setzen. Damit ist eine ganz andere Qualität angesprochen als die, die wir gewöhnlich dem Begriff des Lernens zuordnen, das doch eine gewisse Beherrschung von Zusammenhängen, Erfahrungen und Wissensgegenständen hervorbringen, Orientierung und Übersicht geben soll und die Möglichkeit, das Gelernte reflexiv zu beurteilen und auf die jeweiligen Kontexte zu beziehen. Im Kinder- und Jugendtheater geht es – wie in der Kunst sonst auch – nicht um Eindeutigkeit, sondern um ästhetische Vieldeutigkeit: Wissen und Erfahrung in Schwingung zu versetzen. Gerade die nicht sprachlich strukturierten Erfahrungen sind es, die von jeher Gegenstand der Kunst sind. Sie erweitern unsere Erfahrung und Vorstellung vom Menschen aber auch vom Lernen. Die Plastizität des Gehirns, die die neurobiologische Forschung immer aufs Neue beschreibt, verlangt regelrecht nach Erfahrungen wie sie die Künste, allen voran das Theater, bieten können. »Vieles von dem, was menschliche Wesen einander mitzuteilen haben und mitteilen müssen«, konstatiert der Hirnforscher Wolf Singer, lasse sich in rationaler Sprache allein nicht fassen. Daher müsse auch die nicht sprachliche Kommunikationskompetenz optimal entwickelt werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen und sein Gehirn ist in besonderer Weise an die Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens angepasst. Die das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen bestimmenden neuronalen Verschaltungsmuster und synaptischen Verbindungen sind weitaus plastischer, als man lange Zeit angenommen hatte. Die initial angelegten, zunächst genetisch determinierten Verschaltungen werden im Verlauf der weiteren Entwicklung in Abhängigkeit von der Art ihrer Nutzung weiterentwickelt, überformt und umgebaut (experience-dependent plasticity) (vgl. Singer 2002). Die Plastizität unseres Gehirns, unseres Erfahrungs-, Denk- und Fühlorgans wird von Seiten der bestehenden schulischen Lernorganisation nur unzureichend genutzt. Angesichts der zunehmend beklagten Ineffizienz des gegenwärtigen schulischen Lernens muss festgestellt werden, dass die Lehrpraxis der Schule hinter dem Entwicklungsstand pädagogisch erkannter und bereits erprobter Möglichkeiten zurückgeblieben ist: Neben dem wissenschaftlich-rationalen und dem ethisch-moralischen Zugriff auf die Welt ist es die ästhetische Erfahrung, die nachhaltige Lernprozesse im Sinne eines freien Verhältnisses zur Welt, zu sich und den anderen ermög117
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licht. Theater aktiviert unsere Emotionen, provoziert unsere Sinne, spricht unsere Ängste, Wünsche und verborgenen Hoff nungen an, provoziert uns, unser Inneres mit dem Äußeren in Verbindung zu bringen.
Theater ist soziale Kunst per se Wenn das Gehirn ein soziales Organ ist, so ist das Theater die soziale Kunstform per se, der Mensch sieht sich selber zu, und zwar in der Beziehung zu anderen Menschen. Theater ist Gemeinschaftskunst. Durch die besondere Bedeutung des Schauens (griechisch teatron) und die konstitutive Rolle des Publikums haben wir es damit zu tun, dass im Theater die Tragödie des Einzelnen immer auch die Tragödie aller ist. Theater zeigt den Menschen in sozialer Interaktion und Kommunikation. So sehr das Individuum heute mit den von ihm zu entwickelnden Kompetenzen im Mittelpunkt der Bildungspolitik und der Gesellschaft steht, so sehr gerät aus dem Blick, dass die Erfahrung gemeinsam mit anderen zu kommunizieren, zu gestalten, zu erleben, elementar für jede Form des Zusammenlebens ist. Im gemeinsamen Theaterspiel aber auch in der Begegnung von Schauspielern und Zuschauern in einer Auff ührung dient nicht die Gemeinschaft dem Einzelnen, sondern der Einzelne der Gemeinschaft. Daher hat das Theaterspielen eine integrative und transformative Kraft, die sich besonders auch in sozialen Feldern, in denen mit Theater gearbeitet wird, bemerkbar macht. Aus der sozialen Verfasstheit des Mediums Theater resultieren auch die großen pädagogischen Wirkungen, die immer wieder festzustellen sind. Theater ist auch da eine Gemeinschaftskunst, wo die Zuschauer stumm auf ihren Plätzen sitzen und nicht agieren, sondern rezipieren und erleben. Als Zuschauer haben sie die Chance, sich selbst, ihre Gefühle, Gedanken, das, was in ihnen während einer Auff ührung ausgelöst wird, in der direkten Beziehung zu anderen in einer sozialen Dimension zu erfahren. Und Theater beansprucht darüber hinaus immer noch den Charakter einer öffentlichen Zusammenkunft. Was dort verhandelt wird, geht über den engen Horizont des Einzelnen und seiner Erfahrung hinaus.
Theater und Öf fentlichkeit Die neuere theater- und kulturwissenschaftliche Forschung betont, dass Theater nicht das ist, was sich auf der Bühne abspielt, sondern das Zusammenspiel zwischen Schauspielern und Zuschauern in einem Raum, an einem Ort, zu einer Zeit. Das Ereignis der Auff ührung ist in diesem 118
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Sinne nicht wiederholbar, auch wenn ein und dasselbe Stück mehrmals gespielt werden kann. Der performative Charakter des Theaters ist es denn auch, der mittlerweile von den Theatermachern betont wird, weil er es ist, der von den anderen Medien nicht ersetzbar ist. Theater ist die Kunst der Begegnung von lebendigen Menschen. Dazu gehört es, dass sich Menschen an einem Ort versammeln, um gemeinsam mit anderen etwas zu teilen. Theater ist geteilte Erfahrung. Oder wie es der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann ausdrückte: Ein Ort der Versammlung. Diese Verfasstheit des Theaters hat Konsequenzen für die Theater selbst. Dass Jugendliche oft keine Lust haben, im Theater zu sitzen, dass Schulauff ührungen für die Theater eine Qual sein können, widerspricht der These nicht. Sie ist eine Aufforderung an die Theater, tatsächlich Orte für Jugendliche und für Kinder zu werden, an denen sie sich gerne aufhalten, wo sie sich bereichert fühlen, wo es cool ist, hinzugehen. Nicht der Kunsttempel, sondern das Theaterhaus ist die Zukunft des Theaters, das sich öffnet: auch für Disco, Tanz, Sport, Poetryslam. Dazu sind weit reichende Kooperationen nötig. Und hier ist der Punkt, an dem die Theaterpädagogik wieder ins Spiel kommt: Sie kann diese Öffnung der Theaterkunst zur Gesellschaft hin mit ihren vielfältigen Projekten begleiten; sie kann aber umgekehrt auch Menschen ins Theater, zum Kunsttheater hinführen. Theater zu spielen ohne Theater zu sehen ist ein Widersinn!
›Theater spielen‹ braucht ›Theater sehen‹ Es ist ein wissenschaftlich-ökonomisches Selbstmissverständnis der Gesellschaft, wenn sie meint, Kunst als Partialinteresse bestimmten zahlungskräftigen Gesellschaftsgruppen vorbehalten zu können: Dass nun die ›kompetenzerweiternden‹ Potentiale vor allem der Musik und des Tanzes, aber auch des Theaters von den Bildungsplanern entdeckt werden wie gerade in NRW, ist eine positive Entwicklung. Allerdings wird dabei häufig die pädagogische Indienstnahme des Theaters von der künstlerischen getrennt: Tänzer an die Schulen, aber gleichzeitig Schließung der Tanzsparten an den Theatern. Bisher gab es noch keine Gesellschaft ohne künstlerisch-kulturelle Hervorbringungen wie Tanz, Gesang, Ritual. In den Werken der Kunst, Malerei, in Literatur, Theater und Musik sind elementare und verdichtete Lebenserfahrungen enthalten. Die Kunst fungiert als Gedächtnis der Menschheit und zwar Gedächtnis für die Bereiche, Erfahrungen, die in 119
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den anderen Lebensbereichen auch in den Wissenschaften gar nicht oder nur unzureichend ausgedrückt und dargestellt werden können. Die Träume, Ängste, Visionen, Obsessionen, Wünsche und Entwürfe, die im Leben vielleicht nie ihren Platz finden, die aber zu ihm gehören, sind Gegenstand von Kunst. Hier werden andere Raum- und Zeitverhältnisse, andere Körpertechniken, andere Sinneserfahrungen der Menschheit entwickelt. Die Kunst ist ein riesiges Laboratorium der Menschheit, dessen grundlegender Wert derzeit nicht genügend berücksichtigt wird. Deswegen gehören beide Seiten zur Medaille: ›Theater spielen‹ und ›Theater sehen‹, Produktion und Rezeption. Es gilt, die Teilhabe an der Theaterkunst, wie sie der Kunstbetrieb und die Institutionen zur Verfügung stellen, zu ermöglichen: Der Theaterbesuch ist die eine Seite, die andere die eigene künstlerische Aktivität. Dass beides in der Praxis häufig getrennt wird bzw. in der Theaterpädagogik die Theaterbesuche zu kurz kommen, verdankt sich einem Missverständnis, das noch tief in den Ausbildungsplänen verankert ist. Die Kunst ist nicht so weit vom Leben entfernt, wie häufig angenommen wird. Sie basiert auf ästhetischen Erfahrungen, die wir im Alltag machen, auf den elementarästhetischen Erfahrungen, die von Kindern im Umgang mit den verschiedensten Materialen im Spiel und im Alltag gemacht werden. Diese Erfahrungen werden ja auch in der kunstpädagogischen Praxis ebenso wie in der theaterpädagogischen aufgenommen und weiterentwickelt. Leider sind viele Pädagogen, Kunst- wie Theaterpädagogen, nicht immer in der Lage, die Verbindung beider Bereiche auch wirklich herzustellen. Gerade die Theaterkunst basiert ja auf Spielerfahrungen, wie sie in der Kindheit gemacht werden, und entwickelt sie auf hoch differenzierte Weise weiter und verleiht ihnen eine neue Qualität. Das ist heute besonders im performativen Theater mit der assoziativen Verwendung von Alltagsmaterialien und Versatzstücken sichtbar. Das Problem besteht darin, dass derzeit unser gesamtes Bildungs- und Sozialsystem einem Paradigmenwechsel unterliegt: In den Modellen des Bildungsmanagements mit seinen Controllingverfahren, die vor allem an quantitativen Daten und dem aus der Ökonomie entlehnten Modell des Wettbewerbs orientiert sind, werden die Räume, in denen sich ästhetische Erfahrung abspielen kann, kleiner. Kunst braucht Zeit, braucht Muße, braucht den Entwicklungsgedanken, der zurzeit zugunsten von Modulen und Baukastenprinzipien in den Unterrichtsplänen suspendiert wird. Und hier wäre es wichtig, dass die Frühförderung Räume für ästhetische Erfahrungen, für Ungestaltetes (was ja die Grundlage von allem Gestalteten ist!), für Eigenspiel und Spontaneität, auch für überraschende Entwicklungsverläufe lässt. Deswegen sind ja Methoden der Improvisation Grundlage theaterpädagogischer Praxis. Die Ausbildungsangebote sehen das, soweit ich sie im Moment überblicken kann, nur sehr wenig vor. Kunst 120
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wird mit dem Argument der ›Leistungsoptimierung‹ in die Bildungspläne aufgenommen: Musikalische Kinder rechnen besser. Kinder, die Theater spielen, reden besser, können sich wirkungsvoller präsentieren und verkaufen. Es handelt sich um eine restringierte Form künstlicher Praxis, die der Freiheit, die Spontaneität und Spiel brauchen, aus denen sich die Künste speisen, keine Zeit mehr gibt. Dass Kunst auch zu tun hat mit Widersinn, mit dem, was sich mit dem Leistungsprinzip nicht vereinbaren lässt, dass die Künste Widerspruch zu gesellschaftlichen Entwicklungen, auch zu Fehlentwicklungen artikuliert haben und artikulieren, bleibt in der didaktischen Perspektive aus dem Blick. Kunst hat mit Freiheit zu tun. Und eben dieser Erfahrungsraum, der durch sie angeboten wird, macht sie für Bildungsprozesse fruchtbar. Wenn unter Bildung nicht nur Kompetenzentwicklung, sondern auch Persönlichkeitsentwicklung verstanden wird.
Bildung – Mittel zum Zweck Bildung ist derzeit der Leitbegriff, unter dem kultur- und bildungspolitische Weichenstellungen auch bezogen auf das Theater erfolgen. Der moderne dynamische und ganzheitliche Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen, bei dem er seine geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten und seine personalen und ›sozialen Kompetenzen‹ erweitert. Der Bildungsbegriff, wie er derzeit in der pädagogischen, in der kulturpädagogischen und kulturpolitischen Diskussion boomt, ist – ohne dass dies noch offensichtlich ist – begrenzt. Mir liegt sehr daran, den Aspekt der Begrenzung hier herauszuarbeiten, da wir uns in einer Situation befinden, in der mit dem der Qualitätssicherungen und der Ökonomie entliehenen Vokabular eine Habitualisierung von statten geht, in der bestimmte Gehalte durch den routinemäßig geforderten Gebrauch eines bestimmten Vokabulars (ich erinnere nur an Antragslyrik) verloren zu gehen droht. Im Mittelpunkt steht immer der Mensch, der sich bildet, der seine Kompetenzen ausbildet. Wo aber bleibt die Gemeinschaft? Das Gemeinwesen, wo der Mensch als Zoon Politikon? Dient die Gemeinschaft nur der Ausbildung des Einzelnen? Ist sie Mittel zum Zweck? Instrument um die Vervollkommnung kommunikativer, sozialer und persönlicher Kompetenzen zu ermöglichen? Dann geht es tatsächlich billiger: Dann brauchen wir nicht den Theaterbesuch, die Unterhaltung ganzer Theatersparten, wenn es ein Workshop oder die Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag mit dem Theaterpädagogen
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auch tun, durch die ein Schüler dann seine individuelle Leistungsbilanz durch Präsentation, Rhetorik und performative Präsenz steigern kann. Interessanterweise wird auf der Wikipedia-Seite unter Bildung folgendes Zitat gebracht, dem wir sicherlich alle zustimmen werden: Bildung ist »ein aktiver, komplexer und nie abgeschlossener Prozess, in dessen glücklichem Verlauf eine selbstständige und selbsttätige, problemlösungsfähige und lebenstüchtige Persönlichkeit entstehen kann.«6 Es ist von Daniel Goeudevert, einem Spitzenmanager von Citroën, einem jener Vertreter der Industrie, die zum Glück wissen, dass Kompetenzentwicklung ohne Bildung nicht zu haben ist. Aber reicht das? Hat Theater nicht einen weitergehenden Auftrag?
Bildung bleibt nicht bei der Persönlichkeit stehen Nach Humboldt ist Bildung die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die »Aneignung der Welt entfalten« und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen. Wir nehmen davon vorrangig die individuelle Persönlichkeit in den Blick, wie auch aktuell in der Sozialpolitik die Verteidigung und Befriedigung von Einzelinteressen leitend ist. Einzelne, die mit der Befriedigung ihrer Interessen beschäftigt sind: Das »Ich« wird zum höchsten Werk seines Selbst! Das »Ich« zum durch Wellness und Kultur verschönten Kunstwerk. Was meint dem gegenüber das politische, das ja am Anfang des abendländischen Theaters stand, denken wir an das griechische Theater, das im Rahmen der Polis seinen Platz gefunden hatte? Der Mensch ist ein Zoon Politikon – ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen. Die Grundbestimmung des Menschen ist das Zusammenleben mit anderen, nur so verwirklicht er seine Natur, die ihn im Gegensatz zu den Tieren mit Sprache und Vernunft ausgestattet hat und damit mit der Möglichkeit, sich Vorstellungen von Recht und Unrecht zu machen und mit anderen auszutauschen. Wer außerhalb des Gemeinwesens lebt, der ist, so Aristoteles, »entweder ein Tier oder aber ein Gott«. Wilhelm Humboldt gründete seinen Bildungsbegriff auf zwei Füßen: dem »autonomen Individuum«, das in der Lage sein sollte, sich selbst zu bestimmen, und dem Begriff des »Weltbürgertums«, in dem Werte wie So6. Das Zitat zum Begriff Bildung findet man unter folgendem Download: http://de.wikipedia.org/wiki/Bildung, verifiziert am 1.3.2009.
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lidarität und Verantwortungsbewusstsein für das Ganze der menschlichen Welt angesprochen sind. Zum »Weltbürger« werden heißt, sich mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen: sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, um andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur zu bemühen. Die universitäre Bildung sollte – ganz im Gegensatz zu dem, was heute proklamiert wird – keine berufsbezogene und damit von wirtschaftlichen Interessen abhängige Ausbildung sein! Das gilt auch für die Theaterpädagogik. Der Begriff ›Politik‹ wird aus dem griechischen Begriff Polis für Stadt oder Gemeinschaft abgeleitet. Ergänzt werden müsste der Bildungsbegriff, mit dem es das Theater und die Theaterpädagogik jetzt so emphatisch zu tun haben, durch eine Orientierung an der menschlichen Gemeinschaft: Politik, Umweltpolitik, Klimapolitik – nichts ist möglich, wenn wir nicht in der Lage sind, über uns selbst als sich perfektionierendes Einzelwesen hinaus zu denken. Nicht nur Bildung braucht Kunst oder Kunst Bildung, sondern: Politik braucht Kunst und Kunst braucht das Politische im tiefen Sinne des Wortes! Bei Immanuel Kant heißt es in »Über Pädagogik«: »[Sie] ist diejenige, durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein frei handelndes Wesen leben könne. […] Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen innern Wert haben kann.« (Kant 1803)
Vielleicht wäre ja auch eine politische Kultur eine Aufgabe von Theaterpädagogik. Nicht eine Kultur des Debattierens, sondern des Teilens und öffentlichen Mitteilens von Erfahrungen.
Kein Zurück zu den Anfängen : aber ein Er weitern des Hor izonts Hier schließt sich ein Kreis. Am Anfang der Theaterpädagogik – und das war auch in anderen Ländern Europas nicht anders – stand der Impuls im Zusammenhang mit den Reform- und/oder Revolutionsbestrebungen der 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts, einer tief greifenden Humanisierung der Lebenswelt verbunden mit einem Politikverständnis, das nicht nur auf abstrakt demokratischen Ritualen beruhte, sondern das eine Partizipation in erster Person forderte. Den Mut sich Gehör zu verschaffen, wie arm und klein jemand auch sein mochte. »Wir sind auch da!«, riefen die Kinder im Gripstheater! »Wir auch«, schrien die Frauen, »Wir auch!«, die Tür123
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ken, die Gastarbeiter. »Wir wollen Zärtlichkeit!«, die Kinder im Theater Rote Grütze, wir sagen: »Nein zu Gewalt und sexuellem Missbrauch«. Und dann kamen die Träume, die Ängste die Visionen: »Wir haben eine reiche Innenwelt, wir können Dinge sehen, gestalten, erträumen, von denen ihr noch gar nichts gesehen habt!« Und dann – nachdem die Medien dieses ja inzwischen mit ihren technologischen Möglichkeiten noch besser konnten – der Ruf nach der Wirklichkeit. »Wir sind hier als lebendige Menschen, gemeinsam in einem Raum: Zuschauer und Schauspieler, Kinder und Erwachsene. Wir teilen eine Erfahrung, wir stiften Gemeinschaft«. Auf dieser Erfahrung des leiblichen und materiellen Hier und Jetzt der theatralen Begegnung beruht das performative Theater, das aktuell in aller Munde ist und versucht, die Wege des traditionellen ›Als-ob‹ der Bühnenfi ktion zu verlassen oder doch in Frage zu stellen. Jetzt zitiere ich die emphatischen Worte von Peter Sellers: Der amerikanische Regisseur Peter Sellars hält es angesichts der ausschließlich am Profit orientierten ökonomischen Globalisierung für nötig, ein »Bild der Gemeinschaft zu formen: Jeder Mensch lernt von jedem, jeder fühlt mit jedem, jeder spricht mit jedem, die ganze Nacht lang, über die Grenzen hinweg. Ich möchte einen Raum kreieren«, sagt er, »in dem es möglich ist, verschiedene Welten zusammen zu schließen, damit man einander akzeptieren lernt.« (Sellars 2007)7 Im Zuge der aktuellen 1968er Nostalgie ist es vielleicht erlaubt, so idealistisch zu werden. In jedem Falle entspricht es der Tradition von Theater und Kunst in den westlichen Gesellschaften, nicht nur eine Rolle als Dienstleister im Bildungsangebot des Staates zu übernehmen, sondern auf der Eigenart, Eigenzeit und dem ästhetischen Mehrwert künstlerischer Prozesse zu beharren, auch wenn das manchem Lehrer und Bildungspolitiker nicht in den Kram passen mag. Wenn die Bildungsplaner jetzt das Kreativitätspotential von Musik, Tanz und Theater an die Schulen holen (wie im »Landesprogramm Kultur und Schule« in NRW), so müsste dazu eben auch der Besuch von Auff ührungen gehören. Man kann nicht Schauspieler und Tänzer an die Schulen holen und gleichzeitig Theater schließen oder unterfinanzieren! Kultur und Kunst regen Visionen, Veränderungen, auch Kritik am Bestehenden an. Sie sind Motor von kultureller Entwicklung – oder aber auch Orte des Innehaltens, Nachdenkens, in Frage stellens. Die Frage danach, wie und wo der Einzelne in der Gesellschaft steht, wie er sich sieht in Beziehung zu den Mitmenschen, zu Staat und Gesellschaft ist seit jeher Thema des Theaters. Theater ist das Medium, in dem diese Fragen erörtert, dargestellt und 7. Peter Sellars zitiert aus: Musik & TheaterSwisscom, Download: www.musik undtheater.ch/mt/interview/regisseure/sellars.html, verifiziert am 13.3.2008.
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öffentlich kommuniziert werden können. Theater ermöglicht die Selbstbefragung einer Kultur, und wenn die Kulturpolitik Theater- und Kunstangebote abbaut, einspart und unter Rechfertigungsdruck stellt, während die Bildungspläne das Potential von Tanz, Theater und Musik im Hinblick auf die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen für sich entdecken, so ist das eine widersinnige Situation. Der Theaterbesuch ist notwendiger Bestandteil der Theaterpädagogik und des Lehrplans. Für Theater muss Zeit (und Geld) sein! Der Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von kultureller Teilhabe, den wir derzeit beobachten können, taucht als Problem der Sozialpolitik wieder auf.
Eigenwer t künstler ischer Er fahrung Ich muss den Lesern zum Schluss noch ein wenig von dem nehmen, was ästhetische Bildung eigentlich geben müsste: etwas essentiell Wichtiges – nämlich Zeit! Kinder benötigen für eine Begegnung mit Theaterkunst – gleichgültig ob sie selbst spielen oder Theater sehen, vor allem eines: Zeit. Sie benötigen Zeit. Wo keine Zeit ist, können sich keine ästhetischen Erfahrungen entfalten. Deshalb arbeiten viele Künstler mit dem Element Zeit. Im Theater findet ein anderer Umgang mit Zeit statt als im Alltag. Pädagogen berücksichtigen häufig nicht, dass Kinder für ästhetische Erfahrungen Zeit brauchen, oder das Diktat der Stundenpläne erlaubt es nicht, sich Zeit zu nehmen. Erfahrungen im Theater widersetzen sich der unmittelbaren didaktischen und pädagogischen Verwertbarkeit. In der Kunsttheorie spricht man auch von der Eigenzeit künstlerischer Erfahrung. Häufig kommt der tiefe Eindruck, den ein Theaterbesuch hinterlassen hat erst Wochen später an die Oberfläche. In glücklichen Fällen bleibt er etwas, was man sein Leben lang mit sich herumtragen kann. Dieser geheime Besitz hat nur einen Nachteil: Er lässt sich weder quantifizieren, noch evaluieren. Insofern ist Theater auch immer subversiv: »Ich sehe was, was Du nicht siehst und das gehört mir.«
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Tut träumen weh? Zeitgenössische Theater formate für Kinder und mit Kindern Mira Sack
Kulturelle Bildung als wesentliche Dimension von Bildung verlangt einen Verbund, verlangt das Miteinander von Weltaneignung und Auseinandersetzung mit Selbstentwürfen in ästhetischen Ereignissen. In den spezifischen Hervorbringungen der Kunst sind diese Bildungsprozesse in dem oszillierenden ›Drin-Stecken‹ und ›Drauf-Blicken‹ zu suchen, welches sowohl die Spielprozesse als auch die Reflektionsmomente umfasst. ›Theater sehen‹ wie ›Theater spielen‹ ermöglicht diese Pendelbewegung. Voraussetzung dazu ist, das gedankliche Spiel des Zuschauens als brisantes und riskantes Unterfangen zu provozieren oder aber, in den Spielversuchen und Produktionsprozessen mit nicht-professionellen Spielern, ein unmittelbares involviert sein in den Spielvorgang mit dem Zeigevorgang der Darstellung zu paaren. Beide Prozesse, Theaterrezeption und Theaterproduktion, werden durch den Sog in das Ereignis hinein und die Gegenbewegung der bewussten Distanznahme zu diesem alles verschlingenden Moment bedeutsam. Wenn diese beiden Kräfte annähernd zeitgleich wirken, ist der wesentliche Schritt geleistet, kann Theater produktiver Anteil einer ästhetischen, kulturellen Bildungsdimension sein. Folgt man den neuesten Untersuchungen der Hirnforschung, können theaterpraktische Angebote den Genuss rezeptiver Vorgänge um ein Vielfaches erhöhen. Die Kognitionswissenschaftlerin Calvo-Merino hat mit einem Kernspintomografen verfolgt, was im Kopf von Zuschauern vorgeht, die professionelle Tanzvorführungen sehen. Als Ergebnis stellte sich heraus, dass bei denjenigen Probanden, die über eigene Erfahrungen im Tanz verfügen, die Hirnaktivität zunimmt. Je näher die Verwandtschaft zwischen den rezipierten Tanzvorgängen und den eigenen Bewegungs129
Mira Sack
erfahrungen ausgeprägt war, desto stärker wurden die Spiegelneuronen aktiviert. Dabei hat sich gezeigt, dass die Stimulation nicht auf einzelne Bewegungen gerichtet ist, sondern ganze Abläufe den identifi katorischen Prozess auslösen (vgl. de Padova 2008: 32). Das am eignen Leib vertraut sein mit der Komplexität von Schauspielen und Darstellungsmöglichkeiten scheint den Blick für theatrale Künste wesentlich zu prägen, scheint beste Vorbildung für die Ausbildung einer »Schule des Sehens« (Schneider 2006: 13), wie Wolfgang Schneider es treffend formuliert, zu sein. Theaterpädagogische Arbeit als Schnittstelle zwischen Darstellungsund Rezeptionsereignissen ist aufgerufen, eigenständige Vermittlungsformate zu erfinden, die kulturelle Bildung fördern. Für die künstlerischen Felder ist insbesondere nach Möglichkeiten zu suchen, die neben den generellen darstellerischen Prozessen zeitgenössische Besonderheiten in den Erfahrungsraum der Spieler implementieren können. Zu vermuten ist, dass so die Spiegelneuronen angesprochen und Verständnis und Empathie in künstlerischen Rezeptionsprozessen geschult werden. Wenn über diesen Weg komplexe Inszenierungen entschlüsselt und gelesen werden können, wäre die von Mollenhauer geforderte ›ästhetische Alphabetisierung‹ einen Schritt weiter gekommen und eine Schlüsselkompetenz für aktive Auseinandersetzung mit Kultur ermöglicht. Im Bereich der Jugendbildung ist eine umfangreiche Palette solcher Angebote vorhanden. Seit mehreren Jahren ist in der Theaterlandschaft das ›junge Theater‹ ein brand. In Abgrenzung zur bürgerlichen Hochkultur wird hier eine Marke etabliert, die sehr heterogene Facetten aufweist. Stehen an der einen Stelle Vermittlungsangebote für Vorstellungsbesuche im Zentrum des jungen Theaters, ist es andernorts Produktionsstätte von professionellen Kinder- und Jugendtheaterstücken, Ausweis für die Arbeit mit jungen Regisseuren, Schauspielern und Autoren etc. oder aber Label für das Produzieren mit Jugendlichen. Etwa zeitgleich beginnt in den tradierten Theaterinstitutionen eine vorsichtige Öffnung gängiger Theaterformate für die Einflüsse aus der Freien Szene, die performative Verfahren und das Spiel mit Realität neu auf die Probe stellen. Mittlerweile gehört diese Variante des sozialen Experiments zum Repertoire jedes avancierten Stadttheaters und die Arbeit mit nicht-professionellen Darstellern reicht über das theaterpädagogische Feld hinaus. Auffallend ist, dass innerhalb dieser Trendwende Kinder als aktive Partner eines jungen Theaters nur marginal in diesen Veränderungsprozessen involviert sind. Das Kind als Akteur, seine Weltsichten und Selbstentwürfe in theatrale Ereignisse einzubinden gehört meines Erachtens substanziell zu einer Theaterpädagogik, die alternative Bildungswege für Menschen unterschiedlicher sozialer Prägung und kultureller Herkunft aufzeigen möchte. ›Theater spielen‹ schult ›Theater sehen‹. Sagen unsere Spiegelneuro130
Tut träumen weh? Zeitgenössische Theater formate
nen. Gleichzeitig verknüpfen sich im eigenen Spiel produzierende und rezipierende Aspekte, denn entlang des Spielprozesses wechseln die Darsteller immer wieder ihre Rollen, werden von Akteuren zu Zuschauern. »Kinder wollen selbst spielen, dass auch das Zuschauen und das Beschreiben des gespielten eine Form des Mitspielens ist, begreifen sie erst mit der Zeit. Die erzieherische und bildende Funktion dieser Spielregel liegt auf der Hand, da sie entscheidend dazu beiträgt, ein reflexives Verhältnis auch zu sich selbst zu finden. So ist sie für die künstlerische Arbeit möglicherweise ihr größter Effekt.« (Hoffmann 2003: 121)
›Spielen‹ und ›Sehen‹, die Produktion und Rezeption von Kunst im Bildungsprozess sind untrennbar miteinander verbunden. Nach Taube liegt allerdings heute die Tendenz einseitig auf dem Aspekt des Spielens, denn »das Feld der kulturellen Kinder- und Jugendbildung wird beherrscht von produktiven Methoden eigener kreativer und künstlerischer Tätigkeiten der Kinder, wodurch die rezeptiven Methoden der ästhetischen Wahrnehmung und Rezeption von Kunstwerken marginalisiert werden« (Taube 2007: 16f). Das Spielen der Kinder wird demnach als wertvoller eingestuft als der Theaterbesuch, das eine als Basisangebot gefordert, das andere als exklusives Freizeitangebot in die Hände der Eltern gelegt. In der Konsequenz lässt sich weiterformulieren, dass die Frage nach der Qualität von Spielprozessen, seien sie produktiv oder rezeptiv, als wesentlicher inhaltlicher Gedanke für kulturelle/ästhetische Bildung in den Hintergrund zu geraten droht. Im Rahmen der Ausbildung von Theaterpädagogen an der Zürcher Hochschule der Künste haben sich Studierende auf die Suche nach Vermittlungsstrategien gemacht, die zeitgenössische Theaterformate aufgreifen und für Kinder transformieren. Im Vordergrund stand dabei immer wieder der Anspruch, die besondere Qualität von Spielprozessen, die durch wahrnehmenden oder gestaltenden Umgang mit Theaterereignissen in Gang gesetzt werden kann, in Projekten für Kinder oder mit Kindern herauszuschälen und adäquat umzusetzen. Drei Beispiele sollen hier exemplarisch skizziert werden.
Ottilie geht ins Theater »Ottilie geht ins Theater« ist eine Hör-CD für Kinder, die eine Studentin (Nina Knecht) im Rahmen ihrer Diplomarbeit in Kooperation mit dem Schweizerischen Bühnenverband produziert hat. Als Lehrmittel richtet sie sich an Kinder zwischen fünf und acht Jahren und wird überwiegend im Anschluss an einen Theaterbesuch kostenlos verteilt. Die Hör-CD soll das 131
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Theatererlebnis aufgreifen und vertiefen, ohne jedoch die Rezeption einer spezifischen Bühneninszenierung vorauszusetzen. Das Hör-Buch als Medienformat ist Kindern bestens vertraut, können sie hier doch unabhängig von Erwachsenen Geschichten erzählt bekommen und miterleben. »Ottilie geht ins Theater« greift diese Hörgewohnheiten auf und ergänzt den Rezeptionsvorgang, indem inhaltlich die Bedeutung des Mitspiels von Zuhörern bzw. Zuschauern betont wird. Das Konzept für die CD basiert also auf dem Grundgedanken des aktiven Theaterzuschauers. Dabei wird »Ich & Du« zum Anlass für Ottilie und die Hörer der CD, sich über die Welt des Theaters Gedanken zu machen. An erster Stelle steht die Vermittlung der Imaginationskraft des Zuschauers, die Theater erst möglich macht und den Unterschied zu Fernsehen, Musikkassette und Video betont. Ottilie ist fünf Jahre alt. Sie geht ins Theater und nimmt ihre Zuhörer kurzerhand dahin mit. Gemeinsam stellen sie sich vor, wie sie in die Atmosphäre des Theaterfoyers eintauchen, sich die Plätze langsam füllen und ein aufgeregtes Murmeln den nahenden Vorstellungsbeginn ankündigt. Plötzlich erlischt das Licht, es wird ganz still und stockdunkel. Hast Du Angst im Dunkeln? Machst du dich auch gerade ganz klein? Das Stück »Ich & Du« beginnt. »Ich & Du« ist eine Geschichte über die Angst – eine Geschichte über das Theater. Es thematisiert das Verhältnis des Publikums zum Geschehen auf der Bühne, macht den Zuschauer zu einem aktiven Spielpartner. Die dazu erfundene Rahmenhandlung – Ottilie geht ins Theater – leitet die Zuhörer durch die Geschichte. Ottilie ist dabei eine Vermittlerin zwischen Welten und als treibende Kraft kommentiert sie die Bühnenhandlung, befragt sie und greift schließlich in sie ein. Durch ihre Interventionen wird das Hören immer wieder zu einem genreübergreifenden Spiel auf mehreren Handlungs- und Reflexionsebenen. Das Stück »Ich & Du«, welches Ottilie besucht, stammt aus der Feder von Ingeborg von Zadow. Die knapp gehaltenen Dialoge beleuchten Grundverhältnisse des menschlichen Zusammenlebens, der Freundschaft und des Alleinseins. Die Angst vor dem Zuschauer ist Auslöser für die Handlung zwischen den beiden Freunden Ziggy und Doodle. Zwischen den kurzen sprachlichen Gesten des Textes entsteht ein theatralischer Raum, in dem die Figuren mit ihrem Sprechen und Handeln Realität gewinnen, ohne realistische Figuren sein zu müssen. Auch der Raum ist nicht in der Realität festgelegt. Dieser Abstraktionsgehalt des Stückes bietet die ideale Voraussetzung für eine Übersetzung von Theater in ein Hör-Medium. Der Text ist dabei in seiner Knappheit sehr musikalisch und ›klingt‹ bereits beim Lesen. So ermöglicht er den Zuhörern die Identifi kation mit der Geschichte und die Auseinandersetzung mit den stückimmanenten Themen in einer sinnlich verdichteten Form, einer theatralen Wirklichkeit. Zuhören als Einstieg in eine ästhetische Bildung. Vielleicht aber auch 132
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für den Zusammenhang von ›Sehen‹ und ›Spielen‹ bedeutend. Wer sieht im Theater eigentlich zu? Wer spielt? Im Zuhören wird das aktive Mitspielen besonders hervorgehoben, da die Imaginationsleistungen sinnlichkonkret angefragt sind: Die visuelle Phantasie ist in einem weit stärkeren Maße aufgefordert sich ins Spiel zu bringen, denn es existiert kein fertiges Bild, an dem entlang ich eine Geschichte mit-vollziehen kann. Rezeption als aktiver Vorgang ist hier in der Vermittlung eines Theatererlebnisses durch das Medium Hörspiel angesprochen. Die Entscheidung, in der Herstellung von »Ottilie geht ins Theater« auf Musikunterlegung und allzu viel atmosphärische Surroundings zu verzichten, ist während der ersten Testaufnahmen entstanden und wird, je tiefer die beiden Kunstfiguren Ziggy und Doddle in das Spiel über die Angst der Darsteller vor ihrem Publikum einsteigen, immer weiter reduziert. Anliegen war, so die eigenständige imaginative Aktivität der Zuhörer herauszufordern und vorproduzierte und einprogrammierte Phantasieklischees aus anderen medialen Ereignissen nicht zu bestätigen und zu verdoppeln. Nähe und Distanz im Zuhören suchen, Mit-Spiel und Mit-Imagination. Aber natürlich ist ein Hörspiel keine Theatervorstellung und wir wollen nichts weniger, als über dieses Medium das eigentliche Theaterereignis nivellieren.
Der Schauspieler schaut sich zu »Das Theater ist eine der radikalsten Formen der Erprobung des Sozialen, weil alles, was funktioniert, zwischen Schauspielern auf der Bühne und vor dem Publikum im Parkett funktionieren können muss. Das heißt, es gibt eine soziale Situation, in der das Theater sich befindet und in der die Neugier und die Urteilskraft mobilisiert werden muss und mobilisiert werden kann, sich anzuschauen, anzuhören und auszuhalten, was auf der Bühne passiert. Das Theater erlaubt nur diejenige Form der Distanz, die auch dem Mitspieler möglich ist, wenn er einen Moment innehält.« (Baecker 2005: 2)
Mit anderen Worten: Der Schauspieler schaut sich zu, wie er auf der Bühne handelt. Er bringt einen Abstand zwischen sich und sich, zwischen sich und seinen Mitspieler, um in diesem Abstand den Zuschauer am Geschehen teilhaben zu lassen. Er veröffentlicht sein Spiel in dem er sich des Zeigevorgangs Theater bewusst ist und damit spielt, sich zum Komplizen des Zuschauers macht. Indem der Schauspieler pure Spielwut zurücknimmt und berechnend agiert wird dem Zuschauer das Spiel mit seinen Vorstellungen ermöglicht. Für die Berechnungen – Mathematik ist ja in der Regel nicht die ausgewiesene Stärke von Schauspielern – steht ihnen eine Regie (sozusagen als Mathematik-Spezialist) zur Seite. 133
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So funktioniert Theater. Zumindest eine notwendige Perspektive darauf. Was haben Kinder dabei verloren? Bzw.: Wie verändert sich dieses Verhältnis, wenn Kinder zuschauen? Die professionellen, erwachsenen Theaterproduzierenden intendieren etwas Bestimmtes und gehen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, dass ihre Wahrnehmungen eines Inhalts und seiner ästhetische Umsetzung mit jenen des zukünftigen Zuschauers, wenn auch nicht ganz deckungsgleich, so doch in gewisser Korrespondenz stehen. Handelt sich es bei einer Inszenierung jedoch um ein Theaterstück für Kinder, ist die Gefahr von ›Übertragungsfehlern‹ ungleich höher. Um die einer Inszenierung impliziten Lern- und Anschauungsabsichten auch ja zu vermitteln, ist die Notwendigkeit von inszenierungsbegleitenden Unterrichtsmaterialien erkannt worden. Diese theaterpädagogischen ›Rundum-Sorglos-Pakete‹ sind sicher nützliche Ergänzungen zum Stoff einer Inszenierung, den spezifischen Wert eines Theaterbesuches bekommen sie kaum je ins Visier. Zumal, wenn in den Materialbänden die Inszenierungen auf ihre Brauchbarkeit für Lehrpläne und Unterrichtsgestaltung ausgeschlachtet werden und die Lernziele mit schulischem Lernstoff oder pauschalen Sozialkompetenzen verbunden werden müssen. »Die Methode verselbständigte sich zunehmend«, konstatiert Wolfgang Schneider in Bezug auf Vor- und Nachbereitungen zu Recht und fordert für kulturelle Bildungsarbeit mehr als nur sozialpädagogisch begleitete Kunstrezeption (vgl. Schneider 2006: 11f). Das ästhetische Vergnügen des Theaterschauens, das sich einstellende Mit-Spielen in der Ambivalenz von Nähe und Distanz (zu den Darstellern, den szenischen Vorgängen, Stückinhalten und den anderen Zuschauern), das kollektive Erlebnis dieses Vorgangs und das sich permanent ineinander verkehrende Verhältnis von Schauen und Spielen, Teilhabe und Distanznahme kann nur durch das theatrale Ereignis selbst vermittelt werden. Umso bedeutender, wie sich dieses im Zusammenspiel mit den kleinen Köpfen präsentiert. Gelingt das inszenatorische Aufspüren von einprägsamen szenischen Vorgängen und nachhaltigen Momenten schon bei Erwachsenen nur selten, so sind Kinder in ihren Wahrnehmungswirklichkeiten noch um einiges schwieriger voraus zu bestimmen und einzuschätzen. Erst in der produktiven, kritischen, subversiven, konstruktiven Qualität von Spielvorgängen zwischen Zuschauern und Darstellern werden kulturell-ästhetische Bildungsmomente nachhaltig.
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Ein Schlaflabor für Kinder Fragen rund ums Träumen und die Absicht, ein Theater mit Kindern als Experten herzustellen war Ausgangspunkt für drei Studierende. Eine erste Recherchephase, in der sie Kinderbücher und Theatertexte nach Spielmaterial durchforsteten, war begleitet von der Auseinandersetzung um die Entstehung und Entwicklung des Mitspiel-Theaters sowie Auff ührungsbesuchen und -analysen. Verschiedene Motive aus Bilderbüchern und dramatischen Texten stießen auf Interesse, eine geeignete Vorlage für ein Mitspielstück aber war nicht darunter. So fiel die Entscheidung, selbst den Weg einer Stückentwicklung zu beschreiten. Das philosophierende Umkreisen des Phänomens ›Träumen‹ war thematischer Kern, wobei der physische Prozess des Schlafens und Einschlafens die konkrete Verortung der Situation bieten sollte. Als ›Dogma‹ für das weitere Vorgehen wurde festgehalten: Die drei Darstellerinnen fungieren als Akteurinnen, nicht als Schauspielerinnen. Sie spielen also nichts vor (oder nach), sondern sie agieren mit den Kindern. Es wird nach einer Mit-Spielform für Kinder gesucht, die klischiertes Rollenverhalten aushebelt. Es geht im Mitspielen der Kinder nicht darum, ihnen bestimmte Rollen zuzuweisen, sondern auf anderen Wegen miteinander zu ›ver-handeln‹. Die Kinder sind als Experten für die Materialerforschung hinzuzuziehen. Die Einbindung von Recherchen in Schulklassen zum Thema Träumen/Schlafen ist Basis und Bestandteil der Inszenierung. Jedes Kind soll in der Inszenierung als einzelnes Individuum angesprochen werden können. Das kollektive Spiel darf den einzelnen ZuSchau-Spieler nicht erdrücken. Der Theaterrahmen ist schon Teil der Illusion und des Traums und wird mit inszeniert. In der Ankündigung für Lehrpersonen der unteren Grundschulklassen ist schließlich folgende Ausschreibung entstanden: »Träume sind ganz besondere Geschichten. Sie entstehen im Schlaf und sind doch lebendig. Träume können Angst machen oder Spaß, wir können in ihnen fliegen und baden uns im Traum. Aber kann man Träumen lernen? Wie geht das? Gibt es Regeln? Und wie soll man einen Traum haben, wenn man gar nicht schlafen kann? Drei schlaflose Wesen sind auf der Suche nach Menschen, deren Traumgeschichten sie sammeln, archivieren und an den großen Traum-DJ weiterleiten. Dieser sorgt dafür, dass alle Traumbestandteile immer wieder neu gemischt werden und wir jede Nacht etwas Neues erleben können. Um sich ihren größten Traum zu erfüllen – einmal einschlafen, um selbst träumen zu können – benötigen die drei
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Figuren aber dringend die Hilfe der Kinder. Dafür haben sie alle ins Schlafl abor eingeladen. Ob sie es schaffen? Für die regulären Vorstellungen des Schlafl abors ist jeweils eine der drei Spielerinnen im Vorfeld zu Besuch in der Schulklasse. Dort sammelt sie Träume der Kinder, erwirbt sich Kenntnisse über Techniken und Hilfen zum Einschlafen. Das Schlafl abor selbst ist keine klassische Bühne, sondern für jeden Besucher ist ein ganz massgeschneidertes Bett eingerichtet. Sein Platz ist mit einer Aufgabe verbunden, die er im Verlauf der Inszenierung aktiv verfolgt. Vom ›GuteNacht-Geschichte erzählen‹ bis hin zu ›Bettmümpfeli‹ verteilen wird jedes Kind gebraucht, um im ›Experimentierraum Schlafl abor‹ ein optimales Gelingen zu ermöglichen.«
Zu Beginn der Vorstellung werden die Kinder von einer Spielerin im Foyer empfangen und vor dem Bühneneingang versammelt. Neben der Einweisung in die Regeln des Schlaflabors (»Schuhe gehören neben das Bett. Jeder träumt sein eignen Traum. Ein Traum darf nicht unterbrochen werden.«) wird bereits auf ein Problem mit dem Raum-Zeit-Kontinuum hingewiesen, das sich als Zeitloch bemerkbar macht und vor dem man sich in Acht nehmen muss, da hin und wieder jemand darin verschwindet. Die Geheimhaltung über die Vorgänge im Schlaflabor wird für alle Laboranten zur Pflicht und einzeln werden sie in den mit Leintüchern ausgelegten Kreis auf das für sie vorgesehene Bett platziert. Nachdem alle Personen im Labor Platz gefunden haben, beginnt die Versuchsleiterin mit dem Experiment und bittet alle Kinder einzuschlafen. Dieses Vorhaben muss natürlich scheitern. Es entstehen Konflikte, die Kinder werden um Rat gefragt und die ambivalente Situation des Einschlafens (der Wille zu schlafen allein reicht nicht aus, alle anderen Hilfsmittel wie Augen zu machen, Gutenachtküsse etc. sind kein Garant für das Einschlafen) bildet den Mittelpunkt des Spiels. Im weiteren Verlauf entsteht – durch das plötzliche Auftauchen eines Zeitlochs im Schlaflabor – eine unvorhergesehene Notsituation, die Akteurinnen und Kinder gemeinsam lösen müssen. Ohne hier genauer auf die Erzählhandlung einzugehen, lässt sich für die Auff ührungen des Schlaflabors beschreiben, dass die Balance in der das Mit-Agieren wieder zum Mit-Spielen wird und das Mit-Denken wieder zum Mit-Betrachten die größte Herausforderung darstellte. Da jede LaborKlasse ein anderes Mitspiel praktizierte, war in jeder Wiederholung nach den neu zu schaffenden Brücken für ein Miteinander zwischen Akteurinnen und Kindern zu suchen. Die Lösung der Notsituation im Labor hatte zwar klare Möglichkeiten als Vorgabe, nach welchen Spielregeln sie zu erreichen war, galt es jedes Mal neu in der konkreten Situation zu erfinden. Die Irritation über den Theaterrahmen ist von den Kindern von Beginn an mit lustvollem Staunen aufgenommen worden und hat sie dazu veranlasst, 136
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von Anfang bis (nach) Ende der Inszenierung gemeinsam mit den Akteurinnen auf eine Gratwanderung in der Schwebe zwischen Realität und Fiktion teilzuhaben, sich kollektiv und individuell zu verhalten, spielend und wissend in die Kette von Ereignissen einzugreifen. Die Ununterscheidbarkeit von Ernst und Spiel wurde als gemeinsame Vereinbarung angenommen, die dem Geschehen eine Besonderheit gab, die abseits konventioneller Theatererwartungen lag. Den Kindern machte es sichtlich Spaß, innerhalb der gestellten Aufgabe jemandem beim Einschlafen zu helfen sowohl mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, über das Thema Träumen zu ›fachsimpeln‹ und gleichzeitig die Situation, auf Befehl einschlafen zu sollen als Paradoxie zu akzeptieren und zu entlarven. Die Verstrickung in eine unlösbare Aufgabe, deren einziger Ausweg in einer Poetisierung der Spielsituation lag, wurde von ihnen mit großem Engagement mitgetragen. Im Rückblick auf das Schlaflabor war deutlich zu erkennen, wie sie ihr Erlebnis zum Anlass genommen haben, über den Theaterrahmen zu reflektieren, das Zusammenspiel und Mitspiel als eine besondere Qualität des Theaters zu entdecken und den Status des Zuschauers als immer wieder neu verhandel- und verwandelbaren einzuordnen.
Erzählabsicht und Imaginationsleistung In der Theaterarbeit mit Kindern ist nach den Prämissen zu fragen, unter welchen hier theatrale Inhalte und Formen gesucht werden. Noch immer, so scheint mir, überwiegen Spielanlagen, die Theater als ein auf die Bühne geworfenes Rollenspiel begreifen. Insbesondere für Kinder wird dies legitimiert und kopiert vom spontanen Ausdrucksverhalten der Zielgruppe in ihren ungeleiteten Rollenspielen. Rollenspiele wie sie im Theater (und gerade auch dem Theater mit Kindern) häufig benutzt werden, nutzen sich schnell ab. Sie verlieren in der Wiederholung an Qualität und werden in der mühsamen Verbiegung zu einem Theaterstück durch Erwachsene ästhetisch reizlos. In der Auff ührung spielt dann unter Umständen weder der Darsteller noch der Zuschauer, findet keinerlei Korrespondenz statt zwischen der intendierten Erzählabsicht der Kinder und der Imaginationsleistung der Zuschauenden. Sehr treffend hat Johannes Merkel die typischen Komplikationen im angeleiteten Rollenspiel beobachtet: »Kinder, die längst Experten im spontan improvisierten Zusammenspiel sind, zeigen sich kaum fähig, eine vom Spielleiter vorgeschlagene [oder selbst definierte; Anm. M.S.] Rolle auszufüllen. Sie haben große Schwierigkeiten, über längere Zeit eine Spielfigur zu halten, fallen immer wieder aus der Rolle und durchkreu-
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zen den vom Spielleiter vorgesehenen Ablauf, indem sie störende Einfälle ins Spiel schmuggeln. Wo sie dem Spielentwurf zu folgen bereit sind, spielen sie oft ungeschickt und hölzern, richten ihre ganze Konzentration darauf, ›richtig‹ zu spielen, und verlieren damit ihre spontane Spielfähigkeit. ›Rollenveränderung‹ findet dann allenfalls noch auf Anweisung des Spielleiters statt, und es ist eine schöne Illusion zu glauben, damit könnten Rollenmuster durchschaut oder gar umgestaltet werden.« (Merkel 2000: 131)
Kollektives Erzählen innerhalb einer Spielgruppe – essentieller Wesenszug von Theater – findet auf Wegen statt, die im Rollenspiel allein nicht adäquat zur Geltung gebracht werden können. Welche darstellerischen Möglichkeiten der Kinder bieten aber Auswege aus dem festgefahrenen Theaterverständnis, dass sowohl die Kinder als häufig auch die Erwachsenen in das gemeinsame Spielvorhaben projizieren? Wie Zwiespälte und Phantasien kindlicher Lebenszusammenhänge in Szenen setzen? Wenn man die kindlichen Regiedespoten dazu bekommt, ihre Verfahrensweisen (etwas Spielen, sich selbst unterbrechen, Vorschläge untereinander sammeln, etwas in Umbesetzung nochmals probieren, wieder unterbrechen. Diskutieren, warum es so nicht klappt. Unter Umständen streiten, sich erklären, dann aber wieder weiter nach Spielstrategien suchen, die eigene Darstellung verteidigen, einlenken etc.) mit in die Darstellung zu nehmen, sind viele sehr theatrale Formen des Erzählens durch den Wechsel von Nähe und Distanznahme zu beobachten. Einsteigen und Aussteigen sind selbstverständliche Handlungskonzepte in kindlichen Spielvorgängen. Andere alternative Spielmuster lassen sich aufzeigen, wenn z.B. die Bühnensituation der klassischen Trennung zwischen Zuschauer- und Spielraum aufgelöst wird oder über die Aufhebung der vierten Wand nicht nur eine Öffnung zum Publikum, sondern vielleicht sogar eine direkte Interaktion mit ihm als theatrales Mittel zum Einsatz kommt. Sollen darüber hinaus spontane, unvermittelte Handlungsweisen unterstützt und als Element von Darstellung Kindern zugänglich gemacht werden, können Spielsituationen mit realen Anteilen bereichert werden. Der Reiz am Vollzug von realen Vorgängen vor oder mit Zuschauern liegt dann wesentlich höher als die Darstellung eines fi ktiven Rollenverhaltens. Auf solch einer Basis ist die Funktion von Theaterpädagogen weniger ans Verbieten und Verordnen gebunden, sondern vermittelt zwischen der Spielfähigkeit der Kinder und Erzählmöglichkeiten des Theaters. Zwischen Idee und Umsetzung. Zwischen Kritzeln und Malen, Stricheln und Schreiben. Zwischen Hören und Sehen. Einer, der vom Erleben zum Gestalten und Lesen ästhetischer Zeichen begleitet. Der mitspielen kann, um das Spiel fortzusetzen.
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Vom Lindenplatz zum Höllenschlund Die besondere Bindung zwischen Enkel- und Großeltern-Generation war Kriterium für ein Projekt, das Vertrautheit und einen selbstverständlichen Umgang junger und älterer Menschen als Basis für gemeinsames, generationsübergreifendes Erzählen von Geschichten zur Basis hatte. Das Potenzial des Theaters, Verwandtschaften zwischen verschiedenartiger kultureller und sozialer Herkunft zu behaupten, stiftete die Studierenden dazu an, sich in Altersheimen, Quartiertreffs und Grundschulklassen auf die Suche nach interessierten Spielern zu machen. Zweiter Ausgangspunkt war ganz anderer Art: Das Projekt »X-Wohnungen«. Das Referat einer Studentin löste aus, dass über einen längeren Zeitraum dieses Theaterformat immer wieder ins Gespräch gebracht wurde. Die Frage nach einem Transfer für Kinder lag nahe. Von dieser Idee ausgehend war zu überlegen, mit welchen Realitätsaspekten das Projekt sich befassen wollte und wie diese in eine Inszenierung eingebunden werden können. Wie Arved Schultze es für das Projekt »X-Wohnungen« beschreibt, ist »die Suche nach einer Form von Theater, die sich weder an eine bestimmte soziale Schicht wendet, noch einen bestimmten öffentlichen Raum für sich beansprucht« immer wieder neu zu verknüpfen mit der Frage, »was Realität ist und was in dieser erlebten Realität Theater ist oder sein könnte« (Schultze 2003: 18f.). Der dritte Grundpfeiler war der 100. Geburtstag von Astrid Lindgren. Lindgrens Geschichten, so unser Ansatz, werden immer noch vorgelesen und erzählt. Der Genuss, den Großeltern mit ihren Enkeln an diesen Figuren haben, ist in der Regel im privaten Rahmen eines Wohn- oder Schlafzimmers, nicht selten wohl dem von Opa oder Oma, beheimatet. Anderen Kindern in diese intime Welt Zugang und Einblick zu ermöglichen, sozusagen vor Ort auf Entdeckungsreise zu anderen Menschen und deren Lebensrealität zu gehen, stand als Idealvorstellung fest. Da unser erster Versuch, Senioren samt ihren Wohnzimmern als Spieler für das Projekt zu gewinnen kläglich scheiterte, haben wir uns auf die Suche nach Alternativen gemacht. Entstanden ist eine Inszenierung in fünf Wohnungen einer alten Holzhaussiedlung in Zürich. In jeder Wohnung waren zwei Zimmer eingerichtet: als Zuhause seiner Bewohner sowie als Ort einer Erzählung von Astrid Lindgren. Die einzelnen, voneinander unabhängigen Inszenierungsteile sind vom Spiel- und Erzählstil her so unterschiedlich, wie es die Studierenden und ihre jeweiligen Großeltern-Enkel-Kombinationen waren. Für die Besucher gab es einen deutlichen ästhetischen Bruch zwischen den einzelnen Passagen der Vorstellung, der mit dem Wechsel von einer Welt in eine andere, von einer Geschichte in eine andere einherging. Als Bindeglied und logistischer Knotenpunkt für die Wanderung von Wohnung zu Wohnung trat vor der Siedlung immer wieder ein aus Sri 139
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Lanka stammender ›Postbote‹ auf, der die Kinder mit immer neuen Briefen und Paketen in kleinen Gruppen zu den ›Bewohnern‹ entsandte. Für die beteiligten zwanzig Darsteller – Kinder wie Erwachsene – war das Spiel in kleinen, halbprivaten Räumen eine großartige Herausforderung, den direkten Kontakt und Umgang mit ihren Zuschauern aufzunehmen. Auf welcher Bühne kann sonst ein achtjähriger Junge eine Gruppe durch das reale Fenster in sein Zuhause klettern lassen, wo sonst ist der Aufforderung eines kleinen Mädchens an die Gäste, alle Uhren und Wecker auf Mitternacht zu verstellen, die Fensterläden zu schließen und alle Lichter zu löschen tatsächlich nachzukommen? Ein Keller ist hier ein Keller, ein junger Mensch hilft einem alten Menschen, die Flucht von Ronja und Birk vor dem Bären in der Abstellkammer kann dazu führen, dass sich alle gemeinsam in der Küche verschanzen und miteinander Schokolade essen.
Die Qualität ist entscheidend Erster Nachsatz: Kinder sind Experten im Erfinden von Spielregeln, im Kontrollieren von Verabredungen und in der Setzung von Zeichen. Wenn wir mit ihnen die Spielregeln, die Verabredung zwischen den Darstellern und uns und die Auswahl der Zeichen einer Inszenierung (eigener und fremder) in den Blick nehmen, sehen sie, sehen wir mehr. Daraus erwachsen »Produktionsstrategien von ästhetischer Kompetenz« (Hentschel 2003). Zuschauen (sich und anderen) ist also wichtig, aber die Qualität von Zuschauen ist entscheidend. Zweiter Nachsatz: Beide Seiten, Zuschauer und Darsteller, haben eine Autonomie darin, spielerische Deutungsversuche von szenischen Vorgängen vorzunehmen. Autonomie wird aber erst dann richtig interessant, wenn sie sich in Reibung, in Austausch bringt mit anderen Sichtweisen. Wenn sie ins Kollektiv eingespeist wird. Theater als der Ort, an dem voneinander unabhängige Individuen sich (freiwillig) in einen kollektiven Austausch begeben ist heute womöglich ein Teil subversiver Kultur. Im Kindertheater ist ein verbindliches Miteinander auf Augenhöhe die Voraussetzung für die Wahrung der Individualität jedes Kindes und öffnet erst den respektvollen Blick auf den Anderen/das Andere. Dritter Nachsatz: Theater ist eines der »machtvollsten Bildungsmittel, die wir haben; ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel, der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht« (Hentig 1996: 118f.), so der Bildungstheoretiker Hartmut von Hentig. Theater ermöglicht Lernen über sich, Lernen über andere und von anderen. Und es ermöglicht, diese Erfahrungen zu kommunizieren, da es individuelle Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit ent140
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wickelt. Die Theaterpädagogische Spezialität liegt darin, diesen Umstand in kollektiven Prozessen zu vermitteln. Im Theater mit Kindern und für Kinder ist wesentlich, dass der Einzelne dabei nicht unter einen normativen Druck gerät und die Autorschaft über sein Handeln und Denken bewahren kann. Kollektive Autorschaft wäre hierfür genauer zu definieren. Letzter Nachsatz: Die Forderung, Kinder ins Theater zu schicken, um ihnen die künstlerische Praxis auch im Kunstereignis als genussvoll und lebenswert schmackhaft zu machen ist zu paaren mit der Forderung an Theaterpädagogen ins Theater zu gehen, um die eigene Mit-Spiel-Erfahrung präsent zu halten, um Neues im Medium Theater zu entdecken. Daraus können wiederum neue Impulse für das Theaterspiel mit Kindern aufgenommen werden, können theaterpädagogische Projekte von der unverwechselbaren Einmaligkeit gezeichnet sein, die Theater als konventionelle Form in Frage stellt und dadurch Theater als Spiegel von gesellschaftlichen Entwicklungen erst denkbar machen. Mut haben, Theater auch in der Theaterpädagogik für und mit Kindern neu zu erfinden.
Literatur Baecker, Dirk (2005): Editorial und Einleitung zur Tagung ›Radikal sozial‹. In: dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 2, o.S. Hentschel, Ulrike/Ritter, Hans Martin (Hg.) (2003): Entwicklungen und Perspektiven der Spiel- und Theaterpädagogik. Festschrift für Hans Wolfgang Nickel, Milow: Schibri. Hartmut von Hentig (1996): Bildung, München: Hanser. Hoffmann, Christel (2003): Zwischen Spiel und Schauspielkunst. In: Ulrike Hentschel/Hans Martin Ritter (Hg.): Entwicklungen und Perspektiven der Spiel- und Theaterpädagogik. Festschrift für Hans Wolfgang Nickel, Milow: Schibri, S. 108-123. Merkel, Johannes (2000): Spielen, Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt, München: Antje Kunstmann Verlag. Padova, Thomas de (2008): »Das Gehirn der Zuschauer spielt mit«. In: Tages-Anzeiger der Stadt Zürich vom 28.5.2008, o.S. Schneider, Wolfgang (2006): »Wie muss man sehen, um sehen zu können? Grundsätzliche Überlegungen zur kulturellen Bildung im Kinder- und Jugendtheater«. In: Theater der Zeit 12, S. 10-13. Schultze, Arved (2003): Theater und Realität. Die Inszenierung des Fremden. In: Arved Schultze, Steffi Wurster (Hg.): X Wohnungen. Duisburg. Theater in privaten Räumen, Berlin: Alexander Verlag. Taube, Gerd (Hg.) (2007): Kinder spielen Theater. Methoden, Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern, Milow: Schibri. 141
TUSCH als System. Eine Basis kultureller Bildung Joachim Reiss
»Musen küssen Schüler« (Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, NRW KulturStaatssekretär), »Kinder zum Olymp« (Kulturstiftung der Länder), »Kultur macht Schule« (BKJ) – kurzum: Künstler beglücken Schüler mit Inspiration, Experiment, künstlerischem Knowhow, Kultur, Genie und allem, was der Schule sonst noch so abgeht. Seit PISA kommen noch ein paar ›Schlüsselkompetenzen‹ zur Legitimation dazu. Damit ist ein gängiges Verständnis von kultureller Bildung charakterisiert, dem man immerhin zwei positive Punkte abgewinnen kann: Erstens bringt es den beteiligten Schülern relativ oft Spaß und persönlichen Gewinn, zweitens verbreiten gelungene und gut vermarktete Projekte wie z.B. Rhythm is it die Idee der kulturellen Bildung und können zur Nachahmung anregen. Wo solche »Künstlerprojekte« dem Künstler auch noch helfen, seine Existenz zu sichern, kann man einen weiteren Pluspunkt verbuchen. Jedoch: Wenn man von der kulturpädagogischen Anmaßung und Überheblichkeit absieht, von der dieses Konzept geprägt ist, hat es einen entscheidenden Nachteil: Es ist elitär, von einer Reihe von Zufällen abhängig und nicht nachhaltig. »Einfliegen, Küssen, ein Produkt hinterlassen, Ruhm mitnehmen« – dieses Prinzip taugt nicht zum Konzept. Das Fazit einiger Untersuchungen: Das einzelne Künstlerprojekt kann unter Umständen eine tolle Sache sein, das Konzept ist für eine Gesellschaft, die für ihre Zukunft »kulturelle Bildung für Alle« entwickeln will, uninteressant (vgl. Jurké/Linck/Reiss 2008). Zukunftsweisend, qualitätsbewusst, nachhaltig und systemisch flächendeckend – eine Chance für jedes Kind und jeden Jugendlichen – kann eine kulturelle Bildung nur sein, wenn sie in der allgemeinbildenden Schule implementiert ist. Keine moderne Gesellschaft kann darauf vertrauen, dass die Industrie den Menschen physikalische Kenntnisse ver143
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mittelt, die Banken mathematische, alte Leute historische, Museen künstlerische u.s.w. Dafür gibt es schon lange die allgemeinbildende Schule, die trotz ihrer Musealität und mangelhaften Realität die Prinzipien von allgemeiner und gleicher Bildung vertritt. Menschen können sich heute weniger denn je für ihr Leben bilden, indem sie Wissen und Fähigkeiten in Fachgebieten sammeln. Diese Erkenntnis in eine tiefgreifende Schulreform umzusetzen, bleibt eine große Herausforderung für die Schulen und die Bildungspolitik. Wer die kulturell-ästhetische Bildung hiervon ausnimmt, erklärt sie für nachrangig. Genau das tut die Bildungspolitik, die nur Deutsch, Englisch und Mathematik – seit PISA explizit und verstärkt – zu den ›harten‹ Kernfächern zählt, und die Vertreter von ›Künstlerprojekten‹ machen es ebenso. Wer die kulturelle Bildung Künstlern überlassen will, nimmt sie aus der Allgemeinbildung heraus, selbst wenn er sie in Schulen verortet, und macht ihre Existenz, Zugänglichkeit und Qualität von örtlichen, sozialen und individuellen Zufällen abhängig. Interessant ist, dass trotz all dem kaum jemand die etablierten künstlerischen Fächer Kunst und Musik infrage stellt, aber die weniger etablierten wie Theater und Tanz scheinen ›weich‹ genug, um sie nur in Einzelprojekten, nicht aber in verbindlichen schulischen Strukturen wie Fächern zu denken (vgl. Reiss 2008).
Das Projekt der Projekte Das ›Projekt der Projekte‹ mit dem gelungenen Akronym TUSCH, ›Theater und Schule‹, ist das einzige, das die beiden hier knapp skizzierten widersprüchlichen Konzepte – ›Allgemeinbildung‹ und ›Künstlerprojekte‹ – systematisch miteinander verbinden will. Die sich vom Berliner Modell seit zehn Jahren langsam verbreitenden TUSCH-Projekte in Hamburg, Sachsen-Anhalt, Frankfurt am Main und demnächst München nutzen Künstlerprojekte kontinuierlich, systematisch und institutionell verankert, um die Basis der kulturellen Bildung an den Schulen zu stärken und für das Fach Theater flächendeckend zu entwickeln. Nicht zufällig kommt Renate Breitig, die Gründerin von TUSCH Berlin, vom Schultheater und hat das Projekt aus der Berliner Schulverwaltung heraus entwickelt, das gilt auch für die Hamburger und Frankfurter. Der ursprüngliche Sponsor, die PWC-Stiftung, hat sich eine Weile mit dem Projekt geschmückt, seit Jahren passt es aber nicht mehr in ihr ›Profil‹ und sie läuft anderen Moden hinterher. TUSCH wäre längst erledigt, wenn es nicht gelungen wäre, aus dem Projekt ein dauerhaftes Modell zu machen, das in der Schulverwaltung Berlins fest verankert ist.
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TUSCH al s System. Eine Basis kultureller Bildung
»Der Grundgedanke von TUSCH ist einfach: Man nehme eine (beliebige) Schule und verkopple sie mit einem (beliebigen) Theater auf möglichst vielen Ebenen für mindestens ein, besser noch zwei oder drei Schuljahre. Er folgt der pädagogisch fundierten und bildungspolitisch inzwischen auch sanktionierten Einsicht, dass Schule welthaltiger werden müsse, dass also Kooperationen mit außerschulischen Partnern zu befördern seien, um Schule zu einem System zu entwickeln, das die Außenwelt sowohl in sich aufnimmt als auch umgekehrt in diese diffundiert. TUSCH-Theater begreifen im Übrigen meist sehr rasch, dass diese Einsicht vice versa genauso für sie gilt: Wollen Bühnen nicht Gefahr laufen, auf Dauer für ›uncool‹ gehalten zu werden, tun sie sehr gut daran, sich der Lebenswirklichkeit ihres jugendlichen und damit prospektiven Stammpublikums massiv zu öffnen.« (Mayer 2008: 273)
TUSCH hat den Anspruch, Schulen und Theater über die eins, zwei, drei Jahre der geförderten Kooperation in einen längerfristigen Kontakt zu bringen, Schwellen abzubauen, Kooperationsroutinen einzuüben und tragfähige personelle und strukturelle Verbindungen zu schaffen, auf die sich der Alltag beider Institutionen stützen kann (vgl. Kelb 2008: 245ff.). Mittelfristig soll jede Schule für eine gewisse Zeit in den Genuss des ›TUSCHelns‹ kommen. Dadurch werden die anfänglichen Zufälligkeiten nach und nach zum System, von dem alle Kinder und Jugendlichen profitieren können. Setzen die Partnerschaften zunächst an vorhandenen Theaterlehrern und bereits motivierten Schulen an, so helfen sie nach und nach dabei, an den anderen Schulen diese Basis zu schaffen, indem sie qualifizierte Theaterlehrer fordern, geeignete Räume ausbauen und Theaterprojekte in ihr Schulprogramm einbauen. Damit stimmt das Verhältnis zwischen Schule und Theatern: Wenn »Schule Kultur macht« und sich dafür eine eigene professionelle kulturpädagogische Struktur schaff t – vom ausgebildeten Theaterlehrer über das Fach Darstellendes Spiel/Theater bis hin zu geeigneten Bildungsstandards – dann sind Künstlerprojekte echte Leuchttürme, die nicht ins Leere strahlen, sondern den vielen kleinen und großen Schultheaterschiffen Beispiel und Richtung geben. Wenn man davon ausgeht, dass in Ballungsräumen mindestens zehn bis 20 Schulen auf ein Theater kommen, falls alle freien Theatergruppen mitgezählt werden, so wird klar, dass alle Theater für TUSCH gebraucht werden. Und die Partnerschaften können nicht allein auf dem Rücken der Künstler lasten, die den Beruf Schauspieler, Dramaturgen oder Bühnenbildner gewählt haben und nicht den Beruf des Theaterpädagogen. TUSCH braucht engagierte Künstler genauso wie qualifizierte Theaterpädagogen, um die Partnerschaften mit den Schulen kontinuierlich stemmen zu können. TUSCH-Partnerschaften setzen viel Kommunikation über die jeweili145
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gen Vorhaben in den Schulen und den Theatern voraus, sie bestehen aus Informationsveranstaltungen, formellen und informellen Treffen, gegenseitigen Besuchen und besonderen Projekten kleinerer Gruppen. So entstehen aus der Begegnung mit den Künstlern kreative und sachliche Texte von Schülern, Plakate und Bilder, Bühnenbilder, Klangcollagen, StandbildReihen, Szenen und theatrale Präsentationen zu Spielzeitthemen und einzelnen Produktionen der Theater, die sowohl in den Schulen als auch in den Theatern ausgestellt oder aufgeführt werden.
Langfr istig und nachhaltig »Die empirische Basis ist inzwischen auch breit genug, um fundierte Hilfestellung geben zu können (die bereits existierenden Projekte treffen sich lose zum Erfahrungs- und Informationsaustausch und verstehen diesen Kreis ausdrücklich als offen für Interessierte). Aus Berlin und Hamburg liegen in dieser Hinsicht ausführliche Dokumentationen vor; es gibt sowohl Beispiele für sinnvolle Kooperationsvereinbarungen als auch für klare Teilnahmeregularien. Im Rahmen des Themenateliers ›Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen‹ wurden detaillierte Konzepte für das Qualitätsmanagement solcher Kooperationen entwickelt, denn ein Grundinteresse von TUSCH ist die Nachhaltigkeit schulisch-außerschulsicher Kooperationen, die im besten Falle sogar als effektiver Hebel von Schulentwicklung genutzt werden können.« (Mayer 2008: 274)
Regelmäßige Theaterangebote in der Schule, die dort voll implementiert und anerkannt sind, würden wirklich allen Kindern und Jugendlichen offenstehen, könnten deren Entwicklung und Bildung so lange und so oft fördern, wie sie das brauchen, und über die Jahre auch das schulische Lernen und Leben insgesamt befruchten. Das ist die Idee, die hinter TUSCH steht und ein modernes Verständnis von Ästhetischer Bildung defi niert – formuliert von deutschen Bildungswissenschaftlern und kulturpädagogischen Fachverbänden bis hin zur UNESCO.1 Die hunderttausende Euros, die in singulären Projekt- ›Feuerwerken‹ verpulvert werden, wären in langfristigen TUSCH-Projekten besser angelegt. Und sie werden dort auch gebraucht, wenn TUSCH sich bundesweit verbreiten soll. Denn so ungewöhnlich sind die Berliner Schüler nicht, und auch die Berliner Theater sind nicht alleine in der sogenannten ›Theaterkrise‹. Diese Krise ist übrigens meist gar keine Theaterkrise im künstle1. Vgl. den Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland« und die Road Map for Arts Education. In: www.UNESCO. de
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TUSCH al s System. Eine Basis kultureller Bildung
rischen Sinne, denn eine Kunst, die nicht in der Krise ist, ist schon tot (Peter Brook), sondern eine Zuschauerkrise und eine Kulturkrise. Unseren Theatern kommt die Kultur abhanden und mit ihr die Zuschauer, die Theaterkunst selbst ist so aktuell und flexibel wie eh und je. Mangel an Zuschauern bringt sie um ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihre öffentliche Finanzierung in Gefahr. Die Theater brauchen volle Häuser, um die öffentlichen Subventionen zu rechtfertigen und dafür braucht es heutzutage auch den Nachweis, dass man der Bildung dient.2 Es wäre also im Interesse der Schulen und der Theater, die TUSCHIdee in Deutschland weiter zu verbreiten. Und wenn es gelingt, die eigenständige Theaterarbeit in allen Schulen als reguläre und regelmäßige Aufgabe zu verankern, für welche die Länder Theaterlehrer ebenso ausbilden wie Musik- und Kunstlehrer, dann füllen sich auch unsere Theater und werden wieder zu Zentren des kulturellen Lebens und gesellschaftlichen Diskurses.
Literatur Fokus Schultheater, Zeitschrift für Theater und ästhetische Bildung, Hamburg: edition körber-stiftung. Jurké, Volker/Linck, Dieter/Reiss, Joachim (Hg.) (2008): Zukunft Schultheater, Hamburg: edition körber-stiftung. Kelb, Viola (2008): »Wie Kooperationen mit Schulen gelingen«. In: Zukunft Schultheater, Hamburg: edition körber-stiftung, S. 243-247. Mayer, Matthias (2008): »TUSCH – eine Idee macht Schule«. In: Zukunft Schultheater, Hamburg: edition körber-stiftung, S. 271-273. Reiss, Joachim (2008): »Solange es Fächer gibt, wird es Fächer geben«. In: Zukunft Schultheater, Hamburg: edition körber-stiftung, S. 310-314. Theater in der Schule (2007): Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 51. Siemens Arts Program (Hg.) (2007): kiss. Theater und Neue Dramatik in der Schule, München: Siemens. Tuschprojekte im Internet: Download: www.tusch-berlin.de, www.tuschhamburg.de, www.tusch-frankfurt.de, www.bvds.org
2. Vgl. Kunst vermitteln: Der Bildungsauftrag der Kultur, Kulturstiftung der Länder (Hg.), Berlin 2008 und die Seite Netzwerke auf »www.kinderzumolymp. de« mit den Links zu den TUSCH-Projekten.
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Per formance als Perspektive. Schultheater und Theaterpädagogik Wolfgang Sting
Welche Anregungen bietet Performance als experimentelle künstlerische Praxis, die mit performativen Darstellungsformen und unkonventionellen Zuschausituationen spielt, für die Theaterarbeit in der Schule oder im außerschulischen theaterpädagogischen Kontext? Welche Chancen ergeben sich daraus für die inhaltliche und künstlerisch-praktische Konzeption und Weiterentwicklung des Faches Darstellendes Spiel bzw. Theater in der Schule? Neben den fachlichen und ästhetischen Fragen des Theatermachens sind im Bereich des Schultheaters und der Theaterpädagogik stets auch pädagogisch-didaktische Fragen im Vermittlungsprozess zu thematisieren. Denn Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen versteht sich als eine ästhetische Praxis, die im Spielen und künstlerischen Gestalten auch die Lern- und Bildungserfahrungen der beteiligten Spieler im Blick hat. Wie geht Theaterpädagogik mit der offenen Erlebnis- und Darstellungssituation der Performance um? Sind diese performativen Verfahren, die das Ereignis, die Selbstdarstellung und das unmittelbare interaktive Spiel betonen, für die theaterpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen überhaupt geeignet? Entsteht bei diesen Spielformen für die nichtprofessionellen Darsteller nicht ein Risiko, sich zu verlieren und zu blamieren, was pädagogisch nicht zu verantworten wäre? Wird hier nicht Selbstdarstellung um ihrer selbst willen gefördert? Bereichert oder überfordert die offene Spielsituation der Performance, die anders als in der geprobten und fi xierten Theaterproduktion oft keinen festen Handlungsrahmen vorgibt? Hier sollen zentrale Fragen aufgeworfen werden, die sich im Schnittfeld der Kunstform Performance und des Arbeitsfeldes Theaterpädagogik ergeben. Damit soll ein Diskurs eröff net werden, wie und ob performative Spiel- und Darstellungsverfahren im theaterpädagogischen Kontext mit nichtprofessionellen Spielerinnen und Spielern oder mit Heranwachsen149
Wolfgang Sting
den im Schultheater eingesetzt werden können. Performance als Kunstform und performative Darstellungs- und Inszenierungsformen werden im und für den theaterpädagogischen Kontext bislang wenig thematisiert. Was bringt eine Öffnung für diesen mit Performance verbundenen erweiterten Spiel- und Theaterbegriff ? Und wo liegen Grenzen und Risiken beim Einsatz in der theaterpädagogischen Arbeit? Mit diesem kurzen Problemaufriss werden keine ausgefeilten Konzepte vorgestellt, sondern nur mögliche Perspektiven angedacht, wie performative Spiel- und Darstellungsformen schulische Theaterarbeit und theaterpädagogische Produktionsprozesse konzeptionell und praktisch bereichern können.
Per formance als Kunst und Aktion Performances als Spielform und Kunstpraxis sind im Erscheinungsbild des Gegenwartstheaters nicht mehr wegzudenken. Unter Performance verstehen wir heute und seit den 1960er Jahren, ohne hier die historische und konzeptionelle Entwicklung nachzeichnen zu können, eine Kunstpraxis, die das Reale des Augenblicks dem konventionellen Kunstgedanken von Werk und Illusion entgegen stellt. Diese performative Wende in allen Künsten (Bildende Kunst, Musik, Tanz und Medien) bringt eine Veränderung und Entgrenzung des dramatischen Theaterverständnisses und seiner Theaterpraxis mit sich. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Inszenierung einer dramatischen Textvorlage, sondern eine durch das Ensemble bestimmte Eigenproduktion mit einer Vielfalt möglicher thematischer und ästhetischer Setzungen oft mit biographischen und intermedialen Bezügen (vgl. Fischer-Lichte 2004; Klein/Sting 2005). Folgende Stichworte markieren die zentralen Unterschiede und das Selbstverständnis von Performance im Vergleich zum dramatischen Theater: • Ereignis statt Werk; • Präsentation statt Repräsentation; • Handeln statt Spielen; • Selbstdarstellung statt Rollen- und Figurendarstellung; • Zuschaueransprache bzw. Unmittelbarkeit statt vierter Wand und Illusion. Mit den Begriffen ›Performance‹ und ›postdramatisches Theater‹ (vgl. Lehmann 1999) verbindet sich ein verändertes Verständnis von Darstellung und Kunstpraxis. Selbst- und Rollendarstellung, Spiel und Repräsentation vermischen sich. Im Zentrum steht nicht mehr das Dramenwerk, sondern das Ereignis der Auff ührung und die ästhetische Erfahrung des Zuschauers; nicht die Darstellung einer Rolle, sondern die Präsenz des Darstel150
Per formance al s Perspektive. Schultheater und Theaterpädagogik
lungsaktes. Auch der Spielbegriff erfährt im Verständnis der Performance eine Ausweitung. Im Spiel wird dann nicht nur fi ktive, sondern auch wirkliche Welt geschaffen. Performance verbindet Kunst, Ritual und Alltag, schaff t einen Spielraum, ein liminales Feld (vgl. Turner 1995), für intensive sinnliche Erfahrungen. Performance erlaubt und bedingt also eine Entgrenzung von Fixpunkten konventioneller Theaterarbeit, die sich an Text, Figurendarstellung, Rolle, Handlungsdramaturgie, Narration, Trennung zwischen Spieler und Zuschauer, Bühne als Spielort und Schutzraum fest machen.
Theaterpädagogische Rahmung Wie verhält sich die Theaterpädagogik zu diesen neuen Spiel-, Inszenierungs- und Darstellungsformen? Was bringt Performance in der theaterpädagogischen Arbeit? Performance sucht Nähe zum Publikum und lebt von ihrem Ereignischarakter. Auch das konventionelle Theaterereignis ist für Spieler oder Zuschauer immer unmittelbare sinnlich-ästhetische Erfahrung. Aber anders als beim Repräsentationstheater liegt bei der Performance der Schwerpunkt im Ereignis. Es findet keine Repräsentation von Stück, Figur, Rolle statt, die eine zugrunde liegende Bedeutungsebene anbietet und öffnet. Eine Bedeutungsproduktion im Sinne von Interpretation eines Dramenstoffes gibt es nicht. Wenn Performance den präsentischen Akt des Spielens und Darstellens als Zuschauereignis in den Mittelpunkt stellt, muss der Spieler darauf entsprechend vorbereitet werden. Die künstlerische Performance ist auf den Zuschauer bezogen und beabsichtigt durch ihre Inszenierungsstrategien, Wirkungen auf ihr Publikum zu erzielen. Die Performance im theaterpädagogischen Kontext hat sich ebenfalls als künstlerische Arbeit zu verstehen, hat aber gleichzeitig auch die Wirkung auf und für die beteiligten Spieler im Blick zu behalten, ist Spieler bezogen. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Am Stichwort Differenz lassen sich unterschiedliche Wirkungsabsichten und -ebenen der professionellen und der theaterpädagogischen Kunstpraxis erkennen. In der Theaterpädagogik ist Differenz ein Garant für eine reflexive Auseinandersetzung mit Kunstereignis und Kunstproduktion. Performance dagegen lebt von der Unmittelbarkeit und Ereignishaftigkeit des Spiels, stellt den präsentischen performativen Akt ins Zentrum, der erst mal keine Differenz und reflexive Bedeutungsebene duldet. Hier werden unterschiedliche Arbeitsziele und Wirkungsabsichten deutlich: ›Reine‹ Kunstproduktion intendiert Wirkung auf Zuschauer, Theaterpädagogik, die natürlich auch Kunstproduktion betreibt, intendiert neben einem prä151
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sentablen Produkt auch (Bildungs-)Wirkungen für die Spieler. Bildungserfahrungen durch das Theaterspielen vermitteln sich über die dort mögliche Differenzerfahrung, so die Annahme. In der theaterpädagogischen Arbeit geht es neben der unmittelbaren ästhetischen Erfahrung im Spiel deshalb auch um die Vermittlung von Differenzerfahrung, die durch bewusste Wahrnehmung und kritische Reflexion der Gestaltungs- und Gruppenarbeit gemacht wird. Differenz als Distanzierungs- und Reflexionsmöglichkeit im Spiel und des Spiels wird in vielen theaterpädagogischen Konzepten als bildungsrelevant betont (vgl. Hentschel 1996; Sting 2005). Theaterpädagogische Arbeit heißt auch eine pädagogische Verantwortung für die Spieler zu übernehmen, insofern dass die Spiel- und Darstellungsaufgaben positiv erlebt und bewältigt werden können. Performative Verfahren mit ihrer offenen Struktur bergen ein Risiko. Welche Vorbereitung braucht der Performance-Akteur, damit keine ungewollte Selbstdarstellung oder gar Zwangsdarstellung passiert. Die Spielleitung ist dafür verantwortlich einen Rahmen zu schaffen, der die Spielfähigkeit der beteiligten Spieler berücksichtigt und performative Situationen oder Spielformen vermeidet, die die Spieler überfordern oder bloßstellen. Dem kann man begegnen, indem man ein entsprechendes Training, das Improvisation und Körperausdruck betont, anbietet und klare Rahmenbedingungen für das Spiel und die Spieler schaff t, indem eine Ablaufdramaturgie, Anfangs- und Endpunkte, Stichworte festgelegt, Haltung und Körperausdruck geprobt sowie Ortsbegehungen vorgenommen werden. Zentrale Aspekte der ästhetischen Bildung wie Wahrnehmungsschulung, Raumerfahrung, Körper-, Bewegungs- und Präsenztraining, Improvisationsarbeit, Auftritt und Präsentation rücken durch das performative Spiel wieder ins Zentrum der Theaterarbeit. Sich unkonventionellen künstlerischen Praxen auszusetzen, schärft die ästhetische Wahrnehmung und Kompetenz.
Per formative Praxis Die Produktionsästhetiken der Performance und des experimentellen Theaters liefern in ihren formalen und methodisch-didaktischen Variationen einen Fundus an Vermittlungsformen für die innovative theaterpädagogische Arbeit. Eine gruppenorientierte Kunstpraxis wie im Schultheater ist als offener Lern- und Produktionsprozess zu organisieren. Am Beispiel des Theaters und speziell am Konzept des Devising Theatre, das heißt der experimentellen, performativen und freien Theaterarbeit, sollen zentrale Merkmale eines künstlerischen Arbeitsverfahrens, das implizit auch Vermittlung bedeutet, herausgestellt werden. 152
Per formance al s Perspektive. Schultheater und Theaterpädagogik
Devising Theatre (englisch für: Theater herstellen, Theater erfinden) ist eine experimentelle, kollektive Produktionsform von Theater, die sich in den 1970er Jahren in England als Gegenbewegung zum hierarchisch strukturierten Literaturtheaterbetrieb herausgebildet hat. Das sich in dieser Arbeitsform artikulierende Theaterverständnis (non text-based theatre) hat eine Nähe zu den politischen und kulturellen Suchbewegungen der 1970er Jahre, die einen erweiterten Kultur- und Theaterbegriff forderten, populäre und alltagskulturelle Phänomene, Erfahrung, Körper- und Aktionstheaterformen integrierten und community-theatre (Stadtteilkultur) sowie demokratische, selbstbestimmte Arbeitsstrukturen realisierten (vgl. Freies Theater). Devising Theatre formuliert kein ästhetisches Stil- oder Formprinzip, sondern versteht sich als eine künstlerische Arbeitsweise, die sich am besten über ihre zentralen Arbeitskategorien charakterisieren lässt (vgl. Oddey 1994). •
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Kollaboration: Devising ist eine gruppenorientierte künstlerische Arbeit, die selbstbestimmte Projektkonzeption, Arbeitsteilung und Rahmenbedingungen erstellt. Offene Dramaturgie und Prozessorientierung: Während des Produktionsprozesses werden dramaturgische, ästhetische und arbeitstechnische Fragen verhandelt, sukzessive verdichtet und entschieden. Generative Techniken: Material und Stoffe werden ausgehend von variablen starting points wie Themen, Stichworten, Bildern, Musik, Geräuschen, Artefakten, Erfahrungen durch Improvisation, Kreatives Schreiben, Formaufgaben, Recherche oder Interview selbst generiert. Komposition und Multiperspektivität: Durch das Zusammenspiel verschiedener künstlerischer Medien und Ausdrucksformen wie Körper, Bild, Film, Musik, Tanz, Performance, elektronische Medien ergeben sich neue Mischformen und Crossover-Stile. Reflexivität: Devising oder Eigenproduktion heißt, reflektiertes Theater zu machen, über den ganzen Produktionsprozess bewusste und begründete Entscheidungen zu treffen, was wird wie und warum gemacht. Produktionsorientierung: Ziel und Abschluss des gemeinschaftlichen Arbeitsprozesses ist immer das künstlerische Produkt und seine Präsentation.
Diese Arbeitsprinzipien sind nicht neu für die theaterpädagogische Diskussion, sie finden sich bereits in sogenannten Eigenproduktionen schulischer Theaterarbeit. Aber in ihrer systematischen Klarheit werden hier Fixpunkte benannt, die sowohl die Produktion als auch das Vermittlungskonzept einer performativen, gruppen- und erfahrungsorientierten Thea153
Wolfgang Sting
terarbeit bestimmen. Dazu müssen sich Spielleiter und Spieler auf den offenen Arbeitsprozess einlassen. Ein performatives Theaterverständnis verbunden mit anderen Arbeitsweisen und neuen ästhetischen Spielformen eröffnet so zusätzliche Perspektiven für die schulische Theaterarbeit. Dabei kann die erste Performance-Praxis ganz unspektakulär sein. Klein anfangen ist wichtig. So bieten sich viele Möglichkeiten an, überschaubare und einfache Aktionen z.B. im Schulalltag einzubauen: WalkActs auf dem Schulhof, Statuen und Mini-Dramen an wechselnden Orten, interdisziplinäre Aktionen unter Beteiligung von Elementen und Themen aus Kunst, Musik, Medien, Sport, Deutsch, Sprachen, Politik etc. Entlastet von der narrativen Komplexität und Geschlossenheit einer Dramenvorlage steht das Ereignis und die Präsenz der Aktion im Mittelpunkt. Das bedeutet allerdings keine Beliebigkeit der Form, sondern erfordert ein Konzept, das Körperlichkeit und Ausdrucksfähigkeit der Spieler, Spielort, szenische Handlung, Spielweise und thematischen Bezug zusammen denkt. Performance bewegt sich zwischen Selbst- und Rollendarstellung, realer und fiktiver Handlung. Es stellt sich die Frage, wie Selbstdarstellung inszeniert wird, z.B. über Selbstpräsentation, über Interviews oder biografisches Erzählen. Oder wie entsteht Privatheit auf der Bühne? Die Unsicherheit des Zuschauers, was ist real, echt, privat, fiktiv, führt zu einer veränderten Rezeption. Der Zuschauer ist aufgefordert genauer wahrzunehmen. Die Produzenten und Spieler sind aufgefordert, ihre performative Inszenierungs-, Spiel- und Gestaltungsformen viel genauer zu analysieren und einzusetzen. Differenzerfahrung als ästhetische Kompetenz wird dann nicht auf der Ebene der Rollendarstellung und dramatischen Rollenarbeit möglich, sondern auf der Ebene der reflektierten Selbstdarstellung und der bewussten Gestaltung von performativen Situationen und Aktionen. In der Schnittmenge von Performances und Theaterpädagogik eröffnet sich so ein spannendes Experimentierfeld, das die Theaterarbeit in der Schule und im außerschulischen Bereich mit künstlerischen und pädagogischen Impulsen bereichert. Zusätzliche und neue Theaterübungen und Spielaufgaben sind für die Ausdrucksschulung und den Probenprozess zu entwickeln, wenn nicht mehr die Arbeit an der Rolle und am Text im Vordergrund stehen. Zu vermitteln sind andere und erweiterte Darstellungsund Präsentationsformen wie z.B. non-acting oder simple acting (vgl. Kirby 1995) sowie Improvisationsprinzpien zum Umgang mit offenen Spielsituationen. Performative Verfahren und Ansätze verändern und erweitern so Ästhetik, Praxis und Spielanlässe der Theaterpädagogik. Gleichzeitig ergeben sich neue Forschungsperspektiven im Sinne einer ›performativen Theaterpädagogik‹, denn es gilt die Möglichkeiten der szenischen Künste und ihrer Intermedialität, die sich aus der Einbeziehung von Tanz, Bewegung, Medien, Musik abbildet, theaterpädagogisch auszuloten. 154
Per formance al s Perspektive. Schultheater und Theaterpädagogik
Literatur Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hentschel, Ulrike (1996) Theaterspielen als ästhetische Bildung, Weinheim: Deutscher Studienverlag. Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hg.) (2005): Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld: transcript. Kirby, Michael (1995): »Acting and Non-Acting«. In: Phillip B. Zarrilli (Hg.), Acting (Re) Considered, London/New York: Routledge. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Oddey, Alison (1994): Devising Theatre. A practical and theoretical handbook, London: Routledge. Sting, Wolfgang (2005): »Spiel – Szene – Bildung. Zum Verhältnis von künstlerischer Praxis und ästhetischer Bildung«. In: Eckart Liebau/ Leopold Klepacki/Dieter Linck u.a. (Hg.), Grundrisse des Schultheaters, Weinheim/München: Juventa Verlag, S. 137-148. Turner, Victor (1995): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M.: Campus.
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3. Theater, Schule und Pädagogik
» Der Mensch […] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«1 Schulen mit Theaterprofil Anne Richter
Pädagogische Argumente für Theater mit Schülern finden die Verantwortlichen von Schulen mit Theaterprofil leicht. Die Argumentationen ähneln sich: Theaterarbeit bietet die moderne, ganzheitliche Form des Lernens und vermittelt wichtige Qualifikationen, die im herkömmlichen Unterricht nicht im selben Maß vermittelt werden können. Die Stichworte sind: Vernetztes Denken, Schülerzentrierung, Arbeiten im Team, Projektarbeit mit Ergebnisorientierung und Training der Präsentationsfähigkeit, ganzheitliches Lernen mit Handlungsorientierung, Kommunikationsfähigkeit, interkulturelle Kompetenz, Persönlichkeitsentwicklung mit der Stärkung des Selbstbewusstseins und der Selbstdisziplin. Für das Gymnasium ist die literarische Bildung durch Theaterarbeit noch von Bedeutung. Für alle besuchten Schulen ist die ganzheitliche Sprach- und Sprechförderung wichtig. Je höher der Ausländer- und Migrantenanteil in der Schülerschaft ist, desto wichtiger wird dieser Aspekt der Theaterarbeit. Außerdem berichten die beiden befragten Mannheimer Schulen, dass ihre Theaterauff ührungen auch nachhaltige Elternarbeit sind. Sie tragen deutlich zur Identifi kation mit und zum Engagement an der Schule seitens der Eltern bei. Im Konzept des Theaters Überzwerg für die theaterpädagogische Maßnahme im Modellversuch ›Reformklassen‹ im Saarland heißt es im Bezug auf Schüler:
1. Aus: Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Men-
schen.
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Anne Richter
»Über Theater lernt man also am meisten, wenn man es macht – und wenn man es macht, lernt man auch auf anderen Gebieten.«
Das scheint auch für Schulkonzepte zu gelten. Die Eingliederung von Theaterspiel, Theaterbesuch und Theaterlehrkräften in den Schulalltag variiert je nach Bundesland und Konzept stark. Im Folgenden werden drei unterschiedliche Schulmodelle beschrieben, die Theater über den gelegentlichen Theaterbesuch oder eine AG hinaus in ihren Schulalltag integriert haben.
Eine Spor tschule mit Theaterprof il Seit über dreißig Jahren geht das Ludwig-Frank-Gymnasium (LFG) in Mannheim jährlich mit mindestens einer Theaterauff ührung an die Öffentlichkeit. Über diesen langen Zeitraum und drei Schulleiter hinweg, hat sich die als ›Sportgymnasium‹ ausgewiesene Schule, die außerdem als einzige in Mannheim Russisch als Abiturfach anbietet, ein zweites Profi l erarbeitet. Das zweite, das Theater-Profi l, beruht zu großen Teilen auf der Eigeninitiative engagierter Lehrer, getragen von der Schulleitung und einem Gesamtkonferenzbeschluss. ›Theater-Profi l‹ meint hier in Baden-Württemberg nicht Theater als Schulfach. Vielmehr war und ist das ›Darstellende Spiel‹ am LFG bisher im AG-Bereich geblieben. Erst ab dem Schuljahr 2008/09 wird es möglich, in der gymnasialen Oberstufe den Grundkurs »Theater und Literatur« einzurichten. Mit der Einführung des auf acht Schuljahre verkürzten Abiturs wird die verbleibende Zeit für Theater im AG-Bereich so knapp, dass selbst der Verfechter für Theater im unbenoteten AG-Bereich, Udo Merz, den Kollegen empfiehlt, diese Möglichkeit zu nutzen. Zurzeit hat das Ludwig-Frank-Gymnasium knapp 900 Schüler. Im Jahr 2012 wird es das Doppelabitur nach G9 und G8-Lehrplan geben. Erst dann hat die Schule einen Jahrgang weniger. Bei dem Treffen mit Udo Merz, langjähriger Motor der ›Theater-Hochburg‹ Ludwig-Frank-Gymnasium (So urteilte die Lokalzeitung Mannheimer Morgen im Jahr 2000) und seit Sommer 2007 im Ruhestand, und seinem aktiven Kollegen Max Siefert sprechen wir über die Erfahrungen, das Konzept und die Erfolge der letzten Jahrzehnte. Beide betonen gleich zu Anfang, dass sie nie ›Schultheater‹ machen wollten, sondern ›möglichst gutes Theater‹. Ihre Arbeit war immer eine am Ergebnis orientierte, nie eine pädagogisch motivierte. Die Pädagogik finde nebenbei statt. Am Ende des Gesprächs kommen sie selbst auf diesen Punkt zurück: »Man fragt sich manchmal: Warum macht man das alles 160
Schulen mit Theaterprof il
überhaupt?« und dann leuchten die Augen der Lehrer. Sie berichten von der Entwicklung ihrer Theaterschüler, von deren »ganz anderem Standing in der Schulgemeinschaft«. Zuverlässigkeit, Selbstbewusstsein und die persönlichkeitsbildende Kraft von Theater sind Stichworte, die fallen. Die Warum-Frage stellt am Ludwig-Frank-Gymnasium keiner mehr.
Konzept mit Tandems und Kontinuität Angefangen hat alles 1977 mit einem Lehrer, Lutz Gerber, der eine eigene Sommernachtstraum-Fassung mit Schülern erarbeitet. Anfang der achtziger Jahre kamen Udo Merz und später Lucia Laier hinzu. Seitdem arbeiten immer mehr als eine Theater-AG am LFG und seitdem werden sie von ›Tandems‹ geleitet. Diesen Luxus, dass zwei Lehrer gemeinsam eine Theater-AG leiten, leistet sich das LFG bis heute. Udo Merz und Max Siefert halten die Tandemarbeit für eine wichtige Zutat in ihrem Erfolgsrezept ›Theater‹. Als Tandem-Leitung lebt man Kritikfähigkeit und künstlerische Abstimmungsprozesse nach innen und außen vor. Die Schüler erleben die Entscheidungsprozesse mit allen Möglichkeiten, die Kunst bietet, mit. Die zweite Zutat für ihr Theater-Rezept an Schulen heißt ›Kontinuität‹. In 31 Jahren haben die Theater-AGs des LFG 37 Inszenierungen herausgebracht. Im Schuljahr 2000/01 waren z.B. 60 bis 70 Schüler und ca. 12 Lehrer in den unterschiedlichsten Formen (Regie, Beleuchtung, Musik, Bühnenbild, Maske, Karten- und Getränkeverkauf etc.) an den Theaterprojekten beteiligt. In den letzten Jahren waren es oft mehr Schüler, weil Lucia Laier mit der Unterstützung vieler Kollegen seit 2005 personenintensive Musicals wie »Oliver« und »Anatevka« in der Turnhalle zur Auff ührung bringt. Seit 2001 gibt es ein ›festgeschriebenes Konzept‹ für das Theater-Profi l am Ludwig-Frank-Gymnasium. Ein wichtiger Ansatz besteht darin, die Schülerinnen und Schüler in der 5. und 6. Klasse für die Theaterarbeit zu gewinnen. Deshalb werden alle Schüler in ihren ersten zwei Jahren am Gymnasium obligatorisch, aber mit verschiedenartigen Aufgaben, im Klassenverband an Theaterprojekten beteiligt. Fächerverbindende Themen nutzen die Deutsch-, Englisch- oder Klassen-Lehrer, unterstützt von den Theaterlehrern, für die Integration von Theaterspielen in den Unterricht und die jährlichen, internen Schulfeiern. Die Kinder, die als Darsteller bei diesen Projekten mitmachen, heißen am LFG ›Theater-Minis‹. In diesen Jahrgangsstufen soll vor allem das Interesse für das Theaterspielen geweckt werden. Alle Schüler sollen sich so auf der Bühne ausprobiert haben. Einzelne Szenen werden bei dieser Einführung in das Darstellende Spiel erarbeitet. Für die Spielleiter der Theater-AGs bilden die Präsentationen der ›Theater-Minis‹ auch die Möglichkeit eines Talentschuppens. 161
Anne Richter
In der 7. bis 9. Klasse greift die Arbeit der Theater-AG »Luftikus« oft Kinder- und Jugendstücke auf. Die Darsteller erwerben die Grundtechniken von Theater, gestalten einfache Charaktere und zeigen ihre Auff ührungen nicht nur für die Schulgemeinschaft, sondern auch für die Grundschulen im Einzugsbereich des LFG. In der AG »Zettels Traum«, die für Schüler ab der 10. Klasse offen ist, werden die Spieltechniken vertieft und differenziertere Charaktere erarbeitet. In den letzten Jahren hat diese AG vor allem Eigenproduktionen zu verschiedensten Themen von Schiller bis zu eigenen Lebensentwürfen erarbeitet. Diese Auff ührungen sind in der Außenwirkung ein klarer Imageträger der Schule. Die Schülerschaft rekrutiert sich hauptsächlich aus den umliegenden Stadtteilen Neckarstadt und Wohlgelegen, zwei Stadtteilen fast ohne Bildungsbürgertum. Durch das markante, sich ergänzende Schulprofi l Sport, Russisch und Theater hat sich eine heterogene Schülerschaft entwickelt, die das Schulklima positiv beeinflusst. Außerdem binden die Theaterprojekte die Eltern ein und damit an die Schule, was sich wiederum positiv auf das Schulklima auswirkt. Im Schuljahr 2007/08 sind zehn Deputatstunden wöchentlich für die Theater-AGs von der Schulleitung bereit gestellt. Ein Kollege, der Mathe und Sport unterrichtet, kümmert sich seit 1990 fest und zuverlässig um die Licht- und Tontechnik für alle Inszenierungen. Auch hier ist die Kontinuität wichtig. Alle Lehrer stecken viel mehr Zeit in ihre Theater-AG, als ihnen angerechnet wird. Regelmäßige Proben am Samstag gehören ebenso dazu, wie bis zu viertägige Probenwochenenden außerhalb von Mannheim. Das Comenius-Projekt Europe on Stage führte die LFG-Schüler mit ihrem Lehrer sogar nach Nîmes und Edinburgh, wo sie mit ihren beiden Partnerschulen einen dreiteiligen Theaterabend erarbeiteten. Die Raumsituation für Theater am LFG ist nicht ideal. Eine Aula hat die Schule nicht. Aber die Theaterlehrer sind sich einig, dass Schultheater in die Schule gehört. Die Bühne im nahe gelegenen Jugendzentrum z.B. nutzt man bewusst seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr. Seit 2002 ist eine Bühne fest im hinteren Teil des Musiksaals eingerichtet. Hier findet der Probenbetrieb aller Theaterstufen und des Orchesters statt, sowie natürlich der Musikunterricht. Bei Auff ührungsserien wird der Saal mit 120 Plätzen bestuhlt, der Musikunterricht für diese Zeit ausgelagert. Probleme gibt es – wie so oft bei Theater im AG-Bereich – mit der aktiven Teilnahme der Jungen. In der Pubertät wandern viele in den Sportbereich ab, einige kehren aber in der Oberstufe zurück. Trotzdem hat Max Siefert zurzeit nur einen Jungen als Darsteller in seiner AG. Ein Kollege hat vor Jahren schon, im wahrsten Sinne des Wortes, Jungs in der Pause geangelt. 162
Schulen mit Theaterprof il
Ein anderes Problem liegt in der Mehrarbeit für die Kollegen des Regelunterrichts durch die Theaterprojekte. Da die Theaterschüler immer wieder im Unterricht fehlen, sei es durch Vorstellungen, sei es durch Probenwochenenden, müssen Klassenarbeiten nachgeholt oder verschoben werden. Nicht erst seit der einstimmigen Verabschiedung des Theater-Profi ls durch die Gesamtlehrerkonferenz im Juni 2000 unterstützt aber das ganze Kollegium – oft unkompliziert und tatkräftig – die Theaterlehrer bei ihrer Arbeit. An deutliche Leistungsabfälle durch die zeitweise sehr hohe Belastung der Theaterschüler kann sich keiner der beiden Lehrer erinnern. Dafür liest Max Siefert mit seiner 11. Klasse im Englischunterricht Texte des Dramatikers Neil LaBute. Die Kompetenz der Theaterlehrer und -schüler zeigt sich im Fachunterricht. Es gibt eine Theaterlehrerausbildung in Baden-Württemberg. Beide Theaterlehrer berichten, dass sie aber mehr von den Profis gelernt haben. Sei es in den Spielleiter-Workshops der jährlichen Schultheaterwoche am Nationaltheater oder in Diskussionen um gesehene Auff ührungen der Profis, die wichtigen Impulse kamen von dort. Gerade die Entwicklung eigener themenbezogener Projekte ohne Textvorlage mit den Schülern wurde maßgeblich von den Profis angeregt und begleitet. Alle TheaterArbeiten des LFG profitieren von der räumlichen und inhaltlichen Nähe zum Nationaltheater Mannheim. Die Kontakte sind vielfältig: Kostüme werden geliehen; regelmäßig Vorstellungen besucht und ausgewertet; am »Enter-Projekt« der Stadt Mannheim, das alle Schüler vier Mal ins Theater führt, nimmt das LFG natürlich ebenso teil wie an der Verbreitung des Schülerabos. Max Siefert und Schüler seiner AG sind in der Vorbereitungsgruppe der jährlichen Schultheaterwoche am Schnawwl, dem Kinder- und Jugendtheater des Nationaltheaters. Die Schultheaterwoche halten beide Theaterlehrer für einen ganz wichtigen Baustein ihrer Arbeit. Sie biete Ausbildung für die Schüler und die Spielleiter und schaffe eine Plattform der Vernetzung mit anderen Schultheater-Gruppen in der Rhein-Neckar-Region.
Eine theaterpädagogische Maßnahme in den Reformklassen Im Saarland gibt es seit zehn Jahren keine Hauptschule mehr. Kinder mit Haupt- und Realschulempfehlung werden in Erweiterten Realschulen oder in Gesamtschulen gemeinsam unterrichtet. Mit Beginn des Schuljahres 2007/08 hat das Ministerium für Bildung, Familie, Frauen und Kultur als Modellversuch an sechs Schulen Reformklassen eingerichtet. In den Reformklassen werden die Kinder zusammengenommen, die den Haupt163
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schulabschluss anstreben. Diese Klassen werden von einem pädagogischen Team bestehend aus zwei Lehrern, einem Sozialcoach und einem Bildungsbegleiter betreut. Zusätzlich kommt für drei Unterrichtsstunden ein Fachmann vom Theater (Regisseur, Schauspieler, Theaterpädagoge) in die Klasse und arbeitet mit den Schülern. Die beiden Klassenlehrer sollen an diesem Unterricht teilnehmen und mitarbeiten. Unter dem Motto »Du schaffst das!« soll mit dem zunächst auf drei Jahre angelegten Modellversuch das eigenständige und selbstverantwortliche Handeln gestärkt werden, die ›Ausbildungsreife‹ soll verbessert und der ›Schulabsentismus‹ und die ›Abbrecherquote‹ deutlich gesenkt werden. Dr. Ulrike Hochscheid vom zuständigen Ministerium ist Initiatorin und Verantwortliche des Reformklassenmodells. Frühzeitig ist sie für die Umsetzung des Theaterbereichs ihrer Reformklassen an die Fachleute im Saarland herangetreten: Das Theater Überzwerg ist seit 30 Jahren Kinder- und Jugendtheater des Saarlandes. Dessen künstlerischem Leiter Bob Ziegenbalg wurde die konzeptionelle und durchführende Leitung der theaterpädagogischen Maßnahme »zur vertieften Berufsorientierung« übertragen. Die Kosten dieser Maßnahme übernimmt die Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Rheinland-Pfalz-Saarland. Seit August 2007 gehen nun rund 250 Schüler im ersten Jahr in zwölf Klassen der Jahrgangsstufe 7 in die Reformklassen des Saarlandes. Seit Februar 2008 kommt jeweils eine Fachkraft aus dem Theater zusätzlich für drei Stunden in den Unterricht. Bob Ziegenbalg selbst hat eine Klasse der Gesamtschule Saarbrücken-Bellevue übernommen. Zwei Schauspieler, zwei Theaterpädagogen und eine Regisseurin bilden mit ihm das ›Reformklassen-Team‹ des Theaters Überzwerg. Der theaterpädagogische Unterricht findet im Rahmen des Fachunterrichts und in der Schule statt. Das konventionelle Notensystem wird in diesem Fach durch eine individuelle und an der persönlichen Bezugsnorm orientierte Bewertung durch die Theaterlehrer ersetzt. Die Lerninhalte orientieren sich an den Basisübungen aus dem Darstellenden Spiel, Körperwahrnehmung und Bewegungstraining, Konzentrationstraining und Ensemblearbeit stehen am Anfang im Mittelpunkt der Arbeit. Ein faires Feedbackverhalten, Beobachtungstraining und anschließende Reflektion wird ebenso eingeübt. Für die Zukunft kommen noch Improvisations- und Rollenspiele, der Umgang mit Texten und die Arbeit an Sprechhaltung und sprachlichem Ausdruck hinzu. Doch bei allen Lerninhalten haben die Theaterdozenten ihre Erwartungen und Ansprüche ganz niedrig ansetzen müssen. Wenn ein Sitzkreis im Schneidersitz keine 30 Sekunden durchgehalten werden kann, weil das schmerzvolle Stöhnen der Schüler alles andere übertönt, muss wirklich motorische Basisarbeit geleistet werden. Körperspannung, Konzentration und Motivation sind hier harte Arbeit. 164
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Bei einem Besuch der Klasse 7 H1 der Erweiterten Realschule Völklingen Hermann-Neuberger-Schule und ihrer Theaterdozentin, der Regisseurin Ela Otto, wird schnell klar, dass die externe Fachfrau im ReformklasseTeam der Schule und bei den Schülern angekommen und angenommen ist. Das verdankt sie auch ihrem über die Maßnahme hinaus gehenden Engagement. Ohne Murren und ohne Aufforderung der Dozentin räumen alle gemeinsam das Mobiliar des Zeichensaals ihrer Schule an die Wand, um Raum für ihre Kreis- und Gruppenübungen zu schaffen. Ela Otto betont, dass diese Übernahme der Mitverantwortung für die kommenden drei Theaterstunden ein großer Fortschritt sei. Langsam trudeln die letzten Schüler ein. Dass Pünktlichkeit hier eine andere Wichtigkeit hat, hat die freie Regisseurin wiederum von ihren Schülern gelernt. Zeit haben diese, der Inhalt fehlt ihnen. Drei Stunden gelten nun andere Regeln als im herkömmlichen Unterricht. Innerhalb der Theater-Spielregeln sind alle gleich, ob Schüler, Lehrerin, Dozentin oder der Gast. Mut zum Scheitern und Risikobereitschaft werden klar gefördert. Die Alphatiere der Klasse müssen sich einordnen. Überraschende Qualitäten treten hervor. Eine Schülerin hat eine gute Singstimme, was keiner wusste, vor allem nicht sie selbst. Eine andere kann die Spannung, mit dem Gebot nicht zu Lachen, hervorragend halten. Aufgefallen war sie bisher wenig, positiv noch nie. Am Ende der dritten Stunde muss jeder sich als Model auf einem fiktiven Laufsteg präsentieren, denn die Abschlusspräsentation des ersten Halbjahres soll eine Modenschau werden.
Prozess und Produkt : Lernziel Präsentation Das ist konzeptionell festgeschrieben: Zur hauptsächlich prozessorientierten Arbeit der Theaterpädagogen kommt als produktorientiertes Lernziel die Durchführung einer Präsentation pro Halbjahr hinzu. An dieser müssen alle Schüler teilnehmen, aber nicht zwingend als Darsteller. Andere Aufgaben, wie Bühnenbild, Kostüme, Licht etc., sollen auch von Schülern übernommen werden. Am Ende der drei Jahre kann sich das ÜberzwergTeam eine größere, möglicherweise auch Gruppen verbindende Produktion vorstellen. Ob die Jugendlichen dann so belastbar sein werden, ist noch fraglich. Im fünften Monat der Theaterarbeit sind die Reformklassen der Gesamtschule Saarbrücken-Bellevue mit ihren neuen Fähigkeiten zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen: In der Fußgängerzone haben sie eine Zeitlupen-Präsentation gemacht und ihre Jubelgasse zufälligen Passanten angeboten. Durch Spaß gestärkt kamen die Schüler nach diesem 165
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Vormittag nach Hause. Auch die Bereitschaft, ihren ersten öffentlichen Einsatz auf einem DVD-Mitschnitt zu reflektieren war hoch, berichtet Bob Ziegenbalg. Die Arbeitshaltung in der Gruppe steigt. Doch zurück nach Völklingen: Die Klasse 7 H 1 profitiert von einem offenen und engagierten Pädagogen-Team. Hier arbeiten die Klassenlehrerinnen wie vorgesehen mit, was nicht an allen beteiligten Schulen der Fall ist. Alle machen bei dem Catwalk-Training mit, auch wenn die Konzentration innerhalb der letzten drei Stunden deutlich nachgelassen hat. Als Abschluss, nachdem der Zeichensaal als solcher wieder hergestellt ist, bilden alle als Ritual die Jubelgasse. Erst wenn jeder einzelne diese durchschritten und sich hat feiern lassen, erst dann sind die Theaterstunden für diese Woche um. Die beiden Klassenlehrerinnen stehen dem Reformklassen-Modell positiv gegenüber. Sie spüren wieder, dass ihre Jugendlichen lernen wollen. Freiwillig melden sich sogar Schüler, um ein Erdkundethema zusätzlich zu vertiefen. Sie berichten auch von einer Schülerin, deren mündliche Beteiligung seit der 5. Klasse gegen Null tendierte. Seit dem vierten Theatermonat melde sich diese plötzlich im Unterricht und liefere überraschend gute Beiträge. Überhaupt profitierten die mündlichen Beiträge der Schüler schon nach so kurzer Zeit merklich, sind sich die Lehrerinnen einig. Sie sehen die Regisseurin gerne im Klassen-Team. Die theaterpädagogischen Übungen und Aufgabenstellungen, die sie durch ihre Beteiligung erlernen, erfahren sie als Gewinn für ihren eigenen Unterricht.
Der Theaterbesuch motiv ier t die Schüler Für jede Reformklasse ist mindestens ein Theaterbesuch pro Schulhalbjahr Pflicht. Dieser Besuch wird durch theaterpädagogische Vor- und Nachbereitungen vertieft und so die rezeptionsästhetische Kompetenz gefördert. Anfang Juni hatten schon zehn der zwölf Klassen eine Vorstellung im Theater Überzwerg besucht. Jeweils mit einer Reformklasse aus einer anderen Schule haben sie gemeinsam entweder »Rose und Regen, Schwert und Wunde«, ein Sommernachtstraum nach Shakespeare oder »Die Geschichte von Lena«, ein Stück über Ausgrenzung und Mobbing, gesehen. Für viele Schüler dieser Klassen war es der erste Theaterbesuch, weil sie in der Grundschule aus disziplinarischen Gründen vom Theaterbesuch ausgeschlossen waren. Gerade für diese Kinder, aber auch für die Gruppen als Ganzes war der Besuch ein Erfolgserlebnis: Man traut sich, mit ihnen das Schulgelände zu verlassen. Zusätzlich hebt eine Erkenntnis die Stimmung: »Ich habe Shakespeare (bzw. Theater) verstanden!« In der Begegnung vor und nach dem Theaterbesuch mit einer anderen Reformklasse 166
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wurde außerdem der Ehrgeiz angestachelt, die eingeübten Spiele gut zu beherrschen. Ela Otto und Bob Ziegenbalg berichten, dass ihre Gruppen nach dem spielerischen Kräftemessen mit den anderen sehr motiviert waren, weiter zu trainieren. Das ist schon viel in diesen Klassen. Außerdem haben einige ihre Dozenten jetzt bei ihrer eigentlichen Arbeit, nämlich auf der Bühne erlebt. Auch das ist ein wichtiger Faktor in der berufsbildenden Maßnahme. Schon haben Schüler wegen eines Berufspraktikums bei Bob Ziegenbalg angefragt. Dafür müssen sie aber – wie überall – eine Bewerbung schreiben. Die Motivation für die Theater-Bewerbung haben einige. Das ist neu für diese Jugendlichen. In dem Reformklasse-Konzept ist ausdrücklich der Kontakt zu Berufsfeldern im Theater, die über die künstlerische Tätigkeit hinausgehen, eingeplant. Theater-Schreiner, -Techniker und -Friseure werden den Schülern noch begegnen. Dr. Ulrike Hochscheid vermeldet im Gespräch erste Erfolge in den Reformklassen: Der ›Absentismus‹ sei in den Modellklassen gegen Null gesunken. Die beteiligten Lehrer berichteten ihr, dass das Lernen dort eine tiefere Qualität bekommen habe. Im Gespräch bedauern die beteiligten Pädagogen vor allem, dass die theaterpädagogische Maßnahme zu spät käme. Sie müsste schon ab der 5. Klasse greifen. In der 7. Klasse haben die ersten Schüler ihre neun Pflichtschuljahre schon um und werden nach dem Sommer nicht wieder kommen. Außerdem stecken alle Schüler in der 7. Klasse in der Pubertät und erleben gerade ihre Körperlichkeit als Problemfeld, was die körperliche Theaterarbeit stark behindert. Zusätzlich haben sich viele Schüler in dem Alter schon aufgegeben. Da ist auch mit zwei Lehrerinnen im Klassenzimmer und drei Stunden Theater in der Woche schwer etwas zu ändern. Der Modellversuch Reformklasse ist auf drei Jahre angelegt. Doch die Finanzierung der theaterpädagogischen Maßnahme wird halbjährlich neu zwischen dem Theater Überzwerg und der Bundesagentur für Arbeit verhandelt. Hier wäre eine längerfristige Planung für alle Beteiligten hilfreich.
Theater in einer Freien Interkulturellen Waldor fschule Am 11. September 2003 wurde die Freie Interkulturelle Waldorfschule im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt mit 35 Kindern eröffnet. Im Schuljahr 2008/09 besuchen etwa 220 Kinder diese Stadtteilschule im sozialen Brennpunkt. Die Neckarstadt ist eines der traditionellen Mannheimer Arbeiterviertel. Im letzten Jahrhundert siedelten sich in der Nachbarschaft 167
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der deutschen Unterschichtfamilien immer mehr Migrantenfamilien an, die hier bezahlbaren Wohnraum fanden. Heute ist die Problematik der Migrantenkinder zugleich eine der sozialen Unterschicht. Hier hinein gründeten die Waldorfpädagogen ihre Schule. Das Schulgebäude ist bezeichnend für das Leitbild der jungen Schule: Die Schule bezog Räume im 1. Stock eines ehemaligen Möbelverkaufshauses am Neuen Messplatz, der vor allem als Ort für Rummel bekannt ist. Heute sind ihre Mitmieter eine Filiale der Kette »Lidl«, ein Call-Center, ein Spielzeug-Shop und ein türkischer Versandhandel. So wie die Schülerschaft wächst, so wächst auch die Schule in diesen Komplex hinein. Gerne und stolz führt Christoph Doll, Familien- und Sozialberater der Schule, den Gast durch die selbst gestalteten Räume und berichtet von der besonderen Auf bauarbeit dieser Schule. So untypisch für eine Waldorfschule das Schulgebäude ist, so untypisch ist auch die Eltern- und Schülerschaft dieser Privatschule, die zurzeit durchschnittlich 40 Euro Elternbeitrag monatlich erhebt und in der 40 Prozent der Elternschaft Hartz IV-Empfänger sind. Erklärtes Ziel dieser Schule ist, in jeder Klasse 50 Prozent deutsche und 50 Prozent Migrantenkinder gemeinsam zu unterrichten, um so eine Integration über soziale und kulturelle Grenzen hinweg zu ermöglichen. Bei Schulgründung konnte das Ziel erreicht werden. Im Schuljahr 2007/08 war der Anteil der Deutschen auf ca. 40 Prozent gesunken. Da jedoch die Kinder mit ausländischer Herkunft aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt kommen (im Schuljahr 2006/07 waren es elf Nationen), ist Deutsch als Schul- und Verbindungssprache nicht in Frage gestellt. Die Türkei ist nach Deutschland das häufigste Herkunftsland (über 25 %) in der Elternschaft. Im Schuljahr 2005/06 hatten 40 Prozent der Schüler ein Lernproblem, das heißt, sie brachten zumindest eines der folgenden Hindernisse mit: eine Empfehlung für die Sonderschule, ein attestiertes Lernproblem wie ADS oder Legasthenie, soziale Verhaltensauff älligkeiten, die Perspektive sitzen zu bleiben. So bunt wie die Eltern- und Schülerschaft, so bunt ist auch das Kollegium: Die Klassenlehrer kommen bis auf eine Ausnahme aus Deutschland. Die Fachlehrer aus acht Nationen bringen die Internationalität ins Kollegium. So unverzichtbar die Anthroposophie als Quelle für die eigene Arbeit gesehen wird, so selbstverständlich betrachten die meisten Lehrer sie als einen Weg unter vielen. Für die Arbeit an der Interkulturellen Waldorfschule finden sich im Kollegium vor allem zwei Motivkomplexe: die Neigung und der Wunsch, mit Kindern zu arbeiten, die mehr auf der Schattenseite des Lebens stehen, und der Wille, etwas Neues, weniger Fixiertes aufzubauen. Erklärtermaßen liegt an dieser Waldorfschule der Schwerpunkt auf der ästhetischen und interkulturellen Bildung. Hierbei spielen Mittel des 168
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Theaters eine wichtige Rolle und durchziehen jeden Unterricht ab der 1. Klasse, betont Christoph Doll. In der Grundschule überwiegt die epischbildhafte Ausbildung, in der Mittelstufe bekommt das Dramatische mehr Raum. Der Ansatz ist oft ein chorischer, der vom Plastizieren der Sprache ausgeht. Die Unterrichtsstruktur der Interkulturellen Waldorfschule ist bedingt von der Entscheidung für eine gebundene Ganztagesschule. Nur die ersten Klassen gehen um 12 Uhr nach Hause. Alle anderen haben fünf Mal wöchentlich bis 15 Uhr Unterricht, ab der 6. Klasse bis 16 Uhr. Alle Kinder behalten ihren Klassenlehrer als verbindliche Orientierung über die ganze Schulzeit hinweg. In den unteren Klassen begleitet er seine Kinder auch in den Fachunterricht und isst täglich mit ihnen. Von 8 bis 10 Uhr findet der Hauptunterricht statt, in dem der Klassenlehrer in Epochen von rund vier Wochen die Kinder thematisch unterrichtet. In Monatsfeiern, die zwischen fünf und zehn Mal im Schuljahr stattfinden, werden diese oft mit einer Präsentation vor den Eltern und den Mitschülern abgeschlossen. Der ausgedehnte ›rhythmische Teil‹ mit Sprechübungen, Liedern, Gedichten und Bewegungsübungen soll als ›Sprachbad‹ alle, Muttersprachler wie Fremdsprachler, erreichen. Daran schließt sich die Phase der Konzentration und gedanklichen Verinnerlichung an. Nach einer Übungsphase wird der Hauptunterricht mit einem Erzählteil abgerundet. Die zweite Phase des Tages nach der Hofpause ist durch die Künste bestimmt. Die Sprachen, Englisch ab der 1. Klasse, Französisch ab der 4. und – als Besonderheit dieser Schule – die klassenübergreifenden Begegnungssprachen Polnisch, Türkisch, Russisch, Serbokroatisch und Spanisch werden waldorfüblich so unterrichtet, dass ein allmähliches Hineinwachsen in die Laute, Klänge und Rhythmen der jeweiligen Sprache und in ihre Landeskultur anhand von Liedern, Gedichten, Versen und Spielen ermöglicht wird. So kann z.B. ein russisches Gedicht über Gemüse gelernt werden und in selbst gebastelten Gemüsekostümen bei einer Monatsfeier auswendig präsentiert werden. Außerdem wird Musik, Malen und Eurythmie unterrichtet. Die beiden oberen Klassen werden überwiegend aus Quereinsteigern gebildet, die Schwierigkeiten mit der Eurythmie hatten. So unterrichten die Lehrer dieser Klassen nun anstelle der Eurythmie eine rhythmisch orientierte Gymnastik. In den anderen Klassen, in denen die Kinder mehrheitlich seit der Einschulung Eurythmie hatten, nehmen alle – unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Prägung – dieses Fach an. Sie trippeln eifrig wie Zwerge, stampfen wie Riesen, laufen nach präzisen Rhythmen oder gestalten geometrische Formen. Viele Kinder der Neckarstadt können bei der Aufnahme in die Waldorfschule nicht balancieren, nicht rückwärts gehen, 169
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seilspringen oder einen Ball fangen. So müssen auch in der Körperarbeit mit den Kindern hier erst Grundlagen gelegt werden. Wie an Waldorfschulen üblich, werden auch hier alle Kinder in einem Instrument unterrichtet. Obwohl viele Kinder zu Hause kaum angehalten werden, ihr Instrument zu üben, ist schon ein kleines Streichorchester entstanden. Als Besonderheit bietet der türkische Musiklehrer das Fach »Orientalische Musik und Bewegung« mit zwei Stunden pro Woche in den Klassen an. Dabei leitet er die Kinder auch auf traditionellen türkischen Instrumenten an. Inzwischen haben sich aus diesem Unterricht verschiedene AGs entwickelt, die auch bei Schulfeiern mit ihren Instrumenten auftreten. Nach dem Mittagessen findet täglich Projektunterricht in allen Klassen statt. Ab 14 Uhr werden alle Klassen in verschiedene Gruppen geteilt, so dass maximal 12 Kinder mit einer Lehrkraft arbeiten. Dieser Unterricht ist nicht an das Curriculum gebunden, sondern greift völlig flexibel in Absprache mit dem Klassenlehrer auf, was sich im Blick auf die Kinder als notwendig und wünschenswert herausstellt.
Von der Selbst verständlichkeit im Umgang mit dem Theater Ann Manz, eine Projektlehrerin der Schule, hat Bildende Kunst und Figurentheater studiert. Gemeinsam mit dem türkischen Musiklehrer hat sie im Schuljahr 2005/06 ein türkisches Schattenspiel nach dem Märchen »Tahir und Sühre« erarbeitet. Die neun Schüler der 5. Klasse mussten die Figuren und die Bühne selbst entwickeln und herstellen. Interessant für die Kinder war, dass sie in der festgelegten Spielform die Dialoge selbst gestalteten. Außerdem spielte die musikalische Untermalung des Spiels eine große Rolle: Sie bauten verschiedene Rhythmusinstrumente und türkische Lieder in das Schattenspiel ein. Im Schuljahr 2007/08 arbeitet Ann Manz mit drei Gruppen im Projektunterricht. Ihre Erfahrungen zeigen, dass den Kindern der Neckarstadt gerade die Übertragung der Theaterarbeit in die Figur und in das Material gut tut. Die wenigen, klaren Bewegungen einer Schattenfi gur z.B. geben den Kindern Halt und Sicherheit im Spiel. Selbst in der Öffentlichkeit einer Schultheaterwoche, konnten die Kinder, gehalten von ihrer Schattenspielbühne, ihrem gemeinsamen Gesang und ihren Figuren, die statt ihrer im Rampenlicht standen, bestehen. Die Kinder wünschen sich auch ›richtiges‹ Theater, also Schauspiel zu spielen, berichtet sie. Der Wunsch kommt vor allem nach Vorstellungsbesuchen im nahe gelegenen Kinder- und Jugendtheater am Nationaltheater 170
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Mannheim oder nach Vorstellungen der Schultheaterwoche. Ein choreografierter Stockkampf im Rahmen einer Parzival-Auff ührung erweist sich jedoch als große Herausforderung, weil die Rechts-Links-Koordination vieler nicht altersgerecht entwickelt ist. Auch hier muss also behutsam von den Pädagogen Basisarbeit geleistet werden. Durch die Monatsfeiern und die zwei bis drei großen Schulfeste im Jahr, zu deren Programmgestaltung immer alle etwas beitragen, sind auch die Mannheimer Waldorfkinder geübt in der Form der theatralen Präsentation. Auch wenn diese an der Interkulturellen Waldorfschule meist statischen oder gar konzertanten Charakter hat, erfüllt sie ihren pädagogischen Anspruch. Es herrscht an dieser Schule eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Theater, sowohl aktiv wie rezeptiv, die angenehm überrascht. Darüber hinaus betont Christoph Doll die starke Elternbindung an die Schule durch diese meist in interkulturelle Feste eingebetteten Präsentationen. Die Eltern erleben bei den Monatsspielen die Fortschritte ihrer Kinder direkt mit. Immer ergeben sich Elterngespräche danach, darüber und darüber hinaus.
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Das Drama in der Schule. Anmerkungen zur schulischen Beschäftigung mit Kinder- und Jugendtheaterstücken Franz-Josef Payrhuber
In seinem Buch »Die Dichtung in der Volksschule«, einem erstmals 1914 aufgelegten »Handbuch für Lehrende« (Untertitel), schreibt Severin Rüttgers im Kapitel ›Die Erziehung zum Drama‹: »Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Liebe zur dramatischen Dichtung, die vielleicht vor einem Jahrhundert unter den Gebildeten Deutschlands verbreiteter war als gegenwärtig, eine starke Neigung zum Theater, ja eine Art Theaterleidenschaft zur Seite geht, manchmal noch verbunden mit dilettantischen Versuchen auf den ›Brettern, die eine Welt bedeuten‹. Das Puppentheater, früher ein wesentliches Zubehör der bürgerlichen Kinderstube, konnte diese Neigungen nur begünstigen und das Verständnis für die Kunst des Bühnendarstellers fördern und entwickeln. In vielen höheren Schulen und Anstalten gab es regelmäßig Schulaufführungen, und nicht selten bildeten sich aus dem Verkehr mit herumziehenden Theatertruppen, die alljährlich wie die Zugvögel wiederkehrten, und denen die heranwachsende Jugend zuströmte und oft menschlich nähertrat, Einsicht und Verständnis für das Wesen und die Bedingungen dramatischer Darstellung. Dergestalt war die Erziehung der Jugend zum Theater und Drama in der guten alten Zeit; aber das alles ist nun zerfallen und dahin, und Theater und Bühnendichtung sind dem heranwachsenden Geschlecht unendlich ferner gerückt. Und erst die Gegenwart hat es erkannt, daß damit ein Teil erziehlicher Kräfte zu Schaden gekommen ist, und daß es gilt, diese Lücke zu schließen und die abgebrochenen Brücken zwischen dem jungen Volk und der Bühne wieder aufzubauen.« (Rüttgers 1923: 340)
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Gäbe es in dem Text nicht die historischen Reminiszenzen und den altertümlichen Sprachduktus, man könnte diese vor knapp einhundert Jahren verfasste Situationsanalyse für sehr gegenwärtig halten. Gleichartig aktuell ist das Problem der Entfremdung der Kinder und Jugendlichen von Drama und Theater, bemerkenswert modern ist vor allem aber, dass hier Drama und Theater als zusammengehörig gesehen werden. Folgerichtig ist in den im Weiteren dargestellten Lösungswegen außer vom »Dramenlesen in der Schule« von »darstellender Lektüre« und von »Betätigung der darstellerischen Kräfte« die Rede (ebd.: 340ff.), von Umgangsformen also, für die wir heute Begriffe verwenden wie Szenisches Lesen, Szenische Interpretation oder Darstellendes Spiel. Ohne die Verhältnisse in der Vergangenheit verklären zu wollen, scheint mir eine Arbeit wie die von Severin Rüttgers doch zu zeigen, dass die Unterrichtsdidaktik respektive -methodik auch früher schon in Kategorien gedacht hat, die heute als richtungsweisend gelten. Meine folgenden Ausführungen stehen in diesem Sinne im Kontext eines didaktischen Diskurses, der sich seit Rüttgers – hoffentlich – noch weiterentwickelt hat, aber nicht beansprucht, stets alles neu erfinden zu müssen – ein Eindruck, der aufkommen kann, wenn man die verwirrende Begriffsvielfalt im schulischen Arbeitsbereich Drama und Theater oder auch die inhaltlichen Varianten einzelner Begriffe – gegenwärtig besonders auff ällig beim Begriff Theaterpädagogik – betrachtet. Mein Gegenstand ist die schulische Beschäftigung mit Kinder- und Jugendstücken innerhalb eines als Medienunterricht konzipierten Literaturunterrichts. Aspekte einer Dramatisierung des Literaturunterrichts (vgl. Kunz 2006) oder eines Schulfaches ›Darstellendes Spiel bzw. besser: ›Theater‹ (Hentschel 2007) werde ich mitzubedenken versuchen, sie sind aber nicht eigentlich das Thema.
Warum Drama und Theater in der Schule? Auf die Frage, was Theater ihnen bedeute, antworteten Jugendliche unter anderem so: »Theater ist für mich: • das Gefühl, ein Stück weniger vom Leben zu verpassen; • der Auf bruch in eine Welt, wie sie sein sollte, wie sie sein könnte oder eben niemals werden soll. Theater führt vor Augen, was der Mensch selten sieht, weil er mit seinem Leben zu beschäftigt ist, um das zu entdecken; • die Welt durch einen fremden Charakter neu kennenzulernen und zu gestalten; 174
Das Drama in der Schule. Anmerkungen zur schulischen Beschäf tigung
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wie Wasser. […] Man braucht es zum Leben, ohne es würde man verdursten.« (Junge Bühne 2007)1
Die Aussagen dieser Jugendlichen zeugen nicht nur von großem Interesse für das Theater, sie enthalten auch die bedeutsamsten Gründe dafür, warum bis heute und immer neu Autoren – für Adressaten jeden Alters – Dramen schreiben, warum Menschen – jeden Alters – motiviert sind, diese Dramen sich im Theater anzuschauen (manche auch, sie zu lesen), und warum die Schule sich veranlasst sieht, Drama und Theater zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Ohne Dramen und Theater, so darf man als gemeinsame Überzeugung wohl annehmen, begäbe sich der Mensch einer elementaren Chance, »die Welt zu erkennen« (Dürrenmatt 1980a: 175) und »sich selbst zu finden« (Klotz 1976: 11); denn in den Bühnenspielen stellt er, wie beispielsweise Friedrich Dürrenmatt in den »Sätze(n) über das Theater« (1980b: 176) sagt, die Welt dar und sein Leben in ihr – und er tut dies auch noch, worauf nicht erst Bertolt Brecht Wert gelegt hat, auf sehr unterhaltsame Weise. Über ein Drama und seine szenische Präsentation auf dem Theater können Werte, Haltungen und Einsichten vermittelt werden, die für die geistige und moralische Existenz des Menschen wichtig sind. Leitbilder rufen zur Identifi kation, Zerrbilder dieser Verhaltensweisen zur Distanzierung oder Abkehr (vgl. Fielitz 1999: 21). Vor allem aber bietet der fi ktionale Entwurf eines Dramas die Möglichkeit der Eigenerfahrung durch Fremderfahrung. Der renommierte Pädagoge Hartmut von Hentig rühmt das Theater heute darum als »eines der machtvollsten Bildungsmittel, das wir haben: ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht« (Hentig 1996: 119). Die schulische Beschäftigung mit Drama und Theater ist mit derartigen anthropologischen und gesellschaftlichen Begründungen gut legitimiert. Über das Ziel des pädagogisch-didaktischen Handelns gehen die Auffassungen aber auseinander. Sie kreisen um – teilweise gegeneinander gesetzte – Leitbegriffe wie literarische Bildung und literarisches Lernen oder Freude bzw. Spaß an Literatur, um Kompetenzen und Bildungsstandards oder um literarisch-kulturelle Erfahrungen. In Hinsicht auf diese unterschiedlichen Zielsetzungen scheint es mir nicht überflüssig zu betonen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: dass es nicht Aufgabe der Schule ist, die Grundlagen zur Ausbildung späterer Literatur- oder Theaterwissenschaftler, Theaterkundler oder Theaterpädagogen zu vermitteln, sondern die Voraussetzun1. Die Antworten der Jugendlichen sind zu finden in: Junge Bühne 2007,1:
43f.)
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gen für den Auf bau und die Stabilisierung von kulturellen Interessen und daraus resultierender kultureller Praxis zu schaffen. Die Leitlinie, an der sich die unterrichtlichen Prozesse dabei orientieren (sollten), will ich mit der Wendung vom »genußvollen Aneignen der Künste« markieren, mit der Bertolt Brecht (Brecht 1993: 445) auf die aktiv-schöpferische Leistung des Zuschauers zielt. »Genußvolles Aneignen der Künste« meint kein vordergründiges Vergnügen, ausgelöst etwa durch die Beschäftigung mit bloß lustigen, unterhaltsamen Theaterstücken, sondern weit darüber hinaus »die Lust am Erkennen« (Brecht 1967: 774) beim Umgang mit thematisch, sprachlich-literarisch und theaterästhetisch anspruchsvollen Stücken – im Originalton Brecht: »alle die Lüste und Späße der Erfinder und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier«, wie sie vom Theater »gelehrt« werden (ebd.). Ein solcher Genuss, so lehrt die Lebenserfahrung, der sich gerade nicht dem widerspruchslosen Spaß, sondern durchaus auch der Anstrengung verdankt, drängt nach Wiederholung. Sind die Schüler dazu motiviert, ist die Chance nicht gering, dass sich bei ihnen ein dauerhaftes Interesse an Drama und Theater entwickelt und festigt.
Das Kinder- und Jugendtheater in pädagogischer Perspektive An diesem Punkt kommt dezidiert das Kinder- und Jugendtheater ›ins Spiel‹, das bislang zwar immer mitgedacht, aber nicht ausdrücklich genannt war. Das Kinder- und Jugendtheater kann im Prozess des »genussvollen Aneignens der Künste« einen hohen Stellenwert beanspruchen, weil es in weiten Teilen die bloß triviale Unterhaltungsfunktion hinter sich gelassen und sich auch vom Primat des Pädagogischen emanzipiert hat (vgl. u.a. Hoff mann 1990), weil es mittlerweile ein Theater ist wie jedes andere auch (vgl. Lang 2003: 157). Das heißt, sowohl die Texte wie die Bühnenspiele haben – spätestens seit dem letzten Quartal des zwanzigsten Jahrhunderts – ein derart literarisches und ästhetisches Niveau erreicht, dass sie hinreichend zum Unterrichtsgegenstand qualifiziert sind. Als ›Kunst für Kinder und Jugendliche‹ stellt dieses Theater »Probleme, Träume, Ängste und Sehnsüchte dar und nimmt sie ernst. Es ist eine Anschauung des Lebens, Spiegel der Zeit und Anstoß zu einem spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit. Dieses Kinder[- und Jugend-]theater ist ein Theater der Freundlichkeit, der Wärme, der Lust, der Aufmüpfigkeit und des Zorns, ein Theater der Gefühle. Es soll Mut machen zum Leben, Toleranz vorführen, Welt-
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aneignung ermöglichen und durch künstlerische Haltungen Stellungnahmen provozieren.« (Schneider 1994: 22)
Die Didaktik tut sich allerdings noch schwer, das Potenzial des Kinderund Jugendtheaters zu nutzen. Ablesbar ist das schon allein daran, dass selbst neueste Lese- bzw. ›Deutschbücher‹ nur selten Ausschnitte aus Kinder- oder Jugendstücken präsentieren und Vorschläge zur unterrichtlichen Bearbeitung machen. Entgegen der optimistischen Feststellung von André Barz (Barz 2007: 7) ist auch die Anzahl von Unterrichtsmodellen sehr überschaubar, und außerdem sind bislang nur vereinzelt Textausgaben verfügbar. Gravierender als diese Defizite ist aber der Befund, dass das Kinderund Jugendtheater zwar als pädagogisch instrumentalisierbare Sozialisationsliteratur verwendet, selten aber in seinem literarisch-ästhetischen Eigenwert ernst genommen wird. Ich will dies an zwei didaktisch-konzeptionellen Problemen belegen. In Unterrichtsmodellen, insbesondere solchen zum Jugendtheater, dominiert als didaktische Intention ein inhaltlich-thematisches Interesse an den Stücken. Das ist zunächst einmal einsichtig, weil mit gutem Grund davon auszugehen ist, dass die Themen, Fragestellungen und Probleme der Stücke der Erfahrungs- und Gefühlswelt der Heranwachsenden nahe sind und so Erwartungen entgegenkommen, die Kinder und Jugendliche an Theaterstücke stellen. Problematisch wird diese Intention jedoch, wenn die Stücke – überwiegend bis ausschließlich – als Stofflieferanten themenorientierter Unterrichtseinheiten betrachtet werden, auch wenn dies den Erwartungen vieler Lehrer entgegenkommen mag (vgl. Paule 2007: 97). In einem Modell zu »Creeps« von Lutz Hübner heißt es beispielsweise, mit dem Einfluss der Medien wachse die Notwendigkeit, die Schüler zu einem kritischen Umgang mit TV, Kino, Internet usw. zu motivieren. Dazu passe Hübners Stück, weil es die Funktionsweisen von Teilen der Medienindustrie entlarve (Rogge 2003: 26; vgl. auch Pohle 2007). Ähnlich wird in einem weiteren Modell Lutz Hübners Stück »Ehrensache« »als Grundlage für eine eingehende Diskussion über Integration und die Verständigung zwischen den Kulturen« empfohlen (Möller 2007: 30f.). Überwiegend themenorientiert präsentieren sich auch die Materialienteile in den Schulausgaben von Lutz Hübners »Creeps« (2007) und »Aussetzer« (2008). Oder es wird Thomas Oberenders mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnetes Stück »Nachtschwärmer« empfohlen, weil dramatische Literatur hier als eine Gattung auftrete, die sich in sehr kreativer Form mit jugendlichen Alltagsproblemen auseinandersetze und Anregungen für ihre Bewältigung gebe (Wilczek 2003: 34). Den in diesen Unterrichtshilfen sichtbar werdenden 177
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Widerspruch zum »wünschenswerten Zustand« hat André Barz treffend so formuliert: »Das [Kinder- und Jugend-]Theater [soll nicht] auf die Perspektive der möglichen Auseinandersetzung mit einem aktuellen Thema (Gewalt, Drogen, Satanismus u.Ä.) [… reduziert], sondern […] in seiner Komplexität als kollektive Kunstform einschließlich seiner spezifischen, von anderen unterscheidbaren, künstlerischästhetischen Mittel [… wahrgenommen werden].« (Barz 2006: 299)
Mehrere Unterrichtsmodelle (vgl. Rogge 2000, 2003; Wilzek 2003; Steiner 2008) rechtfertigen die Beschäftigung mit Jugendstücken mit dem Argument, dass sich das jeweilige Stück »hervorragend für eine Einführung in die Gattung Drama« in der Sekundarstufe I eigne (Wilczek 2003: 34). Damit wird, in Verkennung der curricularen wie realen Situation, unterstellt, dass die Schüler bis dahin noch nie einem Theaterstück – als dramatischem Text oder als Bühnenspiel im Theater – begegnet und ihnen daher auch ganz elementare Kenntnisse über konstitutive Elemente wie Dialog, Monolog oder Handlung zu vermitteln seien. Aus der Argumentation der erwähnten Modelle geht außerdem, was besonders problematisch und zudem sachlich unzutreffend ist, hervor, dass die Jugendstücke nicht eigentlich zur Gattung Drama gerechnet werden, weil als solche nur das klassische Bühnenstück anerkannt wird. Es wird viel Mühe darauf verwendet, den Stücken von Lutz Hübner (»Das Herz eines Boxers« und »Creeps«) und Thomas Oberender (»Die Nachtschwärmer«) einen nicht vorhandenen klassischen Auf bau nachzuweisen, der normativ an dem im Jahr 1863 von Gustav Freytag in seinem Buch »Technik des Dramas« entwickelten Pyramidenschema gemessen wird (vgl. auch die unzutreffende Charakterisierung von Sybille Neuhaus‹ Stück »Europa am Strand« als »klassisches Drama«, die sich in dem theaterpädagogischen Modell von Anne Keller [2007] findet). Zwei Folgerungen ergeben sich aus dieser Situationsanalyse: Zum einen ist unabdingbar, den didaktischen Reflexionen und unterrichtspraktischen Vorschlägen einen Dramenbegriff zugrunde zu legen, der nicht einer normativen, auf den klassischen Formtyp eingeengten Poetik verpflichtet, sondern aus der historisch-deskriptiven Analyse des Dramas gewonnen ist und somit offen ist für alle historischen und gegenwärtigen Formen. Zum anderen muss das Kinder- und Jugendtheater als ein integraler Bestandteil des Curriculums ›Drama und Theater‹ begriffen werden, das sich kontinuierlich von der Grundschule bis zum Abschluss der Sekundarstufe II erstreckt. Damit erledigt sich das Problem der ›Einführung‹, einschließlich der Frage nach dem geeigneten ›ersten Dramas‹ in der Sekundarstufe, 178
Das Drama in der Schule. Anmerkungen zur schulischen Beschäf tigung
von selbst – gleichgültig ob das Thema an Schillers »Wilhelm Tell« oder an Hübners »Das Herz eines Boxers« festgemacht wird. Konstitutiv für das Curriculum ist, dass das Kinder- und Jugendtheater weder formal noch adressatenbezogen als Propädeutik für das ›eigentliche Drama‹ gesehen wird. Das Kinder- und Jugendtheater hat, darauf ist aus den dargelegten Gründen zu bestehen, einen autonomen didaktischen Wert. Allenfalls ist es ›Durchgangsstation‹ in dem Sinne, dass jedes wert- bzw. anspruchsvolle Theaterstück eine Durchgangsstation ist, insofern es in der Lage ist, Lust auf weitere Theaterstücke zu machen und das Interesse an neuartigen kulturellen Erfahrungen zu wecken.
Umr isse einer didaktischen Konzeption In der Didaktik existieren gegenwärtig mehrere Konzepte (vgl. Bogdal/ Kammler 2002), deren Schnittmenge teilweise aber recht groß ist und die in der Unterrichtspraxis allemal »in unterschiedlichen Kombinationen und Varianten zur Anwendung kommen« dürften (Abraham/Kammler 2005: 3). Für den Umgang mit dem Kinder- und Jugendtheater rücken drei Konzepte ins Blickfeld: das dramendidaktische, das theaterdidaktische und das theaterpädagogische. Um auszudrücken, dass diese, trotz ihres ausgeprägten Eigenprofi ls, nicht isoliert stehen oder gar gegeneinander ausgespielt werden, sondern eine sinnvolle Verbindung miteinander eingehen (sollten), wähle ich das Bild eines gleichseitigen Dreiecks. Wie dessen Seiten erst gemeinsam seinen (Flächen-)Inhalt bilden, so umschließen Dramendidaktik, Theaterdidaktik und Theaterpädagogik von je verschiedenen Ausgangspunkten her gemeinsam das Kinder- und Jugendtheater(stück). Primärer Bezugspunkt des dramendidaktischen Ansatzes ist der literarische Text, dessen Sinn und theatralische Bestimmung in einer »auff ührungsbezogenen Lektüre« (Payrhuber 1991: 27) erschlossen wird. Gemeint ist damit zum einen die imaginationsfördernde Lektüre, die in Haupt- und Nebentext angelegte Möglichkeiten einer szenischen Präsentation des Dramas wahrnimmt, zum anderen die systematische Vorbereitung der Schüler auf ihre Rolle als Theaterbesucher. Die methodischen Möglichkeiten des hierbei zu leistenden Vermittlungsprozesses reichen von »Schreibformen des Lesens« (Frommer 1995) über szenische Lesungen bis zum szenischen Interpretieren. In einer Reihe dieser Aktivitäten vollziehen die Schüler Schritte nach, wie an einem Theater die Inszenierung eines Stückes entsteht, beispielsweise Lese-, Stell- und Bühnenproben oder die Erarbeitung einer Figurenrolle. Unterstützt, erweitert und vertieft werden diese theaterorientierten Arbeitsformen durch bildliche »Konkretisierungen« (Frommer 1995) wie z.B. 179
Franz-Josef Payrhuber
Entwürfe zu Bühnenbild, Kostümen (Figurinen) und Masken. Ein Schritt in Richtung theatralische Interpretation wird getan, wenn ein – fi ktives – Regiebuch erarbeitet oder ein – fi ktives – Programmheft zusammengestellt wird. Die theatralische Interpretation (Inszenierung) selbst wird zum Thema im Zusammenhang mit dem gezielt vor- und nachbereiteten Theaterbesuch, der zumindest prinzipiell als unverzichtbarer Bestandteil des Unterrichts gilt und nicht bloß als »geeignete ›Abrundung‹« (Paule 2007: 81) betrachtet wird. Von hier aus wird dann unmittelbar die Verbindung zum Theater als Form der kulturellen Kommunikation und als gesellschaftliches Ereignis möglich, indem die Rezeption eines Stückes durch die öffentliche Theaterkritik in den Unterricht einbezogen wird und die Schüler dadurch selbst an der Diskussion um dessen Beurteilung teilnehmen. Auch ihre produktiven Fähigkeiten lassen sich in diesem Zusammenhang aktivieren, wenn sie nicht nur vorliegende Rezensionen analysieren und diskutieren, sondern eigene Theaterkritiken schreiben (vgl. Payrhuber 1998: 663). Ist die Auseinandersetzung mit dem Bühnenkunstwerk über den Theaterbesuch und die Theaterkritik als wichtiges Element in das dramendidaktische Konzept der auff ührungsbezogenen Lektüre integriert, steht sie in der theaterdidaktischen Konzeption im Zentrum, konzentriert auf das Ziel einer ästhetischen Bildung, die Schüler zu kompetenten, das heißt »aktiven und kreativen« (Paule 2007: 98) Zuschauern machen möchte. »Leitend ist dabei der Ansatz, über die Funktionalität der theatralen Zeichen(setzung) Zugang zum Konzept einer Inszenierung zu finden« (ebd.: 82), oder anders gesagt, Einsichten in die Theaterarbeit als Interpretation eines Dramas zu vermitteln. Methodisch führt der Weg entsprechend vom Training der Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler über das Entwickeln und Erproben eigener Ideen zu theatraler Zeichensetzung bis zur Überprüfung bestehender eigener Sehgewohnheiten. Das theaterdidaktische Konzept impliziert Formen ganz intensiver Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugendtheatern vor Ort, unter anderem auch die Möglichkeit, eine Theaterproduktion ins Klassenzimmer einzuladen; dies nicht zuletzt, damit auch in theaterfernen Elternhäusern sozialisierte Kinder und Jugendliche Theatererfahrungen machen können. Prospektiv, auf die Zeit nach der Schule gesehen, wenn keine Klasse mehr als Spiel-Raum verfügbar ist, bleibt aber die – auch ganz wörtlich zu verstehende – ›Hinführung‹ zum Theater als komplementäre Aufgabe bestehen. Im Moment der »ästhetischen Bildung« treffen sich Dramen- und Theaterdidaktik konzeptionell mit einer Theaterpädagogik, die sich »mit der Vermittlung von wahrnehmenden und gestaltenden Prozessen im künstlerischen Medium Theater befasst« (Hentschel 2007: 7). 180
Das Drama in der Schule. Anmerkungen zur schulischen Beschäf tigung
»[Deren] Orientierungspunkte sind zum einen die jeweils besondere künstlerische Praxis einer theatralen Produktion und zum anderen die spezifischen Modi der Erfahrung, die Schüler in diesem Prozess machen können.« (Ebd.)
Dieses Verständnis von Theaterpädagogik korrespondiert durchaus mit Aktivitäten, die Schule und Theater zusammenbringen (wollen), akzentuiert aber die Aufgabe, »Kinder und Jugendliche theatralische Phänomene entdecken, aktiv kennen lernen und ausprobieren zu lassen« (Denk 2006: 763). Theaterspielen in der Schule im hier gemeinten Sinne ist »nicht mehr primär aus seiner Funktion für den Gruppenprozess bzw. für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen begründet« (Hentschel 2007: 5), sondern vom Ziel der ästhetischen Bildung her; und so stehen auch die theaterpädagogischen Spielübungen (vgl. die Beispiele in dem von Barz [2007] herausgegebenen Band) nicht im Dienst einer formalen Schulung, sondern eines Verstehens dramen- und theaterästhetischer Prozesse. Es dürfte einleuchten, dass in einem eigenständigen Schulfach Darstellendes Spiel oder Theater ungleich intensivere theaterpädagogische Arbeit geleistet werden kann als im regulären Deutsch- bzw. Literaturunterricht, um den es in allen hier beschriebenen didaktischen Konzepten und methodischen Verfahren geht. Der Band »Theater und Neue Dramatik« (Siemens Arts Program 2006) dokumentiert dies überzeugend an sechs Unterrichtseinheiten. Ein dort praktiziertes Prinzip ist aber auch in den regulären Schulbetrieb übertragbar: die Arbeit in Form von Projekten. Zumindest als Zielprojektion sollte Projektarbeit Geltung beanspruchen, weil so am ehesten gewährleistet ist, dass sowohl die wesentlichen dramen- und theaterdidaktischen wie theaterpädagogischen Elemente berücksichtigt werden. Ihrer intendierten Integration widerspricht nicht, dass die Schwerpunkte hierbei je nach Jahrgangsstufe und konkretem Unterrichtsvorhaben durchaus verschieden gesetzt werden können.
Theater – Den Luxus erlaub’ ich mir! In seinem Buch »Wie ein Roman« schreibt der französische Schriftsteller und Lehrer Daniel Pennac engagiert gegen die Leseverdrossenheit an und tritt begeisternd für die Lust am Lesen ein. Trotz seines leidenschaftlichen Plädoyers für das Bücherlesen gesteht er dem Einzelnen aber auch das Recht zu, nicht zu lesen. Gleichermaßen muss zulässig sein, dass Menschen auch ohne Drama und Theater auszukommen meinen und ihr Restbedürfnis nach theatralischem Spiel beispielsweise mit Fernseh-Soaps, Ratespielen und Talkshows 181
Franz-Josef Payrhuber
oder mehr vielleicht noch als Zuschauer von Sportveranstaltungen – Fußballspielen, Radrennen oder Ähnlichem – befriedigen. Vielleicht ist Theater tatsächlich ›Luxus‹, wie Thomas Oberender im Titel seiner Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Kinder- und Jugendtheaterpreises formuliert. Ich hätte ihn allerdings verfälschend zitiert, wenn ich nicht auch seine Deutung des Titels wiedergeben würde, die heißt, dass viele Menschen ohne den vorgeblich überflüssigen TheaterLuxus nicht leben wollen. Die Aussage aufnehmend füge ich als Appell hinzu: Die (Kinder- und Jugend)Theater und die Schule sollten alles daran setzen, dass diese ›Vielen‹ nicht weniger, sondern mehr werden – beide sowohl auf je eigenen Wegen wie auch gemeinsam.
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Franz-Josef Payrhuber
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Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen im Deutschunterr icht Henning Fangauf
Friedrich Schiller hat Geburtstag. Im November 2009 wird sein 250. Jubiläum gefeiert. Nicht nur sein Heimatort Marbach und das dort angesiedelte Deutsche Literaturarchiv sowie die Schillergesellschaft rüsten zum Festprogramm, sondern es steht zu befürchten, dass auch Deutschlands Gymnasiasten heftig am ›Schiller-Hype‹ werden teilnehmen müssen. Das war 2005 zu Schillers 200. Todestag nicht anders und nicht immer nur zum reinen Vergnügen der Schülerschaft. Denn ihnen fällt der Zugang zu seinen Dramen und der zu anderen Klassikern schwer. Nimmt man Äußerungen von Schülern ernst, die über ihre Erfahrungen im Dramenunterricht mit Klassikern befragt wurden, und diese als »schwierig«, »antiquiert«, »schwer verständlich«, »altmodisch« und »langweilig« (Payrhuber 1991: 195) bezeichnen, dann ist das nicht nur eine Herausforderung an die Methodik der Dramenvermittlung, sondern auch die Lektüreauswahl selber muss überdacht werden. Die Stücke des zeitgenössischen Jugendtheaters rücken bei dieser Diskussion in das Blickfeld der Fachdidaktik, und sie gehören dringend auf die Tagesordnung des Dramenunterrichts. Positive Beispiele liegen vor. Eine Referendarin, die mit ihrer 8. Klasse im Fach Deutsch das Jugendstück »Creeps« von Lutz Hübner durchgenommen hatte, resümierte über die Unterrichtseinheit Schülerausagen wie: »Endlich lesen wir etwas ›Aktuelles‹ oder ›Das ist ein interessantes Stück […]‹, beweisen mir, dass das Stück ›Creeps‹ bei den Schülern auf breite Zustimmung gestoßen ist. Im Verlauf der gesamten Unterrichtsreihe hat sich immer wieder gezeigt, dass das Jugendtheaterstück die Lebenswirklichkeit der Schüler abbil-
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Henning Fangauf
det. Die Mitarbeit der Schüler, ihr Interesse und Engagement waren ein weiteres Indiz dafür.« (Schimmel 2004)
Aber es ist nach wie vor ein Drama mit dem Drama im Deutschunterricht, denn die alltägliche Praxis sieht anders aus.
Schiller und kein Ende? Schillers Dramen gehören zur festen Lektüre des Deutschunterrichts. Wird der Begriff eines Lesekanons in den Lehrplänen der Bundesländer heute zwar meistens vermieden, so weist die faktische Lesepraxis Schillers »Wilhelm Tell«, aber auch »Kabale und Liebe« sowie »Maria Stuart« als häufig durchgenommenes Drama in der Mittelstufe aus. Das Stück wird »traditionell als Einstieg in die Textsorte Drama verwendet und zwar meistens in allen Schularten« (Sperlich 2007: 151), stellt die Pädagogin Christine Sperlich fest und zeichnet in ihrem sehr informativen und aufwändig recherchierten Beitrag »Schiller und kein Ende« die Rezeptionsgeschichte von »Wilhelm Tell« im Schulunterricht seit 1945 auf. Dabei stößt sie auf frühe Kritiker aus der Deutschdidaktik, die das Werk insbesondere als Lektüreeinstieg in den Dramenunterricht für nicht geeignet hielten. In der Zeitschrift »Der Deutschunterricht« kritisierte bereits 1952 der Studienrat Paul Wanner »die Überbewertung des Großen und des Mächtigen« (Wanner 1952: 47). Die pathetische Sprache in Schillers Dramen erschwert den Schülern zusätzlich die Einfühlung in das Werk. Im »Handbuch des Deutschunterricht« 1966 taucht, von Adolf Beiss eingeführt, erstmals der Begriff »Tell-Problem« (Beiss 1966) auf und eröffnete damit eine Diskussion über die Klassiker im Dramenunterricht. Beiss sieht in dem ersten Drama, das Schüler als Ganzschrift lesen, »eine Art Repräsentativcharakter« (ebd.: 1057) und hält »Wilhelm Tell« für von den Schülern zu weit entfernt, weil »viel mythologisches, soziologisches, geographisches, welt- und geistesgeschichtliches Wissen« (ebd.: 1058) zum Verständnis notwendig sei. Der fast dogmatisch geführte Streit, ob denn nun klassische Texte oder zeitgenössische Theaterstücke sich als Lektüreeinstieg in den Dramenunterricht eignen, wird in jeder Lehrerfortbildung mit Leidenschaft diskutiert. Die einen argumentieren mit den Qualitäten der Verfremdung, die die klassischen Stücke bieten, die anderen bevorzugen das Gegenteil, nämlich die Zeitnähe der Sprache und Handlung der modernen Stücke. Einig sind sich beide, dass nur mit einer zeitgemäßen Methodik, also die szenisch-spielerischen Aspekte vor die Text- und Inhaltsanalysen zu stellen, der Dramenunterricht gelingen kann. Leider hat sich die Fachdidaktik aber in den letzten Jahren mehr um diese methodischen Fragen (hand186
Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen
lungs-, produktionsorientierte und theaterpädagogische Aspekte) und weniger um den Lektürekanon gekümmert. Dem Fach Deutsch kommt die Aufgabe zu, den Schülern den Umgang mit literarischen und Gebrauchstexten sowie den Medien zu vermitteln und dabei sprachliche, ästhetische und kulturelle Kompetenzen zu schulen. Zur Erreichung dieser Ziele unterscheiden die Lehrpläne die Arbeitsbereiche: Sprechen und Schreiben (mündliche und schriftliche Kommunikation), Lesen (Umgang mit Texten) und Reflexion über Sprache. Die Lehre des Dramas in der Schule tangiert alle diese Arbeitsbereiche. Aber ist das Drama überhaupt noch zeitgemäß, oder sollte es – wie neuerdings gefordert wird – in einen umfassenden Medienunterricht einfl ießen? Gegen eine solche Haltung argumentiert der Deutschdidaktiker Franz-Josef Payrhuber, der im Drama eine »unvermindert gültige Kulturwertigkeit« sieht. Es ist nicht nur »Ursprungs- und Vollform der theatralischen Gattung sondern zugleich die einzige literarische Gattung, die auf eine ungebrochene Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart zurückblicken kann« (Payrhuber 1994: 627f.). Neben diesen literaturgeschichtlichen Argumenten, bietet eine zeitgemäße Dramenrezeption im Unterricht den Schülern Chancen zur Selbstfindung und zum besseren Weltverständnis. Dazu vier von Payrhuber entwickelte Kernaussagen: Wenn sich der Rezipient auf die Struktur, Abbildung und Modelle des Dramas einlässt, so »erschließen sich ihm neue Erfahrungs- und Erkenntnisdimensionen«. Diese werden in erster Linie ihm selbst nutzen, da er seine eigenen Erfahrungen und seine persönliche Sichtweise dazu in Beziehung setzt. Aber Dramen regen auch dazu an, eine fremde Perspektive nachzuvollziehen, zu verstehen und zu tolerieren. Dramenrezeption stärkt die Sozialkompetenz. Der große historische, gesellschaftliche oder politische Bezugsrahmen eines Dramas regt zur Erweiterung der eigenen Weltsicht und zur Festigung eigener Einstellungen an (vgl. Payrhuber 1994). Diesen so positiven Einschätzungen über die Wirkung, die das Drama auf den Menschen haben kann, steht aber ein eher schwieriges Verhältnis der Schüler zur Dramenlektüre im heutigen Unterricht entgegen. Christine Sperlich befürchtet in ihrer Untersuchung, »dass sich trotz einer Fülle neuer methodischer Ansätze zur Behandlung des Dramas im Unterricht wenig an der demotivierenden Wirkung geändert hat, die die Lektüre klassischer Dramen in der Mittelstufe meist hervorruft« (Sperlich: 158). Dazu trägt sicherlich auch eine rein auf die Textanalyse konzentrierte Unterrichtsmethodik bei. Ein Drama nur nach seiner literarischen Bedeutsamkeit, also gattungstheoretisch zu interpretieren, muss als überholt angesehen werden. Theaterpädagogische und produktionsorientierte Ansätze, die den Auff ührungsbezug des Dramas in den Vordergrund stellen (vgl. 187
Henning Fangauf
Scheller 1998) kommen den Rezeptionserfahrungen heutiger, medienorientierter Schüler näher.
Wo bleibt die Schüleror ientierung? Motivationen zu fördern gilt es umso mehr, findet sich doch in allen Lehrplänen der Hinweis, dass bei der Lektüreauswahl eine Orientierung an dem Können der Schüler vorgenommen werden muss: »Die Schülerorientierung soll gewährleisten, dass literarische und kommunikative Handlungs- und Inhaltsangebote für sie subjektiv bedeutsam werden, um sich mit ihnen auseinander zu setzen […]«, heißt es im Hessischen Lehrplan 2005. Noch deutlicher wird der Rheinland-Pfälzische Lehrplan: »Die Schüler sollen sich mit altersgemäßen Texten zu verschiedenen Themen auseinandersetzen und dabei erste Deutungsentwürfe von Dichtung und Wirklichkeit vornehmen.« (Ministerium für Bildung Wissenschaft und Weiterbildung: 1998) Die Frage scheint berechtigt, ob »Wilhelm Tell«, »Der Hauptmann von Köpenick« oder »Der Besuch der alten Dame« diese Kriterien erfüllen und wirklich am Anfang des Dramenunterrichts in der 7. oder 8. Klasse stehen müssen? Werden Schüler mit dieser Lektüreauswahl wirklich motiviert, ein positives Verhältnis zum Drama und zum Theater zu entwickeln? Offensichtlich ist es, dass Schüler nicht mit der Gegenwartsdramatik vertraut gemacht werden, eine Tatsache, die auch negative Auswirkungen auf die Rezeption des modernen Theaters haben muss. Nur wenn in der Schule über dieses gesprochen wird, kann es auf breites Interesse hoffen. Clemens Kammler, Professor für Deutschdidaktik in Essen, kritisiert, dass die Lehrpläne mit einem sehr »vagen Begriff von Gegenwartsliteratur operieren, der es ermöglicht, die Literaturgeschichte mit der Nachkriegszeit enden zu lassen« (Kammler 2003: 7). Dieses ist umso ärgerlicher, da ein »Widerspruch zwischen einer sehr lebendigen dramatischen Gegenwartsliteratur und einer auff ällig schwach ausgeprägten schulischen Rezeption« (ebd.) festgestellt werden muss. Wenn Kammler hier von einer »lebendigen dramatischen Gegenwartsliteratur« spricht, so sind damit auch die Stücke des zeitgenössischen Jugendtheaters gemeint, die in den Kreisen der Dramendidaktik 1 und den Fachzeitschriften für den 1. Das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland veranstaltete im Juni 2005 ein Expertengespräch zu diesem Thema (siehe: »Volkacher Bote« [2005, 82]). Zum selben Thema »Kinder- und Jugendtheater im Deutschunterricht« veranstaltete die Universität Bayreuth im Juli 2008 eine Tagung.
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Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen
Deutschunterricht in den letzten Jahren mehr und mehr beachtet werden.2 Die Stücke fi nden auch zögerlich Einzug in den Deutschunterricht und werden dort als Ganzschrift gelesen. Es sind vor allem die jungen Lehrerinnen und Lehrer und die Referendare, die Unterrichtsmodelle mit zeitgenössischen Jugendstücken entwickeln und sehr positive Erfahrungen dabei machen.
Jugenddramatik im Unterr icht Das bei den Lehrkräften leider immer noch viel zu unbekannte Jugendtheaterstück bietet beträchtliche Potenziale für ein Bildungskonzept im Dramenunterricht, das auf Medienkompetenz und auch auf soziale Kompetenzen der Schüler abzielt. Jugendtheaterstücke eigenen sich besonders gut als Ganzschrift-Lektüre. Ich möchte dafür folgende Argumente anführen und lehne mich dabei an eine Untersuchung von Romy Kuhn (Kuhn 2006) an: • Jugendtheaterstücke sprechen die Jugendlichen thematisch direkt an, denn sie sind eng mit dem Lebensgefühl und der Lebensrealität der Jugendlichen verbunden; • Jugendtheaterstücke sind in ihrer sprachlichen Form modern und leichter verständlich als Klassiker; • Jugendtheaterstücke sind zumeist relativ kurz und eignen sich somit besonders als Ganzschrift; • die zeitgenössischen Themen der Jugendtheaterstücke regen zur Diskussion – auch fächerübergreifend – über aktuelle Probleme und Tendenzen an; • das Lesen von Jugendtheaterstücke kann den Theaterbesuch ergänzen oder begleiten, wie dieses mit Klassikern auch geschieht; • der didaktische Umgang mit Jugendtheaterstücken kann, muss sich aber nicht, an den gleichen Methoden wie im Umgang mit klassischen Dramen orientieren; • an Jugendtheaterstücken lassen sich die dramentheoretischen Merkmale ebenso verdeutlichen wie an Klassikern. Wer sich mit den Jugenddramen beschäftigt weiß, dass diese nicht aufgrund ihrer Aktualität, die schnell wieder verloren gehen kann, überzeugen müssen, sondern beispielhaft für das zeitgenössische Theater stehen
2. Siehe: »Praxis Deutsch« 2003, 9; »Der Deutschunterricht« 2004, 2; »Deutschmagazin« 2008, 3.
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und thematisch relevant sind. Wichtig ist auch die Tatsache, dass viele der Jugendstücke im Repertoire der Theater und somit auf den Spielplänen der Bühnen zu finden sind. Mit den Jugendstücken verbinden sich nicht nur Inhalte und Themen, für die sich die Jugendlichen interessieren, da sie ihre Lebensgefühle und -realitäten widerspiegeln, sondern auch Formen und Spielweisen, die eine große Anziehungskraft auf Jugendliche ausüben können. Sie sind temporeich, teils kabarettistisch, mit viel Musik geschrieben und entsprechend inszeniert – Theater soll Spaß machen und Erkenntnisse durch Empathie und Lachen ermöglichen. Die Stücke basieren fast alle auf der Recherche von Jugendkultur und gesellschaftlicher Realität. Also, vom sprachlichen Jargon über die Frage, welche Mode zur Zeit bei den Jugendlichen ›in‹ ist, bis hin zu gesellschaftlich-politischen Entwicklungen – all das recherchieren die Autoren der Jugendstücke. Ihre Dramen sind in diesem Sinne ›genau‹, zum andern aber künstlerisch individuell gestaltet. Zu erwähnen wären Stücke wie Dea Lohers »Tätowierung« (1992), Oliver Bukowskis »Ob so oder so« (1994), Marius von Mayenburg »Feuergesicht« (1998), Igor Bauersima »Norway today« (2000), Kai Hensels »Klamms Krieg« (2000) oder Kristo Sagors Stücke z.B. »Dreier ohne Simone« (1999) oder »FSK 16« (2003). Genannt werden müssen natürlich die zahlreichen Stücke des Berliner Autors Lutz Hübner z.B. »Das Herz eines Boxers« (1996), »Creeps« (2000), »Nellie Goodbye« (2003) oder »Aussetzer« (2008). Sie sind die meistgespielten unserer Zeit und finden mehr und mehr Eingang in den Deutschunterricht. Dass sich auch die Lehrplangestaltung im Fach Deutsch der Sekundarstufe I dem Kinder- und Jugendtheater mehr und mehr annimmt, zeigt sich z.B. an den Textanregungen, die im Lehrplan 2005 des Landes Hessen gegeben werden. Einige Beispiele seien im Auszug hier aufgelistet: • Klasse 6: Volker Ludwig: »Max und Milli«; Volker Ludwig/Christian Sorge: »Ein Fest bei Papadakis«; Paul Maar: »Das Wasser des Lebens«. • Klasse 7: Paula Bettina Mader: »Kleiner König Ödipus«; Beat Fäh: »Rose und Regen Schwert und Wunde«; Nick Wood: »Fluchtwege«. • Klasse 8: Friedrich Karl Waechter: »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«; Albert Wendt: »Sauwetterwind«. • Klasse 9: Günter Jankowiak: »Genau wie immer, alles anders«; Volker Ludwig: »Ab heute heißt du Sara«; Kai Hensel: »Klamms Krieg«; Ad de Bont »Das besondere Leben der Hilletje Jans«; Friedrich Karl Waechter: »Ixypsilonzett«. • 10. Klasse: Thomas Oberender: »Nachtschwärmer«; Lutz Hübner: »Das Herz eines Boxers« oder »Creeps«; Dea Loher: »Tätowierung«, Per Lysander/Suzanne Osten: »Medeas Kinder«.
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Im Klett Schulbuchverlag sind die ersten Stücke von Hübner bereits als preisgünstige Lektürehefte für den Schulgebrauch erschienen.3 Auch andere pädagogische Verlage beginnen mit der Veröffentlichung von Jugendtheaterstücken zum Erwerb im Klassensatz, so z.B. der Schroedel Verlag, mit der Veröffentlichung von Paul Maar und Christian Schidlowsky »F.A.U.S.T«, das sowohl als Textausgabe mit Materialien, Arbeitsheft, Informationen für Lehrer und als Hörbuch publiziert wurde. Im Verlag Florian Noetzel erschien ein Sammelband »Jugendtheater im Deutschunterricht« (Fangauf 2006) mit den Stücken und entsprechenden Materialien »Der Ball ist rund« von Thomas Arens, »Blueprint« von Charlotte Kerner und Tatjana Rese und »Nellie Goodbye« von Lutz Hübner. Diese Aktivitäten des Buchmarktes können als Beleg für die Relevanz der Jugendstücke im Unterricht stehen.
Szenisch spielen und lernen Die Landesarbeitsgemeinschaft Schulbibliotheken in Hessen e.V. entwickelte 2005 gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland die Buchaustellung »Lesebühne – Stücke des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters im Deutschunterricht«. Zur Information der Pädagogen über die aktuelle Dramatik wurde, im Rahmen des vom Hessischen Kultusministerium unterstützten Projektes »Bibliothek in der Kiste« diese Ausstellung entwickelt. Sie vereint Bühnenmanuskripte, Sammelbände mit Stücken und ausgewählte Sekundärliteratur und stellt diese für den Unterricht in der Sekundarstufe I zur Verfügung. Aufgenommen in die Ausstellung wurden bekannte und viel gespielte Stücke des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters. Die Auswahl erfolgte mit einem besonderen Blick auf die Lektüremöglichkeit im Deutschunterricht, d.h. die Stücke müssen sich als Lesedramen eignen. Inhalt und Intentionen erschließen sich bereits nach wenigen Seiten und die Stücke sind nicht zu umfangreich in der Textlänge. Besonderer Wert wurde auch auf die Unterschiedlichkeit dramatischer Stoffe gelegt: Märchen, Adaptionen historischer Stoffe, Dramatisierungen von Kinder- und Jugendbüchern und zeitaktuelle Geschichten finden sich in dieser vielfältigen Auswahl. Ausgewählte Sekundärliteratur rundet die Ausstellung ab. Bereits 1998 befürwortete das Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest, NRW die nähere Beschäftigung mit den Stücken des Kinder- und Jugendtheaters. Dieses Projekt, an dem mehrere Pädagogen und das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutsch3. (Klett 2006/2008).
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land beteiligt waren, ging von der wachsenden Bedeutung der dramatischen Kinder- und Jugendliteratur für den Deutschunterricht aus: »Nicht mit gleicher Intensität wie die erzählende Jugendliteratur werden die Stücke des Kinder- und Jugendtheaters genutzt. Das ist bedauerlich, denn auch hier ist eine hohe Qualität erreicht worden. Wie die in dieser Handreichung vorgestellten Stücke zeigen, werden traditionelle Vorstellungen vom Kinder- und Jugendtheater kaum mehr gerecht« (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 1998: 5),
schrieb die damalige Ministerin im Vorwort der Projektpublikation »Szenisch spielen und lernen«. In dieser sind nicht nur eine Reihe von Stücken aufgelistet, sondern zu jedem finden sich ausführliche Materialien, die einen altersgerechten Unterricht ermöglichen. Projektleiter Frank Schindler begründet die Auswahl: »Durch ihren betonten Bezug zur Lebenswelt und den Alltagserfahrungen ihrer Zielgruppe zeichnen sich moderne Stücke des Kinder- und Jugendtheaters aus, die ihr Publikum mit widerstrebenden Lebensprinzipien konfrontieren, Entscheidungsalternativen anbieten, ohne jedoch gleich den pädagogischen Zeigefinder warnend erheben zu wollen. Die Beispiele stehen für dramatische Qualität und nicht für eine didaktische Literatur. Zwar knüpfen diese Stücke an das Gewohnte an, problematisieren dann aber das Selbstverständliche, öffnen Grenzen, beleuchten Fremdes und ermutigen die Schüler zu neuen Sichtweisen.« (Ministerium für Schule und Weiterbildung 1998: 12)
Schindler verweist auch nochmals auf die Eigenart, die die Dramatik von anderen Gattungen unterscheidet und für einen handlungsorientierten Unterricht geeignet macht. »Das Drama realisiert sich eben nicht nur im Medium der Sprache« und, er zitiert Horst Spittler: »Über diese wichtige Eigenart der dramatischen Gattung sieht man leicht hinweg, wenn man nur den Dramentext vor sich hat. Dieser ist jedoch in mancher Hinsicht einer Partitur vergleichbar und verwirklicht sich immer erst im Augenblick seiner Auff ührung. Deshalb ist das Drama als synästhetischer Text zu begreifen […].« (Spittler, 1991: 55) Dieses klare Plädoyer für einen szenisch spielerischen Dramenunterricht kann nur unterstützt werden. Gerade die Stücke des Kinder- und Jugendtheaters verbinden auf sinnlich zu erlebende Weise die Vielfalt dramatischer Ausrucksformen, also Sprache und Musik, Objekte und Figuren, Tanz und Bewegung.
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Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen
»Diese synästhetische Wirkungsweise, die Kraft ihrer Impulse an die jugendliche Vorstellungsweise, das Interesse am Ungewohnten und die Nähe zu den Identitätsfragen heutiger Jugendlicher eröffnen Möglichkeiten für einen ganzheitlicher ausgerichteten Dramenunterricht. Die fachlich unverzichtbare Textanalyse bedarf der produktiven, experimentellen und gestaltenden Ergänzung, damit Schüler dramatische Texte spielend erfahren und zuschauend reflektieren können.« (Ministerium für Schule und Weiterbildung 1998: 13)
Es ist zu hoffen, dass sich die inzwischen vielfach gemachten positiven Erfahrungen mit dem Jugenddrama im Unterricht durchsetzen werden und möglichst viele Lehrkräfte inspirieren, ihrem Deutschunterricht eine größere Nähe zur Lebenswelt der Schüler und zum zeitgenössischen Theater zu geben. Die schulische Beschäftigung mit dem Drama muss in das allgemeine Curriculum »Dramatische Formen« eingebunden werden. Unter diesem Dach könnte, von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II, vom Darstellenden Spiel über das professionelle Kinder- und Jugendtheater bis hin zum Kreativen Schreiben ein lebendiger Dramenunterricht stattfi nden. Friedrich Schiller hat bereits wegweisend in seinem »Wilhelm Tell« erkannt: »Ihr habt jetzt meiner weiter nicht vonnöten, zu jenem Hause gehet ein […]«.
Literatur Beiss, Adolf (1966): »Einführung in das große Bühnenstück«. In: Handbuch des Deutschunterrichts, Emsdetten: Lechte, S. 1041-1065. Fangauf, Henning (Hg.) (2006): Jugendtheater im Deutschunterricht. Stücke und Materialien, Wilhelmshaven: Florian Noetzel. Kammler, Clemens (2003): »Zeitgenössische Theaterstücke«. In: Praxis Deutsch, Velber: Erhard Friedrich Verlag, S. 6-13. Hübner, Lutz: Creeps. Ein Jugendtheaterstück. Mit Materialien zusammengestellt von Henning Fangauf, Leipzig: Klett 2006. Hübner, Lutz: Aussetzer. Ein Jugendtheaterstück. Mit Materialien zusammengestellt von Henning Fangauf, Leipzig: Klett 2008. Kuhn, Romy (2006): Jugendtheater auf der Bühne und in der Schule, Leipzig: Magisterarbeit. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (1998): Szenisch spielen und lernen, Frechen: Verlagsgesellschaft Ritterbach. Payrhuber, Franz-Josef (1991): Das Drama im Unterricht, Rheinbreitbach: Dürr & Kessler.
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Henning Fangauf
Payrhuber, Franz-Josef (1994): »Dramen im Unterricht«. In: Günter Lange/ Karl Neumann/Werner Ziesenis, Taschenbuch des Deutschunterrichts, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag. Scheller, Ingo (1998): Szenisches Spiel, Berlin: Cornelsen. Schimmel, Nicole/Hübner, Lutz (2004): Creeps. Erschließung eines Jugendtheaterstücks in der 8. Klasse, Bad Kreuznach: Staatliches Studienseminar. Sperlich, Christine (2007): »Schiller und kein Ende«. In: Kurt Franz/Günter Lange (Hg.), Dramatische Formen, Baltmannsweiler: Schneider Verlag. Spittler, Horst (1991): Struktur dramatischer Texte, Bamberg: Buchners Verlag. Wanner, Paul (1952): Zur kritischen Verarbeitung der Schillerschen Dramen. In: Der Deutschunterricht 1, S. 43-76.
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Shakespeare probieren. Dramaturgie und Didaktik im Theater mit Jugendlichen Ole Hruschka
Bläuliches Licht flackert über die Gesichter von Jugendlichen, deren Blicke starr nach vorn ins Publikum gerichtet sind. Melodramatische, breit orchestrierte Musik verklingt. Nachdem eine volltönende Off-Stimme abschließende Verse verkündet hat (»Denn nie gab’s ein Geschehen mit soviel Pein und Not/Wie das von Romeo und Julias Lieb’ und Tod.«), erheben sich Einzelne aus der Gruppe der Spielerinnen und Spieler von ihren Sitzen und verlassen nach und nach den Saal – bis nur noch wenige übrig bleiben. Schlagartig wird das Licht heller. Drei Mädchen kommentieren gerührt das zuvor Erlebte: »Das war so schön traurig!« »Und so romantisch!« Nicht zufällig steht ausgerechnet das Ende eines Kinobesuchs am Anfang von »Liebe, Zoff und Nachtigall. Eine Romeo und Julia-Versuchung«, einer Auff ührung des Erfurter Jugendtheaters Die Schotte. Die Inszenierung vermittelt so ohne Umschweife, worum es ihr im weiteren Verlauf geht: Die romantische Selbstvergessenheit der drei jungen Frauen, die sowohl für den Romeo-Darsteller auf der (imaginären) Leinwand schwärmen als auch für »den Neuen aus der Zehnten«, verweist auf zwei wesentliche Themen von Shakespeares Stück: Jugend und Liebe. Das gemeinsame Erlebnis einer »Romeo und Julia«-Verfilmung weckt zudem nicht nur die Begeisterung der Jugendlichen für die Idee, sich selbst an Shakespeares Drama zu versuchen, sondern auch für eine andere Darstellungsform: das Theater. Kennzeichnend für die Anfangssequenz ist der Wechsel von der fi lmischen bzw. dramatischen Vorlage, Shakespeares »Romeo und Julia«, hin zur Lebenswirklichkeit von Jugendlichen, deren Begegnungen während des Abspanns im Kino und auf dem Schulhof die folgenden Szenen be195
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stimmen. Der Sinn dieses Auftakts besteht offenbar darin, zwischen diesen beiden Realitätsebenen einen ersten Bezug herzustellen. Fast beiläufig wird dabei vorgeführt, dass jugendliche Erfahrungswelten zwar medial geprägt sind, die Rezeption eines Films oder einer Theaterauff ührung – anders lautenden kulturpessimistischen Bedenken zum Trotz – aber durchaus Auslöser für die Idee sein können, selbst aktiv zu werden. Vor allem, und darauf kommt es in unserem Zusammenhang an, liefert der Beginn der Inszenierung einen ersten Hinweis, welche Strukturprinzipien der Inszenierung zugrunde liegen, die, so heißt es im Ankündigungstext, »ausgesuchte Momente« des »Proben- und Schulalltags« der Jugendlichen »mit ausgesuchten Szenen aus Shakespeares Feder [verwebt].«1 Zwar handelt es sich bei »Liebe, Zoff und Nachtigall« nicht im gewohnten Sinn um eine Produktion aus dem schulischen Bereich, sondern um eine von den Regisseurinnen Christine Schild und Steffi Lang unter ›semiprofessionellen‹ Bedingungen (Schild) produzierte Inszenierung eines renommierten Jugendtheaters, deren ›junge Akteure‹ durch wöchentliche ›Etüden‹ bereits über einige Vorerfahrung verfügen.2 Da sich die Inszenierung an der dramatischen Vorlage ebenso orientiert wie an der persönlichen Entfaltung der Jugendlichen und am gemeinsamen Handeln in der Gruppe, ist sie gerade mit Blick auf das Fach Theater in der Schule allerdings besonders geeignet als Beispiel für eine Inszenierungsstrategie, bei der sich dramaturgische und didaktische Prinzipien überschneiden, berühren oder bedingen.3 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es soll hier nicht darum gehen, »Liebe, Zoff und Nachtigall« als allein selig machendes, vorbildliches Modell zu adeln und daraus einmal mehr apodiktische Empfehlungen oder zu verallgemeinernde ›Handreichungen‹ für das Darstellende Spiel abzu-
1. Vgl. www.theater-die-schotte.de 2. Ausstattung: Susanne Besser. Die Aufführung wurde über zwei Spielzeiten vor allem vor 7. bis 10. Klassen gezeigt und war im Mai 2008 zum ShakespeareFestival »Liebe Macht Tod« in der Berliner Wabe eingeladen, das vom ZDF-Theaterkanal und den Berliner Festspielen veranstaltet wurde. 3. Der Begriff der »Dramaturgie« bezeichnet die Kompositionsprinzipien der Aufführung und die damit verbundenen konzeptuellen (Vor-)Entscheidungen während der Proben, z.B. Fragen der Besetzung. »Dramaturgie« beschreibt also eher eine ästhetische Praxis, während mit »Didaktik« die pädagogische Dimension von Probenarbeit akzentuiert wird: Sie umfasst jene Methoden und Prinzipien, die – unter besonderer Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der nichtprofessionellen Akteure – der Vermittlung des dramatischen Werkes und des Theaters als sozialer Kunstform dienen.
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leiten. 4 Stattdessen soll es hier vor allem darum gehen, eine konkrete Aufführung genauer zu untersuchen im Hinblick auf die Frage, welche Ergebnisse die oben angedeutete Suche nach Überschneidungs- oder Korrespondenzpunkten zwischen Spieler- und Figurenebene hervorgebracht hat und wie es der Inszenierung gelingt, mit dem Unterschied zwischen den oben skizzierten Darstellungsebenen und -kontexten zu spielen. Gerade durch seine explizite Bezugnahme auf theatrale Praxis liefert das Fallbeispiel aus Erfurt Anlass, über das Verhältnis von künstlerischer und pädagogischer Praxis nachzudenken und dabei zentrale Aspekte der theaterpädagogischen Fachdebatte zu diskutieren.
Verschachtelte Realitätsebenen Wie also ist in der Erfurter Inszenierung die Verschränkung der Darstellungsebenen gestaltet, wie werden »ausgesuchte Momente« aus dem »Proben- und Schulalltag« der Jugendlichen »mit ausgesuchten Szenen aus Shakespeares Feder« verwoben? Welche Themen und Motive des Dramas werden berücksichtigt und wie werden sie im Hinblick auf die szenische Realisierung mit Jugendlichen neu erfasst? Zunächst einmal macht die Inszenierung für den Zuschauer rasch deutlich, dass die oben erwähnte erste Begeisterung der Jugendlichen für die Theaterkunst angesichts schmeichelhafter Kostüme (»rote Ohringe wie aus Verona!«) und der süßen Aussicht auf eine ruhmreiche Hollywoodkarriere rasch dem unumgänglichen Streit über die Besetzung (»Du solltest die Amme spielen, dein Busen ist so groß!«) zum Opfer fallen kann. Beim Kampf um die so genannten Hauptrollen erfasst die Gruppe eine erbarmungslose Konkurrenzsituation, die sich in der chorisch angelegten Szene über ein ›Casting‹ offenbart. Alle zeigen hier, was sie auf der Bühne besonders gut können: Neben verschiedenen anderen kleinen und größeren Sensationen (»kämpfen«, »hysterisch schreien«, »auf Kommando heulen«, »plötzlich in Ohnmacht fallen«, »Ich kann gut beten« etc.) präsentiert ein Bewerber eine parodistische Version der berühmten Liebestod-Szene am Ende von Shakespeares Stück, die er nach dem finalen Bühnentod mit der Frage an die Umstehenden beendet: »Und, war ich gut?«
4. Gegen ein solches Unterfangen spricht, dass solche Modelle und die mit ihnen verbundenen theaterpädagogischen Praxen kaum übertragbar und in ihren potentiellen bildenden Wirkungen »stark situationsabhängig« sind. (Mollenhauer 1986: 9)
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Nachdem eine Shakespeare-Szene derart ›vorgeführt‹ wurde, spitzt sich der dargestellte Kampf um den Führungsanspruch innerhalb der Gruppe zu. Eine selbst ernannte Regisseurin steht einem selbst ernannten Regisseur gegenüber; auch ein dramaturgischer ›Denker‹ mischt sich ein, fordert die Berücksichtigung von »Wesen und Struktur des Shakespeareschen Theaters« und die Festlegung »konzeptioneller Leitlinien«, bleibt aber machtlos. Die Entwicklung führt zur Spaltung der Gruppe; nacheinander werden alle Beteiligten von den beiden Alpha-Tieren in zwei getrennte Teams gewählt. Die nun folgende Sequenz kann als geeignetes Beispiel für die geschickte Verzahnung der Darstellungsebenen dienen. Denn die wortreiche Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppenteilen über kollektive oder autoritäre Arbeitsformen (»Massagekreis« versus »Stillgestanden, Hirn ausschalten!«) mündet – zum ersten Mal und fast unmerklich – in die erste Szene aus Shakespeares »Romeo und Julia«, die den Zwist zwischen den »Häusern« Montague und Capulet demonstriert: Die Angehörigen der beiden Gruppenhälften haben sich im Zuge gegenseitiger Beschimpfungen (»Is doch Quatsch, wie ihr probt!«) auf der Szene versammelt, hüllen sich dabei allmählich in historisch anmutende Mäntel und wechseln vom Jugendjargon (»Suchst du Streit?«) zu Schlegels Shakespeare-Übersetzung (»Sucht ihr Händel, mein Herr?«). Der Konflikt wird im weiteren Verlauf der Szene nah am Shakespeare/Schlegelschen Original verhandelt und schließlich vom resoluten Auftritt einer weiblichen Spielerin unterbrochen, die den Shakespeareschen Prinzen (oder Fürsten) darstellt und am Ende ihrer zornigen Rede an die anwesenden »aufrührerischen Vasallen« und »Friedensfeinde!« beide Parteien von der Bühne scheucht. Während am Anfang der Übergang vom Streit unter Jugendlichen in die Shakespeare-Szene en passant vonstatten geht und sich so die Intensität der Szene ganz allmählich auf baut und steigert, ist der Wechsel zurück aus der Stück-Fiktion in die Darstellung des Probenalltags abrupt: Der von einem raschen Lichtwechsel begleitete Szenenschluss nach dem Abgang der fürstlichen Autorität vermag das gesamte Setting der Szene effektvoll zu kippen: Plötzlich ist nur noch der ›Denker‹ auf der Bühne und kommentiert das vorangegangene Geschehen, das er als miserable Probe entlarvt (»Julia hat noch nie etwas von Subtext gehört«). An anderer Stelle ist eine entsprechende Vermischung der Darstellungsebenen dagegen eher an Details festzumachen, etwa bei der ersten Begegnung von Romeo und Julia beim Maskenball, wenn Julia auf Romeos Definition von Liebe als »verständ’ge Raserei und süße Spezerei« mit einem verständnislosen »Was?« reagiert und es dem Publikum überlassen bleibt, ob dies eher auf die Verzückung der Figur oder die Verständnisschwierigkeiten der Darstellerin mit Shakespeares/Schlegels Sprache zurückführen ist. 198
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Das Problem der Aneignung und Verkörperung dramatischer Figuren wird auch bei einem Monolog des Romeo-Darstellers vorgeführt, der sich – wie sollte es anders sein – in die Darstellerin der Julia verliebt hat, im Unterschied zu Shakespeares Romeo diese Liebe aber nicht erwidert sieht und sich daher in Selbstmitleid suhlt (»Romeo liebt sie, nicht dich! Du spielst überhaupt keine Rolle für sie!«). Auch die Szene »Mädchenklo/Jungsklo«, in der Mädchen und Jungen – auf einer Simultanbühne voneinander getrennt – sich über ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht unterhalten, sucht den spielerischen Bezug zwischen aktueller Situation und Shakespeares Dichtung: Mitten in die flotte Konversation vor dem Toilettenspiegel bzw. vor dem Urinal darüber, wer in wen verknallt sei, zitiert einer der Jungs ausführlich die oben bereits erwähnte Liebesdefinition Romeos, die er zunächst nur ›aufsagt‹, wie gerade auswendig gelernt: »Lieb‹ ist ein Rauch, den Seufzerdämpf‹ erzeugten, geschürt, ein Feu’r, von dem die Augen leuchten, gequält, ein Meer von Tränen angeschwellt; was ist sie sonst? Verständ’ge Raserei, und ekle Gall‹, und süße Spezerei.« Darauf reagieren auch in dieser Szene alle Umstehenden mit einer entgeisterten Nachfrage: »Was?« Nun aber rezitiert er Shakespeares sprachgewaltige Liebesdefinition feurig und voller Inbrunst. Am Schluss der Inszenierung steht die Vorführung jener »Romeo und Julia«-Auff ührung, von deren Erarbeitung sie erzählt: die Darstellung der Premiere wird durch die zuvor gezeigten (›geprobten‹) Schlüsselszenen aus Shakespeares Stück markiert, die – wie im Zeitraffer und durch musikalische Untermalung beschleunigt – in Standbildern noch einmal ablaufen. Darauf folgt – nun in voller Länge und Ausführlichkeit – der von der gesamten Gruppe als chorischer Einheit synchron gesprochene ›Epilog‹ des Prinzen, der sinnfälligerweise die beiden Zeilen aus dem Kinobesuch vom Beginn enthält und so wieder aufnimmt (»Denn nie gab ’s ein Geschehen mit soviel Pein […]«). Den allerletzten Abschluss jedoch bilden die beiden zuvor zerstrittenen, mittlerweile aber versöhnten, genauer: ineinander verliebten ›Regisseure‹, die das Theater auf dem Theater mit einem erleichterten »Geschaff t!« (Black) beenden.
Lebensw irklichkeit pur? Zusammenfassend lassen sich drei verschiedene thematische Bereiche unterscheiden, die die Erfurter Inszenierung umkreist, die sich in ihr vermischen und durchdringen. Zum einen werden die krisenhaften Momente innerhalb von Probenprozessen vorgeführt: vom Streit über die Wahl des Stoffes (»Das ist keine Schnulze, das ist Kunst!«), die Adäquatheit der Besetzung, Macht und Ohnmacht der Spielleitung und ihre fragwürdigen 199
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Arbeitsmethoden, über die Fremdheit bzw. die Vertrautheit der Rollen – bis hin zum Lampenfieber vor der Premiere. Zum anderen ›Schlüsselzenen‹5 des Dramas: vom Kampf der Häuser und der ersten Begegnung der Protagonisten beim Maskenball, über den Tod Tybalts bzw. Mercutios und die berühmte Balkonszene bis hin zur Sterbeszene. Und nicht zuletzt beschäftigt sich die Inszenierung natürlich mit der Liebe als übergeordnetem Leitmotiv: von der Frage, ob es ›wahre‹ Liebe überhaupt gibt und dem Problem, der eigenen Gefühlswelt Ausdruck zu verleihen, über die Kunst des Küssens und das ›erste Mal‹ bis hin zu Liebeskummer, Eifersucht und anderen Verheißungen und Konflikten, Hoff nungen und Ängsten. »Liebe, Zoff und Nachtigall« ist folglich strukturell geprägt von dem Wechsel zwischen den wichtigsten Szenen und Stationen aus Shakespeares »Romeo und Julia« einerseits und der Darstellung eines Probenprozesses mit seinen Höhen und Tiefen andererseits. Die Inszenierung orientiert sich also am Drama als »Spielanlass« und »Herausforderung« (Kurzenberger 1999: 64); der Text dient »aber auch als Material, mit dem neue Spiel- und Erzählweisen erprobt werden können« (Roselt 2007: 12). Wenn hier allerdings vom konkreten Erfahrungshintergrund der Jugendlichen die Rede ist, von ihrer Alltagsrealität und aktuellen Welterfahrung, die in die Inszenierung Eingang gefunden habe, so bedarf dies der genaueren Differenzierung. Zu berücksichtigen ist, dass eines der Anliegen der Erfurter Inszenierung gerade darin zu vermuten ist, die »grundsätzliche Konstruiertheit« von theatraler und sozialer Wirklichkeit erfahrbar zu machen und vor Augen zu führen (Hentschel 2007: 29). Im Sinne einer »an ästhetischer Bildung orientierte[n] Theaterpädagogik« geht es ihr weder »um das Aufrechterhalten der geschlossenen Fiktion, des ›Als ob‹ […] noch um ein Auflösen des Theatralischen zugunsten des Alltags, alltäglicher Handlungen, also um ein Aufheben der Differenz von Alltagspraxis und Spiel« (ebd.: 30). Dass man es hier nicht mit einer wie auch immer gearteten Echtheit der Jugendlichen oder ›purer‹ Lebenswirklichkeit, sondern mit einer vermittelten, einer in den Bereich des Ästhetischen transformierten Konstruktion von Wirklichkeit zu tun hat, zeigt sich nicht zuletzt an dem oben beschriebenen, überraschenden Wechselspiel zwischen Figuren- und Spielerebene, zwischen Rollenversatzstücken und Selbstentwürfen, das die Inszenierung »Liebe, Zoff und Nachtigall« als Möglichkeit des Theaters (und des Lebens) zeigt und vorführt.
5. Ein knappes Drittel der insgesamt 28 im Textbuch verzeichneten Szenen sind Shakespeare-Szenen.
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Die Probe als Lehr- und Lernfeld Das beschriebene dramaturgische Prinzip der Collage oder Montage, das chorische Spielweisen und Monolog, Dialogszenen und choreografische Elemente vereint, beweist einmal mehr, dass die Auseinandersetzung mit einem Werk der Vergangenheit und der aktuellen Welterfahrung von Jugendlichen sich nicht widersprechen müssen, »textgebundenes und freies Spiel« vielmehr so kombiniert werden können, »dass von beiden die Vorteile zum Tragen kommen« (Steinl 2000: 134). Die »textgebundene Eigenproduktion« (ebd.) aus Erfurt zeichnet sich aus durch konsequente Stoffreduktion, sprachliche Aktualisierungen, überraschende Variationen des szenischen Verlaufs und eine ensembleorientierte, also oft »antiprotagonistisch und anti-psychologisch« angelegte Spielweise (vgl. Sting 2005: 141). Das alles sind bewährte Mittel und Formen einer produktionsorientierten Theaterpädagogik bzw. einer »sozialen Ästhetik«, die nichtprofessionellen Akteuren »Spiel- und Bedeutungsräume« eröff nen möchte (Wartemann 2002: 155f.). Sie lassen sich als »dramaturgisches Kalkül« (ebd.), genauso gut aber auch als Teil eines planvollen didaktischen Vorgehens beschreiben: Denn während die dramaturgische Setzung, eine Inszenierung von Shakespeares Stück zum Gegenstand der Inszenierung selbst zu machen, hier einerseits den willkommenen Effekt hat, die Jugendlichen gleichermaßen einzubeziehen und nicht zu überfordern, hat die didaktische Modellierung der Darstellungsaufgaben und -mittel, die sich an den Voraussetzungen der Jugendlichen orientiert, andererseits eine tragfähige Dramaturgie zur Folge. Eine Dramaturgie nämlich, die den Gegenstand – das Drama »Romeo und Julia« bzw. die Darstellung von ›Probenarbeit/Alltag‹ – mit Blick auf die Spieler selbst und auf das zu erwartende Publikum in geeigneter Weise neu konstituiert. Die Setzung eines Handlungsrahmens, der die Theater- und Probenarbeit selbst vorführt, ist hier alles andere als eine Notlösung oder gar »eine vorherige Entschuldigung für eventuell zu erwartende Mängel« (Klepacki 2007: 152). Sie ermöglicht es vielmehr, den gesamten Theaterprozess von der Auswahl des Materials, über die Höhen und Tiefen des Probenalltags bis zur Realisierung einer Aufführung nachzuvollziehen und szenisch vor Augen zu führen. ›Theater probieren‹ ist, so lernen wir hier, im doppelten Sinne zu verstehen als Akt der szenischen Aneignung und Umsetzung einer dramatischen Vorlage und als Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Produzierens selbst: Die Erfurter Inszenierung beleuchtet dabei – gleichsam zwischen den Zeilen – auch die profanen Seiten von Theaterpraxis, wenn sie das pünktliche Erscheinen zur Probe oder das Aufbauen und Abbauen von Requisiten, die Notwendigkeit der Wiederholung von Szenen und den Zeitdruck vor der Premiere zeigt – und so deutlich macht, dass es von allen 201
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Beteiligten ein hohes Maß an Verbindlichkeit, an Engagement, an sozialer Aufmerksamkeit, auch an Konfliktfähigkeit und kommunikativer Arbeit braucht, um eine Aufführung zustande zu bringen. Die Pointe von »Liebe, Zoff und Nachtigall« liegt also nicht allein in der Idee, ein berühmtes Werk der dramatischen Weltliteratur und den so genannten Alltag zur Darstellung zu bringen, um so »das Verhältnis von Theater und Nichttheater zu thematisieren und transparent zu machen« (Hentschel 2007: 30). Von besonderer Bedeutung scheint mir in unserem Zusammenhang vielmehr die Darstellung der Probenarbeit als schöpferischer Prozess: Vermittelt wird ein – teils am professionellen Theaterbetrieb, teils an der eigenen theaterpädagogischen Praxis orientiertes – Verständnis davon, was es bedeutet, Shakespeares dramatische Vorlage auf der Bühne mit dem eigenen Körper und in einer Gruppe zu versinnlichen. Zudem hebt die wiederholte plötzliche Auflösung und Unterbrechung der Stück-Fiktion zugunsten des Probenalltags jenes »Element des Vorläufigen und des Transitorischen« hervor (Klepacki 2007: 210), das als Spezifikum des Mediums Theater gilt und dessen Erfahrungs- bzw. Bildungspotential in der theaterpädagogischen Fachdiskussion oft besonders hervorgehoben wird. Statt von der Probe oder von ›Probieren‹ ist dann die Rede vom »Experiment« (Vaßen 1997: 63), vom »Labor« (Pinkert 2007: 22) oder auch von einer »essayistischen Arbeitsmethode« (Klepacki 2007: 201ff.); gefordert wird »eine spielerische Herangehensweise«, die maßgebend und kennzeichnend sein soll für einen »kreativen und ergebnisoffenen Theaterprozess« (Sting 2005: 143), bei dem »das Ungewisse, der Umweg und das Stolpern auf dem Weg des Erfahrung-Machens immer mitgedacht« ist (Klepacki 2007: 221). Ausgehend von der Erfurter Inszenierung gerät mit der Probe zum Schluss ein besonderes Lehr- und Lernfeld in den Blick: als begrenzter Freiraum bedarf sie einerseits der Steuerung, denn in ihr werden notwendige Verabredungen getroffen; anderseits ist sie aber durch eine prinzipielle Offenheit geprägt, hat immer auch unkalkulierbare Anteile. Die Probenarbeit kann und soll die Beteiligten zu neuen Erfahrungen anregen – nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Selbstverwirklichung, sondern im Sinne eines beständigen Wechsels zwischen praktischem Tun und gemeinsamer Reflexion des zu er- und bearbeitenden Materials. Zu bedenken wären dabei die konkreten Voraussetzungen des Probenprozesses und die sich aus ihnen ergebenden ästhetischen und pädagogischen Konsequenzen – etwa die gegebenen räumlichen Konstellationen, der Körper als Ausdrucksmittel, die Gruppe als Arbeitsform bis hin zu gruppen-, alters-, vielleicht auch geschlechtsspezifischen Verfahren. Zu bedenken wäre auch, ob und wie dramaturgische und didaktische Gesichtspunkte Hand in Hand gehen, sich bedingen und verstärken können. Denn meist braucht es für gelingende Theaterarbeit mindestens zweierlei: zum einen 202
Shakespeare probieren. Dramaturgie und Didaktik im Theater mit Jugendlichen
ein ausgeprägtes Formbewusstsein bei der dramaturgischen Verschachtelung der szenischen Versatzstücke; zum anderen die Fähigkeit der Beteiligten, die Erarbeitung der Szenen im dialogischen Austausch gemeinsam zu reflektieren, um ein gelungenes ästhetisches Resultat zu ermöglichen und abzusichern.
Literatur Hentschel, Ulrike (2007): »Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Realitäten im Theater und in der Theaterpädagogik«. In: Bundesverband Darstellendes Spiel e. V. (Hg.), Fokus Schultheater 06., Hamburg: edition Körberstiftung, S. 24-30. Klepacki, Leopold (2007): Die Ästhetik des Schultheaters. Pädagogische, theatrale und schulische Dimensionen einer eigenen Kunstform, Weinheim/ München: Juventa Verlag, S. 133-155. Kurzenberger, Hajo (1999): »Theater in der Schule. Anregungen für eine innovative Lehrerausbildung im Fach ›Theater‹«. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 33, S. 62-68. Mollenhauer, Klaus (1986): Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion, Weinheim/München: Juventa Verlag. Pinkert, Ute (2007): »Spiele mit dem ›Nicht-Perfekten‹. Fragmentarische Übersetzung eines aktuellen Konzepts«. In: Bundesverband Darstellendes Spiel e. V. (Hg.), Fokus Schultheater 06., Hamburg: edition Körber Stiftung, S. 24-30. Roselt, Jens (2007): »Theater im Fluss«. In: Bundesverband Darstellendes Spiel e. V. (Hg.), Fokus Schultheater 06., Hamburg: edition-Körber-Stiftung, S. 8-13. Steinl, Winfried (2000): »Textgebundene Eigenproduktion«. In: KörberStiftung und Bundesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel (Hg.), Theater in der Schule, Hamburg: edition-Körber-Stiftung, S. 132-148. Sting, Wolfgang (2005): »Spiel – Szene – Bildung. Zum Verhältnis von künstlerischer Praxis und ästhetischer Bildung«. In: Eckart Liebau/ Leopold Klepacki/Dieter Linck u.a. (Hg.), Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim/München: Juventa Verlag, S. 137-148. Wartemann, Geesche (2002): Theater der Erfahrung. Authentizität als Forderung und als Darstellungsform (Reihe Medien und Theater Bd. 10), Hildesheim: Universität Hildesheim. Vaßen, Florian (1997): »Verkehrte Welt? Der Stellenwert von Ästhetik in Theaterwissenschaft und Theaterpädagogik«. In: Jürgen Belgrad (Hg.), TheaterSpiel, Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 57-65. 203
Das Moks. Metamorphosen und Häutungen eines »Modellversuchs« mit Künstlern und Schülern Henning Bleyl
Das Bremer Moks-Theater zeichnet sich durch ein Bündel von Besonderheiten aus, die teilweise als in sich widersprüchlich erscheinen. Das Moks ist eine der am schlechtesten finanzierten Kinder- und Jugendsparten an deutschen Stadttheatern. Aber das bundesweit einzige Theater, in dem Schulklassen, zumindest, wenn sie aus Bremen und während der Unterrichtszeit kommen, grundsätzlich freien Eintritt haben. Das Moks eröff nete die hierzulande erste Theaterschule, an der sich sorgfältig ausgewählte Jugendliche an quasi-professionelle Produktionen wagen. Andererseits wurde am Moks so intensiv wie nirgends sonst nach Möglichkeiten eines ›Mitspieltheaters‹ gesucht, das weiteste Publikumskreise voraussetzungsfrei einbezieht. Von einem spieldidaktischen Modellversuch unter den Fittichen der Bildungspolitik hat sich das Moks zu einem Haus gewandelt, dessen Produktionen von einem großen Vertrauen in Literarität geprägt sind. Dem Publikum, zu dem bemerkenswert viele ›enthusiasmierte‹ Erwachsene gehören, werden substantielle Texte und perspektivische ›Rückungen‹ zugemutet, statt Klischees des vermeintlich Kindgerechten zu reproduzieren. Diese Entwicklung ist ohne die in den 1970er Jahren gelegten Fundamente kaum denkbar, wie die unten angerissene historische Skizze zeigen soll: Immerhin rückte der damalige pädagogische Positivismus konsequent ein Zielpublikum in den Fokus der theatralen Arbeit, zu dem dann neue, stärker der Kunst als solcher vertrauende Wege gefunden werden konnten. Erst auf dieser Basis wiederum konnte das aktuelle Bemühen um Gleichberechtigung mit dem Erwachsenentheater beginnen. Der nachstehende Text versucht, mit aktuellen Etat- und Ausstattungsdaten einen möglichst konkreten Ein205
Henning Bleyl
blick in die diesbezügliche Bremer Praxis zu geben. Er ist durchaus detailliert wenn gezeigt werden kann, wie spezifische politische und personelle Konstellationen die Möglichkeiten einer künstlerischen Selbstbehauptung angesichts der allgemeinen Abendspielplan-Orientierung prägen.
Hauptschüler als Zielgruppe Der Ursprung des Moks liegt in einem bundesweit durchgeführten Experiment. Unter dem Titel »Modellversuch Künstler und Schule« – abgekürzt Moks – finanziert das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 1976 insgesamt 14 Initiativen, in denen Schauspieler, Musiker, Tänzer und bildende Künstler nach Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit Schülern suchen. Die dahinter stehende Absicht ist ebenso siebziger Jahre- wie sozialdemokratisch geprägt: Der Versuch soll, zum einen »den besonders benachteiligten Schülern der Sekundarstufe I Hilfe bei der Erweiterung ihres Erlebnisbereichs durch Darstellendes Spiel« bieten – und zweitens »Künstler mit neuen Funktionen außerhalb der traditionellen Kulturinstitutionen betrauen«. Diese sollen »stärker in gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge integriert« werden und ihr Angebot speziell auch bisher »ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen nahe bringen« – eben den Sekundarstufe I-Schülern (Ministerium für Wissenschaft und Kunst 1976). In Gegensatz zu den meisten der parallel initiierten Modelle wird dieser funktionalisierende Ansatz in Bremen eher als Theater- denn als Schulversuch umgesetzt. Es beginnen spielpädagogische Projekte mit 16 Stammklassen aus unterschiedlichen Schultypen, die nicht in Lehranstalten, sondern vor allem in Freizeitheimen durchgeführt werden. Drei Jahre später gibt es eine eigene Bühne in der »Weserburg«, einer ehemaligen Kaffeerösterei, und ein von allen Bremer Schulen buchbares Theaterangebot – wobei der Gründungsauftrag, »musisch-kulturelle Defizite vor allem bei Hauptschülern« (ebd. 1976) auszugleichen, nach wie vor sehr ernst genommen wird. Als der bundesweite Modellversuch nach sechs Jahren und mehreren Verlängerungen endgültig ausläuft, entschließt sich Bremen als einziges der sieben beteiligten Bundesländer zur Übernahme der Finanzierung. Aus dem ›Modellversuch‹ wird ein ›Modelltheater‹, das eingeführte Kürzel also beibehalten. Inhaltlich allerdings kommen die Moks-Mitarbeiter von der Methode ab, lediglich als Animateure für mehr oder weniger theaterspiellustige Schüler zu fungieren. Im Gegensatz zu den schulischen Theater-AGs, in denen ja freiwillig gespielt wird, laufen die Moks-Versuche im Rahmen einer Schulpflichtveranstaltung, so dass ausnahmslos alle von der Sinnhaftigkeit eigener Bühnenaktivitäten überzeugt werden müssen. 206
Das Moks. Metamorphosen und Häutungen eines »Modellversuchs«
Zudem sind die Moks-Macherinnen und Macher ihrerseits damit unzufrieden, stets als Spielleiter eingesetzt zu sein – anstatt selbst zu spielen. Aus diesen Erfahrungen entsteht das Genre der ›Mitspielstücke‹: Produktionen, in denen Schüler gemeinsam mit den Schauspielern auf der Bühne stehen. Im Rahmen sorgfältig vorbereiteter Themen und szenischer Settings, also innerhalb einer ›halboffenen‹ Form, übernehmen die Schüler Rollen, in denen sie den Verlauf der Handlung beeinflussen können. Flankiert von sowohl Plot-orientierten als auch improvisierenden professionellen Spielern erproben die Schüler Identitäten und Verhaltensoptionen. Sie machen – wenn es gut läuft – mit sich und der vorgegebenen Thematik Horizont-erweiternde Erfahrungen. Typische Vertreter des neuen Genres, für dessen intensive Erprobung Bremen bundesweit bekannt wird, sind »Ist Frank ein Versager« über die Problematik der Hauptschule, »Große Fische – Kleine Fische« über kapitalistische Wirtschaftsmechanismen oder die auf Bert Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reichs« basierende Collage »Aus Deutschland«. Die Methode gilt als erfolgreich, zahlreiche Schülerinterviews bestätigen die Tauglichkeit des Konzepts (vgl. Menck 1993).
Zw ischen Bildungssenator und Generalintendant Erst acht Jahre nach seiner Gründung produziert das Moks mit »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde« sein erstes ›Vorspielstück‹ – schon der Begriff betont die explizite Abgrenzung zum Mitspieltheater. Sehr lange also fühlte man sich exklusiv dem Auftrag verpflichtet, ein »Erfindungsort direkter Theaterformen« (Fuchs 2002: 19) zu sein, wie Moks-Leiter Martin Leßmann formuliert. Weitere zwei Jahre später, 1986, wird das Moks Teil des Bremer Theaters. Seither hat es zwei oberste Dienstherren, den Bildungssenator und den Generalintendanten – was keineswegs verhindert, dass das Moks nach der Umnutzung der »Weserburg« fast vier Jahre lang ohne eigene Räume da steht. Die Theatermacher sind auf provisorische Zwischennutzungen angewiesen: Ein paar Monate in einer alten Turnhalle, eine Produktion in einer auch als Fernsehstudio genutzten Gastronomie-Einrichtung (»Brecht up’n Swutsch«), oder Suzanne van Lohuizens Spielort-orientiertes Mutter/Kind-Drama »Der Junge im Bus«. Unter diesen logistisch schwierigen Umständen entfernt sich das Moks zunächst unfreiwillig vom Anspruch, immer auch Mitspieltheater zu bieten. Doch als 1992 endlich ein eigenes festes Domizil bezogen werden kann – in einem direkt hinter dem Stadttheater gelegenen früheren Brauhaus –, haben sich auch die inhaltlichen Prämissen in Richtung ›Vorspielstück‹ ver207
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ändert. Zwar erlebt die Idee des Mitspieltheaters Mitte der 1990er Jahre unter Leßmanns Leitung vor allem mit der »Papp-Hoorn-Expedition« eine gewisse Wiederauferstehung – aber es ist die bislang letzte. Das längst in den Vordergrund getretene ›Vorspielstück‹ bleibt allerdings dem Grundsatz treu, stets auch die Menschen hinter den Rollen zu präsentieren, die theatrale Illusion also explizit wieder zu entzaubern – ein bis heute verfolgter Zweck der nicht nur aus inhaltlichen Gründen wichtigen Nachgespräche mit dem Publikum.
Gegensätzliche Perspektiven auf »Pädagogik« Noch anlässlich des 25-jährigen Moks-Jubiläums 2002 wünschen sich viele der mittlerweile anderweitig engagierten Moks-Gründer eine Renaissance des Mitspieltheaters – bislang vergeblich. Leßmanns Nachnachfolger Klaus Schumacher schließt »ein Wiederkommen der Mitspiel-Welle« nicht aus, für sich persönlich allerdings schon. Ihn stört die »Zweckorientierung« des Miteinanderspielens, die »nicht wirklich offene Form«: Man gebe den Schülern zwar eigene Aufgaben, erwarte aber letztlich ein vorab mehr oder weniger fest gelegtes Ergebnis. Unter Schumachers Leitung endet die 24 Jahre lang erprobte Tradition der Mitspielstücke. Stattdessen setzt der in Hildesheim ausgebildete Kulturpädagoge einerseits auf künstlerische Qualitätssteigerung, um die »innere Beteiligung« der Zuschauer weiter zu intensivieren, zum anderen auf die Entwicklung von Formaten wie ›Tank‹, einer komplett in jugendlicher Hand befindlichen ›Plattform für junge Theatermacher‹, oder der ›Moks-Box‹, bei der Schauspieler des Ensembles mit ausgewählten Jugendlichen in einem sehr intensiven – und insofern an die berufliche theatrale Wirklichkeit angelehnten – Probenprozess arbeiten. »Das Selber-Spielen soll in einem Pädagogik-freien Raum als solches ernst genommen und ausgebaut werden«, freilich in quantitativ kleinerem Rahmen als bei den Mitspielstücken. Deren Erfahrung will Schumacher im Übrigen keinesfalls missen: »Sie orientieren sich radikal am Erlebnis des Publikums und sind deshalb eine hervorragende Schule für Schauspieler und Regisseure.« 1 Grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven auf das Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Theater zeigen sich auch im institutionellem Umfeld des Moks: Während etwa Joachim Klement, ehemals Bremer Chefdramaturg und künftig Braunschweigs Generalintendant, öffentlich einen Ausstieg des Bildungssenators aus der institutionellen Förderung des 1. Interview des Verfassers mit Klaus Schumacher, Leiter des Jungen Schauspielhauses Hamburg, im Oktober 2008.
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Moks herbei wünscht – »denn Theater hat mit Pädagogik nichts zu tun« – vertritt Peter Steineke, Professor für Kunstpädagogik an der Universität Osnabrück und Moks-Mitbegründer, das genaue Gegenteil: Die finanzielle Beteiligung der Schulverwaltung am Moks als »Herz der Bildungslandschaft« (Fuchs 2002: 16f.) ist ihm ein von eben dort kommendes Anliegen. Mittlerweile hat sich die Klement-Linie durchgesetzt, lediglich der Ausstattungsetat des Moks – sehr bescheidene 10.000 Euro im Jahr für vier bis fünf Produktionen – ressortiert noch bei ›Bildung‹. Er gilt als symbolische Kompensation des freien Vormittag-Eintritts der Bremer Schulklassen. Die Entwicklung des Moks vom pädagogisch-gesellschaftlich orientierten Modellversuch hin zum künstlerisch äußerst anspruchsvollen Theater lässt sich auch anhand der handelnden Personen recht klar nachvollziehen. Ursula Menck, 1984 zur Leiterin des Moks ernannt, war ursprünglich wissenschaftliche Begleiterin des Modellversuchs. 16 Jahre und drei Leiter später übernimmt mit Klaus Schumacher ein Theatermann das Moks, der auch nach Maßstäben der allgemeinen (Erwachsenen-)Theaterwelt für künstlerische Qualität steht. Das zeigt sich nicht zuletzt an Einladungen zu größeren Festivals bis hin zu »Augenblick Mal!«, der Berliner Biennale der besten Kinder- und Jugendtheaterproduktionen. Unter anderem das unter Schumachers Leitung kollektiv entwickelte Stück »Playback Life« wird als »eine der zehn bemerkenswertesten Produktionen« der Republik in Berlin aufgeführt, zahlreiche Nachinszenierungen in anderen Häusern folgen. Diese Qualität zeigt sich auch an Schumachers nicht ausbleibender Abwerbung ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg: Friedrich Schirmer beauftragt ihn 2005, dort mit dem Jungen Schauspielhaus einen ähnlichen Ansatz wie in Bremen zu installieren. Auch der Wechsel einiger Moks-Schauspieler ins Deutsche Schauspielhaus verweist auf die in Bremen entwickelten Kapazitäten und persönlichen Profi le. Die sich in Deutschland – im Gegensatz zu Skandinavien und den Niederlanden – erst langsam entwickelnde Tendenz, in Bezug auf ästhetische Maßstäbe nicht länger zwischen Kinder- und Jugendtheater und ›ernsthaftem‹ Erwachsenentheater zu unterscheiden, ist bei Schumacher längst gängige Praxis: Schon parallel zu seiner Tätigkeit als Moks-Leiter inszeniert er als Gast an Erwachsenenbühnen; mittlerweile ist der Kinder- und Jugendspartenchef mitverantwortlich für die künstlerische Gesamtleitung des Schauspielhauses Hamburg. Der Vergleich mit Hamburg und anderen Städten verdeutlicht sowohl die konzeptionelle und historische Vorreiterrolle des Moks als auch dessen prekäre Finanzsituation – wobei Hamburg freilich am diametral entgegen gesetzten Ende der Ausstattungs-Skala rangiert. Die Produktionsbudgets des dortigen Kinder- und Jugendtheaters sind im Verhältnis keineswegs kleiner als die des Schauspielhauses, immerhin Deutschlands größter 209
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Sprechbühne. Weder in der Ausstattung noch bei der Werbung werden verschiedene Maßstäbe angelegt: »Die Odyssee« nach Ad de Bont war sogar die teuerste Inszenierung, die überhaupt im Malersaal des Schauspielhauses produziert wurde. Das neue Selbstbewusstsein des Kinder- und Jugendtheaters wurde auch insofern in Zahlen gegossen, als das Ensemble des Jungen Schauspielhauses nunmehr auf dem gleichen Lohn-Niveau steht wie die Kollegen vom Abendspielplan – eine bislang nicht gekannte Gleichberechtigung. Auch das 2007 in Hannover unter der Intendanz von Wilfried Schulz gegründete Junge Schauspiel bietet seinen Machern mit einem Jahresetat von gut einer Million Euro einen völlig anderen finanziellen Rahmen als das Moks, fast das Doppelte steht dem seit 2003 existierenden Jungen Ensemble Stuttgart (JES) zur Verfügung. In Bremen hingegen muss man nach wie vor mit 315.000 Euro im Jahr auskommen.
Junge Akteure als Fast-Prof is Trotz aller materiell markanten Unterschiede gibt es ein essentielles Strukturmerkmal, das die Bremer den Hamburgern und Hannoveranern derzeit noch voraus haben: die Existenz der eigenen Theaterschule, der Jungen Akteure. Deren 2005 durchgesetzte Gründung und Entwicklung ist unter verschiedenen Gesichtspunkten außergewöhnlich: Orientiert an Vorbildern in den Niederlanden und Basel steht sie bei ihrer Eröff nung relativ allein auf weiter deutscher Flur. Die Gründung entspricht einem schon länger gehegten Plan und ist durch zahlreiche Moks-Projekte vorbereitet. Zur Verwirklichung ist nichtsdestoweniger ein Glücksfall erforderlich: Bremen bewirbt sich, ungeachtet der von vornherein nicht allzu großen Chancen, um den Titel »Europäische Kulturhauptstadt« 2010. Bemerkenswert ist weiter, dass die Jungen Akteure, zunächst als zweijähriges Modellprojekt während der Bewerbungsphase geplant, nach dem Kollaps der Bremer Kulturhauptstadt-Kandidatur nicht ebenfalls eingestampft werden. Es gelingt sogar der Übergang in die institutionelle Förderung durch das Kulturressort, was angesichts zunehmender finanzieller Unsicherheiten einen geradezu antizyklischen Vorgang darstellt. Konzept und konkreter Output der Jungen Akteure geben dieser administrativen Vorzugsbehandlung Recht. Nun ist Bremen durchaus ein Ort mit einer sehr entwickelten Schultheater-Kultur. Über die Landesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel werden zahlreiche Fortbildungen und die jährlichen Schultheatertage samt einer Extra-Woche für die Grundschulen organisiert. Auch als reguläres Unterrichtsfach hat ›Darstellendes Spiel‹ durchaus ein Standing. Beachtlich ist zudem das bundesweit einmalige Modell von »Bremens 210
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Erstem Schulübergreifenden Theater« (B.E.S.T.) Es umfasst nicht nur die ›unvermeidlichen‹ Gymnasiasten, sondern ebenso Auszubildende, Berufsschüler und sonstwie adoleszente Menschen bis etwa 20 Jahre. Mit diesem Ansatz korrespondiert ein nomadisches Raumkonzept: Jahr für Jahr okkupiert »B.E.S.T« unter der Leitung des Schauspielers und Lehrers KarlHeinz Wenzel einen markanten baulichen Leerstand. Im aufgegebenen Gefängnis widmen sie sich dem Thema »ZellTeilung«, im ausgeräumten Hochregallager von Tchibo sind es »Abschiede«, in einer Großraum-Disco werden »GeschlechterGefechter« ausgekämpft. Es sind biografisch geprägte Produktionen, die ihren erzählerischen Honig aus der Heterogenität der Teilnehmer saugen. Deren »Verwicklung in künstlerische Prozesse« – in klarer Abgrenzung zu Sozialarbeit und »eskapistischer Freizeitbeschäftigung« – ist seit immerhin 18 Jahren ein fester Bestandteil der Bremer (Schul-)Theaterszene (vgl. Wenzel 2006). Nichtsdestoweniger fehlte vor Gründung der Jungen Akteure ein Ort, wo Jugendliche unter nahezu professionellen Bedingungen kontinuierlich Theater spielen können. Die Produktions-Projekte, für die sich Jugendliche in Auswahl-Workshops bewerben, konfrontieren die Akteure mit der Haut-und-Haar-Realität des ›echten‹ Theaters: Nach langen Probezyklen in diversen Schulferienwochen mündet die Inanspruchnahme der Teilnehmer in die Totalität der Prä-Premierenphase. Daneben gibt es allgemein zugängliche offene Werkstätten und ein Wochenprogramm mit schauspielerischem Basistraining. Pro Halbjahr erreichen diese zeitlich und inhaltlich gestaffelten Angebote insgesamt etwa 200 Teilnehmer zwischen zehn und 24 Jahren. Der Jahresetat der Jungen Akteure von 150.000 Euro fließt in die Bezahlung zweier künstlerischer Leiter, eines halben Technikers, einer Organisationskraft, er speist den Honorartopf für Gastregisseure und Kursleiter und umfasst Sachmittel und die Miete. Letzteres generiert eine wesentliche Qualität der Jungen Akteure: Während es den entsprechenden Aktivitäten des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg bislang an einem eigenen Ort mangelt – die Backstage-Projekte laufen dann, wenn auf den Probebühnen mal Luft ist – verfügen die Jungen Akteuren mit ihren Etagen im ehemaligen Kontorhaus inmitten einer soziokulturell reichhaltigen Nachbarschaft über einen festen Treffpunkt, eine Art künstlerisches Hauptquartier samt Bühne und Proberäumen. Der eigene Sitz schaff t Sicherheit und Freiraum.
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›Peer-Erlebnisse‹ für das Publikum Pro Spielzeit gibt es eine Produktion, bei der Moks-Schauspieler mit den Jungen Akteuren ein gemeinsames Ensemble bilden. Simon Stephens »Reiher« ist dafür ein ebenso gelungenes Beispiel wie »Spielzone«, eine Theatralisierung des Berlin-Romans von Tanja Dückers. Das Status-übergreifende Miteinander auf der Bühne erhöht den Professionalitäts-Anspruch der Produktion, andererseits stellt sich im Publikum nach wie vor das ›Peer-Erlebnis‹ ein: Wann sonst sieht man Gleichaltrige in derart ausgefeilten Inszenierungen? Im Rahmen solcher Koproduktionen sind auch Inputs wie die Erarbeitung choreografischer Sequenzen mit Mitgliedern der Bremer Tanzsparte möglich. In gewisser – allerdings wirklich nur gewisser – Weise treten die Jungen Akteure damit das Erbe der ›Mitspielstücke‹ an, für deren intensive Ausgestaltung Bremen ebenfalls einmal bekannt war. Wesentliche Unterschiede zu dieser spielpädagogischen Form sind allerdings die Literarität vieler Vorlagen à la Dückers und die Länge einzelner Inszenierungen – bei der »Spielzone« zweieinviertel Stunden. Angesichts des Trends zu schnellen Schnittfolgen und anderen Kniffen TV-orientierter Ästhetik im Jugendtheater ist es geradezu erstaunlich, wie gut die Parameter Literarität und Länge in den Auff ührungen funktionieren: Es wird – in aller Regel – tatsächlich zugehört.
Fragen statt belehren, erzählen statt verkünden Damit erweist sich auch bei den Jungen Akteuren der ästhetische Ansatz als erfolgreich, den das Moks seit etwa Mitte der 1990er Jahre verfolgt: Es geht um die Entwicklung von Auff ührungen, die weniger Botschaften als etwaige Geheimnisse beinhalten, um Stücke, die als in sich spannende Erzählungen funktionieren. Wenn diese an und für sich autonomen Narrationen in ein gesellschaftliches Themenfeld wie Migration (Nick Woods »Fluchtwege«) oder familiäre Patchwork-Strukturen (Kristo Šagors »Fremdeln«) implantiert werden, entsteht nichtsdestoweniger politische Relevanz. Auch im Kinderbereich sind diese eher fragenden als belehrenden Geschichten des Moks nie an illusionsträchtiger Märchenhaftigkeit orientiert. Seinen visuellen Niederschlag findet dieser Ansatz in außergewöhnlichen Bühnenbildern. Sie machen aus der finanziellen Not eine kreative Tugend, indem sie statt auf Opulenz auf Intelligenz und Witz setzen: Sie können sich verwandeln, uminterpretiert werden und faszinieren in der Regel gerade durch die Vielseitigkeit ihrer Nutzbarkeit. In diesem Sinn beispielhaft sind die Arbeiten von Katrin Plötzky, Silke Lange und Erhard Dapper. 212
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Auch rein quantitativ haben sich die Gewichte im Moks längst verschoben. Zwölf Jahre, in denen das Theater im alleinigen Auftrag der Bildungspolitik gearbeitet hat – erst in Gestalt des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, dann unter dem Dach der entsprechenden Landesbehörde – stehen mittlerweile 22 Spielzeiten gegenüber, in denen das Moks Teil des Bremer Theaters ist. In dieser Zeit hat sich die praktische Zusammenarbeit zwischen dem Moks und den Bremer Schulen grundlegend geändert. Während in den 1980er Jahren typischerweise zwei hauptamtliche Moks-Pädagogen mit einem hinzu engagierten Schauspieler in die Schulen gingen, werden heute alle verfügbaren Personalmittel in die EnsembleArbeit gesteckt. Gastspiele an den Schulen selbst können neben dem laufenden Betrieb im eigenen Haus – mit fünf bis sieben Vorstellungen pro Woche – kaum geleistet werden, andererseits ist das ›Locken‹ der Schüler ins ›richtige‹ Theater samt seiner technischen Kapazitäten konzeptionell gewünscht.2 Mit regelmäßig herausgegebenen Lehrerbriefen lädt das Moks unter anderem zu Probenbesuchen ein, einmal pro Monat veranstaltet es im Rahmen eines ›Jour Fixe‹ theaterpraktische Lehrerfortbildungen. In der Schulszene genießt das Moks einen hervorragenden Ruf.
Die Ein-Prozent-Spar te Wesentlich wechselhafter ist das ›Wohlwollen‹, das die jeweiligen Intendanten dem Moks entgegen bringen. Jenseits persönlicher Dispositionen spiegelt es den Stellenwert der Kinder- und Jugendproduktionen im theaterinternen Ranking. Passenderweise ist es zunächst der über eine SPDConnection nach Bremen geholte Hansgünther Heyme, der dem Moks – von einem früheren Schauspieler liebevoll als »Appendix der sozialliberalen Koalition« verspottet – 1992 die feste Wirkungsstätte im Brauerei-Gebäude verschaff t. Schon Heymes Nachfolger Klaus Pierwoß muss sich mit aller ihm eigenen Vehemenz gegen die komplette Schließung des Moks wehren: Nur drei Jahre nach dem Einzug ins neue Haus taucht das Moks unversehens auf einer zunächst geheim gehaltenen »Giftliste« des christdemokratischen Finanzsenators auf – mittlerweile ist die CDU im Rahmen einer großen Koalition an der Bremer Regierung beteiligt. In dieser schwierigen Situation bewährt sich der noch von einer grünen Kultursenatorin engagierte Klaus Pierwoß als sehr energischer Verteidiger des Kinder- und Jugendtheaters. Somit hat die vierte Sparte den gleichen Schutzwürdigkeits-Status erreicht wie die dritte: Immerhin das hoch re2. Interview des Verfassers mit Moks-Leiterin Rebecca Hohmann, Oktober
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nommierte Tanztheater, das trotz seiner legendären Kresnik-, Hoff mannund Linke-Vergangenheit ebenfalls gegen Schließungsabsichten verteidigt werden muss. An der mageren finanziellen Ausstattung des Moks ändert allerdings auch Pierwoß nichts. Trotz aller gern unternommenen Verweise auf dessen Erfolge etwa bei »Augenblick Mal!« oder den in NordrheinWestfalen beheimateten, aber bundesweit maßgeblichen »Traumspielen«, bleibt Kinder- und Jugendtheater aus Sicht des Generalintendanten in seiner gesamttheatralen Bedeutung offenbar sekundär – zumindest keiner hausinternen Mittel-Umverteilung wert. Die hoch gelobte Effizienz des kleinen Teams kleidet Pierwoß gern in das Bild eines ›Smart‹. In einem solchen haben die vier Moks-Schauspielerinnen und Schauspieler bei Bedarf auf die Bühne zu rollen, wenn es, wie bei Pierwoß Abschieds-Gala, die Kompaktheit des Ensembles zu demonstrieren gilt. Allerdings billigt Pierwoß dem Moks in seinem äußerst voluminösen Bilanz-Buch ebenfalls nur geringste räumliche Kapazitäten zu: Von immerhin 475 Seiten sind gerade mal knapp vier dem Moks gewidmet – eine weitere Emanation des Ein-Prozent-Status, den die Kinder- und Jugendsparte auch in Bezug auf ihre finanzielle Ausstattung kennt (vgl. Brade/Pierwoß/Schümann 2007: 297-300). Dabei haben die Moks-Macherinnen ihren produktiven Output gerade während Pierwoß’ 13-jähriger Amtszeit noch einmal erheblich gesteigert: 110 jährlichen Aufführungen 1995 stehen 2008 gut 170 Vorstellungen gegenüber. Offen bleibt zunächst die Frage, wie sich das Moks mit seiner nunmehr 32-jährigen Geschichte in der Ägide des neuen Bremer Generalintendanten Hans-Joachim Frey entwickeln wird. Dessen permanent postulierter Anspruch, an der Weser das »Modell eines neuen deutschen Stadttheaters« zu exemplifizieren (taz 2007)3 – mit flexibleren Arbeitsverhältnissen, kleineren Ensembles, mehr Gästen, weniger Repertoire, zahlreichen Kooperationen und enger Anlehnung an die Wirtschaft – tangiert das Moks bislang wenig. Während die übrige Führungsmannschaft des Hauses nun weitestgehend mit persönlichen Weggefährten des früheren SemperoperDirektors besetzt ist, kann Rebecca Hohmann ihre Arbeit als Moks-Chefin fortsetzen – noch unter Pierwoß wurde die frühere Moks-Dramaturgin als Schumachers Nachfolgerin eingesetzt. Das zeigt zum einen, dass Frey in Gegensatz zu seinen Intendanten-Nachbarn Friedrich Schirmer oder Wilfried Schulz über keine ausgeprägten eigenen Ambitionen oder konzeptionellen Vorstellungen in Bezug auf Kinder- und Jugendtheater verfügt. Zum anderen bezeugt die der Kinder- und Jugendsparte belassene Kontinuität jedoch Respekt vor dem gewachsenen Renommee des Moks. Rein äußerlich gibt es sogar Zeichen der Aufwertung: Die Einstands-Spielzeit 3. Zitiert nach »die tageszeitung« (Berlin) vom 10.03.2007.
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des neuen Chefs ist die erste in der Geschichte des Bremer Theaters, in der die Opernabteilung nicht in exklusiver Einsamkeit den anderen Sparten voran geht: Das Moks ist zeitgleich mit einer sehr ambitionierten EinMann-Adaption von »Moby Dick« dabei.
Zw ischen Autonomie und enger Anbindung Freys erklärter Wille, das Moks stärker als ›reguläre‹ Sparte im Haus zu verankern, entspricht einerseits einer alten Forderung zahlreicher Kinderund Jugendtheatermacher, die sich somit mehr allgemeine Anerkennung erhoffen. Auf der anderen Seite steht die Beobachtung, dass gerade die sehr weitgehende inhaltliche, organisatorische und räumliche Autonomie des Moks eine wesentliche Voraussetzung seiner Profilbildung darstellt. Zwar ist es eine Unabhängigkeit auf materiell niedrigem Niveau, doch immerhin bietet sie dem Moks ein komplettes Personal-Tableau von Schauspielern, Dramaturgie, Ausstattern und Allround-Technikern bis hin zu einer eigenständigen Öffentlichkeitsarbeit. Das 99-Plätze-Haus verfügt über eine eigene Werkstatt, Technik und Lager. Diese logistische Autarkie ermöglicht nicht nur überschaubare Entscheidungsprozesse und persönliche Identifi kation, sie ist auch die technische Voraussetzung für die Entwicklung Team-geprägter Produktionen samt kurzfristigen Änderungen in Disposition und Bühnenbild. Das Moks in seiner jetzigen Verfasstheit verbindet die Vorteile einer freien Produktionsweise mit denen eines bei Bedarf im Hintergrund stehenden großen Stadttheaterapparats – ohne durch dessen Behördenhaftigkeit gebremst zu werden. Der erste von Intendant Frey wohlwollend verordnete Versuch, das Moks außerhalb des eigenen Hauses produzieren zu lassen, provoziert prompt einen künstlerischen Flop – zumindest im Vergleich zu dem sonst vom Moks gewohnten Niveau ein durchaus angemessener Begriff. »Nachtblind«, Darja Stockers auf dem Heidelberger Stückemarkt preisgekrönter Bühnenerstling um Gewalttätigkeit in Liebesbeziehungen, gerät vor vervielfachtem Publikum im Schauspielhaus zu einem durch und durch konventionell anmutendem Jugendstück. Den Figuren mangelt es an Vielschichtigkeit, der Sprache an Originalität, der Botschaft an Uneindeutigkeit. Kurz: dem Einsatz theatraler Mittel an Poesie und Verwandlungslust. Die Mängel beschreiben ex negativo, was sonst die spezifischen Qualitäten des Moks ausmacht. Auch die ›Plot-immanente‹ Gewalttätigkeit der »Nachtblind«-Inszenierung findet nie die Momente bitterböser Komik, mit der das Moks etwa Paula Fünfecks Busch-Adaption »Max&Murx« zu einer grandiosen Achterbahnfahrt zwischen Übelkeit und Amüsement gemacht 215
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hatte. Man soll nicht an Monokausalitäten glauben: Doch schon die nächste Produktion im eigenen Haus – mit derselben Regisseurin – ist wieder ein theatraler Volltreffer: Mike Kennys »Seiltänzerin«, inszeniert von Franziska-Theresa Schütz.
Themen statt Illusionen Begünstigt durch den Umstand, dass die aktuelle Moks-Chefin nicht selbst inszeniert, genießt Schütz derzeit einen inoffiziellen Status als Hausregisseurin. Ihre »Seiltänzerin« verdient auch insofern nähere Betrachtung, als in Stück und Inszenierung zwei weitere wesentliche Elemente der MoksPhilosophie – neben Literarität, Autonomie der Narration sowie Verzicht auf Belehrung und Illusion – zum Tragen kommen. Zum einen ist das die konsequente Hinwendung zu Themen, die dem weihnachtsmärchenhaften Ansatz ›für Kinder etwas Nettes‹ diametral entgegen stehen. Bei Ulrich Hubs Sintflut-Stück »An der Arche um Acht«, einem Parade-Stück des Moks, sind es Schuldgefühl und Strafe, hier ist es der Tod. Gerade für Theatergänger ab fünf Jahren ist er ein hervorragendes Thema: Wer gerade begreift, wie vielfältig Leben ist, interessiert sich ebenso intensiv für dessen Gegenteil. Es sei denn, entsprechende Fragen werden von Erwachsenen vorauseilend abgewiegelt. Kenny konfrontiert ein Mädchen mit der plötzlichen Abwesenheit seiner Großmutter, woraus eine liebevolle, traurige und – keineswegs zuletzt – ziemlich lustige Erzählung über das Sich-Gewöhnen-Müssen an die Endlichkeit entsteht. Die immer insistierendere Frage der Enkelin nach dem Verbleib seiner Großmutter wird in der Inszenierung des Moks zu einer sehr authentischen Annäherung an Abwesenheit. Die Erklärung des Witwers – »Oma ist zum Zirkus gegangen« – mutiert von einer Ausrede zur sinnstiftenden Metapher, die die Unwiederbringlichkeit des Verlusts poetisch auflädt ohne sie zu kaschieren. Zum zweiten ist die »Seiltänzerin« bezeichnend für die herausragende Rolle, die Musik innerhalb der Moks-Arbeit spielt. An und für sich wäre das kein weiter bemerkenswerter Befund, da es im Kinder- und Jugendtheater im Gegensatz zum Erwachsenenschauspiel ja niemanden wundert, wenn sich Figuren mit einem Lied einführen oder emotional besonders dichte Momente plötzlich in Klang verwandelt werden. Kinder- und Jugendtheater hat die Freiheit, diese letztlich der Oper entlehnten Ausdrucksmittel hemmungslos zu nutzen, und so ist praktisch jede Moks-Inszenierung durchsetzt von Solo- und Ensemblenummern der Akteure. Sowohl sängerisch als auch instrumental haben sie durchweg viel zu bieten: Wenn sich die Truppe mühelos in eine Band verwandelt, gehört das regelmäßig zu den gelungensten Teilen der Inszenierungen. In der »Seiltänzerin« allerdings 216
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wird der musikalische Part entscheidend ausgebaut: Multiinstrumentalist Jan Fritsch, einer der gelegentlich vom Moks eingekauften Kreativ-Inputs, thront als ständig präsenter Sparringpartner über der Manege, die Silke Lange als szenisches Setting eingerichtet hat. Seine Funktionen als Geräuschemacher, ›Lebend-Radio‹ und Musiker verdichten sich zu der eines dramaturgisch sehr hilfreichen Sidekicks, der das Treiben der übrigen Akteure unterstützt, kommentiert oder auch karikiert. So entsteht weit mehr als ›nur‹ Untermalung oder akustische Abwechslung.
Prof ilierung möglich, Ausbau nötig Umfassende Kompositions-Aufträge sind ebenfalls Teil der üblichen Moks-Arbeit. Mit Octavia Crummenerl beispielsweise kommen dabei auch innovative Elektronik-Tüftler zum Einsatz: Am Funktionieren etwa des bei »Augenblick Mal!« sehr erfolgreichen »Cyrano« hatten sowohl Crummenerls Balkonszenen-Sounds als auch ihre treibenden Duell-Grooves substantiellen Anteil. Perspektivisch ist spannend, wie das Moks die formalästhetischen Grenzen sukzessive weitet: Zum einen, in dem unter anderem durch die Zusammenarbeit mit der in Bremen ansässigen Deutschen Kammerphilharmonie das musikalische Niveau der Produktionen in ungewohnte Regionen gehoben wird. Zum anderen, indem im Kinder- und Jugendtheater noch immer eher ungeläufige Ausdrucksformen wie Tanz zum integrativen Teil der Inszenierungen werden. Die künstlerisch überzeugende »Einbeziehung von Kammermusik und Tanz« ist denn auch das Hauptargument, mit dem die Jury des Kurt-Hübner-Preises die 2004 erfolgte Auszeichnung des Moks begründet. Auf bauend auf dieser Erfolgs-Story hätte Frey die Chance, sich mit relativ geringen finanziellen Mittel nachhaltig zu profi lieren. Auch in seinem 29-Millionen-Euro-Etat schlagen die Moks-Ausgaben mit wenig mehr als einem Prozent zu Buche, entsprechend günstig wäre eine substantielle Aufstockung zu haben – die Frey in Anbetracht seines in der bundesweiten Theaterszene höchst umstrittenen Wirtschafts-affinen Kurses kommunikativ gut nutzen könnte. Immerhin gilt: Kinder- und Jugendarbeit, die nicht nur das Heranziehen der Abonnenten von Übermorgen, sondern das Bereitstellen eigener Erfahrungsräume meint, ist angesichts der umfassenden Bildungsdebatten zum nicht zu unterschätzenden Faktor jedweder Intendanten-Bilanz avanciert. Um den quantitativen Wirkungsgrad des Moks entscheidend zu erhöhen, wäre der Auf bau eines Repertoire-Betriebs erforderlich. Die dafür notwendigen Voraussetzungen: sechs statt vier Schauspieler und die Aufstockung der personellen Kapazitäten zum Bühnenumbau. Andernfalls 217
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muss das Moks seine Stücke nach wie vor in Blöcken spielen – und anschließend in der Versenkung verschwinden lassen. Wohin also kann sich das Moks entwickeln? In den vergangenen drei Jahren gab es eine veritable Gründungswelle ›Junger‹ Schauspielhäuser mit hoch ambitionierten Konzepten. In der bundesweiten Wahrnehmung, auch sich bewerbender Schauspieler, hat das Haus mehr Konkurrenz bekommen. Eine sehr begrüßenswerte Entwicklung, die die finanziell prekäre Ausstattung des Moks allerdings mit erheblichem Profilierungsdruck kombiniert. Die entsprechenden Potentiale sind vor Ort reichlich erprobt, ihrer Entwicklung jedoch engmaschige materielle Grenzen gesetzt.
Literatur Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1976): Modellversuch »Künstler und Schüler«. Abschlußbericht, Bonn. Menck, Ursula (Hg.)(1990): Zwölf Jahre lang so ein Theater, Bremen: o.V. Menck, Ursula (1993): »Ein weißer Vogel auf dem Rücken des Büffels«. In: Michael Rüppel, 200 Jahre Theater in Bremen, Bremen: WMIT VerlagsGmbH. Fuchs, Ulrich u.a. (2002): 25 Jahre Moks, Jubiläumsschrift, Bremen: o.V. Brade, Helmut/Pierwoß, Klaus/Schümann, Frank (Hg.) (2007): Bremer Theater, Bremen: Schuenemann C. E. Wenzel, Karl-Heinz (2006): Theater in B.E.S.T.-Form, Weinheim: Deutscher Theaterverlag.
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Ein magischer Or t? Theater im Klassenzimmer Manfred Jahnke
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Theater im Klassenzimmer eine neue Gattung an den professionellen Kinder- und Jugendtheatern entstanden.1 Es gab zwar schon vor der Jahrhundertwende vereinzelt Produktionen auf den Spielplänen, die aber kein eigenes Genre zu begründen vermochten. Stücke wie »Dussel und Schussel« von Ad de Bont (1984) entstammten der niederländischen Spieltradition, denn in Holland verfügen die meisten Theater über keinen eigenen Auff ührungsraum, so dass sie über Land touren und in Turn- und Gymnastiksälen oder in Klassenzimmern spielen. »Dussel und Schussel« wurde hierzulande zwar viel gespielt, aber blieb zunächst fast ein Unikat. Auch der Modellversuch »Künstler und Schüler« in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kann nur bedingt als Vorläufer des Theater im Klassenzimmer gelten. Zwar gingen die Künstler in Schulen, um vor Ort mit den Schülern künstlerisch zu arbeiten. Dazu wurden in der Sektion Theater des Modellversuchs auch kleine Stücke vorbereitet, aber ausschließlich zur Anregung der Fantasie und der Kreativität der teilnehmenden jungen Menschen – also eher im Sinne einer theatre-in-educationKonzeption. Damit ist ein wesentliches Merkmal des Theater im Klassenzimmer genannt: Sein Aufführungsraum ist ein ganz spezifischer, das Klassenzimmer. Professionelle Schauspieler verwandeln den Arbeitsplatz von Lehrern und Schülern in einen Bühnenraum, indem sie darin eine Aufführung ver1. Verwiesen sei auch darauf, dass das Staatsschauspiel Dresden, das Theater Junge Generation Dresden und die Landesbühnen Sachsen Radebeul seit 2002 in regelmäßigen Abständen ein Festival »Theater im Klassenzimmer« veranstalten, zu dem Bühnen aus allen Teilen der Bundesrepublik und Europa eingeladen werden.
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anstalten. Es verzichtet nicht auf Partizipation bzw. Interaktion mit dem Publikum, aber bildet doch zumeist (Ausnahmen im Angebot für Grundschulklassen) eine in sich geschlossene ästhetische Form. Darüber hinaus nimmt es in seinen ästhetischen Formen die von der Institution Schule gesetzten Bedingungen auf, wie z.B. die Anpassung an die Dauer einer Schulstunde. Da der Bewegungsraum für die Schauspieler im Klassenraum eingeschränkt ist, gibt es nur kleine Besetzungen (zumeist zwei Akteure). Zudem benutzt es als ›Bühnenbild‹ das vorhandene Raumambiente wie die Anordnung der Schultische und Stühle im Raum, Schultafel, Projektor, Kreide, Schwamm, Papierkorb, Kartenständer, Waschbecken etc.
Spielformen und -traditionen Auf Grund dieser Raumbedingungen zielt das Theater im Klassenzimmer auf ein klar definiertes Zielpublikum: die Schüler. Deren Erfahrungen wie auch das Raumambiente sind wesentliche Komponenten der ästhetischen Konzeption. Mit dieser Intention verweist es als Form zurück auf alte Spieltraditionen wie die der Commedia dell’Arte oder auf Traditionen der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts, als die Theater in öffentliche Räume oder andere Architekturen wie Fabrikhallen hinaus drängten. In diesen Spielräumen versuchte man nicht nur eine neue Ästhetik zu entwickeln, sondern auch ein anderes Publikum als jenes, das in den Theatern saß, zu entdecken und zu motivieren. Es galt, theaterferne, soziale Gruppen wie Hauptschüler – um ein Beispiel zu nennen: »Das hältste ja im Kopf nicht aus« von Volker Ludwig (1975), das erste Jugendstück vom Berliner Grips-Theater – für das Theater zu begeistern und es ihnen als einen Ort der Selbstverständigung anzubieten. Für die in dieser Zeit sich gründenden Freien Gruppen war das Zielgruppentheater eine wesentliche Intention ihrer künstlerischen Impulse. Und es war auch die Zeit, in der die Mehrzahl der heutigen professionellen Kinder- und Jugendtheater sich etablierte und sich zumeist als ein spezielles Theater verstand, das ein ›besonderes‹ Publikum anpeilt: Kinder und Jugendliche, differenziert nach genauen Altersstufen. Es liegt daher auf der Hand, dass zwischen dem Zielgruppentheater und dem Theater im Klassenzimmer ein enger Traditionszusammenhang besteht, auch wenn in den gegenwärtigen Diskussionen ein solcher Zusammenhang geleugnet wird: Eine ›interaktive‹ Produktion wie »Heini klaut das Klassenbuch« (1981) vom Theater rammbaff aus Hannover hat jedoch viel gemeinsam mit einem Klassenzimmerstück wie »Erste Stunde« von Jörg Menke-Peitzmeyer (2006): Beide Stücke zeigen eine angstmachende Schule und wollen Mut machen. Unterschiede gibt es allerdings in der institutionellen Anbindung: Waren in den 1970ern mit wenigen Ausnahmen 220
Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer
die Freien Gruppen die Träger einer solchen Theaterform, so sind heute zumeist die Kommunaltheater die Verfechter eines Theaters im Klassenzimmer. Dass diese nun seit ca. 2000 dieses zielgruppengerichtete Genre immer weiter ausbauen und über die Kinder- und Jugendtheater hinaus auch die Kommunaltheater ohne eine eigene Kinder- und Jugendtheatersparte ihr Angebot in diese Richtung verstärken, verdeutlicht, wie wichtig im gegenseitigen Interesse diese besondere Beziehung von Theater und Schule geworden ist. Außerdem: 1981 spielte man nicht in Schulklassen, sondern in Aulen und das auch nur mangels eigener Auff ührungsräume, damals ein existentielles Problem fast aller Freien Gruppen. Obschon in seiner Spielpraxis erfolgreich in der Szene etabliert, ist das Theater im Klassenzimmer nicht unumstritten. Es geht dabei im Kern um die Frage: Soll das Publikum zum Theater kommen oder das Theater zum Publikum? Diese Frage lässt sich nur innerhalb eines institutionellen Rahmens stellen, in dem eigene Theaterhäuser bestehen. Insofern treffen Traditionsbezüge wie der Verweis auf die Truppen der Commedia dell’Arte oder der deutschen »Komödienbanden« im 18. Jahrhundert nicht den wirklichen Sachverhalt: Diese Truppen waren gezwungen, zum Publikum hin zu gehen, weil sie über keine eigenen Theater verfügten – wie auch heute viele der Freien Gruppen. Für ein Theatermanagement, das von einer nur in ökonomischen Zwängen denkenden Kulturpolitik aufgefordert ist, die Zuschauerräume zu füllen, wird es in der Tat zum Problem, wenn Schulklassen nicht mehr ins Theater kommen, sondern das Theater zu ihnen. Denn unter ökonomischen Gesichtspunkten rechnet sich eine Aufführung für eine einzige Schulklasse für das Theater nicht, denn eine zu erlösende Einnahme kann nie einen angestrebten, bzw. durch die Kulturpolitik vorgeschriebenen materiellen Gewinn erbringen – sehr wohl aber einen ideellen, der sich leider nicht auf Euro und Cent ausrechnen lässt. Wenn sich dieses Angebot dennoch durchgesetzt hat, dann hat es mit seiner besonderen strategischen Verortung innerhalb des Betriebs zu tun.
›Ver tr iebsystem‹ Theaterpädagogik Einerseits ist Theater im Klassenzimmer ein im künstlerischen Prozess und Betrieb hergestelltes Produkt – und unterscheidet sich darin in nichts von den anderen künstlerischen Inszenierungen eines Hauses – andererseits wirkt es in die Öffentlichkeit hinein durch das besondere ›Vertriebssystem‹ Theaterpädagogik. Diese wurde in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts zunächst als Ergänzung der Dramaturgie, dann als eigenständige Abteilung gegründet, um eine intensive Vermittlung zwischen Theater und Schule herzustellen. Wenn ein Schwerpunkt theaterpädago221
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gischer Arbeit darin bestand und besteht, Schulen auf den Spielplan des Hauses neugierig zu machen und zu Theaterbesuchen zu bewegen, so hat sich die Aufgabe mit der Zeit dahin gewandelt, einem jungen Publikum überhaupt erst einmal die Welt des Sehens und Wahrnehmens, kurz: die Welt des Theaters zu erschließen. Es geht heute nicht mehr alleine darum, Kinder und Jugendliche in Vor- oder Nachbereitungen auf die ästhetischen Besonderheiten einer Auff ührung hinzuweisen, sondern es geht darum, dem jungen Publikum spielerisch durch Selbsterfahrung die Möglichkeiten des Theaters für die eigene Lebenspraxis deutlich zu machen. Wenn durch die Geschichte der Theaterpädagogik an den Theatern ein enger Bezug zwischen Theater und Schule gegeben ist, liegt es nahe, dass, wenn das Theater ›vor Ort‹ geht, die Vermittlungsspezialisten herangezogen werden. Zumindest, wenn die Stücke Probleme der Zielgruppe aufgreifen, wird neben der Auff ührung eine weitere Schulstunde angeboten, in der die im Stück aufgeworfenen Fragen verbal oder spielerisch aufgearbeitet werden, wobei die Beziehungen zwischen der vorgeführten Handlung und der Lebenspraxis der Schüler im Zentrum stehen. Auch in anderer Hinsicht ist die Person des Theaterpädagogen von Bedeutung: Als Ansprechpartner für die Schulen wird er dazu gehört, ob Theater im Klassenzimmer überhaupt in den Schulen gespielt werden kann. Dennoch wäre es falsch, Theater im Klassenzimmer als ein theaterpädagogisches Genre zu kennzeichnen: Es ist in seiner Vermittlung zwar unauflöslich mit der Theaterpädagogik – nicht zuletzt auf Grund seiner Zielgruppengerichtetheit – verbunden, hat sich aber in seiner kurzen Geschichte als eigene künstlerische Gattung etabliert. Letztendlich hängt es vom Spielplanangebot ab, inwieweit die theaterpädagogische Einbettung zwingend notwendig wird. Wo Verhalten im Schulalltag in seiner Fragwürdigkeit vorgeführt wird, braucht es ein Gespräch und für dieses einen Moderator. Wenn das Mitspiel von Kindern im Zentrum steht, braucht es einen mit theaterpädagogischen Methoden vertrauten Spielleiter. Nur böse Zungen können behaupten, dass die Theaterpädagogik im Theater im Klassenzimmer ihre Unverzichtbarkeit generiere.
Spielplanlinien In den Spielplänen dominieren nach wie vor Stücke für die Bühne im eigenen Haus. Theater im Klassenzimmer ist ein zusätzliches Angebot, das nicht den Besuch des ›großen‹ Hauses ersetzt, sondern im Gegenteil Schwellenängste zu nehmen versucht. Es sucht sein Publikum vor Ort auf, nimmt den Klassenraum als Spielanlass und führt derart vor, über welche Potentiale Theater verfügt: Entweder es verwandelt das Klassenzimmer in 222
Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer
einen magischen Raum, der für die Dauer der Auff ührung seine konkrete Zuschreibung vergessen lässt (die niederländische Tradition) oder aber der Raum selbst wird thematisch und die mit diesem Tatort verbundenen Probleme wie Lehrer-Schüler-Verhältnis, Jugendgewalt, Versagensängste etc. zum Inhalt. Daneben gibt es – allein durch die Besetzungen mit zumeist ein oder zwei Schauspielern – Überschneidungen mit anderen Genres wie dem Erzähltheater, das sich nicht durch einen bestimmten Spielort definiert und deshalb auch im Klassenzimmer stattfinden kann. Hierzu gehören zudem Klassikerbearbeitungen wie Schillers »Kabale und Liebe«, Büchners »Woyzeck« oder Hebbels »Die Nibelungen«, die auf 45 Minuten eingedampft sich zwar an den institutionellen Rahmenbedingungen eines Theaters im Klassenzimmer orientieren, aber außer der Intention, didaktisch dem Schülerpublikum große Geschichten aus der deutschen Literatur zu zeigen, nicht unbedingt als Beiträge zu einer eigenständigen Dramaturgie des Theaters im Klassenzimmer verstanden werden können. Inzwischen hat das Theater im Klassenzimmer eine vergleichbare Formenvielfalt erreicht wie das Kinder- und Jugendtheater insgesamt: Tanz-, Erzähl-, Musik- und Objekttheaterformen verbinden sich zu einem ständigen CrossOver-Experiment, das sich immer wieder neu vor Ort bewähren muss. Im Folgenden werden die beiden ›klassischen‹ Dramaturgielinien des Theaters im Klassenzimmer an Hand von Beispielen genauer beleuchtet.
Dramaturgische Modelle Einleitend wurde schon darauf hingewiesen, dass es in anderen europäischen Ländern eine längere Tradition des Genres gibt als hierzulande. Hauptsächlicher Grund ist die jeweilige Institutionalisierung des Kinderund Jugendtheatersystems. In den Niederlanden beispielsweise wie auch in Dänemark oder Schweden touren die Theater – zumeist als Freie Gruppe organisiert – durch das ganze Land und treten in Schulen auf, zumeist in den Turnhallen, aber auch mit kleineren Produktionen in Klassenzimmern. Eines der berühmtesten Beispiele aus dieser Tradition ist das 1984 entstandene »Dussel & Schussel« von Ad de Bont, das Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland viel gespielt wurde – manchmal auch im Klassenzimmer. Mitten im Unterricht öffnet sich die Tür und Dussel, Schussel hinter sich her ziehend, betritt den Raum. Schussel hat Angst vor den Fußspuren, die ihn verfolgen. Um die Angst Schussels zu überwinden, müssen sie ein Geheimnis erkunden, das in einem »Zimmer, voll mit kleinen Menschen« auf bewahrt ist. Der Klassenraum selbst wird in seinem Ambiente in seinem So-Sein akzeptiert, dennoch verwandelt dieser sich durch die poetische Komplexität des literarischen Texts in eine Anderswelt. Poetisch 223
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verschlüsselt werden in diesem Stück die Ängste von Kindern thematisch. Das Spiel will Mut machen: »Wer Angst hat vor seinem eigenen Schatten, wird die Sonne nie kennenlernen […]. Und wer seine eigenen Fußspuren fürchtet, kommt nie da hin, wo er sein möchte.« Wenn beide Figuren auch an »Dick und Doof« erinnern lassen, sind sie doch anders strukturiert: Schussel lernt seine Angst zu durchschauen und damit zu beherrschen. Das wird in einfachen Spielen wie dem »Schattenspiel« mit der Taschenlampe vorgeführt. »Dussel und Schussel« verbindet als Parabel die realen Ängste von Kindern mit fast mythologischen Beschreibungen. Und auch wenn die Figuren ständig auf das Ambiente anspielen – wie Schultafel oder Putzlappen – verwandeln sich diese, sie werden zum einen in ihrer konkreten Zuschreibung benutzt, aber durch das Spiel und die literarische Sprache bekommt das Stück eine zweite Ebene. Heleen Verburg verfährt in ihrer Parabel »Vielleicht werde ich ein Schwan« (1996) ähnlich. Konkret erscheinen im Klassenzimmer ein Mann und eine Frau, die, wie es in einer Regieanweisung heißt, »verdächtig viele Eigenschaften eines Kaiserpinguins« haben. Beide lernen sich kennen, paaren sich, schließlich legt sie ein Ei: Im tierischen Ambiente werden die Freuden und Ängste einer Zweierbeziehung in der Erwartung eines Dritten gezeigt. Diese poetische Verschlüsselung dessen, mit wie viel Liebe Kinder empfangen werden, wird noch durch den »Wind«, der (vom Band) aus dem Ei spricht, verstärkt – und zwar in einer rhythmisierten literarischen Sprache. Zwar wird in den Regieanweisungen stets bei den Auf- und Abgängen auf die Klasse angespielt, aber der Klassenraum selbst wird im Spiel nicht benutzt: Er funktioniert wie ein kleiner Bühnenraum. Von daher verwundert es nicht, dass dieses Stück hierzulande häufig auf Bühnen gespielt wurde. Die Texte von Ad de Bont und Heleen Verburg sind in ihrer Verknüpfung von realen existentiellen Erfahrungen des jungen Publikums und einer zweiten mythologisch-symbolischen Ebene von hoher literarischer Komplexität. Auch »Medusa« (2000) von Bouke Oldenhof gehört in diese Reihe: Über den rein mythologischen Inhalt hinaus ist es ein ungewöhnliches Stück, weil hier statt der üblichen zwei, vier Schauspieler auftreten und durch den beschränkten Rahmen des Klassenzimmers eine Spielführung erforderlich ist, die die Schauspieler mit einer noch größeren Nähe zum Publikum konfrontiert als dieses Genre ohnehin schon braucht. In der deutschen Spieltradition finden sich kaum Texte, die darauf zielen, den Raum magisch zu verwandeln. In »Wenn Jürgen kommt« von Jonas Knecht und Markus Joss zeigen sich Ansätze, als hier die Objekte eines Klassenzimmers animiert werden und in Form eines Krimis wird untersucht, wer das Handtuch umgebracht hat. Aber in der Konzentration auf das Spiel mit Objekten fehlt der Spielvorlage die literarische Dimension. 224
Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer
Authentizität als Darstellungspr inzip Bevor auf die deutsche Tradition eingegangen wird, seien hier noch zwei Stücke skizziert, die ebenfalls anderen nationalen Traditionen entspringen. »Mohammed« (1988) vom dänischen Baggard Teatret erzählt die Geschichte eines iranischen Paares, das auf der Suche nach dem Rektorat, um dort den Sohn anzumelden, in den Klassenraum eindringt. Nach der Spielstruktur scheint hier eine Form des »unsichtbaren Theaters« (Augusto Boal) vorzuliegen, das am Anfang sein Publikum in der Unsicherheit lässt, ob dieser Einbruch ein realer oder aber doch ein fi ktiver ist. Allerdings wird in der Einleitung der Textvorlage betont, dass das Klassenzimmer ›präpariert‹ ist, die Tische sind in U-Form angeordnet und zwei Scheinwerfer im Raum betonen den Theatercharakter der Veranstaltung: Sie »sollen den besonderen Charakter der Vorstellung zwischen Theater und Wirklichkeit hervorheben«. Andererseits jedoch wird betont: »Die Schauspieler sprechen außerdem glaubwürdig iranisch«. Dieser Widerspruch prägt die Dramaturgie von »Mohammed«, der als Sohn des Ehepaares gar nicht auftritt: Einerseits sollen die Schauspieler möglichst authentisch wirken, andererseits nicht geleugnet werden, dass dieses Spiel Theater ist. Es ermöglich von seiner Form her am Beispiel des Mannes, Reza Roshan, die exemplarische Geschichte einer politischen Verfolgung, Gefängnis und Flucht, sowie die Schwierigkeiten vorzuführen, sich mit dem Aufnahmeland zu arrangieren. Aber gerade dieser Schwebezustand in der Dramaturgie im ›Zwischen‹ von Realität und Fiktion ermöglicht in der Enge des Klassenzimmers die mit diesem Stück verbundene politische Intention der Aufklärung am Beispiel zweier Biografien, die beglaubigt werden müssen, emotional wirken zu lassen. Und es ist die Unsicherheit, die zu Beginn der Vorstellung den Zuschauer trotz Herrichtung des Klassenzimmers umtreibt, die entscheidend seine emotionale Haltung zum Geschehen prägt. Ähnlich ›funktioniert‹ auch »Mia« (2004) des Engländers Nick Wood. Hier dringt ein Romamädchen in den (unveränderten) Klassenraum ein, um die Schüler nach ihrer verschwundenen Schwester zu befragen. In der beharrlichen Suche erzählt sie die Geschichte ihrer Schwester, die sich aus der sie beengenden Familientradition gelöst hat. Auch in »Mia« wird die Authentizität der handelnden Person betont und das Publikum darüber im Unklaren gelassen, ob es einem realen oder einem fi ktiven Vorgang zusieht. Betont wird dieser Schwebezustand nicht nur durch die Glaubwürdigkeit der Spielerin, die sich demütig – die ganze Geschichte ihres Volkes ist in ihrem Körper eingeschrieben – nähert, sondern auch durch die Geschichte ihrer Schwester, die nicht linear sondern fragmentarisch erzählt wird. Zu diesem dramaturgischen Genre könnte auch »Mirad, ein Junge aus Bosnien« (1992) von Ad de Bont hinzu gezählt werden, wenn auch bei die225
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ser Geschichte, die Fazila und Djuka über die Erlebnisse ihres Neffen Mirad im Bosnienkrieg erzählen, von vornherein klar ist, dass es sich hierbei um eine theatralische Veranstaltung handelt. Mirad muss zusehen, wie seine Schwester getötet wird, wie sein Vater umkommt und seine Mutter entführt wird. Obwohl es ihm gelingt, sich wie sein Onkel und seine Tante ins deutsche Asyl zu retten, kehrt er nach Bosnien zurück, weil er fest daran glaubt, dass seine Mutter lebt. Weil das, was Mirad widerfährt, beim Zuschauer starke Emotionen auslöst, braucht Ad de Bont nicht den Schein eines ›unsichtbaren Theaters‹ – aber er braucht glaubwürdige Schauspieler, die das Publikum in der Unsicherheit zwischen real und fi ktiv schweben lassen. Dadurch, dass auch hier wie in »Mohammed« oder »Mia« die eigentliche Hauptperson – Mirad – nicht auftritt, sondern Fazila und Djuka über ihn erzählen und darüber hinaus Briefe von Mirad vorlesen, wird mit dem Mittel epischer Distanzierung gearbeitet, um dem nicht nur jungen Publikum die Möglichkeit zu geben, bei aller emotionaler Betroffenheit dem Geschehen noch folgen zu können. Was in der Überschau auff ällt: Alle drei Stücke erzählen Biografien von Menschen, die in einem fremden Land, in einer anderen kulturellen Tradition leben, bzw. gelebt haben. Diese Biografien sind zugleich Geschichten von Verfolgung und Flucht. Da dies in der absoluten Nähe zum Publikum im engen Klassenzimmer geschieht, kann sich niemand von den Zuschauern dieser Nähe entziehen. In dieser Form, die sich dabei der Mittel des Erzähltheaters bedient, wird Theater im Klassenzimmer zu einem Ort der Aufklärung, an dem die Vorurteile gegenüber dem Fremden reflektiert werden können. Dies geschieht nicht mit ausgestrecktem didaktischen Zeigefinger, sondern indem scheinbar authentische Biografien erzählt werden, die ihre Beglaubigung durch die Glaubwürdigkeit der Darstellung erhalten. Diese Stücke entwickeln einen hohen emotionalen Sog, weil sie unaufdringlich die Empathie der Zuschauer provozieren.
Eine Klasse erklär t Klamm den Kr ieg Das Theater im Klassenzimmer hatte in Deutschland seinen eigentlichen Durchbruch mit »Klamms Krieg« von Kai Hensel in der Spielzeit 2002/03, was nicht bedeutet, dass es nicht zuvor schon Bemühungen um dieses Genre gegeben hätte. Aber mit diesem Stück rückte es überfallartig in das Interesse der Öffentlichkeit. Hensel erzählt die Geschichte von dem Lehrer, »der zu alt für einen Neuanfang, zu jung für eine Frühpensionierung« ist. Dieser hat einem Schüler zum Bestehen des Abiturs einen Punkt verweigert, der daraufhin Suizid begangen hat. Die Klasse, in der Klamm nun im Deutschunterricht Goethes »Faust« behandelt, erklärt ihm in einem 226
Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer
Brief den Krieg. Und Klamm nimmt diesen an, aber er kämpft an allen Fronten. Die Frustration eines Lehrers wird derart scheinbar überspitzt vorgeführt: Was wie ein normaler Schulalltag beginnt, der den zuschauenden Schülern vertraut vorkommt, so dass sie anfangs den Schauspieler als Vertretungslehrer empfinden könnten, verstrickt sich in immer aberwitzigeren Kurven. Da packt gegen Schluss Klamm nicht nur eine Whiskyflasche im Unterricht aus, sondern legt auch eine Browning auf das Lehrerpult, im Wissen, den Kampf gegen die Institution, gegen die Kollegen und den Direktor schon längst verloren zu haben. Kai Hensel hat »Klamms Krieg« dramaturgisch überaus geschickt konstruiert. Auch er arbeitet mit dem Mittel der Unsicherheit, ob der Zuschauer einem realen oder einem fiktiven Vorgang zuguckt. Verschärft noch dadurch, dass dieser Klassenraum nun gar nicht verfremdet, sondern als das benutzt wird, was er auch in der Wirklichkeit ist, ein Raum der Unterrichtsvermittlung. Alle im Raum vorhandenen Requisiten werden im Spiel in ihrem ›So-Sein‹ benutzt, bekommen im Spiel keine ›uneigentliche‹ Bedeutung. Kurz: Das Klassenzimmer bleibt Klassenzimmer. Wo beginnt aber dann das Theater? Hensel setzt in seinem Stück auf zwei Ebenen an. Die eine bedeutet mit seinem Perspektivwechsel einen Tabubruch: Schülern vorzuführen, wie es in ausgebrannten Lehrern aussieht, die noch weit weg von jeder Pensionsgrenze sind und zudem gerne Lehrer sind. Was soll Schüler an der Befindlichkeit von Lehrern interessieren? Zu begreifen, dass Lehrer und Schüler durchaus gemeinsam unter dieser bürokratischen Unterdrückungsorganisation namens Schule leiden, dürfte für manchen Schüler einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn ausmachen. Sicher gehört dieser Perspektivwechsel – im Jugendtheater den Fokus auf den Erwachsenen zu richten – mit zum Erfolgsgeheimnis dieses Stückes, aber stärker wirkt dessen literarische Qualität. Denn Hensel entwickelt überaus geschickt aus der Grundsituation des Unterrichtens eine Dramaturgie der Zuspitzung: Was scheinbar normal beginnt, erweist sich schnell als Kriegszustand: Die Klasse erklärt Klamm den Krieg und Klamm nimmt den Krieg in einer Weise an, wie es die Klasse wiederum nicht erwartet hat. Damit ist aber eine Spirale in Gang gesetzt, die in ihren Zuspitzungen und aberwitzigen Drehungen sich weit von der Realität entfernt, aber dennoch immer durch sie geerdet bleibt. Kurz: Hensel handhabt die Methode der zuspitzenden Verdichtung grandios – und das macht »Klamms Krieg« zu einem wichtigen Stück Literatur.
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Klamms Kr ieg und die Folgen Mit dem Erfolg von »Klamms Krieg« erscheint nun das Theater im Klassenzimmer definiert: Dieses Genre beschäftigt sich in absoluter Nähe zu seinem Publikum und ohne Theatertricks mit Problemen vor Ort, also mit Problemen, die Lehrer haben, z.B. mit Gewalt, oder solchen, die zwischen Lehrer und Schüler herrschen. Theater im Klassenzimmer definiert sich also durch seine Stoffe, die Probleme aus der Institution Schule oder aus dem Umkreis dessen, was Schüler als Probleme erleben, aufgreifen. »Theater braucht keinen anderen Ausweis als den Spaß«, betont Bertolt Brecht im »Kleinen Organon« (Brecht 1953), doch könnte man an Hand der Problemlastigkeit in der deutschen Tradition des Theaters im Klassenzimmer fragen, wo denn der Spaß bleibt? Da muss sich ein Lehrer damit auseinandersetzen, dass er einem seiner Schüler Gewalt angetan hat (Manuel Schöbel [2001]: »Alles auf Anfang«), mit dem Gefühl von Schülern an Montagen, wo man am liebsten alles zusammen schießen möchte (Sven Gesse/Lutz Schäfer [2000]: »I don’t like Mondays«) oder Schulangst, weil man sich nicht mit den Aggressoren in Sachen Mobbing verbünden möchte (Joan MacLeod [2004]: Gestrandet). Ein Stück wie »Erste Stunde« von Jörg Menke-Peitzmeyer, in dem ein neuer Schüler die Klasse auffordert, in den nächsten fünf Minuten mit ihm zu machen, was man wolle, und ihn danach in Ruhe zu lassen, arbeitet mit dem Moment der Überraschung in einem eingeschliffenen Alltag. Trotz der genauen Studie von SchülerMobbing bleibt dieses Stück im kruden Realismus haften. Wie beispielsweise auch in »Flasche leer« von Thilo Reffert, in dem ein Schauspieler in einer Schulklasse auftreten soll, um vor dem Alkoholismus zu warnen, aber selbst der Flasche verfallen ist. Anders als in »Erste Stunde«, das sich abgesehen vom Grundeinfall ganz in seinem Realismus einigelt, hat »Flasche leer« eine zweite Ebene, in der der Schauspieler über seine wirklichen Träume und Versagensängste reflektiert. Die einfachste Definition, die auf der Hand liegt, ist: Alles, was professionelle Theater in Klassenräumen aufführen, ist Theater im Klassenzimmer. Hierin liegt die Rechtfertigung für viele Inszenierungen, die für die Bühne geschaffen worden sind und nun in Klassenzimmern aufgeführt werden, wobei denn das Klassenzimmer als Bühne hergerichtet wird. Um dann möglichst in diesem Raum alles aufzuführen, was das Theater so bietet, vom Klassiker »Kabale und Liebe« in einer Zweipersonenfassung bis hin zu Erzähltheatertexten wie »Warum trägt John Lennon einen Rock« von Claire Dowie. Mit einer solchen Definition allerdings lässt sich das Theater im Klassenzimmer nicht abgrenzen vom ›gewöhnlichen‹ Spielplan der Kinder- und Jugendtheater. Theater im Klassenzimmer im engeren und eigentlichen Sinne ist ein Theater, das zum einen die Örtlichkeit selbst, 228
Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer
das Klassenzimmer also, zum Spielort macht und alle dort vorhandenen Materialien benutzt (und nur ausnahmsweise eigene mitbringt), sowie im weitesten Sinne Probleme, die mit diesem ›Tatort: Schule‹ verbunden sind, verhandelt als ein Theater, das deutlich macht, dass es die Lebenswirklichkeit der Menschen, die an diesem Ort zusammenkommen, in allen Widersprüchen recherchiert hat, dass es Partei ergreift und Sympathie mit diesen Menschen hat. Aber das allein reicht noch nicht: Es darf nicht, wie seine gelungenen literarischen Produkte zeigen, allein auf der Ebene der Abbildung, des bloßen Realismus stehen bleiben, sondern es muss eingebunden sein in eine zweite Ebene, in der die ›realen‹ Handlungen in einem symbolisch-mythologischen Feld aufgehoben werden, so dass sich existentielle Erfahrungen junger Menschen darin widerspiegeln können. Wenn dies gelingt, ist Theater im Klassenzimmer nicht nur ein geglücktes Zielgruppentheater, wie es in den 1970ern Jahren des letzten Jahrhunderts angestrebt wurde, sondern eine wunderbare Ergänzung zum Repertoire der professionellen Kinder- und Jugendtheater, insofern als es Menschen vor Ort erreicht und indem es vor Ort agiert, sich auch mit den Problemen dieses Ortes auflädt. Beide – Theater wie Schule – profitieren vom Theater im Klassenzimmer: die Schule, weil sie, ohne sich bewegen zu müssen, einen Spiegel erhält, das Theater, weil es in dieser Begegnung sich mit einer ganz neuen Welthaltigkeit aufladen kann. Und, weil beide in diesem Sinne profitieren können, sind beide auch auf einander angewiesen – und das nicht nur in Klassenräumen, sondern auch in den Zuschauersälen der Theater.
Literatur Baggard Teatret (1990): »Mohammed«. In: Marion Victor (Hg.), Spielplatz, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Bont, Ad de (1988): »Schussel und Dussel«. In: Marion Victor (Hg.), Spielplatz, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Bont, Ad de (1994): »Mirad ein Junge aus Bosnien«. In: Marion Victor (Hg.), Spielplatz, Bd. 7, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Brecht, Bertolt (1953): »Kleines Organon für das Theater«. In: Versuche 27/32, 12, Berlin: Suhrkamp. Hensel, Kai (2002): Klamms Krieg, Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH. Schneider, Wolfgang/Loewe, Felicitas (Hg.) (2006): Theater im Klassenzimmer. Wenn die Schule zur Bühne wird, Baltmannsweiler: Schneider Verlag. Verburg, Heleen (1998): »Vielleicht werde ich ein Schwan«. In: Marion Victor (Hg.), Spielplatz, Bd. 11, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. 229
Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater Thomas Lang
»Survival of the fittest«, »Interview mit einer Orange«, »lego-vater-land«, »Ich ist ein Anderer«, »Die kalten Kinder«, »Seni seviyorum«, »Sinfonie mit Ball«, »Die Liebenden in der Untergrundbahn«, »Mission possible«, sind alles Projekttitel, die als Kooperationsprojekte zwischen Theatern und Schulen in Berlin entstanden sind. »Die Bühnenkünstler treffen auf die spontane Kreativität der Kinder und Jugendlichen, die den […] Reiz gemeinschaftlicher künstlerischer Prozesse kennen lernen – [das ist] ein wechselseitiger Gewinn […].« (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2008) Modellversuche werden gestartet, gelungene Beispiele auf Festivals präsentiert, Tagungen und Kongresse veranstaltet. Viel wird gesprochen zurzeit über das Zusammenwirken dieser beiden mächtigen Monopolbetriebe, dem der Schule, – ständig in der Diskussion und auch unter Druck – mit den Institutionen des Theaters, und dort vorzugsweise mit dem deutschen Stadttheaterbetrieb, ebenfalls kein kulturpolitisch unumstrittenes ›Komplettsystem‹. Und es liegt nahe und klingt plausibel, Kooperationen zu verstärken. Die Schule ist gesellschaftlich auf- und herausgefordert, ihre tradierten Vorgehensweisen und Unterrichtsstrategien zu befragen. Entwicklungen einer entfalteten Theaterpädagogik könnten dazu Hinweise geben. Alles klingt nach einer sogenannten ›win-win-Situation‹. Wieso also nicht mehr gemeinsame Projekte, gegenseitige Wahrnehmung und öffentliche Förderungen wie in Berlin, Sachsen-Anhalt, Hamburg und anderswo? So einfach allerdings ist das nicht. Aus folgenden Gründen: »Modellversuch Künstler und Schüler« lautete der Name eines vielfach praktizierten und übrigens auch hoch subventionierten Modellversuchs der 1970er 231
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Jahre, der das Mitwirken von vornehmlich Theaterkünstlern im Schulunterricht und die verstärkte Zusammenarbeit mit Theatern in den Mittelpunkt stellte und zu beachtlichen Ergebnissen gelangte (vgl. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 1980). Allerdings sind diese Projekte nur dürftig dokumentiert und der Modellversuch wurde von den jeweils einzelnen Bundesländern sang- und klanglos eingestellt und eingestampft. Warum? Nichts Genaues weiß man nicht. Zu kompliziert vermutlich die Einbeziehung der nicht für das Schulsystem ausgebildeten Theater-Pädagogen, zu andersartig die nicht wissensorientierten Lernvorgänge, zu komplex und zu kompliziert wohl die gesellschaftlichen Ansprüche an schulisches Lernen. Zu umstritten auch das, was unter der Vermittlung von Kunst und Kultur und ihrer Einbeziehung in das pädagogische Feld verstanden und heute allgemein als »kulturelle Bildung« benannt wird. Andere Großinstitutionen (unter anderem z.B. die evangelische Landeskirche, aber auch die Gewerkschaften) haben ebenfalls mehr oder minder unbeobachtet und kaum öffentlich diskutiert ihre Konzepte der 1990er Jahre, die sich kulturell orientierten Kommunikationsstrategien, Veranstaltungsformaten und Formen des Zusammenwirkens mit den Institutionen der Kulturpraxis zu öffnen suchten, zurückgefahren und reduziert. Die Indizien dafür sind aussagekräftig. Das heutige Konzept dort lautet: Zurück zum Kerngeschäft, Konzentration auf die eigentliche Aufgabe statt Vernetzung, Profilverschärfung statt Profilerweiterung. Eine Position, die übrigens von zahlreichen Theatern geteilt wird und ebenfalls nicht ohne gute Argumente. Wie sonst sollte man sich das offensichtliche Missverhältnis zwischen kulturpolitischen Forderungen und Erkenntnissen auf der einen Seite und kulturpolitischer Handlungswirklichkeit auf der anderen erklären können? Auch unter den für die Schule gesellschaftspolitisch verantwortlich Handelnden mehren sich Stimmen, die fordern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf die ›harten‹ Fächer und gesellschaftliche Forderungen nach kommunikativen Kompetenzen, nach Umgangskompetenz mit den neuen Medien, nach Wertevermittlung allgemeiner Art und anderem attraktiven Beiwerk abzuwehren. Die alte Schule scheint überfordert mit den steten Forderungen nach schneller und mehr und anders und neu.
Darstellendes Spiel als Kerngeschäf t Woher also die neueren Initiativen und zahlreicher werdenden Forderungen nach mehr und besserer Zusammenarbeit zwischen Theater und Schule, zwei so starken Partnern, eigensinnig und störrisch bisweilen, beide stets bedacht darauf, gehört zu werden, ernst genommen zu werden, respektiert zu werden in ihren Stärken, Eigenarten und Möglichkeiten? 232
Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater
Um dieser Frage nachzugehen, will hier noch einmal die bereits vorhandene Praxis mit den dazugehörigen Interessensebenen – provozierend knapp – dargestellt sein. Darstellendes Spiel fasst heute das zusammen, was mit Theater in der Schule gemeint ist. Ein erkämpfter Begriff der 1980er Jahre, der seinerzeit das Schultheater ablösen, erweitern, reformieren wollte. Und das war auch notwendig, wurde Theater bis dahin (und sicher in nicht unerheblichem Maße bis heute) verstanden als die Form, Dramen, Klassiker des Deutschunterrichts zumeist ungekürzt in der Schulaula zu präsentieren, mehr als Energieleistung im Auswendiglernen, in Manier eines Steh- und Sprechtheaters als in überlegter, aus heutiger Sicht und mit einer den Akteuren zugewandten Konzeption. Dem zugrunde lag und liegt ein Theaterbegriff ex cathedra, der Theater in der Schule als ›Belehranstalt‹ sah und die vermeintlichen Traditionen des Stadt- und Staatstheaters, wie sie allerdings kaum noch präsent sind, eher imitierten als nutzvoll für sich und das schulische Leben gestalteten. Darstellendes Spiel dagegen wollte mehr sein als ein Reformbegriff. Es wollte ein Theater sein, welches zumeist ohne literarische Vorlagen auskommt oder diese nur verkürzt nutzt und wenn, dann ironisch kommentierend und brechend, erfindungsreich gestaltet aus dem Medienverständnis der Beteiligten, die zumeist Schüler der gymnasialen Oberstufen waren. Eigene Themenfindungen standen gegen literarische Vorlagen. Materialsammlungen, politisches Argumentieren, chorisches Theater, choreografische, rhythmische Mittel wurden als Ausdrucksform gesucht, mit bildhaften, oft nur illustrierenden Abbildungen eigener Thesen, Bildern, Assoziationen, abwechslungsreich kombiniert, seltener collagiert. Projektorientierte Vorgangsweisen bestimmten die pädagogischen Prozesse, die Agierenden am Erfindungs- und Gestaltungsprozess aktiv und selbstbestimmt beteiligend. Szenisches Material wurde nicht mehr nur im Kanon der Theaterliteratur gesucht, sondern im Film und in anderen Popularkulturen, die Themen vorzugsweise im eigenen Alltag, im schulischen, sozialen und familiären Umfeld. In dem Maße, in dem die Formate des Theaterspiels in der Schule, – des Darstellenden Spiels – flexibler gefasst wurden, entwickelten diese sich weiter. Das Schultheater, also die Herstellung einer Auff ührung mit dem Ziel und Zweck, diese nach einer Arbeitsphase eines Schuljahres vor einem möglichst öffentlichen Publikum und auf den entsprechenden regionalen wie überregionalen Festivals des Schultheaters aufzuführen, strahlte Attraktivität aus. Und es regte an zur Einbeziehung von theatralen Vorgangsweisen, spielerischen Formen und ersten gestalterischen Versuchen in den Unterricht. Nicht also die Theater-AG oder das Leistungsfach oder Wahlpflichtfach als Alternative zu dem künstlerischen Fach Musik 233
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und Bildende Kunst allein wird gesucht und genutzt, sondern das Spiel mit der Rolle, der Situation, der strukturierten Gestaltung im pädagogischen Raum. Und die Schule ›strahlte‹ weiter aus. Theaterspiel, theaterpädagogische Vorgehensweisen und szenische Formate finden sich in der Folge wieder in der sozialpädagogischen und therapeutischen Praxis, sogar in der betrieblichen Bildung und dort von der Lehrlingsausbildung 1 bis ins Manager-Coaching. Schul- und kulturpolitisch wurden und werden stets die sozialen und kommunikativen Werte des Theaterspiels in der Schule hervorgehoben und (zu) oft quantitativ inflationär durchdekliniert. Die Helene-LangeSchule Wiesbaden schaff te es sogar zur öffentlichen Wahrnehmung im »Spiegel«. Mit einem umfangreichen Theaterkonzept als wesentlichem Bestandteil erfolgreicher Schulkultur begründete die »Pisa-Gewinnerin« und damalige Rektorin Enja Riegel diesen Erfolg. Theaterleute sollten allerdings nicht zu arrogant werden und Theaterspiel als das pädagogische »Allheilmittel für sämtliche Gesellschafts-, Bildungs- und Globalisierungsmiseren«, verkaufen, wie es in »Theater heute« angemahnt wurde (Slevogt 2007: S. 6f.). Natürlich ist diese Bedeutung des Theaterspiels und seine positiven Auswirkungen auf das Lehren und Lernen auch in den Methoden begründet, die dem Kunstprozess selbstverständlich innewohnen: den gruppenorientierten und eigenaktiven Prozessen und den pädagogischen Vorgehensweisen, die selbstverständlich auch im Mathematik- oder Sportunterricht angewandt werden oder werden könnten.
Vom Darstellenden Spiel zum Schulfach Theater Der Bundesverband Darstellendes Spiel BVDS2 (die schulisch beliebte Abkürzung ›DeEs‹ für das Darstellende Spiel klingt mir immer etwas nach einer bedrohlichen Erkrankung) erörtert zurzeit die Frage, ob eine Umbenennung bzw. Rückkehr des Begriffs ›Darstellendes Spiel‹ in ›Theater‹ sinnvoll und hilfreich sein könnte bei der Durchsetzung des zentralen kulturpolitischen Ziels, der flächendeckenden Einführung als Schulfach (vgl. Mieruch 2008: 28f.). Man sucht so vermutlich die Nähe zu den etablierten Fächern Kunst und Musik und orientiert sich wieder stärker – nach langen 1. Gemeint ist hier beispielsweise die Lehrlingsausbildung im »dm«-Drogeriemarkt. 2. Der BVDS hat sich 2009 in BVTS (Bundesverband Theater in Schulen) umbenannt.
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Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater
Jahren der Abgrenzung – an den Institutionen der Hochkultur, den Stadtund Staatstheatern, die Erhebliches in Sachen Kontakt zu einem jugendlichen Publikum unternommen haben und ästhetisch mit dem Schultheater durchaus konkurrieren. Es liegt nahe, hier den Schulterschluss, die Solidarität und sicher auch ein wenig den Schon- und Weiheraum der Hochkultur nutzen zu wollen. Als ein Indiz dafür mag das starke Interesse vor allem einzelner schulischer ›theaterpädagogischer Lehrkräfte‹ gelten, sich den Rat, die Hilfe bei Fortbildungen, in der Institution Theater zu holen, sowie die Beachtung schulischer Aktivitäten durch ›Profis‹ zu erlangen. Auf die Mittlerrolle der Theaterpädagogik an Theatern dabei wird noch einzugehen sein. Klar ist, dass die Schultheater-Szene – graduell anders als z.B. die außerschulische theaterpädagogische Praxis im sozialen Feld – Unterstützung in Form von Beratung und Fortbildung in der ›Professionalität‹ der Institutionen sucht. Auch wenn sie – als gegenteilige Tendenz – in ihren Verbänden diese gerne selbst organisiert und Lehrer zumeist von Lehrern ausbilden lässt. Dieses Verhältnis birgt also in sich durchaus ›magnetische‹ Züge und leidet sicher vor allem darunter, dass eine profunde Ausbildung zum Theaterlehrer an der Schule bislang nur in Fragmenten vorhanden ist. So bleibt das Vage, Ungefähre der Kunst als undurchschaubares Faszinosum ebenso existent, wie auch das Interesse des Schultheaters am Theater als ›Feenkuss‹ und als ›Leben am Feuilleton‹ – statt eines belastbaren Handwerks. Das große Ziel, Theater in der Schule als ›Fach‹ zu etablieren, scheint bei aller aktuellen Attraktivität kunstpädagogischer Vorgänge in Bildung und Gesellschaft weiter entfernt denn je. Zu wenig zeitgemäß erscheint das alte Medium Theater; Tanz und Neue Medien nehmen immer mehr Aufmerksamkeit ein. Die Einrichtung des übergreifenden Fachs Kulturelle Bildung oder auch Darstellende Kunst, die Theater, Musik und Bildende Kunst vereinen, aber auch die technischen Medien, Popularkulturen, Tanz und Bereiche der Kulturwirtschaft nicht aus dem Blick verliert, mutet da zukunftsfähiger an.
Kunst vermittlung und Besucher forschung Das Modellprojekt Theater und Schule will die zuständigen Institutionen enger zusammenführen, zu konkreten Kooperationen auf ›Augenhöhe‹ gelangen und im besten Falle gegenseitiges Lernen befördern. Die Wirklichkeit ist eine andere. Auf meine neugierige Frage, welches Theater er mit seinen Kindern besuchen würde, antwortete mir ein begeisterter Theaterlehrer nach einer erfolgreichen Theateraufführung stolz: Wieso? Wir machen unser Theater selbst! Man sieht und weiß: Das Zusammen235
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wirken von Theaterspiel und Theater wahrnehmen, der Besuch anderer Theaterauff ührungen ist nicht selbstverständlich. Und das gegenseitige ›anschauliche‹ Lernen ebenfalls eher die Ausnahme. In kleineren Städten übernehmen zudem Schultheaterauff ührungen – in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in ihrem Präsentationsduktus – gerne auch schon mal die Aufgabe des Kulturanbieters. Angelehnt an Spielpläne weiter entfernt liegender Stadttheater wird hier Theater ›gespielt‹ und dabei macht sogar die Presse mit und feiert das Schultheater als ›fast wie die Profis‹. Und dass immer wieder mal, aus der Perspektive des Theaters betrachtet, ganz schlechte Auff ührungen an Stadttheatern als ›Schultheater‹ tituliert werden, hilft ebenfalls nicht wirklich weiter. Die Stadttheater und Landesbühnen, die Schauspielhäuser in den Metropolen und manche Freie Theater haben die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Fragen kultureller Bildung und die Nutzung pädagogischer Verfahren längst erkannt. Ausgeprägte Angebote dazu wurden entwickelt, von Einführungsinformationen über Begleitprogramme bis zu Jugendclubprogrammen. Der Intendant Tom Stromberg am Schauspielhaus Hamburg war es wohl, der öffentlich konstatierte, dass sich zeitgenössische Theaterkunst nicht mehr von selbst vermittle, sondern der Heranführung und Erklärungen, das Regelwerk begleitend, bedürfe. Der Traum der Kunst, einzig aus sich heraus verstanden zu werden, für sich selbst zu sprechen und einen sinnlichen Eindruck zu hinterlassen, der ohne Erklärungen auskommen müsse, scheint ausgeträumt. Das Interesse der Theater (wie das der anderen Künste) besteht heute nun vermehrt darin, ›zur Kunst zu bilden‹ und, wie es einmal hieß, den Kreis ›der Eingeweihten zu erweitern‹. Zu den Aufgaben der zu diesem Zweck an Theatern tätigen Theaterpädagogen gehört es also, das vorhandene wie ein zukünftiges Publikum zu ›unterrichten‹ und eine Sprache in der direkten Kommunikation mit diesem zu finden. Das Ziel: Vorurteile abbauen, auf Gewinne hinweisen, Missverständnisse auf klären und die Mehrdeutigkeit des theatralen Vorgangs aufschließen helfen. Die Interessen dabei sind klar. Dem Theaterbetrieb geht es darum, sein Publikum zu pflegen, zu erhalten und wenn irgend möglich zu erweitern, auf jeden Fall stets zu erneuern. Dass dieses Vorgehen grundlegende Veränderungen des Theaterbetriebs zur Folge haben wird und nicht nur eine Reihe emsiger Theaterpädagogen beschäftigt, die als Scouts, Menschenfänger, Besucheranimateure fungieren, muss allerdings klar werden. Aus diesen Schritten folgert man nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Überlegungen. Und so produzieren Theaterpädagogen vermehrt szenische Vorgänge und Ergebnisse mit gesellschaftlichen Gruppen, die nicht ohne weiteres zum Besucherkreis eines vornehmlich literarisch in236
Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater
tellektuellen Theaterbetriebs gehören. Das Thalia Theater Hamburg bietet z.B. Projektgruppen und Festivals für Jugendliche und Erwachsene mit Handicaps an. Das Schauspielhaus setzt sich mit dem Festival »Herzrasen« inhaltlich mit dem Thema des Alterns in dieser Gesellschaft auseinander. In Magdeburg und anderswo findet eine lebendige und vielfältige Jugendclubszene statt. Am Schauspiel Hannover sind in der »playstation« bemerkenswerte Theaterprojekte mit Beteiligung jugendlicher Akteure aus den verschiedensten gesellschaftlichen Milieus zum beachteten Standard gewachsen. Das Schauspiel Essen entwickelt Stadterkundungsprojekte und bietet älteren Migranten und Asylanten die Bühne als politischen Ort. »Bastard München« lautete der Titel einer Veranstaltungsreihe, die den Gedanken und Stimmen Münchener Künstler mit Migrationshintergrund Stimme und Gehör gab. Die Interessen des Theaters an diesen Gruppen und Generationen werden so symbolisch dokumentiert und es kommt damit strategisch wie engagiert den gesellschaftlichen und vor allem kulturpolitischen Forderungen nach. Beste Beispiele dafür sind umfangreich und nahezu flächendeckend. Sogar das Musiktheater hat diese neueren Kommunikationsformate für sich entdeckt und mit EducationProjekten oder Hip-Hop-Opern – auch wenn deren künstlerischer Wert umstritten ist – sich zumindest symbolisch einer jungen Generation zugewandt. Konzerte und Opern speziell für Kinder und Jugendliche gehören bereits zum Standard. Inwieweit die diesen Aktivitäten folgenden Hoffnungen nach Veränderung der Besucherzahlen erfüllt werden, sei dahin gestellt. Ob die partizipativen Projekte die Häuser letztendlich öffnen und attraktiver für mehr Besucher und andere Milieus machen, ebenso. Erst, wenn diese Aktivitäten einen künstlerischen Eigenwert entwickeln und zum selbstverständlichen Repertoire eines Hauses werden, wie in manchen anderen europäischen Kulturlandschaften Beispiele eindrucksvoll zeigen, werden sie sinnvoll eine Theaterkultur erweitern. Könnten die Ballett-Projekte der Berliner Philharmoniker, die Simon Rattle aus England importiert hat (Rhythm is it!), als Beispiel dafür gelten? Im Ansatz sicher.
Ausdrucksw ille, Kunstbetrachtung oder Mitteilungsinteresse? Doch kontinuierliche und qualitativ entfaltete Projekte der Zusammenarbeit mit Schulen gehören (noch) nicht zum selbstverständlichen Repertoire der Stadttheater-Theaterpädagogik. Dabei werden diese Serviceleistungen der Theater und ihr Interesse an theaterpädagogischen Unterrichtsvorgängen ›zur Kunst‹ vor allem in der Kooperation mit der Institution Schule interes237
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sant. Denn die Theater sind auf den Besuch von Kindern und Jugendlichen elementar angewiesen, wenn sich ihre Angebote speziell an diese Altersgruppe mit Auff ührungen von Kinder- und Jugendstücken wenden oder aber an die Schüler der gymnasialen Oberschule mit Auff ührungen der literarischen Klassik, manchmal auch zeitgenössischer Auff ührungen. Stücke wie »Top Dogs« von Urs Widmer haben zwar Einzug gehalten in den Lehrplan des Deutschunterrichts und andere Theatertexte auch, aber der Wind weht doch eher von der anderen Seite. Während vor etlichen Jahren die Schüler im Dramenunterricht das lasen, was am Stadttheater gespielt wurde und ergo die Studienräte vor Bekanntgabe der Schul-Lektüre den Spielplan der örtlichen oder erreichbaren Stadttheater und Landesbühnen zu Rate zogen, studieren die Theater heute die Zentralabiturthemen und -stoffe, die sie als Position im Spielplan fest eingeplant haben und nach denen ein erfolgsorientierter Spielplangestalter sich zu richten hat. Als chic in Theaterkreisen gilt es mittlerweile, sich nicht danach zu richten. Ist da Konkurrenz im Ex- und Import der Bildungsgüter spürbar, Streit um die Meinungshoheit im Wertekanon? Deutlich bleibt: Wenn es ein Interesse gibt, im Klassenverband eine Theaterauff ührung in Erwägung zu ziehen, ist das Theater bestes Beispiel für perfekten Service und jegliche Art der Unterstützung: Spielerische Vor- und Nachbereitung, Vorstellungsgespräche, Schauspielerbesuch danach im Unterricht mit Diskussionen über das Making of und andere Backstage-Themen, Autogramme und Anfassen inklusive. Umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien über Autor, Stück und Theatergeschichte gehören ebenfalls zu dieser Angebotspalette wie Patenklassen zum Stück mit wochenlanger Begleitung, Premierenfieber inklusive, und Schülertexte und Kommentare im Programmheft: Engagierte Schulpädagogen, die Theaterbesuche mit den ihnen Schutzbefohlenen als sinnvolle Bestandteile des schulischen Lebens erachten und Theaterpädagogen, die unterstützen, bestätigen, helfen und motivieren, gehen hier eine im deutschen SchulTheater-Besuchssystem durchweg gelungene, kooperative, und überaus sinnvolle Verbindung ein. Und auch die Gegenleistungen der Theater für kontinuierlichen und treuen Theaterbesuch lassen nicht auf sich warten. Das Theater räumt (meist zu Spielzeit-Ende im Frühsommer) die Bühnen und veranstaltet Schultheaterwochen, Auff ührungen der Jugendclubs, Lesenächte und Projektwochen. Immer da, wo am Theaterbesuch und an der theaterpädagogischen Praxis in der Schule interessierte Pädagogen dem nachgehen wollen, finden sich an Theatern interessierte und kompetente Theaterpädagogen, diese zu unterstützen. Die Interessen sind klar verteilt, der Markt organisiert und alles bestens vorbereitet. Doch: Neuere spielerische Vorgänge in Vor- und Nachbereitungsversu238
Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater
chen, neuere Formate, Theaterlabore, die einem eher forschenden, anstatt einem sich repräsentierenden Prozess folgen, Formen also, die in ihrem methodischen und inszenatorischen Denken nicht Konventionen des schulisch-kognitiven Unterrichtsverfahrens lediglich kopieren und auf das Theater übertragen, sondern ihre Methodik aus dem Gegenstand selbst, aus den Gesetzmäßigkeiten des Theaters erarbeiten und zu entsprechenden szenischen Ideen gelangen, sind eher die Ausnahme. Und zwei weitere Probleme tun sich auf. Zum einen: Die Theaterpraxis in der Schule, das Interesse an eigenem theatralen Schaffen in der Schule darbt. Nur im besten Fall ist sie den schulisch transportierten Zwängen von Kognitivem und Verständlichem nicht unterworfen, zu wenig sucht die Theaterpraxis in der Schule das Verrätselte, das im ersten Ansehen Unverständliche, zu selten ist sie an dem Regelwerk einer Handwerklichkeit und den Entwicklungsvorgängen der Kunst sichtbar interessiert. Ebenfalls muss das Theater in der Schule stets danach befragt werden, ob es ihm an vorderster Stelle um Ausdruckswillen, Kunstbetrachtung und Mitteilungsinteresse geht, oder eher doch darum, anerkannt zu sein, öffentlich sich selbst darstellen, sich präsentieren zu können, – in dieser Aufmerksamkeitsgesellschaft, in der das Interesse, selbst wahrgenommen zu werden, bedeutend geworden ist, und das Wahrnehmen anderer und des anderen zurückgedrängt wird. Anders übrigens in den Fächern Musik und Bildende Kunst, in denen ein entwickeltes Curriculum vorliegt, das sowohl zur Auseinandersetzung mit professioneller Kunst und zu ihrer sinnfälligen Rezeption anregt und verhilft, als auch zu eigenen Erprobungen und Übungen imitierender wie experimentierender eigengestaltender Art anleitet und verführt. Und: Nur im besten Fall ist professionelles Theater in seiner Aufführungspraxis für ein erstes Publikum von Kinder und Schülern nicht unnötig anstrengend. Manchmal sogar unzulässig überpädagogisch, leichtfertig und vereinfachend bei theatralen Erklärungsversuchen zu gesellschaftlichen Konflikten. »Stop teaching« lautete der Titel eines Festivals zu neueren Formaten des Kinder- und Jugendtheaters, dass diese Haltung sich selbst herausfordernd einnahm und näher untersuchte. Die Direktheit und Unmittelbarkeit eines jugendlichen Publikums, dessen Denken und seine gesellschaftlichen Fragen als Thema, stehen dann doch einem schwerfälligen Theaterapparat gegenüber, der nur in Ausnahmefällen Theater als Ereignis zu gestalten versteht, als attraktive und intellektuelle (ja!) Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit.
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Die Zusammenarbeit muss sich entw ickeln ›Auf Augenhöhe‹ nun hieße, gemeinsam verlässliche und langfristige Projekte der Zusammenarbeit zu entwickeln, abseits der normalen Praxis des vernünftigen Zusammenlebens der Großmächte Schule und Theater. Das bedeutet den Anderen wahrzunehmen und voneinander zu lernen, wirklich und ernsthaft: als Schule pädagogische Praxis als ästhetischen Vorgang zu begreifen und als Theater Beiträge zur Neubestimmung von Lernvorgängen zu leisten. Man wird davon ausgehen müssen, dass der Modellversuch Künstler und Schüler der 1970er Jahre daran gescheitert ist – und von Scheitern wird man sprechen müssen, wenn ein Modellversuch nicht in die etablierte Praxis übernommen wird –, dass die Künstler mit den gefühlt einengenden und auf Benennbarkeit und Überprüf barkeit angelegten Lernvorgängen nicht umzugehen wussten. Auch wohl nicht mit den schulischen Zeit-Rhythmen, Ritualen und Konventionen. Ihre Forderung lautete sicher und lautet nach wie vor: »Priorität hat die Ästhetik des Theaters. Schultheater ist kein Mittel, […] das in Wahrheit andere Interessen verfolgt. […] Denn das gehört wesentlich zum künstlerischen Tun, dass es den Blick offen hält, nicht im Vorhinein weiß, wo die Reise enden soll. Künstlerische Praxis […] peilt nicht die fertigen Lösungen an. […] wer Kunst macht, muss sich den vom Gegenstand gestellten thematischen und ästhetischen Fragen […] aussetzen« (Kurzenberger 1999: 62f.), so der Hildesheimer Theaterwissenschaftler Kurzenberger in seinen »Anregungen für eine innovative Lehrerbildung im Fach Theater.«
Auf der anderen Seite war es sicher für die Lehrer und Schüler wenig nachvollziehbar, den ins ›offene‹ blickenden, wenig zielführenden und nicht ›verzweckten‹ Prozessen und unüberschaubaren Didaktiken zu folgen und sie in den Unterricht zu integrieren. Heute ist man weiter. Die Schule hat sich für neuere pädagogische Vorgänge und Prozesse längst geöffnet, versteht die Zusammenarbeit mit Institutionen des kulturellen Lebens als Bereicherung und erkennt die Bedeutung laborähnlich forschender und erprobender Vorgänge. Und beachtet ganz nebenbei und selbstverständlicher die den künstlerischen Prozessen einhergehenden sozialen und kommunikativen Kompetenzen, die Theaterprozesse wie alles künstlerische und kooperative Tun mit sich bringen. Und: Die Theaterpädagogik hat zudem mittlerweile ein methodisches Repertoire erarbeitet, dass ohne weiteres schulisch nutzbar ist und künstlerische Attitüden aufzufangen weiß. Allerdings sind das Richtungen und Entwicklungen, nicht aber die gesamte Wirklichkeit. Und will man ›auf Augenhöhe‹ kooperieren, verlangt dies lange Prozesse, Erfahrungen und zu erwerbendes gegenseitiges Ver240
Auf Augenhöhe. Kooperationsprojekte zwischen Schule und Theater
trauen, das seine Zeit braucht, Räume und Rahmen, denen sich schulischen Notwendigkeiten und künstlerischem Durchhaltevermögen schnell verschließen. Nimmt man dieses an, übersteht man die Begeisterung des Moments, gelingt dann ein mehrjähriges, nachhaltiges und wirklich sich gegenseitig wahrnehmendes Projekt, erfährt der eine die Unterrichtsstunde als ästhetische Inszenierung und der andere ein Theaterspiel und einen Theaterbesuch als notwendiges gesellschaftliches Wissen. Das könnte segensreich wirken, nicht nur als Erweiterung der Schulkultur im Bereich der kulturellen Bildung, sondern bis hin zu Entwicklungen und Veränderungen der Theaterkultur.
Literatur Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1980): Modellversuch »Künstler und Schüler«. Abschlussbericht, Bonn. Kurzenberger, Hajo (1999): »Theater in der Schule. Anregungen für eine innovative Lehrerbildung im Fach Theater«. Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 33, S. 62-69. Mieruch, Gunter (2008): »Plädoyer für die Umbenennung des Schulfachs ›Darstellendes Spiel‹ in ›Theater‹«. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 53, S. 28-30. Slevogt, Esther (2007): »Im Theater ist die Wirklichkeit am geilsten«. In: Theater heute 6, S. 6-14. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung und JugendKulturService (Hg.) (2008): Zehn Jahre Tusch Berlin. Ein Modell macht Schule. Dokumentation, Berlin: o.V.
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4. Theater, Schule und Modelle
Theaterkunst für jedes Kind? Theater und Schule in Nordrhein-Westfalen Stefan Fischer-Fels
Nordrhein-Westfalen gilt als »Musterland der Kulturellen Bildung«, das sich »Wandel durch Kultur«, »Überwindung kultureller Grenzen und eigenes künstlerisches Tun für alle Kinder und Jugendlichen« zum Ziel setzt. Für Projekte wie »Landesprogramm Kultur und Schule« und »Jedem Kind ein Instrument« werden beachtliche fünf Millionen Euro ausgegeben. »Jedem Kind ein Instrument« z.B. ist eine gemeinsame Initiative von Land, Bund und Kommunen; im Schuljahr 2008/09 werden 40 Kommunen, 350 Grundschulen und über 26.000 Erst- und Zweitklässler beteiligt sein. Im »Landesprogramm Kultur und Schule« werden 1100 Kooperationspartner und 914 Künstler für künstlerische Projekte zusammengeführt. Auch die Mittel für die Landestheater und die Freien Kinder- und Jugendtheater wurden in den letzten Jahren aufgestockt, so dass professionelle Kinder- und Jugendtheater in NRW eine relativ gute Basis haben, um mit Schulen in Kontakt zu treten und für sie zu spielen. Ein viel größeres Projekt als »Jedem Kind ein Instrument« gibt es im Theaterbereich seit über 30 Jahren. Weit mehr als eine Million Kinder und Jugendliche jährlich sind daran beteiligt: Das sind die Angebote der Professionellen Kinder- und Jugendtheater in NRW. Sie sind das erfolgreichste, effizienteste und kostengünstigste best-practice Beispiel für kulturelle Bildung überhaupt. Aber die Kinder- und Jugendtheater werden aufgefordert, Modelle wie »Jedem Kind ein Instrument« auch für die Theaterkunst zu entwickeln. Was dreißig Jahre quasi eine Selbstverständlichkeit für viele Schulen war – der Theaterbesuch mit der Schulklasse – entwickelt sich zum Gegenstand des ›freien Marktes‹: »Bieten Sie sich den Schulen an als Partner für kulturelle Bildung«, so das Statement eines Mitarbeiters 245
Stefan Fischer-Fel s
der Staatskanzlei. Das hat Konsequenzen, die wir in ihrer Tragweite noch kaum abschätzen können. Die Schulministerin Sommer wandte sich zum Schuljahresbeginn 2005/06 an die Lehrkräfte der Schulen und wies eindringlich darauf hin, »dass Unterricht Vorrang hat vor allem, was im Schulleben wünschenswert und notwendig ist.« (Bitte die Formulierung zu beachten!) Diese Aussage und die Maßnahmen zur Unterrichtsausfallsvermeidung und zur Reform von Schule in NRW hatte auf den Theaterbesuch der Schulen verheerende Auswirkungen, an denen die Theater noch drei Jahre später zu leiden haben. Das oben genannte lange erprobte Modell wurde beinah gegen die Wand gefahren. Der Briefwechsel zwischen dem Vorstand der ASSITEJ, der Staatskanzlei und dem Schulministerium ist nachzulesen in IXYPSILONZETT (vgl. ASSITEJ 2006: 24f.). Es besteht in dieser neuen Situation Nachholbedarf in einer systematisch gedachten und praktisch entwickelten Zusammenarbeitskultur von Schulen und Theatern. Hier ist nach den panischen Reaktionen auf PISA das »Modellland NRW« auf dem Weg zum Entwicklungsland, denn es gibt keine Konzepte für die Theaterkunst und ihre Vermittlung an Schulen. Von über drei Millionen Schülern in NRW gehen (geschätzte) eine Million ein Mal jährlich in ein professionelles Kinder- und Jugendtheater. Der Rest geht, zugespitzt gesagt, ins Kino (»da wollen die Jugendlichen hin!«), holt sich die eine oder andere Theatergruppe von fragwürdiger Qualität direkt in die Schulaula (»Haben Sie was für die 1. bis 4. Klassen zum Mitsingen?«) oder geht gleich nirgendwo mehr hin, damit keine Unterrichtsstunde ausfällt. (»Die Kollegen beklagen sich, dass wegen Theater schon wieder eine Unterrichtsstunde ausfällt! Sie erhalten darin Unterstützung durch die Eltern.«)
Theater als Teil der kulturellen Bildung Die Landesregierung, die Schulverwaltungsämter und die Kinder- und Jugendtheater in NRW haben es bisher nicht ausreichend vermocht, bis in die letzte Schule hinein die Bedeutung von Theaterkunst und den Zusammenhang von Rezeption und Partizipation zu kommunizieren: Theater als Teil der kulturellen Bildung umfasst sowohl die Zuschau-Kunst wie auch die Produktion von Theater. Der Bezugspunkt für die Begegnungen von Theater und Schule ist die Theaterkunst. Theatrale Bildung ist Bestandteil der Allgemeinbildung. Ziel sollte sein, dass jede Schule zwei Mal im Jahr ins Theater geht und dass jedes Theater in die Lage versetzt wird, zu Workshops, Theater im Klassenzimmer, Fortbildungen, Projekttagen etc. in die (Ganztags-)Schule zu kommen. Was ist zu tun, damit in NRW die beiden Seiten der Medaille ›kulturel246
Theaterkunst für jedes Kind? Theater und Schule in Nordrhein-Westfalen
le Bildung‹ gleichberechtigt gedacht und realisiert werden? Diese Frage ist eine Existenzfrage für die Kinder- und Jugendtheater, die auf die Vermittlung der Schulen angewiesen sind. Auf einer vom »Arbeitskreis Kinder und Jugendtheater NordrheinWestfalen« 2006 veranstalteten »Fachtagung Theater und Schule – Lernziel: Kulturelle Kompetenz« im KRESCHtheater Krefeld hielt der Staatssekretär für Kultur Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff ein bemerkenswertes Referat, in dem er folgendes bemerkte: »Ich glaube, wir müssen mit den anderen Ministerien dazu kommen, dass wir durchgehend ein Konzept kultureller Bildung erstellen, das eben auch Niederschlag findet in den Vorschriften für Schulen, für Kindertagesstätten, für Kinder- und Jugendeinrichtungen. Dass die Zusammenarbeit zwischen Theater und Schule eine Pflicht ist, dass Theater in Schulen zu gehen hat und umgekehrt auch Schule ins Theater.«
In seinen »Überlegungen zu einem Aktionsplan Theater und Schule in NRW« machte der Arbeitskreis erste Vorschläge, die sich zum Teil an den ausgearbeiteten Plänen aus Hessen und Niedersachsen orientieren. • Unterrichtsgarantien dürfen den Theaterbesuch im Schulalltag nicht verhindern. Die organisatorischen und zeitlichen Freiräume für kulturelle Aktivitäten an Schulen müssen erhalten und erweitert werden. • Es müssen innovative und finanzierte Modelle für Kooperationen und Rahmenvereinbarungen von Theater und Schule entwickelt werden. • Gastspiele im ländlichen Raum müssen verstärkt gefördert werden. • Lehrer müssen in der Aus- und Weiterbildung als ›Theater-Lehrer‹ qualifiziert werden. • Insbesondere theaterferne Regionen und soziale Brennpunkte müssen besser mit professionellem Theater versorgt werden. • In allen Schulformen sollte die Profi lbildung im Bereich Kultur systematisch gefördert werden. • Qualitätskriterien sollten erstellt und an zentraler Stelle veröffentlicht werden, damit nicht jedes Laienprojekt als ›Theaterkunst‹ verkauft werden kann. In einem weiteren, der Landesregierung vorgelegten Arbeitspapier mit dem Titel »Theaterkunst für jedes Kind« wurden noch einmal grundsätzliche Forderungen erörtert: • Unterrichtsfach: Darstellende Kunst; • Darstellende Kunst in der Lehrerausbildung; • Bonussystem für die Zusammenarbeit von Schulen mit Kultureinrichtungen; 247
Stefan Fischer-Fel s
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Kulturbeauftragte an Schulen; Förderung von Gastspielen im ländlichen Raum.
Theaterbesuche und Unterr icht In einem Gedankenaustausch der Sprecher des Arbeitskreises der Kinderund Jugendtheater in Nordrhein-Westfalen mit Vertretern der Staatskanzlei und des Schulministeriums zu diesem Papier im Juni 2008 wurde sehr schnell deutlich, dass die Landesregierung einer verbindlichen Verankerung des Aktionsplans im System Schule wie der Arbeitskreis sie wünscht, keine Chance gibt. In Nordrhein-Westfalen gibt es das Fach Darstellendes Spiel leider nur an Gesamtschulen. Ein flächendeckendes neues Fach habe, so Vertreter der Landesregierung, keine Chance auf Realisierung. In der Diskussion wurde ebenso deutlich gemacht, dass Erlasse und Vorgaben des Ministeriums zu Theaterpflichtbesuchen eher negative Wirkungen hätten. Statt genereller Regelungen sollte erst einmal aufgelistet werden, welche Formen guter Zusammenarbeit bereits praktiziert werden, um davon zu lernen und gegebenenfalls Übertragungsmöglichkeiten zu prüfen. Die Kinder- und Jugendtheater in NRW sollen sich mit neuen Konzepten als Partner für Schulen bei der Gestaltung des Schullebens positionieren. Neue Chancen für die Kinder- und Jugendtheater bestünden durch den massiven Ausbau der Ganztagsschulen in den kommenden Jahren. Die Sprecher des Arbeitskreises stellten noch einmal fest, dass die aufwändigen, intensiven, aber von den Theatern vereinzelt und ohne zusätzliches Personal durchgeführten Bemühungen im Bereich ›Theater und Schule‹ in der Vergangenheit nicht dazu geführt hätten, mehr Kinder und Jugendliche und auch junge Lehrer für das Theater zu begeistern. Immerhin: Um nach Möglichkeiten einer Vernetzung von Schulen und Theatern zu suchen, wurden weitere Gespräche, zunächst einmal mit dem Schulministerium, vereinbart. Es sitzen also zum ersten Mal die Kinder- und Jugendtheater von NRW mit der Landesregierung an einem »Runden Tisch Theater und Schule«. Ein großer Fortschritt. Tatsächlich sollten dringend die Kinder- und Jugendtheater mit Unterstützung von Land und Kommunen in ihrem Bemühen, Theaterkunst für jedes Kind zu ermöglichen, gestärkt werden. Damit könnten alle Beteiligten dazu beitragen, dass in NRW – in Umkehrung der Worte der Schulministerin – das Wünschenswerte und Notwendige in den Schulen Vorrang habe vor allem, was Unterricht ist! Ein Blick über die nahe Grenze nach Holland wäre zu empfehlen: Crischa Ohler vom Theater Mini-Art berichtete auf der oben genannten Tagung: »Für die Nutzung kultureller Angebote bekommt grundsätzlich 248
Theaterkunst für jedes Kind? Theater und Schule in Nordrhein-Westfalen
jede Schule für jeden Schüler 3,50 € pro Jahr. Zusätzlich bekommt jeder Schüler in der Oberstufe 22,70 € für ein ganzes Jahr, um ein kulturelles Angebot selbst zu erarbeiten oder für die Wahrnehmung dieses Angebotes. In den weiterführenden Schulen in den ersten beiden Klassen, kriegen sie nur 5,50 €, und in der Basisschule bekommt jeder Schüler 10,98 €«. Keine Kunstrichtung hat speziell für Kinder ein vergleichbar entwickeltes, professionell arbeitendes Genre geschaffen wie die Theater: mit eigenen Theaterhäusern, flexiblen, mobilen Angeboten an Schulen, professionellen Autoren, Regisseuren, Dramaturgen, Bühnenbildnern und kompetent ausgebildeten Schauspielern, die mit den speziellen Anforderungen des Kinder- und Jugendtheaters vertraut sind, mit einem hohen Maß an Innovationskraft und Experimentierfreude in der Erforschung zukunftsweisender Formen und Inhalte, mit seiner einmaligen, besonderen Nähe zu seinem Publikum, die sich neben den Auff ührungen in unzähligen Recherchen, Vor- und Nachbereitungen, Schulbesuchen, Workshops, Seminaren, Fortbildungen jeden Tag beweist. Was andere Künste jetzt mühsam nachholen, existiert bereits im Theater. Qualität, flächendeckende Verbreitung, funktionierende Netzwerke und Verbindungen mit allen Schularten. Man braucht nicht ›neue Modellprojekte‹ zu fordern: Die Erfolgsgeschichte der Kinder- und Jugendtheater seit über 30 Jahren ist das Modell – auch für viele sogenannte ›erwachsene‹ Theater und für alle anderen Kunstsparten, die jetzt die ›Jugend‹ entdecken – und dies gilt es zuallererst zu würdigen. Was hier über Jahrzehnte entstanden ist, muss erhalten und ausgebaut und verbindlich gemacht werden – dann wäre NRW wahrhaft ein »Musterland der Kulturellen Bildung«.
Literatur ASSITEJ (2006): »Theater und Schule. Eine Debatte zum Theaterbesuch in der Schulzeit, über Pädagogik des Unterrichts und die Kunst der Bildung«. In: IXYPSILONZETT 2, Berlin: Theater der Zeit, S. 24-28.
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Theater als künstler isches Profil? Theater und Schule in Sachsen Stephan Hoffmann
Die lebendige Vielfalt der Beziehungen zwischen Theater und Schule in Sachsen in einem Überblick erschöpfend darzustellen, ist natürlich nicht möglich. Da hier nicht fahrlässig vereinfacht werden soll und man der Vielzahl der Akteure in diesem Feld in keiner Weise gerecht werden kann, wird sich der erste Teil des Beitrages mit einem kurzen Rundblick begnügen, der immerhin einige der Besonderheiten im Freistaat Sachsen in den Blick rücken kann. Einer Besonderheit möchte ich mich dann im Detail zuwenden. Die Konzeption des »Künstlerischen Profi ls an den Gymnasien« in Sachsen zeigt die großen Erwartungen, die im Zuge der Diskussion um die kulturelle Bildung, ein direktes Zusammenwirken von Theater und Schule, die Aktivität von Schülern innerhalb des Unterrichts gehegt werden. Ein etwas genauerer Blick auf den Lehrplan dieses Profi ls zeigt aber auch Stolpersteine und Schwierigkeiten auf.
Vielfalt Sachsen verfügt nicht nur über eine Vielzahl von Stadt-, Staats-, Landesund freien Theatern, sondern mit dem Leipziger Theater der Jungen Welt und dem Dresdner Theater Junge Generation auch über zwei der vier großen ostdeutschen Kinder- und Jugendtheater. Der Theaterbesuch von Schülern hat eine lange Tradition und wird auch weiterhin gepflegt. Das Dresdner Theater Junge Generation beispielsweise verfügt über ein über Jahrzehnte gewachsenes Anrechtssystem, das so manchen Stadttheaterintendanten vor Neid erblassen lassen dürfte. Und nicht nur Schüler besuchen das Theater, auch die Theater besuchen die Schulen: Das Theater im Klassenzimmer, natürlich keine 251
Stephan Hof fmann
sächsische Erfindung, wurde 2002 in der sächsischen Landeshauptstadt zum ersten Mal auf einem bundesweiten Festival präsentiert. Als die drei Dresdner Theater, die Landesbühnen Sachsen, das Staatsschauspiel Dresden und das Theater Junge Generation feststellten, dass alle drei eine Inszenierung für das Klassenzimmer anboten war der Moment gekommen, nicht in kleinliches Konkurrenzstreben zu verfallen, sondern ein Festival zu initiieren. Die eingeladenen Inszenierungen und die Gesprächsrunden machten deutlich: »Theater im Klassenzimmer war kein neuer ›Markt‹, auf dem man sich gegenseitig das Publikum wegschnappt, sondern ein eigentlich unbezahlbares Ereignis, das von Schülern wie Lehrern gewollt und gebraucht wurde, und das die Theater als substantielle Bereicherung und ästhetische Herausforderung annahmen.« (Pfeil 2006: 25f.)
Und auch die Schüler in Sachsen spielen Theater, wie sollte es auch anders sein: Schultheatertreffen finden in allen großen Städten von Zwickau bis Zittau alljährlich großen Zuspruch. Die Landesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel organisiert seit 1991 jährlich ein Sächsisches Schultheatertreffen und entsendet regelmäßig ausgewählte Inszenierungen zum Festival »Schultheater der Länder«. Einige Schulen verfügen über bestens ausgestattete Räumlichkeiten; Theaterspielen hat an vielen Schulen einen festen Platz. Nur: es hat keinen Platz im Lehrplan. Ein Unterrichtsfach Darstellendes Spiel wie etwa in Berlin oder Niedersachsen gibt es hier nicht. An seiner Stelle können Gymnasien das »Künstlerische Profi l« anbieten. Das Sächsische Schulsystem ist in den bundesweiten Vergleichstests überaus erfolgreich. Sachsen belegt mit 72,95 Punkten Platz 1 in der wissenschaftlichen Bildungsstudie »Bildungsmonitor 2008«, die vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) 2008 zum fünften Mal erstellt wurde. Diese umfassende Analyse des föderalen Bildungssystems in Deutschland bewertet anhand von 13 Handlungsfeldern und mehr als 100 Indikatoren (Datenstand 2006), inwieweit das Bildungssystem eines Bundeslandes einen Beitrag zu mehr Wachstum leistet. Und schon 2005 konnte das Staatsministerium für Kultus stolz vermelden, dass Sachsen beim PISA-Test im Ländervergleich mit an der Spitze liege. Die erreichten Ergebnisse zeigten sogar, dass sich sächsische Schüler international sehr gut behaupten können. Das sächsische Schulsystem sei damit international konkurrenzfähig. In Mathematik, Lesen, Naturwissenschaften und Problemlösen lägen die Kompetenzen sächsischer Schüler über dem internationalen OECDDurchschnitt. In der deutschen Wertung eroberte Sachsen in Mathematik, 252
Theater als künstlerisches Prof il? Theater und Schule in Sachsen
Naturwissenschaften und Problemlösen den zweiten Platz nach Bayern. Im bundesweiten Vergleich der Gymnasien erreichten sächsische Gymnasiasten vordere Plätze, in den Naturwissenschaften sogar Platz 1. Wozu dann noch Theater?
Prof il Mit Beginn des Schuljahres 2004/05 trat ein »Lehrplan für das Künstlerische Profi l an Gymnasien« in Kraft. Im Schuljahr 2008/09 ist dieses Profil in der 11. Klasse angekommen. Ein Profi l, so formuliert es der Lehrplan, setzt fächerverbindenen Unterricht um: »Während fächerübergreifendes Arbeiten durchgängiges Unterrichtsprinzip ist, setzt fächerverbindender Unterricht ein Thema voraus, das von einzelnen Fächern nicht oder nur teilweise erfasst werden kann.« (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2004) Das Profi l hilft, »die Begrenztheit der fachspezifischen Perspektiven und Methoden sowie die Notwendigkeit ihrer Verknüpfung zu erkennen«. Das Wesen des »Künstlerischen Profi ls« konstituiert sich aus »der Vernetzung der Gestaltungsmittel und -prinzipien von Kunst, Musik und darstellendem Spiel sowie deren methodisch-didaktischen Grundsätzen«. Es »trägt zur Entwicklung ganzheitlicher Bildung bei. Angestrebt ist die harmonische Ausbildung von Verstand und Gefühl, von analytischem Denken und Sensibilität sowie von Logik und Intuition.« (Ebd.) Ein schönes Ziel für den Spitzenreiter in Naturwissenschaft und Technik. Ein Ziel, zu dessen Umsetzung in den Klassen 8 bis 10 jeweils 84 Unterrichtstunden als Richtwert zur Verfügung stehen. Das sind zwei Stunden pro Unterrichtswoche. Nicht gerade viel für so ein hehres Ziel. Die weitergehenden Zielformulierungen des Lehrplanes können denn auch als Musterbeispiel der überfordernden Erwartungen an die kulturelle Bildung gelesen werden und sollen daher ausführlich zitiert werden: »Das Profil fördert und fordert künstlerische Interessen, Begabungen und Fähigkeiten. Es verbindet die Erweiterung des Repertoires an künstlerischen Techniken mit der Vertiefung der Urteilsfähigkeit über künstlerische Prozesse und Ergebnisse. Die kommunikativen Fähigkeiten der Schüler werden hierbei weiter ausgeprägt. […] Entdeckendes, handlungsorientiertes, sinnlich-anschauliches Lernen und reflektierende Auseinandersetzung mit den Künsten unterstützen die Schüler bei ihrer Suche nach der eigenen Identität. Das Profil gibt ihnen Raum und Zeit dafür, eigene Erfahrungen, Gedanken und Stimmungen, selbstbewusst auszudrücken. Es dient somit in besonderem Maße der gesteuerten Entwicklung
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Stephan Hof fmann
von verbaler und nonverbaler Kommunikationsfähigkeit. Das Profil fördert Toleranz gegenüber der Vielfalt kultureller Erscheinungen.« (Ebd.)
Noch einmal: das alles – in zwei Stunden pro Woche? Hinzu kommt, dass in den Klassen 9 und 10 »ein Drittel der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit der profi lbezogenen, informatischen Bildung zu widmen« ist. Diese Anweisung führt in günstigen Fällen dazu, dass Theater- oder Kunstprojekte auf der Webseite der Schulen im Internet dokumentiert werden – wenn der Informatiklehrer mitspielt. In weniger günstigen Fällen findet in jeder dritten Woche im »Künstlerischen Profil« ein anderer, nämlich ein Informatikunterricht statt. Wie viel Zeit bleibt dann noch für die Suche nach der eigenen Identität? Das Zeitproblem ist aber nicht das einzige und nicht das größte. (Vgl. ebd.) Lehrer, die das »Künstlerische Profi l« unterrichten sind zumeist im Bereich des Darstellenden Spiels nicht oder unzureichend ausgebildet. Das ist keine arrogante Feststellung aus dem Theater heraus, sondern die weit verbreitete Selbstwahrnehmung der betroffenen Kollegen. Und das ist auch kein Wunder. Denn natürlich gibt es ohne Fach Darstellendes Spiel (oder Theater) auch keine entsprechende Lehrerbildung an den Universitäten des Freistaates. Fortbildungen, die auch von den Theatern regelmäßig angeboten und von vielen Lehrern besucht werden, helfen, den Alltag in der Schule zu bewältigen, den grundsätzlichen Missstand des Fehlens einer grundständigen Ausbildung für Lehrer im Fach Darstellendes Spiel können sie nicht beheben.
Projekte Wenn die Ziele, die der »Lehrplan des Künstlerischen Profi ls« formuliert, eine Chance zu ihrer Realisierung erhalten sollen, muss die Partnerschaft von Theatern und anderen kulturellen Einrichtungen und Schulen strukturell festgeschrieben werden. Theater und Schulen sind seit vielen Jahren auf individueller Ebene gute Partner im Bereich der kulturellen Bildung. Viele Lehrer und viele Schulleiter nutzen die Chancen der Kooperation zum Beispiel mit den Theatern. Das »Künstlerische Profil« an Gymnasien fördert diese Partnerschaft aber nicht. Partnerschaften und Kooperationen, die bei Schülern nachhaltige Wirkung erzielen können, lassen sich häufig nicht in ein so begrenztes Zeitbudget fassen. Die Schulen zu öff nen und außerschulische Kooperationspartner in das Kollegium und in den Alltag der Schule zu integrieren, bleibt dem Ermessen der einzelnen Kollegen überlassen. Hier wären die Anstrengungen anzusetzen und die guten existierenden Ansätze zu fördern. 254
Theater als künstlerisches Prof il? Theater und Schule in Sachsen
Durch die Überforderung, die durch die Umsetzung des »Künstlerischen Profi ls« vielerorts entsteht, wird das aber eher behindert. Wie so oft ist gut gemeint nicht wirklich gut. Feste Strukturen für Anregung und Begleitung von Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen wie Theatern und Museen und Schulen gibt es in Sachsen nur sehr unzureichend. Ein modellhaftes Projekt wurde im ländlichen Raum des Kulturraumes Niederschlesien-Oberlausitz (der östlichste Zipfel des Freistaates) erfolgreich durchgeführt. Hier wurde eine Netzwerkstelle geschaffen, hier arbeitet eine Person daran, die Kultur- und Bildungseinrichtungen zusammenzubringen, Angebot und Nachfrage zu koordinieren und Projekte zu initiieren, zu begleiten und auszuwerten. Im Rahmen der Umsetzung des Sächsischen Kulturraumgesetzes könnte jeder Kulturraum eine solche Stelle erhalten. Der Sächsische Kultursenat, die Sächsische Akademie der Künste und der Landesverband Sachsen im Deutschen Bühnenverein haben sich für ein solches Modell ausgesprochen. Die Umsetzung steht aus. Sie hieße eine echte Anerkennung des Stellenwertes der Kulturellen Bildung auf der Ebene der Landespolitik, nicht allein in gut gemeinten Lehrplänen, sondern auch in den Verwaltungen der Kultusbehörden und des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Damit wäre den vielen Lehrern, die im Sinne der im Lehrplan formulierten Ziele für ihre Schüler oft gegen erhebliche Widerstände aus der Verwaltung und den eigenen Reihen Projekte und Partnerschaften organisieren, mehr geholfen als mit zwei Unterrichtstunden pro Woche für das »Künstlerische Profi l«. So lange diese echte Anerkennung aussteht, kann ein Projekt, in dem eine komplette Klasse von 25 Schülern eines Dresdner Gymnasiums für drei Wochen alle Bereiche des Theaters Junge Generation erobert, nur ohne Unterstützung der Sächsischen Bildungsagentur (Regionalschulamt) durchgeführt werden. In diesem Projekt sind die Jugendlichen nicht nur Spieler sondern auch Autoren, Bühnenbildner, Kostümschneider, Techniker, Öffentlichkeitsarbeiter und Verwalter des Budgets. In diesem Projekt erleben sie »entdeckendes, handlungsorientiertes, sinnlich-anschauliches Lernen und reflektierende Auseinandersetzung mit den Künsten« täglich mit den Profis vom Theater. In diesem Projekt wird ihre »verbale und nonverbale Kommunikationsfähigkeit« immer wieder auf harte Proben gestellt. Ihre Lehrer und ihre Schulleiterin wissen um die Lerneffekte ihrer Arbeit und befürworten das Projekt so sehr, dass sie die Schüler für den Zeitraum von drei Wochen vom Unterricht freistellen. Nur die Sächsische Bildungsagentur darf davon nichts wissen. Zwei Schulen, die ähnlich strukturierte Projekte in den letzten Jahren durchgeführt haben, eine in Hessen und eine in Brandenburg, gehören zu den Trägern des Deutschen Schulpreises 2007 und das ist sicher kein Zu255
Stephan Hof fmann
fall. Vielleicht ist auch kein Zufall, dass unter den bisherigen Preisträgern des Deutschen Schulpreises keine Sächsische Schule zu finden ist. Denn während im Bildungsmonitor 2008 »Handlungsfelder« wie »Ausgabenpriorisierung und Inputeffizienz, Bildungsqualität PISA/IGLU, Betreuungsbedingungen, Forschungsorientierung, Akademisierung und Zeiteffizienz« (Bildungsmonitor 2008) bewertet werden, lenkt der Deutsche Schulpreis sein Augenwerk auf die »sechs Qualitätsbereiche Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Verantwortung, Schulleben und Schule als lernende Institution«. In diesem Bereich existiert in Sachsen noch Nachholbedarf.
Literatur Bildungsmonitor (2008): Sachsen ist erneut Sieger im Bildungsmonitor, Download: www.insm-bildungsmonitor.de/Sachsen, verifiziert am 1.3.2009. Pfeil, Caren (2006): »Zwischen Authentizität und Verfremdung«. In: Wolfgang Schneider/Felicitas Löwe (Hg.), Theater im Klassenzimmer, Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 25-33. Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hg.) (2008): »Lehrplan Gymnasium, ›Künstlerisches Profil‹«, Download: www.sachsen-macht-schule. de, verifiziert am 1.3.2009.
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Theater und Schule in Niedersachsen. Eine Bestandsaufnahme Eckhard Mittelstädt
Hannover an einem Dienstagmorgen im Januar. Das Foyer des Alten Magazins ist gut gefüllt mit einer Hauptschulklasse. Es ist laut und die Jugendlichen scheinen keinerlei Erwartungen an das Theater zu haben, sondern beschäftigen sich mit sich selbst und den mitgebrachten Handys und MP3-Playern. »Erste Stunde« heißt das Stück von Jörg Mencke-Peitzmeyer in der Inszenierung von Harald Schandry, das die Schüler gleich sehen werden. Eigentlich ist es ein Klassenzimmerstück und das Publikum wird denn auch von Schauspieler Hussein El-Award sofort zum Feind gemacht: »Ich gebe euch fünf Minuten. In denen könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt. Mich Wichser nennen, mir die Schultasche klauen, das Etui ausräumen, ihr könnt mir die Turnschuhe ausziehen, meinen Anorak unter den Wasserhahn halten, was weiß ich, euch wird schon was einfallen. Sogar verkloppen könnt ihr mich meinetwegen. Aber nur fünf Minuten, das ist der Deal, nicht eine Sekunde länger.« Nach mehrmaliger Aufforderung steht dann doch einer der Schüler auf und geht auf den Schauspieler zu. Der tritt auf ihn zu und scheint dem Jungen zuzuflüstern »Lass stecken, das ist Theater hier.« Der Schüler setzt sich und nun haben alle die Spielvereinbarung verstanden. Nach dem Stück findet ein Nachgespräch statt, in dem der Schauspieler von allen mit großem Respekt behandelt wird und dann steht noch ein Workshop auf dem Programm. Die laut ihrem Lehrer als schwierig geltende Abschlussklasse war schon häufiger im Theater, denn die Schule arbeitet regelmäßig mit dem Klecks Theater zusammen.
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Eckhard Mittel städt
Die Theater haben v iele Initiativen für die Schule entw ickelt In der Landeshauptstadt Hannover gibt es viele Möglichkeiten für Schulen Theater zu begegnen. Das Figurentheaterhaus Theatrio bietet vor allem für Grundschulen ein regelmäßiges Programm, die Theaterwerkstatt hannover spielt regelmäßig für alle Altersstufen, gleiches gilt für das Theater Erlebnis. Eine besondere Zusammenarbeit mit Schulen hat das Tanztheater Compagnie Fredeweß initiiert. Unter dem Namen MOTS bietet die Compagnie in vier Stufen (ab der 3., ab der 5., ab der 6. und ab der 10. Klasse) Schulen eine intensive Begleitung mit modernem Tanz an. Dabei geht es dem Tanztheater Compagnie Fredeweß nicht um Tanzpädagogik, sondern um Kunstvermittlung. Theaterkunst den niedersächsischen Schülern zu vermitteln, ist auch ein Anliegen der Politik. Das zuständige Ministerium für Wissenschaft und Kultur hatte vor einigen Jahren allen Staatstheatern die Bereitstellung von Angeboten für Schüler in die Fördervereinbarungen geschrieben und den Stadttheatern Fördermittel in Aussicht gestellt, wenn sie ebenfalls Angebote für Schüler machen. Es soll zwar Intendanten gegeben haben, die sich kategorisch weigerten, ihre Theatersäle für Schüler zu öffnen, weil sie befürchteten, dass Horden von Hauptschülern ihr treues Abonnementpublikum verschrecken könnten. Auch wenn solche Anekdoten bis heute gern erzählt werden, haben alle Stadt-, Staats- und Landestheater längst ständige Angebote für Schüler geschaffen. Nicht verschwiegen werden soll hier aber, dass den Freien Theatern Niedersachsens solche Fördermöglichkeiten verschlossen bleiben. Im Flächenland Niedersachsen sind es gleichwohl seit vielen Jahren die Freien Theater, die mit ihren Gastspielen und ihren Spielorten auf dem Lande und in der Stadt dafür sorgen, dass für alle Schüler Niedersachsens die Möglichkeit besteht, Theater zu erleben, ohne dafür stundenlange Busfahrten in Kauf nehmen zu müssen. Die Freien Theater sehen sich jetzt zunehmend einer gut fi nanzierten Konkurrenz der Stadt-, Staats- und Landestheater gegenüber, die mit ihnen um die Theaterbesuche der Schüler buhlt. Gelegentlich wird aber auch kooperiert wie etwa in Hildesheim. Das Theater für Niedersachen mit Sitz in Hannover und Hildesheim, arbeitet im Kinder- und Jugendtheaterbereich eng mit den Freien Theatern zusammen, koproduziert Inszenierungen für Kinder mit Freien Theatern und hat natürlich ein breites Angebot für Schulen, das von Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuches (auch für die Gastspielreisen des landesweit tourenden Theaters) über Probenbesuche und Theaterführungen bis zu regelmäßig stattfindenden Theaterkonferenzen für Lehrer reicht. Umgesetzt wird das umfangreiche Programm von drei Theaterpädagoginnen. Den Bereich des Theaterspiels überlässt 258
Theater und Schule in Niedersachsen. Eine Bestandsaufnahme
man in Hildesheim dem dortigen Theaterpädagogischen Zentrum, das als Kooperationspartner geführt wird und auch für die Lehrerfortbildung zuständig ist. Dort hat man sich sehr stark an der Institution Schule orientiert und ein breites Angebot konzipiert: »Mit dem Theaterlehrplan wird Lehrern die Möglichkeit gegeben, Theater, Tanz und Musik in den schulischen Alltag zu integrieren. Die Angebote orientieren sich an den altersgemäßen Interessen der Kinder und Jugendlichen sowie an den Rahmenrichtlinien der Lehrpläne des Landes Niedersachsen. Vom zweistündigen Impulsworkshop über Projekttage oder -wochen bis hin zu Theaterklassenreisen. Nicht nur zum Lehrplan oder zum Theaterklassiker, auch zu Gewaltprävention, Bewerbungstraining oder Rhetorik können die Workshops gebucht werden.« (Theater für Niedersachsen 2009)
Das Junge Schauspiel Hannover hat unter dem Titel »Playstation« sein Angebot in ›Theater entdecken‹, ›Theater erfahren‹, ›Theater selber machen‹ und ›Theater und Lehrer‹ aufgeteilt. Die Zielgruppe der Sparte sind vor allem Jugendliche und so sind die ersten drei Teile darauf ausgerichtet, den Jugendlichen eigenständige Zugänge zum Theater zu ermöglichen. Den Lehrern werden neben Vor- und Nachbereitung, Hilfe bei der Durchführung von Theaterprojekten an Schulen und Stückeinführungen auch andere Zugänge zum Theater ermöglicht. Kooperationen zwischen Theater und Schule werden offensiv angeboten: »Theater und Schule – zwei Institutionen, in denen Menschen kreativ sind. Warum nicht einmal gemeinsame Projekte gestalten? Berührungspunkte gibt es viele. Kommen Sie auf uns zu und lassen Sie uns gemeinsam Projektideen finden! Zeit und Ort können individuell vereinbart werden.« (Junges Schauspiel Hannover 2009)
Das Staatstheater Oldenburg hat unter dem Namen »enter« ein Programm entwickelt, das Schüler der Klassenstufen 5 bis 8 an alle Sparten des Theaters heranführen soll. Daneben werden von szenischen Vor- und Nachbereitungen über Premierenklassen bis zu Unterrichtsmaterialen und Theaterauff ührungen nahezu alle theaterpädagogischen Aktivitäten angeboten. Von Göttingen bis Oldenburg, Osnabrück bis Lüneburg machen viele Freie Theater den Schulen Angebote, zuweilen nicht ganz so offensiv wie die genannten Beispiele der Landes- und Staatstheater, aber immer langfristig und nachhaltig und eben auch abseits der niedersächsischen Großstädte. Von Seiten der Theater scheint das Feld ›Theater und Schule‹ bestellt, die Theater bieten viele Möglichkeiten der Nutzung und Zusammenarbeit mit den Schulen an. 259
Eckhard Mittel städt
Wie kommt das Theater in der niedersächsischen Schule vor? Wie aber sieht es aus der Perspektive der Schule aus? Wie kommt Theater in der niedersächsischen Schullandschaft vor? Unter dem Stichwort »Theater« bietet der Niedersächsische Bildungsserver die Webseiten von zwei Freien Theatern aus Hannover (dem Klecks Theater und dem Theater-Bringdienst, der sich ganz auf Aufführungen in Schulen spezialisiert hat) und einige Schultheaterwettbewerbe sowie ein Stück über Mobbing. Diese Auswahl ist durchaus repräsentativ, denn nach Hinweisen ob der Theaterbesuch von Schulklassen gewünscht und gefördert wird, sucht man vergeblich. Weder ist eine ausdrückliche Empfehlung noch eine Einschränkung bekannt. Das entspricht den Erfahrungen, von denen die Theatermacher berichten. Theaterbesuch findet in Niedersachsen auf Initiative einzelner Lehrer statt. Anders verhält es sich mit dem Darstellenden Spiel. Dies kann in der Sekundarstufe II als Fach gewählt werden und befindet sich in Niedersachsen im Aufbau: »Das Fach Darstellendes Spiel befindet sich in der Aufbauphase. In allen Schulstufen/Schulformen wird Darstellendes Spiel zurzeit im AG-Bereich, in Projekten und im Fachunterricht anderer Fächer (u.a. Deutsch, Fremdsprachen, Kunst) angeboten. Im Sekundarbereich I bieten zahlreiche Schulen unterschiedlicher Schulformen Darstellendes Spiel im Wahlpflichtbereich an, allerdings nicht als eigenständiges Fach, sondern unter dem Namen eines Bereichs oder eines anderen Faches (z.B. »Musisch-kulturelle Bildung/Theater« oder »Deutsch – Darstellendes Spiel«). Einige Schulen erproben in einem Modellversuch Darstellendes Spiel als Wahlpflichtfach. Im Sekundarbereich II, in der gymnasialen Oberstufe, kann Darstellendes Spiel nach Genehmigung durch die oberste Schulbehörde als Wahlpflichtfach angeboten werden.« (Niedersächsischer Bildungsserver 2009)
Hinsichtlich einer grundständigen Ausbildung im Fach Darstellendes Spiel ist man hingegen in Niedersachsen schon weiter: »In einem Verbund der fünf kooperierenden Hochschulen Leibniz Universität Hannover, Hochschule für Musik und Theater Hannover, Universität Hildesheim, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und Technische Universität Braunschweig ist das Fach Darstellendes Spiel als Bachelor- sowie weiterführender Masterstudiengang im Angebot. Das Bachelorstudium endet mit einem berufsqualifizierenden Abschluss für den Beruf des Theaterpädagogen. Für eine Tätigkeit als Lehrer an Gymnasien für Darstellendes Spiel muss der Masterstudiengang angeschlossen werden.« (Leibniz Universität 2009)
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Theater und Schule in Niedersachsen. Eine Bestandsaufnahme
Zugleich gibt es den Fachverband Schultheater – Darstellendes Spiel Niedersachsen e.V., der sich um die Weiterentwicklung des Faches Darstellendes Spiel kümmert. Hierzu dient auch die Weiterbildungsmaßnahme »Darstellendes Spiel für die Sekundarbereiche I und II«, die vom Niedersächsischen Landesamt für Lehrerbildung und Schulentwicklung betreut wird. Da der Studiengang noch recht jung ist, sind die meisten derzeit Darstellendes Spiel unterrichtenden Lehrer wohl in einer solchen Weiterbildungsmaßnahme ausgebildet worden. Hier findet sich übrigens eine interessante Schnittstelle von Schule und Theater: Das Flächenland Niedersachsen ist in 17 Fortbildungsregionen unterteilt, die sehr unterschiedliche Träger haben. Das reicht von der Bundesakademie Wolfenbüttel über die Theaterpädagogischen Zentren in Hannover, Hildesheim und Lingen bis zum Deutschen Theater in Göttingen und der Landesbühne in Wilhelmshaven. Die Theaterpädagogischen Zentren bieten zudem weitere Möglichkeiten Theaterspiel in den Alltag zu integrieren. Das Theaterpädagogische Zentrum Hannover arbeitet an der Integrierten Gesamtschule Mühlenberg und ist zugleich der Stadtteilkulturarbeit zugeordnet.
Initiativen koordinieren und in der Politik verankern Niedersachsen ist also reich an Möglichkeiten und Initiativen, sowohl von Seiten des Theaters als auch von Seiten der Schule. Beim grundständigen Studium für Darstellendes Spiel spielt es bundesweit ebenso eine Vorreiterrolle wie bei der Verpflichtung der Theater, Angebote für Schüler zu machen. Dennoch scheint es an einer Verbindung der verschiedenen Bereiche zu fehlen, die aber Vorraussetzung ästhetischer Bildung im Kontext der Schule ist: »Ästhetische Bildung nach Schillerscher Definition reicht über das Erlernen formaler Qualifikationen in jedem Fall hinaus, setzt vielmehr einen Prozess der Selbstbildung in Gang. Kinder und Jugendliche machen ästhetische Erfahrungen zum Beispiel durch die wahrnehmende und durch die gestaltende Auseinandersetzung mit Theater. Indem sie Theater spielen erfahren sie die Differenz von Rolle und Figur, von Darstellen und Dargestelltem, indem sie Theater sehen, sind sie zugleich Zuschauer und Mitspieler, das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum ist ein dialogisches Verhältnis.« (Mittelstädt 2005; vgl. Hentschel 1996)
Die verschiedenen Initiativen wären also zu koordinieren und politisch zu verankern, die Akteure der beiden Felder Theater und Schule sind in Nie261
Eckhard Mittel städt
dersachsen längst tätig und arbeiten punktuell zusammen. Eine solche Initiative hat Wolfgang Schneider gestartet, in dem er ein Landesprogramm Theater und Schule forderte und in der Präambel notierte: »Schulen sind Bildungsort für Kinder und Jugendliche unterschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft. Ihnen kommt daher eine besondere Bedeutung im Bereich kultureller Bildung zu. Daher sind in ein Landesprogramm für Niedersachsen alle Schultypen einzubeziehen. Zur Umsetzung eines Landesprogramms »Theater und Schule« in Niedersachsen wäre ein Beirat zu installieren, dessen Mitglieder aus den relevanten Verbänden, dem Landesverband Darstellendes Spiel, dem LAFT, den Theaterpädagogen der Stadt- und Staatstheater, Vertretern der Hochschulen sowie dem Niedersächsischen Kultusministerium und dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur bestehen sollte. Für eine bedarfsgerechte Umsetzung ist eine Recherche der vorhandenen Bedingungen notwendig.« (Schneider 2008) Schneiders Forderung wurde über Niedersachsen hinaus beachtet und diskutiert. Nun fehlt nur noch der Entschluss, die vorhandenen Ressourcen zu bündeln und das Landesprogramm in Niedersachsen auf den Weg zu bringen.
Literatur Hentschel, Ulrike (1996): Theaterspielen als ästhetische Bildung, Weinheim: Deutscher Studienverlag. Junges Schauspiel Hannover: www.hannover.de/schauspielhannover/ junges_schauspiel/playstation/index.html, verifiziert am 16.2.09. Leibniz Universität Hannover: www.uni-hannover.de/de/studium/studien fuehrer/spiel/allgemein, verifiziert am 1.3.2009. Mittelstädt, Eckhard (2005): Kinder- und Jugendtheater als ästhetische Bildung, Download: www.jugendtheater.net/Themen/xyz2005, verifiziert am 1.3.2009. Niedersächsischer Bildungsserver: www.nibis.de, verifiziert am 1.3.2009 Schneider Wolfgang: Theater und Schule – Ein Landesprogramm für Niedersachsen!, Download: www.assitej.de/fi leadmin/assitej/pdf/Landes programm_Niedersachsen.pdf, verifiziert am 1.3.2009. Staatstheater Oldenburg: www.staatstheater.de, verifiziert am 16.2.09. Theater für Niedersachsen: www.tfn-online.de/356.html, verifiziert am 16.2.09. Theaterpädagogisches Zentrum Hildesheim: www.tpz-hildesheim.de, verifiziert am 16.2.09.
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Mythos und Realität. Theatre in Education in Großbr itannien Paul Harman
Theatre in Education: revolutionär und befreiend, ein Produkt seiner Zeit, ein Kind der 1960er Jahre. Was von den ursprünglichen Konzepten geblieben ist und im Großbritannien des Jahres 2008 als Theatre in Education verstanden wird, ist leider sowohl tradiert und wenig innovativ als auch belehrend. Einige zentrale Werte jedoch haben sich etabliert und sind Bestandteil des politischen und öffentlichen Handelns geworden. Um diese Entwicklung zu verstehen, ist ein kurzer Abriss des historischen und sozialen Kontextes notwendig.
Die Herrschaf t der Geschichte Angst vor einer Übermacht Deutschlands war die Ursache der ersten britischen Bildungsinitiativen und Gesetze des 20. Jahrhunderts. Der Aufstieg des deutschen Kaiserreichs ab 1870 war rasant. Seine Grundlage war der technische Fortschritt, der wiederum auf eine gut ausgebildete Arbeiterschaft und den Sozialstaat angewiesen war. Bildung war in Deutschland besser und moderner als Bildung in Großbritannien. Die Suche nach Soldaten für die Burenkriege (1880-1881 und 1899-1902) machte dies besonders deutlich. Diejenigen, die sich meldeten waren oftmals körperlich zu schwach und zu schlecht ausgebildet für eine moderne Armee. Das Bildungsgesetz von 1902 legte fest, dass von nun an Technik und Werken sowie Sport auf dem Stundenplan stehen mussten. Die Idee eines weltumspannenden British Empire wurde durch den Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 erschüttert und 1940 endgültig zerstört. 1941 kämpfte England allein, noch ohne Alliierte, gegen das bis dahin siegreiche Deutschland und sah einer düsteren Zukunft entgegen. Aber schon 1942, gründend auf neu gewonnenem 263
Paul Harman
Optimismus, entstanden erste Konzepte für die Zukunft des Vereinigten Königreiches. Die Notwendigkeit, mit alten Illusionen zu brechen, mit den Erlebnissen des Krieges und den gebrachten Opfern umzugehen, inspirierte die intellektuelle und politische Elite zu einem echten Neuanfang. Sie hatten die Grausamkeit und das Scheitern des Kapitalismus der 1930er Jahre selbst erlebt und begannen nun, neue Institutionen für eine Gesellschaft zu schaffen, deren Ideale Demokratie und Gleichheit sein sollten.
Das geteilte Empire Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, dass verschiedene Begriffe verwendet werden um das zu bezeichnen, was offiziell »Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland« heißt. Dieser Nationalstaat, das Herz des British Empire bis 1940, ist heute zutiefst gespalten und vertritt widersprüchliche Haltungen, egal ob es um Kultur, Kunst und Bildung, um Kinder, Gleichheit oder gesellschaftliche Solidarität geht. Wales und Schottland gewinnen immer mehr an Autonomie und eine weitere Spaltung in der Zukunft ist zumindest nicht unwahrscheinlich. Im November 1942 stellte William Beveridge1 sein Konzept für einen staatlichen Sozialplan vor. Dieser sollte die sogenannten »fünf Giganten« – Krankheit, Unwissenheit, Infektionen, Mangel an Hygiene und Armut – bekämpfen. 1944 begründete R.A. Butler2 ein neues System staatlicher Bildung, dessen Ziel es war, jedem Kind die Entfaltung seiner individuellen Begabungen zu ermöglichen. 1948 folgte Aneurin Bevans3 staatliches Gesundheitssystem (National Health Service) und vervollständigte die Transformation, deren Ergebnis eine britische Gesellschaft war, die von den Idealen der Gleichheit und Solidarität getragen wurde. Die Initiatoren dieser Ideen und Institutionen kamen aus allen politischen Parteien, Liberal, Konservativ und Arbeiterpartei. Sie vereinte ein Konsens, der 40 Jahre 1. William Henry Beveridge (1879-1963), Ökonom und Sozialreformer, war
von 1919-1937 Direktor der London School of Economics. 1941-1942 leitete er die von der britischen Regierung einberufene Kommission zur Reform der Sozialversicherung. 1942 legte die Kommission ihren Bericht, den Beveridge-Report, vor, der eine umfassende staatliche Sozialversicherung vorschlug. Der Bericht wurde nach Kriegsende Grundlage der neuen Gesetzgebung. (Vgl.: The Wordsworth Dictionary of British History, 1994). 2. Richard Austen Butler (1902-1982), Vertreter der Konservativen Partei im britischen Parlament, war von 1941 bis 1945 Bildungsminister. 3. Aneurin Bevans (1897-1960), Vertreter der Labour Partei im britischen Parlament und unter Premierminister Attlee von 1945-1951 Gesundheitsminister.
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Mythen und Realität. Theatre in Education in Großbritannien
lang halten; danach aber von allen Seiten angegriffen und demontiert werden sollte – bis heute. Die Gründung des mit sehr geringen finanziellen Mitteln ausgestatteten Arts Council of Great Britain im Jahr 1946 durch den großen Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes war ein Zeichen für einen weiteren ideologischen Bruch mit der Vergangenheit. Kunst und Kultur waren nicht länger nur private Vergnügungen, sondern staatliches Interesse und Verpflichtung. Großbritannien war, noch zaghaft, auf dem Weg, sich eine europäische Tradition zu Eigen zu machen. Natürlich dauerte es weitere 20 Jahre bis das Royal National Theatre, die Royal Shakespeare Company und das Royal Court Theatre (letzteres trägt zwar das Attribut ›königlich‹ im Namen, vertritt jedoch gerade nicht die Werte der Herrschenden oder der Kirche) London die Reputation als Theaterhauptstadt der Welt eintrugen. Die Mischung aus privaten und öffentlichen Theatern führte zu einer erstaunlichen Blüte; Dramatiker, Schauspieler und Designer fanden hier neue Möglichkeiten. Unser bester Regisseur, Peter Brook, jedoch, zog es selbstverständlich vor, in Paris zu leben. Außerhalb der Hauptstadt, jedoch stark durch London und seine Stars beeinflusst, versuchten die Theater in der Provinz eine eigene Identität für sich zu schaffen. Hier wurde Theatre in Education (TIE) zu einer der erfolgreichsten Alternativen zum Selbstverständnis der Metropole. Es betonte die Bedeutung der Geschichte des jeweiligen Ortes und seiner Traditionen.
Vielfalt Heute, im Jahr 2008, gibt es professionelles Theater für Kinder und Jugendliche in allen Variationen, sowohl strukturell als auch von den künstlerischen Ansätzen her. Von rund 250 Companies sind nur 40 offiziell anerkannt und erhalten finanzielle Unterstützung von denjenigen Institutionen, deren Aufgabe die Förderung der Kunst ist – den Arts Councils von Wales, England, Schottland and Nordirland. Eine Theatre Company ist jedoch, im Gegensatz zum deutschen Begriffsverständnis, fast nie eine Gruppe von Künstlern, die sich künstlerisch ausdrücken, ein bestimmtes Theatererlebnis in einem bestimmten, einmaligen Stil verwirklichen möchte. Stattdessen kann der Begriff der Theatre Company folgendes bezeichnen: Er kann ein Unternehmen bezeichnen, das Produktionen für große und kleine Theater, Schulen oder andere Spielstätten anbietet. Schauspieler und anderes Personal werden speziell für einzelne Produktionen eingestellt. Zentrales Ziel ist es, den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden, einen Vertrag zu erfüllen und einen Gewinn zu erzielen. 265
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Er kann auch eine Einzelperson oder eine Gruppe bezeichnen, die unabhängig und ohne Unterstützung durch die öffentliche Hand arbeitet und deren Ziel höchste künstlerische und pädagogische Qualität in ihren Vorstellungen für ein Junges Publikum ist. Er kann eine Gruppe von Studierenden bezeichnen, die nach der Schauspielausbildung oder dem Universitätsabschluss einige gemeinsame Produktionen auf die Bühne bringen bevor sie ihre individuellen Karrieren verfolgen. Und er kann einen Zusammenschluss kleiner, unabhängiger, gemeinnütziger Institutionen bezeichnen, die – getragen von einem ehrenamtlichen Vorstand – Experten und Künstler einstellen, um kulturelle, soziale, künstlerische oder pädagogische Ziele zu verfolgen. Diese erhalten in der Regel Unterstützung durch den Arts Council und private Wohltätigkeitorganisationen.
Markt In Großbritannien gibt es nur einen kleinen Markt für professionelles Theater für Kinder und Familien, das in Theatern und Bürgerhäusern oder städtischen Kulturzentren (Arts Centres) präsentiert wird. Die meisten Kinder erleben Theater im Schulkontext. Mindestens einmal im Jahr, vielfach auch öfter, geht fast jedes Kind ins Theater. Ab einem Alter von zwölf Jahren, in der weiterführenden Schule, werden die Theatererlebnisse offenbar seltener. Der Markt ist nicht reglementiert und es werden keine statistischen Daten erhoben, so dass keine exakten Analysen möglich sind. Erstmals wurde 2008 ein Pilotprojekt der Regierung gestartet, das sich mit dem universellen Recht auf Kultur beschäftigen soll, jedoch bisher ohne klare Vorgaben und Ziele geblieben ist. 4 Auf der Nachfrageseite dieses unreglementierten Marktes stehen die Schulleiter, die jeweils die Inszenierungen auswählen, die sie für am besten geeignet für ihre Schüler halten. Sie zahlen eine Gage, die sie im Kontext eines freien Marktes verhandeln. Ihre Auswahl wird beeinflusst von der Rolle, die die einzelne Schule – bzw. sogar der einzelne Schulleiter, die Schulleiterin – dem kulturellen Erleben, der künstlerischen Qualität, der Relevanz für den Lehrplan, der Stimulation der Fantasie und der Unterhaltung beimisst. Jede staatliche Schule in England ist autonom, muss aber zahlreiche Regeln und Vorgaben einhalten und zudem oftmals mit anderen Schulen 4. Weitere Informationen finden sich unter Cultural Offer: Find your talent, Download: www.creative-partnerships.org, verifiziert am 1.3.2009.
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Mythen und Realität. Theatre in Education in Großbritannien
in der Region um Schüler konkurrieren. Einige Schulen erhalten eine besondere Förderung z.B. weil unter ihren Schülern besonders viele Kinder mit Migrationshintergrund, besonders viele arme Kinder oder besonders viele hochbegabte Kinder sind. Die Struktur des englischen Bildungswesens ist seit 1945 gleich geblieben. Die Kinder sind den ganzen Tag in der Schule, essen dort zu Mittag, machen Sport und nehmen an kulturellen Aktivitäten teil. In den letzten Jahren haben einige Schulen in ärmeren Bezirken begonnen, morgens früher zu öffnen und ein kostenloses Frühstück anzubieten, einige bleiben bis in den Abend hinein geöff net und machen weitere Freizeitangebote. Professionelles Theater für Kinder und Jugendliche bietet auf diesem riesigen, unreglementierten Markt eine große Vielfalt von Aktivitäten an.
Ursprünge In den vom Idealismus geprägten 1960er und 1970er Jahren begannen sogenannte Repertoiretheater (Repertory Theatres) – meist mit eigener Spielstätte und einem Ensemble, das jedes Jahr wechselte – in den Regionen damit, besondere Teams zu bilden, die den örtlichen Schulen kostenlose Angebote machten. Die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler hatten verschiedene Gründe, auf ihr junges Publikum zuzugehen. Zum einen waren sie idealistisch: Kinder brauchen Theater, um unabhängige und mündige Bürger zu werden. Zum anderen waren sie auch realistisch: Kinder sind die zahlenden Zuschauer von morgen. Schon bald zeigte sich der große Einfluss derer, die auf kommunaler Ebene die TIE-Projekte unterstützten und mehrheitlich dem ›kommunalen Sozialismus‹ verschrieben waren. Die Labourpartei der 1960er Jahre war noch Eigentum der Gewerkschaftsbewegung (Trade Union) und darin lag der Grund, warum Stadträte in ganz Nordengland vor allem daran interessiert waren, Kenntnisse über die Geschichte der Arbeiterklasse, den Kampf für mehr Demokratie, bessere Lebensstandards und den Wohlfahrtsstaat zu vermitteln. Die Geschichten, die auf der Bühne erzählt wurden, bezogen sich oft auf historische Ereignisse im Kontext von Klassenkampf und Industrialisierung. Sie illustrierten die politischen, sozialen und persönlichen Entscheidungen, die notwendig schienen, um eine Gesellschaft, die die Gleichheit aller gewährleistet, zu gestalten. Wir, die Pioniere von TIE, gingen davon aus, dass die Upper Classes an ihrer Machtposition festhalten würden. Die Annahme dieses Grundkonfliktes war daher der Kern unserer Erkundungen. »Conflict in Coventry« er267
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forschte die Aufstände der industriellen Revolution, die Entwicklung vom Handwerk zur Fabrikarbeit. »Romans« wählte ein kurz zuvor rekonstruiertes römisches Fort für eine Produktion, die partizipativ und site-specific die Konflikte zwischen Alteingesessenen und Neu-Hinzugezogenen thematisierte.
Formen Participation war das innovative, künstlerische Konzept dieser Zeit. Creative Drama hatte sich in den 1950er und 1960er Jahren als Schulfach etabliert und darauf bauten die TIE-Teams auf. Die spect-actors (Zuschauer-Schauspieler) bekamen ebenso eine Rolle wie die professionellen Schauspieler. Ein römischer Centurion hätte daher immer eine Truppe Soldaten unter seinem Kommando. Ein britischer Krieger würde die Dorf bewohner auf seine Seite ziehen, um gemeinsam Widerstand gegen die Eindringlinge zu leisten. Gespräche über Friedensverträge, Verhandlungen und Diskussionen um die Frage, ob man die Forderungen der anderen erfüllen oder ihre Angebote ablehnen solle wurden innerhalb der Rolle geführt. Es war ganz normal, dass solche TIE-Programme mindestens einen halben Tag und oftmals auch weitaus länger dauerten. Dies passte zu den projektorientierten Lehrmethoden, die damals im Grundschulbereich (1.bis 6. Klasse) en vogue waren. Ein interessantes Thema oder Objekt, z.B. ein altes Schloss, wurde über mehrere Tage oder sogar Wochen erforscht. Das Projekt umfasste verschiedenste Lernprozesse. Gebäude wurden ausgemessen und Berechnungen angestellt, es wurde gemalt und geschrieben und das Leben der früheren Bewohner in Szene gesetzt. Historische Dokumente wurden analysiert und historische Gegenstände aus Gips oder Ton nachgebaut. Die Dramaturgie der TIE-Programme konnte sehr offen sein und viele unterschiedliche Wege zulassen. Sie konnte aber auch geschlossen sein und lediglich dazu dienen, eine Simulation der erforschten fremden Realität zu liefern. Bestimmte Figuren erhielten die Aufgabe, ihre Teilnehmergruppe so zu involvieren, dass sie sich – innerhalb des vorgegebenen Konfliktes – stark mit einer Position oder einem Interesse identifizierten. Andere Charaktere sollten Vorurteile hinterfragen, eine Krise verursachen, neue Informationen einbringen, Argumente verstärken oder einfach nur die Handlung an einen anderen Ort verlagern oder ihre Entwicklung vorantreiben. Lernprozesse fanden immer dann statt, wenn die Kinder, die sich mit dieser oder jener Position identifizierten, der anderen Gruppe begegneten, die die gegenteilige Position mit ebenso viel Begeisterung vertrat. Letztlich handelte es sich um erfahrungsbezogenen Unterricht zum Thema Demokratie, der mindestens so viele Fragen stellte wie er beantwortete. Darunter waren Fragen wie: Wie sollte sich eine Mehrheit gegenüber einer Minder268
Mythen und Realität. Theatre in Education in Großbritannien
heit verhalten? Was ist Gerechtigkeit? Welche Kompromisse sind akzeptabel und welche nicht? Meiner Ansicht nach liegt der Wert der TIE-Projekte daher weniger in den tatsächlich vermittelten Informationen sondern viel mehr darin, dass sie einen Rahmen für individuellen Ausdruck und kollektives Handeln bieten.
Methodik Der Begriff des Actor-teacher (Schauspieler-Lehrer) bezog sich darauf, dass es immer darum ging, die Kinder einzubeziehen, ihren eigenen Beitrag zu fordern und gleichzeitig Verständnis und Wissen über ein Thema zu vermitteln. Weil jedes Kind und jede Gruppe von Kindern unterschiedliche Ideen entwickelt, wird eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer mindestens so viel zuhören wie selbst sprechen, wird beständig prüfen, wie weit das Verstehen der Kinder geht, eine der Situation und der Altersgruppe angemessene Sprache verwenden. Partizipative TIE-Programme verwenden oft einen bestimmten Text oder Szenen als Ausgangspunkt und Zusammenhang. Es wird jedoch kein ganzes Stück vorgegeben, denn das würde die Kinder in ihren Ausdrucksformen und -wünschen zu sehr einschränken. Wenn einzelne Kinder unsicher sind oder noch nicht genug auf ihre Rolle vorbereitet sind, ist es die Aufgabe der professionellen Schauspieler, ihnen mehr Hintergrundinformationen zu geben, sie zu motivieren und ihre Beteiligung am gemeinsamen Entdeckungsprozess zu gewährleisten. Anfangs wurde weniger geprobt als improvisiert um zu sehen, welche Richtungen die Kinder einschlagen, welche Handlungsstränge sie verfolgen würden. Die Actor-Teacher waren Teil des Programms, ein Teil des Gruppenprozesses, innerhalb dessen die Herangehensweise an das Thema, die Auswahl der Geschichte, die Suche nach Hintergrundinformationen und die Beratung mit Experten geleistet werden mussten. In der Regel wurden die Kinder durch ihre Lehrer vorbereitet, die vorab vom TIE-Team Material erhalten hatten. Auch nahmen sie an einem Einführungsworkshop teil, um ihre eigene Rolle in dem Prozess kennen zu lernen. Da TIE ein kostenloses Angebot war, das durch die lokalen Bildungsbehörden finanziert wurde, war es selbstverständlich, dass die Lehrer an den Schulen und die Actor-Teacher von den Theatern sich als Kollegen begriffen. Heute ist das Verhältnis zwischen Schauspielern und Lehrern zu einer wirtschaftlichen Transaktion geworden. Die Schule kauft einen bestimmten Service von einem Dienstleister. Daher fühlen sich die Lehrer nicht verpflichtet, an dem Theaterereignis an der Schule teilzuhaben, vor allem 269
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dann nicht, wenn der Schulleiter seine Entscheidungen ohne eine vorherige Absprache im Kollegium getroffen hat.
Ef fektiv ität Hat TIE funktioniert? Ja, wenn die Rahmenbedingungen gestimmt haben, wenn die Lehrer gut kooperierten und ihre eigene Rolle ernst nahmen, dann konnte die emotionale Auseinandersetzung mit einem Thema, den Figuren und ihren individuellen und kollektiven Anliegen tiefe und wertvolle Erfahrungen produzieren. Die starke und verstörende Intervention durch ein solches Theaterereignis muss ihr Gegengewicht in einer nachhaltigen pädagogischen Begleitung finden, die das entstandene Interesse und die Neugier befriedigt. Ein Lehrer, der über längere Zeit mit seinem Publikum in Kontakt steht, kann die immer neuen Fragen und Antworten der Kinder am besten begleiten und unterstützen. TIE ist sehr teuer und verlangt, dass eine große Anzahl professioneller Schauspieler mit einem vergleichsweise kleinen Publikum arbeitet. Sogar in den Hochzeiten von TIE zwischen 1965 und 1980 haben nur wenige, besonders engagierte, lokale Bildungsbehörden es gewagt, im großen Umfang öffentliche Mittel in Theatererfahrungen für so wenige Kinder zu investieren. Meist war dies in nordenglischen Städten, deren Verwaltung die Ideale der Labourpartei und der Gewerkschaften vertrat, der Fall. Städte wie Bolton, Leeds, Coventry, Wigan, Rochdale, York und Newcastle, aber auch Greenwich und Ipswich im Süden Großbritanniens oder bildungspolitisch progressive Landkreise wie Norfolk und Leicestershire und die besonders mächtige Inner London Education Authority gehörten dazu. Voraussetzung für TIE-Angebote war es, dass die Actor-Teacher vielseitig begabt und ausgebildet waren: Kenntnisse in Improvisation, Pädagogik, Wissenschaft, Forschung und Dramaturgie waren notwendig. Jedes TIETeam bildete eine Einheit, zunächst ohne Regisseur oder Autor, zu deren Selbstverständnis als Gruppe es gehörte, alle Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Diesem Anspruch gerecht zu werden, war sehr zeitintensiv.
Evolution Es gab politische, gesellschaftliche und künstlerische Kritik an TIE. Die Fokussierung auf die Geschichte der Arbeiterklasse, Klassenkampf und Konflikte gefiel der neuen konservativen Regierung, die ab 1979 an der Macht war, nicht. Die kommunalen Bildungsverwaltungen und Schulämter (Local Education Authorities), geleitet von gewählten Vertretern der 270
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jeweiligen Stadt, wurden entmachtet. Die Schulen wurden nicht mehr vor Ort kontrolliert, sondern erhielten ihre Finanzierung und Vorgaben direkt aus London. So blieben den lokalen Institutionen keine eigenen Mittel für Projekte wie TIE. Alle nachfolgenden Regierungen haben die Lehrpläne immer weiter reglementiert und zugleich den Wettbewerb der Schulen untereinander gefördert, um die Messbarkeit von Erfolgen zu ermöglichen und Leistungsstandards in den Vordergrund zu stellen. Die britische Gesellschaft ist heute weniger am Kollektiv orientiert. Selbstwahrnehmung und Zielsetzungen sind eher individueller Art. Das Interesse an den historischen Hintergründen sozialer Bewegungen oder an der Ideengeschichte ist geringer als das Interesse an individuellen Biographien. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Bevölkerung ist auf einem historischen Tiefstand angelangt. Auch in der Kunst hat sich der Stellenwert der Produktion verschoben. Schauspieler, Autoren, Regisseure und Produzenten orientieren sich stärker am kommerziellen Theater und betrachten jede Inszenierung als singuläres Ereignis, nicht als Teil eines Prozesses oder einer Entwicklung, nicht als Dienstleistung für eine Gemeinschaft. Im Vergleich zu den Darbietungen, die ihren Eltern und Großeltern in den 1960er Jahren von den TIE-Teams präsentiert wurden, bekommen die Kinder heute Produktionen zu sehen, die keine nennenswerte Steigerung der künstlerischen Qualität erkennen lassen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass es insgesamt sehr viel mehr Theater gibt, das sehr viel breiter gestreut und verfügbar ist. Oftmals wird heute weniger in den Wert der Produktion investiert – die Gründe dafür liegen im Druck des freien Marktes und im Rückgang öffentlicher Förderung – aber Großbritannien und insbesondere London verfügen über eine große Anzahl an Schauspielschulen, die jedes Jahr hunderte junger Schauspieler auf gutem Niveau ausbilden. Viele Universitäten haben theaterwissenschaftliche Institute, die Generationen enthusiastischer Absolventen produzieren. Es besteht also kein Mangel an jungen Leuten, die im Theaterbereich nach Arbeit suchen.
Ausbildung In den 1980er Jahren gab es keine öffentliche Förderung der TIE-Projekte mehr und die Theater der TIE-Teams wurden geschlossen. Mit diesen Schließungen wurde eine ganze Generation von Künstlern und Pädagogen arbeitslos, die Erfahrung mit TIE hatte, die gut ausgebildet, begabt und hoch motiviert war. Nachdem ihnen die Sicherheit ihrer Teams und Theater und der gemeinsamen Werte genommen worden war, fanden sie Arbeit an den pädagogischen Fakultäten der Universitäten, in der Lehrerausbil271
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dung und an theaterwissenschaftlichen Instituten, in der Ausbildung zukünftiger Theaterschaffender. Die Generation, die von diesen Pionieren ausgebildet wurde, gelangt derzeit vermehrt in prominente Positionen in den verschiedensten Bereichen, sei es Schule, Universität, Intendanzen oder als freischaffende Künstler an Schulen. Formen von angewandtem Theater und darstellendem Spiel haben ein riesiges Wachstum erfahren. TIE-Methoden werden in Museen und Attraktionen wie Freizeitparks, in ehemaligen Herrenhäusern, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind oder historischen Denkmälern angewendet, deren Besuch sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit als Freizeitaktivität erfreut. Zugleich gibt es eine große Nachfrage von seiten öffentlicher Institutionen und Ministerien nach didaktischen Stücken, die von Schule zu Schule reisen und Botschaften zu verschiedenen Themen, wie Sexualität, Lebensstil, Karriere und Berufswahl etc. vermitteln. Sogenanntes Theater for Development (Theater als Mittel der Entwicklungshilfe) ist ein zentraler Interessenbereich der Forschung. Boal und andere Wissenschaftler haben in den 1960er Jahren Studien in Entwicklungsländern durchgeführt, die bis heute einflussreich sind und die Inhalte der Studiengänge im Bereich ›Angewandtes Theater‹ an zahlreichen Universitäten, insbesondere Exeter und Manchester, bis heute beeinflussen.
Kreativ ität Kürzlich hat die Regierung eine Initiative mit dem Namen Creative Partnerships (Kreative Partnerschaften) begonnen, die – gesteuert durch den Arts Council England und versehen mit einem nennenswerten Budget – TIE-Methodik in zahlreichen Projekten zur Anwendung brachte. In den späten 1990er Jahren gab die neue Labour-Regierung eine Studie in Auftrag, die sich mit Kreativität und dem Bildungssystem befasste. Dr. Ken Robinson5 lieferte Ergebnisse, die radikale Änderungen forderten. Kreativität müsse gefördert werden um, so die Implikation, unternehmerische Talente für die Zukunft zu produzieren. Der Report erkannte die Tatsache an, dass Großbritannien nicht länger um Arbeitsplätze im Bereich der industriellen Fertigung mit den neuen Wirtschaftsmächten wie China und Indien konkurrieren könne und dass Medien, Kunst und die Kreativwirtschaft zukünftig die Haupteinkommensquelle sein müssen, wenn man den Wohlstand der Gesellschaft erhalten wollte. Unglücklicherweise war dies genau die Zeit, in der die britische Öffentlichkeit in Bildungsfragen 5. Ken Robinson (geb. 1950) war von 1985-1989 Leiter des Projektes »Kunst in Schulen« (Arts in Schools) in England und Wales.
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eine Besinnung auf die Grundlagen forderte: Lesen, Schreiben, Rechnen sollten verstärkt geübt werden. Robinsons Studie landete in der Schublade und englische Schulen wurden in den Folgejahren zu immer langweiligeren Orten. Dennoch, die zentralen Aspekte von Robinsons Bericht konnte niemand leugnen. Selbst wenn alle britischen Kinder besser lesen, schreiben und rechnen konnten als alle anderen, würden sie dennoch nur unter der Voraussetzung Arbeit finden, dass neue Ideen für Produkte und Dienstleistungen entwickelt würden, die in einem globalisierten Markt Käufer fänden. Creative Partnerships war eine Initiative der Regierung, die Kreativität in der Bildung stärken wollte und zugleich vorgab, die Schulen darin zu unterstützen, ihre Kernaufgaben – also die Bereiche, die sonst keinen Raum für Kreativität lassen – besser zu erfüllen. Künstler aus allen Bereichen wurden engagiert und beauftragt, mit Kindern und Lehrern gemeinsam kreative Projekte durchzuführen. Viele dieser Projekte hatten deutliche Ähnlichkeiten mit der Art von Arbeit, die Lehrer mit Schülern zu leisten pflegten, bevor man ihnen gesagt hatte, dass sie sich auf grundlegende Fähigkeiten (s.o. – lesen, schreiben, rechnen) konzentrieren sollen. Dazu gehören unter anderem Experimente, die sich »Philosophie für Kinder« nennen und unorthodoxes Denken fördern sollen. Oftmals sind Methoden, die früher für TIE-Programme typisch waren charakteristisch für diese Experimente; es wird simuliert, dramatisiert und spielerisch entdeckt. Tanz und Theater bzw. Darstellendes Spiel erfahren an den weiterführenden Schulen ihre Rehabilitation als ›nützliche‹ Fächer. Zugleich folgt die Regierung dem Trend, ›Talent‹ zu feiern und ermuntert junge Leute Schauspieler, Tänzer, Musiker zu werden, vor allem dann, wenn diese jungen Leute einen Migrationshintergrund haben und/oder in dem Verdacht stehen, zu ›anti-sozialem‹ Verhalten zu neigen. Nicht allzu viele, die auf diese Weise ermuntert werden, sind erfolgreich und beginnen eine professionelle Karriere, viele werden enttäuscht.
Fazit L’art pour l’art verlangt ein Vielfaches der finanziellen Mittel, die heute dem subventionierten oder durch die öffentliche Hand finanzierten Theater in Großbritannien zur Verfügung stehen. Eine kleine Handvoll Künstler macht wirklich experimentelle Arbeit, die erst nach Jahren Einfluss auf den Mainstream gewinnt. Autoren wie Sarah Kane sind den Bildungseliten von Vilnius oder Buenos Aires eher bekannt als dem durchschnittlichen Theaterbesucher in Sheffield oder Newcastle. 273
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Theater und Kunst würden niemals populär oder auch nur massentauglich werden. Obwohl dies in den 1960er Jahren ein Allgemeinplatz all derer war, die sich für Kulturpolitik interessierten oder als Kritiker arbeiteten, hat Großbritannien das Gegenteil bewiesen. Große Theaterhäuser wurden in Provinzstädten gebaut, um die umgebauten Kinos, umgeräumten Büchereien und Stadthallen zu ersetzen, in denen die Repertoire-Theater seit den 1950er Jahren aufgetreten waren. Zwar nicht ohne Schwiergkeiten und mit einem begrenzten Repertoire erreichten diese Provinztheater doch ein Publikum, das fünf- bis zehnmal so groß war, wie man erwartet hatte. Die großen Häuser ließen sich füllen! Pädagogisches Theater, darstellendes Spiel und Theaterworkshops sowie neue Stücke für ein junges Publikum sind verpflichtende Aufgaben für englische Stadt-, Staats- und Landestheater. 250 freie Gruppen touren von Schule zu Schule, einige mit mehreren Teams, und erreichen jedes Jahr mehrere hunderttausend junge Leute. Das Erbe von TIE lebt weiter, auch wenn die revolutionären, partizipativen Formen, die politisch brisanten Themen und der kollektive Ethos einer Wertegemeinschaft größtenteils längst verschwunden sind. Kunst für junge Leute ist eine Priorität der Regierung, der Arts Councils, lokalen Behörden und der Lehrerschaft. Wir haben – ohne nennenswerte öffentliche Investitionen – eine Möglichkeit gefunden, einen umfassenden Service anzubieten, der Theater fast immer und fast überall verfügbar macht. Weniger als zehn Prozent der öffentlichen Mittel, die für Kunst und Kultur verwendet werden, fließt direkt in die Arbeit für oder mit Kindern und Jugendlichen. Ein Großteil der Aktivitäten wird nicht zentral erfasst und es gibt nur ein geringes wissenschaftliches Interesse an diesem Bereich. Niemand arbeitet im Kinder- und Jugendtheater, weil er sich Prestige und Reichtum erhoff t. Vielleicht ist dies der Grund, warum die öffentlichen Institutionen uns weitgehend in Ruhe lassen, sich kaum einmischen, weder mit Ideen noch mit Geld. Kann man dies als wohlwollende Vernachlässigung verstehen? Oder handelt es sich um widerwillig gezollten Respekt? Den Gründern von TIE ging es nicht um öffentliche Anerkennung. Sie wollten ausschließlich von den jungen Menschen wahrgenommen werden für die und mit denen sie ihre Inszenierungen entwickelten und zeigten. Aus dem Englischen von Meike Fechner
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Gutscheine für Kultur. Theater und Schule in den Niederlanden Jan-Willem van Kruyssen und Jerker Spits
Im Januar 2008 fand in Frankfurt a.M. das Symposium Theater und Schule statt. Wissenschaftler, Theatermacher und Pädagogen diskutierten über die Zusammenarbeit von Schulen mit Theatern. Wir berichten in diesem Artikel über die Politik und Praxis von Theater und Schule in den Niederlanden. Zunächst möchten wir das Projekt Cultuur en school vorstellen. Anschließend werden wir auf das Schulfach CKV und auf die Rolle der sogenannten CKV-Vouchers eingehen. Zum Schluss werden wir einige neue Entwicklungen beschreiben, die darauf ausgerichtet sind, die Zusammenarbeit von niederländischen Schulen mit kulturellen Einrichtungen zu verbessern. Die Schilderung der kulturpolitischen Entwicklung wird dabei durch Erfahrungen aus der Praxis des ›Theatermachens‹ vom het MUZtheater aus Zaandam, einem renommierten Jugendtheater der Niederlande, ergänzt.
Das Projekt 1994 wurde kulturelle Erziehung ein wichtiges Thema in der niederländischen Kulturpolitik. Der Zusammenschluss des niederländischen Ministeriums für Unterricht und Wissenschaft mit dem Ministerium für Kultur, das bis dahin Bestandteil des Ministeriums für Gemeinwohl war, trug dazu wesentlich bei. Zusätzliche Geldmittel gaben ab 1994 den Start für zahlreiche Neuinitiativen. Eine dieser Neuinitiativen war das Projekt »Kultur und Schule«. Mit dem Projekt wollte das niederländische Ministerium für Unterricht, Kultur und Bildung erreichen, dass die Zusammenarbeit von 275
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Schulen mit kulturellen Einrichtungen intensiviert und strukturiert wird. Ziel war und ist es, dass Schulen, Theater, Museen und Kinos der kulturellen Erziehung gemeinsam Gestalt verleihen. Es handelt sich bei Kultur und Schule um ein Projekt, das vor allem auf lokaler Ebene Gesicht gewinnen sollte. Das Ministerium traf deshalb zusammen mit dreißig großen Städten und den niederländischen Provinzen Vereinbarungen über die angestrebten Wirkungen und deren Umsetzung. Für die Beurteilung der niederländischen Verhältnisse ist es wichtig zu wissen, dass Städte und Provinzen die wichtigsten Geldgeber von Kultur sind. Von den Kulturgeldern liegen etwa 70 Prozent in Händen der Städte und Gemeinden, 10 Prozent in Händen der Provinzen. Der Staat verfügt über ungefähr 20 Prozent. (Vgl. Ministry of Education, Culture and Science 2006: 15f.) Für eine erfolgreiche Kulturpolitik ist das Ministerium auf gute Zusammenarbeit mit Gemeinden und Provinzen angewiesen. Das Projekt »Kultur und Schule« wird durch Staat, Provinzen und Gemeinde gemeinsam finanziert. Es stellt Gelder für kommunale Pläne und Pläne der Provinzen zur Verfügung, mit denen verschiedene Projekte auf lokaler Ebene unterstützt werden können. Das Projekt ermöglicht seit 1994 vielen Schülern Vorstellungs- oder Museumsbesuche. 2004 wurde beschlossen, die Zusammenarbeit mit Kommunen und Provinzen fortzusetzen, allerdings nicht mehr auf der Grundlage jeweils einjähriger Pläne, sondern auf der Grundlage von Vierjahresplänen. Dies bot Teilnehmern die Möglichkeit, ihre Zusammenarbeit strukturell zu gestalten. Netzwerke zwischen Lehrern und kulturellen Einrichtungen sind für die Zusammenarbeit sehr wichtig. Diese Netzwerke brauchen Kontinuität. Die Erfahrungen in der Praxis machten auch deutlich, dass es den Teilnehmern an einer Übersicht verschiedener Initiativen fehlte. Das Ministerium bringt deshalb seit 1998 das Magazin Bulletin Cultuur & School heraus und unterhält eine Website , um die Teilnehmer auf Aktivitäten und Angebote hinzuweisen. Das Magazin Cultuur & School erscheint fünfmal im Jahr.
Ein Schulfach Das Schulfach culturele en kunstzinnige vorming, ästhetische Bildung, nimmt in der niederländischen Kulturbildung eine Schlüsselposition ein. Das Fach bietet Schülern im Sekundarunterricht eine umfassende Orientierung auf Kunst und Kultur. Im Mittelpunkt steht der Besuch kultureller Aktivitäten und Einrichtungen und die Beschreibung eigener Erfahrungen. Schüler besuchen Theater und Museen, aber auch Denkmäler und 276
Gutscheine für Kultur. Theater und Schule in den Niederlanden
Galerien. Ausgangspunkt ist, dass Schüler selber eine Auswahl aus dem Angebot treffen. Es ist auch möglich, dass die Schule die Organisation von Besuchen übernimmt. Die Abschlussprüfung besteht aus einem ›Prüfungsdossier‹, einer Bündelung schriftlicher Arbeiten. Die Schüler führen darüber ein Gespräch mit ihrem Lehrer, schreiben eine Reportage oder bereiten eine Präsentation vor. Das Schulfach ästhetische Bildung wird durch die so genannten Kulturvouchers ergänzt. Dies sind Gutscheine, mit denen Schüler in den Niederlanden Vorstellungen und den Besuch anderer kultureller Einrichtungen finanzieren können. Das Ministerium stellt jedem Schüler des Faches CKV-Vouchers im Wert von 23 Euro zur Verfügung. Daneben erhält jeder Schüler einen CJP-Pass, mit dem er zusätzliche Preisnachlässe erhalten kann. Die Vouchers kann der Schüler bei den kulturellen Einrichtungen verwenden, die sich als ›Akzeptant‹ angemeldet haben (z.B. Theater, Museen, Galerien oder Zentren für bildende Kunst). Sowohl die CKV-Vouchers als auch der Ermäßigungspass sind ein Jahr gültig. Die Politik hat sich für einen weiten Kreis von Voucher-Akzeptanten entschieden, von Opernhäusern bis hin zu Kinos. Die niederländische Kulturpolitik möchte den Schülern ein umfassendes Kulturangebot ohne Einschränkungen offerieren. Dies bedeutet auch, dass Schüler mit ihren Vouchers umsonst ins Kino gehen können. Die Auswahl der jungen Kulturkonsumenten steht von Zeit zu Zeit zur Diskussion: Wie viel Freiheit sollte man den Schülern gewähren? Wie scharf ist die Grenze zwischen ›hoher‹ und ›populärer‹ Kultur? Können Schüler nicht auch über einen populären Film eine sinnvolle Arbeit schreiben? Wir kommen später auf diese Frage zurück.
Die Praxis Das MUZtheater ist seit acht Jahren ein aktiver Teil des Projektes »Kultur und Schule« und kann auf viele Erfahrungen zurückgreifen. Einige Vorund Nachteile werden hier beschrieben: Die Zusammenarbeit des Jugendtheaters aus Zaandam mit den Schulen aus der Region hat sich wesentlich verbessert. Die Maßnahme des Ministeriums, den Schülern Geld zur Verfügung zu stellen, bietet dem Theater die Möglichkeit, mehr Vorstellungen zu spielen, mehr Projekte mit den Schulen zu machen, sowie Workshops zu geben. Dies ist die Grundlage für intensive Kooperationen mit Lehrern, Schülern und Schule. Diese Arbeit bringt Theater und Schule eng zusammen. Wir, als Theater, haben die Möglichkeit, unser Publikum gut auf die Produktionen vorzubereiten, seine Meinung zu erfragen und kommen so in einen 277
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regen Austausch mit unserer Zielgruppe, lernen ihre Bedürfnisse und Wünsche kennen und können Theater für sie intensiver erfahrbar machen. Natürlich gibt es auch Nachteile. Als das Projekt 1994 begann, waren die Theater und die Schulen völlig unvorbereitet. Die Lehrer waren nicht interessiert an Kultur außerhalb des Lehrplanes, denn die kulturellen und bildenden Werte von Theater wurden an den Universitäten nicht vermittelt, das heißt die Lehrkräfte verfügten nicht über hinreichende Fachkenntnisse, hatten aber, aufgrund des Projektes, mehr Budget zur Verfügung für kulturelle Aktivitäten. Dann kann es zum Beispiel passieren, dass wir eine Vorstellung »Herz eines Boxers« von Lutz Hübner machen und die Schulen in unserer Region wollen diese nicht buchen, denn sie haben gerade eine schlechte Produktion von einem Amateurtheater gebucht. Hier entsteht das Problem des Qualitätsanspruchs und Qualitätsbewusstseins. Das Hauptanliegen des Projektes ist, dass die Jugendlichen völlig frei aus dem kulturellen Angebot ihrer Region wählen können, doch leider gibt es viele Schulen, die für die Schüler ein Angebot zusammenstellen und schon spielen wir eine Vorstellung vor hundert demotivierten Jugendlichen von ein oder zwei Schulen. Wie das aussieht, können Sie sich sicher vorstellen – das ist der absolute ›Wahnsinn‹. Mit CKV weiß man nicht immer ob und wie die Jugendlichen vorbereitet sind. Es kann sein, dass die Jugendlichen mit falschen Erwartungen in die Vorstellungen kommen. Davor haben wir als Theatermacher Angst. Theater darf nicht zur schulischen Pflichtveranstaltung verkommen. Das demotiviert Jugendliche wie Theaterschaffende. Wenn die Schüler in eine Vorstellung gehen mit einer vorbereiteten Frageliste mit Fragen über unsere Vorstellungen wie »Die wievielte Niederländische Fassung von ›Othello‹ ist das?«, oder »Warum hat Wagner den ›Ring‹ geschrieben?« Dann machen wir etwas falsch. Lassen wir unser Publikum doch einfach genießen. Im Juni 2007 präsentierte der niederländische Minister für Unterricht, Wissenschaft und Kultur, Ronald Plasterk, seine Pläne für die Kulturpolitik der kommenden Jahre (Ministerie van Onderwijs 2007). Seine Notiz Kunst van leven enthielt einen Zehn-Punkte-Plan zur Vergrößerung der kulturellen Partizipation. Darin ist auch das Vorhaben für eine ›Kulturkarte‹ angekündigt. Diese digitale ›Karte‹ wird ab dem Schuljahr 2008/09 die heutigen, Voucher aus Papier ersetzen. Mit der Einführung der Cultuurkaart ist eine Verdopplung des Budgets verbunden: Die Karte wird jedem Schüler der Sekundarstufen zur Verfügung stehen. Nach einem Pilotprojekt in drei großen Städten hat der Minister im Frühjahr 2008 entschieden, die Kulturkarte landesweit einzuführen. Die Stiftung CJP, die bereits den CJP-Pass finanziert, wird ab dem Schuljahr 2008/09 alle 900.000 niederländischen Schüler im Sekundarstufenunterricht mit der Cultuurkaart ausstatten. 278
Gutscheine für Kultur. Theater und Schule in den Niederlanden
Das Kulturprof il In den letzten Jahren hat das Ministerium den Schulen mehr Raum für eigene Entscheidungen gegeben, die Schüler und Lehrplan betreffen. Kulturprofilschulen nutzen die vom Ministerium gegebenen Möglichkeiten, um Kunst und Kulturangebote im Lehrplan zu integrieren. Das bedeutet im Einzelnen die intensive Zusammenarbeit mit kulturellen Einrichtungen und die Nutzung der umfangreichen kulturellen Angebote, wie Workshops usw. Eine Kulturprofilschule kann sich vielschichtig künstlerisch ausrichten oder nur auf eine künstlerische Disziplin spezialisieren. Das Angebot gilt für alle Schüler von allen Schultypen und Klassenstufen. Einige Schulen bieten ein besonderes Programm für die Schüler an, die an einer künstlerischen Ausbildung interessiert sind. Mit dem Projekt »Kulturprofil« ist das MUZtheater imstande mit Schulen eine Kooperation einzugehen und für ein oder zwei Jahre zusammen zu arbeiten, wobei die ganze Schule involviert ist.
Die Zukunf t Das Projekt ›Kultur und Schule‹, und insbesondere die Einführung des Fachs CKV sowie die Einführung der Vouchers wirkten positiv auf den Kontakt zwischen Schulen und kulturellen Einrichtungen. Die Zahl der Aktivitäten, die kulturelle Einrichtungen für Jugendliche organisieren, hat seit der Einführung der Vouchers zugenommen. Untersuchungen des Sociaal Cultureel Planbureau, des niederländischen Zentralamtes für sozialkulturelle Untersuchungen, weisen aus, dass die kulturelle Partizipation von Jugendlichen nicht mehr rückläufig ist. Bei den Museen ist sogar eine leichte Steigerung festzustellen (vgl. Broek/Huysmans/Haan 2005: 16 u.101). Eine Untersuchung der australischen Expertin Anne Bamford zeichnete ein positives Bild der niederländischen Kulturbildung. Bamford hob insbesondere die gut funktionierenden Netzwerke zwischen Schulen, Provinzen, Gemeinden und kulturellen Einrichtungen hervor. Möglichkeiten der Verbesserung sah sie vor allem in der Ausbildung von Lehrern und in der Auswahl aus dem kulturellen Angebot. (Bamford 2007) Einerseits bestand und besteht glücklicherweise bei kulturellen Einrichtungen viel Begeisterung und Engagement, ihr Angebot bei Schulen und Jugendlichen an den Mann zu bringen. Andererseits herrscht bei kulturellen Einrichtungen manchmal nur wenig Wissen über das Unterrichtsprogramm von Schulen und Schülern. Umgekehrt wird seitens der 279
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Schulen die Vorbereitung eines Kulturbesuchs gelegentlich unterschätzt. Dann geraten Schüler ohne adäquate Begleitung oder mit einer falschen Erwartung in eine Vorstellung. Und wenn ein Lehrer eine kulturelle Aktivität nicht ernst nimmt, dann machen seine Schüler das schon bald auch nicht mehr. Oben haben wir bereits darauf hingewiesen, dass das Fach CKV sowie die Voucher weitgehend von der Entscheidungsfreiheit der Schüler ausgehen. Ist es wünschenswert, dass Schüler sich, finanziert durch den Staat, populäre Filme aus Hollywood anschauen? Zur Relativierung sei auf die Statistik verwiesen. Seit dem Schuljahr 2000/01 hat sich die Zahl der benutzten Voucher von 59 Prozent auf 73 Prozent erhöht, wobei auch die Verteilung auf die verschiedenen Kunstformen und kulturellen Einrichtungen sich geändert hat. Die Kinos sind von etwa 35 Prozent auf etwa 21 Prozent zurückgefallen – zu Gunsten der Theater und Museen (CJP 2005). Und auch ein Kinobesuch kann für Schüler lehrreich sein. Ein gutes Beispiel ist der Film »Schwarzbuch« des niederländischen Regisseurs Paul Verhoeven. »Schwarzbuch« spielt im Zweiten Weltkrieg. Der Held ist ein Deutscher, gespielt von Sebastian Koch. Der ›Böse‹, der Verräter, ein Niederländer. Eine solche Rollenverteilung war bis dahin in niederländischen Kriegsfi lmen eher untypisch. Die niederländische Kulturpolitik richtet sich stark auf die Nachfrage der Schulen aus. Die Frage von Seiten des Jugendtheaters lautet denn auch oft: Weiß eine Schule welche Vorstellung gut ist? Gibt es da noch Platz für ein ästhetisch anspruchvolles, nicht nur witziges, sondern auch freches, nachdenkliches oder provokatives Jugendtheater? Es ist wichtig, Schulen dazu zu bewegen, zu verführen, Schülern verschiedene Theaterformen anzubieten. Dieses Verführen ist eine Aufgabe für alle, sowohl für die Schulen wie auch für die Theatermacher selbst. Die positiven Erfahrungen überwiegen. Der Besuch einer Vorstellung oder eines Museums in der Jugend kann zu einer lebenslangen Neugier und Empfänglichkeit im Hinblick auf Kunst und Kultur führen.
Literatur Anne Bamford (2006): The Wow Factor: Global Research Compendium on The Impact of The Arts in Education, Münster/Berlin: Waxmann. Anne Bamford (2007): Arts and Education in The Netherlands, Ministry of Culture, Netherlands. Broek, Andries van den/Huysmans, Frank/Haan,Jos de (2005): Cultuurminnaars & cultuurmijders. Trends in de belangstelling voor kunsten en cultureel erfgoed, Sociaal en Cultureel Planbureau. 280
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CJP (2005): CKV Facts culturele sector 2005, Informatiebijlage CJP/Jong & Grijpbaar. Ministry of Education, Culture and Science (2006): Boekmanstudies. Cultural Policy in the Netherlands, Amsterdam: Edition. Ministerie van Onderwijs, Cultuur en Wetenschap (2007): Kunst van leven. Hoofdlijnen cultuurbeleid. Ministerie van Onderwijs, Cultuur en Wetenschap (2008): Uitvoering cultuurkaart 2008-2012.
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5. Theater, Schule und Perspektiven
»Theater entsteht mit den Schauspielern, mit Musik, Sprache, Bühnenbild, Licht, Kostümen – und mit Euch.« Theaterpädagogik an Kinder- und Jugendtheatern Ilona Sauer
»Wenn man Theater machen will, in dem sich junge Zuschauer mit Widersprüchen in ihrem eigenen Leben beschäftigen sollen, wenn sie mit Formen und Ausdrucksmitteln konfrontiert werden, die anders sind als das bisherige Bekannte, dann ist Begleitung unerlässlich. […] Dabei geht es nie darum, den Inhalt des Stücks vorwegzunehmen oder zu erklären. (Wenn das nötig sein sollte, wäre die Produktion missglückt und müsste vom Spielplan genommen werden). Vielmehr geht es darum, mit den Spielregeln vertraut zu machen […].« (Schauburg 1993: 10)
Diese Aufgabe übernimmt in der Schauburg, dem wohl ›eigenwilligsten‹ Kinder- und Jugendtheater der Republik, das schon vielen Trends getrotzt hat, der Dramaturg des Zuschauerraums, bzw. der Publikumsdramaturg, dessen Aufgabengebiet nicht in Gebrauchsanweisungen, sondern eher in Sehanweisungen liegt. (Vgl. Lukasz-Aden 2000: 53) In einem Antwortbrief des Publikumsdramaturgen an eine Schulklasse heißt es: »Vielen Dank für euren Brief zum Stück ›Hasenmut‹ in dem ihr Eindrücke schildert und um eine Antwort bittet. Beim Lesen fällt mir zuallererst auf, dass ihr die Vorstellung mit Kriterien zu beurteilen scheint, die für das Theater so gar nicht passen. Ihr verteilt Noten. Theater ist aber etwas ganz anderes als eine Schulauf-
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gabe. Theater entsteht mit den Schauspielern, mit Musik, Sprache, Bühnenbild, Licht, Kostümen – und mit Euch […].« (Schauburg 2006: 15)
Die Vermittlungsarbeit, die Theaterpädagogen an Kinder- und Jugendtheater leisten, ist vielfältig: Sie umfasst Marketing und Öffentlichkeitsarbeit ebenso wie die klassische Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuches, Workshops und künstlerische Projekte wie Kinder- und Jugendclubs. Vor- und Nachbereitungen regen zum einen die Rezeption der Theaterkunst an. Zum anderen stiften sie zu eigenem Ausprobieren an und können in der Folge auch die Aneignung anderer medialer Vorgänge erleichtern. Die theaterpädagogische Arbeit erstreckt sich von Rechercheprojekten mit Kindern und Jugendlichen bis hin zum künstlerischen Labor, in dem kollektiv geforscht wird. Theaterpädagogen bahnen die Kontakte mit Lehrern und Schulen an, sie stellen Spielpläne vor, initiieren und moderieren Gespräche. Sie betreuen die Zusammenarbeit von Theatern mit Schulen, die immer häufiger in Kooperationsverträgen geregelt wird, und koordinieren die Angebote, die von Schauspielern, Regisseuren und Dramaturgen durchgeführt werden. Sie arbeiten mit Organisationen und Institutionen zusammen und vernetzen ihr Theater im Stadtteil und in der Region. Sie stellen Projektanträge, begleiten die Schulklassen bei Probenbesuchen, erstellen Materialienhefte und leiten Multiplikatorenfortbildungen. »Zu ihren Aufgaben gehört es, eine Sprache zu finden, die den Besucher zum Theater hinführt […] mit dem Ziel, die Vieldeutigkeit und Mehrdeutigkeit des theatralen Vorgangs aufzuschließen, auch wenn sich die Wirkungswirklichkeit von Kunst nicht im von Pädagogen […] gewünschten Maße erklären, beschreiben, erfassen lässt.« (Lang 2007)
Die Sprache des Theaters Die Zuschaukunst bei den Kindern und Jugendlichen zu entwickeln ist eine wesentliche Aufgabe der Theaterpädagogik, denn viele Kinder im Zuschauerraum haben Rezeptionserfahrungen aus anderen Bereichen (Fernsehen, Kino, Computer) aber keine im Theater. Damit die Kinder das Gesehene mit eigenen Erfahrungen verbinden können, müssen sie die Sprache des Theaters kennenlernen, seine Zeichen, seine Bild- und Symbolsprache zu entschlüsseln lernen. Den Wandel der Theaterpädagogik in der Konzeption der Theater untersucht Manfred Jahnke in einem grundsätzlichen Artikel. (Jahnke 2005: 23-31)
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Theaterpädagogik an Kinder- und Jugendtheatern
»Hierzu gehört auch, dass zuallererst einmal der Zuschauer in die Verabredung, die Theater erst als Theater konstituiert, eingeführt wird. Nicht allein dass sich hier in einem abgezirkelten Raum für eine bestimmte Zeit Spieler und Zuschauer gegenübertreten, macht diese Verabredung aus, sondern ebenso, dass der spielende Mensch ein Bewusstsein davon hat, dass er spielt und darüber hinaus, dass er für andere, die Zuschauer, spielt, wie diese ein Bewusstsein darüber haben, dass sie zuschauen […].« (Ebd.: 23)
Während in den letzten Jahren die Theaterpädagogen in der künstlerischen Praxis mit Laien in vielfältiger Weise experimentierten und neue Formate der Theaterarbeit vor allem mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen erkundeten, wird der Theaterpädagogik als Vermittlungskunst derzeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt und werden hier wenige Experimente gewagt. Angetreten war die Theaterpädagogik an den Kinder- und Jugendtheatern vor allem auch mit der Aufgabe, die Zuschauer mit den Mitteln des Theaters bekannt zu machen – vor allem solche Zuschauer, die keinerlei Theatererfahrungen haben – und diese mit einer anderen Sicht auf die Welt zu konfrontieren und zu Veränderungen aufzurufen. Das Grips Theater erstellte schon 1972 die ersten Begleitmaterialien zu Inszenierungen. »Mit ›Doof bleibt doof‹ nahmen wir endlich das meist genannte Thema der Kinder auf, den Schulstress. ›Doof bleibt doof‹ ist das erste Stück zu dem ein Nachbereitungsheft erschien. Uns war längst klar, dass das was nach der Vorstellung geschieht, ebenso wichtig ist wie die Vorstellung selbst. Die unaufhörlichen Berichte der überraschten Lehrer über Kinder, die sich plötzlich öffneten und von sich erzählten […] machten uns klar, dass Kinder die Gelegenheit haben mussten, sich auch ausführlich über ihre intensiven Eindrücke von den Vorstellungen auszulassen.« (Ludwig 2003: 9)
Diese Aufgabe scheint sich in den letzten Jahren radikal gewandelt zu haben. Immer mehr würde das Kunstwerk »sozusagen zu einer medialen Einführung des Theaterspiels.« Zwar bilde nach wie vor das Kunstwerk den Ausgangspunkt einer jeden Vermittlungsarbeit, aber diese werde mehr und mehr zu einer grundsätzlichen »medialen Einführung in die Spezifi ka des Theaterspiels« (Jahnke 2005: 23; 2007: 48f.). Jahnke problematisiert auch das Verhältnis von Theaterpädagogik und Dramaturgie: »Nicht nur, dass erstere sich aus der anderen heraus entwickelt hat, sondern verzwickter noch erscheint, dass im Verhältnis beider eine Einheit zerrissen wird, die sich im modernen Spezialistentum scheinbar nur noch als Widerspruch greifen lässt: Während Versuche einer Poetik […] das Kunstwerk als Einheit von Produktion und Rezeption definieren, werden in der Theaterpraxis diese beiden
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Seiten einer Medaille nun verschieden verortet. Die Dramaturgie hat sich um den Bereich der Produktion zu kümmern, die Theaterpädagogik um den Bereich der Rezeption […].« (Ebd.: 23)
Lektion, Übung und Labor An Kinder- und Jugendtheatern sind Dramaturgie und Theaterpädagogik häufig nah beieinander oder gar in einer Person vereinigt, das hat den Vorteil, dass gemeinsam an einem Konzept der Kommunikation mit den Zuschauern gearbeitet werden kann bzw. die genaue Kenntnis des Produktionsprozesses diese Arbeit erleichtert. Wie gestalten Theaterpädagogen diese Vermittlungsarbeit und wie entwickeln sie die Zuschaukunst bei Kindern und Jugendlichen? Geesche Wartemann unterscheidet drei Formate theaterpädagogischen Handelns: »Die Lektion, die direktiv und normativ ›erklärt‹ (z.B. das klassische Format der Nachbereitung einer Inszenierung), die Übung, die partizipativ die Teilnehmer mit einbezieht. (z.B. in Jugendclubs oder Workshops) und das Labor, in dem in experimenteller und kollektiver Art und Weise geforscht wird, weil das Theater immer neu erfunden werden muss« (Wartemann nach Jahnke 2007: 48).
Der Theaterpädagoge bleibt, auch wenn die Kinder und Jugendlichen in Rechercheprojekten und als ›Experten‹ ihres Alltags ihren Sichtweisen Ausdruck verleihen, Anwalt des Publikums, denn der generationale Unterschied zwischen den Theatermachern und den Kindern und Jugendlichen im Publikum ist konstitutiv (vgl. Kuhn 2007).1 Er begleitet und beobachtet den Rezeptionsprozess der Kinder und Jugendlichen im Theater. Die Rezeptionsforschung ist ein weiteres Tätigkeitsfeld, das in den Aufgabenbereich der Theaterpädagogen an Kinder- und Jugendtheatern fällt. »In der Rezeption doppelt sich«, so Christel Hoffmann, »die Auff ührung in die vom Schauspieler vorgeführte und in die vom Zuschauer imaginierte«. (Hoffmann 1976) Jedes Kind nimmt das, was es auf der Bühne sieht, aktiv wahr und verarbeitet es zugleich. Die innere Beteiligung des Kindes zeigt sich oftmals, 1. Sinje Kuhn beschreibt die institutionalisierte Asymmetrie, die einer Aufführung – obwohl sie als eine gemeinschaftliche Produktion zu verstehen ist – durch die Trennung der Aufführungsteilnehmer in Akteure und Zuschauer eingeschrieben sei. In den Aufführungen des Kindertheaters sei dieses Ungleichgewicht durch die Generationendifferenz noch verstärkt. Man spreche hier von einer »doppelten Asymmetrie«.
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vor allem noch wenn es jünger ist, in freudigem Lachen, auf dem Sessel herumrutschen, aufspringen usw. Wie und in welcher Weise bestimmen die Vorerfahrungen der Kinder die Rezeption? Was findet in welcher Weise Eingang in ihre Gedanken und ihre Gefühle? Und welche Erfahrungen bestimmen ihre Urteile über das Gesehene? Wie entwickeln sie in der Begegnung mit der Aufführung ein ästhetisches Urteilsvermögen? (Vgl. Wardetzky 2004: 33f; Fischer 2004: 120) Die Frage, wie Erfahrungen und Gedanken der Kinder künstlerische Prozesse befördern und in diese einfl ießen können, gehört ebenso in diesen Bereich wie die Frage, welche Erfahrungen mit den Kindern und Jugendlichen in langfristige theaterkonzeptionelle Überlegungen einfließen könnten.
Schulprojekte an Kinder- und Jugendtheatern Die jahrelange Erfahrung der Kinder- und Jugendtheater mit ihrem Publikum kommt auch den Schulprojekten zugute. 88 Prozent der Kinder- und Jugendtheater kooperieren mit Schulen. Dies ergab die Statistik im ASSITEJ-Jahrbuch Grimm & Grips 22. Die Liste der theaterpädagogischen Projekte und der Kooperationsprojekte mit Schulen ist lang, die Angebotspalette vielfältig und kann hier nur in Auszügen benannt werden. Zu nennen wäre etwa das Grips Theater mit einem differenzierten Programm Theaterpädagogik für die Grundschulen und Theaterpädagogik für die Sekundarstufe 1, in welchem auch die Fortbildung von Lehrern ein Bestandteil ist, aber auch das Junge Schauspielhaus Düsseldorf mit dem Modellprojekt kultureller Schulrucksack (der kostenlose Theaterbesuche und Workshops für ausgewählte Kindergärten, Hauptschulen und Jugendfreizeitheime in Düsseldorf enthält) und seinen Generationenprojekten: beispielsweise der »Wunderbar«, die nicht nur die Theaterbar des Jungen Schauspielhauses ist, sondern auch ein Ort der Begegnung aller Generationen. Das Junge Staatstheater Oldenburg ermöglicht mit den Projekten »enter« (Klassen 5 bis 8) und »Theaterstarter« (Klassen 1 bis 4) Kindern unabhängig vom Elternhaus einen systematischen Zugang zum Theater. Das Junge Schauspielhaus Bochum macht zahlreiche Inszenierungsprojekte mit Kindern und Jugendlichen und arbeitet beim Projekt »Hauptschule in Bewegung« mit sieben Hauptschulen zusammen. Das Theaterhaus Frankfurt hat einige langfristige Kooperationsprojekte mit Frankfurter Grundschulen entwickelt. Das nahe der niederländischen Grenze ansässige Theater mini-art betreibt seit einigen Jahren grenzüberschreitende, 289
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zweisprachige Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen in Schulen, aber auch Theaterprojekte in jugendpsychiatrischen Institutionen. Das Consoltheater Gelsenkirchen veranstaltet ein Sprachcamp für Kinder mit Migrationsgeschichte und führt »STAGE«, ein Förderprogramm für junge erwachsene Arbeitslose, durch. Das Aktionstheater Kassel entwickelt ein Projekt, in dem mit benachteiligten Jugendlichen Jugendtheaterstücke inszeniert werden und die Jugendlichen auch an allen organisatorischen Arbeiten beteiligt sind. Das theaterpädagogische Projekt »Junges Nationaltheater« des Schnawwl in Mannheim bietet unter dem Titel »Künstler, Kinder und Jugendliche im gemeinsamen kreativen Prozess« Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich umfassend mit dem Medium Theater auseinanderzusetzen. Das Theater Pfütze hat in Zusammenarbeit mit der Universität Erlangen das theaterpädagogische Modellprojekt »Spielraum« initiiert, das der Frage nachgeht, wie professionelles Theater den Schulalltag bereichern kann. OSKAR, das Kinder- und Jugendtheater an den Städtischen Bühnen Osnabrück, hat konzertpädagogische Angebote für Schulen im Programm. Zu nennen ist auch das Theater Überzwerg mit dem Schulprojekt »Reformklassen«2 und das Staatstheater Wiesbaden mit dem Projekt »move@ school«.
Exper imentier feld Kinder- und Jugendtheater Neben den Schulprojekten erarbeiten zahlreiche Kinder- und Jugendtheater mit Jugendlichen künstlerische Produktionen, die Bestandteil des Spielplans sind: Das Theater Marabu mit der »Jungen Bühne Bonn« und dem »Experimentierplatz« oder das Frankfurter Theater Gruene Sosse mit dem »Jungen Ensemble«. Sehr viele Theater, auch unter den Freien Theatern, haben inzwischen Spielclubs eingerichtet, in denen kontinuierlich mit Jugendlichen Theater gespielt wird, einige bieten solche Clubs auch für Kinder an. Einige forschen gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen in einem Labor, wie beispielsweise das Fundustheater Hamburg mit Theaterprojekten wie »Kinder testen Schulen«. In den Inszenierungen des Fundustheaters werden die Forschungsreisen der Kinder zu konstituierenden Elementen der Auff ührung.
2. Siehe: Beitrag von Anne Richter.
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Ebenso das Theater an der Parkaue in Berlin mit dem Projekt »Winterakademie«, das in die künstlerische Gesamtkonzeption des Theaters eingebunden ist. In der Winterakademie arbeiten Künstler, Experten aus Wissenschaft und Praxis mit Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen familiären und kulturellen Hintergründen aus mehreren Nationen zusammen. Am Jungen Schauspielhaus Hamburg erproben die Kinder und Jugendlichen in »Back-Stage-Schreibworkshops«, die von renommierten Autoren und dem Theaterpädagogen Michael Müller geleitet werden, szenisches Schreiben. Die entstandenen Szenen und Stücke werden dann von ihnen selbst, Schauspielschülern, Schauspielern oder den Theaterkursen präsentiert oder auf die Bühne gebracht. In dem Programm »Theater trifft Schule« bietet das Junge Schauspielhaus den Schülern nicht nur einen Einblick in die Arbeit des Jungen Schauspielhauses, sondern auch die Möglichkeit zu ausgewählten Fragestellungen und Szenen des besuchten Stückes selbst unter der Anleitung des Theaterpädagogen zu spielen. Schulkurse in Darstellendem Spiel, die gemeinsam eine Aufführung besuchen, werden im Gegenzug von einem Theaterpädagogen in der Probe besucht und beraten. Auch mit den Lehrern wird intensiv zusammengearbeitet. Das Junge Schauspielhaus bietet unter anderem Kollegiumsexkursionen. Die Lehrer können auswählen, welches Stück sie als Kollegium im Jungen Schauspielhaus besuchen möchten. An einigen Kinder- und Jugendtheatern wird mit Formaten experimentiert, in denen sich Theaterarbeiten mit Kindern und Jugendlichen und solche mit professionellen Schauspielern durchdringen: Zu nennen wären hier unter anderem das Junge Schauspiel Hannover, das JES in Stuttgart, das Arme Theater Chemnitz, die Moks Theaterschule und die Theaterfabrik Gera, »die sich als Teil von Theater & Philharmonie Thüringen auf die Bereiche ›Junges Theater, Experiment und Theaterpädagogik‹ [konzentriert]. Als eine Art Zukunftswerkstatt sucht sie mit professionellen und nicht professionellen Akteuren nach einem jungen Theater, das sich seiner Zeit stellt.« (Grimm & Grips 22: 197) Wie sich an den hier erwähnten Projekten unschwer erkennen lässt, haben die Kinder- und Jugendtheater in zum Teil jahrzehntelanger Zusammenarbeit mit der Institution Schule ihre Angebote erprobt und verfeinert, aber haben auch immer wieder neue Möglichkeiten entdeckt, weitere Zuschauergruppen und Teilnehmergruppen für das Theater zu gewinnen. Die Mehrzahl der Kinder- und Jugendtheater setzt auf langfristige Kooperationen und bleibt dabei doch experimentierfreudig.
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Kunst und Kind – Beispiele theaterpädagogischer Arbeit Um was es in der Theaterarbeit für Kinder und mit Kindern und Jugendlichen geht, fasste Veit Sprenger von der Gruppe Showcase Beat le mot auf dem Symposion »Stop teaching«3 ebenso grundsätzlich wie bündig zusammen: »Was ist ein Kind? Was ist Kunst? Und wie sind die Theaterstrukturen?«4 Die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen werden im Folgenden beispielhaft bei einigen sehr unterschiedlich strukturierten Theatern gesucht. Das Comedia Theater in Köln, das Theater Strahl Berlin und die Theaterwerkstatt Pilkentafel in Flensburg sind Freie Theater, das JES in Stuttgart ist ein eigenständiges öffentlich finanziertes Kinder- und Jugendtheater. Alle vier Theater haben eigene Häuser und haben mindestens einen Theaterpädagogen an ihrem Haus. Die theaterpädagogischen Aktivitäten und die Rolle der Theaterpädagogik in der Gesamtkonzeption werden im Folgenden an diesen Theatern exemplarisch betrachtet. »Kinder sind eben nicht wie leere Festplatten, die zu programmieren sind. Sie sind von Anfang an vollständig – und wissen nicht unbedingt weniger als wir – sie wissen anderes. Wir finden es auch spannend, dass man sich eben nicht wirklich versteht zwischen Kindern und Erwachsenen, sondern immer so was Unklares bleibt und man sich trotzdem begegnet. Manche finden, wir überfordern Kinder, aber ich glaube die meisten finden es gut, ernst genommen zu werden«, sagt Elisabeth Bohde.
Sie ist die künstlerische Leiterin der experimentierfreudigen Theaterwerkstatt Pilkentafel. Bei der Spurensuche 2000 in Flensburg insistierte die Pilkentafel darauf, dass die Theatermacher ihre Kinder beim Arbeitstreffen Freier Kindertheater nicht zu Hause lassen sollten. Kinder seien doch schließlich Teil des Lebens der Künstler und die Auff ührungen auf dem Jugendhof Scheersberg zudem für Kinder. Warum also die Kinder aussperren? Die Theaterwerkstatt Pilkentafel organisierte gegen den Widerstand etlicher Theatermacher für das Arbeitstreffen eine Kinderbetreuung und parallel zu den künstlerischen Werkstätten der Erwachsenen Werkstätten 3. Das Symposion »Stop Teaching« wurde vom Landesverband Freier Theater Hessen (Laprof) in Kooperation mit dem Fachbereich Theaterwissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universtät und der Hessischen Theaterakademie 2008 veranstaltet. 4. Veit Sprenger (2008) in einem Gespräch im Rahmen des Symposions »Stop Teaching« im Frankfurter Mousonturm.
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für die Kinder aus der Region, an denen auch die Kinder der Teilnehmer mitwirken konnten. Gemeinsam erlebten sie die Auff ührungen des Festivals und erkundeten in den Werkstätten die Inszenierungen. Auch an den künstlerischen Präsentationen nahmen sie teil. Sie gestalteten das Freigelände auf dem Scheersberg mit Kunstobjekten, die auf die Inszenierungen Bezug nahmen. Kindersicht und Erwachsenensicht konnten sich so begegnen. Das Experiment der Kinderbeteiligung an einem Theatertreffen, in dessen Mittelpunkt die Diskurse der (erwachsenen) Fachleute und Aufführungen standen, fand bislang allerdings keine Nachahmer.
Theaterpädagogik oder Künstlerprojekte? Die theaterpädagogische Arbeit nähme in den letzten Jahren viel Raum in der künstlerischen Gesamtkonzeption ein, denn der Bedarf sei hier enorm groß, fast zu groß, so Elisabeth Bohde. Seit mehreren Jahren arbeiten der Schauspieler Thorsten Schütte, die Regisseurin Elisabeth Bohde und die Theaterpädagogin Lucie Morin regelmäßig an einem Nachmittag in der Woche in der Theaterschule Flensburg als Lehrer. Am Ende des Kursjahres steht immer eine Auff ührung. Hinzu kommt die Zusammenarbeit mit den Schulen. Über drei bis vier Monate gehen sie jeweils einen Vormittag für drei Schulstunden in eine Schule und entwickeln mit Hauptschülern der 5. Klassen eine Produktion. Um diese Projektarbeit zu vertiefen, fährt die Pilkentafel eine Woche lang mit den Schülern auf den Jugendhof Scheersberg. Die Klassenlehrer begleiten das Projekt und haben nach jeder Arbeitsphase eine Schulstunde Zeit für eine Nachbereitung mit den Theaterleuten. Parallel zu der theaterpädagogischen Arbeit kommen die Klassen zu den Auff ührungen der Pilkentafel in ihr Theater, auch noch in späteren Jahrgängen. Daraus entwickele sich eine wirkliche Zusammenarbeit mit der Schule, konstatiert Bohde. Der Prozess selbst sei hart, denn die Kinder seien nicht immer leicht zu handhaben, sondern oftmals »schrecklich drauf«. Dennoch lohne die Anstrengung, denn bei diesem Projekt sei es gelungen, die eigenen Vorstellungen, wie solch ein Prozess der Begegnung von Theaterkunst und Schule idealerweise ablaufen sollte, in der Schule durchzusetzen. Diese vorausgegangene theaterpädagogische Projektarbeit floss bei der Theaterwerkstatt Pilkentafel in zwei generationsübergreifende Produktionen ein, an denen auch theaterbegeisterte Kinder und Jugendliche aus diesen Kursen teilnahmen: »Das Glück der Sterblichkeit«, eine theatrale Reise auf einem alten Friedhof und »Ein ganzes Viertel unter Verdacht«, ein theatraler Spaziergang durch das Viertel, in dem das Theater liegt. Beide Projekte wurden mit 30 Laien im Alter von sieben bis über siebzig ent293
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wickelt. »Diese Produktionen waren kein Amateurtheater im klassischen Sinn, sondern die Menschen haben sich selbst Stationen oder kleine Szenen ausgedacht und die Orte ausgesucht und wir haben das zusammengesetzt. Es entstand so eine vielfältige belebte Installation.« In »trümmer.feld.erinnerung. Kriegskinder erzählen« zeigen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs Kinder waren, Sequenzen aus ihrem Leben und werden dabei von Jugendlichen unterstützt. Die ›Alten‹ kannten sich als Kriegskinder aus therapeutischen Zusammenhängen, die Jugendlichen aus der Theaterschule. Dieser dokumentarische Ansatz fordere die Pilkentafel heraus, neue künstlerische Formen zu suchen und zu finden, erläutert Elisabeth Bohde. Mit diesen Projekten etabliert die Pilkentafel ihr Theater auch als ein Theater für alle Generationen. Eine weiteres Generationenprojekt ist das Stück »Besuch bei Katt und Fredda« von Ingeborg Zadow. Dieses hat die Pilkentafel mit drei Besetzungen aus drei Generationen, (mit 13 bis 15-jährigen, jungen Erwachsenen und der Generation um die 60) inszeniert. Auch bei kleineren einmaligen Projekten, beispielsweise der »Flensburger Nacht der Kultur«, arbeitet das Theater mit den »Pilkateuren«, den sogenannten Hausamateuren zusammen. Natürlich gibt es bei der Pilkentafel auch den theaterpädagogischen Alltag, bestehend aus Vor- und Nachbereitung, Beratung von Lehrern für Darstellendes Spiel und Durchführung einzelner Schulprojekte. Und wie an den meisten Kinder- und Jugendtheatern gibt es auch Patenklassen. Indirekt fließen die hier gewonnenen theaterpädagogischen Erfahrungen in die künstlerische Arbeit des Theaters ein. »Es ist immer auch ein Blick in eine soziale Wirklichkeit. Es ist gut für Theaterkünstler, zu wissen, wie es in den Schulen derzeit aussieht. Oft bin ich ganz müde in diese ›Pilkateure-Wochenenden‹ hineingegangen und kam ganz inspiriert und beschwingt wieder heraus. Manchmal zerstückeln die vielen kleinen Dinge aber auch so unser Leben, dass zu wenig für die eigenen Stücke bleibt. Gerade die Arbeit mit unmotivierten Schülern kostet zu viel Kraft.«
Die Pilkentafel unterscheidet zwischen theaterpädagogischen und künstlerisch und dramaturgisch ambitionierten Projekten. Die theaterpädagogische Alltagsarbeit und die kleineren Kurse übernimmt die Theaterpädagogin, wenn es um Inszenierungsarbeiten geht, übernehmen dies zumeist die Theaterkünstler. »Wir haben uns in den rein theaterpädagogischen Projekten ein wenig verbraucht und merken, dass es uns eben nicht in der ewigen Wiederholung interessiert. Für uns als Künstler muss es auch auf etwas Neues hinauslaufen, wir müssen eine
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Vision haben. Uns ist aber wichtig, dass die Theaterpädagogin immer auch an den Produktionen beteiligt ist, denn unsere Ästhetik und Methode sind eng verknüpft und darin sollte der Theaterpädagoge einen Platz finden.«
Verschweigen will Elisabeth Bohde hierbei nicht, dass gerade die theaterpädagogische Arbeit viele Zuschauer für das Theater bringt. Die Pilkentafel legt Wert darauf, »dass es eine Verbindung zu den professionellen Stücken gibt. Denn Menschen, die mit der Pilkentafel arbeiten, sollten auch ihre Stücke kennen und mit ihrer Art Theater zu machen, etwas anfangen können. Die Amateure im Umfeld sind ganz wichtige Multiplikatoren und bilden eine Brücke zwischen den Künstlern und den normalen Zuschauern.«
Eine »goldene Eintr ittskar te«, das Festival »Spiel Ar ten« und »TheaterMedienklassen« Die Grundschüler, die an diesem Morgen die Aufführung »Herr Fuchs mag Bücher« im Comedia Theater besuchen, kommen mit der »Goldenen Eintrittskarte«. Ihre Grundschule hat entschieden, dass Theater zum Schulprofil gehört. Das bedeutet, dass alle Klassen mindestens einmal im Jahr eine Auff ührung der Comedia besuchen. Die Schulen mit der »Goldenen Eintrittskarte« können sich wünschen, welches Stück sie sehen wollen, auch den Zeitpunkt der Aufführung können sie wählen. Obenauf bekommen sie immer einen Workshop. Die Theaterpädagoginnen Xenia Bühler und Hannah Westerboer bereiten den Theaterbesuch vor oder nach. Zur Orientierung und Vorbereitung erhalten die Schulen einen Ordner mit Materialien und Programmheften zu allen Inszenierungen fürs Lehrerzimmer. Die Schulen zahlen für diesen Service lediglich den normalen Gruppen-Eintrittspreis, den Workshop und die Materialien bekommen sie sozusagen geschenkt. Die Grundschulen mit der ›goldenen Eintrittskarte‹ sind kontinuierliche Besucher und Partner des Theaters. So entsteht eine verlässliche Zusammenarbeit, die sich von der Spielzeiteröff nung, zu der die Lehrer selbstverständlich eingeladen werden, über das ganze Jahr erstreckt. Zu »Herr Fuchs mag Bücher« kommen viele Erstklässler. Die Theaterpädagoginnen bereiten den Theaterbesuch spielerisch vor: »Die Vorbereitungen haben immer etwas mit Phantasiebildung zu tun: Beispielsweise spielen die Kinder zu Beginn einen Fuchs. Wie kann man einen Fuchs auf zwei Beinen darstellen? Ein Fuchs auf zwei Beinen ist ja kein ›wirklicher‹ Fuchs. Kern der Improvisationen ist immer über die Imagination etwas zu entwickeln und dazu eine körperliche Ausdrucksform zu finden.«
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Für die künstlerische Leiterin Jutta Staerk ist die Theaterpädagogik ein wichtiger Gesprächspartner, sowohl bei der Stückauswahl, wie auch auf dem Weg zur Inszenierung. Manche Stücke fordern viel Recherche ein: Bei »Die Geschichte von Lena« beispielsweise wird der Schulalltag der Altersgruppe auf der Bühne gespiegelt, dort ist es wichtig, sich direkt mit dem Heute auseinanderzusetzen. Hier ist die Zusammenarbeit mit der Theaterpädagogik im Produktionsprozess besonders eng. Die Verknüpfung mit dem Theater und den Inszenierungen der Comedia ist für die beiden Theaterpädagoginnen wichtig. Künstlerisch arbeiten die beiden an Hochschulen ausgebildeten Theaterpädagoginnen derzeit außerhalb der Comedia, denn die meisten Schulen arbeiten eben nicht langfristig und die Zeiträume, in denen man mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten kann, sind in den Schulen kleiner als im außerschulischen Bereich. Will man jedoch mit Kindern und Jugendlichen künstlerisch arbeiten, braucht man Zeit. Seit 15 Jahren gibt es an der Comedia die theaterpädagogische Begleitung der Inszenierungen für Kinder und Jugendliche. Zu jeder Inszenierung gibt es Premierenklassen, die den Inszenierungsprozess des Theaters begleiten. Das bedeutet: Sie sind etwa acht Wochen lang einmal wöchentlich selbst spielerisch tätig, um sich ästhetisch und inhaltlich mit dem Stück zu befassen. Der Abschluss des Projektes ist der Premierenbesuch. Modellhaft ist auch das Konzept der »TheaterMedienKlassen«. Die »TheaterMedienKlassen« sind ein Schulzweig, den das Albert Magnus Gymnasium gemeinsam mit dem Comedia Theater ins Leben gerufen hat. In den Theatermedienklassen wird die »Kunst des Theaterspiels mit der Kunst des Zuschauens verbunden«5. Mittlerweile werden 196 Schüler von mehr als 20 Dozenten unterrichtet. Das Albertus Magnus Gymnasium hat eine lange und intensive Theatertradition. Die Kunstlehrer der Schule suchten nach Möglichkeiten, die Begrenzungen der Theater AGs zu überwinden und die Comedia wollte neue Wege der Theaterpädagogik erproben. Das Pilotprojekt startete vor acht Jahren im europäischen Kontext. Das Kinderkulturhaus Ragazzi hatte die Comedia und die künstlerische Leiterin Andrea Gronemeyer zu dem Projekt Storie che viaggiano, corpi, che narano in die damalige Kulturhauptstadt Europas Bologna eingeladen. Zehn Kindertheatergruppen aus verschiedenen europäischen Ländern trafen sich dort, zeigten ihre Arbeitsergebnisse und lernten die unterschiedlichen Künstler in der citta dell’ infanzia kennen. Die »TheaterMedienKlassen« haben folgende Struktur: Die Schüler besuchen die Theatermedienklassen von der 5. Klasse an bis zur 13. Klasse. 5. Rainer Daub im Gespräch mit der Verfasserin über die TheaterMedienKlassen im September 2008
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Alle wichtigen Elemente des Theaters werden in den Angeboten erforscht, zugleich wird den Schülern Medienkompetenz in den Bereichen Film, Video und Dokumentation vermittelt. Theater als ›unreine Kunst‹ integriert die verschiedenen Künste und stellt so Interdisziplinarität her wie kein anderes Genre. Der fächerübergreifende Unterricht ist Teil des Konzepts, die Vernetzung mit dem regulären Unterricht wird wann immer möglich versucht. In den Jahrgangstufen 5 und 6 findet der Unterricht an zwei Nachmittagen in der Woche mit jeweils einer Doppelstunde statt. In den Klassen 7 bis 10 werden in Blockkursen oder durchlaufenden Kursen neben Theater auch die Bereiche Tanz, Medien und Technik angeboten. In der gymnasialen Oberstufe orientieren sich die Projekte eng an den Interessen der Schüler, die Theater- und Filmkurse arbeiten an einem Projekt. Die Öffnung der Schule nach außen ist ein weiterer Aspekt des Konzepts, der vom ersten Schritt an gemeinsam mit dem Comedia Theater verfolgt wurde. Die Comedia ist ein verlässlicher Partner: Sie berät die Schule, vermittelt die Dozenten und hilft, die administrativen und finanziellen Herausforderungen des Projekts zu bewältigen. Koordiniert werden die »TheaterMedienKlassen« von der Theaterpädagogin Birgit Günzler. Die halbe Stelle wird über den Comedia Kulturdienst und durch das Land Nordrhein-Westfalen finanziert. Die Kosten für den Unterricht müssen jedoch die Eltern tragen, der Betrag ist außergewöhnlich niedrig: 38 Euro monatlich. Ein Förderverein und Sponsoren unterstützen das Projekt.
Schauspieltraining als Theaterschule Eine weitere Besonderheit der Comedia ist die an das Theater angegliederte Schauspielschule. Sie wurde 1990 von der Theologin und Theaterpädagogin Ursula Armbruster gegründet. Die Angebote sind generationenübergreifend. Jugendliche ab 13 und Erwachsene können die Theaterschule besuchen. Das ›Training‹ ist systematisch aufgebaut. In den Grundkursen stehen die Kunst des Zusammenspiels und die Improvisation im Zentrum, die Arbeit am Text und an der Rolle wird in den Auf baukursen erprobt. Nimmt man an allen Modulen teil, erstreckt sich die Fortbildung über insgesamt zwei Jahre. Ziel der Module ist es, »Wahrnehmung, Expressivität und Vorstellungskraft der Schüler so zu erweitern, dass sie lernen sich an ›authentisches‹ Spielen heranzutasten.«6 Den Endpunkt bildet die Erarbeitung einer Abschlussinszenierung. Die Comedia ist Spielort für die Abschlussinszenierungen und die Auff ührungen sind Bestandteil des Spielplans. Des Weiteren gibt es Schnupper- und Ferienworkshops und ein 6. Interview der Verfasserin mit Ursula Armbruster, September 2008.
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Vorsprechtraining für Bewerber an Schauspielschulen. Mittlerweile unterrichten 20 Dozenten in rund 65 Kursen. Zudem engagiert sich die Comedia auch in dem regionalen Festival Spielarten. »SpielArten« gibt es seit 15 Jahren. Das Festival läuft unter der Federführung der Comedia im Auftrag der Stadt Köln in gemeinsamer Veranstalterschaft von zehn teilnehmenden Städten und Gemeinden. Die Comedia und die beteiligten Städte entsenden jeweils einen Vertreter (Veranstalter) in die Jury. Die Jury diskutiert die Inszenierungen und wählt die Stücke nordrheinwestfälischer Theater aus. »Auf diese Weise fi ndet eine Qualitätsdiskussion und zugleich eine Veranstalterschulung statt«, erläutert Jutta Staerk.7 Das Programm läuft in den Gemeinden schwerpunktmäßig vormittags, denn »SpielArten« ist ein spezielles Festival für Schulen. Zu jeder Auff ührung gibt es eine Vor- oder Nachbereitung durch die Theater, sofern dies von den Schulen gewünscht wird. Die Gemeinden entscheiden, wie viele von den zehn Inszenierungen sie zeigen wollen: Einige Städte kaufen alle Auff ührungen, kleinere Gemeinden nur vier oder fünf. Manchmal wollen drei Städte gleichzeitig eine theaterpädagogische Begleitung. Die Theaterpädagoginnen der Comedia und Birgit Günzler übernehmen die theaterpädagogischen Projekte. Spielarten stößt auch Projekte vor Ort an: z.B. Ausstellungs- oder Spielprojekte, die dann während des Festivals vor Ort aufscheinen. Die Gemeinde kann auch hier wählen, was sie haben möchte: etwa ein Ausstellungsprojekt oder eine theaterpädagogische Woche oder ein theaterpädagogisches Begleitprojekt. Dies wird versucht, im Rahmen des Etats zu ermöglichen. Ausstellungsprojekte werden oftmals von Kunstlehrern initiiert und im Vorfeld von einer Theaterpädagogin begleitet. »Die Schulen wünschen sich meist, noch stärker an der Hand genommen zu werden und die Gemeinden wünschen sich mehr Steuerung und Begleitarbeit bei Projekten.«8 Bestandteil des Festivals ist auch eine Multiplikatorenfortbildung. Es besteht die Möglichkeit für Gruppen, beispielsweise für Erzieher in Ausbildung, eine Komplettbegleitung des Festivals zu buchen. Die Gruppe besucht gemeinsam an einem Ort eine Woche lang alle Inszenierungen und wird dabei von der Theaterpädagogin begleitet. Seit 1982 gibt es das Comedia Theater Köln, vielen unter dem Namen Ömmes & Oimel bekannt. Im Sommer 2009 wird das Theater in ein neues Haus in der Kölner Südstadt umziehen: Comedia Kindertheater, Junges 7. Interview der Verfasserin mit Jutta Staerk, September 2008. 8. Interview der Verfasserin mit Hannah Westerboer und Xenia Bühler, September 2008.
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Theater, Comedia Extra, Comedia Kabarett & Comedy sowie die Auff ührungen aus dem Comedia Schauspieltraining und ein Café sind Bestandteile des neuen Theaterhauses. Die künstlerische Leiterin Jutta Staerk will in dem Theaterhaus die Bereiche stärker als bislang inhaltlich und strukturell verzahnen und die Möglichkeiten, die durch die räumliche Einheit von Bühne und Werkstatträumen und Treff entstehen, für die Begegnung mit Spielclubs, Familienwerkstätten und zur Erprobung neuer Formate nutzen. Das Theaterhaus soll so zu einem Treff punkt für junges Publikum und zu einem Kulturzentrum für alle Generationen werden.
»Wo es brennt und bruzzelt« Theater Strahl ist ein Berliner Jugendtheater, das anknüpfend an die Tradition des Grips Theaters einen eigenen künstlerischen Weg entwickelt hat und in den letzten Jahren mit dem Einbezug jugendkultureller Formen in den Inszenierungen experimentiert. »Nah dran sein« bedeutet für Strahl unterschiedliche Ansätze in der Begegnung mit Jugendlichen zu erproben: Günter Jankowiak arbeitete, bevor sein Mobbingstück »Mit Arger List« entstand, vorab mit dem Jugendclub des Theaters. Jakob Wurster, der nach Recherchen ein Stück über Jugendliche in der Psychiatrie schrieb, erarbeitete die Inszenierung mit Jugendlichen und älteren Schauspielern von Strahl. In anderen Inszenierungen wird mit streetdancern und beat-boxern zusammen gearbeitet. Seit der Gründung des Theaters vor 20 Jahren ist das Publikumsgespräch Bestandteil der Vorstellung. Strahl war es immer wichtig, durch die Rückmeldungen der Jugendlichen zu bemerken, »wo es brennt und bruzzelt«.9 Die Meinungsäußerungen der Jugendlichen wurden von Anfang an als Rückmeldung zur Qualität des Stückes begriffen. Insofern war die Theaterpädagogik immer beteiligt, denn es galt bei der Inszenierung herauszufinden, an welchen Punkten die Jugendlichen als Publikum am stärksten reagieren. »Da war beispielsweise ein Stück, da haben sich zwei Männer geküsst, ein Gekreische, da haben wir gesagt, da gehen wir ran, wir wollen das anpacken. Damals gab es noch keine Theaterpädagogen bei Strahl, sondern die Schauspieler haben die Aufgaben der Nachgespräche und Nachbereitungen übernommen. Die Schauspieler auf der Bühne waren auch Pädagogen, insofern war vieles verknüpft. In ihrer Freizeit kamen die jugendlichen Theaterbesucher zu uns und 9. Interview der Verfasserin mit Gila Schmitt, Juni 2008.
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gingen kontinuierlich bei uns ein und aus. Sie waren immer hier. Es war eine ›Infektion‹, manche sind wiedergekommen, haben dann auf der Bühne gestanden oder eine Regieassistenz gemacht. Es war eine schöne Vision und hatte viel mit Träumen zu tun. Wir versuchen die Jugendlichen natürlich auch jetzt einzubinden, aber es ist eine andere Zeit«, berichtet Gila Schmitt.
In den letzten Jahren habe sich vieles geändert, das Interesse der Jugendlichen sei ein anderes. Und zum Theaterspielen kämen so gut wie keine Hauptschüler mehr, sondern vornehmlich Gymnasiasten. Diese wollten Theatererfahrungen machen, um gut anzukommen, beispielsweise, wenn sie sich um ein Auslandsjahr in Amerika bemühen. »Sie agieren viel zielgerichteter und wissen, warum sie das machen.«10 Derzeit gibt es bei Strahl zwei Theaterspielclubs: Die performativ arbeitende Jugendtheaterwerkstatt Departure und die Theaterwerkstatt für die 12 bis 15- Jährigen. Diese Altersgruppe wünsche sich Geschichten, die von Anfang bis Ende erzählt werden. In der Projektarbeit tauche immer wieder der Wunsch auf, ein richtiges Theaterstück mit Haupt- und Nebenrollen zu spielen. Beides könne nebeneinander stehen, so die Theaterpädagogin Karen Giese.11
Auch die Lehrerperspektive ist w ichtig Der Hauptschwerpunkt der theaterpädagogischen Arbeit ist jedoch die Teilnahme an TUSCH Berlin12. Über einen Zeitraum von zwei Jahren arbeitet Strahl hier eng mit vier Schulen (Real-, Integrations- und Brennpunktschulen) zusammen. TUSCH ist ein relativ großes und auch sehr repräsentatives Projekt im Spektrum der theaterpädagogischen Aktivitäten von Strahl. Die Zusammenarbeit mit der Schule besteht hier nicht nur darin, dass das Theater in die Schule geht, sondern auch darin, dass die Schulen zu Strahl kommen und dort Jugendtheater sehen. Der Nutzen sei wechselseitig, denn gerade für Jugendtheater sei diese enge Begegnung mit Schulen von Vorteil. Das Theater könne dort gute Kontakte auf bauen und man müsse nicht immer von vorne anfangen. »Wenn man eine Probenklasse braucht, dann ist sie sofort da oder man hat beispielsweise dann sofort eine Klasse, in der ein 10. Interview der Verfasserin mit Gila Schmitt, Juni 2008. 11. Interview der Verfasserin mit Karen Giese, Juni 2008. 12. Ausführliche Informationen über TUSCH Berlin sind in der Broschüre: 10 Jahre Tusch Berlin zu finden.
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Schauspieler mal hospitieren kann. Daher profitierten eigentlich alle von dieser Zusammenarbeit.« Durch die TUSCH-Projekte lernt das Theater schulische Strukturen und Lehreralltag kennen und gewinnt mehr Verständnis für Sorgen und Nöte der Lehrer. Auch für die Stückentwicklungen sei es sehr wichtig, die Lehrerperspektive zu kennen, denn gehe es beispielsweise in einer Inszenierung um ›Mobbing‹, müsse auch, so Karen Giese, der Lehrer zu Wort kommen. Im Rahmen von TUSCH gibt es Projekttage des Theaters in den Schulen. Das gesamte Team von Strahl kommt in die Schule: Schauspieler, Bühnenbildner, Techniker, Öffentlichkeitsarbeiter und Praktikanten. Nicht nur die Schüler sondern auch die Lehrer können hier alle Bereiche des Theaters kennenlernen und an einem Workshop teilnehmen. Für die TUSCH-Klassen gibt es Sonderkonditionen, sie bekommen kurzfristig Freikarten oder günstige Schulauff ührungen, aber auch die Möglichkeit, einen Schauspieler in die Klasse einzuladen. Das Problem bei TUSCH sei jedoch, dass es einzelne engagierte Lehrer gäbe, »die ganz viel schaffen«, aber der Rest des Kollegiums nicht mitziehe. Es müsse gewährleistet sein, dass die TUSCH-Klassen mal einen ganzen Tag aus der Schule raus dürften oder am nächsten Tag, wenn sie abends im Theater waren, mal eine Stunde später kommen können. Sei der Kontakt erst einmal hergestellt, ergäbe sich alles weitere, das Theater sei dann als Partner akzeptiert, fährt Gila Schmitt fort. Bei den TUSCHProjekten leiten meistens die Schauspieler die Workshops: »Denn für die Kinder ist es ganz super, wenn sie den Schauspieler auf der Bühne sehen. Wenn er das nächste Mal in die Klasse kommt und dort mit ihnen spielt, arbeiten sie begeistert mit. Das ist etwas völlig anderes als ein Workshop, den ein Theaterpädagoge durchführt, der sonst nicht in Erscheinung tritt, er ist dann eher wie ein Lehrer.« 13 Das Theater Strahl ist gut in Schöneberg-Tempelhof vernetzt, es pflegt eine enge Kooperation mit der Jungen Volkshochschule im Bezirk und führt dort auch Ferienworkshops mit Präsentationen durch und bereitet im Rahmen des VHS-Programms Jugendliche auf das Vorsprechen an Schauspielschulen vor. Außerdem gibt es Projekte mit den Grundschulen in der Nachbarschaft. Die Auff ührungen des Theaters Strahl werden fast ausschließlich von Schulen, insbesondere von Hauptschulen besucht. Mehr als 50 Prozent des Publikums hat einen Migrationshintergrund. Der Außerschulische Sektor, die Jugendeinrichtungen, Freizeiteinrichtungen und Heime, die früher regelmäßig zu Strahl kamen, seien als 13. Gila Schmitt im Gespräch mit der Verfasserin.
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Besuchersektor in den letzten Jahren weggebrochen. Dafür kämen zunehmend mehr Reisegruppen aus der ganzen Republik in das Theater. Mit der Konzentration auf ein Schülerpublikum, das vornehmlich von Hauptschulen komme, sei das Theater immer mit der Frage konfrontiert: »Sollen wir das machen, was wir künstlerisch wollen oder das, was die Lehrer wollen bzw. die Jugendlichen wollen?« Bei Strahl habe laut Gila Schmitt bei jeder Produktion immer ein Ensemblemitglied für ein Thema gebrannt, immer habe Strahl mit seinen Inszenierungen ein Experiment wagen wollen. Die Zeiten, in denen alles kollektiv beschlossen wurde und jeder alles machen sollte und musste, sind allerdings bei Strahl vorbei, so der künstlerische Leiter Wolfgang Stüssel.14 Die Arbeitsabläufe wurden professionalisiert. Die Theaterpädagogik ist nunmehr eine eigene Abteilung, mit einer halben festen Stelle. Viel Zeit verwendet die Theaterpädagogin auf das Schreiben von Anträgen und das Aquirieren von Projektgeldern. Sie gehört aber auch zum künstlerischen Team, das über die Spielplangestaltung entscheidet. Weiterhin gibt es bei Strahl – trotz Professionalisierung und Arbeitsteilung – seit über 20 Jahren einen »Ensembletreff«. Dort wird beredet, welche Erfahrungen es vor und hinter der Bühne gibt und welchen künstlerischen Weg man einschlagen will.
Theaterpädagogik als Bestandteil der künstler ischen Gesamtkonzeption Das JES in Stuttgart ist ein ›Juwel‹ unter den Kinder- und Jugendtheatern. Gegründet wurde es vor fünf Jahren als eigenständige Sparte in Stuttgart, mit 20 Festangestellten und vier Theaterpädagogen. Brigitte Dethier, die Intendantin, experimentiert mit zeitgenössischen Formen des Theaters und die Theaterpädagogik ist integraler Bestandteil der künstlerischen Gesamtkonzeption. Für Brigitte Dethier sind die Arbeitsstrukturen am Kinder- und Jugendtheater der entscheidende Unterschied zu den Stadt- und Staatstheatern. Das Ensemble wählt stets einen gemeinsamen Einstieg in das Spielzeithema. In der vergangenen Spielzeit war es »Älter werden oder wie die Zeit vergeht.« In dieser Spielzeit »Geschichten und Geschichte: Nicht um trockenes Wissen zu vermitteln, sondern vor allem jüngere Geschichte erlebbar zu machen als Teil unserer gesellschaftlichen Identität.« (Grimm 14. Gespräch der Verfasserin mit Wolfgang Stüssel im Rahmen des Frankfurter Autorenforums im Dezember 2008.
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& Grips 2008: 367) Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Zeit der Teilung durch den eisernen Vorhang. Auch die Jugendlichen in den theaterpädagogischen Werkstätten und in den Spielclubs begeben sich auf Forschungsreisen zu dem Spielzeitthema. Sie lassen Zeitzeugen zu Wort kommen und »erforschen wie Geschichten zu Geschichte werden und wie Geschichte unsere Gegenwart beeinflusst« (ebd.). Das Spielzeitthema befruchte die künstlerische Arbeit vor allem auch dadurch, dass alle am Theater arbeitenden in den Diskurs einbezogen seien, so die künstlerische Leiterin Brigitte Dethier. Besonderes Augenmerk liegt im JES auf den Eigenbearbeitungen. Oftmals steht nur das Thema fest, die Inszenierungskonzepte entwickeln sich aus produktiven Diskussionen und Improvisationen. Es entstehe so eine kollektive Autorenschaft, beispielsweise in »sleeping beauty« und »Lilith. paradise loft«.15 Das JES verfügt über eine große theaterpädagogische Abteilung, die selbstverständlich in die Gesamtkonzeption eingebunden ist. Es ist international vernetzt, zum einen durch das Festival »Schöne Aussicht«, zum anderen durch seine Zusammenarbeit mit Regisseuren und Choreografen aus den Niederlanden, Belgien, der Schweiz und England. In diese europäischen Kooperationen ist auch die Theaterarbeit mit Jugendlichen eingebunden. Hier entstehen neue Ansätze und Formate, wie etwa durch die Zusammenarbeit mit dem Choreograf und Regisseur Yves Tuwis. In dessen Koproduktion »Brief« arbeiteten Jugendliche aus der Kopergietery in Gent, dem Theaterhaus Gessnerallee in Zürich, dem Dschungel Wien und dem JES Stuttgart zusammen. Zunächst lernten sich die Jugendlichen aus den vier Städten über Briefe und Päckchen kennen, im nächsten Schritt erarbeiteten sie gemeinsam eine Inszenierung, die an allen beteiligten Theatern gezeigt wurde. Diese Arbeitsweise erfordere besondere Theaterstrukturen und sei eben nicht an jedem Haus realisierbar, so Brigitte Dethier. Im vergangenen Jahr forschten drei Schauspieler des JES gemeinsam mit Jugendlichen sechs Probenwochen lang über das Thema ›alt sein-jung sein‹. Unter der Regie von Brigitte Dethier entwickelten sie ausgehend von ihren unterschiedlichen Erfahrungen die Inszenierung »Noch fünf Minuten«. Im Bereich der Theaterpädagogik gibt es nicht nur die künstlerische Arbeit mit Jugendlichen, die im Abendspielplan auftreten, sondern auch die JES-Studios: Eine Versuchsbühne und Plattform, auf der Kinder und Jugendliche in Spielclubs und Werkstätten mit dem Theater experimentieren können. Darüber hinaus werden Labors zum »Theater im Kindergarten« und Generationentheaterprojekte durchgeführt. 15. Statement von Brigitte Dethier im Rahmen des Frankfurter Autorenforums 2008.
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Natürlich gibt es am JES auch eine intensive Zusammenarbeit mit Schulen. So veranstaltete das JES Hauptschultheaterwochen, die Hauptschüler an den Theaterbesuch heranführen sollten. Das ›Theater und Schule Paket‹ umfasst die Durchführung der Stuttgarter Schultheatertage ebenso wie Projekttage, Stückberatung, Werkstätten und Pädagogische Tage für Lehrer und die Zusammenarbeit mit Patenklassen. Die Schulen können den Theaterpädagogen Tobias Metz16 anfordern und Vorschläge einbringen, zu welchen Themen und welchen künstlerischen Formen sie arbeiten möchten. Damit die Informationen des Theaters auch die Schulen erreichen, gibt es Lehrerrundbriefe und im Verbund mit den anderen Bühnen in Stuttgart hat das JES eine Broschüre publiziert, in der die Ansprechpartner und Angebote der Theater bekannt gemacht werden und die angebotenen Inszenierungen nach Themenkreisen, Schlagwörtern und Altersangaben in einem Register vorgestellt werden. 2006 wurde das »Kuratorium kinderfreundliches Stuttgart« von der »Tribute to Bambi-Stiftung« der »Burda people group« für ihr Patenkinderprojekt ausgezeichnet. Ein Erwachsener wird Pate für ein Kind aus einer sozialen Brennpunktklasse und lädt dieses vier Mal im Jahr zu einem Theaterbesuch ins JES oder ins Fitz ein. Und zwar nicht in Form einer Kartenspende, sondern indem er das Patenkind ins Theater begleitet, es zu Kaffee und Kuchen einlädt und dabei über das Gesehene plaudert. Das Kuratorium will so Kinder an das Theater heranführen, die normalerweise keine Theater besuchen würden. Das Stiftungsgeld wurde für ein theaterpädagogisches Projekt mit Kindern an einer Brennpunktschule zur Verfügung gestellt, das nun vom Theaterpädagogen des JES, Günter Kömmet, und der Choreografin Teresa Rotemberg durchgeführt wurde. Lehrer und Schüler, die sich mit dem JES verbunden fühlen, können als JES-Agenten, als Bindeglieder zwischen JES und Schule tätig werden, sie erhalten im Gegenzug freien Eintritt für alle JES-Veranstaltungen, sowie Einladungen zu öffentlichen Proben und Vorstellungen. Das JES engagiert sich ebenfalls stark im Bereich der theaterpädagogischen Weiterbildung und der Lehrerfortbildung. In Kooperation mit den Regierungspräsidien Stuttgart und Tübingen wurde 2006 das Theaterpädagogische Fachforum »Theater jetzt« ins Leben gerufen. »Theater jetzt« lädt Pädagogen zur intensiven theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit der ästhetischen Bildung ein. Das JES bietet darüber hinaus auch die Möglichkeit an, sich als Theaterlehrer weiterzubilden. Am Stuttgarter JES zeigt sich deutlich, dass man einen künstlerisch 16. Das Gespräch der Verfasserin mit Tobias Metz fand im Rahmen des Festivals »Schöne Aussicht« 2008 statt.
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experimentierenden Weg im Kinder- und Jugendtheater wählen und Theater schauen und spielen in einer künstlerischen Gesamtkonzeption zusammenführen kann. Entscheidend, das betont Brigitte Dethier immer wieder, sind dabei die Theaterstrukturen, die diesen Weg ermöglichen.
Literatur Hoffmann, Christel (1976): Das Theater der Jungen Zuschauer, Berlin: Akademie-Verlag. Jahnke, Manfred (2007): »Popcorn und Theater. Eine Tagung in Wolfenbüttel diskutiert neue Wege in der Theaterpädagogik«. In: Die Deutsche Bühne 12, S. 48-49. Jahnke, Manfred (2005): »Von der Bedeutung der Theaterpädagogik und Dramaturgie im Kinder- und Jugendtheater«. In: Eckhard Mittelstädt (Hg.), Grimm & Grips 19, Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater, Frankfurt a.M.: ASSITEJ, S. 23-31. JES (Hg.) (2007): Kompendium Theater und Schule. Spielpläne und theaterpädagogische Programme, Stuttgart: JES. Kuhn, Sinje (2008): Partizipation des Publikums als Ereignis der Auff ührung im Kindertheater, Download: www.jugendtheater.net, verifiziert am 1.12.2008. Lang, Thomas (2007): »Das Popcornverbot. Tagung vom 16. bis 18.10.2007 in der Bundesakademie Wolfenbüttel«. In: Programmheft Bundesakademie Wolfenbüttel, Wolfenbüttel. Ludwig, Volker (2003): Kleine Chronik des Gripstheaters, Download: www. grips-theater.de/gripstheater/pdf/grips_german_1969_2003.pdf, verifiziert am 20.1.2009. Lukasz-Aden, Gudrun: Die Schauburg – Was für ein Theater! Innen- und Außenansichten des Kinder- und Jugendtheaters der Stadt München, München: Theater der Jugend. Schauburg München (Hg.) (1993): Blick zurück nach vorn nicht ohne Zorn, München: Schauburg. Schmidt, Dagmar (2006): Kompliziertheit gegen Vereinfachung II. Kinderund Jugendtheater im neuen Jahrtausend. Eine Standortbestimmung für die Schauburg, Download: www.schauburg.net/download/schauburgbuecher/SchauB1990-06_56seitig.pdf Schneider, Wolfgang/Fechner, Meike (Hg.) (2008): Grimm & Grips 22, Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater, Frankfurt a.M.: ASSITEJ. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung und JugendKulturService (Hg.) (2008): Zehn Jahre Tusch Berlin. Ein Modell macht Schule. Dokumentation, Berlin: o.V. 305
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Wardetzky, Kristin (2004): »Nie sollst du mich befragen«. In: Jürgen Kirschner (Hg.): Kinder und Jugendliche als Theaterpublikum (Startinformationen 5), Frankfurt a.M.: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der BRD, S. 33-49. Wrede, Simone (2002): »Das Comedia Schauspieltraining in Köln. Pioneer der systematischen Laienschauspielausbildung in Deutschland. Ein Portrait«. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 41, S. 69-71.
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Kreative Prozesse eines Wechselspiels. Figurentheater in der Grundschule Susanne Heinke
In den letzten Jahren wird von Theaterpädagogen und Wissenschaftlern zunehmend die Notwendigkeit der Verknüpfung von ›Theater sehen‹ und Theater selbst machen betont und begründet (vgl. Taube 2007: S. 16ff.; Hentschel 2008). Den Begründungen folgend, müsste dies auch für den Bereich des Figurentheaters, der sich speziell an Kinder wendet, gelten. Für das Figurentheater scheint aber eher – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Nebeneinander von ›Theater sehen‹ und selbst Theater spielen typisch zu sein: mit Auff ührungen professioneller Figurentheater auf der einen und spielen mit Kindern auf der anderen Seite. Dabei bietet gerade das gegenwärtige professionelle Figurentheater mit seinen vielen Darstellungsmöglichkeiten ein besonderes Anregungspotential, das für das Figurentheaterspiel mit Kindern im schulischen Rahmen genutzt werden kann.
Tendenzen im professionellen Figurentheater Seit Beginn der 1990er Jahre kommt dem Figurentheater ein besonderer Stellenwert als innovative und ästhetisch neue Impulse gebende Spielform innerhalb des Kindertheaters zu. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass Figurentheaterinszenierungen inzwischen einen festen Platz auf den Programmen der renommiertesten, nicht nur deutschsprachigen, Kindertheaterfestivals behaupten und dort mit Preisen ausgezeichnet werden. Vergleicht man die innovativen Stücke des Figurentheaters für Kinder, so ist zunächst die ästhetische Vielfalt an Darstellungsformen auff ällig, 307
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wobei die ›offene Spielweise‹ dominiert, bei der der Spieler offen auf der Bühne und nicht verdeckt hinter einer Spielleiste agiert. Neben den traditionellen Figurenarten wie Handpuppen, Stabpuppen und Marionetten werden auch reduzierte, abstrakte Figuren oder ungestaltete Materialien, die erst während der Auff ührung ihre Gestalt und Bedeutung zugewiesen bekommen, verwendet. Form, Material und Spielweise der Figuren weisen einen großen Facettenreichtum auf. So wird beispielsweise gespielt mit bemalten Flachfiguren (»Die Menschenfresserin« [1996], Theater Waidspeicher Erfurt) mit Tonklumpen, die erst während der Vorstellung modelliert werden (»König Drosselbart« [2006], Puppentheater der Stadt Halle und »Das Waldhaus« [2001], Figurentheater Margrit Gysin), verknoteten Tüchern, bei denen der Knoten den Kopf darstellt (»Die kluge Bauerntochter« [2005], Erfreuliches Theater Erfurt), fi ligran geschnitzten, zweidimensionalen Laubsägearbeiten (»Die goldene Gans« [2005], Puppentheater der Stadt Halle), an Kinderspielzeuge aus früheren Zeiten erinnernden Holzfiguren (»Die Bremer Stadtmusikanten« [2002], Theater Waidspeicher Erfurt). Dabei werden die jeweiligen Figurenarten nicht ausschließlich in Reinform verwendet, sondern die Spielformen können kombiniert werden und nebeneinander stehen, wie beispielsweise in der Inszenierung »Das tapfere Schneiderlein« ([2006], Theater Dawa Berlin), einer gelungenen Mischung aus dem Spiel mit kleinen und lebensgroßen Handpuppen, mit starren Tischfiguren, Schattenfiguren und einer Stabmarionette. Das Zusammenspiel von Puppenformen und offener Spielweise bringt originelle Lösungen für die Bühnengestaltung mit sich bis hin zur Öffnung des Bühnenraumes. So wird »Die Prinzessin auf der Erbse« ([2004] Erfreuliches Theater Erfurt) gespielt auf einem drehbaren runden Tisch, in dessen Mitte die Spielerin agiert. Peter Rinderknechts »Portofino Ballade« (2000) spielt in einem Kontrabass, der sowohl als Musikinstrument als auch als puppenstubenartige Wohnstatt für die Figuren nebst eingebauter Kaffeemaschine und Kuckucksuhr dient. Auch ein Hobbyraum mit maßstabsgetreu nachgebauter Eisenbahn kann als Erzählrahmen für eine Geschichte dienen (»Höchste Eisenbahn« [2002], Theater Handgemenge). Für »Die Bremer Stadtmusikanten« ([2003] Theater Waidspeicher) wurde eine einfache Sandkiste als Spielraum genutzt, für »Die Reise zum Mittelpunkt der Welt« ([2004] Erfreuliches Theater Erfurt, Theater Handmühle) ist es ein altes Bettgestell, das sowohl als Berg, als Fahrstuhl und auch als Schiff dient. In der Inszenierung »Der standhafte Zinnsoldat« ([2000] Puppentheater am Meininger Theater) wird das Schattentheater neu definiert, indem es der Erweiterung darstellerischer und raumgestalterischer Möglichkeiten dient. Hier befindet sich das Publikum gemeinsam mit dem Spieler 308
Kreative Prozesse eine Wechselspiels. Figurentheater in der Grundschule
und Erzähler in einem großen, runden Zelt, an dessen Wände und Decke Schattenfiguren und -kulissen projiziert werden, die aus einem Buch auf einem Tisch in der Zeltmitte aufgeklappt werden. Die ästhetische Vielfalt der Spielformen im Figurentheater zeigt sich auch darin, dass die Grenzen des Genres mit multimedialen Darbietungen überschritten werden bzw. im Zusammenspiel verschiedener Künste: Malerei, Musik, Schauspiel, Erzählen und Animation von Schatten- oder gemalten Figuren. Beispielhaft für diese Entwicklungen stehen »Die Königin der Farben« ([2004] Erfreuliches Theater Erfurt), »Was macht das Rot am Donnerstag« sowie »Kobold, Hans und Ballerina« ([2002 bzw. 2008] Thalias Kompagnons Nürnberg). Das innovative ästhetische Potential des professionellen Figurentheaters für Kinder begründet sich jedoch nicht nur durch die offene Formensprache und die Vielfalt der Spielmittel und Bühnengestaltungen, sondern auch in dramaturgischer Hinsicht. So finden sich neben klassisch-linearen auch nicht-lineare und epische Formen. Dieses Theater versteht sich nicht als geradlinig dargebotene Illusion, als zu präsentierendes Endergebnis, das in möglichst naturalistischer Form einen Ausschnitt der Welt abbildet, sondern als Prozess, der offen gezeigt wird, indem Spielvorgänge und das Erzählen auf der Bühne sichtbar gemacht und vom Erzähler hinterfragt werden. Das ermöglicht dem Zuschauer einen Blick hinter die Kulissen, auf den Animations- und Entstehungsprozess. In diesem Zusammenhang steht dann auch die Öff nung der ›Vierten Wand‹. Der Puppenspieler ist nicht nur neben den Figuren auf der Bühne zu sehen, er nutzt auch seine Präsenz, um mit dem Publikum in Dialog zu treten und um mit ihm Spielverabredungen zu treffen. So entsteht ein mehrfaches Spannungsverhältnis auf der Bühne: zwischen den Spielern selbst, zwischen Spielern und Figuren, zwischen Spielern und Zuschauern und zwischen den Figuren und dem Publikum. Es werden also nicht nur Geschichten erzählt, sondern auch deren Entstehung und Veränderung können auf der Bühne thematisiert werden. Für diese offene Form des Erzählens sind keine verdeckten Umbauten nötig, vielmehr wird gezeigt, wie Eins aus dem Anderen entstehen kann. Dabei kommt auch den Requisiten eine narrative Funktion zu, so dass die Dinge nicht nur das sind, was sie zunächst zu sein scheinen: In neuen Zusammenhängen wird ihnen plötzlich eine andere Bedeutung zugewiesen. Dass sich die Inszenierung letzten Endes erst durch die konkrete Auff ührung, die Interaktion mit den Zuschauern konstituiert und dass ein Theater, das sich im Machen selbst gewahr wird, auf die Zuschauer als Verbündete oder zumindest als Partner angewiesen ist, versteht sich von selbst. Auch die Stoffauswahl im professionellen Figurentheater ist überaus vielfältig. Ein großer Teil der Inszenierungen basiert auf kinderliterari309
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schen Stoffen – vorzugsweise Märchen, für die jedoch immer wieder neue Lesarten entdeckt und alte Lesarten hinterfragt werden. In das Repertoire im gegenwärtigen Figurentheater wurden sowohl Stoffe aus der zeitgenössischen Kinderliteratur als auch Bilderbücher aufgenommen. Einen verbindlicher Kanon von Figuren, Motiven und Spielsituationen, wie es ihn noch bis in die 1970er Jahre gab, existiert nicht mehr (vgl. Weinkauff 1994: 39).
Figurentheater in der Grundschule Während die Entwicklungen im professionellen Figurentheater der letzten zwei Jahrzehnte neue Erzähl- und Spielweisen hervorbrachten, fand im Figurentheaterspiel im schulischen Kontext diese grundlegende Veränderung nicht statt. Die innovativen Tendenzen, die das professionelle Figurentheater für Kinder bietet, haben kaum Einfluss auf die schulische Theaterarbeit, obwohl gerade die Entwicklungen hin zu reduzierten Formen und offenen Erzählweisen besondere Möglichkeiten für das Theaterspiel mit Kindern eröff nen. Nach wie vor werden im schulischen Bereich die traditionellen und technisch anspruchsvollen, verdeckten Spielformen wie Stabpuppen, Handpuppen oder gar Marionetten bevorzugt, die oft in mühevoller, aufwändiger Handarbeit von den Kindern selbst hergestellt werden. Dabei besteht die Gefahr, dass das Figurenspiel sich stärker auf das Herstellen konzentriert und kreative Prozesse des Darstellens vernachlässigt werden. Hinzu kommt, dass die Bewegungsbeherrschung von Handpuppen und Marionetten als technische Voraussetzung für die Übermittlung von Inhalten die kindliche Motorik überfordert und nur durch aufwändiges Training erlernbar ist, weshalb von diesen Puppenarten für schulische Theaterauff ührungen vor Publikum eher abzuraten ist (vgl. Steinmann: 2005). Dass die Impulse aus dem professionellen Figurentheater im schulischen Puppenspiel in der Mehrheit nicht ankommen und wahrgenommen werden, hat mehrfache Gründe, die genauer zu evaluieren wären. Eigene Erfahrungen und ein Blick in die aktuellere Literatur zum Thema lassen jedoch erste Rückschlüsse zu. In Publikationen zum Puppenspiel bzw. Figurentheater in der (Grund-) Schule, oftmals von Pädagogen verfasst, werden vorwiegend Anregungen zum Basteln von Figuren oder zum Herstellen von Kulissen gegeben (vgl. Strasser 2002; Zunker 2001). Historische Entwicklungen des professionellen Figurentheaters und die Herkunft verschiedener Spielformen und Puppenarten werden zwar – wenn auch äußerst verkürzt – erwähnt, gegen310
Kreative Prozesse eine Wechselspiels. Figurentheater in der Grundschule
wärtige Entwicklungen und in diesem Zusammenhang die Bedeutung rezeptiver Prozesse des Theatererlebnisses, finden jedoch keine Beachtung. Auch die Besonderheiten der einzelnen Puppenarten im Spiel mit Kindern werden nicht bedacht, wie das technisch anspruchsvolle Führen von Handpuppen über Kopf oder das komplizierte Spiel mit Marionetten mit langen Übertragungswegen zwischen Spielerhand und Puppenarm. Dass die Entwicklungen im schulischen Figurentheaterspiel nicht parallel verlaufen zu den Entwicklungen auf den professionellen Bühnen, hat jedoch auch strukturelle Ursachen. So stellt sich die Frage, welche Bedeutung das Figurentheaterspiel innerhalb der Theaterpädagogik hat und welche Rolle das Figurentheater in der Ausbildung von Theaterpädagogen, aber auch von Lehrern und Erziehern spielt. Die eigene Erfahrung zeigt, dass der Austausch zwischen Figurentheater und Schule eher mangelhaft ist – vermutlich auch aus dem Grund, dass die Figurentheater in den seltensten Fällen eigene Theaterpädagogen haben, die als Multiplikatoren agieren bzw. die Figurentheater in der Mehrzahl freie Gruppen sind, die kaum auf eine öffentlich finanzierte Infrastruktur zurückgreifen können, die einen solchen Austausch ermöglicht.
Figurentheaterspiel mit Kindern Das professionelle Figurentheater kann in mehrfacher Hinsicht als Anregung für das schulische Theaterspiel dienen. Dies betriff t sowohl die Auswahl der Spielmittel und Figuren als auch dramaturgische Fragen der Stoffaneignung und -darbietung. Zwischen einzelnen Spielformen des professionellen Figurentheaters und kindlichen Spiel- und Lebenswelten lassen sich viele Schnittpunkte feststellen. So erinnern die Inszenierungen »Die Bremer Stadtmusikanten« (2003) und »Das Waldhaus« (2001) – wenn im Theater zwei Herren mit Kinderspielzeug im Sandkasten spielen oder Tonfiguren auf einem Tisch bewegt werden, auf dem Stöckchen, Steinchen und eine Kerze den Wald und das Haus darstellen – an das kindliche Spiel mit Holzklötzchen, Puppen, Tieren oder Playmobilmännchen. Kinder erwerben im Spiel mit Spielfiguren unbewusst Fähigkeiten im Animieren und Verlebendigen unbelebter Dinge. In diesen Animationsprozessen setzen sie sich mit ihrer Lebenswelt auseinander, indem sie Geschichten erfinden oder im Rollenspiel Situationen und Erlebnisse auch aus der sie medial prägenden Umwelt spielerisch verarbeiten. Diese Tatsache stützt Karola Wenzels These, Kinder seien in ihren geselligen Spielformen der Vielfalt von ästhetischen Formen und Verfremdungsmöglichkeiten des modernen Theaters näher als der Pädagoge selbst (Wenzel 2007: 274). 311
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Das schulische Theaterspiel kann und sollte an diese kindlichen Vorerfahrungen im Rollenspiel, im Improvisieren und Animieren von Dingen anknüpfen, indem es diese wahrnimmt und fördert. Dieses natürliche Spiel der Kinder kann die Grundlage bieten sowohl für die spielerische Erarbeitung einzelner Szenen, zur Aneignung literarischer Texte und nicht zuletzt für die Arbeit an einer kompletten Theaterauff ührung. Das Spiel mit ungestaltetem Material (Naturmaterialien, Knete oder Ton), oder mit Tischfiguren (Playmobilmännchen, einfachen Holzpuppen) bedarf keiner umfangreichen Bastelarbeiten oder langwieriger Übung, vielmehr können hier durch Improvisation kreative Prozesse der Textaneignung und szenischer Umsetzung mit relativ wenig materiellem Aufwand in Gang gesetzt werden. Dass dies mit Kindern gelingen kann, zeigten Projekte, die Studierende der Universität Erfurt mit Schülern aus dritten und vierten Klassen durchführten. Ziel der Projekte war die szenische Aneignung einzelner Passagen aus dem Herakles-Mythos mit Hilfe von Knetfiguren. Die Kinder nutzten das Material sowohl zur szenografischen Arbeit auf dem Tisch, indem sie damit Bäume oder Höhlen modellierten, als auch zur Gestaltung der für die jeweilige Szene benötigten Charaktere. Die Aufgabe der Studierenden als Spielleiter bestand weniger darin, eine Spieltechnik zu vermitteln oder Bastelhilfen zu geben, sondern sinnvolle Impulse zu setzen, um die Improvisation zu unterstützen und das szenische Spiel in Gang zu bringen. Die von den Kindern eigenständig entwickelten Szenen zeigten, dass sie in der Lage waren, souverän mit dem Material umzugehen und die Figuren mit viel Spielfreude überzeugend zu animieren, so dass die gewünschte tiefgründige Auseinandersetzung mit der literarischen Vorlage, mit Handlung und Motivation der jeweiligen Charaktere gelingen konnte. Als Anregung für dieses Projekt diente den Studierenden eine Figurentheaterauff ührung von »Herakles« ([2007] Erfreuliches Theater Erfurt), die sie mit dem Eindruck verlassen hatten: »Wir nehmen auch Knete! Das probieren wir mal mit den Kindern aus.« Es ist aber nicht nur die Nähe zu kindlichen Spielformen, die ein grundlegendes Argument für das Figurentheater in der Grundschule liefert. Im Theaterspiel mit Kindern wird aus gutem Grund häufig auf literarische Vorlagen zurückgegriffen: um einen Rahmen für das Spiel zu setzen, aber auch, weil »im darstellenden Spiel Literatur auf besonders intensive Weise erfahren werden [kann], weil sie hier leiblich angeeignet wird« (Mattenklott 2007: 226). Die literarische Vorlage gilt dabei als Reibungsfläche, an der man sich kreativ abarbeitet. Für die Theaterarbeit mit Kindern haben sich als Genre vor allem Märchen durch ihre strukturellen Besonderheiten der Textsorte (abstrakter Stil, klare Handlungsstruktur, Einfachheit) und die Zeitlosigkeit der Themen bewährt (vgl. Mattenklott 2007: 234f.). Aber 312
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auch in den Lektürevorlieben von Kindern im Grundschulalter zählen märchenhafte und phantastische Geschichten zu den bevorzugten Textsorten (vgl. Plath/Richter 2005). Für die szenische Umsetzung von Märchen in der Grundschule bietet sich das Figurentheater mit seiner Breite an Möglichkeiten der Darstellungen an. Der theatralen Umsetzung von Märchen im Schauspiel sind hingegen körperliche und räumliche Grenzen gesetzt. Märchenfiguren und Fabelwesen lassen sich leichter und mit weniger materiellem Aufwand im Figurentheater darstellen. So können Riesen und Zwerge gespielt werden, indem verschieden große Puppen verwendet werden oder, kombiniert mit dem Schauspiel, können die Riesen auch durch überdimensionale Puppen (oder auf Pappwände gemalte riesige Figuren, deren Köpfe ausgeschnitten werden, so dass die Kinder ihren eigenen Kopf durchstecken können) dargestellt werden, wohingegen die Menschen oder Zwerge durch die Kinder selbst verkörpert werden. Auch Tierfiguren und Fabelwesen sind gut darstellbar durch Schattenfiguren oder bemalte Flachfiguren. Gerade das Schattenspiel eröff net vielfältige Möglichkeiten szenischer Darstellung, wie es das Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Kindermärchen »Nussknacker und Mausekönig« zeigt, das ich mit Kindern einer Erfurter Grundschule als Theaterstück erarbeitet habe. Die Grenzen des darstellenden Spiels zeigten sich in der Frage, wie der siebenköpfige Mausekönig gespielt werden könnte. Gemeinsam mit den Kindern wurde nach Lösungsmöglichkeiten gesucht, von denen wir uns dann für das Schattenspiel entschieden – was zu einer grundlegenden konzeptionellen Entscheidung führte: Alle Szenen, die in der realen Welt der Familie Stahlbaum spielten, wurden schauspielerisch umgesetzt; die Szenen, die der phantastischen Welt zuzuordnen sind (das Reich des Nussknackers, die Schlacht zwischen dem Mausekönig und den Spielzeugsoldaten), wurden mit Schattenfiguren gespielt. Das hatte auch den Vorteil, dass sich die Kinder selbst entscheiden konnten, ob sie lieber verdeckt mit Figuren spielen oder mit dem eigenen Körper präsent sein wollten. Zudem war es durch die Kombination der Spielformen möglich, die Wirkung von Licht und Schatten zu nutzen, um eine bedrohliche, unwirkliche Atmosphäre zu schaffen. Der Einsatz des Schattenspiels (mit Overheadprojektor oder Tischschattenbühne) kann originelle szenografische Lösungen hervorbringen, die ein aufwändiges Herstellen von Kulissen vermeiden: So lässt sich ein Wald an die Wand projizieren, ein Haus in der Ferne oder das Schloss, in welchem Dornröschen schläft, mit der wachsenden Dornenhecke (für die auch echte Pflanzen und Ranken auf den Overheadprojektor gelegt werden können).
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Dramaturgische Erarbeitung der literar ischen Vorlage Das Anregungspotential des professionellen Figurentheaters liegt auch in den Möglichkeiten der dramaturgischen Erarbeitung einer szenischen Spielvorlage. Im schulischen Theaterspiel werden eher konservative Theaterformen und das geradlinige, lineare Erzählen bevorzugt. Dabei sind auch im Theaterspiel mit Kindern nicht-lineare und experimentelle Spielformen möglich. In einem Theaterprojekt erarbeitete ich mit Kindern aus ersten und zweiten Klassen das Märchen von Dornröschen, jedoch nicht mit dem Ziel, alle Szenen chronologisch umzusetzen, sondern einzelne Kernszenen in den Mittelpunkt zu stellen, die die Kinder in Kleingruppen erarbeiten sollten. Damit die Interessen der Jungen und Mädchen gleichermaßen berücksichtigt werden konnten, standen zwei Szenen zur Auswahl, in denen zwei Leerstellen des Textes durch das Spiel gefüllt werden sollten: In der ersten Szene sollte dargestellt werden, wie die dreizehnte Fee erfährt, dass sie nicht zum Fest des Königs eingeladen ist; die zweite Szene sollte klären, warum der Koch dem Küchenjungen eine Ohrfeigen geben wollte. Für die Auff ührung wurden dann alle von den Kindern zuvor in Gruppen erarbeiteten Varianten derselben Szene gezeigt, die dann jeweils mit unterschiedlichen Mitteln umgesetzt wurden (so wurden Koch und Küchenjunge sowohl durch die Kinder selbst, aber auch durch Küchengeräte verkörpert, für die Darstellung der Feen wurden farbige Tücher oder Blumen verwendet). Der Erzähler hatte dann in der Auff ührung nicht nur die Aufgabe, die nicht im Spiel gezeigten Handlungen in geraff ter Form zusammenzufassen, sondern auch die gespielten Szenen in den jeweiligen Variationen zu kommentieren: »Ja, so könnte es gewesen sein. Aber vielleicht hat sich alles auch ganz anders zugetragen.« Das Beispiel zeigt, dass es auch im Theaterspiel mit Kindern möglich ist, klassische Formen aufzubrechen, indem Spielverabredungen getroffen und das Erzählen und Spiel sichtbar gemacht werden. Im Gegensatz zum klassischen Illusionstheater sind so auch offene Rollen- und Figurenwechsel sowie Umbauten und die Verwendung von Dingen in neuen Zusammenhängen möglich. Diese Form des Theaters kommt dem kindlichen ›Noch-nicht-richtig-Können‹ entgegen. Erfahrungen aus Lehrveranstaltungen und Projektseminaren mit Erfurter Studierenden, in denen sowohl das ›Theater sehen‹ als auch das ›Theater spielen‹ im Fokus standen, zeigen, dass rezeptive Prozesse des ›Theater Sehens‹ eigene kreative Prozesse in Gang setzen können. Die Studierenden wurden ermutigt, Etüdenspiele zu wagen, Ideen auch selbst auf 314
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der Bühne umzusetzen und nach originellen und passenden Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen.
Literatur Hentschel, Ingrid (2008): Theaterpädagogik Quo Vadis? Zwischen Vermittlung und künstlerischer Arbeit, Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript: PANOPTIKUM 14.2.2008, Nürnberg, Theater Mummpitz. Mattenklott, Gundel (2007): »Literarische Texte im Theaterspiel mit Kindern«. In: Gerd Taube (Hg.), Kinder spielen Theater. Methoden, Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern, Milow: Schibri, S. 222-236. Plath, Monika/Richter, Karin (2005): Lesemotivation in der Grundschule. Empirische Befunde und Modelle für den Unterricht, Weinheim/München: Juventa Verlag. Steinmann, P.K. (2005): Die Theaterfigur auf der Hand. Grundlagen und Praxis, Frankfurt a.M.: Nold. Strasser, Felix (2002): Figurentheater in der Grundschule. Handbuch für Theorie und Praxis, Baltmannsweiler: Schneider Verlag. Taube, Gerd (2007): »Kinder spielen Theater. Strukturmodelle, Methoden und Spielweisen des Theaters mit Kindern«. In: Gerd Taube (Hg.), Kinder spielen Theater. Methoden, Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern, Milow: Schibri, S. 16-46. Weinkauff, Gina (1994): »Kinder und Figuren – ein pädagogisches oder ein künstlerisches Phänomen?« In: Wolfgang Schneider/Dieter Brunner (Hg.), Figurentheater – Das Theater für Kinder? Frankfurt a.M.: Nold, S. 34-51. Wenzel, Karola (2007): »Ich bin ein neues Mädchen. Theater mit Kindern zwischen Spiel und Kunst«. In: Gerd Taube (Hg.), Kinder spielen Theater. Methoden, Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern, Milow: Schibri, S. 274-289. Zunker, Angelika (2001): Puppenspiel in der Grundschule, München: Oldenbourg-Schulbuchverlag.
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Bilder der Br isanz. Erzählen als theatraler Akt in der Schule 1 Kristin Wardetzky
Stellen Sie sich folgende Szene vor: 27 Erstklässer stürmen in den Klassenraum, schubsen sich, fallen übereinander her, schreien, lachen, heulen – ein wahres Tohuwabohu. Die Lehrerin kommt zur Tür, spricht beschwichtigend auf die sie begleitende Erzählerin ein: »Also, höchstens fünf Minuten! Die können nicht länger zuhören, dann muss was anderes folgen!« Die Erzählerin steht vor den Kindern, die unter den Blicken der Lehrerin auf ihre Plätze gehen, sich hinsetzen. Die Unruhe bleibt, jetzt ist sie in den Händen der Kinder – ein Bleistift, ein Radiergummi, die Federtasche; die Finger spielen, schnalzen, schnipsen, klopfen. Die Erzählerin wartet, nickt der Lehrerin, die sie kurz begrüßt, zu, wartet noch einen Moment und beginnt dann, mit ruhiger Stimme zu sprechen: »In einem weit, sehr weit entfernten Land« – »Türkei!«, »Ghana!« schreien zwei Jungen – »vielleicht in der Türkei« – »wohnt Opa!« einer der Jungen – »ich denke, noch weiter als in der Türkei oder Ghana, in einem Land, das so weit entfernt ist, dass die Sonne es am Morgen kaum findet« – »Zombi-Land!«, »Star-War-Land!« »Totschießen!« – die Klasse kreischt wild auf – »da lebten einmal zwei Kinder, die waren genauso alt wie ihr, fünf, sechs Jahre?« – zustimmendes Nicken der Kinder, Kippeln mit den Stühlen, Wackeln, Herumrutschen, wieder kommt Unruhe auf, – »und diese beiden Kinder waren arm, ganz, ganz arm.«
1. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den die Verfasserin im Rahmen der Tagung »Theaterpädagogische Methoden und Spracherwerb« (14.-15.5.2007) in der Bundesakademie Wolfenbüttel gehalten hat.
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Kr istin Wardetzky
Plötzliche Stille, kein Laut zu vernehmen. Die Kinder sitzen wie festgebannt. »Und eines Morgens suchte die Mutter in allen Ecken des Hauses, ob sie noch eine Brotrinde fände. Aber nichts, so sehr sie auch suchte – kein Krümchen war zu finden.«
Nun hat die Erzählerin die Kinder an der Angel. Die Kinder folgen mit den Augen jeder ihrer Bewegungen, formen mit den Lippen die Worte der Erzählerin nach, ducken sich, wenn der Sturm durch die Tür der Hütte hereinbricht, schmatzen zufrieden, wenn sich am Ende das Laub in Kuchen verwandelt und die armen Leute für immer genug zu essen haben. Und sie klatschen, nach zwölf Minuten, und rufen: »Zugabe, Zugabe!« Neun Monate später. Das erste Schuljahr neigt sich seinem Ende entgegen. Wieder kommt die Erzählerin in die gleiche Klasse. Neun Monate lang hat sie diesen Kindern wöchentlich einmal Märchen erzählt. Unübersehbar die Veränderung: Der Ablauf ist ritualisiert, die Kinder hören 40 Minuten mit äußerster Spannung zu, und am Ende ruft Milan aus Bosnien: »Das Buch, gib mir das Buch, in dem die Geschichte steht! Ich will sie lesen!« Die hier beschriebene Szene stammt aus einem Projekt, bei dem professionelle Erzählerinnen zwei Jahre lang in einer Berliner Grundschule internationale Märchen erzählt haben (vgl. Wardetzky/Weigel 2008). Sie könnte jedoch ebenso in England wie in allen anderen europäischen Ländern spielen. Sie ist prototypisch für tausende von staatlichen Grundschulen in den hochentwickelten Industrieländern Europas. Wie in einer Nussschale bündelt sie die gravierenden Probleme, mit denen Grundschulen heute in den Industrienationen zu kämpfen haben: Disziplinschwierigkeiten, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Prägung der Phantasie durch Medienkonsum und Computerspiele, die alarmierende Reaktion auf das Thema Armut in den reichsten Ländern der Welt. Aber sie spiegelt auch wider, welche Wirkung das Erzählen entfalten kann: Nach neun Monaten konzentriertes Zuhören und das Verlangen nach dem Buch, um nachzulesen, was da erzählt worden ist! Im Folgenden möchte ich mit Ihnen gemeinsam danach fragen, inwiefern tatsächlich das Erzählen zu den angedeuteten Veränderungen beigetragen haben könnte. Wir wollen fragen nach der Wirkungsmacht des Erzählens im Kontext des regulären Unterrichts in der Grundschule. Dabei sollen vier Aspekte im Mittelpunkt stehen: Erzählen als Verführung zum Lesen; Erzählen im Medienzeitalter; Erzählen in der multikulturellen Schule; Erzählen und literarische Tradition.
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Erzählen als Ver führung zum Lesen Beginnen wir mit dem ersten Aspekt und kommen damit auf die Frage des bosnischen Jungen nach dem Buch zurück, in dem er die erzählte Geschichte nachlesen möchte. Wenn Kinder an ihrem ersten Schultag der Lehrerin gegenübersitzen, dann können einige von ihnen bereits ein paar Buchstaben malen und entziffern, anderen ist der Umgang mit Bilderbüchern vertraut, andere wiederum kennen Bücher nur vom Hörensagen. Was in der Schule auf sie wartet, ist die Öff nung einer neuen Welt – die Welt der Schrift und damit die Welt des Buches. Buchstaben als symbolische Zeichen sind der Schlüssel, um in gänzlich neuer Weise den Horizont der Erfahrungen und des Wissens zu erweitern. Können wir Erwachsene tatsächlich ermessen, was die Beherrschung dieses Schlüssels für die Entwicklung eines Menschen bedeutet? Wenn die Kinder in die Schule kommen, dann liegt bereits eine äußerst intensive Etappe des Lernens und des Erfahrungsgewinns hinter ihnen – eine Etappe ohne Schrift und meist ohne Buch. In keiner Phase lernt der Mensch derart rasch, komplex und nachhaltig wie in jener Phase, in der er ohne Schrift ist. Sie ist die Phase des elementaren Erwerbs eines hochdifferenzierten Wissens (vgl. Elschenbroich 2001), von unverlierbaren Gedächtnisspuren, von komplexen Denk- und Gefühlsweisen. Grundlegende Erfahrungen und Erkenntnisse über das Zusammenleben von Menschen in einer bestimmten Gesellschaft, über deren Wertvorstellungen, Ideale, Vorurteile, Tabus, die das Fundament dieser Gesellschaft bilden, erwirbt das Kind in dieser illiteralen Phase seiner Entwicklung, und dieses Fundament ist in der Regel bestimmend und prägend für seinen weiteren Lebensweg. Das Kind baut dieses Weltwissen und dieses Weltverständnis zunächst über die sinnliche Wahrnehmung/Anschauung und das mündlich vermittelte Wort auf. Hören, sehen, schmecken, riechen, tasten – so wird über die kurze Spanne von fünf bis sechs Jahren hinweg Welt ›be-griffen‹ und ›erkannt‹. Für Kinder ist das über die Sinne und über das gesprochene Wort Wahrgenommene jener Gedächtnisbesitz, mit dem sie ihr Weltverständnis konstruieren. Das ›Sich-Einleben‹ in die Welt erfolgt über die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung. Nun aber, mit dem Schuleintritt, wird das Kind mit einer radikal anderen Form der Erkenntnisvermittlung konfrontiert: mit der Schrift. Der Unmittelbarkeit des Erfahrungsgewinns wird etwas gänzlich Neues gegenübergestellt: die Mittelbarkeit von symbolischen Zeichen. Diese symbolischen Zeichen, die Schrift also, sind für die Kinder zunächst ein fremdes, totes, äußerst sperriges Instrumentarium, das seine Bedeutung 319
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als Schlüssel zur Welt erst ganz allmählich (und oft mit viel Mühsal verbunden) enthüllt. Auch wenn die Kinder die Buchstaben kennen, erste Schreibversuche wagen, haben sie damit nur die Voraussetzung gewonnen, Schrift als Kulturtechnik zu nutzen und sich in die Welt der symbolischen Zeichen einzuleben. Über einen gewissen Zeitraum hinweg bleibt für sie die Schrift etwas Unzugängliches, Hermetisches. Wenn hier von Schrift die Rede ist, dann wird sie gleichgesetzt mit dem Medium Buch. Sieht man vom Bilderbuch ab, dann ist für Kinder das Buch vorerst ebenso fremd wie für uns die Hieroglyphen auf den Tontafeln des Gilgamesch-Epos. Im Deutschen benutzt man für den Schriftsatz im Buch die Metapher von der ›Bleiwüste‹. Blei ist schwer, eine Wüste unfruchtbar. Warum soll sich ein Kind bemühen, sich in diese ›Bleiwüste‹ hineinzubegeben? Warum soll es sich aufmachen, den steinigen Weg in die Welt des Buches und der Schrift zu finden? Diese Frage werden sich vor allem Kinder stellen, die zuhause nicht von Büchern und lesenden Eltern umgeben sind. Aber auch für Kinder, die nicht aus bildungsfernen Elternhäusern kommen, ist die Bedeutung dieser Frage nicht zu unterschätzen, denn Lesenlernen ist Mühsal, oder, wie Aristoteles sagt: »Lernen tut weh.« Warum diese Pein auf sich nehmen? In den letzten 40 bis 50 Jahren hat die universitäre Forschung im Verbund mit der Unterrichtspraxis eine Vielzahl von Methoden entwickelt, die den Kindern den Schrifterwerb und das Lesenlernen schmackhaft machen. Sie setzen dabei auf handlungsorientiertes, spielerisches und intrinsisch motiviertes Lernen – und viele dieser Methoden erfüllen durchaus ihren guten Zweck. Was darüber in Vergessenheit geriet, ist die Tatsache, dass Kinder zunächst einmal erkennen müssen, warum es sich lohnt zu lesen. Sie müssen eine Ahnung davon bekommen, dass Bücher keine trockenen Archive sind, sondern Schatztruhen voller Abenteuer, Reisen in unbekannte Welten und Zeiten, also Schätze, die Genüsse und Vergnügungen besonderer Art in sich verbergen. Sie müssen neugierig gemacht werden auf die Schätze, die in Büchern ruhen und zum Leben erweckt werden wollen. Wie aber kann diese Ahnung besser vermittelt werden, als über das lebendige Erzählen der Geschichten, in die sich diese ›Bleiwüsten‹ verwandeln können? Erzählen ist die sicherste, zuverlässigste Brücke in die Welt des Buches. Sie baut auf jener Form des Erkenntnis- und Erfahrungsgewinns auf, die den Kindern vertraut ist – auf der Mündlichkeit. Das Lernen der Schulanfänger ist noch gänzlich an die Mündlichkeit und – wie bereits gesagt – an die unmittelbare sinnliche Erfahrung gebunden. Es ist zu vermuten, dass das Erlernen des Mediums Schrift und der Weg zum Buch für Kinder umso schwieriger wird, je weniger dieser Prozess an die Mündlich-
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keit rückgekoppelt wird. Die Mündlichkeit ist das Vertraute, und damit die Brücke zum Unvertrauten. Wer, bevor er in der Schrift heimisch geworden ist, nicht die ›Magie‹ literarischer Weltentwürfe kennengelernt hat, also nicht die ›Verheißungen‹ kennt, die ein Buch verspricht, wird es vermutlich schwer haben, die Fremdheit der Schrift zu überwinden und sie als transparentes Medium zu nutzen, in dem Mittelbarkeit wieder umschlägt in Unmittelbarkeit. Wenn man Kinder beobachtet, die erzählten Geschichten lauschen, dann wird man keinen Beweis mehr dafür brauchen, dass sie noch ganz unmittelbar an die Nabelschnur der Mündlichkeit angeschlossen sind und ihnen das mündlich vermittelte Wort allein Wahrheit und Allgewalt verbürgt. Im Erzählen wird eine Form der Weltaneignung weitergeführt, die in der frühen Kindheit wurzelt und später immer wieder als lustvoll erlebt wird, weil sie an primäre Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstrategien anknüpft und diese bestätigt. Die vielbeschworene pädagogische Maxime, man möge Kinder dort abholen, wo sie sind, bedeutet unter anderem auch, dass mündliche und narrative Zugänge zur Welt als Lehr- und Lernformen ihren festgefügten Platz im Unterricht behaupten sollten. Der mündlich grundierte Auf bau des kindlichen Weltbildes und Lebensverständnisses erfährt im Erzählen seine natürliche Fortsetzung und Erweiterung. Deshalb kann das Erzählen im Anfangsunterricht nicht nur akzidentielle Zutat sein, ein Bonbon, das man ab und zu den Kindern verabreicht, um den mühsamen Schulalltag zu versüßen. Erzählen gehört in den Unterricht wie Mathematik, Musik, Sport. Die Vermittlung von Literacy kann nicht erfolgreich sein ohne feste Bindung an Orality. Deshalb sollte dem Erzählen in der Schule ein gebührender Platz eingeräumt werden – nicht als marginale Zutat, nicht nur als Einmalbegegnung mit professionellen Erzählern. Erzählen in der Grundschule sollte zur selbstverständlichen, täglichen Erfahrung der Schüler gehören. Das heißt, Lehrer müssen gute Erzähler sein. Das setzt voraus, dass sie während ihrer Ausbildung Erzählen gelernt haben, vermittelt von den besten Erzählern des Landes! Aber dies allein genügt nicht. In Ergänzung und im Tandem mit Lehrern gehören professionelle Erzähler zum festen Bestand des Schulpersonals, und zwar als storyteller in residence, wie der mehrmonatige Aufenthalt von Erzählern in der Schule in Großbritannien und Irland genannt wird. Einmal-Begegnungen mit Erzählern sind eine schöne Unterbrechung in den Routinen des Schulalltags, aber ihre Wirkung bleibt gering. Erst über die Langzeitbegegnung mit Erzählern kann deren Profession tatsächlich zur Geltung kommen. Professionelle Erzähler verfügen über andere Fähigkeiten als Lehrer. Sie verfügen über 321
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ein breites Repertoire an Geschichten, aus dem sie situationsabhängig die richtige auswählen können. Und sie verfügen über besondere performative Fähigkeiten. Sie wissen um die Dramaturgie einer Erzählung, können Spannung auf bauen und Spannung halten, können mit ihrer Stimme, ihrer Körpersprache und ihrer Mimik ›zaubern‹, also imaginäre Welten entstehen lassen. Das ist ihr Beruf, das ist ihr Handwerk, und dieses in den Dienst der Schule zu stellen, ist eine der dringlichsten Aufgaben gegenwärtiger Schulpolitik in den Industrieländern. Gegenwärtige Schulpolitik – dies ist das Stichwort, das uns zu einer weiteren Begründung für die Dringlichkeit des Erzählens in Schule von heute führt.
Erzählen im Medienzeitalter Nach dem tiefgreifenden kulturellen Wandel infolge der Ablösung des ›Gutenberg-Zeitalters‹ durch das ›digitale Zeitalter‹ stehen wir heute vor den Herausforderungen einer Welt, in der wesentliche Funktionen des Erzählens von den technischen Medien übernommen werden. Geschichten werden heute zunehmend in der Bildsprache des Fernsehens, der Videos, des Films und der Computerspiele vermittelt. Über die audiovisuellen Medien können Kinder ihren Hunger nach Geschichten leicht befriedigen. Was hierbei jedoch in Gefahr geht – und dies ist ein alarmierender Befund – ist die Fähigkeit der Kinder, aus dem gesprochenen oder gedruckten Wort eigene Bilder im Kopf zu erzeugen. Erfahrungen aus dem eingangs erwähnten Schulprojekt belegen, dass es ca. acht Wochen dauerte, bis ein Junge erstaunt ausrief: »Jetzt seh’ ich das alles in meinem Kopf!« Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass bei einem erheblichen Teil der Kinder die Imaginationsfähigkeit blockiert ist. Die Landkarte ihrer Phantasie ist beschrieben. Eingezeichnet sind medial vorgefertigte Bilder. Diese Art der Kolonisierung der Phantasie korrespondiert mit der Schwierigkeit der Kinder, aus Zeichen – also aus gehörten oder gelesenen Wörtern – selbstgefertigte Vorstellungsbilder zu entwickeln. Diese Art der Imaginationsfähigkeit ist aber eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des gehörten und gelesenen Wortes. Literacy hat ja nicht nur etwas zu tun mit Lesefertigkeit, sondern vor allem auch mit Imaginationsfähigkeit. Auch diese muss heute – anders als im ›Gutenberg-Zeitalter‹ – trainiert werden. Phantasie ist ein Muskel, wie Ben Haggarty2 sagt, und dieser braucht Nah-
2. Der britische Erzähler Ben Haggarty gehört zu den international bekann-
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rung und Training. Exzessiver Medienkonsum lässt diesen Muskel verkümmern. Es ist anzunehmen, dass die im pädagogischen Alltag bezeugten Widerstände, die sich im Lese-Lern-Prozess ergeben und das geringe Interesse von Jugendlichen am (literarischen) Lesen (wie durch die PISA-Studie belegt) eine (neben vielen anderen) Ursache in der mangelnden Erfahrung ›belebenden Zuhörens‹ haben, in der sich eine durch Poesie gesättigte Einbildungskraft ausbilden kann. Warum nun ist gerade der Erzähler der beste Lehrer, um zu lernen, eigene Vorstellungsbilder zu entwickeln? Der Erzähler vermittelt Geschichten ähnlich dem Fernseher über Bild und Ton. Er selbst ist ein Medium. Er erzählt mit der Sprache seines Körpers und seiner Mimik, und erzählt mit der Modulation seiner Stimme – erlebbar also ist Visuelles im Verbund mit Auditivem wie im Fernsehen. Aber im Unterschied dazu ist er ein lebendiges Medium, und er präsentiert die Bilder nicht ›pur‹. Er vermittelt nicht das Bild in seiner konkreten Gestalt – also nicht in der Materialität von Farbe, Form, Bewegung, sondern im ephemeren Medium des Wortes und der Körpersprache. Er vermittelt ›Zeichen‹ des Bildes. Er ist ein Medium der Zeichenhaftigkeit. Seine Worte, Mimik, Gestik sind Zeichen für Bilder und Emotionen. Er verwandelt die Bilder in seinem Kopf in Worte, Gestik und Mimik. Wenn er von den grünen Schuppen eines Drachen erzählt, dann sieht er diese vor sich, und wenn er beschreibt, wie dem Helden das Schwert vor Schreck aus den Händen fällt, dann überträgt er Bild und Emotion auf den Zuhörer. Er regt den ›Muskel Phantasie‹ an, selbst aktiv zu werden. Er speist ihn aus der Energie seiner eigenen Phantasietätigkeit, und mit dieser Energie vollzieht sich die Rückverwandlung der Zeichen in konkrete Bilder und Bedeutungen. Wie dieser Prozess hirnphysiologisch abläuft, ist bisher noch ein Desiderat der Forschung – ein wunderbares Geheimnis, das wir alle kennen, ohne es erklären zu können. Die Dominanz der medial geprägten Phantasiebilder bei Kindern braucht den lebendigen Menschen, den Erzähler aus Fleisch und Blut als Trainer des ›Muskels Phantasie‹. Niemand kann ihm die Königsrolle in diesem Prozess streitig machen. Die Bedeutung des Erzählens als Verfahren zur Aktivierung der Phantasie kann im ›digitalen Zeitalter‹ nicht hoch genug eingeschätzt werden. Oftmals wird uns entgegengehalten, dass mit der Dominanz der Medienrezeption die Fähigkeit der Kinder, einer allein über das Wort vermittelten Geschichte zuzuhören, verlorengegangen ist. Diese Behauptung ist purer Unsinn! Der Akt der Performanz, in der die eins zu eins Beziehung testen Erzählern. Er ist einer der Architekten der Erzählbewegung in Großbritannien. Er lehrt als Honorarprofessor an der Universität der Künste Berlin.
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zwischen (kindlichen) Zuhörern und Erzählern hergestellt wird, bestätigt uneingeschränkt die Faszination des unmittelbaren Kontakts, durch den Erzählen konstituiert wird. Die Verwandlung von (hyperaktiven) Kindern in bereitwillige Zuhörer gehört zu den konstanten Erfahrungen aller (professionellen) Erzähler und Erzählerinnen. Das heißt, die Bereitschaft zum imaginierenden Zuhören wird wachgerufen, sobald Erzähler und Erzählerinnen mit ihrer Geschichte beginnen. Wenn ein Erzähler von dem, was er über Worte und Körpersprache entfaltet, selbst ›ergriffen‹ wird, dann ergreift dies in der Regel auch die Zuhörenden und öff net die Kanäle zur Phantasie, zur Imagination, zur Empfindung, zur Erkenntnis. Und es kann eine ›wilde Horde‹ in eine ›Gemeinschaft der Lauschenden‹ verwandeln. Der kanadische Erzähler Dan Yashinsky beschreibt ein drastisches Erlebnis mit einer Gruppe von ›verhaltensauff älligen‹ Jugendlichen: These boys […] sitting so rapt around, […], playing pranks, bashing each other […], farting as noisily and often as possible […] Yet when the storytelling began they became utterly quiet and well behaved. […] By some mysterious power the storyteller was able to transform my wild pack of boys into a community of listeners. Homer himself would have been proud to play for. Every one of them had been labelled by teachers and social workers as having ›severe attention deficits‹ and ›unmanageable behaviour‹. Yet when the stories began, I watched them relax and breathe more deeply, their eyes shining with joyful – and sometimes fearful – anticipation. What was the secret of this astonishing art? (Yashinsky 2004: 21)
Das Geheimnis besteht vermutlich darin, dass die Übersättigung von Kindern durch mediale Angebote eine Art von Hunger erzeugt, der auch von den raffiniertesten Konsumstrategien der Medien nicht befriedigt werden kann: den »Hunger nach Person«, wie Hartmut von Hentig diese Phänomen genannt hat. Die Sehnsucht nach einem lebendigen Gegenüber bleibt virulent und ungestillt auch in der perfektesten Medienwelt. Dies ist das Fundament, auf dem die Zurückweisung resignativer Anmutungen gründet: Als Erzähler sind wir unersetzbar. Nichts kommt dem auratischen Raum gleich, der im Dialog zwischen Erzähler und Zuhörer entsteht. Mit dem Erzählen wird der Kreis zur frühen Kindheit und damit zur Mündlichkeit wieder geschlossen. In regressiver Lust genießen Kinder wie auch Erwachsene die Teilhabe an einer mündlich vermittelten Welt.
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Erzählen in der multikulturellen Schule Eine weitere Herausforderung, vor der die Schule in den hochindustriellen Ländern steht, ist die, dass in manchen von ihnen ein Großteil der Schüler aus aller Herren Länder kommt und die jeweilige Nationalsprache kaum oder schlecht sprechen bzw. verstehen kann. Diese Kinder mit Migrationshintergrund erlernen die Sprache ihrer neuen Heimat in zweifacher Form: als Hochsprache in der Schule und als Soziolekt im Alltag, der den Umgang mit der Hochsprache überlagert. Zudem erlernt ein nicht unerheblicher Teil dieser Kinder eine weitere Sprache, nämlich das Hocharabisch, in der Koranschule. Das heißt, die Kinder bewegen sich zum Teil in vier verschiedenen Sprachen. Diese Verwirrung macht sie in vielen Situationen tatsächlich ›sprachlos‹, das heißt hilflos, und sie verhindert vielfach, verbal situationsadäquat zu reagieren. Dies führt nicht selten zu körperlichen Ersatzhandlungen, die diese Hilflosigkeit kompensieren. Ein Großteil der Probleme, insbesondere die Eskalation von Gewalt an Schulen, hat unter anderem auch mit der Unfähigkeit der verbalen Kommunikation, dem verbalen Aushandeln von Konflikten zu tun. Die Arbeit an der jeweiligen Nationalsprache ist zentrale Voraussetzung für gelingende Integration. Die Kinder müssen eine Fährte finden in diesem Sprach-Babel, auf der sie sich vernunft- und emotionsgeleitet sicher bewegen können. Nur so kann es gelingen, sie in den Stand zu versetzen, später am wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben aktiv und selbstbestimmt teilzunehmen. Auch aus dieser Perspektive betrachtet, kommt dem Erzählen eine Schlüsselfunktion in der multikulturellen Schule zu. Es unterscheidet sich von anderen didaktischen Verfahren, mit denen die Schüler in der Nationalsprache unterrichtet werden, dadurch, dass es Sprache nicht abstraktbegrifflich, grammatikalisch und orthografisch, sondern in aufrüttelnden, spannungsgeladenen Geschichten vermittelt. Die Kinder erleben auf diese Weise Sprache primär in ihrer emotional sinnlichen Qualität, und eben dies erweist sich als wirkungsvolles Instrument der ›Verführung‹ zum Zuhören und zum aktiven Sprachgebrauch. Der Spracherwerb vollzieht sich hier in einem Prozess mit hoher emotionaler Anteilnahme. Vor allem letzteres mag ausschlaggebend für die Effizienz des Erzählens als Instrument der Sprachvermittlung sein. Des Weiteren kann die Wirkungsmacht des Erzählens bei der Vermittlung von Sprachkompetenz erklärt werden aus der Parallelität zum Erlernen einer Muttersprache. Was vollzieht sich beim Erlernen der Muttersprache? Hier findet jedes Kind seinen eigenen Weg, bestimmt sein eigenes Tempo. Kein Kind erwirbt beim Erlernen der Muttersprache bewusst und 325
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systematisch Vokabeln und grammatikalische Regeln. Es findet seinen Pfad im Ozean der Worte selbst, und es baut eigenständig das lexikalische und grammatikalische Ordnungssystem auf, aus dem die Muttersprache gebildet ist. Es erlernt diese Sprache implizit, nicht in geregelter didaktischer Vermittlung. Ähnliches erlebt das Kind beim Zuhören von Erzählungen. Auch hier wird es konfrontiert mit einem Ozean an Worten. Auch hier erwirbt es implizit ein Verständnis für die Lexik und Grammatik der fremden Sprache. Es erwirbt die fremde Sprache in einem selbstgesteuerten Lernprozess, also auto-didaktisch, und es bestimmt dabei seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo. Diese Art des Spracherwerbs basiert auf den Prinzipen der Selbstoptimierung und der Selbstkorrektur. Durch die wiederholte Begegnung mit sprachlichen Mustern und lexikalischen Wendungen prägen sich Lexik und Regeln ein ohne explizite Vermittlung. Geschwindigkeit und Umfang bestimmt das Kind selbst, nicht ein für alle verbindliches, vorgegebenes Curriculum. Dabei sind Verweigerungshaltungen nicht auszuschließen. Sie werden nach meiner Beobachtung limitiert, in den meisten Fällen aufgehoben durch das gruppendynamische Phänomen der Ansteckung. Die Verweigerer erleben andere Mitschüler als neugierige, begeisterte Zuhörer. Dem können sie sich kaum entziehen, folgen deren Beispiel und bauen allmählich ihre Ressentiments ab. Zusätzlich entfaltet dann die Geschichte ihre Verführungskraft: Wer sich einmal auf den darin dargestellten Konflikt eingelassen hat, der will wissen, wie er sich auflöst. Sog statt Druck – das altbekannte pädagogische Erfolgsrezept hat auch hier seine universelle Gültigkeit bewiesen. Die eingangs beschriebene Szene macht auf einen weiteren, und zwar sozialen Aspekt aufmerksam, der in der multikulturellen Schule brennende Aktualität besitzt. Die Kinder, die an dem eingangs erwähnten Schulprojekt teilnahmen, wirkten wie elektrisiert, wenn das Thema Armut anklingt. Wo auch immer im näheren oder weiteren Assoziationsraum dieses Thema berührt wird, kommen spontane Einwürfe. Kaum ein anderes Thema fordert ihre Aufmerksamkeit derart uneingeschränkt heraus wie dieses. Einige Bespiele: In einer Geschichte wird anfangs ein Kaufmann erwähnt. Spontane Nachfrage: »Ist der reich«? Ein Mädchen hat goldene Haare: »Golden? Ich würde die abschneiden und verkaufen«. Knochen werden in der Erde vergraben: »Da kommt Geld raus!« Der Fischer hat einen Wunsch frei. Was wünscht er sich? »Reichtum!«. Im Schloss finden die Protagonisten eine Truhe: »Die ist voller Gold, und davon kaufen sie sich Essen!« Die Kinder haben einen goldenen Vogel gefunden: »Davon haben sie ein Foto gemacht. Das war 569er Gold. Mit dem Foto haben sie 326
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ganz viel Geld verdient.« O. erfindet ein Märchen: »Ein Mann und eine Frau waren sehr arm: Der Mann fischte, und die Frau putzte. Als die Frau mal frische Luft schnappen ging, kam ein Mann geritten. Der gab ihr eine Tüte und sagte: ›Da könnt ihr euch was wünschen, und es geht in Erfüllung. Aber leise und immer in die Tüte hinein.‹ Da wünschten sie sich alles und wurden reich und lebten in einem Schloss. Und von dem Geld haben sie allen Armen gegeben, und dann waren alle reich.« Mitunter identifizieren sich die Kinder in solchen Geschichten derart mit den Helden, dass sie in die Ich-Form wechseln: »Ein Junge findet ein Huhn. Ich hatte ein Huhn, das konnte Geld spucken. Dann habe ich ein Riesenhaus gekauft, 20 Zimmer. Jedes Zimmer hat einen Schrank. In einem Zimmer schlafe ich. Es gibt drei Toiletten und ein Zimmer, in dem das Huhn schläft. Es heißt Goldhuhn.«
Inhaltlich machen die zitierten Beispiele überdeutlich, woran sich das Wunschdenken dieser Kinder entzündet, nämlich dort, wo sie die elementarsten Defizite empfinden: an materieller Not. Bedrängte Wohnverhältnisse, Jobsuche, Hunger, fehlendes Geld – hier wird das Märchen gleichsam zum Spiegel, in dem sie ihre soziale Realität wiederfi nden. Hier finden sie artikuliert, worüber ansonsten geschwiegen wird. Armut und Arbeitslosigkeit erleben sie als existentielles und gleichzeitig tabuisiertes Thema. Es hängt als oftmals extreme Belastung über ihrem familiären Alltag. In der Schule wird es selten oder gar nicht oder nur oberflächlich kommuniziert. Und plötzlich erleben die Kinder Figuren, die in einem ähnlichen sozialen Dilemma stecken wie sie selbst. Eine Vielzahl von Märchen berührt den schwankenden Boden ihrer Existenz, viele Märchen machen gerade diesen schwankenden Boden zum zentralen Thema. Hellwach und mit äußerster Konzentration verfolgen sie nun, wie es den Helden der Märchen gelingt, das Schicksal zu wenden und Reichtum und Prestige zu gewinnen. Die Glücksverheißungen des Volksmärchens haben bei diesen Kindern wieder zu jener semantischen Ebene zurückgefunden, die ihnen ursprünglich eingeschrieben war. Die elementaren Sehnsüchte des Volkes siedelten im Materiellen – in der Überwindung von verzehrender Armut und der vergeblichen Suche nach einträglicher Arbeit. Armut ist für diese Kinder keine Metapher, keine symbolische Repräsentation für Deprivation oder Liebesentzug. Sie ist für sie, was sie für die ursprüngliche Trägerschicht des Volksmärchens bedeutete: existentielle Erfahrung. Wir sollten uns die enge Verbindung von sozialen und sprachlichen Problemen vor Augen halten. Soziale Probleme sind zwar nicht allein durch Sprachvermittlung zu lösen. Aber Sprachprobleme erwachsen aus sozialen Problemen und verstärken diese. Aber dies ist ein neues Thema. 327
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Erzählen und literar ische Tradition Zuletzt wollen wir uns kurz der Bedeutung des Erzählens im Bereich der Vermittlung von Literatur zuwenden. Es ist nicht zu übersehen, dass heute der Umfang an literarischer Bildung, an Erfahrungen im Umgang mit den Schätzen der Weltliteratur ganz erheblich von den Medien bestimmt, von diesen beschnitten, wenn nicht gar verdrängt wird. Damit ist unter anderem auch der Verlust eines Teilbereiches unseres kulturellen Gedächtnisses angezeigt. Nun zieht sich durch meine umfänglichen Erfahrungen im Erzählen alter Geschichten (also von Mythen aus griechischen Antike, von Epen, Märchen und Sagen aus unterschiedlichen Kulturen) eine Konstante: Erzählen ist eine verlässliche Brücke, über die alte Stoffe unbeschadet in unsere Gegenwart hineingeholt werden können. Diese Jahrhunderte alten Geschichten, die ja alle aus der Mündlichkeit kommen und erst relativ spät schriftlich fi xiert wurden, haben über den Vorgang der »kommunikativen Prägung« (vgl. Blumenberg 1984) etwas auf bewahrt, was über Jahrhunderte oder über Jahrtausende den Zuhörer, später den Leser bewegt und ›angeht‹. Es wird in ihnen etwas angesprochen oder ausgesprochen, das zu den Grundkonstanten unserer Daseinserfahrung gehört: Sie erzählen von Geburt und Tod, Liebe und Eifersucht, Treue und Verrat, Barmherzigkeit und Gier, Reichtum und Armut, Lust und Enttäuschung, Begehren und Verzicht – also von allem Anfang und zu jeder Zeit Gültigem. Diese Geschichten, die im intimen oder geselligen Erzählraum, später in der Literatur überdauerten, haben ein Substrat ausgebildet, das »eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne [ist], daß sie […] sich immer noch als brauchbarster Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten« (Blumenberg 1984: 166). Bei der Arbeit am Erzählen tradierter Geschichten ist mir immer wieder bewusst geworden, dass trotz der Erstarrung der Geschichten zwischen den Buchdeckeln im Erzählen jener Keim der Mündlichkeit zum Leben erweckt werden kann, der diesen Texten immanent ist. Ovid verstand seine Texte vornehmlich als Vorlesestoffe, ebenso Basile. Grimms und Perraults Quellen kommen zu einem Gutteil aus der Mündlichkeit. Dieses Ferment bestimmt nach wie vor ihre Eigentümlichkeit und kommt erst dann zur Geltung, wenn man ihm wieder ihr adäquates Medium, die Mündlichkeit, zurückgibt. Die Schriftlichkeit hat sie verkrustet; ihre Sinnlichkeit erfahren sie erst wieder im lebendigen Erzählen. Deshalb mein Appell an die Leser: Erzählen sie die alten Geschichten, die mit uns wieder jung werden! Die Gewalt und die Prägnanz ihrer Bilder, die Härte und die Schonungslosigkeit ihrer existentiellen Konflikte, die 328
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Spannung und die Brisanz ihrer Handlung sind nicht zu übertreffen. Sie sind wie das Meer, das in seiner Unergründlichkeit und Tiefe nicht auszuschöpfen ist. Sie werden spüren, wie diese Geschichten im Erzählen ihr Alter, ihre Umständlichkeit und Fremdheit verlieren und Glanz und Fülle bekommen, und die Zuhörer – Kinder wie auch Erwachsene – werden es Ihnen danken: Der Schauer, den Sie ihnen über den Rücken gejagt habt, das Lachen, in das sie mit Ihnen eingestimmt sind, die Spannung, welche die Zeit stillstehen ließ – das sind magische Momente, und um dieser Momente willen lohnt es sich immer und zu jeder Zeit zu erzählen!
Literatur Blumenberg, Hans (1984): Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Elschenbroich, Donata (2001): Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können, München: Antje Kunstmann Verlag. Yashinsky, Dan (2004): Suddenly I heard footsteps. Storytelling for the twentyfirst century, Toronto: Univ Pr of Mississippi. Wardetzky, Kristin/Weigel, Christiane (2008): Sprachlos? Erzählen im interkulturellen Kontext. Erfahrungen aus einer Grundschule, Baltmannsweiler: Schneider Verlag.
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Theater kann man studieren! Zur grundständigen Lehrerausbildung für das Schulfach Theater Dorothea Hilliger
Es gibt ihn, den Studiengang für das Schulfach Darstellendes Spiel, von uns bevorzugt ›Theater‹ genannt. Studiert man dort, kann man beispielsweise die nachfolgend beschriebene Erfahrung machen: Momentaufnahme 1 »Jedes Jahr finden in Hessen die Schultheatertage statt. Seit 2007 nehmen die Studierenden des Studienganges Darstellendes Spiel daran teil und lernen Städte wie Alsfeld (2007), Wolfhagen (2008) oder Hanau (2009) kennen. Sie reisen etwas früher als die Teilnehmer an und etwas später ab – denn für sie ist es Teil ihrer Ausbildung und dieser Teil will gut vor- und nachbereitet sein. Die Unterbringung ist mal im Hotel und mal in der austragenden Schule: zwischen ›nobel geht die Welt zugrunde‹ und ›mittendrin statt nur dabei‹. Die Studenten führen die Workshops für die Schüler durch, leiten die Auswertungsgespräche der Spieler an und können sich ganz nebenbei einen Überblick über die Leistungsdichte der Kurse und Arbeitsgemeinschaften für Darstellendes Spiel verschaffen. Zwölf Auff ührungen später fahren sie mit vielen neuen Ideen ab, haben Erfahrungen eingesammelt, ausgetauscht und weitergegeben. Noch haben sie nur getestet, wie sich das Unterrichten anfühlt, aber schon das hat viel Kraft gekostet. Doch ihre Gesichter sind offen, erfüllt und glücklich – und ein bisschen müde, denn es wurde auch viel gefeiert.« (Martin Kammer, Dozent für Darstellendes Spiel an der Hochschule für Musik und Theater Hannover) Im Folgenden werden – neben weiteren Momentaufnahmen aus der Lehre und der mit ihr verbundenen künstlerischen Praxis – Einblicke in 331
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den Auf bau, die Konzeption und die Zielrichtung des Studiengangs gegeben.
Das Prof il eines Studiengangs Die Ausbildung für das Fach Theater in der gymnasialen Oberstufe wird von fünf Hochschulen im Großraum Hannover getragen, von denen jede eine eigene künstlerische wie wissenschaftliche Schwerpunktsetzung aufweist. Hierin zeigt sich bereits ein zentraler Baustein der Studiengangskonzeption: Die Studierenden sollen die Möglichkeit zu einer pädagogischen wie künstlerischen Profi lbildung erhalten, was ein breites Experimentierfeld, verschiedene Erfahrungsmöglichkeiten und die Aneignung umfassender Kenntnisse voraussetzt. Entsprechend wird in einer engen Verknüpfung von Theorie und Praxis ausgebildet; Vorlesungen, Seminare, Praxisübungen, Projekte und Exkursionen ergänzen sich, sie sind mal auf Grundlagenaneignung, mal forschend experimentell ausgerichtet. Momentaufnahme 2 »Auftakt zum Hildesheimer Projektsemester ›Shakespeare:08‹. 60 Studierende erobern einen theaterfremden Spielort, die Räume des Stammelbachspeichers in der Nähe des Hildesheimer Bahnhofs: Wie wirkt dieser Raum und wie könnte man hier das Verhältnis von Publikum und Spielern gestalten? Wie ist die Akustik, wo gibt es Auftrittsmöglichkeiten? Kann man sich hier irgendwo verstecken? Und: Wer kann sich vorstellen, an diesem Schauplatz den Wald aus dem ›Sommernachtstraum‹ und die Insel aus dem ›Sturm‹ darzustellen? Der darauf folgende Tag ist der wöchentliche ›Theorie-Tag‹: Das Kolloquium dient dazu, sich mit Grundlagentexten zu den Stücken vertraut zu machen. Außerdem tauschen sich Lehrende und Studierende über die dramaturgischen Konzeptionen der geplanten Shakespeare-Inszenierungen aus, über Lesarten und mögliche Spielweisen. Im Projektsemester stehen der wissenschaftliche Diskurs und die szenische Praxis in einer produktiven Wechselwirkung. Die intensive, einsemestrige Beschäftigung mit Theaterarbeit zeichnet dabei nicht nur die universitäre Lehr- und Lernform aus, sondern – im gelungenen Fall – auch die daraus resultierende Auff ührung.« (Ole Hruschka, wissenschaftlicher Mitarbeiter für »Theorie und Praxis des Schauspiels« an der Universität Hildesheim) Zusätzlich zu den Professoren, die den Studiengang planerisch entwickeln, unterrichten Dozenten aus den verschiedensten künstlerischen und pädagogischen Arbeitsfeldern, so zum Beispiel Theaterpädagogen des 332
Theater kann man studieren! Zur Lehrerausbildung für das Schulfach Theater
Staatstheaters Braunschweig und des Schauspiels Hannover, Regisseure, Dramaturgen, Musiker und Theaterlehrer. Es existieren enge Verflechtungen zu regionalen Theatern, Schulen und Kultureinrichtungen wie auch überregionale und internationale Kontakte. So gibt es unter anderem Kontakte zu holländischen Studierenden der Theaterpädagogik, einen Erasmus-Austausch mit Ankara, ein Kooperationsabkommen mit Norwegen und wechselseitige Besuche mit der Universität in Casablanca; im Sommer 2008 wurde mit Studierenden beispielsweise eine Musiktheaterwerkstatt in der Türkei durchgeführt. Immer wieder wird die Nähe zu aktuellen Entwicklungen in den performativen Künsten gesucht – mal im aktiven Schauen, mal in Künstlergesprächen, mal im eigenen Experiment. Diese Orientierung auf das Theater im 21. Jahrhundert – zusätzlich steht selbstverständlich auch Theatergeschichte auf dem Lehrplan – führt dazu, dass von den Studierenden immer wieder die Grenze zwischen der Kunstform Theater und angrenzenden Künsten wie Performance Art, bildender Kunst, Klangkunst und Tanz ausgetestet, neu definiert und manchmal auch deutlich überschritten wird. Zum Profi l des Studiengangs gehört es, dass Studierende als Personen gefragt sind, die sich künstlerisch, pädagogisch und reflexiv erproben und verorten wollen. Das ist nicht immer einfach, verlangt Initiative, Experimentierfähigkeit, auch Mut und die Bereitschaft, sich auf andere Menschen, neue Erfahrungen, den eigenen Körper und experimentelle Gedanken einzulassen. Genau dies birgt aber Entwicklungsmöglichkeiten für den Einzelnen – wie auch für das Fach Theater an der Schule und anderswo. Hier wird eine weitere Besonderheit in der Ausbildungskonzeption berührt: Im Studiengang Darstellendes Spiel in Niedersachsen wird vor allem für die Schule ausgebildet, doch ist der Bachelor-Abschluss polyvalent, das heißt, es geraten auch andere Arbeitsfelder in den Blick, in kulturellen und sozialen Einrichtungen, an Theatern, in der freien Theaterszene.
Theater als Er fahrungs- und Kommunikationsfeld Momentaufnahme 3 »Sieben weiße mobile Wände formen immer neue Bühnenräume, geben Blicke auf Figurinen und Szenen frei, werden zu einem Würfel, der als Projektionsfläche dient, sich dann in atemberaubendem Tempo zu drehen beginnt und wieder auflöst. Zwischen den sich auf der Bühne jetzt jagenden mobilen Wänden erscheinen drei weiße Kegel, die, wie von Geisterhand bewegt, über die Bühne schweben. Aus ihrem Inneren klingen frem333
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de Töne, die sich zu einem Gespräch verdichten, in das auch die mit den Kegeln auf dem Boden erzeugten Geräusche einfallen. An anderer Stelle im Stück werden drei transparente Kegel sichtbar, in ihrem Inneren vier Spielerinnen (ein Kegel beherbergt ein ›Zwillingspaar‹), die den Innenraum der Kegel und deren Fortbewegungsmöglichkeiten tänzerisch erforschen. Auch einen roten Joker mit einem sich drehenden Propellerhut gibt es, zudem ein Wesen aus längst vergangener Zeit, das die Geschichten aller Figuren und Figurinen in einem Koffer auf dem Rücken mit sich zu tragen scheint. Wenn der Koffer sich öffnet, entstehen neue Bilder und Geschichten.« (Aus dem Projekt »videotriadischesklangfigurinenexperiment – Eine szenische Präsentation zu Oskar Schlemmer«. Dorothea Hilliger, Professorin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig) Das Projekt, aus dem diese Szene stammt, war der künstlerischen Auseinandersetzung mit Oskar Schlemmer gewidmet, bildender Künstler und Leiter der Bauhausbühne von 1923 bis 1929. Es eröff nete den Studierenden ein aktuelles szenisches Experimentierfeld zwischen Video-, Klang-, bildender und szenischer Kunst und es ermöglichte zudem eine aktive, forschende Annäherung an die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts. So umfassend kann ein Projekt an einer Schule nur in der Kooperation zwischen den künstlerischen Fächern angelegt sein. Doch auch in einem enger gesteckten personellen, finanziellen und zeitlichen Rahmen können Schüler aller Altersstufen in dem Fach Theater die Möglichkeit erhalten, sich eine umfassende künstlerische Ausdrucksform zu erobern. Im Studiengang wird intensiv darüber nachgedacht, was dieser aktive Aneignungsprozess im Leben junger Menschen wie auch für die Gesellschaft, in der sie leben, bedeuten kann. Die öffentliche Wahrnehmung von den Möglichkeiten kultureller Jugendarbeit hat sich durch groß angelegte Projekte wie das education program der Berliner Philharmoniker oder das Projekt »Kinder zum Olymp« beträchtlich erhöht. Die Bedeutung solcher Initiativen kann man nicht hoch genug einschätzen, wenn es darum geht, den Anspruch, mehr noch, das Recht junger Menschen auf umfassende Teilhabe am kulturellen Leben einer Gesellschaft einzufordern. Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« enthält den Passus »Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen«; die Kinderrechtskonvention beinhaltet eine noch weiter gehende Formulierung: »Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung« (Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, Art. 31). 334
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Mit dem zunehmenden Bekanntheitsgrad des Filmes »Rhythm is it« ist der Glaube an die sozialen Heilungskräfte performativ ausgerichteter Jugendarbeit enorm gestiegen. Es ist sicher auch durch die Wirkkraft dieses Filmes möglich geworden, Künstler im Falle von ausbrechenden Konflikten in sozialen Brennpunkten für Tanz- und Theaterprojekte nicht nur zu gewinnen, sondern auch zu bezahlen. Führen solche Initiativen jedoch nicht in ein längerfristiges Angebot, so kann man eher von einer enttäuschten Perspektive, denn von der Beteiligung junger Menschen »am kulturellen und künstlerischen Leben« sprechen. Ein Schulfach Theater bietet diese Langfristigkeit. Theater ist ein komplexes, von Dialog, Kommunikation und Interaktion getragenes System. Die Figuren auf der Bühne stehen in Interaktion miteinander, die Spieler im Dialog mit ihrer Figur, die Akteure in Kommunikation mit den Zuschauern. Gelingt es jungen Menschen, auf der Basis einer künstlerisch verdichteten Zeichensprache aktiver Teil dieses komplexen Kommunikationsprozesses zu werden, so haben sie eine neue Ausdrucksform hinzugewonnen, zuerst sicherlich nur in Ausschnitten, aber mit einer Kenntnis ihrer vielfältigen Artikulationsmöglichkeiten. Was auf dem Theater heute stattfindet, ist ein intensiver Dialog zwischen den Künsten. Schon lange ist es nicht mehr einzig die Literatur, die das Theater formt. Die Bühne, das Licht, die Kostüme, Musik, Klang und Bewegung, Videoarbeiten u.a.m. beanspruchen je eigene Ausdrucksebenen. Der Dialog zwischen dem Theater und der Gesellschaft ist vielschichtig. Auch begrifflich nicht Fassbares, Gleichzeitiges, Differentes, Gegensätzliches, nur Erahntes hat hier seinen Artikulationsort. Neues, auch Sperriges und Unliebsames, findet auf diesem Weg Eingang in den öffentlichen Diskurs. Welch eine Chance, wenn die nachfolgende Generation nicht nur an bestehendes Kulturgut herangeführt wird, sondern sich selbst ausprobieren, ihren Ausdruck finden und auf diese Weise in den gesellschaftlichen Dialog treten kann! Momentaufnahme 4 »Ausgangspunkt für das Projekt war das alltägliche Leben. Die ›wahre‹ Bühne und die Gestalten und Figuren des Alltäglichen, wie der verstorbene Modedesigner Rudolf Moshammer, erweckten unsere Phantasien. Wie auf einem unsichtbaren Catwalk durch die Stadt inszenierten sich die Studierenden selbst und ließen unterschiedliche Orte im Stadtraum zu einer selbst gewählten, sprich temporären Heimat werden. Es war dies der Beginn von unendlich vielen Episoden, die wir aus den uns doch eigentlich fremden Gestalten meinten entwickeln zu können und die es für alle zu entdecken galt. Wir stellten uns die Frage, ob nicht dieser Wille zum Exzentrisch-In335
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dividuellen, zur Selbstgestaltung aus und mit eigenen Mitteln einen Wert darstellt, der wieder zu entdecken ist, vielleicht eine kleine Insel in der globalisierten Uniformität von Waren, Bildern und Gefühlen. Und wie wäre es denn, wenn wir die scheinbar glatte Welt der Bildschirme und deren glamourös geschminkte Protagonisten nur ein ganz klein wenig manipulierten und uns dabei selbst an deren Stelle ins temporäre (Rampen-)Licht der öffentlichen Selbstinszenierung hineinretuschierten? In der szenischen Auseinandersetzung entstanden Figuren auf Reisen und Wanderschaft. Erst alleine, dann zusammen, erst zu Fuß, dann mit der Bahn, dem Bus, dem Boot… Zunächst waren es die Bildschirme in der Stadt, die in Schaufenstern, Bussen und Bahnhöfen endlos ihr immer wieder gleiches Programm abspielen. Genau hier haben wir angesetzt und die Realität für einen kurzen Augenblick auf den Bildschirm geholt: der (inszenierte) Passant, der zufällig vorbeizugehen scheint, ist plötzlich für einige Augenblicke selbst der Abgebildete und im Rampenlicht. Es entstanden kleinste, fast unmerkliche Irritationen.« (David Reuter, Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig)1 In jüngster Zeit haben neue Formate wie die Performance Art, das biographische Theater, das orts- bzw. kontextspezifische Theater oder das ›Theater des Unperfekten‹ neue, oftmals sehr direkte Ebenen der persönlichen Artikulation innerhalb der performativen Künste eröffnet. Diese Formate rücken zunehmend auch in das Blickfeld der Theaterpädagogik. In der Konkretion eines künstlerischen Projektes geraten die Besonderheiten einer Gruppe in den Blick: Ihr Anliegen, ihr Gestaltungswille und ihre Fähigkeit zu kollektiver Gestaltung. Der Stellenwert der Kunstform Theater ist also hoch, wenn es um die Beteiligung junger Menschen »am kulturellen und künstlerischen Leben«, es ist zu ergänzen, auch am politischen Leben einer Gesellschaft, geht. Im Theater realisiert sich ein entsprechend relevanter Kommunikationsprozess, in den Schüler aktiv eingebunden werden können. Theaterlehrer gestalten ein Berufsleben lang diesen Kommunikationsprozess in entscheidender Weise mit. Für dessen Gelingen ist – neben institutionellen und bildungspolitischen Gegebenheiten – eine umfassende und qualifizierte Ausbildung für das Fach Theater die Voraussetzung.
1. Ein Projekt des Studiengangs in Zusammenarbeit mit der Neuköllner Oper in Berlin und dem Weitblickfestival in Braunschweig.
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Die Chancen einer grundständigen Lehrerausbildung Die Anforderungen an einen Theaterlehrer sind vielfältig und bisweilen sehr hoch, das wird an den Projektbeispielen schon deutlich, die in den ›Momentaufnahmen‹ charakterisiert sind und denen man Vergleichbares aus dem schulischen Kontext zur Seite stellen könnte. Die Anforderungen kann man allerdings auch anders beschreiben: Das Kommunikations- und Diskursfeld, in dem Theaterlehrer stehen, ist umfänglich, anspruchsvoll, spannend und sorgt immer wieder für überraschende Erfahrungen und unerwartete Ergebnisse.2 Momentaufnahme 5 »›Bildbeschreibung‹ kann als eine Übermalung der ›Alkestis‹ gelesen werden, die das No-spiel ›Kumasaka‹, den 11. Gesang der ›Odyssee‹, Hitchcocks ›Vögel‹ und Shakespeares ›Sturm‹ zitiert. Was heißt hier ›Übermalung‹, welche Intensität und welche Konsequenz haben diese extreme Intertextualität und Intermedialität für die Theater-Arbeit mit Heiner Müllers ›Bildbeschreibung‹? In einem Zusammenspiel von Theorie und Praxis geht es in diesem Theater-Projekt um eben diese Texte, ihre Lektüre, szenische Bearbeitung und Veränderung, so dass ihre Spezifi k, ihre Differenzen und Identitäten sichtbar und ästhetisch erfahrbar wurden, ergänzt durch Analysen zu Walter Benjamin und René Magritte, Robert Wilson und dem postdramatischen Theater, Michel Foucault und Velasquez. In enger Beziehung zu Heiner Müllers Prosa-Theatertext vermischen und verbinden sich multimedial Bilder, selbst gemalt, kommentiert und später übermalt, Schrift als selbst geschriebene Bildbeschreibung, als Haiku, Cluster und assoziatives Schreiben, Körper im szenischen Arbeiten, praktiziert als Collage an verschiedenen Orten mit Bewegung, Gestus und Sprechen, Musik und Masken. Eine Studentin schreibt zu ihrer theatralen Arbeit und ihren ästhetischen Erfahrungen: »Eine unaufhörliche Bewegung sprengt den Rahmen, bis alles wieder zur absoluten Ruhe kommt: ›ICH der gefrorene Sturm‹.« (Florian Vaßen, Professor an der Leibniz Universität Hannover) Was muss ein Theaterlehrer können? Ein Theaterlehrer muss vor allem die aktuellen Entwicklungen auf dem Theater aufmerksam verfolgen, für eine Gruppe immer wieder neue szenische Arbeitsfelder aufschließen, dafür Methoden und aktuelle Diskussionen in der Theaterpädagogik kennen, 2. Man sollte das Arbeitsfeld unbedingt auch so beschreiben, denn genau aufgrund positiver Erfahrungen schätzen die meisten Theaterlehrer ihre Arbeit – trotz der enormen Belastung, die sie auch mit sich bringt.
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sich mit Texten und Themen nicht nur intellektuell, sondern auch persönlich auseinandersetzen, Probenprozesse planen, Projekte strukturieren, eine Gruppe durch Krisen steuern, auf einzelne Spieler sensibel reagieren und sie energisch fordern können, unerwartete Situationen meistern. Momentaufnahme 6 »Freitag, 9.30 h. Im biografisch-dokumentarischen Theaterseminar berichten die Studenten über ihre Interviewerlebnisse mit Personen, deren Themen und Lebensgeschichten sie interessieren. Einer erzählt, wie er undercover Zugang zu einer schlagenden Studentenverbindung gefunden hat, die ihn prompt anwerben wollte. Ein anderer beschreibt seinen frustrierenden Kampf um Interviewtermine mit Prostituierten im Braunschweiger Rotlichtviertel. Ein weiterer Student hat bereits einige Übungen aus dem Seminar für einen Theaterworkshop mit Jugendlichen genutzt. Auf die Bitte, einen persönlichen Gegenstand zum Thema ›Kopf gegen Bauch‹ zu präsentieren, brachte ein Mädchen das Kinderkarnevalskostüm ihrer Großmutter mit. Aus einer alten Naziflagge hatte sie sich ein Gänselieslkleid genäht.« (Gudrun Herrbold, Professorin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig) Die Ausbildung muss Theaterlehrer in die Lage versetzen, auf sich permanent verändernde Rahmenbedingungen des Faches und der Theaterkunst kreativ zu reagieren – diese vielleicht sogar voranzutreiben – und mit der körperlichen wie mentalen Energie junger Menschen umzugehen – diese vielleicht sogar noch herauszufordern, damit die theatrale Gestaltung eine ihnen entsprechende Form finden kann. Viele Theaterlehrer, die sich über – oftmals selbst finanzierte – Weiterbildungsmaßnahmen die Lehrbefähigung für das Fach erworben haben, verantworten engagiert und qualifiziert Kinder- und Jugendtheaterprojekte. Viele Kollegen sehen sich aber auch gezwungen aufzugeben – das Startpaket war nicht groß genug; die Belastung durch drei Fächer, die Lehrer zu einer begehrten Manövriermasse für Unterrichtsplanung macht, ist einfach zu hoch; die ›harten‹ Fächer haben Vorrang. Hier hinken schulische Praxis und institutionelle Bildungsplanung der Entwicklung in anderen gesellschaftlichen Bereichen und den Einsichten von Bildungsforschern nur zu oft hinterher.3
3. Erinnert sei an Projekte wie das o.g. education program der Berliner Philharmoniker, das keinesfalls isoliert in der gesellschaftlichen Landschaft steht. Und, auch wenn es hier nicht um die Kunstform Theater geht: In der betrieblichen Weiterbildung ist der kreative und soziale Nutzen des Theaterspielens längst erkannt.
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Um die komplex angelegten Erfahrungs- und Kommunikationsmöglichkeiten des Schulfaches Theater nutzen zu können, ist eine breit angelegte, an der Kunstform orientierte, von theoretischen, methodischdidaktischen wie pädagogischen Diskursen und Erprobungen geprägte Ausbildung nötig. Studierende müssen sich – neben nur einem zweiten Fach – intensiv auf die künstlerisch-wissenschaftliche Ausbildung im Studiengang konzentrieren können, um das Schulfach Theater späterhin praktisch wie argumentativ zu vertreten. Der Begriff Darstellendes Spiel hat inzwischen Tradition und auch der Studiengang in Niedersachsen heißt (noch) so. Doch er ist missverständlich. Eine Theaterlehrerin wurde auf dem Gang zu ihrem DS-Kurs von einem Kollegen mit den Worten angesprochen: »Arbeitest Du noch oder spielst du schon?« Diese kleine Situation beherbergt all die Unwissenheit, manchmal auch die Vorurteile diesem Fach gegenüber. Hier wird gespielt, aber keineswegs ausschließlich, hier wird dargestellt, aber keineswegs nur. Die Teilnehmer einer Amateurtheatergruppe sind in hohem Maße persönlich, körperlich und mental gefordert und beteiligt an dem, was sie dort im Training, in der Erarbeitung und in der Präsentation tun. Aus diesem Grund plädieren nicht nur die Vertreter des Studiengangs in Niedersachsen für eine Umbenennung des Darstellenden Spiels in das Fach »Theater« (vgl. Mieruch 2008). Damit wäre auch sprachlich eine Gleichstellung mit den anderen künstlerischen Fächern vollzogen, mit Musik und (bildender) Kunst, vielleicht auch ein Schritt hin zu vermehrter künstlerischer Profilbildung unter Einbeziehung aller drei Kunstformen. Bei einer selbstbewussteren, auch sprachlich dokumentierten Haltung könnte leichter ins Bewusstsein treten, dass Theater als kollektive Kunstform ein spannendes Experimentierund Handlungsfeld auch für die anderen Künste bietet, da, wo es bisher oftmals noch als Konkurrenz im Buhlen um Schüler und fi nanzielle Mittel wahrgenommen wird. Tatsächlich kann ein Schulfach Theater die anderen künstlerischen Fächer – unter der Voraussetzung der entsprechenden institutionellen Bedingungen und eines kollegialen Miteinanders – eher befördern als behindern. Um eine entsprechende Haltung an Schulen zu etablieren sind Kollegen wichtig, die die Grenzen zwischen dem Theater und anderen Kunstformen aufsuchen oder sogar in zwei künstlerischen Fächern ausgebildet sind, wie es im Studiengang ausdrücklich gewünscht wird – in Hannover ist die Koppelung mit Musik, in Braunschweig die mit bildender Kunst möglich. Und überall wird über die Grenzen der eigenen Kunstform hinaus gedacht und experimentiert. Der argumentative Rahmen für die Entwicklung des Faches und für die Bedeutung aktiver ästhetischer Erfahrung junger Menschen im schulischen Kontext wird in Forschungsprojekten an den beteiligten Hochschulen entwickelt und bereitgestellt. 339
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Studienfach Darstellendes Spiel Wo gibt es diesen Studiengang? Fünf Hochschulen im Großraum Hannover/Braunschweig bieten den Studiengang gemeinsam an, Studierende können Lehrangebote all dieser Hochschulen nutzen. Es handelt sich dabei um die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK), die Leibniz Universität Hannover (LUH), die Hochschule für Musik und Theater (HMT), die Universität Hildesheim (UHi) sowie die Technische Universität Braunschweig (TUB). Jede Hochschule bringt ihr eigenes Profi l und ihre spezifischen Stärken in den Studiengang ein, sodass die Studierenden dazu angeregt werden, im Verlauf ihres Studiums ihre eigenen künstlerischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte zu finden und zu entwickeln. Durch die enge Zusammenarbeit mit Schulen und Theatern der Region ergeben sich schon im Studium vielfältige Möglichkeiten des Praxisbezugs und der eigenen tätigen Erprobung in der Theaterarbeit. Wie für alle Lehramtsstudiengänge vorgeschrieben, erfolgte auch im Studiengang Darstellendes Spiel die Umstellung auf das modularisierte Bachelor- und Mastersystem: Nach sechs Semestern Regelstudienzeit ist ein erster, berufsqualifizierender Abschluss vorgesehen, der Bachelor of Arts. Er ermöglicht die Aufnahme einer theaterpädagogisch orientierten Tätigkeit in der Jugendarbeit, in anderen kulturellen oder sozialen Feldern, am Theater usw. Wer Lehrer werden möchte, setzt sein Studium im Masterprogramm fort und kann nach vier weiteren Semestern, als Voraussetzung für das nachfolgende Referendariat und die spätere Arbeit als Theaterlehrer an der Schule, den Master of Education erwerben. Die Qualifi kation gilt für die Sekundarstufe I und II. Studienseminare für die zweite Ausbildungsphase werden momentan nur in Niedersachsen angeboten, doch wird die Einrichtung von Referendariatsplätzen auch in anderen Bundesländern vorbereitet. Das Fach kann in Kombination mit den Unterrichtsfächern Deutsch, Englisch, Kunst, Musik und demnächst mit Spanisch/Französisch studiert werden, eine zusätzliche Erweiterung der Kombinationsmöglichkeiten ist angestrebt. Was studiert man dort? Das Studienfach Darstellendes Spiel versteht sich als ein Theorie und Praxis integrierendes, künstlerisch-wissenschaftliches Studium. Es vermittelt Fachwissen in den Bereichen Theater, Performance Art und Kunst in Aktion. Es leitet an zu eigener künstlerischer Praxis, von der Materialauswahl über die Probenarbeit bis zur Abschlusspräsentation. Die Studieninhalte umfassen die praktischen Grundlagen des szenischen Spiels und dessen 340
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Präsentationsformen. Hinzu kommen Übungen und Fachwissen aus den Bereichen Neue Medien und populäre Kultur, Auff ührungsanalyse und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Theatergeschichte und Theatertheorie, Modelle und Methoden der Theaterpädagogik, Planung, Durchführung und Reflexion szenischer Prozesse und eigener künstlerischer Projekte. Künstlerische, fachwissenschaftliche und fachdidaktische Lerninhalte sowie Methoden werden eng aufeinander bezogen. Das eigene künstlerische Experimentieren, die wissenschaftliche und didaktische Reflexion ebenso wie der Transfer der Kunstformen Theater und Performance in die schulische und außerschulische Praxis ergänzen einander. Wer kann studieren? Es ist möglich, das Studium direkt nach dem Abitur aufzunehmen. Im Studiengang gibt es dementsprechend sehr junge Studierende, aber auch solche, die vorher schon in anderen, oft künstlerischen Bereichen gearbeitet oder ein anderes Studium absolviert haben. Durch diese Altersmischung treffen unterschiedliche Erfahrungen, Haltungen und Positionierungen aufeinander, was äußerst fruchtbar und ausdrücklich erwünscht ist. Voraussetzungen zur Aufnahme des Studiums sind die Allgemeine Hochschulreife und das Bestehen einer künstlerischen Aufnahmeprüfung. Bewerben und später ggf. immatrikulieren kann man sich an der HBK Braunschweig und an der LU Hannover. Darstellendes Spiel muss in Kombination mit einem zweiten Fach studiert werden. Der Bewerbungstermin liegt jeweils im Frühjahr, Studienbeginn ist zum Wintersemester. 4
Literatur Mieruch, Gunter (2008): »Plädoyer für die Umbenennung des Schulfachs ›Darstellendes Spiel‹ in ›Theater‹«. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 53, S. 28-30.
4. Kontakt: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Johannes-Selenka-Platz 1, 38118 Braunschweig, www.hbk-bs.de. Allgemeine Studienberatung: Geb. 14, Raum 117, Tel. 0531/391-9269, E-Mail: [email protected]. Leibniz Universität Hannover, Welfengarten 1, 30167 Hannover, www.zsb.unihannover.de. Zentrale Studienberatung (ZSB), Hauptgebäude, Raum A320, Tel. 0511/762-5587. E-Mail: [email protected]
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Autoren Dr. Helle Becker studierte Kultur- und Erziehungswissenschaften. Seit 1995 ist sie mit dem Büro »Expertise & Kommunikation für Bildung« selbständig als freie wissenschaftliche Autorin und Journalistin und als Projektmanagerin tätig. Henning Bleyl studierte »Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis« an der Universität Hildesheim. Seit 2001 arbeitet er als Kulturredakteur der norddeutschen Ausgabe der Berliner »tageszeitung«. Henning Fangauf ist stellvertretender Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland. Vor seiner Tätigkeit in Frankfurt a.M. war er Schauspieldramaturg an verschiedenen Theatern. Susanne Heinke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt, Fachgebiet Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung und freiberufliche Theaterpädagogin, Dramaturgin und Regisseurin. Stefan Fischer-Fels ist künstlerischer Leiter des Jungen Schauspielhauses Düsseldorf und Vorstandsmitglied der ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland. Prof. Dr. Ingrid Hentschel ist Professorin für Theater, Kultur und Medien an der Fachhochschule Bielefeld. Kontinuierliche Forschungen und Veröffentlichungen zu Entwicklungen des Kinder- und Jugendtheaters. Prof. Dr. Dorothea Hilliger ist seit 2004 Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig im Studiengang »Darstellendes Spiel/ Kunst in Aktion«.
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Theater und Schule
Stephan Hoffmann ist Theaterpädagoge und Leiter der Theaterakademie des Theaters Junge Generation Dresden. Er ist Mitverantwortlicher des Festivals »Theater im Klassenzimmer« am Theater Junge Generation. Dr. Ole Hruschka studierte »Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis« an der Universität Hildesheim. Seit Herbst 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter für »Theorie und Praxis des Schauspiels« an der Universität Hildesheim. Dr. Manfred Jahnke ist freier Kritiker, Lehrbeauftragter am Institut für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München, der Staatlichen Hochschule für Musik und Gestaltung in Stuttgart und an der adk Ulm. Jan-Willem van Kruyssen gründete 1984 gemeinsam mit Theo Fransz das MUZtheater. Er ist künstlerischer Leiter des Theaters in Zaandam (Niederlanden) und arbeitet dort auch als Musiker und Komponist. Prof. Marion Küster studierte Schauspiel und Theaterpädagogik. Seit 2002 ist sie als Professorin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Rostock tätig und lehrt dort Schauspiel und Darstellendes Spiel. Thomas Lang ist Leiter des Fachbereichs Theater an der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel und Vorstandsmitglied der ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland. Prof. Dr. Eckart Liebau lehrt an der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Pädagogik. Er ist Initiator des Studiengangs »Darstellendes Spiel in der Schule« sowie Sprecher des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung. Eckhard Mittelstädt studierte Germanistik. Er war Geschäftsführer der ASSITEJ. Seit 2007 ist er Geschäftsführer des Landesverbandes Freier Theater in Niedersachsen. Er ist Redakteur der Zeitschriften IXYPSILONZETT und GAZETTE. Dr. Franz-Josef Payrhuber, Akademischer Direktor und langjähriger Leiter des Fachbereichs Deutsch am Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung (ILF) in Mainz; Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
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Autoren
Joachim Reiss war bis 2008 Vorsitzender des Bundesverbandes Darstellendes Spiel und ist seit 1995 Leiter des Schultheaterstudios Frankfurt. Er ist federführend zuständig für die »Hessische Qualifizierungsmaßnahme Darstellendes Spiel«. Anne Richter studierte Theaterwissenschaft, Komparatistik und Nordistik. Tätigkeit als Dramaturgin an verschiedenen Stadttheatern. Heute arbeitet sie als Journalistin für Kinder- und Jugendtheater. Prof. Mira Sack studierte Theaterpädagogik an der Universität der Künste in Berlin. Sie ist Professorin für Theaterpädagogik an der Theaterhochschule Zürich. Ilona Sauer studierte Erziehungswissenschaften. Sie war wissenschaftliche Koordinatorin des Projektes »Kinder spielen Theater« des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland. Für die ASSITEJ leitet sie das Projekt »Theater und Schule in Hessen«. Prof. Dr. Wolfgang Schneider ist Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim. Er ist Vorsitzender der ASSITEJ Deutschland und Präsident der internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche. Jerker Spits ist Referent für Kulturpolitik im niederländischen Ministerium für Unterricht, Kultur und Wissenschaft. Prof. Dr. Wolfgang Sting ist Professor für Theaterpädagogik und Darstellendes Spiel am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und Leiter des Studiengangs Performance Studies. Prof. Dr. Kristin Wardetzky war Professorin für Theaterpädagogik an der Universität der Künste in Berlin. Rezeptions- und Erzählforschung sowie das Bühnenerzählen sind derzeit Schwerpunkte ihrer Arbeit. Prof. Dr. Geesche Wartemann studierte Theaterwissenschaften. Sie ist Juniorprofessorin für Theorie und Praxis des Kinder- und Jugendtheaters an der Universität Hildesheim.
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Über die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland e.V. Die ASSITEJ (Association Internationale du Théâtre pour l’Enfance et la Jeunesse), die »Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche« ist eine der UNESCO assoziierte Organisation. Gegründet wurde sie 1965. Gegenwärtig gibt es rund 75 nationale ASSITEJ-Zentren auf allen Kontinenten. Der Vorsitzende der deutschen ASSITEJ, Prof. Dr. Wolfgang Schneider, hat zur Zeit auch das Amt des Präsidenten des Weltverbandes inne. Sitz des Generalsekretariats ist Zagreb. Zweck der ASSITEJ ist die Erhaltung, Entwicklung und Förderung des Kinder- und Jugendtheaters innerhalb der einzelnen Nationen sowie die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. Zu den Aufgaben der ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland gehört neben der Vermittlung und Pflege von nationalen und internationalen Kontakten auch die Kooperation mit internationalen Festivals, sowie die Anregung und Durchführung von Austauschprojekten auf bilateraler und multilateraler Ebene. Gegründet wurde die ASSITEJ in Deutschland 1966 zeitgleich in der DDR und in der Bundesrepublik. Seit 1991 ist die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland e.V. der Zusammenschluss beider Sektionen. Die ASSITEJ hat rund 360 Mitglieder. Jedes einzelne von ihnen trägt dazu bei, Kinder- und Jugendtheater in Deutschland zu stärken, es sichtbarer, bekannter und zugänglicher zu machen. Rund 150 professionelle Kinderund Jugendtheater engagieren sich gemeinsam mit Verlagen, Verbänden und Organisationen für die Belange des Kinder- und Jugendtheaters. Au347
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ßerdem unterstützen Theaterleute, Wissenschaftler, Journalisten und andere am Kinder- und Jugendtheater Interessierte die ASSITEJ durch ihre persönliche Mitgliedschaft. Geleitet wird die ASSITEJ als gemeinnütziger eingetragener Verein von einem neunköpfigen ehrenamtlichen Vorstand. Die Geschäftsstelle in Frankfurt a.M. ist mit einer hauptamtlichen Geschäftsführerin besetzt. Die kulturpolitische Gewichtung des Theaters für Kinder und Jugendliche zu stärken und die künstlerischen Entwicklungen und Tendenzen auf nationaler und internationaler Ebene zu beobachten, zu reflektieren und durch Tagungen, Seminare, Theatertreffen und Symposien zu fördern, ist das grundlegende Ziel der ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland. Regelmäßige Veranstaltungen der ASSITEJ Diese Veranstaltungen finden jeweils alle zwei Jahre an wechselnden Orten statt: • Werkstatt-Tage der Kinder- und Jugendtheater • Internationales Regieseminar • Spurensuche. Arbeitstreffen Freier Kindertheater • Anlässlich des Deutschen Kinder- und Jugendtheater Treffens in Berlin wird der ASSITEJ-Preis an Persönlichkeiten verliehen, die sich um das Kinder- und Jugendtheater in Deutschland verdient gemacht haben. Seit 2003 wird dort auch der Veranstalterpreis der ASSITEJ alle zwei Jahre an Einzelpersonen sowie an Veranstaltungsorte, die sich durch herausragende veranstalterische Kompetenz und beispielhaftes Engagement auszeichnen, verliehen. Publikationen IXYPSILONZETT, das Magazin für Kinder- und Jugendtheater, ist drei Mal pro Jahr als Beilage des Theatermagazins Theater der Zeit erhältlich. Jährlich erscheint außerdem das Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater Grimm & Grips. Das Jahrbuch der Internationalen ASSITEJ kann über die Geschäftsstelle bestellt werden. Die ASSITEJ-Mail informiert die Mitglieder über Aktuelles aus der nationalen und internationalen Kinder- und Jugendtheaterszene. Darüber hinaus veröffentlicht die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland e.V. Publikationen zu verschiedenen Aspekten der Theorie und Praxis, der Geschichte und Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Kulturpolitik Die Vertretung von kulturpolitischen Interessen der professionellen Kinder- und Jugendtheater bei den politisch verantwortlichen Stellen auf allen 348
Über die ASSITEJ
Ebenen ist ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld der ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland e.V. Der Verband vertritt die Interessen des professionellen Kinder- und Jugendtheaters im Deutschen Kulturrat, im Rat für Darstellende Künste, im Fonds Darstellende Künste und in der BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung). Um das Kinder- und Jugendtheater in den Regionen zu stärken, arbeitet die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland eng mit den Arbeitsgemeinschaften für Kinder- und Jugendtheater in den Bundesländern zusammen. Seit der Gründung des »Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland« 1989 ist die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland sein Rechtsträger und gewährleistet damit die fachlich selbständige Arbeit dieser Institution, deren Aufgabe die Förderung aller Bereiche des Kinder- und Jugendtheaters ist. Die ASSITEJ wird aus Mitteln des Kinder- und Jugendplanes des Bundes durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.
Kontakt ASSSITEJ Bundesrepublik Deutschland e.V. Schützenstraße 12 60311 Frankfurt a.M. Telefon: 069-29 15 38 Fax: 069-29 23 54 [email protected] www.assitej.de www.kjtz.de www.assitej.org
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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater 2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-853-7
Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Dezember 2009, ca. 434 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 September 2009, ca. 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-06-11 13-08-53 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0292212619121550|(S.
1-
3) ANZ1072.p 212619121558
Theater Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität Oktober 2009, ca. 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0
Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Oktober 2009, ca. 236 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2
Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens März 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6
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3) ANZ1072.p 212619121558
Theater Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-338-9
Gabi dan Droste (Hg.) Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit Mai 2009, 260 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1180-9
Julia Glesner Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert 2005, 386 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-389-1
Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899) 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-596-3
Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN 978-3-89942-909-1
Christine Regus Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ästhetik – Politik – Postkolonialismus
Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater 2006, 446 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-461-4
Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution Juli 2009, 368 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4
Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy 2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-891-9
Stefan Tigges Von der Weltseele zur Über-Marionette Cechovs Traumtheater als radikale avantgardistische Versuchsanordnung Oktober 2009, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1138-0
Franziska Weber Dimensionen des Denkens Der raumzeitliche Kollaps des Gegenwärtigen. Geistes- und naturwissenschaftliche Entwürfe – verifiziert an Martin Kusejs »Don Giovanni« 2008, 216 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1010-9
2008, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1055-0
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