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German Pages 532 [544] Year 2011
Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung — Partizipationskultur Niels Grüne
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Stefan Brakensiek Erich Landsteiner Heinrich Richard Schmidt Clemens Zimmermann
Band 53
Niels Grüne
Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung Partizipationskultur Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720-1850)
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Lucius & Lucius • Stuttgart
Anschrift des Autors: Dr. Niels Grüne Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie Abteilung Geschichte Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld [email protected]
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung (Düsseldorf) und der Oestreich-Stiftung (Rostock)
Zugl. Diss. Phil. Universität Bielefeld 2009
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibüografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8282-0505-5 ISSN 0481-3553 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH • Stuttgart • 2011 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart • www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Druck und Einband: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza Printed in Germany
Inhalt Verzeichnis der Karten, Tabellen und Graphiken im Text Vorwort
VIII XI
1.
Einleitung
1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4
Themenaufriss, Fragestellungen und Hypothesen Theoretisch-konzeptioneller Zugriff Quellen, Methoden und Aufbau Forschungsperspektiven und Interpretationsansätze Agrarentwicklung und strukturstabilisierender Fortschritt Gemeindeprotest und Sozialkonflikt Verwaltungshandeln und Obrigkeitserfahrung Kommunalismus, Frühliberalismus, Politisierung
1 8 15 19 20 23 27 30
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen Geomorphologie und Klima Siedlungsgang und Territorialgeschichte Staatsorganisation und Behördenaufbau Grundzüge der Gemeindeordnung Rechtliche Faktoren der Sozialverfassung
39 39 41 45 53 62
3.
Dorfgesellschaft: demographische und sozioökonomische Entwicklungsprozesse ... Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie Gewerbedichte und Berufsstruktur Landzugang und Betriebsgrößen Konfessionelle Ungleichgewichte Die Rekrutierung höherer kommunaler Amtsträger als Prestigeindikator Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie Voraussetzungen Zeitgenössische Agrarpublizistik und herrschaftliche Impulse Intensivierung der badisch-pfälzischen Landwirtschaft 1770-1870
3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
1
69 70 86 87 94 117 122 126 126 128 132
VI
3.3.4 3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5
4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3
5. 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3
Inhalt
„Eine Lebensfrage für die Landwirthschaft in dieser Gegend": die Schlüsselrolle des Tabaks Fazit: Marktorientierung und Bäuerlichkeit Zur innerregionalen Topographie von Reichtum, Bedürftigkeit und Entwicklung Privater Wohlstand, Gemeindefinanzen, Armenfürsorge Die Hungerkrisen von 1816/17 und 1846/47 Zwischenbilanz: Inegalitäten — die Reintegration von Klassenstrukturen in der ländlichen Zwei-Drittel-Gesellschaft Konflikterfahrung: gemeindlicher und herrschaftlich-kommunaler Dissens Materielle Interessendivergenzen und externe Intervention Individualisierung der Allmende: Reformallianzen von Tagelöhnern und Regierungsräten Abgabenrepartition: bäuerliche Vergeltung im ländlichen Klassenkampf Entfremdende Staatskontakte und erworbene Beamtenskepsis Bürgerrecht: korporativer Protektionismus gegen administrative Regulierung Forstverwaltung: behördlicher Sand im Getriebe kommunaler Sozialpolitik Entfeudalisierung: Bürokratie und Gemeinden vor den Schranken des Gerichts Zwischenbilanz: Obrigkeitswahrnehmungen — von der Autoritätsnachfrage zum Autonomieanspruch Partizipationskultur: religiöse und politische Kommunikationspraktiken Kirchenzugehörigkeit und Pfarrorganisation: quantitative Verhältnisse 1727-1855 Statusgruppen — Faktionen — Konfessionskorpora: Fragmentierungslinien im Umfeld von Schultheißenernennungen Grundlagen Überblick und Fallskizzen Detailstudien Fazit und Kontextualisierung Rivalität und Toleranz der Glaubensgemeinschaften: die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als Entspannungsperiode
149 170 172 172 183 199
203 204 206 258 273 277 282 292 296
301 305 312 312 316 324 362 364
Inhalt
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.5
Institutionalisierte Teilhabe und oppositionelle Mobilisierung im konstitutionellen Zeitalter Kommunal- und Landtagswahlen Petitionskampagnen und Kammerdebatten: Adressaten-, Themen- und Funktionswandel der Eingabe Ländliche Popularisierungsstrategien und Gegenkräfte der frühliberalen Bewegung Die Revolution von 1848/49: Attentismus und Engagement Zwischenbilanz: Parteilichkeiten — religiöse Deeskalation und Politisierung als sekundäre Konfliktideologisierung
VII
391 391 401 414 424 445
6. 6.1 6.2
Schlussbetrachtungen Gesellschaft — Erfahrung — Partizipation: Hauptergebnisse Stichworte zum regionalen Vergleich
449 449 455
7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4
Anhang Tabellen und Graphiken Währungseinheiten, Maße und Umrechnungen Abkürzungen Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalien Zeitgenössische Periodika Gedruckte Quellen Lokalhistorische Darstellungen; genealogische, biographische und andere Hilfsmittel Sekundärliteratur
465 465 489 490 492 492 498 498
7.4.5
Sachregister
502 505 528
VIII
Verzeichnis der Karten, Tabellen und Graphiken im Text Karten 1. 2.
Die Landgemeinden der Amtsbezirke Ladenburg und Schwetzingen 1840 Die ehemals kurpfälzischen Gebiete im Großherzogtum Baden 1802/15 ...
40 44
Tabellen 1. 2. 3.
4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.
Bevölkerungsentwicklung in der Pfalz und Rheinhessen 1773/81-1861 .... Prozentanteile von Landwirten, Gewerbetreibenden und Tagelöhnern in ausgewählten Gemeinden 1829-1852 Sozialstruktur der Untersuchungsdörfer nach Bodenbesitzgruppen 1721/22-1873: Zahl der Haushalte und Anteil an der Gesamtbevölkerung Agrarsektor und Betriebsgrößen in der Pfalz und Rheinhessen 1873/82 ... Voll-und Nebenerwerbslandwirte im Bezirksamt Ladenburg 1852/53 Das konfessionelle Profil der dörflichen Sozialstruktur 1721-1835 Inhaber höherer Gemeindeämter in acht Untersuchungsdörfern 1721-1848 Regionale Anbauverhältnisse am nördlichen Oberrhein 1863/68 Tabakanbauflächen in den Untersuchungsdörfern 1655-1868 Bevölkerungsanteil tabakbauender dörflicher Haushalte 1742-1869 Sozial-und Erlösprofil des Tabakanbaus in sieben Dörfern 1770-1850 Finanzsituation der kommunalen Haushalte 1864 Lokaler Mitgliederumfang der Religionsgemeinschaften 1727-1855 Resultat der Feudenheimer Schultheißenwahl vom 3. Februar 1757 Schutzzollpetitionen an die Nationalversammlung aus den Untersuchungsgemeinden Ende Dezember 1848 Volksvereine und Petitionen zur Kammerauflösung in den Untersuchungsdörfern (Herbst 1848/Frühjahr 1849)
73 91
102 109 116 118 123 144 158 163 166 179 306 329 413 427
Graphiken 1.
Einwohnerzahl der Untersuchungsdörfer und einzelner Städte 1727-1855 2. Jährlicher Bevölkerungssaldo der Dörfer und einzelner Städte 1727-1855
75 76
3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Karten, Tabellen und Graphiken im Text
IX
Veränderung der durchschnittlichen Familiengröße in den Dörfern sowie den Ämtern Heidelberg, Ladenburg und Schwetzingen 1774-1852
80
Prozentverhältnis der Bürger zu den Einwohnern und Familien sowie der Beisassen zu den Bürgern in den Untersuchungsdörfern 1727-1852 .... Durchschnittliche Bevölkerungsdichte je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in den Untersuchungsdörfern 1727-1855 Bevölkerungsanteil der Haushalte im Produktions- und Diensdeistungsgewerbe in den Untersuchungsdörfern 1721/22-1835/52 Besitzrechtliche Gliederung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in siebzehn Dorfgemeinden der badischen Rheinpfalz 1791
82 85 88 99
Aggregierte Betriebsgrößenstruktur der Untersuchungsdörfer 1873: Prozentanteile der Besitzgruppen nach Zahl der Haushalte 107 Viehbesatz pro Haushalt in den Untersuchungsdörfern 1774-1855 138 Tabak-, Spelz- und Roggenpreise in der Rheinpfalz 1773-1853 152 Tabakflächen in den Bezirken Ladenburg und Schwetzingen 1843-1863 ... 159 Gesamttabakernte in den Untersuchungsdörfern 1839-1868 161 Mittlere Tabakernte je Haushalt in den Untersuchungsdörfern 1839-1845 Gantfälle je 10.000 Einwohner 1833-1840,1852-1855 Durchschnittliches Totalsteuerkapital je Haushalt in den Gemeinden 1854
162 173 177
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2008/09 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld als Doktorarbeit angenommen. Für den Druck ist sie bibliographisch aktualisiert und in Teilen erweitert worden. Die Westfaüsch-Lippische Universitätsgesellschaft zeichnete sie mit dem Dissertationspreis 2010 aus. Meine Beschäftigung mit dem Thema reicht in die Zeit der Mitwirkung an Frank Konersmanns und Wolfgang Magers DFG-Projekt „Agrarmodernisierung in der Pfalz, Rheinhessen und am nördlichen Oberrhein, 1750-1850" zurück. Beide gaben wichtige Impulse, und Frank Konersmann ist seither zu einem geschätzten Austauschpartner geworden. Mein Doktorvater Andreas Suter begleitete das Vorhaben von einem frühen Stadium an mit erhellendem Rat und produktivem Widerspruch. Am Ende übte er den nötigen Druck aus, um mich zum Schlusspunkt zu ermutigen. Clemens Zimmermann hat meine Erkundungen zum ländlichen Nordbaden im 18. und 19. Jahrhundert nicht erst mit seinem Zweitgutachten stark unterstützt. Zudem nahm er die neuen Passagen der jetzigen Fassung noch einmal in kritischen Augenschein. Ihnen allen sowie den Herausgebern der Reihe „Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte" sei herzlich gedankt. Das gilt auch für den Verlag Lucius & Lucius, der bis vor kurzem die Geduldsprobe mit einem zögerlichen Autor zu bestehen hatte. Keine Untersuchung dieser Art ist ohne finanziellen und infrastrukturellen Rückhalt möglich. Generös gefördert wurde meine Arbeit durch Stipendien der Gerda Henkel Stiftung (Düsseldorf) und des Instituts für Europäische Geschichte (Mainz). Erstere und die Oestreich-Stiftung (Rostock) steuerten ferner namhafte Druckkostenzuschüsse bei. In den von mir genutzten Archiven fand ich optimale Bedingungen vor. Dies betrifft nicht nur das Generallandesarchiv Karlsruhe, das Stadtarchiv Mannheim, das Landesarchiv Speyer, das Landeskirchliche Archiv Karlsruhe, das Bayerische Hauptstaatsarchiv München, das Universitätsarchiv Heidelberg und das Bundesarchiv Koblenz. Auch in den zehn kleineren Kommunalarchiven der Region erfuhr ich unbürokratische Hilfe seitens der Lokalverwaltungen und ehrenamtlicher Betreuer. Die Universitätsbibliothek Bielefeld leistete über Jahre zuverlässige Dienste. Den erwähnten Institutionen und den Personen, die sie mit Leben erfüllen, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Zahlreiche Bielefelder Kolleginnen und Kollegen haben meine Forschungen auf die eine oder andere Weise bereichert. Genannt seien besonders die Weggefährten und Gäste in Andreas Suters Diskussionsgruppe „Frühe Neuzeit": Lars Behrisch, Christian Fieseier, Bernd Giesen, Stefan Gorißen, Karin Gottschalk, Jonas Hübner, Frank Konersmann, Gregor Rohmann, Simona Slanicka, Stefan Thäle und Michael Zozmann. — In verschiedenen Kontexten konnte ich Teilergebnisse vorstellen und von Anregungen profitieren: im Bielefelder Mittelalter- und Frühneuzeitkolloquium, auf der Konferenz „Statebuilding from below" in Ascona (W. Blockmans, A. Holenstein, J. Mathieu),
XII
Vorwort
auf dem „Workshop on Early Modern German History" des DHI London (P. H. Wilson, M. Schaich), in der Sektion „The Commercialisation of the Countryside" (G. Fertig) der „European Social Science History Conference" in Amsterdam, im Kolloquium des Instituts fur Europäische Geschichte (I. Dingel, H. Duchhardt), auf der Tagung „Property Rights, the Market in Land and Economic Growth" in Gregynog/Wales (G. Beaur, Ph. Schofield), auf dem Workshop „The Contribution of the Commons" in Pamplona (J.-M. Lana) und auf zwei Konferenzen des Arbeitskreises für Agrargeschichte (AKA) zu „Bauern als Händler" in Göttingen (F. Konersmann, K.-J. Lorenzen-Schmidt) und zum „Bild des Bauern" in Hannover (D. Münkel, F. Uekötter). Überhaupt bietet mir der AKA, nun geleitet von Stefan Brakensiek, meinem Wegweiser zur Frühen Neuzeit im Studium, bis heute ein stimulierendes Forum. - Tim Pfeiffer, Tom Tolle und Michael Zozmann halfen bei der Auswertung der Urlisten zu den Landtagswahlen und bei der Einrichtung des Manuskripts, wofür ihnen mein Dank gebührt. Mariya hat mit ihrer wohldosierten Weigerung, über Arbeit zu reden, mehr zum Gelingen beigetragen, als sie ahnt. Gewidmet ist dieses Buch in tiefer Dankbarkeit meinen Eltern Ute und Eberhard Grüne, ohne die es in vielerlei Hinsicht nie so weit gekommen wäre. Bielefeld, im Oktober 2011
Niels Grüne
1. Einleitung 1.1 Themenaufriss, Fragestellungen und Hypothesen Die Menschen in der badischen Rheinpfalz teilten vom frühen 18. Jahrhundert an eine Grunderfahrung vieler westeuropäischer Agrargesellschaften. Auch am unteren Neckar gerieten die Dorfbevölkerungen infolge demographischen Wachstums unter erheblichen Ressourcendruck. Seit etwa 1750 entluden sich die daraus resultierenden sozialen Spannungen in heftigen inneren Konflikten, die oftmals zu einer Lähmung der kommunalen Selbstregulation führten. Die Gemeinden in der Umgegend von Mannheim und Heidelberg schienen also auf dem besten Weg jener unaufhaltsamen Desintegration zu sein, der laut gängigen Beschreibungsmodellen den Wandel ländlicher Räume in der Sattelzeit spätestens nach 1800 charakterisierte. Wie die vorliegende Arbeit zeigt, schlug die Rheinpfalz jedoch einen markant anderen Pfad ein. Nicht allein wirkten agrarische Umwälzungen auf eine Stabilisierung der lokalen Sozial- und Partizipationsstrukturen hin. Mehr noch verschoben sich im Zuge dessen die Einstellungen maßgeblicher Einwohnergruppen zu obrigkeitlichen Lenkungsansprüchen auf nachhaltige Weise. Im Wechselspiel mit der Herausbildung politischer Lager auf territorialer Ebene entstanden dadurch im dörflichen Milieu zum Teil bemerkenswert enge Verbindungen zur liberalen Reform- und Oppositionsbewegung — ein beginnender Schulterschluss, der während der Revolution von 1848/49 auf seine vorläufig härteste Belastungsprobe gestellt wurde. Die Erforschung dieser in mancher Hinsicht ungewöhnlichen Zusammenhänge erlaubt wichtige Korrekturen an bisherigen Annahmen über die Adaptionsprobleme ländlicher Gesellschaften im Übergang zur Marktökonomie und zum repräsentativen Verfassungsstaat. Die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung von Dorfgemeinden der badischen Rheinpfalz zwischen 1720 und 1850 steht daher im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung. Generell findet die Veränderung ruraler Herrschaftskonstellationen im 18. und 19. Jahrhundert seit einiger Zeit verstärkt das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft.1 Eine zentrale Erkenntnisintention besteht in der Frage, wie sich die Verlaufsmuster und Denkfiguren lokaler Meinungsartikulation sowie die Haltung dörflicher Gruppen zu staatlichen und weltanschaulichen Integrationsprozessen im Zeichen sozioökonomischer, mentaler und institutioneller Umbrüche veränderten. Obgleich sich der Zuschnitt neuerer Arbeiten von sozialhistorischen Ansätzen über Studien zur Verwaltungspraxis bis zur Untersuchung der politischen Kultur erstreckt, verbindet
Für Forschungsberichte zum 18. und 19. Jahrhundert, die politische Aspekte einbeziehen, vgl. Dipper, Übergangsgesellschaft; Troßbach, Beharrung; Zimmermann, Transformationsprozesse; Raphael, Transformation; Grüne/Konersmann, Gruppenbildung. Die Literaturverweise in den Fußnoten fuhren nur den Hauptnamen der Autorin/des Autors und einen Kurztitel an.
2
1. Einleitung
sie die Vorstellung, dass die geschlossene, semi-autonome bäuerliche Gemeinde des Ancien Régime im Bann von Bevölkerungswachstum, gesellschaftlicher Zerklüftung und bürokratischer Disziplinierung erodiert sei oder lediglich um den Preis innerer Repression und ideologischer Deformationen habe reinszeniert werden können.2 Dieser thematischen Schwerpunktsetzung korrespondiert ein Trend zu regionalund lokalhistorischen Herangehensweisen. In der Konfliktforschung gilt das etwa für Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich,3 zum Sozialprotest im 19. Jahrhundert4 und zu Streitigkeiten anlässlich von Gemeinheitsteilungen.5 Sie rücken die Verkettung dörflicher und exogener Handlungsdeterminanten in den Fokus. Hierbei sind zwei prinzipielle Erwägungen beachtenswert. Erstens ist die Komplexität der lokalgesellschaftlichen Sphäre zu unterstreichen, die gegen eine Herauslösung einzelner Problemfelder aus ihrem lebensweltlichen Erfahrungs- und Motivationskontext spricht. So illustrieren mikrohistorische Arbeiten, wie die mannigfachen Interdependenzen zwischen Erbsitten, Ressourcenausstattung, Erwerbsstrategien sowie Verwandtschaftsund Klientelnetzen innerhalb kleiner Siedlungseinheiten ein vielschichtiges Beziehungs- und Machtgefüge schufen.6 Zweitens werden in der Analyse ländlicher Herrschaftsphänomene ökonomisch akzentuierte Interpretamente vermehrt zugunsten kultur- und mentalitätshistorischer Kategorien relativiert. Eine solche Paradigmenverschiebung berücksichtigt die zeitgenössischen Normenbestände und Identitätslogiken, in deren Horizont materielle Faktoren ihre spezifische Wahrnehmungs- und Verhaltenswirkung entfalteten. Demnach muss in evolutorischer Perspektive das Augenmerk auf die politische Kommunikation als jene Handlungsebene gerichtet sein, auf der sich die Definitionskämpfe um die legitimen Objekte, Verfahren und Teilhaber kollektiver Ordnungsdiskurse vollzogen.7
2
3
4
5 6
7
Einer derartigen Lesart hatte Heide Wunder freilich schon 1986 das Mosaik einer sich bereits seit der Frühen Neuzeit anbahnenden Transformation ländlicher Räume entgegen gestellt, in der die Aushöhlung genossenschaftlicher Institutionen, ökonomische Umschichtungen und das Vordringen der Staatsgewalt ein breites Spektrum kommunaler Vergemeinschaftungstypen hervorgebracht habe; Wunder, Gemeinde, S. 115-140. Siehe die historiographischen Rückblenden in: Weber, Rottweil, S. 11-47; Würgler, Unruhen, S. 23-29; Zürn, Waldburg, S. 19-24. Vgl. die Beiträge in Bergmann/Volkmann (Hg.), Protest, besonders die Einleitung der Herausgeber, S. 11-18, und Gallus, Protestbewegungen, S. 76-106; ders., Straße, S. 29-35. Z.B. Brakensiek, Agrarreform; Prass, Reformprogramm; Zimmermann, Entwicklungshemmnisse. Vgl. nach der Pionierstudie von Kaschuba/Lipp, Uberleben, die in den 1990er Jahren publizierten Arbeiten: Sabean, Property; ders., Kinship; Beck, Unterfinning; Schlumbohm, Lebensläufe; Medick, Weben. Zur Forschungs- und Gattungsgeschichte Troßbach, Mikrohistorie. Der Begriff der politischen Kommunikation lehnt sich an den kultur- und diskurshistorischen Ansatz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" an; vgl. Frevert, Politikgeschichte, S. 158-164; dies., Konzepte. Für eine Operationalisierung mit Blick auf bäuerliches Protesthandeln vgl. Suter, Kulturgeschichte. Allgemein zur Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft Rösener (Hg.), Kommunikation.
1.1 Themenaufriss, Fragestellungen und Hypothesen
3
Um die lokalen Erscheinungsformen und Rückkoppelungen von Herrschaft auszuloten, stellt sich einer politischen Geschichte ländlicher Gesellschaften daher die doppelte Aufgabe, ihr Instrumentarium sowohl den Anregungen der mikrohistorischen Forschung wie einer Heuristik zu öffnen, die den Prozessen kultureller Selbstkonstruktion auch jenseits sozioökonomischer Dispositionen Rechnung trägt. Nur so lässt sich jenes „eminente Problem von Forschung und Darstellung" bewältigen, das für eine avancierte Dorfgeschichtsschreibung in der „Vermittlung des Bereichs der Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung, der Marktverhältnisse und Wirtschafts- und Sozialstrukturen mit dem Bereich der Handlungen, Erwartungen und Wertvorstellungen" erkannt worden ist.8 Methodisch am nächsten kommen einem derartigen Zugriff auf sozialen Wandel und politische Mobilisierung für Südwest- und Mitteldeutschland Gunter Mahlerweins Dissertation über fünf rheinhessische Gemeinden9 und Robert von Friedeburgs Mehrdörferstudie zur nordhessischen Schwalm.10 Beide Autoren überschreiten die Epochenschwelle um 1800, indem sie die kommunalen Handlungsbedingungen des 19. Jahrhunderts in die Endphase des Ancien Régime zurückverfolgen, und suchen die Vorstufe charakteristischer Oppositionslinien in Differenzierungsvorgängen der ausgehenden Frühneuzeit. Mahlerwein zieht das Konzept der lokalen Herrschaft als „institutionalisierte^] Ausübung von Herrschaft in einem eng umgrenzten Raum [...] durch Angehörige desselben sozialen Systems"11 heran und beobachtet die Herausbildung einer bäuerlichen Elite, die sich im Zuge von Besitzpolarisierung und bürokratischer Zementierung ihrer Amtsautorität zusehends abkapselte. Diese Entfremdung habe 1848/49 eine Solidarisierung der Einwohnerschaft konterkariert und den Groll aufbegehrender Bevölkerungskreise gegen zögerliche Honoratioren geschürt. Derweil geht von Friedeburg vom Modell der dörflichen Politik aus, worunter er den „Einigungsprozeß der Bauern und der Unterschichten auf ein gemeinsames Verhalten gegenüber der [...] Herrschaft"12 fasst. Seit dem Dreißigjährigen Krieg hätten die Obrigkeiten durch gesteigerte Interventionen und fiskalische Abschöpfung antietatistische Ressentiments provoziert, die es den sozial fragmentierten Gemeinden noch im 19. Jahrhundert erleichterten, einen vitalen Minimalkonsens mittels externer Feindstereotype zu wahren. Infolgedessen seien die emanzipatorischen Impulse des Vormärz und der Revolution im Sinne eines defensiven Parochialismus rezipiert worden.
Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 15, sprechen diesen Nexus mit Blick auf das Dorf als Oft des Transfers knapper Ressourcen an und unterstreichen, dass „eine Einbe2iehung aller Ebenen" in epochenübergreifenden Synthesen „nur im Ausnahmefall erreicht" werden könne. Mahlerwein, Herren. Von Friedeburg, Gesellschaft. Mahlerwein, Herren, S. 274. Von Friedeburg, Gesellschaft, S. 26.
4
1. Einleitung
Genauer mit der Verwaltungspraxis an der Nahtstelle von Lokal- und Amtsadministration in linksrheinischen Gebieten seit 1815 beschäftigen sich schließlich mehrere Studien, die im Projekt „Staat im Dorf1' des Trierer Sonderforschungsbereichs „Zwischen Maas und Rhein" entstanden.13 Resümierend ist Lutz Raphael zu dem Ergebnis gelangt, dass die Eingliederung der Kommunen in den staatlichen Apparat keine Fundamentalopposition hervorgerufen habe, behördliche Vorstöße durch Hinhaltetaktiken vor Ort aber häufig umgelenkt worden oder versandet seien. Die nicht selten eigennützige Anpassung an obrigkeitliche Reglementierungen kennzeichnete er daher mit Hilfe eines Aushandlungsmodells als distanzierte Partizipation™ Anders etwa als Joachim Eibach für Baden dargelegt hat,15 hätten die Ereignisse von 1830 und 1848/49 die im Ganzen reibungsarme bürokratische Assimilation wenig tangiert. Die Stichworte lokale Herrschaft, dörfliche Politik und distanzierte Partizipation stecken das theoretische und sachliche Spannungsfeld ab, in dem sich die gegenwärtige Forschung zu innergemeindlichen und staatlich-kommunalen Interaktionsmodi in südwestdeutschen Regionen während des 18. und 19. Jahrhunderts bewegt. Von sozialgeschichtlicher Seite spricht die Verschiedenartigkeit der Zugänge und Befunde besonders gegen einen mechanischen Einbau makrostruktureller Argumente in Erklärungsmodelle politischen Verhaltens.16 Exemplarisch demonstrieren einen solchen Kurzschluss die Abschnitte zur ländlichen Bewegung in Michael Wettengels ansonsten überzeugender Revolutionsdarstellung der Rhein-Main-Gegend. Dort heißt es pauschal, dass die „große Geschlossenheit", mit der die „Dorfgemeinschaften" vorgingen, „typisch für den Südwesten Deutschlands und das Resultat der hier üblichen Realerbteilung" gewesen sei, „die eine relativ homogene, breite Kleinbauernschicht entstehen ließ."17 Analytisch scheint es vielmehr geboten, zunächst präziser die gesellschaftlichen
Vgl. generell Raphael, Projekt; ders., Kommunikation. A n einschlägigen Monographien u.a. zu deutschen Regionen (bayerischer Rheinkreis, preußische Rheinprovinz) sind zu nennen: Dörner, Staat; Grewe, Wald; Mayr, Landgemeindebürgermeister. 14 So apostrophierte Raphael die Haltung zur Bürokratie im Februar 2001 in einem Vortrag im Kolloquium für mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte der Universität Bielefeld. Vgl. in der Sache - allerdings ohne die explizite Formel der „distanzierten Partizipation" - Raphael, Kommunikation, S. 204f. •5 Vgl. Eibach, Staat, S. 8 1 - 1 1 1 . 13
16
So auch die methodische Absage an jeglichen „Automatismus in der Umsetzung von ökonomisch-sozialer Konstellation in sozial-politische Handlungsweisen und -optionen" bei Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 168f. — verbunden mit dem Appell, dass die Nachzeichnung des „Verhältnisses] von objektiven Handlungsmöglichkeiten zum sprichwörtlichen ,Eigensinn' geronnener dörflicher Gemeinschaftsformen [...] in jedem Einzelfall nach wie vor eine eminente Forschungsaufgabe - nicht allein für das 18. Jahrhundert" darstelle.
17
Wettengel, Revolution, S. 69f. Weiter: „Diese [die Kleinbauernschicht - N. G.] hatte überall ähnliche wirtschaftliche Probleme und wies nicht die gravierenden Unterschiede zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden auf, wie sie im Norden und Osten Deutschlands üblich waren." Schließlich: „Ohne die massenhafte Teilnahme von Kleinbauern wäre die Ausbreitung des Vereinswesens [...] nicht möglich gewesen." Ebd., S. 300.
1.1 Themenaufriss, Fragestellungen und Hypothesen
5
Existen2bedingungen, Interessenlagen und lokalen Kontroversen in den Blick zu nehmen, an denen sich das politische Denken und Handeln in wesentlichem Maße orientierte.18 Auf solche Weise versucht die vorliegende Arbeit zur badischen Rheinpfalz, sozioökonomische Veränderungsprozesse, dörfliche und herrschaftlich-kommunale Konfliktlagen sowie politische Partizipations- und Kommunikationspraktiken vom späten Ancien Régime bis 1850 in ihrer Verschränkung zu erfassen. Bereits wenige schlaglichtartige Beobachtungen deuten für diese Region auf Entwicklungszusammenhänge hin, die in den geläufigen Interpretationen zum Wandel ländlicher Gesellschaften in der Sattelzeit kaum Berücksichtigung finden: Die meisten Siedlungen am unteren Neckar wurden im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert von massiven Gruppenstreitigkeiten gespalten, die sich an der Nutzung kollektiver Ressourcen, gemeindlichen Lastenumlagen und Ämterbesetzungen entzündeten und oft erst durch behördliche Intervention geschlichtet werden konnten. Ebenfalls um 1800 wurde vielerorts der Anbau profitabler Handelsgewächse wie Tabak und Hopfen ausgedehnt und dadurch eine kommerzialisierte Wirtschaftsweise verbreitet. Seit dem Vormärz dann traten einige Dörfer recht einmütig als Hochburgen des beamtenkritischen Liberalismus hervor und exponierten sich 1848/49 zum Teil als Vorposten der Revolution. War die Koinzidenz von Agrarinnovation und Politisierung bloßer Zufall? Weshalb marschierten Bürgerschaften, die sich mitunter bis in die Restaurationszeit zerrissen und auf administrative Moderation angewiesen zeigten, kurz darauf gegen den bürokratischen Staat? Speisten sich die Konfrontationen des 18. Jahrhunderts womöglich gar nicht aus einer dauerhaften sozialen Kluft, sondern dienten lediglich anderen Friktionen als Ventil?19 Oder hatten sich vielmehr seitdem einschneidende Veränderungen vollzogen, die das fragile kommunale Gemeinschaftsgefühl nachhaltig beförderten? Wenn sich die folgenden Kapitel um Antworten darauf bemühen, spüren sie zugleich den längerfristigen Voraussetzungen des badischen Aufstands von 1849 in der Rheinpfalz und damit einer Region nach, von der selbst die Spezialliteratur wenig Notiz genommen hat.20 Aus diesem Blickwinkel stellt sich die Frage, ob die bemerkenswerte Kohäsion, mit der eine Reihe von Gemeinden am unteren Neckar im 19. Jahr-
18
19 20
So auch der selbstkritische Hinweis bei Raphael, Kommunikation, S. 204, auf nötige „weitere sozialhistorische und demographische Studien", um der verwaltungsgeschichtlichen Untersuchung von Kontakten zu äußeren Instanzen eine größere lokalgesellschaftliche Tiefenschärfe zu verleihen; ähnlich Grewe, Eliten, S. 114. Ein Schlüsselargument bei von Friedeburg, Gesellschaft, S. 149-171; ders., Reiche, S. 240-259. Zur defizitären Kenntnislage für Baden im Hinblick auf die lokale Dynamik vgl. Langewiesche, Revolution (1991), S. 354ff., 436-442. Sein Urteil fiele nach der heimatkundlichen Publikationsflut zum 150. Revolutionsjubiläum wohl weniger düster aus. Die Unterbelichtung des ländlichen Geschehens gerade am unteren Neckar dokumentiert aber noch die Sammelrezension von Engehausen, Literatur I; ders., Literatur II, bes. S. 313-318.
6
1. Einleitung
hundert den großherzoglichen Amtleuten trotzte, tatsächlich — der gängigen Lesart für Südwestdeutschland gemäß — in erster Linie hergebrachte Abwehrreflexe fortschrieb. Vor dieser Folie lautet die im Weiteren zu erhärtende Hauptthese, dass der obrigkeitsskeptische dörfliche Zusammenhalt im Untersuchungsraum entscheidend auf einer erst um und vor allem nach 1800 errungenen, neuen gesellschaftlichen Balance fußte. Entsprechend verdankte sich die Attraktivität des frühliberalen Ideals lokaler Autonomie und demokratischer Teilhabe auf örtlicher, aber auch auf territorialer Ebene weniger vormodernen Resistenztraditionen als der Überwindung einer im Kern demoökonomischen Krise. Denn deren Eindämmung begünstigte eine Verlagerung der politischen Kommunikation von segregativ-agonalen zu integrativ-kooperativen Leitlinien. In regional differenzierender Absicht wendet sich die Studie damit gegen die bis heute dominierende Auffassung vom Primat frühneuzeitlich-feudaler Wertund Handlungsorientierungen für den vormärzlichen Gemeindeprotest in rechtsrheinischen Zonen der Rentengrundherrschaft — gegen eine Anschauung also, die Robert von Friedeburg vor einigen Jahren noch einmal dahingehend unterstrichen hat, dass in diesem Punkt „südlich der norddeutschen Tiefebene" ein „hohes Maß an Kontinuität" zu registrieren sei.21 Vier generelle Eindrücke und Überlegungen können die hier vertretene alternative Sichtweise stützen. Sie sollen deshalb als erkenntnisleitende Hypothesen die konkreten Untersuchungsziele und Fragestellungen bestimmen: (1) Die intensivierte Landwirtschaft Nordbadens versetzte auch ressourcenschwache Familien in die Lage, ihre Einkommens Situation substantiell zu verbessern, wenn sie die Chance zur Produktion lukrativer Cash Crops erhielten. Die Klein- und Parzellenwirte dürften sich dadurch trotz verschärfter Besitzzersplitterung als dörfliche Mittelschicht (re-)etabliert und aufgrund der weiter bestehenden agrarischen Nähe zu den größeren Eigentümern dem bäuerlichen Milieu (wieder) zugehörig gefühlt haben. Dem Umfang und der sozialen Reichweite dieses strukturstabilisierenden Fortschritts ist darum erhebliche Bedeutung für das materielle und mentale Integrationspotential der Landgemeinden zuzuschreiben. (2) Auf dem Gebiet der kommunalen Institutionen räumte die von den 1820er Jahren an novellierte badische Gemeindeordnung durch Verbreiterung des Wahlprinzips und neue Repräsentativgremien den Ortsbürgern ungeahnte Mitsprache- und Kontrollrechte ein. Sobald Dorfbeamte und -honoratioren auf Mehrheiten unter den Haushaltsvorständen angewiesen waren, kristallisierte sich ein Politikstil heraus, der sensibler als zuvor auf gesamtlokalgesellschaftliche anstatt nur partikulare Bedürfnisse achtete. In dem Maße, wie die erwähnten ökonomischen Vorgänge ohnehin auf eine Homogenisierung dörflicher Gruppeninteressen hinwirkten, konnte sich so ein ge-
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V o n Friedeburg, Gemeindeprotest, S. 32; vgl. auch Anm. 106 und 161. Ebenso betont Lutz Raphael die „Kämpfe gegen patrimoniale Herrschaftsreste und gegen eine Bürokratie, welche ihrerseits mit ständischen Sonderinteressen verquickt war." Raphael, Transformation, S. 58.
1.1 Themenaufriss, Fragestellungen und Hypothesen
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meindesolidarischer Habitus herausbilden, der mehr als einen prekären Burgfrieden reflektierte.22 (3) In den religiös überwiegend gemischten Dörfern der Rheinpfalz stachen nach dem auch lokalpolitisch virulenten Katholizismus des kurpfälzischen Spätabsolutismus die Dekaden seit der Wende zum 19. Jahrhundert als eine Phase interkonfessioneller Pazifizierung hervor. Erst nach 1850 kam es zu einer abermaligen, im kirchlich liberalen Baden indes gebremsten Abschottung der Bekenntnismilieus. Das temporäre Abflauen konfessionellen Misstrauens und Lagerdenkens dürfte bis 1848/49 nicht unbeträchtlich zur Stärkung der gemeindlichen Bindungskräfte beigetragen haben. (4) Im Verfassungsleben des seit 1818 konstitutionellen Baden schälte sich eine mittelständisch-kleingewerbliche Konsensideologie des Frühliberalismus heraus, die allmählich eine regierungsfeindliche Stoßrichtung gewann. Die unter (1) bis (3) genannten wirtschaftlichen, organisatorischen und religiösen Tendenzen und deren Positiveffekte auf das kommunale Harmoniestreben nährten eine Affinität zu dieser vorherrschend bildungs- und stadtbürgerlichen Bewegung. In der ländlichen Rheinpfalz konnte dadurch ein fruchtbarer Boden für die Rezeption liberaler Programmatik und für Annäherungen an die urbane Intelligenz und ihre Aktionsformen entstehen, so dass sich die dörfliche soziale Konsolidierung und die oppositionelle Politisierung miteinander verzahnten. Um den Realitätsgehalt und die Tragfähigkeit dieser Annahmen empirisch zu überprüfen, beleuchtet die Arbeit die drei titelgebenden Problemfelder in ihrer jeweiligen Entwicklung und wechselseitigen Durchdringung. Unter „Dorfgesellschaft" werden jene demographischen, stratifikatorischen und agrarökonomischen Wandlungen rekonstruiert, die das Sozialprofil ganzer Siedlungsverbände und einzelner Statusgruppen prägten. Daran anknüpfend schreitet das Kapitel „Konflikterfahrung" die typischen Streitgebiete ab, auf denen es infolge solcher örtlichen sowie staatlicher Strukturveränderungen gehäuft zu Divergenzen innerhalb der Kommunen bzw. zwischen gemeindlichen und behördlichen Akteuren kam. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die changierende Perzeption obrigkeitlicher Autoritätsansprüche. Der dritte Komplex „Partizipationskultur" umgreift zum einen die konfessionelle Dimension lokaler Denkund Handlungsmuster; zum anderen die stärker institutionalisierten Formen der Herrschaftskommunikation und die parteilichen Mobilisierungspraktiken, die in den weltanschaulichen Affiliationen und Kampagnen der 1830/40er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt erreichten. Hier wird am Ende besonders danach zu fragen sein, welches Gewicht innerdörflichen Vorgängen, Kontakten mit Verwaltungsinstanzen und ideologischen Antrieben für die politischen Sympathien der ländlichen Bevölkerung zufiel.
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Tatsächlich zieht die bisherige Forschung zu Südwestdeutschland anders als die folgende Studie die Möglichkeit einer durch landwirtschaftliche Modernisierung und demokratische Selbstregulierung getragenen Festigung dörflicher Existenzgemeinschaften für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ernsthaft in Betracht.
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1. Einleitung
1.2 Theoretisch-konzeptioneller Zugriff Die folgende Studie leistet einen regional- und mikrogeschichtlichen Beitrag zur geselljY^a/fttheoretischen23 Vermessung des ländlichen Raumes in der Sattelzeit. Dazu ist es notwendig, an empiriegesättigte Interpretationen für andere Gebiete anzuknüpfen, wie es kompakt in Abschnitt 1.4 geschieht. Vorab soll indes die gewählte Betrachtungsweise jenseits quellenbedingter Erkenntnismöglichkeiten und zunächst auch unabhängig von gesonderten Themen- und Fragestellungen gleichsam anthropologisch expliziert werden. Angesprochen ist hiermit die „abstrakte Auseinandersetzung mit dem menschlichen Akteur, mit seinem Bewußtsein und Handeln, mit den strukturellen Bedingungen und Konsequenzen dieses Handelns sowie mit den institutionellen Formen und kulturellen Symbolen, die aus diesem hervorgehen."24 Denn diese „Jo^'öAheoretische Dimension" steuert in jedem Fall — sei es stillschweigend oder ausdrücklich — die „Perspektive auf die historischen Gegenstände [...], die den Modus festlegt, in dem sich historische Analyse und historische Theoriebildung bewegen können."25 Mit Blick auf die deutschsprachige Methodendiskussion geht es vorderhand um eine Verortung im Spannungsfeld zwischen Historischer So^ialmssenschaft und Neuer Kulturgeschichte — jenen beiden sozialtheoretisch grundierten Forschungsprogrammatiken, um welche die meisten Kontroversen von den 1980er Jahren an kreisten.26 Grob formuliert kommt es der klassischen Sozialgeschichte in erster Linie auf das Herauspräparieren größerer Strukturzusammenhänge und langfristiger Entwicklungsprozesse an, die vorrangig auf den höheren Aggregationsebenen gesellschaftlicher Systeme verfolgt werden. Die Erklärungsmodelle bevorzugen transpersonale Wirkfaktoren und privilegieren eine Sicht von Individuen und Gruppen als Sachwaltern ihrer primär ökonomisch definierten sozialen Lage. In Abgrenzung dazu akzentuieren kulturhistorische Ansätze27 die autochthone Gestaltungsmacht der Akteure, die aus der Eigenlogik lebensweltlicher Sinnstiftungen und Identitätsentwürfe erwächst. Dadurch treten die Mechanismen verhaltensprägender Bedeutungsgenerierung innerhalb lokaler Bezie-
Der ,^W/ra^/Mieoretische[n] Dimension" von Theorien in den Humanwissenschaften weist Thomas Welskopp im Anschluss an Anthony Giddens „Aussagen über konkrete historische Vorgänge, über Gesellschaften als soziale Systeme oder als Beziehungsnetzwerke zwischen handelnden Akteuren" zu, also Deutungen ,,konkrete[r], in ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung begrenzte[r] Phänomene"; Welskopp, Verhältnisse, S. 40; auch ders., Dualität, S. 99. 24 Anthony Giddens (1988) nach Welskopp, Verhältnisse, S. 41. 25 Ebd., S. 40£; ders., Dualität, S. 117. 26 Vgl. typisierend Hettling/Suter, Ereignis, S. 7-23; Sokoll, Kulturanthropologie; Welskopp, Verhältnisse, S. 41-44; ders., Dualität, S. 99-103; Grüne/Konersmann, Gruppenbildung, S. 566ff. 27 Der Einfachheit halber seien unter kulturhistorischen Ansätzen mehrere Wellen der Kritik an der konventionellen Sozialgeschichte gebündelt, die mit dem Plädoyer für ethnologische und sozial- bzw. kulturanthropologische Zugänge in der Alltags- und Mikrogeschichte seit Mitte der 1970er Jahre anhoben und in den Strom der Neuen Kulturgeschichte mündeten. 23
1.2 Theoretisch-konzeptioneller Zugriff
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hungsgeflechte in den Fokus.28 Zugespitzt scheinen also ein menschenleerer Strukturfunktionalismus und eine eskapistische Subjektemphase aufeinander zu prallen. An Mittelwegen hat es zwar gerade im Forschvingsalltag nicht gefehlt. Umfassende Syntheseversuche sind jedoch erst seit kürzerer Zeit vor allem in Debatten um die Verbindung von Struktur und Ereignis29 und mit der Öffnung für praxeologische Impulse aus der Soziologie30 unternommen worden. Für die vorliegenden Zwecke ist es von eher geringem Belang, ob man darin lediglich eine „Erweiterung der klassischen Sozialgeschichte"31 oder bereits eine Verschmelzung von „Sozialgeschichte und Kulturgeschichte zu einer methodologisch gewendeten Gesellschaftsgeschichte"32 sehen will. Unbeschadet mancher Varianten lassen sich vier Kernpostulate benennen, die heuristisch fruchtbar gemacht werden sollen. Grundlegend ist — erstens — ein methodologischer Individualismus, der dazu zwingt, gesellschaftliche Ordnung als ein Konglomerat stabilisierter Handlungsweisen zu denken. Sozialer Wandel erschließt sich demnach nur unter Berücksichtigung der Verankerung neuer Interaktionsmuster in individuellen und kollektiven Erfahrungsräumen.33 Zweitens stellen die Realitätsbilder, die in jede Verhaltensmotivation einfließen, immer das Resultat von Interpretationsvorgängen dar. Dieser konstruktivistischen Lesart zufolge operieren Akteure als „Gesellschaftstheoretiker in eigener Sache",34 so dass die Herleitung vergangenen Handelns aus retrospektiv objektivierten Bedingungen stets einer wahrnehmungs- und wissenshistorischen Flankierung bedarf.35 Drittens konstituieren sich Strukturen kraft repetitiven Verhaltens und teils kalkulierter, teils nicht intendierter Handlungsfolgen. Sie markieren die Spielräume der Einzelnen in Form von Routinen, Ressourcen und verfügbaren Handlungskontexten, werden aber zugleich wiederum allein von Akteuren reproduziert, modifiziert oder durchbrochen.36 Verstärkte Beachtung gebührt
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Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Akteursorientierung etwa in textualistischen Spielarten der Diskursanalyse leicht wieder verloren gehen kann. So betont Landwehr, Diskursanalyse, S. 174, zwar die „zentrale Stellung der Diskursanalyse innerhalb der Kulturgeschichte", warnt aber zugleich vor einer epistemologischen Autonomisierung von Diskursen; ebd., S. 166f. Vgl. komprimiert Hettling/Suter, Ereignis, S. 23-32; monographisch Suter, Bauernkrieg. Vgl. zur Praxeokgie (oder Theorien sosjakr Praktiken bzw. Praxistbeorieri) Reckwitz, Grundelemente; zur geschichtswissenschaftlichen Rezeption Welskopp, Verhältnisse; ders., Dualität. Hettling/Suter, Ereignis, S. 29. Welskopp, Verhältnisse, S. 69. Hierzu dezidiert Hettling/Suter, Ereignis, S. 31: „Nur eine historische Analyse, die individuelle Handlungsmotive berücksichtigt, kann im eigentlichen Sinne erklären." Welskopp., Dualität, S. 107. Solche zweifache Analyse von strukturellem Kontext und interpretativem Handeln firmiert nach Giddens als „doppelte Hermeneutik"; Hettling/Suter, Ereignis, S. 29; Welskopp, Dualität, 104f. Der Begriff der Praxis verweist somit auf die „doppelte Konstitution der Wirklichkeit [...], die aus den strukturierenden Folgen sozialen Handelns und den handlungsbefahigenden Bedingungen, die Strukturen dem Handeln setzen, resultiert." Welskopp, Dualität, S. 104. Es kursieren jedoch auch abweichende Auslegungen der „doppeltefn] Konstituierung der Realität", etwa bei
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1. Einleitung
hierbei ereignishaften Diskontinuitäten, d.h. komplexen Handlungssequenzen, die sich durch ihre Uberraschungsqualität vor einem kollektiven Erwartungshorizont und ihre strukturverändernden Effekte auszeichnen.37 Denn besonders in solchen Fällen bietet die für gewöhnlich erhöhte Artikuliertheit der Subjektperspektive38 die hermeneutische Gelegenheit, „den interpretativen Konstruktionsprozeß, aufgrund dessen die Akteure den strukturellen Kontext [...] in eine Entscheidungslogik von Handlungschancen und -grenzen übersetzten"39 in seiner Dynamik einzufangen. Dies führt — viertens — zu der Rolle von Diskursen als „geregelten sprachlichen [...] Aussagesystemen, die einem kulturellen Code folgen."40 Relativierend gegenüber autopoetischen Vereinseitigungen wird in ihnen „eine Praxisform unter anderen und [eine] transformative Reflexionsinstanz" erblickt, „die den Akteuren Orientierung und Bewertungskriterien ihres Handelns liefert."41 Solchermaßen als eingebettete diskursive Praktik situiert, kann lediglich „die Rekonstruktion des kontextuellen Gebrauchs [...] klären, welche Bedeutung dem Diskurs im Wissen der Teilnehmer zukommt."42 Begriffsgeschichtliche, semantische und diskursanalytische Erkundungen entfalten ihr volles Erkenntnispotential somit erst unter Bezug auf die akteurs- und gruppenspezifische Sprachpragmatik. Alle diese theoretischen Anstöße haben auch die jüngeren Überlegungen zu einer Kjilturgeschichte des Politischen oder Neuen Politikgeschichte inspiriert.43 Zentral ist hier die antiessentialistische Luhmannsche Bestimmung von Politik bzw. des Politischen44 als einem „kommunikativen Modus, dessen Codes auf die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen gerichtet sind."45 Politische Praktiken drehen sich folglich darum,
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Wehler, Kulturgeschichte, S. 145: „zum einen durch die sozialen Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selber". So die Definition von Ereignis bei Hettling/Suter, Ereignis, S. 24ff. Dies gegenüber der sonst vorherrschenden ,„impliziten', .informellen' Logik des sozialen Lebens"; Reckwitz, Grundelemente, S. 290-294. Hettling/Suter, Ereignis, S. 29. Reckwitz, Grundelemente, S. 298. Welskopp, Dualität, S. 105. Laut Reckwitz, Grundelemente, S. 298, wenden sich Praxistheorien gegen die „Tendenz zu einer Identifizierung des Sozialen mit selbstreproduzierenden Zeichensystemen [...] und erkenn[en] in ihr eine weitere Form der ,Intellektualisierung' des Sozialen." Ebd. Vgl. die Betrachtungen bei Lipp, Kultur; Frevert, Politikgeschichte; Mergel, Kulturgeschichte; Landwehr, Kulturgeschichte; Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte. Zum Gleichklang von Kulturgeschichte des Politischen und Neuer Politikgeschichte ebd., S. 24. Der Begriff der Politischen Kultur ist - vermutlich wegen seines ursprünglichen ,,normative[n] Bias" - nicht zum Emblem dieser Richtung avanciert; Lipp, Kultur, S. 82. Fortan werden Politik und das Politische im folgenden modalen Sinne weitgehend synonym verwendet. Wenn Politik auf ein ausdifferenziertes, institutionell verfestigtes Funktionssystem rekurriert - etwa bei Landtagsverhandlungen oder -wählen - , geht dies aus dem Darstellungszusammenhang hervor. Mergel, Kulturgeschichte, S. 587. Ähnlich Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 14: „Das Politische ist [...] der Handlungsraum, in dem es um die Herstellung und Durchführung kollektiv
1.2 Theoretisch-konzeptioneller Zugriff
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welche Bereiche auf welche Weise zum Gegenstand regulativer Thematisierung werden und wer mit welchen Macht- und Geltungsressourcen an diesen „Aushandlungsund Deutungskämpfen" 46 partizipieren kann (In-/Exklusion). Die konstruktivistische Verflüssigung politischer Kategorien betrifft damit zum einen das sozialräumliche Bezugsfeld solcher Ordnungsdiskurse, also die Projektion transpersonaler Einheiten (Klasse, Gemeinde, Staat, Nation etc.), die als „handlungsleitende Fiktionen" 47 aufzufassen sind. Sie erstreckt sich zum anderen auf vermeintlich elementare Motivationskräfte wie Interessen 48 und auf fundamentale Legitimationsformeln (z.B. Gemeinwohl, Gerechtigkeit, öffentliche Sicherheit), die nicht nur in ihrer gruppenegoistischen Opportunität (Ideologiekritik), sondern ebenso in ihrem kommunikativen Charakter begriffen werden müssen. Die hieraus für die Konzeption und den Argumentationsgang der Arbeit gezogenen Schlüsse lassen sich in sechs Punkten umreißen: (1) Das Verständnis der politischen Praxis ländlicher Bevölkerungskreise erfordert eine genaue Analyse der strukturellen Rahmenbedingungen. Das gilt namentlich für die Ressourcenausstattung von Individuen (Besitz, soziale Vernetzung, Prestige), für die Eröffnung oder Verweigerung institutioneller Artikulations- und Teilhabechancen durch obrigkeitliche Normierung (Staats-, Kommunalverfassung) und für das Vorhandensein externer Interpretationsangebote (politisch-soziale Programme, Weltanschauungen). Solche Strukturen umschrieben aber lediglich das „Handlungsmögliche", 49 da die Praxis nicht starren Verhaltensschemata gehorchte. Vielmehr barg sie stets Ansätze zur kreativen Rekombination von Systemelementen und zur routinebrechenden Innovation. Struktureller Wandel vollzog sich daher bis zu einem gewissen Grad im Medium veränderter Handlungsmuster der lokalen Akteure. 50 Die Rahmenbedingunverbindlicher Entscheidungen geht." Als tautologisch zu verwerfen ist dagegen die von Landwehr, Kulturgeschichte, S. 104, vorgeschlagene Definition, nach der „das Politische die symbolische Ordnung ist, der der Charakter zugeschrieben wird — oder kulturhistorisch gesprochen: der Sinn verliehen wird —, politisch zu sein." 46
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Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 14. Vgl. Frevert, Politikgeschichte, S. 158: „Welche Beziehungen bewusster Ordnung und Steuerung bedürfen und welche außerhalb des politischen Feldes bleiben, ist eine Sache des Aushandelns." Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 14. So bezeichnet Mergel, Kulturgeschichte, S. 604, „das sogenannte Interesse [als] eine Kategorie, die in hohem Maße über symbolische Vergemeinschaftung und diskursive Praktiken realisiert wird." Genauso erblickt Frevert, Politikgeschichte, S. 163, einen Grundimpuls von Politikgeschichte als Kulturgeschichte in der Opposition „gegen eine sozioökonomische Verkürzung des Politischen." Mergel/Welskopp, Gesellschaftstheorie, S. 32. Demnach „determinieren Strukturen nicht das Handeln, sondern sie sind der Horizont, der das Handeln begrenzt, andererseits aber auch erst ermöglicht." Ebd., S. 33. Zur Veranschaulichung seien im Vorgriff auf spätere Abschnitte etwa die Homogenisierung der Sozialstruktur infolge agrarischer Intensivierungspraktiken und die Verstetigung von Kommissionsbehörden durch lokale Ordnungsnachfrage genannt; vgl. besonders Kapitel 3.3 und 4.1.
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gen waren mithin nicht nur instrumenteil, sondern auch plastisch im Sinne ihrer Gestaltbarkeit für die Einzelnen verfugbar. (2) Die Untersuchung richtet sich in erster Linie auf mikrosoziale Interaktionsräume, die indes außer- und überörtliche Instanzen (z.B. Territorialfürst, Behörden, Landtagsdeputierte) als Kommunikationspartner und Interventionsträger prinzipiell mit einschlössen.51 Um das Repräsentativitätsdefizit der herkömmlichen Mikrogeschichte zu mildern, sind die Forschungen als vergleichende Dorfstudien angelegt;52 dem entspricht ein nicht latent totalhistorischer, sondern problemorientierter Zugang, der sich aus der im vorigen Abschnitt formulierten Themenstellung ergibt. Die lokale Optik folgt der praxeologischen Tendenz, „Vergesellschaftung nur auf der Mikroebene sozialer Beziehungen und auf der Mesoebene der Institutionen [als verdichteten Interaktionen - N. G.], nicht aber auf der abstrakten Makroebene der Gesellschaft'" anzusiedeln.53 Damit gewinnen zugleich Fragen der Sozialintegration54 und der Konflikttheorie55 einen höheren Stellenwert innerhalb gesellschaftsgeschichtlicher Entwürfe. (3) Die Darstellung bezieht Wahrnehmungs- und Erfahrungsaspekte ein, um über die Realitätsdeutungen der Zeitgenossen deren Verhaltensmotivationen zu erhellen. Im Sinne der „praxeologischen Struktur des Subjekts als eines lose gekoppelten Bündels von Wissensformen" wird davon ausgegangen, dass das Individuum im Schnittpunkt „unterschiedlicher sozialer Logiken in sozialen Feldern"56 steht und Handlungsorientierung wesentlich aus Identitäts- und Differenzzuschreibungen erwächst.57 Im Einzelnen heißt dies vor allem auszuloten, wie sich durch die Stereotypisierung von Zugehörigkeit und Agonalität kollektive Akteure konstituierten und auf welche gesellschaftliche Dimensionen dabei rekurriert wurde. Das im Untersuchungsraum einschlä51
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Auch für den ökonomischen Bereich ist festzuhalten, dass ,,[d]örfliche Sozialstrukturen und Prozesse der Ressourcenvergabe, im Einzelfall selbst Interaktionsformen [...] ohne Rückbezug auf die im Austausch mit der Außenwelt zustande kommenden Erwerbsgrundlagen schwerlich zu verstehen sind." Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 15. Zum Ansatz der vergleichenden Mikrogeschichte vgl. Raphael, Gesellschaften, bes. S. 17-20. Welskopp, Dualität, S. 115. In der Agrargeschichte ist in Anlehnung an Heide Wunder für „lokale Kleinformen", d.h. „soziale Beziehungsmuster in und zwischen Lokalverbänden" jüngst der Begriff der „Gesellung" als „eine[r] auf konkrete Formen und Situationen bezogene[n] Sphäre des Zusammenlebens" vorgeschlagen worden; Lesemann/Lubinski, Ökonomien, S. 11. Mit der Absetzung von „institutionalisierten Formen der Gesellschaft" stellt dies gegenüber der gleichsam kategorialen Vergesellschaftung des Mikrosozialen in der Praxistheorie jedoch einen analytischen Rückschritt dar. Sozialintegration ist als Reproduktion von Handlungsweisen „über die direkten Sanktionen der Beteiligten" zu verstehen. Dagegen betrifft Systemintegration die „Fähigkeit, Beziehungsmuster über lange Zeit und weite Entfernungen auch unter Bedingungen der Nichtkopräsenz aufrechtzuerhalten." Welskopp, Dualität, S. 112. Zur Wahlverwandtschaft von Theorien der sozialen Integration und Konfliktmodellen in der Soziologie vgl. Lockwood, Integration. Reckwitz, Grundelemente, S. 295. Vgl. Lipp, Kultur, S. 96f.
1.2 Theoretisch-konzeptioneller Zugriff
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gige begriffliche Repertoire umfasste eine Reihe teils komplementärer, teils konkurrierender Kategorien - nämlich: materielle Ungleichheit/Statusgruppe, Konfession, Gemeinde, Faktion/Partei, Landschaft, Obrigkeit/Staat und Nation. Verschiebungen in der Handlungsrelevanz solcher transpersonalen Vokabulare werden als semantische Faktoren und Indikatoren der politisch-sozialen Entwicklung betrachtet. (4) Der Ansatz einer Sozialgeschichte politischer Ereignisse wird auf Phänomene angewendet, die von Außen unspektakulär anmuten mögen, aus der örtlichen Binnensicht aber durchaus Ereignischarakter besaßen und kumulativ folgenreiche Erfahrungsund Lernprozesse vermittelten. Derartige Mikroereignisse resultierten in der Regel aus Konfliktsituationen, in denen lokale Personenkreise und/oder Obrigkeitsvertreter mit unerwarteten „Projekten"58 konfrontiert wurden und mindestens eine der beteiligten Seiten die Durchbrechung von Mikrostrukturen anstrebte.59 Ungeachtet des Erfolgs dieser Initiativen enthüllten solche Handlungssequenzen - aktuell und rückblickend meist in aller Schärfe die Machtpotentiale und Durchsetzungschancen verschiedener Akteursgruppen. Letztere standen zudem unter besonderem Druck, gemeinsame Wert-, Interessen- und Zielmotive zu definieren, gegebenenfalls zu revidieren und in pragmatisch-rhetorische Strategien zu überfuhren. (5) Der skizzierte modale Politikbegriff hat den Vorzug, die politische Qualität ländlicher Anliegen nicht substantialistisch beispielsweise gegenüber bürgerlichen Agenden (Verfassungs-, Nationalpolitik) rechtfertigen zu müssen, wie es häufig in Arbeiten zum Vormärz und zur Revolution geschieht.60 Insofern die untersuchten Kommunikationsvorgänge auf kollektives Ordnungshandeln abhoben, waren sie eo ipso politisch. Daraus ergäbe sich jedoch nur eine ziemlich blasse Prozesskategorie von Politisierung, die im Grunde mit regulativer Thematisierung zusammenfiele und dadurch kaum noch anschlussfahig an die inhaltlich prägnanteren Konzepte der empirischen Forschung wäre.61 In epochenspezifischer Verengung sollen unter Politisierung deswegen Vorgänge verstanden werden, die eine praktische und mentale Transzendierung lokaler „policy arenas"62 spiegelten. Gemeint sind damit namentlich ein verstärkter Bezug auf
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„Projekte" im Verständnis von Giddens als gesteigert intentionaler Typus menschlicher Aktivitäten („agency"), den „bewußte Sinn- und Motivationsbezüge wie die Spitze eines Eisbergs aus routinehaften Handlungsalgorithmen herausragen lassen." Welskopp, Dualität, S. 106. Das strikte Ereigniskriterium „strukturveränderndefr] Folgen" (Hettling/Suter, Ereignis, S. 25) wird hier zugunsten strukturverändernder Absichten aufgeweicht. Darin mag eine gewisse Überdehnung des Ereigniskonzepts liegen. Zum einen aber ist unklar, warum die Unüberwindlichkeit bestimmter Strukturen sich nicht ereignishaft verdichten können soll; zum anderen besitzen Erfahrungen des Scheiterns selbst Strukturqualität, sofern sie zu gewandelten Einstellungen innerhalb eines statischen institutionellen Rahmens gerinnen. Vgl. Abschnitt 1.4.4. Vgl. Grüne/Konersmann, Gruppenbildung, S. 584f. Der Ausdruck „policy arenas" stammt von dem amerikanischen Politologen Theodore Lowi und wurde vor allem in der Alltagsgeschichte rezipiert, um über eine „Entstaatlichung des Poli-
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zentralstaatliche Orte der Meinungsbildung — besonders Repräsentativorgane (z.B. Parlamente) — und eine zunehmende Anbindung an territoriale oder nationale Ideologien und Parteiströmungen (z.B. Konservatismus, Liberalismus).63 Die unterschiedliche Intensität und soziale Reichweite solcher Generalisierungen des politischen Denkund Handlungsfeldes lassen sich dann durch Komposita wie Elitenpolitisierung oder Fundamentalpolitisierung zum Ausdruck bringen. (6) Die Mikroperspektive bedeutet keinen Verzicht auf System- und Prozessaussagen. Sie hält sich vielmehr daran, dass ein adäquater „Begriff von Struktur [...] regelgesteuerte Handlungsmuster [...] in Mikrokontexten aufspüren und ihre konkrete Vernetzung zu größeren Zusammenhängen rekonstruieren können"64 muss. Die Suche nach weitläufigeren Formationen und Entwicklungen verfahrt deshalb in induktivtypologisierender Weise. Auf dieser Basis erfolgt eine Auseinandersetzung mit etablierten Modellen langfristig gerichteten Wandels, wie sie prominent im Rahmen von Modernisierungstheorien aufgestellt worden sind. Insbesondere zwei „Vorannahmen und ,eingebaute[n]' Probleme[n]"65 derartiger Entwürfe gilt das kritische Interesse. Zum einen soll die oft postulierte „Linearität" und „Irreversibilität" säkularer Veränderungsvorgänge hinterfragt werden.66 So ist etwa in Hinsicht auf die ländliche Klassenbildung zu zeigen, dass scheinbar naturwüchsige Polarisierungen im historisch falschen Moment in eine Komplexität reduzierende „gesellschaftliche Entdifferenzierung"67 umschlagen konnten. Zum anderen steht das sogenannte „Interdependenztheorem" zur Debatte, nach dem die Transformation der verschiedenen Subsysteme einer Gesellschaft mehr oder weniger im Gleichschritt vonstatten geht.68 Die Befunde dieser Arbeit stützen dagegen eher Konzepte von partikularem Wandel, „partieller Modernisierung"69 und zum Teil inverser sektoraler Verflechtung, indem beispielsweise moderne Wirtschaftspraktiken traditionale Sozialmilieus und Wertorientierungen stabilisierten.70 tikbegriffs" die politische Signifikanz der lebensweltlichen Sphäre terminologisch zu markieren; Frevert, Politikgeschichte, S. 156f. 63 Das trifft sich etwa mit der Frage nach dem Grad der „kommunikativen und semantischen Entgrenzung lokaler Handlungshorizonte" durch das „Ausgreifen des Staates auf das D o r f sowie durch „aufkommende politische Agitationen und die Formierung liberaler Oppositionen". Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 203. 64 So Mergel/Welskopp, Gesellschaftstheorie, S. 33, zur „Scheinalternative ,Mikrogeschichte' gegen ,Makrogeschichte'". Ebenso nimmt Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 19, die Kulturgeschichte gegen Kritik in Schutz: ,,[D]ie Blindheit für Prozesse folgt nicht notwendig aus der methodischen Grundkonzeption." 65 Mergel, Modernisierungstheorie, S. 214. «« Vgl. ebd., S. 2 1 5 f , 219f. m Ebd., S. 260. 170 Vgl. Weinmann, Bürgergesellschaft, S. 349-357, zur Gegenüberstellung des Zürcher Beispiels mit den Verhältnissen im Großherzogtum Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ebd., S. 352. Angesichts dieser „Bindung an gemeindeinterne Sozialkonflikte" hält Weinmann daher auch Noltes „Begriffsdefinition des Gemeindeliberalismus als Liberalismus der Gemeinden" für problematisch. Kompakt zur Instrumentalisierung der „Ideologie von Liberalismus und Freiheit [...], um die bisherigen politischen Führungsgruppen aushebeln zu können", vgl. Nolte, Frühliberalismus, S. 752ff., 753 (Zitat). 172 Vgl ders., Gemeindeliberalismus; ders., Frühliberalismus; ders., Gemeindebürgertum.
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So der formale definitorische Bezug nach ders., Gemeindeliberalismus, S. 58. Auch Flügel, Bürgertum, S. 198, bekräftigt für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass die „Verbindung von Stadt und Bürgertum die zeitgenössische politische Diskussion noch nicht
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1. Einleitung
schlag umreißen das Profil einer Bewegung, die sich zwar vorrangig auf städtische Kräfte stützte, dem dörflichen Milieu aber keinesfalls prinzipiell fremd blieb. Aufgrund der Einbettung in kommunalistische Bezüge und der Prominenz des Gemeindegedankens hebt Nolte den „frühneuzeitliche[n] Charakter des südwestdeutschen Liberalismus" hervor175 — eine Zuordnung, die in solch plakativer Form rasch auf vehemente Kritik gestoßen ist.176 Die Genese und Breitenwirksamkeit des Liberalismus basierten Nolte zufolge aber in beträchtlichem Maße auf der generalisierenden Zuspitzung althergebrachter lokaler Ressentiments gegen staatliche Instanzen. So sei die „Herkunft eines guten Teils der Frontstellung gegen die Regierung aus der traditionellen Bürgermentalität, aus der traditionellen Bürokratie- und ,Schreiber'-Feindschaft [...] unverkennbar."177 Schließlich vollzog sich die Popularisierung des Liberalismus als politischkultureller Strömung vielfach in Praxisformen, die mit Blick zumindest auf die ruralen Ober- und Mittelschichten barrierearm zu nennen sind. Neben den periodisch stattfindenden Kommunal- und Parlamentswahlen gilt das in erster Linie für jenes Konglomerat von Abgeordnetenempfängen, Gesinnungsfesten, Petitionskampagnen, Dankadressen und Ehrengeschenken, das die beginnende weltanschauliche Parteibindung symbolisch-rituell flankierte.178 Nolte selbst hat der Anziehungskraft des Liberalismus in der dörflichen Gesellschaft indes nur geringe empirische Aufmerksamkeit gewidmet. So spricht er zwar vage von einer „liberalefn] ,Massenbasis' in Städten und Landgemeinden" und, für den Beginn der 1830er Jahre, von einem „Politisierungsschub, der bis in kleinere Dörfer hineinreichte."179 Die Belege sind jedoch dürr und verweisen vorwiegend auf das Phänomen
[dominierte]." Vielmehr sei der „am Rechtsstatus orientierte Bürgerbegriff der konstitutionellen Theorie [...] gegenüber dem sozialen Gehalt indifferent" gewesen, so dass der „bäuerliche Grundbesitzer [zum] Kern einer stabilen und geordneten bürgerlichen Gesellschaft, des Bürgertums'" gerechnet werden konnte; ebd., S. 201, 203. Prinzipiell schon Schieder, Liberalismus, S. 16, mit dezidierten Zweifeln an der „Annahme, der deutsche Liberalismus sei in soziologischer Hinsicht von allem Anfang an eine bürgerliche Klassenangelegenheit gewesen." Nolte, Frühliberalismus, S. 746. Zur „nicht bruchlose[n] [...] Kontinuität" zwischen Kommunalismus und Liberalismus auch Würgler, Öffentlichkeit, S. 328. Die Kennzeichnung als „frühneuzeitliche politisch-soziale Bewegung" (Nolte, Gemeindebürgertum, S. 16 (Zitat), 188-208) taucht ebenso in manchen anderen Studien zu lokalen Autonomiebestrebungen in Vormärz und Revolution auf; vgl. Rummel, Bürokratie, S. 120f.; Raphael, Herrschaft, S. 384, 388ff. Zur zeitgenössischen liberalen Debatte um die gesellschaftspolitische und staatsrechtliche Stellung der Kommune vgl. Koch, Gemeinde; Gall, Gemeinde. 176 Vgl. Götz von Olenhusen, Rezension, die die progressiven (z.B. rechtsstaatlichen, individualistischen) Elemente des badischen Frühliberalismus betont und zu dem Schluss gelangt: „Als Gesamtkonzept muß die Ergiebigkeit des zugrundeliegenden frühneuzeitlichen Strukturmodells [...] grundsätzlich in Zweifel gezogen werden." Ebd., S. 453. Zur nicht-traditionalen Interpretation der Bürokratiekritik jetzt zudem Maciejewski, Amtmannsvertreibungen, bes. S. 20-23, 456f.
175
Nolte, Gemeindeliberalismus, S. 72. 178 Vgl. ders., Gemeindebürgertum, S. 171-188; ferner ders., Verfassungsfeste. 177
179
Ders., Gemeindeliberalismus, S. 57, 60.
1.4 Forschungsperspektiven und Interpretationsansätze
35
eines überlieferten ländlichen Radikalismus — etwa im Südschwarzwald und in der Bodenseeregion —, der allenfalls ein temporäres Bündnis mit der städtisch dominierten Oppositionsbewegung eingegangen sei.180 In Nordbaden registriert Nolte hingegen lediglich bescheidene und späte Geländegewinne des Liberalismus außerhalb der Urbanen Zentren. Diese Diagnose erstreckt sich nicht allein auf den Odenwald als eine der „notorisch rückständigen Gegenden des Großherzogtums", sondern auf sämtliche „ländlichen Gebiete des Unterrheinkreises" einschließlich der „Gemeinden am Neckar", wo sich noch lange jene ,„Amtsbürgermeister'" behauptet hätten, „die sich als Ausführungsorgane der Behörden verstanden und sich als deren Vertreter eher fühlten denn als Repräsentanten der Bürgerschaft gegenüber der Regierung."181 Nach Nolte stammten solche Rezeptionshemmnisse teilweise aus den schrofferen gesellschaftlichen Gegensätzen auf dem Lande,182 wie er überhaupt der „sozioökonomischen Struktur der Gemeinde" erhebliche Bedeutung für die lokale Reichweite und Trägerschaft des Liberalismus zumisst.183 An diesem Punkt konzediert er freilich ein wesentliches mikrohistorisches Desiderat, weswegen die Wirkmächtigkeit jener mittelständischen Vision und „Ideologie von Eintracht und Überparteilichkeit"184 auf dörflicher Ebene in Vielem noch als unterbelichtet gelten muss. So wäre etwa zu klären, ob der von Nolte beobachtete „Zwang zur politischen Einbindung [der] bürgerlichen' Unterschichten durch die Lokalelite", aufgrund dessen die „Demokratisierung der Politik [...] paradoxerweise [...] das ständische Muster vertikaler Sozialintegration" zementiert habe, sich nicht im Zeichen der vermuteten ländlichen Polarisierung besonders stark manifestierte.185 Das Problem der LoyalitätsSicherung unter formal ausgedehnten Partizipationsbedingungen barg nicht zuletzt deshalb Brisanz, weil sich gerade im kommunalen Rahmen die Frage der Abfederung zentralbürokratisch ungedeckter Modernisierungskosten stellte. Die von Dieter Langewiesche für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts betonte ,„sozialstaatliche' Leistung der Gemeinden"186 ist mithin stets auch im Kontext der Anpassung und Stabilisierung herkömmlicher Honoratiorenherrschaft zu sehen. Ein wichtiger Vorzug dieser Untersuchungsperspektive liegt darin, dass sie die bis heute in der Liberalismus- und Revolutionsforschung nicht völlig überwundene Separierung städtisch-bürgerlicher und ländlich-bäuerlicher Handlungssphären aufzulösen
180 Vgl. ebd., S. 76; ders., Frühliberalismus, S. 749f. Zum ländlichen Populär- und Radikalliberalismus in Süddeutschland nach 1850 auch Heilbronner, Freiheit. «1 Nolte, Gemeindebürgertum, S. 243, 248£, 264. 182 Vgl. ebd., S. 36f., 121. Ders., Gemeindeliberalismus, S. 79. 184 Vgl. ders., Gemeindebürgertum, S. 103 (Zitat), 151-160, 209-223. !85 Ebd., S. 13. 186 Langewiesche, Staatsaufgaben, S. 629, der hier auch von einer „zeitgemäße[n] Form kommunalstaatlicher' Sozialpolitik" spricht.
183
36
1. Einleitung
erlaubt. Trotz aller Plädoyers, den „pluralen bürgerlichen Bewegungscharakter" 187 des Frühliberalismus ernst zu nehmen und seine Anhänger überall „dort aufzusuchen, w o sie sozial und politisch verankert waren" 188 — nämlich in den Gemeinden —, schildert eine einschlägige Skizze zu Baden noch 1995 eine Welt ohne Dörfer. 1 8 9 Auch von Günther Franz' altem Diktum, nach dem auf dem Lande „die revolutionäre Bewegung [...] ein Aufrauschen weniger Tage" 190 und rein wirtschaftlich motiviert gewesen sei, hat sich die Literatur bis zum 150jährigen Jubiläum von 1998 nur mühsam verabschiedet. 191 Wie erneut Dieter Langewiesche schon 1989 angemerkt hatte, hieß das Abflauen „gewaltsame[r] Bauernaktionen" jedoch keinesfalls, dass die „Bauern nach ihren Erfolgen im Frühjahr 1848 desinteressiert aus der Revolutionsbewegung ausgeschieden wären." 192 Vielmehr hätten sie sich nun anderen, gleichsam zivileren, aber mitnichten ineffektiveren „Methoden der Interessenpolitik" zugewandt. 193 Dies berührt insgesamt das Verhältnis der „Protestbewegung" der ,,spontane[n] Revolution" zur „Reformbewegung" der „institutionalisierte [n] Revolution" 194 und damit die Korrektur des geläufigen Missverständnisses der Revolution als einer „National- und Verfassungsbewegung mit einigen ,unreinen' Beimischungen in Gestalt solcher Verhaltensweisen, die 187 Kaschuba, Liberalismus, S. 89. 188 Langewiesche, Liberalismus, S. 15. Forschungsprogrammatisch zur „Frage nach der sozialen Verankerung des Liberalismus in der Gesellschaft des vormärzlichen Deutschland" bereits Schieder, Liberalismus, S. 10. 189 Vgl Hein, Bewegung. i » Franz, Bewegung (1959), S. 155. 191 Noch 1983 meinte Koch, Agrarrevolution, S. 384: „In ganz Süddeutschland [...] war die demokratische Bewegung bereits Anfang April [1848] durch den zügigen Rechtsverzicht der Standesund Grundherren und durch die raschen Gesetzesinitiativen der Kammern und Regierungen von den die Revolution zunächst tragenden, nun aber zunehmend materiell zufriedengestellten bäuerlichen Volksmassen abgekoppelt und ins Leere gelaufen." Weiter: „Die Würfel fielen, als der Bauer seine wirtschaftlichen und sozialen Ziele erreicht hatte." Ebd., S. 392. Schließlich: „Der freie Bauer, 1848 Protagonist der Revolution und Anführer des ganzen Landes unter der Fahne des antifeudalen Kampfes, beteiligte sich nicht mehr an dem Bürgerkrieg um die Reichsverfassung im Frühjahr 1849. Er sollte von nun an ein Eckpfeiler konservativer Politik werden." Ebd., S. 393f. Tendenziell ähnlich Ries, Bauern (1998), S. 266, 271, mit Hinweisen auf die gemeinsame „antifeudale Stoßrichtung" des ländlichen Protests in Süddeutschland und auf die in ihrer materiellen Orientierung „traditionelle Haltung, die die Bauern nach 1848 zu Parteigängern des Konservatismus machte." Deutlich differenzierter Dipper, Bewegungen (1998), der in der prompten Entfeudalisierung zwar auch ein Mobilisierungshindernis sieht (S. 581), zugleich aber feststellt: „Die demokratisch-bäuerliche Wahlverwandtschaft endete nicht durch Rückzug der Bauern in einen quasi-natürlichen Konservatismus." Ebd., S. 566. m Langewiesche, Agrarbewegungen, S. 286. Zur „übergroßen Fixierung auf die gewaltsamen Revolutionszüge" speziell in der badischen Forschung ders., Forschungsgegenstand, S. 27. 193 Dazu genauer ders., Agrarbewegung, S. 286: „Die Politik des kollektiven Verhandeins durch Gewalt ging zurück, statt dessen schrieben die Bauern Petitionen, beteiligten sich an Vereinen, Bauernabgeordnete traten in den Parlamenten auf, [...] und auch im Alltag vertraten die Bauern ihre Interessen wirksam." Ferner ders., Lokalforschung, S. 190. 194 Ders., Forschungsgegenstand, S. 25.
1.4 Forschungsperspektiven und Interpretationsansätze
37
nicht in das Handlungsarsenal einer bürgerlichen' Öffentlichkeit paßten."195 Besonders in komparativen Lokal- und Regionalstudien, so Langewiesche, ließen sich dabei sowohl die Eigenlogik ländlicher Interessenartikulation als auch das unterschiedliche Engagement von Dorfbewohnern in den neuen übergemeindlichen Foren und Medien politischer Kommunikation ausloten.196 Dieser Aspekt lenkt am Ende zur Frage nach der ,„Politisierung' der dörflichen Gesellschaft" hin, die nach Lutz Raphael „jenseits der spektakulären Gewalttätigkeiten und traditionellen Protestaktionen [...] ein [...] weitgehend offenes Forschungsfeld darjstellt]."197 Hier zielten Bemühungen um eine Erweiterung des Politikbegriffs bisher vor allem darauf, die bereits zeitgenössischen bürgerlichen Vorbehalte gegen bäuerliche Anliegen und Durchsetzungsmittel abzustreifen und Letztere gewissermaßen politisch und analytisch salonfähig zu machen.198 Doch so notwendig „eine gleichberechtigte Betrachtung der Motive aller Handelnden" ist; und so sehr es zutrifft, dass die Kritik an Steuerbelastungen und die Forderung nach lokaler Selbstverwaltung die „Legitimität des spätabsolutistischen Staates" bedrohten199 — eine zur Differenzbestimmung gegenüber den Konstellationen des Ancien Régime taugliche Kategorie der Politisierung leitet sich daraus noch nicht umstandslos her. Bedeutsamer dürfte sein, dass die institutionellen, medialen und ideologischen Umbrüche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für ländliche Veränderungsbegehren die Möglichkeit erhöhten, überörtliche Resonanz zu finden und auch von vornherein einen solchen entgrenzten Kommunikationszusammenhang anzupeilen. Politisierung dient damit zur Beschreibung und als Gradmesser für einen Prozess, in dem translokale Handlungsräume wie Staat oder Nation vermehrt zu Bezugsgrößen dörflicher Ordnungsdebatten wurden200 und in dem lebensweltnahe Problemlagen zusehends als Teil umfassender kollektiver Gestaltungsaufgaben erschienen.201
»5 Ders., Lokalforschung, S. 191. im
Vgl. ebd., S. 191 f.
Raphael, Transformation, S. 56f. 198 Ygi e t w a Gailus, Politisierung, S. 106-110, der in einem „Plädoyer für einen erweiterten Begriff des Politischen" nachgerade um Verständnis für die Andersartigkeit und Begrenztheit des ländlichen politischen Horizonts wirbt. Aufschlussreich Rummel, Bürokratie, S. 114-122, „gegen eine Reduktion des Politikbegriffes auf verfassungs- und nationalpolitische Interessen des Bürgertums." Ebd., S. 121.
197
Ebd., S. 1 2 1 , 1 1 9 . 200 Vgl. exemplarisch Dörner, Staat. 201
Diese Begriffsfassung deckt sich zudem mit dem historisch-semantischen Befund, dass „Politik" seit dem 18. Jahrhundert auch in der Verwaltungspraxis zunehmend das dynamische Feld zukunftsgestaltenden Regierungshandelns bezeichnete und die Frage der legitimen Träger einer solcherweise politisch ermächtigten Staatsgewalt bzw. des Ausschlusses von nur unziemlich politisierenden Bevölkerungskreisen in das Zentrum der Diskussion rückte. Vgl. Behrisch, Policey, S. 312f.; Steinmetz, Semantik, S. 32-35.
2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen 2.1 Geomorphologie und Klima Vereinfacht lassen sich im Betrachtungsgebiet vier geomorphologische Zonen unterscheiden.1 Gemäß der am nördlichen Oberrhein typischen Längsgliederung verläuft parallel zum Strom zunächst die (1) Rheinniederung, die infolge häufiger Überschlickung vorwiegend aus schluffigen und lehmigen Auböden besteht. Ab dem sechs bis zwölf Meter emporragenden Hochgestade erstreckt sich die (2) Hardtebene, wo auf kiesigem und schotterigem Untergrund trockenere Sanderden mit aufgewehten Dünenketten und stärkerem Waldbewuchs dominieren. Im östlichen Bereich treten auch feuchte Bruchsenken von Altarmen des Neckars und anderer Flüsse auf. Daran schließt sich am Fuß des Odenwaldes endang der (3) Bergstraße ein Saum, in dem die Gebirgsbäche an den Talausgängen lösshaltige Schuttfächer abgelagert haben.2 Auf breiter Front durchbrochen wird das streifenförmige Landschaftsgefüge vom flachen (4) Neckarschwemmkegel, der sich westlich der Bergstraße in einem rund elf Kilometer großen Halbkreis bis zur Rheinaue bei Mannheim vorschiebt und Teile der meisten Untersuchungsdörfer umfasst (Karte l). 3 Er bildet eine eineinhalb bis drei Meter mächtige Sedimentschicht aus wechselnden Lehm-, Löss- und Tonmischungen, wird allerdings an den Rändern — etwa in den Gemarkungen Käfertals und Seckenheims — stellenweise schon von Sanden überdeckt. Die edaphisch besten Voraussetzungen für eine agrarische Nutzung existieren daher im Kern dieser Schwemmwölbung, dessen der Magdeburger Börde ähnlichen Schwarzerden sich namentlich für die Getreidewirtschaft ausgezeichnet eignen. Ebenso bieten die im Vergleich geringerwertigen Fluren der Kegelperipherie und der Hardt abseits der Dünenzüge dem Feldbau recht günstige Bedingungen, unter den Brotfrüchten besonders dem Roggen und seit dem 18. Jahrhundert dann bei reichlicher Düngung vor allem den neuen Massengütern Kartoffel und Tabak. Nur in der Rheinniederung sprachen oftmals noch Überflutungsrisiko und Druckwasser gegen eine Urbarmachung des potentiell fruchtbaren Bodens, so dass hier das in der Ebene schwindende Gründland einstweilen vorherrschend blieb.
1
2
3
Vgl. von Babo, Beschreibung, S. 17-22; Rau, Rheinpfalz, S. 5-15; ders., Landwirthschaft, S. 260277; Rudolph, Rheinebene, S. 1-7, 99f.; Metz, Siedlungen, S. 124-167; Tuckermann, Oberrheingebiet, S. 114-119; Tichy, Gliederung, S. 203-207; Monheim, Anbauverhältnisse, S. 87f., 97f.; ders., Agrargeographie, S. 11 f., 18-28; Kreisbeschreibung, Bd. 1, S. 82-86. In den Amtsbezirken Ladenburg und Schwetzingen zählte jedoch nur Schriesheim zu den eigentlichen Bergstraßenorten und hatte damit als einziges auch Teil am Weinbau in den tieferen Lagen des Gebirgsabhangs. Gänzlich außerhalb des Neckarschwemmkegels befinden sich lediglich sechs Auswahlgemeinden: Sandhofen, Ketsch, Hockenheim, Reilingen, Alt- und Neulußheim.
40
2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
K a r t e 1: D i e Landgemeinden der Amtsbezirke Ladenburg und Schwetzingen 1 8 4 0
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Fluss Bergstraße Umriss des Neckarschwemmkegels
MNHM
Ausgedehntere Wälder (schematisch)
Vorlage: Reduktion der Kartenaufnahme der Rheinlande durch Tranchot in den Maßstab 1:100.000 (1. Aufl. 1840) (Carte topographique des Pays compris entre la France, les PaysBas et le Rhin 1:100.000), hrsg. v. Landesvermessungsamt Rheinland-Pfalz 1989; Monheim, Anbauverhältnisse, S. 94.
2.2 Siedlungsgang und Territorialgeschichte
41
Bewirkt die Bodenbeschaffenheit mithin eine gewisse naturräumliche Differenzierung, stellen sich die meteorologischen Verhältnisse weitaus einheitlicher dar.4 Durch den Mittelgebirgsriegel vor kalten Nordostwinden geschützt, aber offen für feuchtwarme Südwestwinde ergibt sich angesichts einer jährlichen Sonnenscheindauer von ungefähr 1.800 Stunden ein äußerst mildes Klima, das bei einer mitderen Temperatur um zehn Grad Celsius ozeanische und kontinentale Merkmale — laue Winter und heiße Sommer — vorteilhaft verbindet. Die daraus resultierende Vegetationsdauer rangiert mit ca. 250 Tagen von mindestens fünf Grad Celsius am oberen Ende der für deutsche Regionen gemessenen Daten. Entsprechend steht für die Feldarbeit von Mitte März bis Ende November eine Zeitspanne zur Verfügung, die nur in der Kölner Bucht übertroffen wird. Auch die durchschnittlich schon zu Beginn des Aprils bzw. erst Anfang November auftretenden Spät- und Frühfröste schränken diese Periode kaum ein. Die mit knapp 700 Millimeter eher geringe Niederschlagsmenge verursacht zwar speziell im Frühling gelegentlich Trockenheit, ihre ausgeprägte saisonale Schwankung mit einer Häufung in den Sommermonaten (Julimaximum) gleicht dieses Defizit für den Pflanzenwuchs in der Regel aber wieder aus. Nach dem phänologischen Jahresrhythmus, der den landwirtschaftlichen Arbeitskalender bestimmt, setzt der Vorfrühling (Schneeglöckchenblüte) in der badischen Pfalz deswegen bereits in der letzten Februarwoche ein, der Vollfrühling (Apfelblüte) um den 25. April, der Frühsommer (Aufblühen des Winterroggens) zwischen dem 10. und 26. Mai, der Hochsommer (Winterroggenernte) Mitte Juli und der Herbst (Winterroggenaussaat) nicht vor Oktober.
2.2 Siedlungsgang und Territorialgeschichte Die nördliche oberrheinische Tiefebene ist klassisches Altsiedelland.5 Besonders in den Gunsträumen des Neckarschwemmkegels, an der Bergstraße und entlang des Hochgestades gehen zahlreiche Dörfer — ablesbar an den Namensendungen „-heim" und ,,-ingen" — auf fränkisch-alemannischen Ursprung zurück. Es verwundert daher nicht, wenn für die Hälfte der Auswahlorte die früheste urkundliche Erwähnung bereits in das 8. Jahrhundert fallt.6 Vier weitere Gründungen in der Hardt und den Sandbezirken (Ketsch, Brühl, Käfertal, Reilingen) lassen sich der hochmittelalterlichen Rodungs- und Ausbauphase des 12. und 13. Jahrhunderts zurechnen,7 während Friedrichsfeld (1682) und Neulußheim (1711) als hugenottische Exulantenkolonie bzw. Abtrennung von ei-
4
5
6
7
Vgl. Rudolph, Rheinebene, S. 12ff.; Monheim, Agrargeographie, S. 12-18; Kreisbeschreibung, Bd. 1,S. 78-82. Vgl. Rudolph, Rheinebene, S. 29-35; Metz, Siedlungen, S. 124-158; Tuckermann, Oberrheingebiet, S. 84f.; Monheim, Agrargeographie, S. 29-33. Die für diese Zeit wichtigste siedlungsgeschichtliche Quelle stellt der Lorscher Kodex dar: Ilvesheim (752), Edingen (764), Schriesheim (764), Seckenheim (765), Wallstadt (765), Oftersheim (766), Feudenheim (767), Hockenheim (769), Plankstadt (771), Neckarhausen (773). Ketsch (1150), Brühl (1157), Käfertal (1230), Reilingen (1286).
42
2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
ner Muttergemeinde erst relativ spät entstanden.8 Das Gros der Siedlungen hatte von Beginn an die Form des Haufendorfs mit Gewannflur. Davon wichen lediglich einige Orte am Hochgestade des Rheins ab, die dem Relief folgend zunächst als Zeilendörfer angelegt waren. In beiden Fällen förderte der Bevölkerungsanstieg seit dem 18. Jahrhundert die Tendenz zum Mehrstraßendorf. Eine rare Erscheinung waren hingegen genuine Einzelhöfe. Bei den auf ,,-hoP auslautenden Orten (Karte 1) handelte es sich ganz überwiegend um Wüstungen ehemaliger Dörfer, die auf Erb- oder Temporalbestandsbasis den Charakter großbäuerlicher Weiler mit Blockfluren und ergänzenden Tagelöhnerbehausungen annahmen.9 Für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Region spielten sie aber bloß eine untergeordnete Rolle. Genauso kam es hier selten vor, dass Adelsfamilien ihren Sitz auf dem Land hatten und durch obrigkeitliche Rechte, Eigenwirtschaft oder schiere Präsenz das dörfliche Leben tangierten. Derartige Güter und Residenzen befanden sich einzig in Ilvesheim, Neckarhausen und Seckenheim, in den beiden letzten Fällen zudem erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ohne lokalherrschaftliche Verwurzelung.10 Als Teil des unteren Neckarraums gerieten die meisten Gemeinden 1165 in die pfälzische Einflusssphäre, als der Pfalzgraf bei Rhein die Vogtei über die Fürstabtei Lorsch erlangte, und zählten nach den territorialen Konsolidierungsprozessen der folgenden zwei Jahrhunderte zu jenem Gebiet, das die Goldene Bulle 1356 zum unveräußerlichen Kurpräzipuum der älteren Linie der Wittelsbacher erklärte.11 Abgesehen von einer längeren Unterbrechung während des Dreißigjährigen Kriegs verblieben die Dörfer bei der Kurpfalz, die — außer im niederadeliger Lokalobrigkeit unterstehenden Ilvesheim12 — durchweg nicht nur die Landeshoheit, sondern auch die direkte Ortsund Gerichtsherrschaft ausübte. Bezeichnenderweise galt dies allerdings für Neckarhausen, in dem das Kloster Lorsch lediglich wenige Titel erworben hatte, ungeschmälert erst seit 1705, nachdem das Kondominat mit dem Hochstift Worms über die Ge8
9
10
» 12
Die Erstnennungen der vier übrigen Gemeinden — Neckarau (871), Sandhofen (888), Aldußheim (946), Heddesheim (1088) — sind siedlungschronologisch weniger signifikant. Dauerhafte Spuren hinterließen etwa die Vereinödungen durch die 1142 gegründete Zisterzienserabtei Schönau, denen z.B. der Bruchhäuser-, Grenz-, Rohr-, Schwabenheimer- und Straßenheimerhof ihre spätere Gestalt als vergleichsweise statische Gehöftgruppen verdankten. Davon zu unterscheiden sind die modernen Aussiedlerhöfe seit den 1930er Jahren. Vgl. Monheim, Agrargeographie, S. 32f. Zu Ilvesheim vgl. Anm. 12. Zu den von Oberndorff in Neckarhausen (1777, Schlossbau 1823/24) und den von Stengel in Seckenheim (1767, Schloss 1768) vgl. Kreisbeschreibung, Bd. 3, S. 702£; Probst, Seckenheim, S. 139ff., 188f. Beide Male handelte es sich um Angehörige der hohen pfälzisch-katholischen Beamtenschaft. Vgl. Schaab, Kurpfalz, Bd. 1, S. 36-122. Vgl. Kollnig, Ilvesheim, S. 12ff.; Probst, Ilvesheim, S. 82f. Seit 1698 und bis zum Aussterben des Geschlechts 1855 waren die Freiherren von Hundheim Inhaber des Lehensguts Ilvesheim. Ihre ortsherrlichen Rechte traten sie 1 8 1 0 an das Großherzogtum Baden ab, womit die begrenzte Staatsunmittelbarkeit für Ilvesheim endete. Das 1689 von den Franzosen zerstörte Schloss (Erlenburg 1511) wurde 1700 wiedererrichtet.
2.2 Siedlungsgang und Territorialgeschichte
43
meinde und eine Reihe weiterer Ortschaften nördlich des Neckars aufgehoben worden war, die man im neuen Oberamt Ladenburg zusammenfasste.13 Gleichermaßen waren die kurfürstlichen Machtkompetenzen in Brühl, wo das Kloster Maulbronn umfänglichen Besitz innegehabt hatte, zunächst durch die gespaltenen Vogteirechte und die Mitherrschaft des Domstifts Speyer eingeschränkt, bevor das Bistum 1709 im Zuge einer Bereinigung überlappender Ansprüche auf alle obrigkeitlichen Befugnisse in dem Dorf verzichtete.14 Nur drei Gemeinden im Südwesten des Untersuchungsraums unterhielten zu keiner Zeit territoriale Verbindungen zur Kurpfalz: das domkapitularischspeyerische Ketsch und die herzoglich-württembergischen Alt- und Neulußheim.15 Nach dem Frieden von Luneville, der am 9. Februar 1801 den Zweiten Koalitionskrieg zwischen Frankreich und Österreich beendete und die französische Annexion des linken Rheinufers besiegelte, zeichnete sich ab, dass das Herzstück der Restpfalz in den Entschädigungsverhandlungen an die Markgrafschaft Baden fallen würde.16 Ihr wurden in der russisch-französischen Konvention vom 3. Juni 1802 die Oberämter Heidelberg, Ladenburg und Bretten sowie die Hauptstädte Heidelberg und Mannheim zugesprochen — eine Besitzveränderung, die der Reichdeputationshauptschluss am 25. Februar 1803 förmlich anerkannte.17 Dessen § 5 übereignete Baden ferner den verbliebenen Teil des Bistums Speyer. Die Inbesitznahme der Pfalz wurde bereits Ende September 1802 vor dem pfalz-bayerischen Abtretungspatent vom 23. November vollzogen. Mit dem Gebietswechsel ging zugleich die Kurwürde auf den Markgrafen über.18 Eine neue Erweiterungsrunde, die nun als Letzte der Dörfer auch Alt- und Neulußheim betraf, wurde nach dem Frieden von Pressburg am 26. Dezember 1805 eingeläutet. Laut Artikel 14 der Rheinbundakte vom 12. Juli 1806 sollten Baden und Württemberg mittels Auflösung von Exklaven ihren Grenzverlauf begradigen. Dies geschah im Tauschund Epurations-Vertrag am 17. Oktober 1806, durch den unter anderem diese beiden Gemeinden an Baden gelangten.19
Vgl. Kreutz, Ladenburg, S. 487ff., zu den gegenseitigen Rechtsabtretungen in den Verträgen vom 26.8.1705 und 7.8.1708 zwischen Fürstbischof Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg und Kurfürst Johann Wilhelm. 14 Vgl. Kreisbeschreibung, Bd. 3, S. 441 f. is Vgl. ebd., S. 591 f., 421 f., 716. 13
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19
Vgl. Ott, Baden, S. 585f.; Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 248f£; ders., Kurpfalz, S. 333; Cser, Eingliederung, S. 216f£; Schweinfurth, Dokumentation, S. 13-26; Kohnle, Modernisierungspolitik, S. 81-88; Rödel (Hg.), Baden; Engehausen, Integration. Darüber hinaus wurden die Ämter Mosbach und Boxberg dem Fürsten von Leiningen, das Amt Lindenfels, Otzberg und die pfalzischen Anteile von Umstadt dem Landgrafen von Hessen und das Unteramt Kaub dem Fürsten von Nassau-Usingen übertragen. Die Rangerhöhung sah § 31 des Deputationshauptschlusses vor. Die Proklamation von Markgraf Karl Friedrich zum Kurfürsten erfolgte am 8.5.1803, die kaiserliche Bestätigung am 24.8.1803. Am 23.10.1806 entließ König Friedrich von Württemberg seine Diener und Untertanen in Altund Neulußheim aus dem Staatsverband. Deren Einwohner leisteten dem neuen Landesfürsten am 6.11.1806 den Treueeid.
44
2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Karte 2: Die ehemals kurpfalzischen Gebiete im Großherzogtum Baden 1802/15
Königreich Bayern
Großherzogtum Hessen-Darmstadt
Königreich Bayern Rheinkreis (Pfalz)
Königreich Württemberg
Kurpfalz
Reichsritterschaft
Markgrafschaft Baden
Geistliche Herrschaften
Österreichische Gebiete
Sonstige weltliche Herrschaften
Grafschaft Hohenzollem
Königreich Bayern
Schweizerische Eidgenossenschaft
Kaiserreich Osterreich
Vorlage: Paul Sauer, Baden-Württemberg. Bundesland mit parlamentarischen Traditionen, Stuttgart 1982, Vorderumschlag Innenseite.
2.3 Staatsorganisation und Behördenaufbau
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Zudem kamen aufgrund der Rheinbundakte nun die Ämter Mosbach und Boxberg im Nordosten der früheren Pfalz, die 1803 dem kurzlebigen Fürstentum Leiningen zugeschlagen worden waren, ebenfalls an Baden. 20 Auch verdankte dessen Landesherr der Konföderation unter Napoleons Ägide noch eine abermalige Rangerhöhung zum Großherzog. Im Ergebnis der territorialen Umwälzungen, wie sie 1 8 1 5 auf dem Wiener Kongress definitiv sanktioniert wurden, hatte sich Baden gegenüber dem Ancien Régime in der Fläche mehr als vervierfacht und in der Bevölkerung etwa verfünffacht. 21 Zu dieser gewaltigen Expansion trugen die pfalzischen Erwerbungen insgesamt rund ein Zehntel bei (Karte 2). 22 Innerhalb des Großherzogtums entfielen dabei auf den Untersuchungsraum, d.h. auf die Amtsbezirke Ladenburg und Schwetzingen, ungefähr zweieinhalb Prozent des Staatsgebiets und der Einwohnerschaft. 23
2.3 Staatsorganisation und Behördenaufbau Im 18. Jahrhundert gipfelte die Herrschaftspyramide des Länderkonglomerats 24 der pfalzischen Kurfürsten — neben dem Kabinett 25 als innerstem absolutistischen Machtorgan — in der Geheimen Konferenz, die sich aus wenigen Staatsministern und einer Reihe von Räten, Sekretären und Referendaren zusammensetzte und in der sich zur Zeit Karl Theodors (1742-1799) allmählich eine festere Ressorteinteilung herausschälte.26 Die Leitung des kurpfalzischen Kernterritoriums am Rhein lag in den Händen der
Dort bildeten sie den Kern der mediaten Standesherrschaft Leiningen. 21 1802 umfasste die Markgrafschaft ca. 3.500 Quadratkilometer und 192.000 Einwohner. 1810, als der 1815 bestätigte Umfang erreicht war, maß das Großherzogtum über 15.000 Quadratkilometer und zählte 975.000 Staatsangehörige. Vgl. Ott, Baden, S. 585; Rödel (Hg.), Baden; Kohnle, Modernisierungspolitik, S. 77-81; Balharek, Gebietsgewinne. 22 Fläche des Großherzogtums Anm. 23, Bevölkerung (1810) 973.698; BSB 1, S. 222. Laut Höck, Statistische Übersicht, betrugen das Gebiet in Quadratkilometern und die Bevölkerung der pfälzischen Ämter um 1800: Boxberg 82/4.075, Bretten 137/10.302, Heidelberg 659/48.310, Ladenburg 55/5.117, Mosbach 275/22.462, Heidelberg (Stadt) k.A./10.741, Mannheim (Stadt) k.A./ 22.373. Damit machte die Pfalz acht Prozent der Fläche und knapp dreizehn Prozent der Einwohner des Großherzogtums aus; die 1802/03 hinzugewonnenen zentralpfalzischen Teile hatten daran einen Anteil von rund drei Vierteln (Fläche siebzig Prozent, Bevölkerung 78 Prozent). 23 Fläche 1835: Großherzogtum 15.137 Quadratkilometer, BZA Ladenburg und Schwetzingen 385 Quadratkilometer; nach Strafrechtspflege 1835, S. 138, 140. Bevölkerung 1817: Großherzogtum 1.010.300, BZA Ladenburg und Schwetzingen 24.068; nach BSB 1, S. 222; Bevölkerungstabellen BZA Ladenburg und Schwetzingen 1817/18, in: GLA Ka 236/2538, fol. 90, 92. 24 Außer der Kurpfalz selbst gehörten dazu bis zum bayerischen Erb fall 1777 noch Jülich-Berg, Neuburg, Sulzbach und die niederländische Besitzung Bergen op Zoom. 25 Zum Kabinett vgl. Mörz, Verwaltungsstruktur, S. 419ff.; ders., Kurpfalz, S. 103-109. 26 Die Entwicklung der 1704 von Kurfürst Johann Wilhelm nach österreichischem Vorbild eingerichteten Geheimen Konferenz zwischen 1742 und 1777 wird eingehend analysiert von Mörz, Kurpfalz, S. 112-167; komprimiert ders., Verwaltungsstruktur, S. 421-425. Ferner auch für das Folgende Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 173, 213; Press, Pfälzische Lande, S. 567-570. 20
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Landesregierung, die aus dem Oberrat — der ehemals höchsten Kollegialbehörde — hervorgegangen war und 1777 auf der Ebene der Regierungsräte elf adelige und dreißig gelehrte Mitglieder unter dem Vorsitz eines adeligen Präsidenten umfasste.27 Mit dem Finanz- und Domänenwesen war die Hofkammer betraut, der zum Zweck der Steuerund Gefallverwaltung zahlreiche Einnehmereien bzw. Kellereien unterstanden.28 Über ähnliche Erhebungsstellen — Pflegen oder Rezepturen für die größeren Stifter und Klöster sowie Kollekturen für den Streubesitz - verfügte im Gefolge der Reformation die Geistliche Administration.29 Zu den Oberbehörden der Kurpfalz30 gehörte ferner das Hofgericht, das die förmliche Ziviljustiz ausübte und auch als Berufungsinstanz gegen Urteile der Niedergerichte diente.31 Zwar waren Verfahren in Policey-, also hoheitlichen und „klaren fiscalischen oder executivischen Sachen"32 prinzipiell unzulässig. Aufgrund seiner Zuständigkeit für anfechtbare oder privatrechtlich einschlägige Kameralforderungen, für Fälle mit Beteiligung fürstlicher Beamter und für Klagen gemeindlicher Korporationen konnte das Hofgericht aber durchaus politische Statur gewinnen. Die Verleihung des unbegrenzten Appellationsprivilegs (privilegium de non appellando illimitatum) an die Kurpfalz machte 1652 zudem die Schaffung eines drittinstanzlichen Revisionsgerichts notwendig, das von 1729 an die Bezeichnung Oberappellationsgericht trug.33 Als Kurfürst Karl Theodor durch das Aussterben der bayerischen Linie der Wittelsbacher 1777 deren Erbe zufiel, verlegte er mit dem Hof auch die Geheime Konferenz nach München. Von den Staatsministern beließ er nur den Freiherrn Franz Albert Leopold von Oberndorff als Quasi-Statthalter in der bisherigen Residenz Mannheim, der dort mit drei verbliebenen Referendaren separate geheime Konferenzen abhielt.34 Zu einer Verzahnung der pfälzischen und bayerischen Behördenorganisation kam es später selbst in der Zentralsphäre kaum noch. Vielmehr errang Oberndorff nahezu ein Kontrollmonopol über die Territorialadministration, indem er bewirkte, dass pfälzische Materien in der Münchener Konferenz gänzlich ausgeklammert und nur unmittelbar
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Vgl. Mörz, Verwaltungsstruktur, S. 427-433. Als „Landesregierung" wurde die Behörde offenbar zuerst 1689 von Kurfürst Philipp Wilhelm anlässlich seiner Flucht vor den französischen Truppen apostrophiert. Solange die Kurfürsten in Düsseldorf residierten (1690-1716), erfüllte das nun mediate Kollegialorgan Statthalteraufgaben. Vgl. Grube, Vogteien, S. 62£; Mörz, Verwaltungsstruktur, S. 436ff. Vgl. ebd., S. 446f.; Grube, Vogteien, S. 65f. Von den der Geheimen Konferenz unterstellten Behörden werden hier nur die für das Thema bedeutenden Institutionen genannt. Mörz, Kurpfalz, S. 251f., führt zudem für das Jahr 1777 das Ehegericht, die Oberkuratel (Aufsicht über die Universität Heidelberg), den Kriegsrat und fünf Immediatkommissionen (vgl. Anm. 46) auf. Vgl. ebd., S. 393-403; ders., Verwaltungsstruktur, S. 442ff.; Scherzer, Advokaten, S. 36-69. Kurpfälzische Verordnung von 1743 zitiert nach Mörz, Verwaltungsstruktur, S. 442. Vgl. ebd., S. 444; Scherzer, Advokaten, S. 69-73. Hierzu, besonders zur kurfürstlichen Instruktion vom 12.8.1778, die Oberndorff faktisch zum Statthalter erhob, ohne aber diesen Titel zu verwenden, vgl. Distler, Oberndorff, S. 23, 31 ff., 38.
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mit dem Landesherrn behandelt wurden,35 fürstliche Weisungen an die dem Minister untergebenen Stellen lediglich über ihn verschickt werden durften und seine eigenen Anordnungen stets „im Namen des Kurfürsten ,und aus spezialgnädigsten Befehl'" 36 ergingen. Der übrige pfälzische Verwaltungsapparat blieb derweil fast völlig intakt.37 Daran änderte sich auch nichts, als nach dem Sturz Oberndorffs 1795 mit einer dreiköpfigen Präsidialversammlung und 1799 dann mit dem vom neuen Kurfürsten Maximilianjosef installierten Generallandeskommissariat schließlich Kollegialgremien in die Statthalterfunktion einrückten.38 Im ausgehenden Ancien Régime war die Kurpfalz in achtzehn Oberämter gegliedert, die wegen ihres unterschiedlichen historischen Ursprungs einen sehr ungleichen Umfang aufwiesen. Das Oberamt Heidelberg, dem außer Neckarhausen (Oberamt Ladenburg) sämtliche hier analysierten kurpfälzischen Dörfer angehörten, bildete mit einer Fläche von 659 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von rund 51.000 Personen (1790) in knapp hundert Ortschaften den ausgedehntesten Bezirk.39 Nominell stand an der Spitze überall ein Oberamtmann, dessen Posten jedoch meist schon seit langem zu einer Sinekure des Hof- und Regierungsadels verkümmert war.40 Das reale Geschäft besorgte ein bürgerlicher Landschreiber, der sich dazu auf eine gerade im 18. Jahrhundert wachsende Schar von Schreibern, Registratoren, Advokaten, Physici, Boten und anderen Subalternbeamten stützen konnte.41 In Anbetracht der Fülle an Aufgaben, die sich neben dem Hauptteil der Hoheitsverwaltung einschließlich der Aufsicht über die Lokalbedienten auch auf Kriminalermittlungen, summarische Zivilprozesse und Zweige der Rüg- und freiwilligen Gerichtsbarkeit erstreckten, vermochte indes eine solche Stellenaufstockung die strukturelle Distanz zur Masse der Untertanen nur unwesentlich zu mindern.
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Nach ebd., S. 32, legte der „Kabinettssekretär [...] Oberndorffs Vorlagen direkt dem Kurfürsten zur Unterschrift vor, um sie dann wieder nach Mannheim zurückzusenden." 36 Ebd. 37 Zur Fortexistenz der bestehenden Regierungsorgane seit 1778 Gigl, Zentralbehörden, S. 20-28. 38 Vgl. ebd., S. 29ff. 39 1790 wohnten in der Kurpfalz auf 4.121 Quadratkilometern 323.747 Menschen in ca. 600 Orten. Das Oberamt Heidelberg umfasste somit etwa ein Sechstel des Territoriums, der Bevölkerung und der Siedlungen. Daten nach Höck, Staristische Ubersicht; Generaltabellen der Kurpfalz 1790, in: GLAKa 77/6150. 40 Vgl. Press, Pfalzische Lande, S. 569f.; Grube, Vogteien, S. 61ff.; Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 216f.; Mörz, Kurpfalz, S. 240, 254-257. Gerade im Oberamt Heidelberg waren die Stellen des Oberamtmanns und des Landschreibers allerdings während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über weite Strecken in Personalunion vereint, so dass sich hier die Bezeichnung Oberamtmann auf den tatsächlich verantwortlichen Beamten bezog. 41 Der Personalumfang der Provinzverwaltung lässt sich nicht exakt beziffern und hängt auch davon ab, ob man die nicht der Landesregierung, sondern der Hofkammer, der Geistlichen Administration oder dem Oberforstmeisteramt unterstellten, ebenso im Gebietsrahmen des Oberamts operierenden Institutionen (z.B. Gefällverweser, Kollektoren, Forstmeister) einrechnet. Die eigentliche Amts- und Gerichtsbehörde beschäftigte kaum mehr als zwanzig Angestellte; vgl. ebd.
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Dieser Mangel wurde noch dadurch verschärft, dass im Unterschied zu den übrigen großen Oberämtern im Heidelberger Distrikt meistenorts ein räumlich engmaschigerer Verwaltungsunterbau fehlte, der — wie etwa die Oberschultheißereien in den Ämtern Alzey und Neustadt42 — die Lücke zu den Kommunalbehörden hätte überbrücken können. Allerdings gab es mit den bäuerlich-schöffischen Hochgerichtsbezirken der Zenten ein institutionelles Gehäuse, das seiner früheren jurisdiktdonellen Kompetenzen weitgehend entleert war und nun verstärkt für administrative Zwecke eingesetzt wurde.43 Im Untersuchungsgebiet betraf dies bis zu ihrer Auflösung 1807 die Zenten Schriesheim und Kirchheim nördlich bzw. südlich des Neckars, zu denen jeweils ca. zwanzig Gemeinden rechneten. Sie gestalteten sich trotz steigender bürokratischer Instrumentalisierung zwar nicht zu übermäßig schlagkräftigen obrigkeitlichen Exekutivapparaten um. Immerhin aber spielten namentlich die in Schriesheim und Leimen ansässigen Zentgrafen, die im 18. Jahrhundert eine juristische Schulung besitzen mussten und überwiegend nicht länger parallel auch eine Schultheißenstelle bekleideten, erkennbar eine zunehmend wichtige Rolle in der staatlichen Visitations- und Informationspraxis sowie in der Ausführung von Herrschaftsakten (z.B. Vollstreckung höherer Weisungen, Leitung von Wahlhandlungen) und damit für die Kommunikation zwischen Amtsbehörde und lokaler Gesellschaft.44 Prägend auf die administrative Kultur der späten Kurpfalz wirkte schließlich die vermehrte Neigung des Fürsten und seiner Berater, bestimmte, oftmals merkantilistisch motivierte Regelungskomplexe in spezialisierte Immediatkommissionen auszulagern.45 Ende der 1770er Jahre existierten fünf solcher der Geheimen Konferenz subordinierten Sonderverwaltungen, von denen die 1768 etablierte Kommerzienkommission unter dem italienischen Geheimsekretär Joseph Fontanesi als „umfassende Wirtschaftslenkungsbehörde" mit sechs Departements und eigenem Vollzugspersonal herausragte.46
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Vgl. Schmitt, Territorialstaat, S. 10-20; Mahlerwein, Herren, S. 346-371; Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 217. Zur Entwicklung der Zenten, die innerhalb der Kurpfalz ein Heidelberger Spezifikum darstellten, und besonders zu ihrer Umbildung zu professionalisierten „Unterinstanzen der Staatsverwaltung" vgl. Grube, Vogteien, S. 57-61, 63ff., 64 (Zitat); Press, Pfälzische Lande, S. 570; Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 217; ders., Zenten, S. 360f.; Kollnig, Zenten, S. 37f., 49ff., 66ff.; Cser, Eingliederung, S. 221, 242. Zum Schriesheimer Zentgrafenamt und dessen Inhabern vgl. auch Brunn, Schriesheim, S. 7679,180, 230. Beispiele für die Gelenkfunktion der Zentgrafen bieten im Folgenden vor allem die Kapitel 4.1 und 5.2. Knapp zum Kommissionswesen vgl. Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 213; Press, Pfalzische Lande, S. 568f. Die folgenden Details nach Mörz, Verwaltungsstruktur, S. 448-453; ders., Kurpfalz, S. 238ff., 250-257. Ebd., S. 239. Für 1777 sind fünf unabhängige Kommissionen nachgewiesen: Salinenkommission (seit 1739), Bergkommission (1740), Kommerzienkommission (1768/71), Hofbau- und Gartenkommission (1770) und Jesuitenkommission (1775). Sechs weitere, teils ältere Einrichtungen dieser Art waren der Kommerzienkommission eingegliedert: Seidenbaukommission (1763),
2.3 Staatsorganisation und Behördenaufbau
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In den Kontext dieser kameralistischen Initiativen und Organisationsbemühungen fügte sich auch die 1765 erfolgte Gründung der General-Landes-Polizei-MinisterialOberdirektionskonferenz (fortan: Polizeikonferenz). Sie wurde von Ministern, Staatsund Regierungsräten und bedarfsweise hinzugezogenen Experten beschickt und entfaltete — mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet — primär auf den Gebieten der Gewerbeförderung und der Agrarreformen eine rege Verordnungstätigkeit.47 Da die Polizeikonferenz damit unweigerlich in den gemeindepolitischen und -ökonomischen Bereich eingriff, bot sie sich der Bevölkerung umgekehrt zugleich als direkter Adressat für Wünsche und Beschwerden jenseits des regulären Dienstwegs über Schultheiß, Dorfgericht und Oberamt an - eine Abkürzung und Alternative, von der die ländlichen Untertanen phasenweise eifrig Gebrauch machten.48 Zu unterscheiden von derartigen auf Dauer gestellten Einrichtungen sind hingegen die gleichfalls als „Kommissionen" firmierenden Abordnungen, mit denen einzelne Beamte ad hoc mit der Aufklärung und Beilegung lokaler Misshelligkeiten betraut werden konnten. Auch auf diesem Feld ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine spürbare Verdichtung zu konstatieren; insbesondere wenn solche Untersuchungsaufträge hochrangigen Herrschaftsrepräsentanten (v.a. Regierungs-, Hofgerichts- und Oberappellationsgerichtsräten) erteilt wurden, intensivierte sich dadurch der ansonsten sporadische Kontakt der Ortsbürgerschaft zu Vertretern der Staatsführung.49 In der Folge des Anfalls an Baden war die Gegend um Mannheim und Heidelberg bald von mehreren Reformwellen betroffen, die — ähnlich wie in den anderen süddeutschen Staaten — dem sprunghaft expandierten Kurfürstentum bzw. Großherzogtum eine einheitliche Verwaltungsstruktur geben sollten. Unter der Regie des Geheimen Rats Friedrich Brauer begann dieser Prozess 1803 durch den Erlass von dreizehn Organisationsedikten, setzte sich nach dem Gewinn der Souveränität in rheinbündischer Zeit 1807/09 mit sieben Konstitutionsedikten fort und fand 1809 einen vorläufigen Abschluss im Novemberedikt Sigismund von Reitzensteins.50 Auf zentraler Ebene wurden schrittweise die hergebrachten Ratskollegien abgeschafft, an deren Stelle
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Chausseekommission (1764), Privilegien- und Polizeikommission (1771), Fabrikenkommission (1771), Fruchtmarktkommission (1774) und Landhospitalkommission (1776). Näher dazu vgl. Abschnitt 3.3.2. Zum Gewicht administrativer Parallelstrukturen für die Artikulationschancen von Untertanen vgl. Kapitel 4.1. Der verwaltungs- und kommunikationsgeschichtliche Stellenwert dieser Kommissionaluntersuchungen ist für die Kurpfalz bisher nirgends genauer beleuchtet worden. Vgl. die Fallbeispiele in den Kapiteln 4.1 und 5.2. Zu den Verwaltungsreformen vgl. Ott, Baden, S. 586-599; Nolte, Staatsbildung, S. 118-121, 124f, 1 3 6 f f , 145-148; Sauer, Adler, S. 6 0 f f , 213-217; Cser, Eingliederung, S. 219-222; Ullmann, Baden, S. 44-47, 68-71; Rückleben, Zentralbehörden, S. 630-633; Philipp-Schwöbel, Übergang, S. 11-22; Eibach, Staat, S. 21-25, 29-34; Grube, Vogteien, S. 102-108; Kohnle, Modernisierungspolitik, S. 92-96. Zum Vergleich mit Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt auch Treichel, Verwaltungsmodernisierung.
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1807/08 die fünf klassischen, nach dem Büroprinzip verfassten Fachministerien für Justiz, Finanzen, Inneres, Auswärtiges und Krieg traten; 1817 kam zur Koordination und als Brücke zum Regenten noch das Staatsministerium hinzu.51 Zugleich verschwand nun das Gewirr von Immediatkommissionen, das auch in Baden manche Blüten getrieben hatte. Das vergrößerte Territorium wurde zunächst in Anlehnung an die alten Herrschaftskomplexe in drei Provinzen eingeteilt. Die kurpfalzischen Erwerbungen schlug man 1803 der Pfalzgrafschaft am Rhein bzw. seit 1806 der Provinz des Unterrheins mit einem Hofratskollegium in Mannheim zu.52 Einen radikalen Bruch vollzog hier erst die Umgestaltung von 1809, durch die nach dem Präfektursystem ohne Rücksicht auf historische Zugehörigkeiten zehn Kreise vergleichbaren Zuschnitts eingerichtet wurden. Die neuartigen Mittelinstanzen — im Betrachtungsgebiet der Neckarkreis, weiterhin mit Sitz in Mannheim — standen unter der Leitung eines Direktoriums (oder: Kreisregierung), das als Scharnier zwischen den Ministerien und den regionalen Ämtern umfangreiche Weisungs- und vor allem Aufsichtsfunktionen wahrzunehmen hatte. Ungeachtet gewisser Kompetenzverschiebungen blieb es dabei im Wesentlichen auch, als 1832 die Anzahl der Kreise auf vier verringert wurde und der Neckar- im Unterrheinkreis aufging.53 Die Kontrollbefugnisse umspannten bis zur Einführung einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit 1863 unter anderem den Kern der Administrativjustiz, d.h. der Behandlung von Einsprüchen gegen Entscheidungen niederer Stellen auf dem Rekursweg, womit den Kreisen für mehrere Jahrzehnte eine Schlüsselposition im bürokratischen Eingabewesen zuwuchs.54 Den Direktorien nebengeordnet waren ferner einige nicht dem Innen-, sondern dem Finanzministerium verantwortliche Mittelbehörden, unter denen die Domänenkammern, die Steuerdirektionen und die Oberforstämter hervorzuheben sind.55 Bereits 1803 war das Netz der kleineren überlokalen Verwaltungseinheiten so gestrafft worden, dass sich gemessen an den alten Oberämtern ein engeres, der Leistungsfähigkeit eines einzelnen Beamten adäquateres Verhältnis zur Bevölkerung ergab. In den neu gebildeten Ämtern Ladenburg und Schwetzingen etwa lebten während der ers51
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In der Zwischenzeit hatte man in diesem Bereich mit einer Ministerialkonferenz und unter Großherzog Karl (1811-1818) mit einem Geheimen Kabinett und einem Staatsrat experimentiert. Daneben bestanden 1803 die Markgrafschaft mit Sitz in Karlsruhe und das Obere Fürstentum am Bodensee (Meersburg) und 1806 die Provinz des Mittelrheins (Karlsruhe) und die Provinz des Oberrheins (Freiburg). Schon vorher waren die Kreise durch primär kostenmotivierte Fusionen allmählich von zehn auf sechs reduziert worden. Die drei übrigen 1832 geschaffenen Kreise erhielten die Namen Mittelrhein-, Oberrhein- und Seekreis. 1863 wurden sie als staatliche Verwaltungsbezirke gänzlich aufgehoben; vgl. Ott, Baden, S. 606ff. Vgl. ebd., S. 597, 607f.; Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 81. Genauer geregelt wurde die Administrativjustiz durch die Berufungsordnung in Verwaltungssachen vom 14.3.1833; abgedruckt in Christ, Gemeindegesetz, S. 294-304. Vgl. Ulimann, Baden, S. 70; Ott, Baden, S. 596f.
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ten Jahrhunderthälfte je nur ca. 10.000-20.000 Einwohner.56 Diese Distrikte, von denen anfangs vier bis fünf zu einer Landvogtei zusammengefasst waren, wurden 1809 in Form von den Kreisdirektorien untergebenen Bezirksämtern dem nun konsequent dreigliedrigen Aufbau der Staatsbürokratie eingefügt.57 Der Amtmann als personifizierte Obrigkeit bzw. - nach Stellenausweitungen seit den 1820er Jahren - die Bezirksbeamten unter der Leitung des Amtsvorstands besaßen speziell bis zur Gemeindeordnung von 1831 extensive administrative Kompetenzen gegenüber der Lokalverwaltung, die dadurch nominell zu einem bloßen Exekutivorgan herabsank. Dazu trug auch bei, dass auf Kosten der örtlichen Körperschaften jetzt die gesamte erstinstanzliche Zivilgerichtsbarkeit und die mindere Strafjustiz in der Hand des Amtmanns gebündelt wurden. Die Scheidung der Rechtspflege von der Verwaltung setzte erst auf der nächsten Stufe der Hofgerichte — eines davon in Mannheim - ein, denen wiederum das Oberhofgericht, ebenfalls mit Sitz in Mannheim, übergeordnet war.58 Immerhin aber waren auf Bezirksebene zur Entlastung der Amtsvorstände zeitraubende Routinevorgänge wie notarielle Tätigkeiten (freiwillige Gerichtsbarkeit) und die sukzessive ausgedehnte kommunale Rechnungsprüfung eigenen Teilbehörden, den Revisoraten, übertragen. Eine gravierende Zäsur in der politisch-institutionellen Entwicklung des jungen Großherzogtums markierte schließlich die 1818 oktroyierte Verfassung.59 Wie in den übrigen frühkonstitutionellen Staaten begründete sie ein dualistisches System, in dem die formalen Machtmöglichkeiten des Parlaments gegenüber dem fürstlichen Souverän und seinen Ministern sehr eingeschränkt blieben. Dem monarchischen Prinzip entsprach es etwa, dass die Einberufung, Vertagung und Auflösung allein dem Großherzog gebührte. Ebenso kam dem 1819 erstmals zusammengetretenen badischen Landtag bis 1869 keine Gesetzesinitiative zu, sondern nur die Befugnis, mittels Motionen die Regierung um die Einbringung von Vorlagen zu ersuchen. Dem Buchstaben nach besaß das Parlament lediglich im Budgetrecht einen potentiellen Hebel, um Druck auf die Staatsführung auszuüben.
Ladenburg: 11.021 (1812) bzw. 16.729 (1846) Einwohner. Schwetzingen: 11.545 (1812) bzw. 19.921 (1846) Einwohner. Daten nach Büchler, Großherzogthum Baden, S. 74ff.; Amtliche Beiträge, S. 20f. 57 Wenn man die Gemeindebehörden einrechnet, müsste von einem vierstufigen Verwaltungsaufbau gesprochen werden. Die Amter Ladenburg und Schwetzingen gehörten 1803-1809 zur kurzlebigen Landvogtei Strahlenburg. 58 Anders als z.B. in Württemberg (1818) und Hessen-Darmstadt (1821) wurden in Baden erst 1857 eigenständige Amtsgerichte geschaffen; vgl. auch Schaab, Gerichtsorganisation, S. 2-7; PhilippSchwöbel, Übergang, S. 37-41; Scherzer, Advokaten, S. 116f. s' Zu Entstehung und Profil der Verfassung vgl. Nolte, Staatsbildung, S. 165-172, 177-181, 186f.; Cser, Landtag, S. 156-161; Becht, Parlamentarismus, S. 30-51, 200-242. Speziell zum Wahlrecht ebd., S. 51-73; ders., Wahlen, S. 17-26; Hörner, Wahlen, S. 60-71, 115-156; von Hippel, Revolution, S. 26f.; Kohnle, Modernisierungspolitik, S. 96f. 56
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Der Nimbus der badischen Verfassung als freiheitlichster unter ihren süddeutschen Geschwistern beruhte zunächst denn auch in erster Linie auf der repräsentativ breit abgestützten, von altständischen Bezügen unbehafteten Rekrutierung der zweiten Landtagskammer. 60 Während die erste Kammer den Charakter einer „Herrenkammer" 61 hatte, saßen im Unterhaus 63 Volksvertreter, die in vierzehn Städten und 41 Ämterwahlkreisen gewählt wurden. Im Untersuchungsraum entsandten die Bezirke Ladenburg und Weinheim (Wahlkreis 35) sowie Schwetzingen und Philippsburg (Wahlkreis 31) je einen Deputierten nach Karlsruhe. Die Wahl erfolgte indirekt nach einem zweistufigen Verfahren, indem die Abgeordneten, für die eine hohe Vermögensqualifikation galt,62 von Wahlmännern gekürt wurden, die ihrerseits aus lokalen Abstimmungen hervorgingen. Diese Urwahlen fanden in Wahldistrikten statt, die zumeist mit den politischen Gemeinden zusammenfielen. Über das aktive und passive Wahlrecht verfügten hierbei „alle Staatsbürger, die das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt haben [und] im Wahlorte als Bürger angesessen sind, oder daselbst ein öffentliches A m t bekleiden."63 Im Durchschnitt traf das auf ein beachtliches Drittel der männlichen Einwohnerschaft zu, 64 dem damit umso mehr ein unverhoffter Partizipationsschub beschert wurde, als im späten Ancien Régime weder die Markgrafschaft Baden noch die Kurpfalz irgendeine Form landständischer Herrschaftsteilhabe gekannt hatte. 65 Zwar fiel etwa im K ö nigreich Württemberg die Quote der Wahlberechtigten nicht viel geringer aus; allerdings setzten sich dort die Wahlmännergremien nur zu einem Drittel aus Gewählten,
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Die Bestimmung der Deputierten war grundsätzlich in §§ 33-41 der Verfassung vom 22.8.1818 geregelt und in §§ 34-85 der Wahlordnung vom 23.12.1818 präzisiert; vgl. Verfassungsurkunde, in: Mathy (Hg.) (Anhang). Cser, Landtag, S. 158. Nach § 7 der Verfassungsurkunde setzte sich die erste Kammer zusammen aus den Prinzen des großherzoglichen Hauses, den Häuptern der standesherrlichen Familien, dem Landesbischof und einem vom Großherzog ernannten protestantischen Geistlichen im Rang eines Prälaten, acht Abgeordneten des grundherrlichen Adels, zwei Abgeordneten der Landesuniversitäten und einigen vom Großherzog „ohne Rücksicht auf Stand und Geburt zu Mitgliedern dieser Kammer ernannten Personen". Abgeordnete mussten über ein Steuerkapital von mindestens 10.000 Gulden oder über feste jährliche Bezüge von wenigstens 1.500 Gulden aus dem Staats- bzw. Kirchendienst oder aus Güterbesitz verfügen. Ausgeschlossen waren damit nach § 43 der Wahlordnung „bloße Hintersassen, Gewerbsgehilfen, Gesinde, Bediente u. s. w.". Laut Becht, Wahlen, S. 18f., und Hörner, Wahlen, S. 131, betrug der Anteil der Wahlberechtigten sechzehn bis siebzehn Prozent der Bevölkerung, rund 35 Prozent der männlichen Einwohner und etwa achtzig Prozent der Familienoberhäupter. Die Aufhebung des Schutzbürgerstatus 1831 ließ die Zahl der Wahlberechtigten um knapp fünfzehn Prozent steigen, nämlich durch Zuwachs von 25.000-30.000 auf der Basis von 185.000-190.000 Personen (1830); vgl. ebd., S. 136-140. In der Kurpfalz war die ohnehin zaghafte Landschaftsbildung im Dreißigjährigen Krieg abgerissen; vgl. Gothein, Landstände; Press, Landschaft. Allgemeiner zu den südwestdeutschen Territorien Gothein, Oberrhein. Auf vitale landständische Traditionen blickten dagegen die Nachbarstaaten Württemberg und Bayern, aber auch die neubadischen Teile Vorderösterreichs zurück.
2.4 Grundzüge der Gemeindeordnung
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ansonsten jedoch aus den Höchstbesteuerten zusammen.66 Wenn im Laufe der Jahre die Konstitution zur Ikone des badischen Liberalismus avancierte; wenn — abweichend vom vorrangig finanz- und integrationspolitischen Kalkül der Verfassungsväter — namentlich die zweite Kammer durch die Publizität und Rezeption ihrer Debatten, über Petitionskampagnen, Abgeordnetenempfange und Urwahlkämpfe eine erhebliche Mobilisierungskraft entfaltete, dann verdankten sich diese Effekte nicht zuletzt der weitreichenden demokratischen Legitimation der Mandats träger.
2.4 Grundzüge der Gemeindeordnung Bis zum Ende der Kurpfalz bildete die dörfliche Sphäre einen verfassungsrechtlich nur unvollkommen normierten Raum, da die Territorialobrigkeit - anders als zum Beispiel im Herzogtum Württemberg und in der Markgrafschaft Baden67 — noch im 18. Jahrhundert auf eine breit angelegte Regulierung der kommunalen Institutionen verzichtete. Die Landesordnung sprach auch in ihrer jüngsten Redaktion von 1700 lediglich formelhaft „jedes Orts Schultheissen / Burgermeistern / Rähten / Dorffmeistern und Gerichten" an.68 Etwas präziser äußerte sich die Untergerichtsordnung von 1657.69 Die „Richter oder Schultheiß und Schöpffen", deren Zahl mindestens sieben betragen sollte, wurden verpflichtet, „jedes Jahr acht / oder zum wenigstens vier / Gericht" zu halten.70 Es musste sich um volljährige, fromme und ehrliche Männer von ehelicher Geburt handeln, zwischen denen keine enge Verwandtschaft bestand und die kein Urteil in eigener Sache oder derjenigen naher Angehöriger fallen durften.71 Trotz der Konzentration der fundamentalen Gesetzestexte auf die Ausgestaltung der niederen Justiz sind damit jedoch auch in größerem Maßstab die Hauptträger lokaler Herrschaft benannt.72 Denn der Schultheiß - bisweilen ergänzt um einen Anwaltschultheiß als Stellvertreter — und die Schöffen (Gerichtsverwandte, -männer), die auf Lebenszeit von der Regierung oder dem Oberamt berufen wurden, übten die wesent66
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Vgl. Hettling, Reform, S. 123f. Wahlberechtigt waren nach der Verfassung von 1819 ca. vierzehn Prozent der Gesamtbevölkerung. In Württemberg kam noch hinzu, dass von den 93 Abgeordneten der zweiten Kammer 23 nicht per Wahl, sondern qua Geburt oder Amt dorthin gelangten. Zu den württembergischen Kommunordnungen von 1702 und 1758 sowie zum badischen Pendant von 1760 vgl. Grube, Vogteien, S. 29ff., 101; Zimmermann, Grenzen, S. 37-41. So z.B. in „Kurtzer Memorial / darnach Unsere Ober- und Under-Ampdeuth sich in Verwaltung ihrer Ampter zugerichten", in: Churfürstlicher Pfaltz Lands-Ordnung (1657), fol. 56r-64r, 56v; ähnlich ebd., fol. 78'. Die Verbesserte Lands-Ordnung (1700) weicht in diesem Punkt nicht ab. Churfürstlicher Pfaltz Landrecht, S. 1-48.
™ Ebd., S. 6,3. Vgl. ebd., S. 5. Es schloss sich ein „Richter / oder Schultheissen und Schöpffen Eyd" an, dem allerdings keine darüber hinausgehenden Regelungen zu Kompetenzen und Rekrutierung zu entnehmen sind; ebd., S. 7f. 72 Zum Folgenden vgl. Mörz, Kurpfalz, S. 255f.; Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 217£; Schmitt, Territorialstaat, S. 113-132; Mahlerwein, Herren, S. 276-292; Press, Pfälzische Lande, S. 571.
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
liehen obrigkeitlichen Befugnisse nicht nur in der Rechtsprechung, sondern in weiten Teilen der Verwaltung aus. Ihre Kompetenzfülle und der Umstand, dass sie wegen der Herkunft aus der Ortsbevölkerung zumeist dem jeweiligen dörflichen Milieu verhaftet waren, prädestinierte die Inhaber dieser Ämter zumindest im Rahmen des regulären Instanzenzugs zugleich zu Repräsentanten der Einwohner gegenüber der fürstlichen Administration. Angesichts der janusköpfigen Scharnierfunktion zwischen Staat und Kommune erstaunt es deshalb nicht, wenn sich besonders auf die Person des Schultheißen die behördliche Disziplinierung ebenso fokussierte wie das Streben der Gemeindegenossen, an der Rekrutierung mitzuwirken. Mit Blick auf das Gericht blieben solche Teilhabewünsche insgesamt bis 1831 unerfüllt, da vakante Plätze in der Regel auf Empfehlung der übrigen Schöffen wiederbesetzt wurden und sich das Kollegium somit durch Kooptation erneuerte.73 Immerhin achtete man dabei in den religiös gemischten Orten der Pfalz auf einen gewissen Bekenntnisproporz. Für den Posten des Schultheißen hingegen schälte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts — obschon schwankend und lange ohne klar identifizierbare Rechtsgrundlage — die eigentümliche Praxis heraus, den Nachfolger aus einem Kreis von drei per Wahl von den Ortsbürgern nominierten, allerdings obligatorisch konfessionsverschiedenen Kandidaten zu ernennen.74 Die Finanzverwaltung lag zunächst in den Händen zweier Bürgermeister,75 die jährlich von der Gemeinde gewählt wurden und von denen je einer aus dem Gericht und aus der übrigen Bürgerschaft stammen musste (Gerichts- und Gemeindebürgermeister). Während sich die Obrigkeit auf lokalem Gebiet ansonsten mit punktuellen gesetzlichen Eingriffen begnügte,76 kam es im Haushaltswesen 1766 zu einem stärkeren Umbau. Die „General-Satz- und Ordnung" schrieb für die Gemeinde- und Schatzungsrechnung feste Rubrikenschemata vor und schuf die „auf ohnbestimmte Zeit" zu vergebene Stelle des „ständigen Empfanger[s]", der das bisherige Geschäft der Bürgermeister übernahm.77 Zu ernennen war er vom Oberamt auf Basis einer aus dem Wäh-
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Vgl. Mahlerwein, Herren, S. 306ff.; Schaab, Kurpfalz, S. 218. Die von Probst, Seckenheim, S. 497, erwähnte „Wahl durch die Gemeinsleute" war eventuell eine ältere, um 1700 jedenfalls erloschene Praxis. Näher hierzu Kapitel 5.2. Die landesweite Unbestimmtheit in dieser Frage, die im Rechtsrheinischen mit dem Übergang an Baden endete, illustrieren auch die Beobachtungen von Mahlerwein, Herren, S. 297-306. Diese dörflichen Rechnungsbeamten der kurpfalzischen Zeit sind nicht zu verwechseln mit den späteren badischen Ortsvorstehern, die seit 1831 ebenfalls den Titel eines Bürgermeisters trugen. Vgl. die einschlägig indexierten Verordnungen bei Mußgnug, Kurpfalz, S. 436-594. Chur-Pfalzische General-Satz- und Ordnung Zur besseren Verfassung deren Gemeinden in Verwaltung und Benutzung deren gemeiner Gütheren und Zubehörungen, dann diesfallsigen Rechnngs-Weesen vom 20.11.1766 (unfol.), § 1 Abs. 1 und 3. Benutzt wurde das Exemplar aus dem Gemeindearchiv Feudenheim, in: StA Ma AB Fe 40. Vgl. Fouquet, Gemeindefinanzen, S. 250-258; Mörz, Kurpfalz, S. 240f£; Schaab, Kurpfalz, S. 219; Mahlerwein, Herren, S. 286ff.
2.4 Grundzüge der Gemeindeordnung
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lervotum hervorgehenden Vorschlagsliste.78 Die hergebrachte genossenschaftliche Rechnungsabhör wurde zwar nicht angetastet. Schärfer als zuvor wachten über den Empfanger nun in einem mehrschrittigen Prüfungsverfahren aber die amtlichen Aufsichtsinstanzen, so dass Einkünfte, Ausgaben und Vermögensdispositionen, nicht zuletzt auch Kapitalaufnahmen und Schuldenwirtschaft einer strikteren herrschaftlichen Kontrolle unterlagen. Als „Gewinner dieser Verwaltungsreform" lässt sich mit Gerhard Fouquet „eindeutig die fürstliche Regierung" bezeichnen, „der an bürokratischer Kontinuität und Erfahrung gelegen sein mußte"79 und die solcherart die „Unabhängigkeit der Finanzverwaltung [als] Kern der gemeindlichen Autonomie"80 zurückdrängte. Von den elementaren Partizipationsorganen oberdeutscher Landkommunen ist für die Kurpfalz darüber hinaus durchgängig die Existenz der Gemeindeversammlung81 belegt, zu der alle Vollbürger und bedingt auch bürgerliche Witwen Zutritt hatten. Um außerhalb der turnusmäßigen Termine zusammenzutreten, bedurfte es der Einwilligung des Schultheißen, der über sein Einberufungsrecht somit jene „Entwicklung [...] in der frühen Neuzeit" verkörperte, „daß freie Gemeindeversammlungen unterbunden wurden."82 Zudem konnte von einer eigenständigen Satzungshoheit selbst für die „nachgeordnete^] polizeiliche[n] und agrarwirtschaftliche[n] Funktionen"83 nur noch bei der Fluraufsicht die Rede sein. Für die meisten anderen Materien hatte die fürstliche Gesetzgebung allmählich verbindliche Regelungen getroffen, die mit den Vorstößen zur Aufteilung von Weideallmenden um 1770 auf eine tragende Säule der Gemeindeökonomie ausgriffen.84 Wahlrechte besaß die Gemeinde außer in den erwähnten Bereichen zum einen für eine Reihe niederer Bedienstungen, z.B. Hirten, Flurschützen und Nachtwächter.85 Zum anderen kannten die Dörfer, wie in Südwestdeutschland üblich,86 zwischen den halbherrschaftlichen Amtern Schultheiß und Gericht und den unteren Chargen einen dritten Kreis überwiegend gewählter Aufgabenträger, die an der Verwaltung mitwirkten, aber auch generell als Vertreter der Bürgerschaft oder einzel-
Zur Einsetzung hieß es im Einzelnen, dass die ,^Auswahl und Anordnung aus dreyerley von gesamter Gemeind Viritim in Vorschlag zu bringenden Religions-Verwandten von dem respective Oberambt, benebst Zuziehung Schultheissens und Gerichts" zu vollziehen sei, wobei die „steete Belaß- oder Abänderung [...] dem höheren Ermessen vorbehalten" bleiben sollte; General-Satzund Ordnung, § 1 Abs. 2 und 3. 79 Fouquet, Gemeindefinanzen, S. 254. Vor Ort ließ die Umsetzung der Vorschriften bisweilen einige Jahre auf sich warten; vgl. Mahlerwein, Herren, S. 287f. 80 Bierbrauer, Gemeinde, S. 176. Vgl. ebd., S. 173-179. Für die Kurpfalz Schmitt, Territorialherrschaft, S. 252ff.; Mahlerwein, Herren, S. 276-282. 82 Bierbrauer, Gemeinde, S. 173. M Ebd., S. 177. 78
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Vgl. Abschnitt 3.3.2. Vgl. Bierbrauer, Gemeinde, S. 235-251; Schmitt, Territorialherrschaft, S. 235-251; Mahlerwein, Herren, S. 288ff. Vgl. Bierbrauer, Gemeinde, S. 180.
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
ner Teile gegenüber der Ortsleitung auftraten. Am wichtigsten waren hier die gemeinen Vorsteher — nach ihrer Zahl auch Vierer, Sechser oder Zwölfer genannt —, die dem Schultheißen vor allem in sicherheitspolizeilichen Obliegenheiten assistieren sollten. Gerade sie erlangten in Streitfallen als Vermittler oder Sprachrohr des Protests mitunter stärkeres politisches Profil.87 Daneben waren zwei Stabhalter der Fuhr- und Handfröner mit der Organisation der Frondienste betraut und standen somit in gewisser Weise den beiden bestimmenden lokalen Sozialkorpora vor.88 In außergewöhnlichen Situationen schließlich konnten spezielle Deputierte bevollmächtigt werden, sei es, um Verhandlungen mit den vorgesetzten Behörden zu führen; sei es, um Gruppeninteressen innergemeindlich energischer zur Geltung zu bringen.89 Der institutionelle Rahmen, in dem sich die Lokalverwaltung während der Anfangsjahre badischer Herrschaft bewegte, wurde durch das zweite Konstitutionsedikt von 1807 und das Novemberedikt von 1809 abgesteckt.90 Der bürokratisch-autoritäre Charakter dieser landesweiten Vereinheitlichung manifestierte sich darin, dass „Gemeinden, Körperschaften, Staatsanstalten aller Art [...] als Minderjährige an[ge]sehen" und ,,[a]lle Gerichtsbarkeit und polizeyliche Gewalt in Unsern Landen [...] künftig blos in Unserm Namen und aus Unserm Auftrag ausgeübt" werden sollten.91 Im Ortsvorstand (bzw. -gericht) fand prinzipiell die Trias aus Gericht, Schultheiß und Empfanger eine Fortsetzung, die beiden Letzteren jetzt unter dem Namen Vogt bzw. Gemeinderechner. Das Gremium, dessen Größe an die Bürgerzahl geknüpft war,92 sollte spätestens alle vierzehn Tage zusammentreten. Mit dem Verlust der meisten Befugnisse in der niederen Justiz an die Bezirksämter reduzierten sich die Kompetenzen nun indes noch weiter auf die Orts- und Feldpolizei inklusive der Ahndung kleiner Ordnungswidrig-
st Vgl. Mahlerwein, Herren, S. 284f£; Schmitt, Territorialherrschaft, S. 230-235. ss Vgl. Kapitel 2.5 und 3.2.2. 89 Eine gesetzliche Obergrenze für die Deputierten bestand nur in bestimmten Handlungsfeldern, etwa wenn Gemeinden dem Kurfürsten eine Supplik überreichen wollten. Da man hierbei „dergleichen ohnehin einem Auffstand ähnlich zahlreiche Deputationen" vermeiden wollte, wurde die Zahl im Justizedikt von 1744 auf „höchstens zwey aus ihrem Mittel" beschränkt; zitiert nach Scherner, Advokaten, S. 93. Mit dem in dieser Arbeit untersuchten Material lassen sich nirgends mehr als fünf Deputierte in einer Sache nachweisen. 90 Konstitutionsedikt die Verfassung der Gemeinheiten, Körperschaften und Staatsanstalten betr. vom 14.7.1807; Organisationsedikt vom 26.11.1809. Beide Gesetzeswerke werden im Folgenden herangezogen nach Vollständige Sammlung aller Gesetze, S. 423-454, 99-190. Auf die für den Ortsbürgerstatus relevanten Normen wird in Abschnitt 4.2.1 eingegangen. Zur Deutung vgl. Ott, Baden, S. 596ff.; Andreas, Verwaltungsorganisation, S. 259f.; Engehausen, Integration, S. 236; Nolte, Staatsbildung, S. 147£, 160f£; ders., Gemeindebürgertum, S. 31-35; Grube, Vogteien, S. 103f.; Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 71-74. 91 92
Vollständige Sammlung aller Gesetze, S. 435,100. Die Zahl der gewöhnlichen Gerichtsmänner sollte bei bis zu achtzig Bürgern einen umfassen, bei bis zu einhundertzwanzig Bürgern zwei und für jede weiteren vierzig Bürger zusätzlich einen, bis maximal zehn Personen.
2.4 Grundzüge der Gemeindeordnung
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keiten, die freiwillige Gerichtsbarkeit (z.B. Kontrakten- und Unterpfandsbücher) sowie administrative Aufgaben, vor allem bezüglich des Gemeindehaushalts und -Vermögens. Dabei waren die kommunalen Organe in einem Maße an behördliche Auflagen und Anweisungen gebunden, dass sie auf dem Papier in vieler Hinsicht nurmehi als „letzte Stufe der Verwaltungshierarchie" 93 figurierten. Der Ausdehnung staatlicher Steuerungskapazitäten korrespondierte auf der anderen Seite eine Beschneidung bürgerschaftlicher Teilhabemöglichkeiten. So sollte der Einsetzung eines Vogts zwar eine Wahl vorausgehen und ein Kandidat ernannt werden, der mindestens ein Viertel der Voten errungen hatte. Erachtete der zuständige Amtmann allerdings „die Bestellung eines solchen, der gar keine, oder doch nicht [...] ein Viertheil aller Stimmen erhalten hat, für räthlich", konnte er den Wählerwillen mit Billigung des Kreisdirektoriums durchaus ignorieren. 94 Für das Ortsgericht galt weiterhin, dass die „Gerichtsmänner [...] von dem [...] Gericht selbst gewählt, und von dem Amt bestätigt" wurden. 95 Überdies bedurften Entschlüsse des Ortsvorstands nur dann einer Genehmigung durch die versammelte Gemeinde, wenn sie beträchtlich in das kommunale Vermögen eingriffen oder den Bürgergenuss (Allmende, Gabholz) tangierten. Selbst im Fall der Ablehnung freilich hatten die Zentralbehörden noch das Recht, sich „aus obervormundschaftlicher Gewalt" über die Meinung des „größern Gemeindstheils" hinwegzusetzen. 96 Abgeschafft wurden ferner ex tacendo die gemeinen Vorsteher, hinter denen sich bisher oftmals innerdörflicher Widerstand gegen die lokale Amts-
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Ott, Baden, S. 596. Vollständige Sammlung aller Gesetze, S. 113. Wenn Engehausen, Integration, S. 236, kommentiert, dass „der Staat [...] ein Bestätigungsrecht aus [übte], das bei restriktiver Auslegung einem Ernennungsrecht gleichkommen konnte", ist dies daher im Grunde zu milde ausgedrückt. Vogtswahlen (bis 1831) werden allerdings in der lokalhistorischen Literatur nirgends thematisiert und sind auch in den Quellen kaum greifbar, so dass sich die Handhabung der staatlichen Machtbefugnisse lediglich indirekt rekonstruieren lässt; vgl. Kapitel 5.2 und 5.4.1. Der einzige im Untersuchungsraum dokumentierte Fall betraf 1820 den Ort Lußheim und stand im Zusammenhang mit der konfliktreichen verwaltungsrechtlichen Loslösung Neulußheims von der Muttergemeinde, die in dieser Arbeit nicht näher behandelt wird; vgl. dazu Fuchs, Neulußheim, S. 109-123. Aufgrund massiver Proteste aus Altlußheim gegen den seit 1804 amtierenden Vogt Johann Ulrich war eine Neuwahl anberaumt worden, die dank der geschlossenen Unterstützung aus Neulußheim abermals Ulrich mit 106 von 215 Stimmen gewann. Das ausnahmsweise eingeschaltete Innenministerium verwarf jedoch das Resultat und ordnete eine Wiederholung unter Ausschluss Ulrichs an, zu der indes nähere Angaben fehlen. Vgl. die Akte GLA Ka 229/62816, bes.: Bericht BZA Schwetzingen an Dir. NK vom 13.5.1820 (Protokoll der Wahl am Vortag); Beschluss Dir. NK vom 17.5.1820 (Befehl an BZA Schwetzingen zur Annullierung der Wahl vom 12.5.1820). Vollständige Sammlung aller Gesetze, S. 115. Ebd., S. 117. Sogar der spätere liberale Vorkämpfer von Itzstein erklärte 1818 als Schwetzinger Amtmann bei einem Gemarkungsstreit zwischen Hockenheim und Reilingen gegenüber dem Kreisdirektorium: „Gemeinden sind minorene und stehen unter der obervormundschaftlichen Leitung." Schmehrer, Reilingen, S. 403.
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
elite geschart hatte.97 Die Mandatierung temporärer Deputationen indessen war augenscheinlich nach wie vor erlaubt, wurde jedenfalls auch fortan praktiziert und obrigkeitlich geduldet. In der Frage der gemeindeinternen Machtbalance trat denn auch die früheste nennenswerte Änderung ein, als seit dem Landtag von 1819 eine liberale Revision der Kommunalordnung auf die legislative Agenda rückte. 1821 wurde mit dem Bürgerausschuss ein permanentes Kontrollorgan unterhalb des Ortsvorstands installiert, das genauso viele Personen wie dieser umfassen sollte.98 Seine Amtszeit betrug zunächst sechs, seit 1831 vier Jahre, wobei er sich alle zwei Jahre zur Hälfte erneuern musste. Das aktive und passive Wahlrecht kam sämtlichen Vollbürgern sowie erstmals zudem den Schutzbürgern jedweder Religion, d.h. auch männlichen Juden, zu. Für die Beschickung wurde die Bürgerschaft in drei numerisch gleich große Steuerklassen gegliedert und die Angehörigen des Ausschusses mussten je zu einem Drittel aus den so definierten Gruppen der Höchst-, Mittel- und Niedrigstbesteuerten stammen.99 In einer Reihe gesetzlich vorgeschriebener Punkte, die sich vorwiegend auf das Haushaltswesen und die Vermögensverwaltung, aber etwa auch auf die Bürgeraufnahme Auswärtiger bezogen, erforderte die Gültigkeit eines Gerichtsbeschlusses100 von nun an die Zustimmung des neuen Gremiums. Bei unüberbrückbarem Dissens war der „Gegenstand der Gemeinde zur Entscheidung vorzulegen."101 Den Bürgerausschüssen fiel mithin die Rolle eines „innergemeindliche[n] Pendant[s] zur staatlichen Kommunalaufsicht"102 zu. Einen ungleich tieferen Einschnitt bewirkte zehn Jahre darauf die neue Gemeindeordnung, die im Dezember 1831 zusammen mit dem Bürgerrechtsgesetz nach langwierigen Beratungen den Landtag passierte und den Ruf als „freiheitlichste [...] ihrer Zeit" genoss.103 Den Kommunen wurde nun global die Befugnis zugebilligt, „die auf Zumindest ist die folgende Generalklausel des Novemberedikts entsprechend zu interpretieren: „Alle seither bestandene Administrativ-, Justiz- oder Finanz-Stellen, welche nicht in dieser Verordnung und ihren Beilagen benannt sind, werden von dem Zeitpunkt ihres Vollzugs an aufgelöst." Vollständige Sammlung aller Gesetze, S. 102. Tatsächlich tauchen gemeine Vorsteher seit den 1810er Jahren in den Quellen nicht mehr auf. 98 Verordnung vom 23.8.1821, in: Vollständige Sammlung aller Gesetze, S. 450-454. In der Gemeindeordnung von 1831 wurden die Regelungen unter §§ 27-35, 135-139 weithin beibehalten; vgl. Christ, Gemeindegesetz, S. 25-29, 124-129. Vgl. zudem Blase, Selbstverwaltung, S. 93-98; Nolte, Gemeindebürgertum, S. 65-68; Ott, Baden, S. 600; Croon, Gemeindeordnungen, S. 250f. 99 Der Wahlmodus ist nicht mit einem Zensus, z.B. nach Art des preußischen Dreiklassenwahlrechts, gleichzusetzen. Das Verfahren sollte vielmehr garantieren, dass auch die unteren Schichten ebenbürtig vertreten waren. 100 Bzw. seit 1831 eines Gemeinderatsbeschlusses. 101 Christ, Gemeindegesetz, S. 128. 102 Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 79.
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Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden vom 31.12.1831, in: Christ, Gemeindegesetz, S. 1-152. Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts vom 31.12.1831, in: ebd., S. 153-212. Zur Entstehung und den wesentlichen Inhalten vgl. Croon, Gemeindeordnungen, S. 249-253, 249 (Zitat); Nolte, Gemeindebürgertum,
2.4 Grundzüge der Gemeindeordnung
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den Gemeindeverband sich beziehenden Angelegenheiten zu besorgen, und ihr Vermögen selbstständig zu verwalten." 104 Weiterhin war die Lokaladministration jedoch „dem Aufsichtsrechte des Staats, nach Maßgabe der Vorschriften des gegenwärtigen oder künftiger Gesetze" 105 unterworfen, wobei die genehmigungspflichtigen Materien gegenüber dem Novemberedikt von 1809 nur geringfügig reduziert wurden. 106 Da die Behörden diese Funktion zunehmend rigider ausübten, 107 stellte sich jene Konstellation einer „durch die staatliche Bürokratie kontrollierte [n] und eingeschränkte [n] kommunale[n] Selbstverwaltung" 108 ein, welche die Situation der 1830/40er Jahre prägte. Schon der gemäßigt liberale Kammerabgeordnete und Historiker Ludwig Häusser erkannte darin ein spezifisch badisches Strukturproblem des Vormärz, als er 1851 rückblickend feststellte: Die Inconsequenz [...] bestand aber namentlich in Einem: man demokratisirte die Fundamente der politischen Gesellschaft, ohne doch den Ueberbau damit in Einklang zu setzen. Man machte demokratische Gemeindegesetze, erweiterte stillschweigend das Wahlrecht zu einer Art von allgemeinem Stimmrecht und ließ doch die streng bureaukratische Verwaltung, die noch nicht einmal von der Rechtspflege getrennt war, [...] daneben bestehen — ohne sich [...] die Frage aufzuwerfen, wie der unvermeidliche Conflict der beiden ganz heterogenen Elemente des Staates gelöst werden sollte? Hierin lag ein wesentlicher Gegensatz zu den meisten übrigen deutschen Staaten; die regierende Bureaukratie war dort in derselben Stellung wie in Baden, aber die Bevölkerung war dort noch nicht von so demokratischen Elementen berührt wie hier. In dem starken Contrast zwischen diesen ganz liberalen Organisationen auf der einen, und dem ziemlich illiberalen System auf der anderen Seite lag eine Quelle unaufhörlichen Kampfes [.. ,].109 In der Tat wurde die Spannung zwischen Autonomie und Gängelung dadurch aufgeladen, dass sich neben dem Bürgerausschuss fortan auch die wichtigsten kommunalen Organe als Träger der Selbstverwaltung auf eine demokratische Legitimation stützten. Der Gemeinderat als Nachfolger des Ortsgerichts — nach Einwohnerumfang mit drei bis fünfzehn Mitgliedern — sollte von den Bürgern 110 in geheimer Abstimmung auf sechs
S. 60-70, 85-99; Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 80; Leiser, Einwohnergemeinde, S. 4650; Ott, Baden, S. 600£; Eibach, Staat, S. 93f. 104 Christ, Gemeindegesetz, S. 5. •05 Ebd., S. 7. 106 Vgl Maciejewski, Amtmannsvertreibungen, S. 363-367. Maciejewski erklärt die widersprüchliche Haltung der Kammerliberalen damit, dass in ihren Augen die Kommunen einerseits zwar autonom sein sollten, man andererseits aber befürchtete, dass „die Gemeinden und ihre Finanzen Spielball einiger weniger herrschender Familien werden" könnten (ebd., S. 366) - eine oligarchische Verkrustung, der man nur durch staatliche Überwachung beikommen zu können glaubte. 107 Vgl. Kapitel 4.2. 108 Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 78. 109 Häusser, Denkwürdigkeiten, S. 17; vgl. Maciejewski, Amtmannsvertreibungen, S. 366f. 110 Die Kategorie der Gemeindebürger ebnete die bisherige Abstufung zwischen Orts- und Schutzbürgern ein; vgl. Kapitel 2.5. Jüdische Bürger behielten ihr volles Wahlrecht allerdings nur für den Ausschuss; bei Wahlen zum Gemeinderat und zum Bürgermeister waren sie zwar stimmfähig, aber nicht wählbar.
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Jahre gewählt werden und sich im zweijährigen Turnus zu einem Drittel erneuern. Die zentrale Figur des Ortsvorgesetzten — der Bürgermeister — wurde ebenso im Abstand von sechs Jahren per Mehrheitsentscheid gewählt, wobei er mindestens ein Drittel der Voten aller Wahlberechtigten auf sich vereinigen musste. Ein nominierter Bürgermeister benötigte zum Amtsantritt zwar die Bestätigung durch die Kreisregierung; sie durfte ihm nach einem dritten siegreichen Wahlgang jedoch nicht länger verweigert werden.111 Zudem war eine spätere Entlassung an nachweisliche Dienstvergehen, Straftaten oder persönliche Überschuldung sowie an feste Verfahrensformen gebunden, die eine willkürliche Absetzung aus politischen und Gesinnungsgründen seitens des Staats jedenfalls de jure verhinderten.112 Ferner erfuhr die Gemeindeversammlung eine gewisse Aufwertung, zum einen mittels einer geringfügigen Erweiterung der zustimmungspflichtigen Beschlussmaterien.113 Zum anderen musste sie über die Initiativrechte von Rat und Ausschuss hinaus auch auf Antrag einer wenigstens genauso großen Zahl sonstiger Bürger einberufen werden, wenn eine Eingabe im Namen der Gemeinde an den Großherzog, eine Behörde oder die Landstände gerichtet werden sollte; oder wenn es darum ging, die Kritik einzelner Gruppen am Gebaren örtlicher Amtsinhaber zu einer offiziellen „Gemeindebeschwerde" zu erheben.114 In der Literatur wird häufig unterstrichen, dass die badische Regierung schon kurz nach Inkrafttreten der Gemeindeordnung aus Unbehagen über das gestiegene Druckpotential ärmerer Bevölkerungsschichten die demokratischen Mitwirkungsrechte wieder stutzte.115 Tatsächlich erließ das Staatsministerium bereits im Dezember 1833 ein provisorisches Gesetz, das für die Wahl der Bürgermeister und Gemeindräte in ländlichen Gemeinden einen Zensus von achthundert Gulden Gesamtsteuerkapital einführte und dadurch rund einem Fünftel der Bürger die Stimme entzog. Eine alternative Dauerregelung traf schließlich ein im August 1837 verabschiedetes Gesetz.116 Es sah die Einrichtung eines großen Ausschusses vor, dem in kleineren Orten ein Siebtel der gesamten Bürgerschaft sowie der Gemeinderat und Bürgerausschuss, mindestens aber fünfzig Mitglieder angehören mussten. Als einer Art von Kommunalparlament stand ihm künftig die Wahl des Bürgermeisters, der Gemeinderäte und des (kleinen) Bürger-
Der den obrigkeitlichen Interventionsradius empfindlich schmälernde Passus des § 11 der Gemeindeordnung lautete: „Wird auch der bei der zweiten Wahl Gewählte [...] nicht bestätigt, so wird zur dritten Wahl geschritten, und dem bei dieser Wahl Gewählten kann unter der Voraussetzung, daß er die gesetzlichen Eigenschaften hat, die Bestätigung nicht versagt werden." Christ, Gemeindegesetz, S. 10. Zum brisanten „Kampf um § 11" zwischen der Regierung und den beiden Kammern der Landstände vgl. Nolte, Gemeindebürgertum, S. 88. 112 Vgl. §§ 21-26 der Gemeindeordnung; Christ, Gemeindegesetz, S. 22-25. 113 Vgl. die Auflistung ebd., S. 31. i" Vgl. ebd., S. 31 f. 115 Vgl. Croon, Gemeindeordnungen, S. 253-257; Nolte, Gemeindeliberalismus, S. 63ff.; ders., Gemeindebürgertum, S. 127-146; Hörner, Wahlen, S. 75ff.; Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 80; Leiser, Einwohnergemeinde, S. 50. 116 Vgl. Gesetz vom 3.8.1837, in: Christ, Gemeindegesetz, S. 35-38. 111
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ausschusses zu. Er selbst sollte aus Abstimmungen hervorgehen, die den wohlhabenderen Bewohnern stärkeres Gewicht einräumten, indem die drei zu bildenden Steuerklassen nicht mehr die gleiche Personenzahl, sondern in den Sektionen der Höchst-, Mittel- und Niedrigstbesteuerten gestaffelt ein, zwei bzw. drei Sechstel der Wähler umfassten.117 Gerade da der Novellierung des Wahlrechts vielfach eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die politische Entwicklung seit Mitte der 1830er Jahre zugeschrieben wird, ist jedoch zu betonen, dass das indirekte Verfahren mit gesondertem Wahlkollegium im dörflichen Kontext kaum zum Tragen kam. Denn verpflichtend war es lediglich für Gemeinden ab 3.000 Einwohnern — eine Zahl, die von den Untersuchungsorten bis 1845/52 nur Hockenheim knapp erreichte; die Existenz eines großen Ausschusses lässt sich dort während dieser Zeit indes nicht zweifelsfrei belegen.118 Im Übrigen bestand fakultativ die Möglichkeit, das Institut auf Beschluss der Gemeindeversammlung und mit Staatserlaubnis zu übernehmen. Gebrauch machte man davon allem Anschein nach aber nur in Seckenheim, wo sich die Sitzungsprotokolle des Ausschusses seit 1845 erhalten haben,119 sowie für einige Jahre in Schriesheim.120 Erst mit der konservativen Gemeindegesetzgebung in der Reaktionsära hielt diese Neuerung schließlich auch auf dem Land nahezu flächendeckend Einzug.121 Im April 1851 wurde — neben einer Verlängerung der Amtsperioden122 und einer Erweiterung der staatlichen Befugnisse zur Verwerfung von Stimmergebnissen — nun für jeden Ort ab achtzig Bürgern die Einrichtung eines großen Ausschusses mit den bekannten Wahlfunktionen angeordnet.123 Dahinter stand das nach der Revolution gewachsene Bestreben, die Lokalverwaltung von radikalen Kräften abzuschirmen, deren Rückgrat Regierung und Bürokratie in den besitzschwachen Kreisen der Gemeindebürgerschaft sahen.
In der eigentlichen Wahl sollte dann jede Steuerklasse für sich ein Drittel der Ausschussmitglieder per Mehrheitsentscheid benennen und zwar je ein Drittel aus dem Kreis der Höchst-, Mittel- und Niedrigstbesteuerten. Iis Weder die Akten im Stadtarchiv Hockenheim noch die Monographie von Brauch, Hockenheim, enthalten diesbezüglich einen expliziten Hinweis.
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Abschrift von Sitzungsprotokollen des großen Ausschusses 21.9.1845-20.5.1870, in: StA Ma A B Se 3.
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Laut Brunn, Schriesheim, S. 192, wurde um 1840 ein über achtzigköpfiger großer Ausschuss eingerichtet, bereits Anfang 1846 per Bürgerentscheid aber wieder aufgelöst, da er „zur Tribüne der regierungsfeindlichen liberalen Opposition" geworden war. Vgl. Fröhlich, Gemeindegesetze, S. 28f.; Croon, Gemeindeordnungen, S. 257f.; Leiser, Einwohnergemeinde, S. 50f.; Nolte, Gemeindeliberalismus, S. 88ff. Der Bürgermeister sollte fortan auf neun Jahre gewählt werden, der Gemeinderat und die beiden Ausschüsse auf sechs Jahre. Die hier nicht im Detail zu erläuternden Wahlbestimmungen gewährten den Höchstbesteuerten, die nun durch eine Drittelung des Ortssteuerkapitals ermittelt wurden, deren Zahl aber mindestens ein Zwanzigstel der Ortsbürgerschaft betragen musste, im Sinne eines echten Dreiklassenwahlrechts noch einmal zusätzlichen Vorrang.
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2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Dass dieses Kalkül auf einer Fehlinterpretation der sozialen Basis der liberalen Bewegung im dörflichen Raum beruhte, sollten freilich gleich die ersten derartigen Ausschusswahlen enthüllen.124
2.5 Rechtliche Faktoren der Sozial Verfassung Wie in der Skizzierung der Kommunalordnung angeklungen ist, fußte die Sozialverfassung der ländlichen Siedlungen während des gesamten Zeitraums in fundamentaler Weise auf dem Prinzip der Bürgergemeinde.125 Durchweg knüpften sich an die Stellung als Ortsbürger die maßgeblichen korporativen Mitwirkungskompetenzen auf den Gebieten der Selbstverwaltung, der Wirtschaftsgenossenschaft und seit 1819 auch der Territorialwahlen. Der Zugang zu diesem privilegierten Status, d.h. der Antritt des Bürgerrechts seitens Ortsgebürtiger und mehr noch dessen Erwerb durch Auswärtige, war deswegen ein sensibles Thema. Folglich bargen die staatliche Normierung der Aufnahmekriterien und die Begründung qualifizierter Zulassungsansprüche, wie sie besonders die Gemeindegesetze von 1831 verankerten, erheblichen Sprengstoff.126 Außer den Vollbürgern lebte in den meisten Dörfern eine Reihe minderberechtigter Beisassen, die von der politischen Partizipation ausgeschlossen waren, jedoch in begrenztem Umfang an den Gemeindenutzungen (v.a. Allmende, Gabholz) teilhatten.127 Im Zuge der Reformen von 1831 wurde solchen Schutzbürgem gleichsam über Nacht das uneingeschränkte Ortsbürgerrecht verliehen. Der Umwälzungseffekt dieses von Anfang an umstrittenen Neubürgerschubs hing naturgemäß vom Bevölkerungsgewicht der Beisassen ab, das am unteren Neckar eher gering ausfiel.128 Auch für den badischen Durchschnitt aber sind die lange kolportierten drastischen Daten, nach denen die Zahl der Gemeindemitglieder schlagartig um zwei Drittel gestiegen sei, inzwischen relativiert worden. Laut Manfred Hörner kam es lediglich zu einem mitderen Zuwachs um maximal ein Fünftel.129
Vgl. Abschnitt 5.4.1. Der Übergang von der Bürger- zur Einwohnergemeinde wurde gesetzlich für die größeren Städte erst 1874 und für mittlere und kleinere Gemeinden 1890 bzw. 1896 vollzogen; vgl. Leiser, Einwohnergemeinde, S. 56-59. 126 Zu den Einzelbestimmungen und exemplarischen Konflikten vgl. Abschnitt 4.2.1. 127 In dieser Beziehung glich ihr Rechtsstatus dem der bürgerlichen Witwen. 128 Vgl. Kapitel 3.1. 129 Fröhlich, Gemeindegesetze, S. 2 3 f . , nannte 1854 in reaktionär-apologetischer Absicht das nicht näher belegte Verhältnis von 120.000 Orts- zu 80.000 Schutzbürgern am Vorabend der Gemeindeordnung. Die Zahlen werden ungeprüft zitiert von Ott, Baden, S. 601, Leiser, Einwohnergemeinde, S. 49, Croon, Gemeindeordnungen, S. 252, und noch Treichel, Verwaltungsmodernisierung, S. 80. Hörner, Wahlen, S. 140, rechnet dagegen plausibel vor, dass lediglich 25.000 bis 30.000 Personen zusätzlich in den Genuss voller politischer Mitbestimmungsrechte kamen. Höhere Werte mögen sich indes ergeben, wenn man die Ausweitung wirtschaftsgenossenschaftlicher Teilhabebefugnisse zugrunde legt. 124
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2.5 Rechtliche Faktoren der Sozialverfassung
63
In ökonomischer Hinsicht waren die Bürger und Beisassen im Wesentlichen identisch mit dem Kreis der selbständigen männlichen Haushaltsvorstände. Lässt sich für deren Frauen, Witwen und Kinder noch eine sekundäre Gemeindezugehörigkeit ableiten, müssen zwei andere dörfliche Schichten in jeder Hinsicht als unterbürgerlich bezeichnet werden: zum einen die in den Quellen schwer greifbaren, quantitativ zumeist unbedeutenden bloßen Einwohner;130 zum anderen das fremder Hausherrschaft unterworfene, in der Regel unverheiratete Gesinde. Keine der beiden Gruppen trat als Akteur oder selbst nur Objekt politischen Handelns erkennbar in Erscheinung. Rechtliche Benachteiligungen galten zudem für Juden. Die Frage ihrer Emanzipation und ortsbürgerlichen Gleichstellung war ein Problem, dem während der 1830/40er Jahre in der Region punktuell lokale Brisanz anhaftete.131 Grundlegend für das dörfliche Beziehungsgefüge, aber auch von Einfluss auf das Verhältnis von Landkommunen und Obrigkeit war die soziale Differenzierung der eigentlichen Ortsbürgerschaft. Da auf dieser Ebene im pfalzischen Raum personenrechtliche Bindungen wie die Leibeigenschaft als Distinktionsdimension weithin ausschieden,132 resultierte die Abstufung primär aus der Ungleichverteilung der Bodenressourcen. Sie blieb bis ins frühe 19. Jahrhundert jedoch in gewissem Grade ständisch akzentuiert. Dies rührte zum einen daher, dass sich die kollektiven Nutzungen (namentlich der Weidegang) — in jedem Fall faktisch und zudem häufig durch lokales Statutarrecht gestützt — auf die vieh-, vor allem pferdebesitzenden Gemeindemitglieder verengten.133 Zum anderen förderte die gebräuchliche Trennung der fronpflichtigen Haushalte in Spann- und Handfröner eine dichotomische Überformung des Sozialspektrums, zumal sie dem ökonomisch relevanten und prestigeträchtigen Merkmal der Pferdehaltung folgte.134 Gewohnheits- und formalrechtliche Abgrenzungen solcher Art begüns-
Es handelte sich hierbei überwiegend um Einlieger ohne eigenen Hausbesitz, die sich wie viele Knechte und Mägde oft nur temporär in der Gemeinde aufhielten. »1 Vgl. Kapitel 5.3 und 5.4.4.
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Nach Andermann, Leibeigenschaft, S. 73f., hatte wegen der früh konsolidierten Orts- und Landesherrschaft „die Leibeigenschaft in weiten Teilen des Pfälzer Territoriums schon am Ausgang des Mittelalters ihre einstige Bedeutung verloren; an ihre Stelle war dort unter weitgehendem Verzicht auf Leibzins und Hauptrecht [...] eine allgemeine, territorial bezogene und von der Leibeigenschaft säuberlich unterschiedene Untertanenschaft getreten." Gleichlautend Schaab, Siedlung, S. 509-515. Auch Frondienste galten hier nicht als Ausfluss der Leibeigenschaft, sondern der Grund- und vor allem Ortsherrschaft; vgl. Andermann, Leibeigenschaft, S. 71.
133
Neben dem Ausschluss gänzlich viehloser Familien ist im rechtlichen Bereich etwa an besitzabhängig gestaffelte Viehausschlagsordnungen oder an die Privilegierung der größeren Bauern im Allmendezugang zu denken, wie sie z.B. in Feudenheim mit der Gruppe der „Doppeltbegüterten" existierte. Zur Fronorganisation vgl. Schölten, Fronwesen. Die daran angelehnte Sozialterminologie mochte von Ort zu Ort schwanken: z.B. „Pferdebauern" vs. „Tagelöhner und Beisassen" (Käfertal), „Fuhrbürger" vs. „Handbürger" (Seckenheim), „Bespannte" vs. „Unbespannte" (Feudenheim) oder „Großbegüterte" vs. „Minderbegüterte" (Neckarau). Stets war aber die durch das Fronwesen stabilisierte Demarkationslinie endang des Pferdebesitzes gemeint; vgl. Grüne, Rhetorik.
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64
2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
tigten ein duales Gesellschaftsbild, das den fließenden Charakter der Schichtübergänge — besonders die Existenz einer halbbäuerlichen Mittelgruppe von Kuhwirten — ausblendete und in Konfliktsituationen eine Polarisierungsdynamik entfalten konnte. 135 Diese starre Opposition schliff sich in dem Maße ab, wie die Individualisierung des Allmendewesens seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und die Aufhebung der Frondienste in den 1820/30er Jahren die Ortsbürgerschaft ständisch nivellierten. 136 Die gesetzlich induzierte oder flankierte Dekorporierung betraf somit vorrangig die innergemeindliche Rechtsgleichstellung und ließ die Bodenausstattung und das Wirtschaftsprofil der Haushalte in ihrer sozialen Platzierungsfunktion markanter hervortreten. Die Besitzstruktur wurde zum einen von dem sowohl im kurpfalzischen als auch im neuen badischen Landrecht von 1809 als Intestaterbfolge festgeschriebenen Prinzip der egalitären Realteilung bestimmt. 137 Sie koppelte die zeitlich und räumlich variierende Ausprägung flacher oder steiler Sozialhierarchien in erster Linie an demographische Fluktuationen und die kumulative Wirkung familialer Grunderwerbs- und Heiratsstrategien. In der Regel kristallisierte sich dabei eine geringere Vermögensspreizung heraus, als sie für Anerbengebiete kennzeichnend war. 138 In welchem Umfang dieser Faktor allerdings zum Tragen kam, richtete sich zum anderen nach den lokalen Proportionen der Besitzrechte. Denn von deren beiden Hauptkategorien unterlag nur bäuerliches Eigen, das allenfalls schwach zinsbelastet war, keinen nennenswerten Dispositions- und damit Fragmentierungsbeschränkungen. Grundherrliche Güter im (Ober-)Eigentum 135 Vgl. genauer zur Sozialstruktur Abschnitt 3.2.2 und zur Orientierungskraft im Konflikthandeln Kapitel 4.1. 136
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Zu den Allmendereformen und ihren rechtlichen Grundlagen in der Kurpfalz und in Baden vgl. Grüne, Individualisation, sowie Abschnitt 3.3.2. Die Ablösung bzw. Aufhebung der meisten Fronarten wurde 1820 und dann vor allem 1831 durch mehrere, hier nicht näher zu erläuternde Gesetze eingeleitet; vgl. von Hippel, Sozialgeschichte, S. 523f. Zum Konfliktpotential der Entfeudalisierung vgl. Abschnitt 4.2.3. Zur strikt egalitären Intestaterbfolge vgl. Churfürstlicher Pfaltz Landrecht (1657), Teil 4: Gemeine Erbschaften oder Successionibus ab intestato, bes. Titel 3: Wie natürliche und zugleich eheliche Kinder erben, S. 448f. Auch im Passus zur testamentarischen Erbfolge, der hohe Pflichtteile stipulierte, werden Eltern generell ermahnt, „gleichheit under ihren kindern zu halten / damit desto mehr lieb / treu und einigkeit zwischen den geschwisterigen erhalten werde." Ebd., S. 396. Zur Vorläuferfassung von 1582 vgl. Kern, Landrecht, bes. S. 280f. Hiernach bedeutete „das Intestaterbrecht des Pfälzer Landrechts [...] in der Geschichte dieser Rechtsmaterie in Deutschland wohl den höchsten Grad der Romanisierung." Ebd., S. 281. Im badischen Landrecht von 1809, einer Adaption des französischen Code Civil, finden sich die einschlägigen Regelungen in den Sätzen 745-755; Landrecht Baden (1846), S. 126ff. Dazu auch Dölemeyer/Buchholz/Kundert, Kodifikation, S. 1443-1449,1679-1701. Zu den Schichtungseffekten unterschiedlicher Erbsysteme mit weiterführender Literatur zur sozialstrukturellen Varianz in Realteilungsgebieten vgl. Grüne/Konersmann, Gruppenbildung, S. 568f., 571 f. Dass die Realteilung im Untersuchungsraum auch tatsächlich praktiziert wurde, erweist ein Blick auf die vereinzelt überlieferten Verlassenschaftsakten. Vollständig erfasst wurde diese Quellengattung im Rahmen eines Katalogisierungsprojekts bislang indes nur für die Stadt Mannheim; vgl. http://www.stadtarchiv.mannheim.de/va (zuletzt aufgerufen 29.8.2010).
2.5 Rechtliche Faktoren der So2ialverfassung
65
der Hofkammer bzw. des Domänenärars, geistlicher Körperschaften oder des Adels hingegen wurden meist in kompakteren Einheiten als Erb- oder Temporalbestand verliehen und gerieten in Phasen des Bevölkerungswachstums lediglich gebremst in einen etwaigen Zersplitterungssog.139 Ein hoher Anteil derart feudal gebundener Liegenschaften in einer Gemarkung korrelierte deshalb häufig mit einer Aufspaltung in eine Minderheit größerer Bauern und eine Mehrzahl landarmer Haushalte. In solchen Fällen konnten sich mittel- und kleinbäuerliche Strukturen mit einer starken Streuung des Bodenbesitzes oft erst herausbilden, als im 19. Jahrhundert der Prozess der AUodifikation an Fahrt gewann.140 Auf dem Feld der Agrarreformen hatte Baden wie seine Nachbarterritorien in der Rheinbund- und frühen Restaurationszeit keine fühlbaren Anstrengungen unternommen, nicht zuletzt weil eine Antastung des hergebrachten Abgabensystems auch die fiskalische Basis der oft noch patrimonial verwurzelten Herrschaftsordnung unterhöhlt hätte.141 Nach der administrativen, finanzpolitischen und konstitutionellen Reorganisation wurde unter liberalem Druck dann aber eine Gesetzgebung zur Entfeudalisierung eingeleitet, die insgesamt verhältnismäßig bauernfreundliche Züge trug.142 Erstens wurden 1820 die Grundgülten und Zinsen zum neun- bis achtzehnfachen Jahresbetrag für ablösbar erklärt. Die Durchfuhrung verlief zwar stockend, war im Zuständigkeitsbereich der Domänenverwaltung bis 1853 jedoch nahezu abgeschlossen.143 Zweitens wurde 1825 eine Reihe von Gefällen steuerartiger, gewerblicher und gerichtsherrlicher Natur — sogenannte alte Abgaben — gegen eine Staatsentschädigung in Höhe des zwanzigfachen Jahreswerts aufgehoben. Die bis 1831 an die Berechtigten geleisteten Kompensationszahlungen von knapp fünf Millionen Gulden stellten für die Pflichtigen mithin keine direkte Bürde dar.144
139 Vgl. für die Zenten Schriesheim und Kirchheim Schaab, Sozialstruktur, S. 239ff., 251ff.; zum kurpfälzischen Oberamt Alzey im 18. Jahrhundert Mahlerwein, Herren, S. 20-24. Allgemeiner zu Südwestdeutschland Schaab, Siedlung, S. 532-537. Quantitative Angaben für den Betrachtungsraum in Abschnitt 3.2.2. 140
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Im Untersuchungsgebiet lässt sich diese Verschiebung besonders deutlich anhand der Gemeinde Plankstadt beobachten; vgl. auch Kapitel 3.4. Zur Konservierung der herrschaftlichen und fiskalischen Elemente der überkommenen Agrarverfassung in Süddeutschland zwischen 1800 und 1820 vgl. von Hippel, Agrarreform; ders., Problem. Im Überblick zur badischen Grundendastung vgl. Dipper, Bauernbefreiung, S. 82-85; von Hippel, Sozialgeschichte, S. 520-531. Zur Fronablösung vgl. Anm. 136. Gesetz vom 5.10.1820; vgl. Zeile, Grundendastung, S. 232-236; Kohler, Bauernbefreiung, S. 107110. Nach Kohler liegt „aus dem landesherrlichen Domänenerar [...] eine Teilübersicht vom Jahre 1853 vor, die anzeigt, daß im Ganzen Zinsen und Gülten im Wert von 100.000 fl. Jahresertrag abgelöst wurden und der Ablösungsprozeß fast beendigt sei. [...] Von der Ablösung [...] in nicht domänenerarischen Gebieten liegen [...] keine Zentralakten vor." Ebd., S. 109. Gesetz vom 14.5.1825; vgl. ebd., S. 99-106; Zeile, Grundentlastung, S. 215-218.
66
2. Natürliche und institutionelle Rahmenbedingungen
Drittens kam per Gesetz vom 15. November 1833 nach zähen Vorbereitungen die Zehntablösung auf breiter Front in Gang.145 Diese weitaus gewichtigste Feudalabgabe sollte gemeindeweise zum Zwanzigfachen des jährlichen Reinertrags veranschlagt und die daraus erwachsende Kapitalschuld zu einem Fünftel vom Staat übernommen werden. Die Restsumme mussten die Pflichtigen binnen fünf Jahren entrichten, konnten dazu aber einen langfristigen, mit vier Prozent verzinsten Kredit der neuen Zehntschuldentilgungskasse beanspruchen. In der ,,größte[n] Kapitalumschichtung des gesamten Grundentlastungsprozesses"146 wechselten bis 1857, als 5.684 der 5.751 Zehntberechtigungen abgelöst waren, rund 40,5 Millionen Gulden den Besitzer. Schon bis 1843 war gut die Hälfte der Verfahren mit fast zwei Dritteln des Kapitalvolumens vertraglich besiegelt worden.147 Allerdings zeigte der Fortgang des Geschäfts enorme Diskrepanzen zwischen den einzelnen Empfangergruppen. Während bereits über neunzig Prozent der Zehnten des Domänen- und Forstärars abgewickelt waren, betrug die Quote bei den Standes- und Grundherren weniger als sechzig Prozent, für die Pfarrdienste und kirchlichen Rezepturen gar nur ca. dreißig Prozent.148 Verzögerungen traten vielfach deswegen auf, weil die nötige Ermittlung von in Abzug zu bringenden Baulasten der Zehntberechtigten Komplikationen hervorrief. Seitens der Standes- und Grundherren kam oft freilich auch eine reformfeindliche Verschleppungstaktik hinzu. Viertens ging es um die Allodifikation von Erb- und Schupflehen, für deren aggregative Quantifizierung es indes an Datenmaterial mangelt.149 Durch Übereinkunft zwischen dem Inhaber des dominium directum und des dominium utile war ein Abkauf zur Umwandlung in Volleigentum stets möglich. Gesetzlichen Auftrieb erhielt dieser Schritt 1826, als die Staatsdomänen für ablösbar erklärt wurden. Eine Ausdehnung auf andere Güter scheiterte aber, so dass sich für weitere zwanzig Jahre der Grad der Privatisierung nach der Kompromissbereitschaft der Lehensgeber bemaß, unter denen Am 28.12.1831 war der Neubruchzehnt mit einem Jahreswert von 41.700 Gulden entschädigungslos aufgehoben und die Ablösbarkeit des Blutzehnten gegen den fünfzehnfachen Reinertrag (Gesamtkapital von 133.438 Gulden bis 1836 abgetragen) je zur Hälfte durch Staat und Gemeinden dekretiert worden. Speziell zur Zehntablösung vgl. Kohler, Bauernbefreiung, S. 117-122; Kopp, Zehentwesen, S. 78-145; Zeile, Ständeversammlung, S. 217-222; dies., Grundendastung, S. 201-212. Zur Mobilisierung einer liberalen, auch ländlichen Öffentlichkeit im Umfeld des Zehntgesetzes von 1833 vgl. Abschnitt 5.4.2. 146 Kohler, Bauernbefreiung, S. 121. ™ Nämlich 3.078 (53,52 Prozent) der Zehntberechtigungen und 26.092.721 Gulden (64,35 Prozent) des Ablösungskapitals; diese und die folgenden Daten errechnet nach Kopp, Zehentwesen, S. 118f. 148 (1) Domänen- und Forstärar: 1.414 von 1.522 Berechtigungen (92,90 Prozent) und 16.651.235 von 17.390.583 Gulden Ablösungskapital (95,75 Prozent). (2) Standes- und Grundherren: 483 von 885 Berechtigungen (54,58 Prozent) und 4.543.708 von 7.960.653 Gulden Kapital (57,08 Prozent). (3) Pfarrdienste und kirchliche Rezepturen: 699 von 2.083 Berechtigungen (33,56 Prozent) und 3.405.484 von 11.449.702 Gulden Kapital (28,24 Prozent). Auf diese drei Inhaberklassen entfielen zusammen 78,07 Prozent der Besitztitel und 90,76 Prozent der Ablösungskapitalien. 149 Vgl. Zeile, Grundendastung, S. 226-232; Kohler, Bauernbefreiung, S. 128f. 145
2.5 Rechtliche Faktoren der
So2ialverfassung
67
sich erneut die Mediatisierten aus finanziellen und herrschaftlichen Erwägungen am beharrlichsten an den Status quo klammerten.150 Erst 1848/49 wurde ein Gesetz verabschiedet, das auf Antrag einer der beiden Parteien die obligatorische Allodifikation zum Sechzehn- bis Achtzehnfachen des Lehenszinses (Kanons) sowie zu ein bis elf Prozent des Gutswerts (für das Heimfallrecht) vorschrieb und den Transformationsprozess beschleunigte.151 Die badische Grundentlastung genießt in der Forschung einen guten Leumund. Wolfgang von Hippel zufolge wurde sie „vorrangig zugunsten der bisherigen Pflichtigen konzipiert und durchgeführt", die sich dank des „relativ niedrige [n] Ablösungsmaßstabfs]" und der Einrichtung von Tilgungskassen „normalerweise kaum in gefahrlicher Weise verschulden [konnten]."152 Damit deckt sich die Einschätzung Christof Dippers, der das „Leitmotiv der gesamten Reformen" in einem „ausgeprägte [n] Sozialprotektionismus" und den Staat in der Rolle eines „entschlossene [n] Beschützer[s] bäuerlicher Interessen" sieht.153 Solche Urteile bedürfen in Anbetracht der Implementierungshemmnisse in den standesherrlichen Gebieten gewiss einer zeitlichen und räumlichen Differenzierung. Festzuhalten ist mit Blick auf die politisch-soziale Entwicklung der Untersuchungsregion aber in der Tat, dass in staatsunmittelbaren Ämtern wie Ladenburg und Schwetzingen, in denen neben bäuerlichem Eigen relativ simple, pachtähnliche Leiheformen dominierten und das Gros der Bodengülten und Zehnten dem Domänenärar zufloss, von einem gravierenden agrarverfassungsrechtüchen Modernisierungsdefizit zur Mitte der 1840er Jahre schwerlich die Rede sein konnte.154 Wie Beispiele vom unteren Neckar belegen, entzündeten sich allerdings an den genauen Modalitäten — etwa an der Berechnung der Zehntablösungskapitalien — nicht selten erbitterte Auseinandersetzungen.155
150
Das Dekret datierte vom 16.6.1826. Köhler nennt noch drei weitere „Direktiven [...] für die domänenärarischen Bauern" vom 25.11.1809,3.2.1815 und 27.5.1845, ohne aber auf ihren Inhalt einzugehen. Ebd., S. 128.
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Das Gesetz wurde am 18.4.1848 beschlossen, aber erst am 21.4.1849 publiziert. Laut Kohler wurden die „meisten Erb- und Schupflehen [...] im Verlaufe der nächsten 10 Jahre abgelöst." Ebd., S. 129.
152 Von Hippel, Sozialgeschichte, S. 526, 528f. Dipper, Bauernbefreiung, S. 1 1 4 , 1 0 2 . Das im Banne der ländlichen Unruhen in der Anfangsphase der Revolution erlassene Gesetz zur Aufhebung aller noch bestehenden Feudalrechte (außer Erb- und Schupflehen) gegen billige Entschädigung vom 10.4.1848 hatte in solchen Gegenden denn auch nur noch geringe praktische Bedeutung. 155 Vgl. Abschnitt 4.2.3. 153
154
3. Dorfgesellschaft: demographische und sozioökonomische Entwicklungsprozesse Die Wechselverhältnisse zwischen Bevölkerungsentwicklung, Schichtungsgefiiige und agrarwirtschaftlichem Wandel steckten den sozioökonomischen Rahmen politischer Kommunikation in den Dörfern der badischen Rheinpfalz ab. Die Überschreitung bisheriger demographischer Expansionsgrenzen, wie sie in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausprägung zu Beginn dieses Kapitels rekonstruiert wird (3.1), war eine Erscheinung, die von einer weithin ländlich-vorindustriellen Gesellschaft hervorgebracht wurde und verkraftet werden musste. Die tieferen Ursachen dieses Vorgangs sind nach wie vor nur unvollkommen geklärt1 und können im vorliegenden Kontext lediglich gestreift werden. Seine Auswirkungen auf Besitz- und Erwerbsstrukturen hingegen, die im zweiten Abschnitt untersucht werden (3.2), standen in unmittelbarem Zusammenhang mit den lokalen Sozialbeziehungen, die ihrerseits die politische Handlungsfähigkeit des Dorfes und örtlicher Gruppen beeinflussten. Obwohl die allgemeine Tendenz zweifellos auf ein überproportionales Anschwellen der Unterschichten hinauslief, konnten deren numerisches Gewicht und ökonomische Situation ganz erheblich differieren.2 Eine entscheidende Rolle spielten dafür die Formen, in denen der intergenerationelle Ressourcentransfer vonstatten ging. Wenn es auch vielfaltige Abstufungen und Gestaltungsfreiheiten zwischen den Extremtypen des reinen Anerbenrechts und der strikt egalitären Realteilung gab, führte die in der Pfalz gebräuchliche Teilbarkeit des Bodeneigentums bei wachsender Bevölkerung und fehlenden Landreserven doch unweigerlich zu einem Schrumpfen der durchschnittlichen betrieblichen Nutzfläche.3 Damit waren indes nicht notwendig die Weichen für einen schleichenden Nivellierungs- und Verelendungsprozess gestellt, denn der rechnerische Zersplitterungseffekt brach sich häufig an einer vermehrt endogamen Heiratsstrategie der vollbäuerlichen Familien. Wie David Sabean am Beispiel des württembergischen Dorfs Neckarhausen veranschaulicht hat, ebnete dies gerade unter dem Eindruck demographischer Risiken im 18. Jahrhundert überhaupt erst einer dezidiert klassenmäßigen Schichtung der ländlichen Gesellschaft den Weg.4 Wurde der übrigen Bevölkerung mit der zunehmenden 1
2 3 4
Gegenüber dem früher hervorgehobenen Rückgang der Mortalität werden seit einiger Zeit Nuptialität (Heiratsalter, Verehelichungsquote) und vor allem Natalität (innereheliche Fruchtbarkeit) als kritische Variablen betont; vgl. Pfister, Bevölkerungsgeschichte, S. 35, 80, 94f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 70; Dipper, Übergangsgesellschaft, S. 63f.; Benz, Population, S. 55; anders noch Rödel, Entwicklung, S. 34; Saalfeld, Landwirtschaft, S. 103. Wie deren Veränderung im Umfeld lokaler Sozialsysteme zu verorten ist, wurde aber erst punktuell beleuchtet. Vgl. Mooser, Unterschichten. Vgl. Berkner/Mendels, Inheritance, S. 213, 217; Benz, Population, S. 48-51. Vgl. Sabean, Property, S. 23, 26ff., 66-70, 238-246, 423-427; ders., Kinship, S. 37-62, 170-206; ähnlich für rheinhessische Dörfer Mahlerwein, Herren, S. 104-108.
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3. Dorfgesellschaft
und von ihr nolens volens mitvollzogenen sozialen Selbstrekrutierung der Ressourcenzugang erschwert, bewahrte sie die breite Streuung von Grundeigentum durch Realteilung in aller Regel aber vor dem Schicksal blanker Landlosigkeit. Traten Rechte an der Ackerallmende hinzu, wie sie jedem Gemeindebürger in der Pfalz nach den Weideseparationen meist gebührten, kamen für viele Haushalte unterhalb des spannfahigen Bauerntums Bodenflächen zusammen, die zumindest die Fütterung einer Kuh und die Erzeugung einiger Lebensmittel gestatteten. Der Wert solcher Parzellen stieg noch beträchtlich, sobald man sich auf ihre gewerblich-kommerzielle Nutzung spezialisierte, sei es zur Anpflanzung von Flachs für die eigene Leinenweberei,5 sei es zum arbeitsaufwendigen Anbau lukrativer Handelsgewächse (Waid, Krapp, Hopfen, Tabak etc.), deren Gelderlös den Kauf von ungleich mehr Getreide erlaubte, als wenn man es selbst hergestellt hätte.6 Derartigen, die lokalgesellschaftliche Kohäsion stärkenden Intensivierungsprozessen widmet sich der dritte Abschnitt (3.3), bevor am Ende der Frage nachgegangen wird, in welchem Maß die Dörfer des Betrachtungsgebiets jeweils von diesen Veränderungen profitierten (3.4).
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck Bevölkerungsgeschichtlich zerfallt die Zeit vom Westfälischen Frieden bis ca. 1850 im deutschsprachigen Mitteleuropa grob in drei Wachstumsperioden.7 Während der ersten Etappe, die mit zum Teil erheblichen regionalen Diskrepanzen bis in die Anfänge des 18. Jahrhunderts dauerte, füllten sich zunächst die kriegs-, seuchen- und fluchtbedingten Lücken der vorigen Dekaden. Auf die Rekuperationsphase folgte nach kurzen Stockungen von etwa 1750 an eine zweite Welle, die nun vielerorts die Einwohnerzahlen auf ein ungeahntes Niveau hob. Nach 1800 verlangsamte sich der Prozess vorübergehend, um seit Ende der napoleonischen Ära neuen Auftrieb zu erhalten, der die Dynamik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oft noch einmal deutlich übertraf. So stieg die deutsche Bevölkerung (im Reichsgebiet von 1871), nachdem sie 1700 mit 15-17 Millionen mehr oder weniger auf den Vorkriegsstand zurückgekehrt war, über 18-20 Millionen um 1750 (0,35-0,40 Prozent per annum) auf 23-24 Millionen gegen Ende des Jahrhunderts (0,30-0,55 Prozent p.a.), womit sie bei einer durchschnittlichen Dichte von 40-45 Personen je Quadratkilometer anlangte. In einigen Gegenden nahm die Einwohnerschaft von 1740/50 bis 1800 um fünfzig, mitunter sogar fast hundert Prozent (Schlesien: 0,94 Prozent p.a.) zu, was ungefähr den für denselben Zeitraum ermittelten Spitzenraten von England und Wales (0,8 Prozent p.a.) entsprach. 5 6
7
Vgl. z.B. zur kleinagrarisch-heimgewerblichen Verflechtung Medick, Laichingen, S. 157-205. Zu realteilungstypischen Produktivitätsimpulsen vgl. aus demographischer Sicht Benz, Population, S. 50f. Das Folgende nach Pfister, Bevölkerungsgeschichte, S. 15-23, 78ff.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 67-70, und Bd. 2, S. 7-24; Saalfeld, Landwirtschaft, S. 102f.; Rödel, Entwicklung, S. 24-27, 36ff.; Dipper, Übergangsgesellschaft, S. 60-64; Benz, Population, S. 39f., 58.
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
71
Wie im nassau-oranischen Fürstentum Siegen zwischen 1743 und 1768 traten mit eineinhalb Prozent p.a. kurzfristig selbst schon Werte auf, „die in anderen Regionen Deutschlands erst in der Phase der Hochindustrialisierung erreicht wurden."8 Der Deutsche Bund verzeichnete 1816-1855 eine mittlere Zunahme von 1,09 Prozent p.a., wobei die Daten der einzelnen Staaten zwischen 0,26 Prozent in Waldeck und 1,38 Prozent in Sachsen schwankten, regional aber auch außerhalb städtischer Ballungszentren wesentlich höher klettern konnten (z.B. Pommern: 2,3 Prozent p.a.). Allerdings sind hier die bisweilen sehr unterschiedlichen Ausgangsniveaus zu berücksichtigen. Das Königreich Württemberg etwa rangierte mit 0,61 Prozent p.a. zwar auf einem der hinteren Plätze, gehörte jedoch ohnehin bereits zu den am stärksten besiedelten Territorien (1818/49: 82 bzw. 91 Menschen je Quadratkilometer). Die Kurpfalz fügt sich zwar global in dieses Muster ein, weist jedoch einige auffällige und für die Chronologie demographischer Spannungslagen bedeutsame Abweichungen auf. Nach den mit 75 Prozent horrenden Bevölkerungsverlusten des Dreißigjährigen Kriegs9 wurde die allmähliche Peuplierung des restituierten Fürstentums schon gegen Ende des Jahrhunderts fast komplett wieder zunichte gemacht. Der Orleansche Erbfolgekrieg (1688-1697), in dessen Verlauf französische Truppen weite Landstriche am Oberrhein verwüsteten, halbierte vielfach abermals die Einwohnerzahl.10 Zudem gelangte mit dem Aussterben des reformierten Kurhauses 1685 eine katholische Linie der Wittelsbacher an die Regierung, deren zunehmend repressive Religionspolitik einen anschwellenden, seit 1709 in die erste Woge der Amerikaauswanderung mündenden Strom protestantischer Flüchtlinge auslöste.11 Begleitet wurden diese Turbulenzen von tiefgreifenden ethnischen und konfessionellen Umschichtungen, da nach dem Westfälischen Frieden zunächst vorwiegend Neusiedler aus dem evangelischen Europa (z.B. Schweizer, französische Hugenotten und Wallonen, savoyische Waldenser) zuzogen, während im frühen 18. Jahrhundert Katholiken (v.a. aus Franken, Tirol, Vorarlberg, Oberitalien) die Mehrheit der Immigranten bildeten.12 Durch die Polnischen und Österreichischen Sukzessionskriege (1733-1735/38, 1740-1745) zum Teil wiederum in Mitleidenschaft gezogen, verzögerte sich die Rekuperation in der Kurpfalz somit erheblich, und die Kernphase der Expansion rückte in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.13 Auf der Ebene größerer Verwaltungseinheiten lassen sich diese Wechsellagen infolge lückenhaften Zahlenmaterials quantitativ allerdings nur schemenhaft demonstrieren. Immerhin kann für das Oberamt Heidelberg, dem die meisten Untersuchungsorte angehörten, gezeigt werden, dass die Wachstumsgeschwindigkeit von 0,9 Prozent p.a. zwischen 1727 und 1774 in den folgenden siebzehn Jahren (1774-1791) spürbar auf
Pfister, Bevölkerungsgeschichte, S. 24. Vgl. Schaab, Siedlung, S. 496. 10 Exemplarisch Fetzer, Edingen, S. 72-75. 11 Vgl. Kollnig, Bevölkerungsbild, S. 13-25; Musall/Scheuerbrandt, Kriege, S. 369-372. 12 Vgl. etwa für Seckenheim Probst, Landesgeschichte, S. 8, 18f. » Vgl. von Hippel, Kurpfalz, S. 187f.
8
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72
3. Dorfgesellschaft
1,75 Prozent p.a. anstieg (Graphik 1 im Anhang). Noch höher fiel die Rate währenddessen mit 2,11 Prozent p.a. im benachbarten Oberamt Ladenburg aus.14 Die ganze Kurpfalz hingegen erzielte im selben Zeitraum nur ein Plus von 1,04 Prozent p.a. Daraus resultierte — fasst man die Ämter Heidelberg und Ladenburg zusammen — am rechten Ufer des nördlichen Oberrheins schon 1791 eine beachtliche Einwohnerdichte von 81 Personen je Quadratkilometer.15 Im Großherzogtum Baden nahm die Bevölkerung vom Wiener Kongress bis 1846 ungebrochen, aber vergleichsweise moderat um insgesamt 36 Prozent bzw. durchschnittlich ein Prozent p.a. zu, bevor sie sich im Zeichen von Teuerungskrise, Revolution und Emigration anfangs leicht (1846-1849: -0,35 Prozent/0,12 p.a.), dann merklich (1849-1855: -3,52 Prozent/0,6 p.a.) dezimierte.16 Nach Meinung des zeitgenössischen Statistikers Adam Ignaz Valentin Heunisch beruhte der Anstieg bis Mitte der 1840er Jahre hauptsächlich auf Geburtenüberschüssen.17 Die Bezirksämter Ladenburg und Schwetzingen wiesen mit 1,12 bzw. 1,28 Prozent p.a. 1812-1830 sowie 1,37 bzw. 2,00 Prozent p.a. 1830-1846 durchgängig ein höheres Wachstum auf (Graphik 2 im Anhang). Die stärkere Dynamik südlich des Neckars spiegelte einen gewissen Konvergenzprozess, denn 1812 lebten in Ladenburg über 80 Menschen je Quadratkilometer, während es in Schwetzingen nur 57 waren. Bis 1846 sprangen die Werte auf auch für Südwestdeutschland recht hohe 122 bzw. 98 Einwohner je Quadratkilometer, wodurch sich der Abstand zwischen den beiden Ämtern verringerte.18 Nach 1846 schwächte sich der Anstieg zwar in beiden Ämtern ab, zu einem kurzzeitigen Rückgang bis 1849 kam es allerdings nur um Ladenburg, so dass das Untersuchungsgebiet als ein nach bevölkerungsstatistischen Indikatoren relativ krisenresistenter Raum gelten kann.19
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Die Bevölkerung des Oberamts Ladenburg, in dem die Gemeinde Neckarhausen lag, erhöhte sich zwischen 1774 und 1791 von 4.033 auf 5.750 Personen; Generaltabellen Kurpfalz, in: GLA Ka 77/6148 (1774); LA Sp A 2 114/1 (1791). Der Gebietsumfang von 659 (Heidelberg) und 55 (Ladenburg) Quadratkilometern errechnet nach den Angaben in Quadratmeilen bei Höck, Statistische Ubersicht. Die kurpfalzischen Generaltabellen weisen nur landwirtschaftliche Nutzfläche und Wald aus, so dass Kalkulationen auf dieser Basis zu falschen Zahlen gelangen; vgl. etwa die auch im Hinblick auf die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts unrealistisch hohe Ziffer von 104 Menschen je Quadratkilometer für das Oberamt Heidelberg 1792 bei von Hippel, Kurpfalz, S. 186. Nach den badischen Bevölkerungszahlen für 1816 (1.005.899), 1846 (1.367.486), 1849 (1.362.774) und 1855 (1.314.837) in: BSB 1, S. 222, 224. Vgl. auch Griesmeier, Entwicklung, S. 132; von Hippel, Sozialgeschichte, S. 505ff. Vgl. Heunisch, Bevölkerung, S. 47. Danach ergab sich für das Großherzogtum zwischen 1817 und 1844 ein Geburtenüberschuss von 329.308 Personen, der knapp 96 Prozent des Anstiegs der Bevölkerung um 344.031 Einwohner im selben Zeitraum ausmachte. Die Fläche von 137 (Ladenburg) und 202 (Schwetzingen) Quadratkilometern nach den Angaben in Morgen für 1854 in BSB 9, S. 238, 286. 1812 überstieg die Bevölkerungsdichte Ladenburgs diejenige Schwetzingens um 41,10 Prozent, 1846 nur noch um 24,12 Prozent. BZA Ladenburg: 1846-1849 -0,53 Prozent/0,18 p.a.; 1849-1855 3,17 Prozent/0,52 p.a. BZA Schwetzingen: 1846-1849 1,84 Prozent/0,61 p.a.; 1849-1855 6,56 Prozent/1,07 p.a.
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
73
Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in der Pfalz und Rheinhessen 1773/81-1861 Region Westpfalz
Rheinhessisches Hügelland
Vorderpfalz
Badische Pfalz
Jahr 1781 1797 1819 1846 1861 1773 1791 1819 1846 1861 1773 1791 1819 1846 1861 1773 1791 1818 1846 1861
Einwohner 17.294 22.353 71.076 99.772 99.073 36.383 42.216 40.069 53.277 50.062 27.353 35.748 79.331 111.504 116.516 42.764 57.819 24.068 36.650 41.002
Wachstum p.a. (%)
Dichte (pro qkm)
—
—
1,62 —
1,26 -0,05 —
0,83 —
1,06 -0,41
—
66,9 94,0 93,3 ... —
67,9 90,3 84,8
—
—
1,50
—
—
1,27 0,30 —
1,69 —
1,51 0,75
91,0 127,8 133,7 ... —
70,9 108,0 120,8
Regionen: Westpfalz - pfalz-zweibrückische Oberämter Homburg and Zweibrücken (18. Jh.); Landkommissariate/Bezirksämter Homburg und Zweibrücken im bayerischen Rheinkreis (19. Jh.). Rheinhessisches Hügelland - kurpfälzisches Oberamt Alzey (18. Jh.); Landkommissariat/ Bezirksamt Kirchheim im bayerischen Rheinkreis (19. Jh.). Vorderpfalz — kurpfalzisches Oberamt Neustadt (18. Jh.); Landkommissariate/Bezirksämter Neustadt und Speyer im bayerischen Rheinkreis (19. Jh.). Badische Pfalz - kurpfalzische Oberämter Heidelberg und Ladenburg (18. Jh.); badische Bezirksämter Ladenburg und Schwetzingen (19. Jh.). Quellen: Generaltabelle Pfalz-Zweibrücken 1781, in: LA Sp B 24/4; Etat über die Zahl der Einwohner, Erträgnis der Ober und Ämter 1797, in: HStA Mü K.s. 7789; Statistik Bayerns 1, S. 6f.; Statistik Bayerns 10, S. 10; General-Verhältnis Kurpfalz 1773, in: GLA Ka 77/6151; GeneralTabelle Kurpfalz 1791, in: LA Sp A 2/114/1; Bevölkerungstabellen der badischen Bezirksämter 1818, in: GLA Ka 236/2538, fol. 90, 92; Amtliche Beiträge, S. 20f.; BSB 13, S. 60, 66. Flächenangaben: Statistik Bayerns 15 (1866), S. 10-13; BSB 9 (1859), S. 238, 286. Die charakteristische Robustheit des demographischen Impulses in der badischen Pfalz tritt genauer hervor durch eine Kontrastierung mit drei Landschaften auf der linken Seite des nördlichen Oberrheins: der Westpfalz, dem rheinhessischen Hügelland und
74
3. Dorfgesellschaft
der Vorderpfalz (Tabelle l). 20 Bis zur Mitte der 1840er Jahre waren wachsende Einwohnerzahlen eine allen vier Regionen gemeinsame Erfahrung. Danach begannen die Entwicklungslinien deutlicher auseinander zu klaffen. Während die Bevölkerung in der Westpfalz und im rheinhessischen Hügelland — nicht zuletzt wegen steigender Auswanderung — stagnierte oder gar schrumpfte, setzte sich ihr Anstieg in der Vorderpfalz und in der badischen Pfalz, obschon mit gedrosselter Geschwindigkeit, fort. Diese Gabelung liefert einen Anhaltspunkt dafür, dass die soziale Tragfähigkeit innerhalb einer vorwiegend agrarischen Ökonomie in den ersten beiden Fällen erschöpft oder überschritten war, in den letzten beiden aber noch Expansionspotential bot. Im lichte früherer Tendenzen erstaunt diese Divergenz nicht. Das rheinhessische Hügelland zeigte stets die geringste Schubkraft mit den kleinsten Steigerungsraten und sackte im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts auf den untersten Platz in der Bevölkerungskonzentration ab. Die Westpfalz wies trotz eines stürmischen Vormarsches im späten 18. Jahrhundert noch 1819 die niedrigste Dichte auf, was äußerst dürftige Werte vor 1780 vermuten lässt. Mit einer jährlichen Rate von 1,26 Prozent gewann sie bis 1846 dann einen kleinen Vorsprung vor Rheinhessen. Obwohl die Vorderpfalz in dieser Phase nicht schneller wuchs, blieb ihre Stellung als bei weitem bevölkerungsreichste Region unangefochten. Unbeschadet des Aufschwungs in den 1770/80er Jahren war diese Führungsposition erkennbar älterer Herkunft. Innerhalb dieses Ensembles sticht die Dynamik der badischen Pfalz hervor. Zwar hatte sie auch 1861 noch nicht völlig zur linken Rheinebene um Neustadt und Speyer aufgeschlossen, aber es herrschte dort durchgängig das höchste Expansionstempo. Nach der Konzentration um 1820 sowie den Zahlen zwischen 1773 und 1791 zu urteilen, war die badische Pfalz im früheren 18. Jahrhundert dünner besiedelt als das rheinhessische Hügelland, übertraf dessen Bevölkerungsdichte 1846 aber bereits um ein Fünftel. Wechselt man auf die lokale Ebene, so ist zunächst evident, dass es sich bei dem enormen Bevölkerungsanstieg um ein vorrangig ländliches Phänomen handelte (Graphiken 1 und 2). Für die beiden größeren Städte der Region, Heidelberg und Mannheim, die in den Dekaden um 1800 streckenweise in die roten Zahlen gerieten, lassen sich fast durchgängig deutlich geringere Zuwachsraten als für die Summe der zwanzig Dorfgemeinden beobachten. Zwischen 1791 und 1812 schrumpfte Mannheim im jährlichen Durchschnitt gar um 1,40 Prozent und büßte dadurch rund ein Viertel seiner Einwohnerschaft ein.21 Im Ergebnis überflügelte die ländliche Bevölkerung um 1774 diejenige Heidelbergs und um 1812 ließ sie die Mannheimer hinter sich, wobei sie sich
20
21
Der interregionale Vergleich zum nördlichen Südwestdeutschland wird in den Abschnitten 3.2.2 und 3.3.3 für Betriebsgrößen- und Anbauverhältnisse fortgeführt; vgl. detaillierter Grüne, Commerce, S. 75-80. Zu den prozentualen Gesamtveränderungen in verschiedenen Zeitperioden vgl. Tabelle 2 im Anhang. Die Wachstumsschwäche Mannheims „trotz seiner herrlichen Lage und ungeachtet reicher Hülfsmittel" konstatierte 1847 bereits Adam Ignaz Valentin Heunisch in einer statistischen Abhandlung; Heunisch, Bevölkerung, S. 161.
75
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
zwischen 1727 und 1791 und noch einmal bis 1845 in etwa verdoppelte. Die beiden Land- und Amtsstädte Ladenburg und Schwetzingen hingegen expandierten — obgleich zum Teil mit starken Schwankungen und im 19. Jahrhundert etwas gebremst — mehr oder weniger auf einem dörflichen Pfad.
Graphik 1: Einwohnerzahl der Untersuchungsdörfer und einzelner Städte 1727-1855 35000 30000 25000 g 20000
r
G T,
|
15000 10000 5000
0
1727
1774
1791
1812
1830
1845
1855
Jahr • Untersuchungsdörfer B Heidelberg • Ladenburg • Mannheim • Schwetzingen
Datenbasis: vgl. Tabelle 1 und Graphik 3 im Anhang
Bei einem Vergleich der aggregierten geometrischen Jahresraten der Untersuchungsdörfer im zeitlichen Verlauf offenbaren sich demographische Stadien unterschiedlicher Intensität. Aus der Periode bis um 1830 stechen die Jahre 1774-1791 mit einem durchschnittlichen Anstieg von 1,69 Prozent p.a. als eine Zeit besonders heftigen Wachstums hervor, nachdem zuvor (1727-1774) ein deutlich positiver, aber bescheidenerer Wert von 1,10 Prozent p.a. erreicht worden war. Damit entsprachen die Dörfer im Wesentlichen dem geschilderten Trend des Oberamts Heidelberg. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schwächte sich die Entwicklung sichtbar ab. Während der Revolutionsund napoleonischen Ära (1791-1812) sank der mittlere Bevölkerungssaldo auf 1,14 Prozent p.a. und erholte sich auch in der Folgezeit (1812-1830), die wirtschaftlich von Missernten und dann von einer Agrarpreisdepression gekennzeichnet war, zunächst nur auf 1,30 Prozent p.a. Erst im Anschluss daran setzte mit 1,84 Prozent p.a. eine weitere Etappe beschleunigter Expansion ein (1830-1845), die seit der zweiten Hälfte der 1840er Jahre unter dem Eindruck von Agrarkrise, Revolution und Auswanderung in eine Phase relativen Stillstands mündete (0,81 Prozent p.a.).
76
3. Dorfgesellschaft
Graphik 2: Jährlicher Bevölkerungssaldo der Dörfer und einzelner Städte 1727-1855 3,00 2,50 2,00
1,50 1,00
|
ki p*
0,50 0,00
-0,50 -1,00
-1,50 -2,00 Zeitintervall • Untersuchungsdörfer • Heidelberg • Ladenburg • Mannheim • Schweteingen
Datenbasis: vgl. Tabelle 1 und Graphik 3 im Anhang
Hinter diesem Panorama verbargen sich allerdings bisweilen sehr abweichende Erfahrungen der einzelnen Gemeinden, die nur teilweise auf einen regelhaften Nenner zu bringen sind (Tabellen 1 und 2 im Anhang). Am ehesten wird man generalisieren dürfen, dass im 18. Jahrhundert ein markanter demographischer Schub entweder in die erste oder in die zweite Betrachtungsperiode fiel. Die Hauptträger des Wachstums zwischen 1727 und 1774 — unter anderem Hockenheim (2,21 Prozent p.a.), Seckenheim (2,02 Prozent p.a.) und Reilingen (1,78 Prozent p.a.) — legten anschließend recht niedrige Steigerungsraten an den Tag. Umgekehrt hatten die Zugpferde seit 1774 — etwa Friedrichsfeld (4,75 Prozent p.a.), Wallstadt (4,68 Prozent p.a.) und Käfertal (2,27 Prozent p.a.) — zuvor praktisch auf der Stelle getreten. Offenbar war es vor den agrarökonomischen Umwälzungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts lediglich wenigen Dörfern — z.B. Feudenheim und Oftersheim — möglich, eine überdurchschnittlich rasche Ausdehnung längerfristig durchzuhalten. Dagegen scheint sich nach 1800 eine gewisse Verstetigung vollzogen zu haben. Die Steigerungsraten kreisten von 1812 bis 1845 im Großen und Ganzen näher um den Mittelwert von 1,30 bzw. 1,84 Prozent p.a., wobei es der Mehrheit der Orte gelang, ein stabil hohes Wachstum zu erzielen, ohne diesem nach 1845 erkennbar Tribut zollen zu müssen. Erratische Fluktuationen — etwa der exorbitante Aufschwung im ohnehin bereits ansehnlichen Hockenheim oder der plötzliche Einbruch in Schriesheim22 — wurden seltener und von mangelnder Dynamik nach 22
Hockenheim wuchs 1830-1845 um 3,26 Prozent p.a. (zuvor 1,19 Prozent). Schriesheim expandierte 1812-1830 mit überdurchschnittlichen 1,54 Prozent p.a., stürzte aber auf 0,06 Prozent ab.
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
77
regionalen Maßstäben konnte neben dem Ausreißer Schriesheim allenfalls füir Feudenheim und Ilvesheim, vielleicht auch noch füir Neckarau und Seckenheim die Rede sein. Erst 1845-1855 öffnete sich wieder eine breitere Kluft zwischen einer Minderheit stagnierender und schrumpfender Gemeinden - allen voran Neckarhausen, Schriesheim und Heddesheim — und einer größeren Gruppe expandierender Dörfer, zu denen etliche Orte mit stattlichen eineinhalb Prozent jährlichem Wachstum oder mehr gehörten (Edingen, Ketsch, Friedrichsfeld, Brühl, Wallstadt, Käfertal, Sandhofen). Wendet man sich den Ursachen der Aufwärtsentwicklung zu, so ist der Faktor Migration über weite Strecken gering zu veranschlagen. Das gilt sicherlich für durch Fernwanderung bedingte Bevölkerungseinbußen. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert geht aus Werner Hackers Kompilation von Auswanderungsregesten für den unteren Neckarraum hervor, dass in fünfzehn der Untersuchungsgemeinden von 1718 bis 1809 lediglich knapp achthundert Menschen ihrer Heimat mit Zielen vor allem in Übersee und Südosteuropa den Rücken kehrten, d.h. rechnerisch alle zwei Jahre eine Person pro Ort.23 In einzelnen Fällen - namentlich Sandhofen und Schriesheim24 - lassen sich erhöhte Emigrantenzahlen zwar durchaus in Verbindung mit niedrigen Steigerungen zwischen 1727 und 1774 bringen. Umfängliche wachstumsdrosselnde Effekte sind für diese Zeit jedoch nicht festzustellen.25 Tiefere Spuren hinterließ dagegen die Mitte der 1840er Jahre einsetzende und zu Beginn der 1850er Jahre anschwellende Auswanderungswelle. Auf regionaler Ebene sind die Zahlen für 1850 bis 1855 statistisch dokumentiert.26 Bezogen auf den Einwohnerstand von 1849 emigrierten im Amt Ladenburg 4,89 Prozent (0,82 p.a.) und in Schwetzingen 6,51 Prozent (1,08 p.a.) der Bevölkerung, wobei sich die größte Woge mit mehr als vier Fünfteln des Volumens in den Jahren 1852-1854 auftürmte. Die badische Pfalz überschritt damit knapp den Durchschnitt des Unterrheinkreises und des Großherzogtums.27 Lokale Orientierungswerte bieten sich ohne aufwendige Spezialrecherchen zum einen für die acht Gemeinden des Bezirks Ladenburg, die 1853 im Zuge der Ortsbereisungen aufgefordert wurden, die Auswanderung der vergangenen zwanzig Jahre zu be-
23
24 25 26
27
Vgl. Hacker, Auswanderer; auch Fetzer, Edingen, S. 100-105. Nicht erfasst sind Alt- und Neulußheim, Ketsch, Ilvesheim und Neckarhausen. Hackers Arbeit enthält 2.231 Auswanderungsregesten, aus denen für die vorliegende Auswertung die Angaben zu emigrierenden Familienvätern, Frauen, Kindern und ledigen Selbständigen addiert wurden. Für die fünfzehn Sampleorte ergibt sich eine Summe von 767 Personen. Sandhofen: 128 Auswanderer 1727-1773. Schriesheim: 107 Emigranten 1727-1772. So etwa für Neckarau auch Probst, Neckarau, Bd. 2, S. 90. Vgl. BSB 5, S. 28-39. Die offiziell erfasste Auswanderung betrug demnach 1850-1855 im BZA Ladenburg 814, im BZA Schwetzingen 1.320, im Unterrheinkreis 17.486 und im Großherzogtum 62.444 Personen. Unterrheinkreis: 5,02 Prozent der Bevölkerung von 1849 (0,84 p.a.). Großherzogtum: 4,58 Prozent (0,76 p.a.).
78
3. Dorfgesellschaft
Ziffern.28 Danach mussten gemessen an der Bevölkerung von 1845 nur Käfertal und Schriesheim zweistellige Verluste von 11,14 bzw. 11,45 Prozent hinnehmen, was einem jährlichen Abgang von knapp 0,6 Prozent entsprach. Zumindest in Käfertal, das zwischen 1830 und 1855 rapide wuchs, wurde diese Einbuße aber offenbar durch Geburtenüberschüsse und Zuwanderung massiv überkompensiert. Die übrigen Dörfer wiesen mit 0,73 Prozent (0,04 p.a.) in Ilvesheim bis 3,75 Prozent (0,19 p.a.) in Wallstadt hingegen weitaus niedrigere Emigrationsquoten auf. Verlässlichere Daten liegen zum anderen für das Amt Schwetzingen im Zeitraum 1846-1854 auf der Basis behördlicher Registrierungen vor.29 Demzufolge wanderten 1846-1850 aus den zwölf Dörfern dieses Distrikts 347 Menschen und 1851-1854 dann 1.197 Personen aus. Relativ zum Einwohnerumfang von 1845 bedeutete das einen Verlust von 10,48 Prozent bzw. 1,17 Prozent p.a. Dabei schwankten die gemeindlichen Jahresdurchschnitte erheblich zwischen 0,28 bzw. 0,41 Prozent in Friedrichsfeld und Edingen einerseits und 1,68 bzw. 2,28 Prozent in Alt- und Neulußheim andererseits.30 Ein systematischer Zusammenhang mit der oben diskutierten Variation der örtlichen Wachstumsraten schält sich zwar nicht heraus, die allgemeine demographische Bremswirkung der Emigration in dieser Phase steht freilich klar vor Augen. Man muss sich allerdings zumindest für die ersten Jahre hüten, darin ein rein ökonomisches Krisensymptom zu sehen. Denn die 75 Einträge der Auswanderungstabelle notieren für 1846-1850 in 48 Fällen Bauer oder Landwirt als Beruf der wegziehenden Hauptperson31 und das durchschnittlich ausgeführte Vermögen dieser Gruppe belief sich auf rund 1.600 Gulden — das Steuerkapital eines keineswegs unbemittelten halbbäuerlichen Agrarproduzenten mit zwei oder drei Morgen Acker. Zudem befanden sich unter den 75 Nennungen allein sechzig Familienväter mit Frau und/oder Kindern, während es sich bei den restlichen fünfzehn um deutlich jüngere ledige Selbständige handelte.32 Das Milieu der armen Tagelöhner dominierte die Auswanderung jedenfalls nicht. Jenseits dessen sind Migrationsphänomene bevölkerungsstatistisch nur spärlich dokumentiert. Für das Oberamt Heidelberg weisen die erhaltenen kurpfalzischen Generaltabellen in sieben Stichjahren zwischen 1781 und 1791 einen durchschnittlichen Sal-
28
29
30 31
32
Diese Angabe findet sich in den im Oktober 1853 erhobenen handschriftlichen „statistischen Notizen" zu den einzelnen Dörfern. Genannt wurden: Feudenheim 77 Personen (GLA Ka 362/567, S. 33), Heddesheim 30 (386/128, S. 40), Ilvesheim 9 (362/849, S. 32), Käfertal 200 (362/1637, S. 33), Neckarhausen 19 (362/1888, S. 32), Sandhofen 28 (362/1750, S. 32), Schriesheim 327 (362/2307, S. 30), Wallstadt 25 (362/1857, S. 32). Vgl. Auswanderungstabellen 1846-1855, in: GLA Ka 362/2 (1855 unvollständig). Berechnete Summen der emigrierten Personen 1846-1854: Altlußheim 173, Brühl 54, Edingen 32, Friedrichsfeld 12, Hockenheim 395, Ketsch 60, Neckarau 2, Neulußheim 189, Oftersheim 89, Plankstadt 204, Reilingen 164, Seckenheim 170. Das mit zwei Einträgen (1852) unterregistrierte Neckarau wird aus der Analyse ausgeklammert. Daneben sind elf Tagelöhnerinnen), eine Dienstmagd und fünfzehn handwerkliche Berufe verzeichnet. Das Durchschnittsalter der Familienväter betrug vierzig Jahre, das der Ledigen knapp dreißig.
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
79
do von -12,57 Personen p.a. aus, was einer Dämpfung um 0,03 Prozent p.a.33 im Vergleich zu der Wachstumsrate von 1,75 Prozent p.a. in dieser Phase entsprach. 34 Ähnlich vernachlässigbar muten die verfügbaren Zahlen für die Bezirksämter Ladenburg und Schwetzingen von 1 8 1 8 bis 1830 an, die einen mittleren jährlichen Wanderungsgewinn von 2 bzw. 6,25 Personen und somit von 0,02 bzw. 0,05 Prozent p.a. ergaben. 35 Auch im lokalen Umfeld traten lediglich punktuell gravierendere Verschiebungen auf: etwa 1 8 1 2 mit negativen Bilanzen von -26 in Neulußheim, -11 in Plankstadt und -10 in Seckenheim; oder 1 8 1 8 mit Überschüssen von 47 bzw. 26 Zuzüglern in Hockenheim und Seckenheim. 36 Ansonsten bewegten sich die Werte im einstelligen Bereich. Da die räumliche Mobilität zumindest vom letzten Drittel des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts also wenig Einfluss auf die Veränderung der Einwohnerzahlen ausübte, dürfte das natürliche Bevölkerungsgeschehen den Hauptbeitrag dazu geleistet haben. Tatsächlich weisen für diese Zeitspanne alle Indizien in die Richtung einer primär und zunehmend endogenen Expansionsdynamik. Auf aggregative Kirchenbuchauswertungen kann man sich in dieser Hinsicht nur für Brühl stützen.37 Danach stimmte der Geburtenüberschuss von 151 Menschen zwischen 1731 und 1790 recht genau mit den 159 Personen überein, um welche das Dorf von 1727 bis 1791 anwuchs. Darüber hinaus lassen sich aus den kurpfalzischen und badischen Bevölkerungstabellen zum Teil vitalstatistische Saldi errechnen und bei ausreichender Dichte sinnvoll mit den geometrischen Wachstumsraten in Beziehung setzen. Basierend auf zwölf Erhebungsjahren zwischen 1774 und 1791 ergibt sich für das Oberamt Heidelberg ein mitderer jährlicher Geburtenüberschuss von 607,5 Personen oder 1,34 Prozent p.a. 38 Die da-
Es handelt sich lediglich um einen Näherungswert, da zur präzisen Kalkulation jeweils die aus der geometrischen Steigerungsrate errechenbaren jährlichen Einwohnerzahlen herangezogen werden müssten. Die hier gewählte schlichtere Methode - Durchschnitt aus Anfangs- und Endjahr der Betrachtungszeit als Quotient - , die unten auch zur Gewichtung der natürlichen Bevölkerungsbewegung angewandt wird, führt aber zu nur leicht abweichenden Resultaten. 3" Die Einzelwerte lauten: 32 (1781), -53 (1783), -16 (1785), -26 (1786), -4 (1790), -21 (1791). Zugrunde liegen die Bevölkerungszahlen von 1780 (44.236) und 1791 (52.069). Quellen vgl. Graphik 1 im Anhang. 35 Einzelwerte für vier Stichjahre: Ladenburg -2 (1818), -6 (1828), -1 (1829), 17 (1830); Schwetzingen 51 (1818), 9 (1828), -54 (1829), 19 (1830). Zugrunde liegen die Bevölkerungszahlen von 1817 (11.874 bzw. 12.074) und 1830 (13.455 bzw. 14.510). Quellen für 1818 wie 1817 in Graphik 2 im Anhang sowie für 1828 wie 1827 und für 1829 wie 1832. 36 Es ist darauf hinzuweisen, dass auf dieser Quellenbasis vermutlich die Binnen- und Nahwanderung unterbelichtet bleibt, die nur durch eine Analyse von Kirchen- oder Ortssippenbüchern exakt zu bestimmen wäre. 37 Knaus, Brühl, S. 57. Errechnete Saldi für Zehnjahresperioden: 1731-1740 +42, 1741-1750 +15, 1751-1760 +35,1761-1770 +41,1771-1780 -9,1781-1790 +27. 38 Quellen vgl. Graphik 1 im Anhang. Geburtenüberschüsse: 443 (1774), 177 (1776), 1.008 (1777), 656 (1779), 801 (1780), 319 (1781), 687 (1782), 473 (1783), 747 (1785), 846 (1786), 608 (1790), 525 (1791). Als Quotient dient der Durchschnitt der Einwohnerzahlen von 1773 (38.669) und 1791 (52.069). Zur geringfügigen Unschärfe dieser Berechnungsmethode vgl. Anm. 33. 33
3. Dorfgesellschaft
80
maligen Steigerungen von 1,75 Prozent p.a. sind somit zu drei Vierteln aus der generativen Reproduktion der heimischen Bevölkerung ableitbar. In noch höherem Umfang gilt dies für die Bezirksämter Ladenburg und Schwetzingen in der Phase 1830-1846, die in der statistischen Überlieferung komplett erfasst ist.39 In beiden Distrikten zusammen stellte sich eine positive jährliche Bilanz von durchschnittlich 470,94 Menschen ein, was 1,47 Prozent p.a. ausmachte und die gemeinsamen 1,71 Prozent p.a. Wachstum zu knapp 86 Prozent erklärt.40
Graphik 3: Veränderung der durchschnittlichen Familiengröße in den Dörfern sowie den Ämtern Heidelberg, Ladenburg und Schwetzingen 1774-1852 5,20
1774
1791
1812
1830
1852
Jahr • Gemeinden
• Oberamt Heidelberg
D Bezirksamt Ladenburg
El Bezirksamt Schwetzingen
Datenbasis: vgl. Tabelle 3 im Anhang
Einen weiteren Gradmesser für den endogenen Charakter der demographischen Expansion gewinnt man aus der Relation von Einwohner- und Familienzahlen und damit den durchschnittlichen Familiengrößen. Die Aussagekraft dieser Variablen hängt davon ab, ob es in der Betrachtungszeit zu einer nennenswerten Zunahme des Anteils nicht haushaltsfamilial gebundener Lediger kam. Für die numerisch mit Abstand wichtigste 39
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Quellen: Generalübersicht der Bevölkerung, in: GLA Ka 237/6830 (1830); Bevölkerungstabellen in Strafrechtspflege 1832-1846 (1831-1846). Geburtenüberschüsse BZA Ladenburg und Schwetzingen 1830-1846: 432, 406, 252, 411, 349, 341, 503, 330, 389, 505, 632, 520, 468, 475, 626, 737, 630. Berechnungsbasis: Durchschnitt der Bevölkerungssummen von 1829 (27.519) und 1846 (36.650) Auf die Gemeindedaten wird nicht näher eingegangen, da sie nur sporadisch für 1791, 1807, 1812, 1818 und 1828 greifbar sind.
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
81
solche Gruppe - die Mägde und Knechte - ist zwischen 1727 und 1852 allerdings ein kontinuierlicher Rückgang von 13,14 auf 7,96 Prozent im Mittel der Untersuchungsgemeinden zu konstatieren (Tabelle 4 im Anhang).41 Ein durch agrarischen Wandel induzierter und an der Gesindeproportion ablesbarer Anstieg der Unselbständigenquote, der Unterschiede im rechnerischen Durchschnitt der Familiengröße als Hinweis auf reale Veränderungen des Umfangs der Kernfamilien entwerten würde, erfolgte demnach nicht. Unter dieser methodischen Prämisse und vor dem Hintergrund eines sinkenden Gesindeanteils erlauben die quantitativen Befunde einen klaren Schluss (Graphik 3 und Tabelle 3 im Anhang). Die Erhöhung des mitderen Familienumfangs, die sich auf Gemeinde- und Amtsebene insgesamt und verstärkt von 1774 bis 1791 sowie erneut zwischen 1830 und 1852 feststellen lässt, reflektiert eine nachhaltige Vermehrung der durchschnittlich in den Kernfamilien lebenden Menschen. Die demographische Ausdehnung ging somit zuvorderst auf das Konto einheimischer Selbständiger, die als Landwirte, Gewerbetreibende und/oder Tagelöhner ihr Auskommen suchten. Zudem verlief dieser Prozess trotz seiner potentiell desintegrativen Vehemenz bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ganz überwiegend im Schoß der traditionellen Real- und Bürgergemeinde, die dadurch zum historisch letzten Mal ihre Inklusionskraft unter Beweis stellte. Denn obwohl sich die Dorfbevölkerung zwischen 1727 und 1845 mehr als vervierfachte, verharrte der Anteil der vollberechtigten Gemeindeglieder durchgängig auf einem Niveau von rund einem Fünftel der ortsanwesenden Personen bzw. neunzig Prozent der Familien (Graphik 4). Die lokale Streuung hielt sich dabei in engen Grenzen und überschritt — bezogen auf die Einwohnerzahl — zu keiner Zeit eine Amplitude von zehn Prozentpunkten (Tabelle 5 im Anhang).42 Der demographische Aufschwung ging demnach nicht wie beispielsweise in Nordwestdeutschland mit einer Verschiebung des personenrechtlichen Statusgefiiges einher, die genossenschaftliche und politische Teilhabe zum Privileg einer immer kleineren Minderheit gemacht hätte. Im Einklang damit steht die Beobachtung, dass sich der Kreis der minderberechtigten Beisassen im Zuge dieser Entwicklung kaum überproportional ausdehnte (Graphik 4 und Tabelle 6 im Anhang). In den siebzehn kurpfalzischen Dörfern nahm diese Gruppe bis 1791 mit durchschnittlich etwa einem Zehntel der Vollbürger nur geringen Raum ein, wenngleich sie in vier Orten - Brühl, Friedrichsfeld, Käfertal und Wallstadt — durchweg oder zeitweise einen deutlich höheren Anteil der Haushaltsvorstände stellte. Zwar existieren nach 1791 keine gemeindeübergreifenden .Angaben zur Zahl der Beisassen mehr. Aufgrund von Einzeldaten für vier Dörfer43 wird man eine Trendwen41
42
43
Die Differenzen zwischen den Gemeinden erklären sich aus dem Anteil vollbäuerlicher Betriebsinhaber, die hauptsächlich als Arbeitgeber des Gesindes in Frage kamen; vgl. Abschnitt 3.2.2. Die maximale Abweichung trat hier 1791 zwischen Reilingen (14,72 Prozent) und Heddesheim (24,18 Prozent) auf. Feudenheim: 26 Beisassen (1803); Gemeine und Schatzungsrechnung Feudenheim 1803/04, in: StA Ma AB Fe 39, S. 131. Sandhofen: 13 Beisassen (1822); Allgemeine Rechnung mit Hebe-
82
3. Dorfgesellschaft
de in dieser Hinsicht aber ausschließen können. Politische Relevanz kam der niedrigen Beisassenquote auch insofern zu, als die Aufhebung des Schutzbürgerstatus 1831/32 in den meisten Gemeinden des Untersuchungsgebiets nicht annähernd jenen Dekorporierungsschock auslösen konnte, den noch Manfred Hörners behutsame Schätzung eines landesweiten Neubürgerschubs von rund einem Fünftel suggeriert.44
Graphik 4: Prozentverhältnis der Bürger zu den Einwohnern und Familien sowie der Beisassen zu den Bürgern in den Untersuchungsdörfern 1727-1852
1727
1774
1791
1845
1852
Jahr • Bürger/Einwohner
• Bürger/Familien
• Beisassen/Bürger
Datenbasis: vgl. Tabellen 5 und 6 im Anhang
Das aufscheinende Bild von im 19. Jahrhundert sozialgeographisch weitgehend abgeschlossenen Lokalgesellschaften wird ferner dadurch bestätigt, dass sich die überwältigende Mehrheit der Neubürger aus der Nachkommenschaft der ortsansässigen Gemeindeberechtigten rekrutierte. Stammte etwa in Neckarau von 1741 bis 1802 noch rund ein Drittel der Zugänge von außerhalb,45 so fiel dieser Anteil 1837-1850 auf sie-
44 45
register Sandhofen 1822/23, in: StA Ma Bürgerdienste Sa Zug. 13/2002, 23. Seckenheim: 32 Beisassen (1803), 35 (1805), 47 (1807), 33 (1809), 16 (1815), 16 (1816), 18 (1817), 23 (1819), 20 (1820); Gemeinderechnungen der betreffenden Jahre in: StA Ma AB Se 157, S. 59; 158, S. 66; 159, S. 77; 160, S. 75; 162, S. 83; 163, S. 85; 164, S. 89; 165, S. 86; 166, S. 91. Wallstadt: 9 Beisassen (1801), 5 (1830); Gemeinderechnung 1801/02, in: StA Ma AB Wa I 9, S. 83; Gemeinderechnung 1830/31, in: ebd. 113, S. 191. Vgl. Abschnitt 2.5. Vgl. Probst, Bevölkerungsstatistik, S. 415.
3.1 Bevölkemngswachstum, Migration und Ressourcendruck
83
ben Prozent. 46 In Seckenheim hatte die Quote schon 1766-1803 lediglich bei einem Zwanzigstel gelegen47 und pendelte in den folgenden Jahrzehnten meist zwischen vier und acht Prozent. In Plankstadt sank sie im selben Zeitraum ziemlich stetig von 27 auf zehn Prozent (Tabelle 7 im Anhang). Hier wie in Seckenheim wurde zwar ein während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auffallend hoher Wert in der Dekade 18311840 erreicht, 48 was auf eine begrenzte soziale Öffnung der gemeindlichen Korporation infolge des Bürgerrechtsgesetzes von 1831 mit seiner Formalisierung der Aufnahmekriterien hindeutet. 49 Die restriktive Praxis der Bürgerrechtsvergabe gegenüber Ortsfremden wandelte sich dadurch im Ganzen jedoch nicht. 50 Diesen Eindruck erhärten die für die Gemeinden des Amts Ladenburg in den Visitationsprotokollen von 1853 genannten Angaben über die seit zwanzig Jahren in die Bürgerschaft aufgenommenen Ortsfremden. 51 Da hier parallele Zahlen zum Antritt des angeborenen Bürgerrechts fehlen, soll die Relation zur absoluten Bevölkerungsveränderung 1830-1855 zum Vergleich mit Plankstadt und Seckenheim dienen, für die sich entsprechende Quotienten von 5,67 und 4,51 Prozent errechnen. 52 Mit rund 5,4 Prozent auf ähnlichem Niveau bewegten sich Heddesheim, Neckarhausen und Sandhofen, während die Werte in Ilvesheim (1,86 Prozent) und Wallstadt (2,62 Prozent) deutlich geringer lagen.53 Nach oben wich zum einen Käfertal (9,37 Prozent) ab, so dass sich die im Zusammenhang mit Migrationsvorgängen geäußerte Annahme einer in diesem Dorf ungewöhnlich starken Zuwanderung bestätigt. Zudem fiel Feudenheim mit 10,20 Prozent erkennbar
46
47
48
49 50
51
52
53
Von 127 Neubürgern traten 118 Söhne ihr „angeborenes Bürgerrecht" an, während neun Auswärtigen die „Bürgerannahme" gewährt wurde; vgl. Bürgerbuch Neckarau, in: StA Ma AB Na 14. Für Ilvesheim ergibt eine solche Auszählung in den Jahren 1834-1846 gar ein Verhältnis von 63 zu null, wobei in diesem Fall freilich das Bürgerbuch unsachgemäß geführt worden sein dürfte; vgl. Bürgerbuch Ilvesheim, in: GA II B 1; Anm. 51. Probst, Bevölkerungsstatistik, S. 415, nennt für Seckenheim sechs Auswärtige unter 123 Neubürgern. Plankstadt: 18 Auswärtige/102 Neubürger (17,5 Prozent). Seckenheim: 23 Auswärtige/152 Neubürger (15 Prozent). Konfliktfälle auf diesem Gebiet werden in Abschnitt 4.2.1 am Beispiel Käfertals beleuchtet. Eine detailliertere, aber weitaus aufwendigere Rekonstruktion der Vergabepraxis wäre auf der Basis der Protokolle der Ortsgerichte bzw. Gemeinderäte oder spezieller Bürgereinschreibprotokolle möglich, wie sie für manche Gemeinden überliefert sind. Hierauf wurde angesichts der klaren Befunde aus den verwendeten listenförmig angelegten Bürgerbüchern verzichtet. Verleihung des Bürgerrechts an Ortsfremde 1833-1852: Feudenheim 62 Fälle, Heddesheim 22, Ilvesheim 6, Käfertal 82, Neckarhausen 15, Sandhofen 31, Schriesheim 49, Wallstadt 8. Zu gut vier Fünfteln handelte es sich um ledige Personen, die vermutlich in eine Familie des jeweiligen Dorfes einheirateten. Quellen wie Anm. 28: Feudenheim S. 31, Heddesheim S. 38, Ilvesheim S. 30, Käfertal S. 31, Neckarhausen S. 30, Sandhofen S. 30, Schriesheim S. 28, Wallstadt S. 30. Berechnungsweise: 100 / Bevölkerungsanstieg 1830-1855 x Fälle der Aufnahme Ortsfremder in das Bürgerrecht. Für Plankstadt z.B.: 100 / 564 x 32. Schriesheim, dessen Einwohnerschaft 1830-1855 als einzige schrumpfte, bleibt hier außer Betracht.
84
3. Dorfgesellschaft
aus dem Rahmen, worin sich die 2unehmende Attraktivität des Orts als Heimatgemeinde für in Mannheimer Fabriken pendelnde Tagelöhner spiegelte.54 Indikatoren für eine veränderte Ressourcenbelastung aufgrund des demographischen Aufschwungs können aus dem bevölkerungsstatistischen Material zum einen für den Wohnbereich gewonnen werden, indem man die Zahl der Familien in Beziehung zum Häuserbestand setzt. In den Untersuchungsgemeinden kamen 1774 durchschnittlich 1,39 Familien auf ein Haus, 1791 schon 1,43 und 1808 1,56; dabei stellte sich die Relation an manchen Orten — allen voran Brühl und Käfertal — deutlich ungünstiger, in anderen Dörfern, z.B. Friedrichsfeld und Plankstadt, hingegen sehr viel vorteilhafter dar (Tabelle 8 im Anhang). Für die Gemeinden des Bezirks Ladenburg gestatten die Ortsbereisungsprotokolle zudem eine weitere Momentaufnahme im Jahr 1853. Danach hatte sich das Verhältnis der Familien je Haus insgesamt wieder auf 1,39 und auch im Einzelnen für jeden der acht Orte gegenüber 1808 entspannt.55 Das Bauvolumen hielt also mit dem Einwohneranstieg zumindest in dessen heißen Phasen nicht ganz Schritt, aber selbst 1808 verfügten rechnerisch fast zwei Drittel der Familien über eigenen Hausbesitz und 1853 mehr als siebzig Prozent. Zur Miete wohnte offenbar immer nur eine Minderheit.56 Die analogen Angaben von 1774 und 1791 zur Anzahl der Scheunen, die man gerade in der Tabakproduktion als Trockenräume benötigte, enthüllen zudem, dass im Mittel nahezu zwei Drittel der Häuser auch die bauliche Ausstattung für eine landwirtschaftliche Tätigkeit umfassten (Tabelle 9 im Anhang).57 In einer Reihe von Dörfern - nämlich Friedrichsfeld, Ilvesheim, Käfertal, Sandhofen und Wallstadt — galt das freilich nur für knapp die Hälfte oder weniger der Wohngebäude, so dass hier größere Gruppen von Haushalten mit bestenfalls noch prekärer agrarischer Selbständigkeit vermutet werden dürfen. Zum anderen können auch auf dörflicher Ebene die Zunahme der Bevölkerungsdichte und der damit verbundene Ertragsdruck auf den Boden veranschaulicht werden (Graphik 5). Um Verzerrungen durch die sehr unterschiedlichen Anteile von Ödungen und Wald an den Gemarkungen auszuschalten,58 wurden die Einwohnerzahlen für 54
55
56 57
58
So wurde in den „Statistischen Notizen" von 1853 auf die Frage nach den Beschäftigungsmöglichkeiten der arbeitsfähigen Armen als Besonderheit hervorgehoben: „Viele Arbeiter suchen ihren Verdienst in Mannheim, obwohl sie solchen im Ort haben könnten." GLA Ka 362/567, S. 32; vgl. Abschnitt 3.2.1. Einen ähnlichen Verlauf stellt Mahlerwein, Herren, S. 88, für das rheinhessische Alsheim fest, wo sich in den 1830/40er Jahren ein günstigeres Verhältnis von 1,14 einpendelte. Zum Umfang selbständigen Hausbesitzes aufgrund der Ortssteuerkataster vgl. Abschnitt 3.2.2. Sporadische Daten aus dem frühen 19. Jahrhundert sprechen für die dynamische Stabilität dieser wirtschaftsgebäudlichen Strukturen: 1809 Ketsch 44 Scheunen (64,71 Prozent); Gemeinderechnung 1809/10, in: GA Ke R 75. 1810 Plankstadt 80 Scheunen (75,47 Prozent); Gemeinderechnung 1810, S. 63, in: GA PI R 191. 1817 Seckenheim 214 Scheunen (83,59 Prozent); Gemeinderechnung 1817, S. 89, in: StA Ma AB Se 164. Legt man die gesamten Gemarkungen zugrunde, ergeben sich etwa für 1818 bizarre Differenzen zwischen knapp sechzig Personen je Quadratkilometer in Käfertal und über 210 in Feudenheim.
3.1 Bevölkerungswachstum, Migration und Ressourcendruck
85
den interlokalen Vergleich nicht auf den Gesamtumfang, sondern nur auf die landwirtschaftliche Nutzfläche bezogen. 59
Graphik 5: Durchschnittliche Bevölkerungsdichte je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in den Untersuchungsdörfern 1727-1855
3,00 2,43
2,50
2,25
2,00
lr
0,83
1,00
0,50
0,00
- n
n iIi t,
g | 1,50 V PU
T
1727
1774
1791
1812
1830
1845
1855
Jahr
Datenbasis: vgl. Tabellen 1,10 und 11 im Anhang Das Schaubild illustriert das ebenso schlichte wie unentrinnbare Faktum, dass sich eine rasant wachsende Menschenmenge von Landressourcen zu ernähren hatte, deren Quantität in jener Periode nurmehr wenig erweitert werden konnte. 60 Solange sich zusätzü-
59
60
Als Kalkulationsbasis dienen die Flächen von Acker, Wiesen, Weinbergen und (Acker-/Wiesen-) Allmenden im Jahr 1808. Die anderen verfugbaren Überblicke für 1774, 1777, 1784, 1791 und 1803 bestätigen diese Zahlen weitgehend. Ein nennenswerter innerer Landesausbau, der den Rekurs auf die Angaben nur eines Jahres verböte, fand seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts nicht mehr statt. Allein die Daten für 1727 unterliegen daher einem gewissen Vorbehalt. Die Ausklammerung von Waldungen bedeutet nicht, dass sie agrarisch bedeutungslos gewesen wären; im Hinblick auf die Tragfähigkeit der Lokalökonomien scheint es aber nicht sinnvoll, sie auf eine Stufe mit der engeren Nutzfläche zu stellen, zumal eine restriktive staatliche Forstpolitik ihren landwirtschaftlichen Wert zunehmend schmälerte. Bei den Schwankungen hinter dem graphisch repräsentierten Durchschnitt, die nicht näher diskutiert werden sollen, zumindest im Fall von Brühl, Friedrichsfeld und Neckarhausen aber mit relativ kleinen Gemarkungen zusammen hingen, ist zu berücksichtigen, dass sich Bodenbesitz nicht auf die Heimatgemeinde beschränkte, sondern einige Bauern erhebliches Grundeigentum in anderen Dorfbännen hielten (Tabelle 10 im Anhang).
86
3. Dorfgesellschaft
che Erwerbsquellen außerhalb des Agrarsektors nicht in größerer Zahl auftaten, musste entweder die demographische Expansion unter dem extensiv-risikominimierenden Produktionsregime des traditionellen Landbaus eine Subsistenzkrise heraufbeschwören oder aber das überlieferte Betriebssystem zugunsten effizienterer Methoden reorganisiert werden. Wann genau die herkömmlichen Bewirtschaftungsprinzipien an eine Kapazitätsgrenze stießen, ist allein mit dem Parameter der Einwohnerdichte zwar nicht auszuloten. Da die dörflichen Gesellschaften der Region, die schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaum als Ökonomien des Überflusses anzusprechen sind, in der Folgezeit jedoch ungewöhnlich früh mit einem rapiden Bevölkerungsanstieg und daher mit der existentiellen Herausforderung konfrontiert waren, einer sich ausdehnenden Population hinreichende Nahrungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, darf man die kritische Schwelle wohl vor 1800 datieren. Dass die Entwicklung in jener Phase nicht krisenhaft abriss, sich später gar abermals beschleunigte, verweist dabei in erster Linie auf die breitenwirksame Transformation der rheinpfälzischen Landwirtschaft. Noch 1847, auf dem vorläufigen Gipfel der demographischen Explosion, war dem bereits zitierten Statistiker Heunisch im Grunde „vor Ueberbevölkerung [...] nicht bange."61 Denn als Resultat einer Gegenüberstellung der Haushaltszahlen mit dem agrarischen Areal Badens müsse man „mit Freuden ausrufen, welch herrliches, welch gesegnetes Land, in welchem eine Familie nahe 14 Morgen62 cultivirter Bodenfläche sein eigen nennen könnte." Das wahre Problem liege allerdings in der Ungleichverteilung dieses Produktionsmittels; darin, dass „die Verhältnisse des Eigenthums und der Besitzstand der Einzelnen [...] zu sehr im Mißverhältnis ständen", womit — so ließe sich ergänzen — die im fiktiven Durchschnitt denkbare Selbstversorgung für eine Mehrheit der Landbewohner außer Reichweite rückte.63
3.2 Schichtungsgefüge und Sozialhierarchie Die demographische Aufwärtsentwicklung erklärt sich als Ausfluss und Antrieb einer ökonomischen Transformation, durch die sich die Existenzgrundlagen für die Masse der Bevölkerung nachhaltig verbreiterten. Obwohl in den Dörfern der Rheinpfalz etliche Familieneinkommen zumindest teilweise außerlandwirtschaftlichen Berufen entstammten, verlief das Wachstum bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus in ers61
Heunisch, Bevölkerung, S. 164. Etwas pessimistischer fiel Heunisch' Diagnose in den Überblickswerken von 1833 und 1857 aus; vgl. ders., Beschreibung, S. 61; ders., Großherzogthum Baden, S. 230, 308f.
62
Im Unterrheinkreis betrug der Wert knapp 12 Morgen. Heunisch, Bevölkerung, S. 164, fügte halb entschuldigend hinzu: „Wir huldigen dem Communismus nicht, und unsre Vertheilung zeigt nur das statistische Verhältnis des Flächenraums zur Kopfzahl der Bewohner, mit dem Wunsche, die Gesetzgebung werde die rechte Mitte halten und eine Ausgleichung der Verhältnisse möglichst erwirken."
63
3.2 Schichtungsgefüge und Sozialhierarchie
87
ter Linie in agrarischen Bahnen. Im Unterschied zu vielen anderen deutschen Regionen, wo sich dieser Prozess auf das ländliche Exportgewerbe — namentlich die Leinenweberei - oder schon auf die Fabrikindustrie stützte und damit partiell von der Agrarwirtschaft abkoppelte, ist ein derartiger sektoraler Wandel im unteren Neckarraum vor 1850 allenfalls punktuell zu erkennen.
3.2.1 Gewerbedichte und Berufsstruktur Nimmt man den Prozentsatz der Haushalte im Produktions- und Diensdeistungsgewerbe zum Maßstab, ist zwischen 1721/22 und 1835/52 insgesamt sogar eine leichte Abnahme von einem Viertel auf ein Fünftel festzustellen (Graphik 6).64 Signifikante Verschiebungen im Verhältnis der Branchengruppen traten dabei nicht auf. Der Rückgang beruhte zum einen auf dem sinkenden Gewicht der Nahrungshandwerke. Hier ist indes quellenkritisch zu berücksichtigen, dass Branntweinbrenner nur 1816 eigens erfasst wurden, als ihre Zahl in den Auswahlgemeinden 41 betrug.65 Auch danach spielte die Branntweinbrennerei für größere Bauern unter anderem zur Unterstützung der Viehmast aber eine gewisse Rolle und dürfte nur aus der Statistik herausgefallen sein, weil man die Betreiber in den Steuerkatastern 1835/52 primär als „Landwirte" klassifizierte. Zum anderen verlor, vor allem bis 1816, der Diensdeistungssektor an Boden. Hauptverantwortlich dafür waren die Gastwirte, ein um 1720 eher überbesetztes Gewerbe, das anschließend nicht im selben Grad wie die Bevölkerung expandierte.66 Einen dynamischen Faktor stellten in diesem Bereich dafür nach 1816 die Handelsleute dar, deren Zahl sich ungefähr versechsfachte. Besonders in Orten mit einer nennenswerten jüdischen Minderheit wie Feudenheim, Hockenheim, Reilingen und Schriesheim gewannen sie an Bedeutung.67 Wenig wachstumskräftig zeigte sich ferner die Baubranche, obschon der demographische Aufschwung und die Ausdehnung der Dörfer phasenweise einen verstärkten Nachfragesog entfaltet haben dürften. 68 Zwar waren im 19. Jahrhundert in fast allen 64
Der Berechnung liegen die in den Steuerkatastern und Gewerbestatistiken enthaltenen Angaben zu den Meistern bzw. Betriebsinhabern zugrunde, deren Zahlen mit einem Familienfaktor von 4,75 multipliziert und mit der Größe der Gesamteinwohnerschaft in Beziehung gesetzt wurden.
65
Gewerbetabellen der Ämter Landeburg und Schwetzingen 1816, in: G L A Ka 313/3614. Quellen vgl. Graphik 6. Zwischen 1721/22 und 1816 verharrte die durchschnittliche Zahl der Gastwirte pro Gemeinde bei knapp 3,5. Bis 1835/52 erhöhte sie sich zwar um die Hälfte auf 5,3; die Bevölkerung wuchs im selben Zeitraum aber um rund zwei Drittel. 1816 wurden in den zwanzig Dörfern insgesamt nur achtzehn Handelsleute registriert, 1835/52 waren es in fünfzehn Gemeinden, fiir die Daten vorliegen, hingegen 1 1 7 - darunter: Feudenheim (1852) 10, Hockenheim (1847) 25, Reilingen (1839) 18, Schriesheim (1852) 23. Quellen und Zuordnung vgl. Graphik 6. Dem Baugewerbe lassen sich im Mittel der Gemeinden zurechnen 1720: 2 Haushalte, 1816: 5 Haushalte, 1835/52: 9 Haushalte. Die absolute Mehrheit stellten durchgängig die Maurer mit durchschnittlich 1,1, 3 bzw. 4,6 Haushalten, gefolgt von den Zimmerleuten mit 0,7, 1,2 bzw. 2,1 Haushalten.
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3. Dorfgesellschaft
88
Gemeinden Maurer und Zimmerleute ansässig, ihre Zahl schwankte jedoch im Wesentlichen mit der Größe der Orte, so dass sich keine auffälligen Schwerpunkte herausschälten.
Graphik 6: Bevölkerungsanteil der Haushalte im Produktions- und Dienstleistungsgewerbe in den Untersuchungsdörfern 1721/22-1835/52 30,00 25,00 20,00
c
§ 15,00
£
10,00 5,00 0,00
• Nahrungs- und Genussmittel B Übriges produzierendes Versorgungshandwerk • Exportorientiertes Gewerbe
• Baugewerbe • Diensdeistungen • Gesamt
Berufsgruppen: Nahrungs- und Genussmittek Bäcker, Bierbrauer, Branntweinbrenner, Essigsieder, Fischer, Metzger, Müller, Zigarrenfabriken Baugewerbe. Glaser, Maurer, Pflasterer, Tüncher, Ziegler, Zimmermann Übrigesproduzierendes Versorgungshandwerk. Dreher, Färber, Flaschner, Gürtler, Hafner, Kammmacher, Kesselflicker, Kübler, Küfer, Mechanici, Mühlwirker, Säckler, Sattler, Schachtelmacher, Schlosser, Schmied, Schneider, Schreiner, Schuster, Seifensieder, Seiler, Spengler, Wagner Dienstleistungen-. Bader, Barbier, Gärtner, Handelsmann, Lumpensammler, Schäfer, Wirt Exportorientiertes Gewerbe-. Korbmacher, Leineweber. Quellen: Berain Kirchheimer Zent 1721, in: GLA Ka 66/4377; Feudenheimer Schatzungsrenovation 1721, in: StA Ma AB Fe 42; Sandhofer Schatzungsrenovation 1721, in: ebd. AB Sa 20; Wallstadter Schatzungsrenovation 1722, in: ebd. AB Wa I 339; Gewerbetabellen der Ämter Ladenburg und Schwetzingen 1816, in: GLA Ka 313/3614; Statistische Notizen der Ortsbereisungsprotokolle für 1852 (wie Anm. 28, S. 22f. außer Heddesheim S. 30f.); Hockenheimer Steuerregister 1847, in: StA Ho R 188; Ketscher Umlageregister 1845, in: GA Ke R 141; Verzeichnis der Güterbesitzer in Neckarau, aus dem Steuerregister 1847, in: GLA Ka 362/1691, fol. 75r-97'; Oftersheimer Steuerregister 1850, in: GA Of R 238; Plankstadter Steuerregister 1848, in: GA PI R 271; Reilinger Steuerregister 1838, in: GA Re R 236; Seckenheimer Steuerregister 1835, in: StA Ma AB Se 226.
3.2 Schichtungsgefiige und Sozialhierarchie
89
Gleiches kann weitgehend auch für die beiden potentiell exportorientierten Handwerke konstatiert werden: die insgesamt zu vernachlässigende Korbmacherei und die nahezu überall betriebene, aber recht statische Leinenweberei.69 Selbst in Reilingen und Plankstadt, wo während des Vormärz die relativ meisten Weber lebten, betätigten sich 1839 bzw. 1848 lediglich rund 5,5 Prozent der Haushalte als kleine Warenproduzenten für einen möglicherweise überörtlichen Absatzmarkt.70 Die Beharrungskraft des traditionellen Landhandwerks manifestiert sich zuletzt darin, dass die produzierenden Versorgungsgewerbe, d.h. die neben der Nahrungs- und Baubranche auf die Deckung der lokalen, durch bäuerlichen Betriebs- und Privatbedarf generierten Nachfrage ausgerichteten Zweige, durchgängig dominierten. Über achtzig Prozent dieser Gruppe entfielen im 19. Jahrhundert auf die fünf Berufe Schmied, Schneider, Schreiner, Schuster und Wagner. Am zahlreichsten waren die Schuster, aber auch ihr Anteil stieg zwischen 1816 und 1835/52 nur von 2,16 auf 2,34 Prozent, wenngleich er sich in manchen Gemeinden — etwa Plankstadt und Seckenheim — verdoppelte und damit eine gewisse Überbesetzungstendenz indiziert.71 Im Ganzen kam somit keinem der genannten Gewerbe eine demoökonomische Ventilfunktion zu. Damit stimmt die Beobachtung des Heidelberger Staatswissenschafders Karl Heinrich Rau überein, der 1830 mit Blick auf die Bevölkerungsdichte der Region notierte, dass „bloß Landleute sammt den nöthigsten Handwerkern, Krämern, Ärzten, Lehrern, Geistlichen und Beamten in dieser großen Einwohnerzahl begriffen" seien.72 Zudem ernährten viele dieser Hantierungen allein gar keine Familie, womit klar wird, wie wenig der außeragrarische Bereich dazu beitrug, die Bevölkerungsexpansion wirtschaftlich und sozial abzufedern. Tatsächlich besaßen die Handwerker — abgesehen von den komfortableren Verhältnissen in den typischen vollbäuerlichen Ergänzungsbranchen (v.a. Gastwirte, Schmiede, Bäcker, Müller) — meist kleine Flächen, deren Nutzung sie in einer schwer zu gewichtenden Mischung mit den gewerblichen Einkünften häufig erst über das Existenzminimum hievte. So waren, wie 1852 für Ilvesheim betont wurde, die Gewerbetreibenden „alle auch auf die Landwirtschaft hingewiesen, da jeder Professionist etwas Feld besizt."73 Zwar konnten, wie am Beispiel Seckenheims ersichtlich, gewaltige Disparitäten klaffen zwischen Leinewebern und Schreinern einerseits, die oft weniger als einen Morgen zur Verfügung hatten, und Schmieden andererseits, deren über zehn Morgen sie schon den substantielleren Bauern zuordneten. Vorwiegend gehörten die Handwerker mit einem Grundeigentum von einem bis fünf Morgen allerdings jener unterbäuerlichen, aber landbegü-
«9 70 71
72 73
Quellen vgl. Graphik 6. Durchschnittliche Haushaltszahlen: Korbmacher 0 (1721 /22), 0,8 (1816), 0,5 (1835/52); Leineweber 1,7 (1721/22), 5,4 (1816), 9,7 (1835/52). Reilingen 16, Plankstadt 19 Weber; die höchste absolute Zahl mit 26 in Hockenheim (1847). In Plankstadt von 1,69 auf 3,66 Prozent (3 auf 12 Haushalte), in Seckenheim von 2,20 auf 4,05 Prozent (7 auf 17 Haushalte). Rau, Rheinpfalz, S. 3; vgl. ders., Landwirthschaft, S. 284. Ilvesheimer Ortsbereisungsprotokoll vom 14.6.1852, in: GLA Ka 362/849, S. 83.
90
3. Dorfgesellschaft
terten Schicht an, deren übrige Mitglieder neben dem agrarischen Parzellenbetrieb auf Arbeit im Tagelohn angewiesen waren.74 Bei den späteren Betrachtungen zur Bodenverteilung ist daher zu bedenken, dass ein Drittel dieser Besitzgruppe durch ein gewerbliches Standbein bereits partiell abgesichert war. Die gewerbliche Durchdringung der lokalen Gesellschaft differierte zwischen den einzelnen Orten. Schriesheim wies im 19. Jahrhundert stets die höchsten Haushaltsanteile von 27 bis 29 Prozent auf und bezeugte damit seinen kleinstädtischen Charakter. Aber auch eine Gemeinde wie Reilingen konnte 1839 dank relativ vieler Leineweber und jüdischer Handelsleute auf stattliche 26 Prozent kommen. Die Mehrzahl der übrigen Gemeinden oszillierte mit geringen Abweichungen um die Durchschnittsquote von zwanzig Prozent. Merklich darunter lagen zum einen die beiden kleinsten Dörfer, Friedrichsfeld und Wallstadt, die 1816 lediglich neun Prozent erreichten. Vergleichsweise niedrige Werte von zwölf bis vierzehn Prozent verzeichneten darüber hinaus die vier Dörfer Neckarau (1816) sowie Heddesheim, Käfertal und Sandhofen (1852). Da das Gros der gewerblichen Aktivitäten von Angehörigen der unterbäuerlichen Schichten ausgeübt wurde, könnte dies auf einen höheren Anteil von in Landwirtschaft und Industrie beschäftigten Tagelöhnern schließen lassen. Für die hiermit berührte, von der Forschung als so wirkmächtig postulierte Unterscheidung zwischen Bauern und Tagelöhnern bieten die Berufsnennungen aus der amtlichen Statistik, die in dieser Zeit ohnehin lediglich Handel und Gewerbe aufführte, und aus den Steuerkatastern bestenfalls vage Anhaltspunkte. Die kurpfälzischen Schatzungsregister des 18. Jahrhunderts nahmen eine solche terminologische Auffacherung selten explizit vor; in den Auswahldörfern nur in drei Renovationen 1721/22 für Feudenheim, Sandhofen und Wallstadt, wo man die vermögenderen Bodenbesitzer mit dem Attribut „Bauer- und Ackersmann" von den „Tagelöhnern" abhob.75 Die badischen Ortssteuerkataster des 19. Jahrhunderts kannten zwar die Kategorien „Landwirt" und „Tagelöhner", weisen in deren Anwendung jedoch enorme Unschärfen auf. So errechnen sich für einzelne Dörfer bizarre Fluktuationen innerhalb weniger Jahre, etwa in Plankstadt, wo der Anteil der Tagelöhner 1829-1848 erst von 31 auf fünf Prozent geschrumpft sein soll, um dann wieder auf zwölf Prozent zu steigen (Tabelle 2).
74
75
Stichprobe für Seckenheim nach Schatzungsbelagregister vom 1.7.1784 (StA Ma A B Se 95), Einkommensteuerkataster vom 2.6.1809 (ebd. 96) und General- und Gewerbsteuer Cataster vom 22.5.1835 (ebd. 226). In Feudenheim stellte man zwanzig „Bauern und Ackersmänner" 34 „Tagelöhnern" gegenüber; Schatzungsrenovation von 1721, in: StA Ma AB Fe 42. In Sandhofen und Wallstadt war das Verhältnis 21 zu zwanzig bzw. vier zu drei; Schatzungsrenovationen von 1722, in: ebd. A B Sa 20 und A B Wa I 339. Gerichtsverwandte und Gewerbetreibende wurden dabei jedoch nicht mitgezählt. Darüber hinaus verweist in den Schatzungsregistem nur die Veranlagung zur vollen Leibschatzung von fünfzig Gulden indirekt auf die Existenz als Tagelöhner.
3.2 Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie
91
Tabelle 2: P r o z e n t a n t e i l e v o n L a n d w i r t e n , G e w e r b e t r e i b e n d e n u n d T a g e l ö h n e r n in ausgewählten G e m e i n d e n 1829-1852 Gemeinde
Jahr»
Landwirte
Feudenheim
1852
27,63
28,85
43,52
Heddesheim
1852
39,88
16,56
43,56
Hockenheim
1834 1847
35,66 72,55
31,01
33,33 0,00
Ilvesheim
1852
35,82
27,45 26,87
Käfertal
1852
56,23
19,93
23,84
Ketsch
1836 1845
50,00 48,48
36,43 37,58
13,57 13,94
Neckarau
1847 1852
38,79
17,24
36,23
18,36
43,97 45,41
Oftersheim
1830 1850
72,50 31,62
27,50 19,66
Plankstadt
1829 1840
37,67 64,98
31,51 30,41
Reilingen
1848 1832
62,24 70,79
25,73 29,21
12,03 0,00
Sandhofen
1839 1852
39,23 29,11 25,62
35,89 23,21 36,05
24,88 47,68 38,33
51,34 77,27
29,53
19,13
66,67
22,73 14,94
0,00 18,39
26,03
17,12
56,85
Neckarhausen
Schriesheim Seckenheim
1852
Wallstadt
1830 1837
1835
1852
Gewerbetreibende
Tagelöhner
37,31
0,00 48,72 30,82 4,61
a
1852 aus den „Statistischen Notizen" der Ortsbereisungsprotokolle; sonst Angaben in Steuerkatastem. Quellen: wie Graphik 6; zusätzlich Hockenheimer Umlageregister 1834, in: GA Ho R 178; Ketscher Steuerkataster 1836, in: GA Ke R 123; Oftersheimer Steuerregister 1830, in: GA Of R 212; Plankstadter Steuerregister 1829, in: GA PI R 232; Plankstadter Steuerkataster 1840, in: ebd. R 252; Reilinger Steuerkataster 1832, in: GA Re R 233; Wallstadter SchützenbelohnungRegister pro 1830, in: StA Ma AB Wa 1116; Wallstadter Steuerkataster 1837, in: ebd. 138. I n drei Fällen - O f t e r s h e i m u n d Wallstadt 1830 sowie H o c k e n h e i m 1847 - verzichtete m a n gleich ganz d a r a u f , irgendeinen E i n w o h n e r als „ T a g e l ö h n e r " e i n z u s t u f e n , u n d klassifizierte k u r z e r h a n d sämtliche N i c h t - G e w e r b e t r e i b e n d e n als „ L a n d w i r t e " . D i e s e U n s i c h e r h e i t e n illustrieren v o r allem, dass d e n Z e i t g e n o s s e n o f f e n b a r t r e n n s c h a r f e Kriterien fehlten, u m T a g e l ö h n e r u n d L a n d w i r t e v o n e i n a n d e r a b z u g r e n z e n , w a s wieder-
92
3. Dorfgesellschaft
um Licht auf die agrarische Selbständigkeit der dörflichen Unterschichten wirft. In gewissem Grad bestätigt sich auch Wilhelm Heinrich Riehls Feststellung aus den 1850er Jahren, wonach es eine „klare örtliche Gruppierung der wirthschaftlichen Berufe [...] in der Pfak nicht" gebe. Er fuhr fort: Das ganze Land ist vorwiegend ein ackerbautreibendes, allein das Kleingewerbe kreuzt und verbindet sich überall mit dem Landbau, Tausende von Handwerkern sind zugleich Bauern, Tausende von Bauern zugleich Tagelöhner, kleine Handelsleute und Fabrikarbeiter.76 Die größte Realitätsnähe mag man in diesem Kontext noch den für 1852 im Rahmen der Ladenburger Ortsbereisungen erhobenen Daten zubilligen. Sie weisen in fünf der acht erfassten Gemeinden immerhin über vierzig Prozent, in Wallstadt dabei fast 57 Prozent Tagelöhner aus. Es macht indes stutzig und unterstreicht den Stellenwert der Selbstversorgung für einen Teil dieser Personengruppe, wenn aus Neckarhausen und Sandhofen zugleich berichtet wurde, dass zwei Drittel „der Bürger ihr Brod für das Jahr gebaut haben"; 77 in Feudenheim galt das angeblich sogar für vier Fünftel der Familien.78 In Wallstadt wurde dagegen beklagt, dass ,,[n]ur 1/3 der Bürger [...] ihre Brodfrüchte für den Hausbedarf auf ein Jahr pflanzen" könnten. 79 Wer sich von den ärmeren Dorfbewohnern regelmäßig im Tagelohn verdingen musste, fand zumeist vor Ort bei den wohlhabenderen Bauern Beschäftigung. So hieß es aus den acht Gemeinden des Amts Ladenburg zu Anfang der 1850er Jahre in sechs Fällen, dass die Arbeitskräftenachfrage der größeren Landbesitzer dafür im Wesentlichen ausreiche.80 In Neckarhausen wie in geringerem Maße in Ilvesheim kam als lokale Besonderheit die Tätigkeit als Schiffsreiter hinzu. 81 Für Sandhofen gewann der 1746
7« 77
78
79 80
81
Riehl, Pfälzer, S. 220. Neckarhausener Ortsbereisung 1851, in: GLA Ka 362/1888, S. 99. Im Jahr zuvor war hervorgehoben worden, dass „selbst die Mittelleute [...] die nöthige Frucht für das Jahr" bauten; ebd., S. 38f. Genauso Sandhofen 1850: „An Brodfrüchten werden so viel gebaut, daß [...] 2/3 der Bürger die Frucht für das Jahr bauen." Ebd. 1750, S. 40. Gleiches traf auch für Ilvesheim zu; ebd. 849, S. 39. Feudenheimer Ortsbereisung 1850, in: ebd. 567, S. 42. Ähnliche Verhältnisse herrschten in Käfertal, wo ,,[w]eitaus die größte Anzahl der Bürger [...] an Brodfrüchten und Kartoffeln den Bedarf für das Jahr" baute; ebd. 1637, S. 40. Wallstadter Ortsbereisung 1851, in: ebd. 1857, S. 68. Vergleichbar Schriesheim ebd. 2307, S. 36. Entsprechende Angaben wurden 1853 im Rahmen der Ortsbereisungen erfragt. Quellen vgl. Anm. 77-79: Ilvesheim S. 31, Käfertal S. 32, Neckarhausen S. 31, Sandhofen S. 31, Schriesheim S. 29. Vgl. Fütterer, Neckarhausen, S. 206-215; Heiman, Neckarschiffer, S. 1-6. Die Schiffsreiter auch Halfterer oder Halfreiter genannt - schleppten mit Pferdegespannen auf dem Leinpfad entlang des Neckars die Schiffszüge zur Bergfahrt (Treideln). Neckarhausen, wo 1852 rund fünfzig Bürger und gegen Ende der 1870er Jahr noch ca. vierzig Haushalte so neben einer kleinen Landwirtschaft ihr Geld verdienten, war ein Zentrum dieses Transportgewerbes; für 1852 vgl. Neckarhausener Ortsbereisungsprotokoll vom 8.6.1852, in: GLA Ka 362/1888, S. llOf. Uber das größere Ilvesheim hieß es zur gleichen Zeit: „Letzteres [das Schiffsreiten — N. G.] ist jedoch [...] nicht so bedeutend wie in Neckarhausen, indem sich nur etwa 15 Familien-Väter
3.2 Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie
93
begründete Torfstich seit den 1820er Jahren an Bedeutung als saisonale Einkommensquelle.82 Ferner bot dort um 1850 eine Reihe von Zigarrenmanufakturen, die sich in der Region ansonsten überwiegend erst einige Jahre später auf dem Lande verbreiteten, 83 zusätzliche Erwerbsmöglichkeiten. Die Zählung von 1852 nannte deren sieben.84 1851 sollen sich in Sandhofen „ca. 10 Fabriken mit etwa 100 Arbeitern" befunden haben 85 und bereits 1850 wurde „viel [Tabak] verarbeitet, indem fünf Cigarrenfabrikanten hier nicht unbedeutende Geschäfte machen." 86 Daher konnte man melden, dass neben der Landwirtschaft „Verdienst für die Armen [...] in den Cigarrenfabriken genug vorhanden" sei.87 Für die Tagelöhner einiger Dörfer in der unmittelbaren Nähe Mannheims entwickelte sich während der 1840er Jahre auch die städtische Fabrikarbeit zu einem zweiten Standbein. 88 So verlautete aus Feudenheim, dass ,,[v]iele Arbeiter [...] ihren Verdienst in Mannheim [suchen], obwohl sie solchen im Ort haben könnten." 89 Ähnlich verhielt es sich südlich des Neckars in Neckarau, wo Bürgermeister Mayfarth 1853 eigens die „zu Mannheim arbeitende Classe von hiesigen Einwohnern" erwähnte, „welche allda gute Verdienste machen." 90 In Wallstadt zwangen mangelnde Alternativen zu einem solchen Schritt, denn „die hiesigen Armen können im Orte selbst zum größern Theil den nöthigen Verdienst nicht finden, sie arbeiten [...] das ganze Jahr hindurch theils
82
83 84 85 86 87
88
89 90
mit diesem Gewerbe befassen." Ilvesheimer Ortsbereisungsprotokoll vom 14.6.1852, in: ebd. 849, S. 83. Vgl. Heierling, Sandhofen, S. 152f., 171. Danach stieg die Sandhofener Torfproduktion zwischen 1820 und 1842 von gut zwei auf knapp dreieinhalb Millionen Steine. Heierling gibt allerdings keine Beschäftigtenzahlen an. Vgl. auch Klenck, Mannheim-Sandhofen, S. 21 ff. Vgl. Grüne, Vertriebsaktivitäten. Statistische Notizen zu Sandhofen vom Oktober 1853, in: GLA Ka 362/1750, S. 22f. Heierling, Sandhofen, S. 163. Sandhofener Ortsbereisungsprotokoll vom 3.8.1850, in: GLA Ka 362/1750, S. 40. Statistische Notizen zu Sandhofen vom Oktober 1853, in: ebd., S. 31. Nicht zu beurteilen ist, ob die vier Zigarrenfabriken in Feudenheim, die ohnehin erst seit 1850 existierten, und der eine Betrieb in Heddesheim einen spürbaren Beschäftigungseffekt zeitigten, da weder aus den Ortsbereisungsprotokollen noch aus der Sekundärliteratur der Umfang der Belegschaft hervorgeht; für Feudenheim vgl. Lohr, Gemeindegeschichte, S. 62. Gleiches gilt für die Oberndorff sehe Brauerei in Edingen, die 1848/49 belegt ist; vgl. Fetzer, Edingen, S. 128, 651. Eine Quantifizierung der aus den Nachbardörfern in Mannheim tätigen Tagelöhner ist nicht möglich. Zwar existiert ein den Zeitraum von August 1838 bis Juni 1850 abdeckendes Mannheimer Taglöhner-Register (StA Ma Polizeipräsidium/Amtsbücher, Zug. -/1962, Nr. 2), das 3.589 Personen mit Herkunftsort erfasst. Gerade Pendelarbeiter wurden aber offenkundig nicht registriert. Im als Stichprobe überprüften Jahrgang 1843 finden sich unter 325 Einträgen nur vier einschlägige Hinweise für Neulußheim (1 Person), Oftersheim (1) und Schriesheim (2). Wie Anm. 78, S. 32. Bericht BMA Neckarau die Amtsbereisungen zu Schwetzingen pro 1852 betr. vom 28.5.1853, in: GLA Ka 376/145. Mayfarth unterstellte den Arbeitern einen gesteigerten Hang zur „Ueppigkeit", von dem sich die „Classe der Landwirthe" positiv abhebe. Zur sozialen Lage um 1850 vgl. auch Probst, Neckarau, Bd. 2, S. 233f.
94
3. Dorfgesellschaft
in Mannheim, theils auf der Fabrik Wohlgelegen."91 Schon anlässlich der Ortsbereisungen im Herbst 1851 hatte der Ladenburger Amtmann Kuen den Kontrast betont, dass in Käfertal „nur ganz wenige Arbeiter und zwar nur im Sommer jeweils in Mannheim Beschäftigung suchen, während aus Feudenheim und Wallstadt, welche Orte jener Stadt nicht so nahe liegen als Käferthal, viel mehr Leute dort beschäftigt sind."92 Somit mochte zwar für die Mehrheit der Untersuchungsgemeinden noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin mit gewissen Einschränkungen das auf Heddesheim gemünzte Urteil zutreffen: „Die arbeitsfähigen Armen können hier durch Taglohn bei den Landwirthen hinreichend Beschäftigung und Verdienst finden."93 In Sandhofen und einigen Dörfern im engeren Einzugsgebiet Mannheims (Feudenheim, Neckarau, Wallstadt) aber spielte daneben gewerbliche Lohnarbeit am Ort oder in der Stadt bereits vor 1850 anscheinend für so viele Menschen eine vitale Rolle, dass sich hier ein ländliches Industrieproletariat zu formieren begann.94
3.2.2 Landzugang und Betriebsgrößen Besitzkategorien und Klassifikationsschema Entscheidend für die soziale Stabilität der dörflichen Gesellschaften blieb somit, welche Bevölkerungskreise über Zugang zu agrarischen Ressourcen — vor allem Acker, Wiesen und Zugvieh — verfügten. Will man auf Basis der ungleichen Teilhabe an der landwirtschaftlichen Nutzfläche die Besitzhierarchie der lokalen Einwohnerschaft rekonstruieren, gilt es zunächst, sozioökonomisch aussagekräftige und plausible Unterscheidungskriterien für die Größengruppen herauszupräparieren. Eine zentrale Frage war schon für die Zeitgenossen, ob der jeweilige Bodenumfang eine auskömmliche Betriebsführung erlaubte, denn — wie der oben zitierte Karl Heinrich Rau 1851 in einer 91
Wie Anm. 79, S. 31. 1851 hatte der Wallstadter Ortsvorstand moniert, dass der Wochenlohn in Mannheim nicht am Samstag, sondern am Sonntag ausgezahlt werde, weswegen die Wallstadter Arbeiter die Kirche versäumten „und gleich ein Theil des Geldes, welches die Familie wohl brauchen könnte, dort verzechen." Auch müssten „die Tagelöhner das Frühjahr und den Sommer über ihren Dienstherrn in Mannheim an Sonntagen die Gartengeschäfte besorgen." Laut Amtmann Kuen bestand dieses Problem auch bei den „Feudenheimer Tagelöhner[n]." Wallstadter Ortsbereisungsprotokoll vom 9.10.1851, in: G L A Ka 362/1857, S. 72f.
92
Käfertaler Ortsbereisungsprotokoll vom 15.10.1851, in: GLA Ka 362/1637, S. 58. Kuen erachtete die Käfertaler Verhältnisse aus großstadtkritischem Blickwinkel denn auch für weitaus günstiger, weil in Mannheim „die Leute an vielerlei Bedürfnisse gewöhnt und auch sonst vielfach verdorben werden." Folglich führte er die „lobenswerthe Solidität und den heilsamen Sinn für Häuslichkeit" in Käfertal auf die mentale Distanz zur aufstrebenden Neckarmetropole zurück. Ebd., S. 57f. Statistische Notizen zu Heddesheim vom Oktober 1853, in: G L A Ka 386/128, S. 39. Zur Kombination von Industriearbeit und Zuerwerbslandwirtschaft im Rahmen von Pendelwanderung und dezentralisierter Produktion im späteren 19. Jahrhundert vgl. für Baden Kaiser, Proletarisierung, S. 39-54.
93 94
3.2 Schichtungsgefiige und Sozialhierarchie
95
einschlägigen Abhandlung konstatierte — „im Begriff eines Bauerngutes liegt das Merkmal, daß die Bewirthschaftung desselben eine Familie erhalten könne."95 Rau selbst bezifferte das Minimum für die fruchtbare Rheinebene zwischen Heidelberg und Mannheim auf sechs bis sieben Morgen96 und ergänzte in einem späteren Artikel, dass sich die Mindestausstattung in den „Hauptsitz [en] des Tabaksbaues" auf fünf Morgen verringern könne.97 Als im Herbst 1853 die Ortsvorstände des Amts Ladenburg aufgefordert wurden, die lokal übliche Untergrenze eines vollbäuerlichen Hofes zu schätzen, gelangte man in Ilvesheim, Käfertal, Neckarhausen und Schriesheim ebenfalls auf fünf bis sieben Morgen; Heddesheim, Sandhofen und Wallstadt hingegen nannten zehn Morgen und Feudenheim gar zwölf Morgen.98 Mithin markierten fünf bis zehn Morgen Grundbesitz eine für die Region verallgemeinerbare Übergangszone zum agrarischen Vollerwerb. So ging auch Adolf Buchenberger noch 1883 in einer Studie für den Verein für Socialpolitik von einer „Minimalernährungs- und Bewirthschaftungsfläche [...] bei einem Besitz von 5-10 Morgen" in der Pfalz aus.99 Schon im 18. Jahrhundert schieden sich in diesem Segment des Besitzspektrums die Bauern von den anderen Gruppen. Ein kurpfalzisches Fronreglement setzte 1760 voraus, dass die Landbewohner ab sechs Morgen Bodenumfang Pferde hielten und daher als Spannfröner zu gelten hätten. Die Handfröner hingegen pflügten mit Kühen, deren Heranziehung zu Frondiensten man mit Rücksicht auf die schädlichen Folgen für die Milchleistung und Bestellung des eigenen Ackers unterließ. Zugleich wurde angenommen, dass die Handfröner gewöhnlich auf Nebenverdienste aus selbständigem Handwerk oder Tagelohn angewiesen seien.100 In der Tat belegt die nominative Verknüpfung von Daten zum Grund- und Viehbesitz sowie zur Fronklassifikation für eine Reihe von Orten den Beginn der Pferdehaltung und Spannfronpflicht im Bereich zwischen fünf und zehn Morgen. Beispielsweise gab es 1767 in Edingen neunzehn Handfröner, von denen nach dem Güterschatzungskapital nur vier Personen mehr als fünf Morgen
M Rau, Minimum, S. 150. 96
Rau erläuterte, ebd., S. 168, dass man beispielsweise in Schriesheim, Edingen und Oftersheim „von 6-7 Morgen [...] schuldenfrei auskommen, selbst noch etwas erübrigen" könne. „Auch an anderen Orten der nämlichen Gegend ist es anerkannt, daß 6 Morgen eine Familie erhalten und selbst noch einige Ersparnisse gestatten."
97
Ders., Umfang, S. 238 (Zitat), 251. Quellen vgl. Anm. 77-79 und 93; alle S. 19 außer Heddesheim S. 27. In Käfertal wurde ergänzend zu den Statistischen Notizen und parallel zur Auffassung Karl Heinrich Raus „versichert, daß die hiesigen Landwirthe, welche 7 Morgen schuldenfreie Güter besitzen, noch im Stande sind, alljährlich noch etwas zu ersparen." Käfertaler Ortsbereisungsprotokoll vom 16.10.1853, in: G L A Ka 362/1637, S. 113.
98
Buchenberger, Lage, S. 245. Die dem Bericht zugrunde liegende Enquete stellte für Neulußheim, eine der 37 damals repräsentativ untersuchten badischen Gemeinden, aufgrund seiner relativ ungünstigen Bodenverhältnisse allerdings eine landwirtschaftliche Subsistenzgrenze von knapp vierzehn Morgen fest; vgl. Erhebungen, Bd. 2, S. 3. 100 Vgl. Schölten, Fronwesen, S. 68f.
99
96
3. Dorfgesellschaft
ihr Eigen nannten. Ihnen standen siebzehn Spannfröner gegenüber, die mit einer Ausnahme mindestens zehn Morgen besaßen. 101 Ahnliche Relationen ergeben sich 1784 für Reilingen 102 und Seckenheim, 103 1803 für Sandhofen 104 und 1826 für Wallstadt. 105 Ein weiteres Indiz liefert der Seckenheimer Einkommensteuerkataster von 1809, dessen Analyse eine Schwellenfläche von fünf Morgen zur untersten bäuerlichen Kategorie der „Einspänner" zutage fördert. 106 Die bipolare Logik des Fronsystems, an die sich die innerdörflichen Konflikte im 18. Jahrhundert anlehnten, 107 suggeriert allerdings einen Besitzdualismus, der in dieser Schärfe realiter nicht gegebenen war. Um 1850 wies Karl Heinrich Rau auf das in der Rheinpfalz auch unter den minderen Vollbauern geläufige „Anspannen der Kühe" hin, wodurch man „auf einem kleinen Gute viel besser auszukommen" in der Lage sei.108 Zugleich gelangte er mit Hilfe empirisch gesättigter Aufwands- und Ertragskalkulationen zu dem Resultat, dass die Verwendung von Pferden arbeitswirtschaftlich erst ab zehn Morgen ratsam, vielfach aber ein von Rentabilitätserwägungen unerschütterliches Statussymbol sei, von dem man nicht unbesehen auf einen gesunden Betrieb schließen dürfe. 109 Während Rau in der Kuhanspannung eine eher junge Erscheinung vermutete, dokumentieren einige frühere Zeugnisse, dass die Figur des Kuhbauern am unteren Neckar bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zur Normalität gehörte. 110 In Heddesheim etwa enthielt das Feldfrevelverzeichnis von 1775 einen separaten Abschnitt
Verknüpfung der Edinger Schatzungstabelle und eines Zugviehregisters von 1767, in: GA Ed R 19 bzw. 17. 102 Reilinger Schatzungstabelle und Hirtenpfründregister von 1784, in: GA Re R 120 bzw. 116. 103 Seckenheimer Schatzungsrenovationsprotokoll und Fronregister von 1784, in: StA Ma AB Se 95 bzw. BMA Se 780. Hier standen hundert Spannfröner 117 Handfrönern gegenüber. 104 Sandhofer Schatzungs- und Fronregister 1803, in: StA Ma Bürgerdienste Sandhofen Zug. 13/ 2002 Nr. 22. Das Zahlenverhältnis der Spannfröner zu den Handfrönern von 29 zu 52 spiegelt hier bereits ein fortgeschrittenes Stadium im Wachstum der dörflichen Unterschichten. i"5 Wallstadter Schützenbelohnung-Register von 1830 und Einwohnertabelle von 1826, in: StA Ma AB Wa I 116 bzw. BMA Wa 43. Bei der Verknüpfung wurden 84 von 123 Personen (68,29 Prozent) identifiziert. Die sechzehn erfassten Pferde verteilten sich auf zwei Besitzer mit knapp acht Morgen und fünf Besitzer mit über zehn Morgen Grundeigentum. 106 Einkommensteuerkataster Seckenheim von 1809 in: StA Ma AB Se 96. w Vgl. Kapitel 4.1. 108 Rau, Minimum, S. 155; vgl. auch ders., Landwirthschaft, S. 307. 109 Vgl. Rau, Minimum, S. 155. Rau diagnostizierte „in den Familien der Pferdebauern eine Abneigung, die Pferde abzuschaffen." n o Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 143, bezeichnen mit Blick auf eine ältere Arbeit des Verfassers die ungeprüfte „Rückdatierung" von Belegen für Kuhanspannung aus dem 19. auf das 18. Jahrhundert als „problematisch". Für die Rheinpfalz existiert jedoch eine Fülle einschlägiger Hinweise seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, zu denen neben dem im Folgenden herangezogenen Katastermaterial auch der zeitgenössische Sprachgebrauch im Zuge innergemeindlicher Auseinandersetzungen, etwa die Rede von „Kühe Bauer[n]" in Käfertal um 1770, zu zählen ist; vgl. Abschnitt 4.1.1. 101
3.2 Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie
97
für „Küh Bauren"111 und ein Fronregister listete 1808 außer 54 Hand- und 45 Spannfrönern in einer gesonderten Rubrik 24 „Kuhbauern" auf.112 Die Wallstadter Frontabelle von 1800, auf deren Basis Geldsurrogate erhoben wurden, sah ebenfalls eine eigene Sparte für mittlere Landbesitzer ohne Pferde vor, wobei von „1 Paar Kühe [...] soviel als 2 Handfröhner", d.h. zehn Kreuzer, entrichtet werden sollte. Dreizehn Haushalte rechneten zu dieser Kategorie gegenüber 33 Hand- und zehn Spannfrönern.113 Aufgrund solcher Befunde soll für die Rekonstruktion der dörflichen Sozialstruktur von Vollbauern im Sinne wohlhabenderer Überschusserzeuger mit Pferdehaltung und Gesindebeschäftigung114 erst ab einem Bodenumfang von zehn Morgen gesprochen werden.115 Besitzer mit fünf bis unter zehn Morgen werden dagegen als Kleinbauern eingestuft, die in Abhängigkeit von lokalen Gepflogenheiten und individuellen Präferenzen entweder Pferde oder Kühe als Spannvieh nutzten. Die prekäre Vollbäuerlichkeit dieser Gruppe zeichnete sich dadurch aus, dass sie ihren Lebensunterhalt zwar primär, oft aber nicht ausschließlich aus dem landwirtschaftlichen Betrieb zu bestreiten vermochte und anfällig für preis- und erntebedingte Krisen blieb. Wie bereits dargelegt, firmierten nach der im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Nomenklatur alle unterbäuerlichen männlichen Haushaltsvorstände, die kein Gewerbe betrieben, als „Tagelöhner". In Seckenheim zum Beispiel gab es 1809 offiziell 92 Familien dieser Klasse, von denen jedoch nur sieben absolut landlos waren und zwölf weniger als einen Morgen besaßen.116 Der Begriff Tagelöhner besagte somit als Negativattribut zunächst lediglich, dass die betreffenden Haushalte nicht vom Ertrag ihres eigenen Feldes zu leben vermochten und einen Zusatzverdienst benötigten. Kraft ihres häufig vorhandenen Grundbesitzes zählten sie nach Raus Beschreibung indes teilweise zu jenen „kleine[n] Leute[n], die nur wenige Morgen Land bauen und eine einzige Kuh haben", oft in wechselseitiger Kooperation Kuhgespanne zusammenstellten »i Heddesheimer Feldfrevelregister von 1775, in: GLA Ka 229/40443. 112 Heddesheimer Fronregister von 1808, in: GA He R 110. Die Verknüpfung mit der Schatzungstabelle aus demselben Jahr erweist, dass diese Kuhbauern ein bis acht Morgen Land besaßen. »3 Wallstadter Fronregister von 1800, in: StA Ma BMA Wa 369. 114 Der Zusammenhang von Besitzgröße und Gesindebeschäftigung ist in den Quellen nur selten direkt greifbar. Nach dem Seckenheimer Einkommensteuerkataster von 1809 (vgl. Anm. 106) setzte die Notwendigkeit zum Einsatz von Gesindekräften bei etwa zehn Morgen ein. 115 Ähnlich hat Mahlerwein, Herren, S. 80ff., die Grenze für rheinhessische Dörfer bei 10,5 Morgen gezogen. n 6 Berechnet nach dem Einkommensteuerkataster von 1809; vgl. Anm. 106. Von den 73 Tagelöhnern ab einem Morgen hatten 26 ein bis unter zwei Morgen, 18 zwei bis unter drei Morgen, 13 drei bis unter vier Morgen, 9 vier bis unter fünf Morgen und 7 ab fünf Morgen, im Mittel 2,31 Morgen. 1784 hatten in Seckenheim von 68 mit dem vollen Leibschatzungskapital von fünfzig Gulden taxierten Personen 35 über Liegenschaften von einem Morgen an aufwärts verfügt. Im Schatzungsregister fehlt die Bezeichnung „Tagelöhner"; zur vollen Leibschatzung wurden aber meist nur faktische Tagelöhner veranlagt; vgl. Mahlerwein, Herren, S. 77. Von den 35 Personen ab einem Morgen besaßen 9 ein bis unter zwei Morgen, 10 zwei bis unter drei Morgen und 16 ab drei Morgen, im Durchschnitt 1,73 Morgen.
98
3. Dorfgesellschaft
und sich, sofern die lokalen Umstände es erlaubten, besonders energisch der Anpflanzung und dem Vertrieb von Handelsgewächsen zuwandten.117 Angesichts des subsistenzrelevanten Potentials, einkommenswirksame Intensivierungsprozesse mitzuvollziehen und voranzutreiben, werden daher im Folgenden die Inhaber von einem bis unter fünf Morgen agrarischer Nutzfläche als Kuhivirte bezeichnet. Die Untergrenze der Gruppe rechtfertigt sich neben den danach nurmehr kärglichen Landressourcen auch dadurch, dass — wie Beobachtungen zu Reilingen, Seckenheim, Wallstadt und Oftersheim nahe legen118 — bei etwa einem Morgen die Kuhhaltung allmählich endete. Für den Personenkreis unterhalb von einem Morgen ist darum zu vermuten, dass er in der Regel weder auf genügend Land noch auf das erforderliche Zugvieh zugreifen konnte, um im eigenwirtschaftlichen Rahmen nennenswert am agrarischen Fortschritt teilzuhaben. Er soll daher als landarme Tagelöhner apostrophiert, wegen der noch gegebenen Möglichkeit zur partiellen Selbstversorgung aber von den Haushalten ohne Bodenbesitz abgesetzt werden.
Bestandsgüter, bäuerliches Eigentum und lokale Differenzierungsmuster In besitzrechtlicher Hinsicht umfassten die Dorfgemarkungen in der Rheinpfalz neben dem Gemeindegut einerseits „bürgerliches" Eigentum, die günstigste bäuerliche Besitzform, die in der Kurpfalz vielerorts die feudale Bodenleihe auf den zweiten Platz verdrängt hatte.119 Es konnte weitgehend frei verkauft, verpachtet und im Erbgang geteilt werden. Andererseits gab es in lokal variierendem Umfang grundherrlich gebundene 117
118
Rau, Landwirthschaft, S. 315f. Es geht hier nicht um die oben erwähnten und ebd., S. 307-315, traktierten „Kuhbauern", die Flächen von mehr als fünf bis sechs Morgen mit Kühen beackerten; vgl. ders., Rheinpfalz, S. 25-29. Ders., Minimum, S. 154, gibt die jährliche Pflugleistung eines Kuhgespanns mit zehn bis fünfzehn Morgen an. Zu Reilingen vgl. Anm. 102. Von 164 Kühen wurden zwei Drittel von Besitzern mit mindestens einem Morgen Land gehalten. Für Seckenheim wurde der Einkommensteuerkataster von 1809 (vgl. Anm. 106) mit einer Rindviehtabelle von 1800 (StA Ma BMA Se 167) verknüpft; von 176 Kuhbesitzern wurden 131 im Kataster von 1809 identifiziert und 205 der 289 Kühe zugeordnet. Von den 131 Kuhinhabern gehörten lediglich sieben der Kategorie unter einem Morgen an, hingegen 59 derjenigen von einem bis unter fünf Morgen. Zu Wallstadt vgl. Anm. 105. 18 Personen mit einem bis unter fünf Morgen Land besaßen durchschnittlich je eine Kuh, 13 Personen mit unter einem Morgen 0,46 Kühe und 38 Personen ohne Grundeigentum 0,16 Kühe. Für Oftersheim wurde der Ortssteuerkataster von 1830 zu einem Viehregister aus demselben Jahr in Beziehung gesetzt (beide in GA Of R 212). Danach entfielen auf eine Familie in der Gruppe bis unter einem Morgen im Mittel 0,55 Kühe, in den Haushalten mit einem bis unter fünf Morgen jedoch bereits 1,6 Kühe. Vgl. Schaab, Sozialstruktur, S. 238f£; Mahlerwein, Herren, S. 20-24. Das Attribut „bürgerlich" verweist in der diesbezüglichen Quellensprache des 18. und 19. Jahrhunderts auf den Status als ungeteiltes Eigentum, das überwiegend in ^«»«^bürgerlicher Hand lag, und nicht auf Ausmärker ^W/bürgerlicher Provenienz.
3.2 Schichtungsgefüge und Sozialhierarchie
99
Höfe, Äcker und Wiesen, die sich im Obereigentum des Landesfürsten, der geistlichen Güteradministration sowie von Adligen und Korporationen befanden und im Zeitoder Erbbestand gegen Geld und Naturalzinsen meist an jeweilige Gemeindeangehörige vergeben wurden. Wie eine Übersicht von 1791 demonstriert, fielen die Proportionen von bäuerlichem Eigentum und Bestandsgütern in „Abhängigkeit von den siedlungsgeschichtlichen Grundlagen" sehr unterschiedlich aus (Graphik 7).120 Während sich beide Typen im Durchschnitt die Waage hielten, dominierte in Brühl, Oftersheim, Plankstadt, Sandhofen und Wallstadt mit über drei Vierteln der grundherrliche Besitz. So war denn auch in der Sandhofener Schatzungsrenovation von 1721 vermerkt worden, dass „der Orth [...] allein in puren Erbbestandsgüttern bestehet, undt solche ohne andere aigenen Gütteren gebauet und benutzet werden."121 Auf der anderen Seite nahm in sechs Gemeinden (Feudenheim, Friedrichsfeld, Hockenheim, Neckarau, Neckarhausen, Reilingen) ungeteiltes Eigentum mehr als zwei Drittel der Gemarkung ein.
Graphik 7: Besitzrechtliche Gliederung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in siebzehn Dorfgemeinden der badischen Rheinpfalz 1791
Gemeinde • Bürgerliches Eigentum • Grundherrliches Obereigentum
Quelle: Generaltabellen der Oberämter Heidelberg und Ladenburg 1791, in: LA Sp A2 114/2.
Solche Disparitäten blieben nicht ohne Konsequenzen für das lokale Schichtungsgefüge. Zwar wurden die ursprünglich kompakten grundherrlichen Güter nach dem Dreißigjährigen Krieg häufig nicht mehr zusammenhängend bewirtschaftet, sondern 120 121
Schaab, Sozialstruktur, S. 239. Sandhofener Schatzungsrenovationsprotokoll von 1721, in: StA Ma AB Sa 20, fol. 9.
100
3. Dorfgesellschaft
in Partien von einigen Morgen verpachtet und dadurch bis zu einem gewissen Grad in die klein- und mittelbetrieblichen Strukturen eingeschmolzen. Wenn parallel nennenswertes bürgerliches Eigentum existierte, handelte es sich hierbei indes um eine nahezu exklusiv vollbäuerliche Ressourcenaufstockung. In Seckenheim etwa waren 1784 ca. 95 Prozent der betreffenden Grundstücke an 48 Beständer ausgetan, von denen 33 schon mit ihren sonstigen Äckern und Wiesen zur Gruppe ab zehn Morgen zählten und sieben weitere fünf bis unter zehn Morgen besaßen.122 Wo feudales Obereigentum wie in Brühl, Plankstadt und Sandhofen bei weitem überwog, konnte sich eine lokale Elite ohnehin lediglich als Erb- und Temporalbeständer konstituieren, was Nachsiedlern den Bodenzugang erschwerte und infolge von Teilungsbeschränkungen auch den Spielraum der Bauern einengte, im Erbgang alle Kinder mit Nutzflächen auszustatten. Im Allgemeinen beförderte daher umfängliches grundherrliches Eigentum in einer Gemarkung den Gegensatz von größeren Besitzern und Landarmen. Eine echte Integration in das Realteilungssystem führten auf diesem Gebiet erst die Allodifikationen im 19. Jahrhundert herbei. Man darf die im Hinblick auf die Ressourcenstreuung retardierenden und damit insgesamt polarisierenden Effekte des Bestandswesens aber nicht überbewerten. Es bot durchaus Möglichkeiten zur schleichenden Dismembration, sei es durch stillschweigende Missachtung von Teilungsverboten, sei es in Form sogenannter Trägereien mit einem Hauptbeständer und mehreren Unterpächtern, sei es schließlich im Zuge einer regulären Neubelehnung mit reduzierten Besitzeinheiten. In Plankstadt etwa, dem wohl einschlägigsten Beispiel, kamen 1805 unter 121 Bürgern immerhin 41 ansonsten fast durchweg eigentumslose Personen in den Genuss von erbbeständlichen Grundstücken im Umfang zwischen einem und zwei Morgen, die zumindest den Betrieb einer bescheidenen Kuhwirtschaft gestatteten. Den namhaftesten Beitrag hierzu leistete das Gut des Reformierten Kirchenrats, das in 36 Losen zu je 1,31 Morgen verteilt war.123 Im selben Jahr wurden in Plankstadt die Äcker und Wiesen der Pflege Schönau und der Kollektor Heidelberg, die den Löwenanteil der Gemarkung ausmachten, von Zeitin Erbbestand konvertiert. Dabei gelangten 1.140 Morgen Nutzfläche an zunächst 38 Pächter, d.h. im Durchschnitt dreißig Morgen pro Kopf. Diese 38 Personen repräsentierten rund dreißig Prozent der Haushalte, so dass die übrigen siebzig Prozent leer ausgingen. Unter der Leiheform des Erbbestands setzte nun aber eine begrenzte Fragmentierung ein: 1839 zählte man schon 94 Beständer (ca. zwölf Morgen je Kopf) bzw. mehr als ein Drittel der gewachsenen Bürgerschaft.124 1845 schließlich umfasste die
123
Vgl. Anm. 103. Vergleicht man den Landbesitz der 48 Personen unter Einschluss und Abzug der Pachtgüter nach Betriebsgrößengruppen, ergeben sich folgende Relationen: ab zehn Morgen: 39 mit Bestand/33 ohne Bestand; fünf bis unter zehn Morgen: 7/7; ein bis unter fünf Morgen: 1/3; null bis unter einem Morgen: 1/5. Nur bei vierzig Morgen Boden, die Freiherr von Stengel an 39 Personen verliehen hatte, kamen in wenigen Fällen auch geringer Begüterte zum Zuge. Plankstadter Kriegsschatzungstabelle 1805, in: G A PI A 323.
124
Vgl. Pfaff, Plankstadt Gestern, S. 93-108.
122
3.2 Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie
101
gesamte Erbbestandsfläche in Plankstadt 1.300 Morgen und war an 154 Familien verteilt. Davon gehörten zwanzig Haushalte mit je sechs Morgen zu den Kleinbauern und neunzig mit je drei bzw. einem Morgen zu den Kuhwirten.125 Eine noch stärkere Parzellierung trat ein, als die Bestände in den folgenden Jahren allodifiziert wurden und als Volleigentum keinen Verkehrsbeschränkungen mehr unterlagen. Tabelle 3 stellt für die Untersuchungsgemeinden nach dem oben erläuterten Besitzgruppenschema die Veränderung der Bodenverteilung zwischen 1721/22 und 1873 dar und weist ferner, soweit verfügbar, die Anteile von Bestands-, Pacht- und Allmendland in den Gemarkungen aus. Die Datenkompilation beruht auf unterschiedlichen Quellengattungen und schwankt infolgedessen in ihrer sachlichen und analytischen Reichweite. Die sichersten Aussagen können auf der Basis namentlicher Besitzverzeichnisse getroffen werden, wie sie mit den Schatzungsrenovationen von 1721/22, darüber hinaus aber nur sporadisch (Käfertal 1773, Neckarau 1754, Seckenheim 1784/1809, Plankstadt 1805, Wallstadt 1830) vorliegen. Ähnlich verlässliche Zahlen, allerdings in bereits aggregierter Form, liefert für das Ende der Betrachtungszeit die früheste landwirtschaftliche Betriebsstatistik im Großherzogtum Baden von 1873. Die meisten übrigen Einträge fußen auf nominativen Schatzungsregistern bzw. Steuerkatastern, in denen nur die monetären Veranlagungen, aber nicht die dazu herangezogenen Grundstücke aufgeführt sind. In diesen Fällen wurden die in die Tabelle eingeflossenen Flächenangaben zuvor nach einem am Beispiel Seckenheims entwickelten Umrechnungsschlüssel aus den Schatzungskapitalien ermittelt.126 Sie bergen daher gewisse Unschärfen und sollten lediglich als Näherungen verstanden werden. Für alle auf namentliches Listenmaterial gestützten Werte gilt, dass zur einheitlichen Datenbereinigung unselbständige Steuersubjekte (v.a. Vormundschaften, Erbengemeinschaften, Auszügler) ausgeschieden wurden; Witwenhaushalte sind dagegen durchgängig berücksichtigt.
125 126
Vgl. Monheim, Agrargeographie, S. 72. Die restlichen 44 Haushalte waren Vollbauern. Für die kurpfälzischen Schatzungsregister fußt das Klassifikationsschema auf der Seckenheimer Schatzungsrenovation von 1784. Er ergeben sich für die verschiedenen Besitzgruppen an Güterschatzungskapitalien: ohne Bodenbesitz null Gulden; landarme Tagelöhner unter zehn Gulden; Kuhwirte zehn bis unter fünfzig Gulden; Kleinbauern fünfzig bis unter hundert Gulden; Vollbauern ab hundert Gulden. Als Konkordanz für die badischen Ortssteuerkataster wurde der Seckenheimer Kataster von 1835 mit einer Meldung des Gemeinderats über die Eigentumsverteilung von 1842 zusammengeführt; vgl. Anm. zu Tabelle 3. Auf die Besitzgruppen entfallen an Grundsteuerkapital: ohne Bodenbesitz null Gulden; landarme Tagelöhner unter 200 Gulden; Kuhwirte 200 bis unter 1.000 Gulden; Kleinbauern 1.000 bis unter 2.000 Gulden; Vollbauern ab 2.000 Gulden. Für das Totalsteuerkapital, das auch das Gewerbe- und Gebäudesteuerkapital enthält und in Tabelle 3 nur im Fall Plankstadts 1840 herangezogen wurde, gilt ein gröberes Raster: ohne Bodenbesitz bis 500 Gulden; landarme Tagelöhner über 500 bis unter 1.300 Gulden; Kuhwirte 1.300 bis unter 3.000 Gulden; Kleinbauern 3.000 bis unter 5.000 Gulden; Vollbauern ab 5.000 Gulden.
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[Kling], Tabacksbau, S. 5f.; Hervorhebung nicht im Original. Vgl. Schröder, Geschichte, S. 95.
114
3. Dorfgesellschaft
Um 1830 hielt Rau sie in den Dörfern für ein eher rares Phänomen, 162 schrieb dreißig Jahre später jedoch, dass sich auf dieser Basis vielfach heuerlingsähnliche Bindungen zwischen Tagelöhnern und Bauern herausgebildet hätten, wenngleich der frühere Naturalzins häufig monetarisiert worden sei.163 In jedem Fall galten derartige paternalistisch gefärbte Arbeitsbeziehungen als förderungswürdiges Sozialmodell. Die Unterrheinkreisstelle des landwirtschaftlichen Vereins prämierte alljährlich einige lang gediente, standorttreue Tagelöhner. Als Empfehlung für eine solche Preisverleihung attestierte der Seckenheimer Bürgermeister zum Beispiel 1840 den Einwohnern Franz Schröck und Jacob Stein in zwei Zeugnissen, dass sie über 25 Jahre ununterbrochen für denselben Bauern zu dessen vollster Zufriedenheit tätig gewesen seien und durch Mitbeschäftigung ihrer Frauen und Kinder eine musterhafte Familientradition gestiftet hätten. 164 Zugleich verkauften beide trotz winzigen Grundeigentums 1836 und 1841 Tabakmengen auf dem lokalen Markt, die ihnen Summen von 100-220 Gulden eintrugen. 165 Obwohl der Stellenwert des Teilbaus nicht zu quantifizieren ist, sollte er demnach neben anderen Pachtformen, der Allmende und eigenen Parzellen als Ressourcenoption gerade der ärmeren Tagelöhner im Auge behalten werden. Nur für Seckenheim bietet sich dank dem singulär überlieferten Einkommensteuerkataster von 1809 ein Weg, zu einem relativ frühen Zeitpunkt den Effekt auch der unter den Gemeindebewohnern in Zeitpacht vergebenen Grundstücke einzufangen (Tabelle 3). 166 Im Vergleich zu 1784 fällt auf, dass die Kuhwirte eine ungleich breitere Zone um-
Rau, Rheinpfalz, S. 79, erläuterte: „Dem Grundeigenthümer liegt es bei dieser Gelegenheit ob, den Mist zu liefern und die Pflugarbeit zu besorgen, und es bleibt ihm, wenn er dies von der Hälfte des Erlöses bezahlt hat, eine so geringe Grundrente übrig, daß er keinen Vortheil mehr findet, weßhalb man sich nur ungern zu diesem Vertrage entschließt und ihn bloß da eingeht, wo man gewissermaßen sich verpflichtet sieht, den Tagelöhnern fortdauernd Beschäftigung zu verschaffen, was nicht in den Dörfern, wohl aber auf den Höfen vorkommt." 163 Vgl. ders., Landwirthschaft, S. 325. Zu ähnlichen, für das 19. Jahrhundert typischen Verstetigungsprozessen in den Beziehungen zwischen größeren Bauern und Tagelöhnern vgl. Konersmann, Soziogenese, über den mennonitischen Landwirt Kaegy im rheinhessischen Offstein. 164 Zeugnisse vom 14.9.1840 in: StA Ma BMA Se 110. Im Steuerkataster von 1835 lassen sich Franz Schröck und Jacob Stein als Tagelöhner mit weniger als einem Morgen Grundeigentum identifizieren (22 bzw. 61 Gulden Grundsteuerkapital); beide besaßen jedoch ein eigenes Haus. Nach den Tabakwaag-Journalen von 1835/36 und 1841/42 in: StA Ma AB Se 226 bzw. 227. Schröck veräußerte am 31.5.1836 13,23 Zentner Tabak und am 16.11.1841 14,57 Zentner; Stein am 30.5.1836 15,29 Zentner und am 15.12.1841 6,59 Zentner. Der Erlös für einen Zentner Tabak betrug 1836 ungefähr neun Gulden und 1841 fünfzehn Gulden; Preise nach Berichten der Seckenheimer Gemeindeverwaltung in: StA Ma BMA Se 30 bzw. 110. 166 Eine Uberlieferungslücke von sechs Steuerpflichtigen im Kataster (Nr. 26-31) geht wohl v.a. zu Lasten der Vollbauern; in die Gesamtheit von 319 Haushalten wurden diese aber aufgenommen; eine Reduktion der bekannten Haushaltszahl von 1812 (344) proportional zur Differenz der Einwohnerdaten für 1812 und 1809, ergibt ebenfalls 319 Familien. Nur im Seckenheimer Gemeindearchiv wurden für 1845-1855 auch Jahrgangsbände mit dem Titel „Sämtliche Protokolle über verpachtete Güter von Privaten" gefunden, deren hier nicht mögliche Auswertung detaillierte Aufschlüsse über die Landverpachtung zwischen den Ortsbürgern verspräche; vgl. StA Ma
162
3.2 Schichtungsgefüige und Sozialhierarchie
115
fassen und auch die Kleinbauern stärker repräsentiert sind, wohingegen die Anteile der Besitzlosen und landarmen Tagelöhner signifikant niedriger liegen. Die Akkumulationsmöglichkeiten jenseits des Bodeneigentums erscheinen somit als ein Moment der Aufwärtsmobiliät und erweiterten den Kreis derer, für die agrarische Auskömmlichkeit in erster Linie eine Frage intensivierter Anbaumethoden war. Rückblickend auf 1784 sollten die Proportionen von 1809 eingedenk der unterschiedlichen Erhebungsformen nicht so sehr als Ausdruck einer zwischenzeitlichen Umschichtung interpretiert werden, die angesichts des Bevölkerungsgeschehens auch kaum zu begründen wäre. Vielmehr ist zu vermuten, dass die quellenbedingt eingeschränkten Eigeniumswerte von 1784 ein zu düsteres Bild der tatsächlichen ßw/^yerteilung zeichnen, so dass schon für das späte 18. Jahrhundert die Position der besser gestellten unterbäuerlichen sowie der kleinbäuerlichen Gruppen höher veranschlagt werden muss. Nicht allein in Seckenheim, sondern insgesamt bedürfen die aus dem Katastermaterial gewonnenen Daten im Spiegel der Relationen von 1873 und im Lichte der vorstehenden Überlegungen zum Allmende- und Pachtwesen daher der Korrektur. Nichts spricht gegen die Annahme, dass etliche der nach dem Eigentum als landarme Tagelöhner einzustufenden Haushalte faktisch Ackerböden in einem Umfang nutzten, mit dem sie in die Schicht der Kuhwirte vorstießen. Aus demselben Grund dürfte auch die Zahl der Kleinbauern höher anzusetzen sein. Ohne die Ziffern exakt bereinigen zu können, geht es deshalb nicht fehl, wenn man in den meisten Dörfern nur etwa ein Drittel der Haushalte als zu unbegütert ansieht, um auf eigenwirtschaftlicher Basis mit den Segnungen des agrarischen Fortschritts in Kontakt zu kommen. Dass es sich bei dieser Charakterisierung nicht bloß um ein idyllisierendes Rechenspiel handelt, unterstreicht die Sicht der Zeitgenossen. Als die Ortsvorstände des Amts Ladenburg 1853 angeben sollten, wie viele landwirtschaftliche Voll- und Nebenerwerbsbetriebe sich in ihren Gemeinden befanden, warteten sie zum Teil mit verblüffenden Resultaten auf (Tabelle 5). Mag man die Meldungen aus Käfertal und Neckarhausen auch für grotesk überzogen erachten, so belegen die Einschätzungen grosso modo doch, dass in der Regel über die Hälfte der dörflichen Haushalte nach wie vor ausschließlich oder primär als agrarische Produzenten galten. In Schriesheim hieß es obendrein zur berufsklassifikatorischen Verwirrung: „135 Landwirthe besitzen dieses [fünf Morgen Feld - N. G.]. 85 Taglöhner ebenfalls dasselbe, 87 Taglöhner aber nicht."167 Bezeichnenderweise kamen abermals aus Feudenheim und Wallstadt, den beiden Arbeitersiedlungen, die bei weitem ungünstigsten Nachrichten — in Wallstadt mit dem lapidarem Zusatz: „[...] die übrigen besitzen gar kein Feld."168 Im Bezirk Schwetzingen sind die entsprechenden Umfrageergebnisse nicht erhalten. Einer Schrift von Karl Heinrich Rau lässt sich jedoch zumindest für drei Orte die Zahl der PferdeBMA Se 289 (1853), 290 (1850), 475 (1848), 487 (1846), 488 (1854), 489 (1847), 490 (1845) und 491 (1855). i« GLA Ka 362/2307, S. 19. 168 GLA Ka 362/1857, S. 19.
116
3. Dorfgesellschaft:
und Kuhbauern entnehmen und der Summe der Familien gegenüber stellen. Demnach machten in Oftersheim und Seckenheim die Bauern und Kuhwirte in den 1850er Jahren zusammen fast zwei Drittel der Bevölkerung aus.169 In Neckarau hingegen, der weiteren Tagelöhnersiedlung an der Peripherie Mannheims, betrug die Quote lediglich ein Drittel.170
Tabelle 5: Voll- und Nebenerwerbslandwirte im Bezirksamt Ladenburg 1852/53 Gemeinde
Vollerwerbsgrenze
Vollerwerbsbetriebe N
%
Nebenerwerbsbetriebe N
%
Haushalte N
Feudenheim
12 Mo
12
2,21
63
11,58
544
Heddesheim
10 Mo
100
27,93
198
55,31
358
Ilvesheim
5 Mo
80
28,78
40
14,39
278
Käfertal
7 Mo
(!) 250
72,05
57
16,43
347
31,39
Neckarhausen
5 Mo
70
(!) 187
83,86
223
Sandhofen
10 Mo
69
24,73
168
60,22
279
Schriesheim
5 Mo
220
37,04
87
14,65
594
10 Mo
17
11,18
21
13,82
152
Wallstadt
Quellen: Statistische Notizen, in: GLA Ka 362/567, S. 19 (Feudenheim), 849, S. 19 (Ilvesheim), 1637, S. 19 (Käfertal), 1888, S. 19 (Neckarhausen), 1750, S. 19 (Sandhofen), 2307, S. 19 (Schriesheim), 1857, S. 19 (Wallstadt) 386/128, S. 27 (Heddesheim); Haushalte vgl. Tabelle 3 im Anhang.
Als Fazit kann also festgehalten werden, dass sich in vielen Gemeinden am unteren Neckar zwischen etwa 1720 und dem frühen 19. Jahrhundert eine Besitzstreuung entwickelt hatte, an der mit Blick auf den Bodenzugang in den folgenden Dekaden keine gravierenden Veränderungen mehr auftraten. Bezieht man Allmende- und Pachtland ein, verfügten neben den Voll- und Kleinbauern auch etliche vermeintliche Kümmerexistenzen, besonders die zahlreichen Kuhwirte, grundsätzlich über das erforderliche Ressourcenpotential für eine (semi-)agrarische Daseinsform. Andererseits wuchsen diejenigen Schichten, die von möglichen ackerbaulichen Errungenschaften abgeschnitten waren, kaum rascher als die Gesamtbevölkerung. Die meisten Bewohner der ländlichen Rheinpfalz lebten mithin seit der Zeit um 1800 in Dorfgesellschaften, die zwar von markanter Ungleichheit gekennzeichnet, aber nicht mehr so harsch gespalten waren 169 Vgl R aU) Landwirthschaft, S. 318f. Die hier von Rau verwendete Kategorie der „Pferdebauern" fallt mit den Voll- und einem Teil der Kleinbauern zusammen, während sich hinter den „Kuhbauern" die übrigen Kleinbauern und das Gros der Kuhwirte verbergen. Genannt werden um 1850 in Oftersheim 41 Pferde- und 126 Kuhbauern unter 266 Haushalten. 1858 gab es in Seckenheim 139 Pferde- und 185 Kuhbauern bei 509 Familien. Haushaltszahlen 1852 und 1858 vgl. Tabelle 3 im Anhang und Tabelle 3. 17°
Vgl. Rau, Landwirthschaft, S. 322: 84 Pferde- und 85 Kuhbauern bei 523 Familien im Jahr 1858.
3.2 Schichtungsgefiige und Sozialhierarchie
117
wie zu Beginn des Jahrhunderts oder sich erneut polarisierten. Ob diese partielle Nivellierung auch sozioökonomische Stabilität hervorbrachte, hing davon ab, wann und in welcher Weise es gelang, die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft auf breiter Front zu steigern.
3.2.3 Konfessionelle Ungleichgewichte Die Untersuchungsdörfer waren nicht nur durch die skizzierten Ausprägungen sozialer Inegalität, sondern im kurpfalzischen Territorialbereich zudem von konfessioneller Pluralität gekennzeichnet. Zwischen beiden Ungleichheitsdimensionen bestand eine brisante Interdependenz. Allerdings hält die amtliche Statistik für eine konfessionell differenzierte Rekonstruktion ländlicher Besitz- und Erwerbs strukturen im ganzen 19. Jahrhundert kein systematisches Material bereit. Noch die einschlägige, von Max Weber betreute religionssoziologische Studie Martin Offenbachers zur ökonomischen Lage der Katholiken und Protestanten in Baden stützte sich 1900 auf eine unveröffentlichte Zählung aus dem Jahr 1895, die lediglich den Hauptberuf und das Religionsbekenntnis erfasste.171 Offenbachers Kerndiagnose einer allgemeinen Vorrangstellung der Protestanten leitete sich daher zuvorderst aus der Korrelation aggregativer siedlungsgeographischer Daten mit großräumigen Angaben zur Bodenfruchtbarkeit, bäuerlichen Verschuldung und Verbreitung unterschiedlich intensiver Anbausysteme her.172 Das bis heute oft wiederholte Resultat lautete, hier aus der Feder Hans-Peter Bechts, dass „praktisch alle wirtschaftlich weiter entwickelten Regionen des Landes" — darunter auch der „Rhein-Neckar-Raum" — „ganz überwiegend von Protestanten bewohnt" gewesen seien.173 Indessen hatten die Protestanten am unteren Neckar seit dem 18. Jahrhundert numerisch keineswegs mehr derart unbestritten die Oberhand, gerieten mancherorts sogar in die Minderheit.174 Untersuchungen zu den bi- und trikonfessionellen Dörfern der Rheinpfalz sind jenseits regionaler Makroanalysen daher methodisch auf die Verbindung von Besitzangaben aus Schatzungs- und Steuerregistern mit Informationen zur individuellen Bekenntniszugehörigkeit aus Kirchen- bzw. Ortssippenbüchern verwiesen. Solche nominativen Verknüpfungen konnten für fünf Gemeinden, in denen die erforderlichen Quellen vorliegen (Edingen, Heddesheim, Oftersheim, Seckenheim, Wallstadt), zwischen 1721 und 1835 durchgeführt werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 6 zusammengefasst.
Vgl. Offenbacher, Schichtung, S. 31. ™ Vgl. ebd, S. 31-39. ™ Becht, Religion, S. 8f. 174 Vgl. Kapitel 5.1.
118
3. Dorfgesellschaft
Tabelle 6: Das konfessionelle Profil der dörflichen Sozialstruktur 1721-1835 Gemeinde/Jahr Edingen 1767
Heddesheim 1808
Besitzgruppe Ohne Bodenbesitz
Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Landarme Haushalte Tagelöhner innerkonfessionell schichtintern % Haushalte Kuhwirte innerkonfessionell schichtintern % Kleinbauern Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Vollbauern Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten % Ohne Haushalte Bodenbesitz innerkonfessionell schichtintern % Landarme Tagelöhner Kuhwirte
Kleinbauern
%
%
%
%
%
%
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Haushalte innerkonfessionell % schichtintern %
24 27,27 63,16 20 22,73 35,71
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern %
2 2,27 10,53 7 7,96 58,33 88 44,67 2 40,00 18,18 0 0,00 0,00
Vollbauern
Oftersheim 1722
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten % Ohne Haushalte Bodenbesitz innerkonfessionell % schichtintern % Landarme Tagelöhner Kuh wirte
Katholiken 5 26,32 55,56 3 15,79 100,00 7 36,84 50,00 2 10,53 40,00 2 10,53 8,33 19 34,55 35 39,77 48,61
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern %
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Kleinbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Vollbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten %
0 0,00 0,00 0 0,00 0,00 3 60,00 17,65 5 14,71
Reformierte* 1 3,45 11,11 0 0,00 0,00 6 20,69 42,86 2 6,90 40,00 20 68,97 83,33 29 52,73 27 32,93 37,50 10 12,20 26,32 28 34,14 50,00 14 17,07 73,68 3 3,66 25,00 82 41,62 8 29,63 72,73 2 7,41 66,67 2 7,41 100,00 1 3,70 100,00 14 51,85 82,35 27 79,41
Lutheraner 3 42,86 33,33 0 0,00 0,00 1 14,29 7,14 1 14,29 10,00 2 28,57 8,33 7 12,73 10 37,04 13,89 4 14,82 10,53 8 29,63 14,29 3 11,11 15,79 2 7,41 16,67 27 13,71 1 50,00 9,09 1 50,00 33,33 0 0,00 0,00 0 0,00 0,00 0 0,00 0,00 2 5,88
3.2 Schichtungsgefiige und Sozialhierarchie
119
Fortsetzung Tabelle 6 Gemeinde/Jahr Oftersheim 1830
Seckenheim 1721
Seckenheim 1784
Besitzgruppe Ohne Bodenbesitz
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Landarme Haushalte Tagelöhner innerkonfessionell % schichtintern % Kuh wirte Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Kleinbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Vollbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Summe der Hauhalte Anteil an allen Haushalten % Ohne Haushalte Bodenbesitz innerkonfessionell % schichtintern % Landarme Haushalte Tagelöhner innerkonfessionell % schichtintern % Kuhwirte Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Kleinbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Vollbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten % Ohne Haushalte Bodenbesitz innerkonfessionell % schichtintern % Landarme Haushalte Tagelöhner innerkonfessionell % schichtintern % Kuhwirte Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Kleinbauern Haushalte mnerkonfessionell % schichtintern % Vollbauern Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten %
Katholiken 17 28,33 35,42 37 61,67 40,22 5 8,33 27,78 0 0,00 0,00 1 1,67 5,88 60 31,92 12 31,58 66,67 4 10,53 50,00 7 18,42 53,85 4 10,53 30,77 11 28,95 21,15 38 36,54 31 32,63 77,50 24 25,26 55,81 23 24,21 31,94 10 10,53 30,30 7 7,37 10,94 81 36,32
Reformierte" 31 24,22 64,58 55 42,97 59,78 13 10,16 72,22 13 10,16 100,00 16 12,50 94,12 128 68,09 5 7,81 27,78 4 6,25 50,00 6 9,38 46,15 9 14,06 69,23 40 62,50 76,92 64 61,54 9 5,96 22,50 17 11,26 39,54 46 30,46 63,89 23 15,23 69,70 56 37,09 87,50 135 60,54
Lutheraner
1 50,00 5,56 0 0,00 0,00 0 0,00 0,00 0 0,00 0,00 1 50,00 1,92 2 1,92 0 0,00 0,00 2 33,33 4,65 3 50,00 4,17 0 0,00 0,00 1 16,67 1,56 7 3,14
120
3. D o r f g e s e l l s c h a f t
Fortsetzung Tabelle 6
Gemeinde/Jahr Seckenheim 1835
Besitzgruppe Ohne Bodenbesitz Landanne Tagelöhner Kuhwirte
Kleinbauern
Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Haushalte innerkonfessionell schichtintern %
%
%
%
%
Vollbauern
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten % Wallstadt 1826/30
Ohne Bodenbesitz
Haushalte innerkonfessionell % schichtintern %
Landanne Tagelöhner
Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Kuhwirte Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Kleinbauern Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Vollbauern Haushalte innerkonfessionell schichtintern % Summe der Haushalte Anteil an allen Haushalten % a
%
%
%
%
Katholiken 28 18,18 66,67 58 37,66 64,44 45 29,22 51,72
Reformierte" 14 7,29 33,33 32 16,67 35,56 42 21,88 48,28
10 6,49 27,78 13 8,44 14,29
26 13,54 72,22
154 44,51 24 54,55 63,16 8 18,18 61,54 9 20,46 50,00 3 6,82 50,00 0 0,00 0,00 44 52,38
Lutheraner
78 30,63 85,71 192 55,49 14 35,00 36,84 5 12,50 38,46 9 22,50 50,00 3 7,50 50,00 9 22,50 100,00 40 47,62
Seit 1821 R e f o r m i e r t e = evangelisch Unierte.
Q u e l l e n : vgl. T a b e l l e 3. D a z u O r t s s i p p e n b ü c h e r K r e u t z e r , E d i n g e n - N e c k a r h a u s e n ; ders., H e d d e s h e i m e r Familien; Frei, F a m i l i e n O f t e r s h e i m ; K r e u t z e r , S e c k e n h e i m e r Familien. F ü r Wallstadt E i n w o h n e r t a b e l l e v o n 1 8 2 6 , in: S t A M a B M A W a 4 3 . E r l ä u t e r u n g : B e i der n o m i n a t i v e n V e r k n ü p f u n g der S c h a t z u n g s - , Steuer- u n d B e s i t z v e r z e i c h n i s s e m i t d e n K o n f e s s i o n s a n g a b e n a u s d e n O r t s s i p p e n b ü c h e r n u n d der E i n w o h n e r t a b e l l e k o n n t e n folg e n d e P e r s o n e n z a h l e n nicht z u g e o r d n e t w e r d e n : E d i n g e n 1 7 6 7 — 1 v o n 56; H e d d e s h e i m 1 8 0 8 — 1 v o n 198; O f t e r s h e i m 1 7 2 2 - 0 v o n 34; O f t e r s h e i m 1 8 3 0 - 2 v o n 190; S e c k e n h e i m 1 7 2 1 - 7 v o n 111; S e c k e n h e i m 1 7 8 4 - 4 v o n 2 5 6 ; S e c k e n h e i m 1 8 3 5 - 7 v o n 3 5 3 ; Wallstadt 1 8 3 0 - 8 4 v o n 123.
Die konfessionelle Aufschlüsselung der Sozialstruktur enthüllt insgesamt ein unverkennbares Wohlstandsgefalle zwischen Reformierten und Katholiken. Letztere waren durchgängig in den beiden untersten Besitzgruppen der landlosen und -armen Tagelöhner deutlich vielköpfiger vertreten, als es ihrem Anteil an den Haushalten entspro-
3.2 Schichtungsgefíige und Sozialhierarchie
121
chen hätte — am eklatantesten 1784 in Seckenheim, sehr viel milder beispielsweise 1808 in Heddesheim, wo sie zugleich auch die Mehrheit der Bodeninhaber ab zehn Morgen stellten. Umgekehrt beherrschten die Reformierten in der Regel klar das bäuerliche Segment, um 1830 mit Spitzenwerten von 94 Prozent unter den Oftersheimer und gar hundert Prozent unter den freilich nur neun Wallstadter Vollbauern. Etwas weniger dominant war ihre Position meist in der Schicht der Kleinbauern. Die mit einer Bevölkerungsquote von zwei bis vierzehn Prozent eher randständigen Lutheraner nahmen gemessen an ihrem Grundeigentum eine mittlere Stellung ein. Diese in großen Teilen der Kurpfalz bezeugte soziokonfessionelle Schieflage wurzelte vornehmlich in der forcierten katholischen Immigration seit der Wende zum 18. Jahrhundert, in deren Gefolge etliche ärmere Zuzügler und ihre Nachkommen dauerhaft auf einen Platz am Fuß der Vermögenspyramide verbannt blieben. Denn wie Meinrad Schaab die gesellschaftlichen Begleiterscheinungen des siedlungshistorischen Vorgangs treffend umrissen hat, ,,beruht[e] die Teilrekatholisierung der Pfalz weitgehend auf einer Unterwanderung durch sozial schwache Bevölkerungsschichten."175 Zweifellos lauerte darin eine Gefahr der Verflechtung und Potenzierung von aus Klassen- und Religionsgegensätzen gespeisten Spannungen. Dennoch wäre es in Hinsicht auf horizontale und vertikale Solidarisierungen, die sich im Verlauf innerdörflicher Konflikte vollzogen, irreführend und verfehlt, pauschal davon zu sprechen, dass sich die „Grenze zwischen Arm und Reich [...] über weite Strecken mit den konfessionellen Grenzen [deckte]."176 Vielmehr umfassten bei allen Ungleichgewichten sämtliche Besitzgruppen, in besonders starker Mischung die wachsende Mittelschicht der Kuhwirte, Mitglieder der verschiedenen Bekenntnisgemeinschaften am Ort. Insofern mochte es den lokalen Akteuren unter Umständen ratsam erscheinen, im Interesse einer wirksamen politischen Mobilisierung konfessionell stets heterogener Sozialschichten darauf zu verzichten, an sich naheliegende religiöse Argumente zu strapazieren.177
Schaab, Katholiken, S. 143. Ähnlich bereits ders., Wiederherstellung, S. 204: „Diese Zuwanderung muß als Unterwanderung angesehen werden. Besitz und Vermögen blieben in den Händen der Reformierten." ™ Becht, Religion, S. 9. 177 Vgl. Kapitel 4.1. 175
122
3. Dorfgesellschaft
3.2.4 Die Rekrutierung höherer kommunaler Amtsträger als Prestigeindikator Umfangreicher Bodenbesitz und bäuerliche Lebensweise bildeten während der gesamten Untersuchungszeit das Fundament dörflichen Sozialprestiges. In einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft knüpften sich an die Führung eines größeren landwirtschaftlichen Betriebs gewöhnlich nicht nur privilegierte Erwerbsmöglichkeiten, sondern auch eine auf Ansehen, verwandtschaftlichen und klientelaren Netzwerken sowie ökonomischen Prämierungs- und Sanktionskapazitäten gegenüber den Unterschichten gründende Machtstellung. In welchem Maß sich aus einer solchen Hegemonie politisches Kapital schlagen ließ, manifestierte sich vor allem in lokalen Auseinandersetzungen und anhand der in ihnen zutage tretenden Kräfteverhältnisse, denen die späteren Fallstudien gewidmet sind. Soweit Einflusschancen institutionell verankert waren und Ausdruck fanden, erschließen sie sich aber auch einem strukturanalytischen Zugriff. Im vorliegenden Kontext betrifft dies in erster Linie die Rekrutierung der höheren gemeindlichen Funktionsträger. Tabelle 7 listet für eine Reihe von Dörfern exemplarisch die Inhaber der obersten kommunalen Ämter und ihren Besitzstatus auf. Daraus geht hervor, dass der Posten des Ortsvorgesetzten (Schultheiß, Vogt, Bürgermeister) ebenso wie die Plätze im Gericht bzw. Gemeinderat außer einigen Abweichungen besonders im 18. Jahrhundert immer seltener angefochtene Domänen der Vollbauern darstellten.178 Diese generelle Beobachtung muss für die Phase bis 1802 zwar ein wenig relativiert werden, unter anderem weil die kurpfälzische Regierung fast ausschließlich Katholiken als Schultheißen duldete und es angesichts der soziokonfessionellen Situation nicht immer leicht fiel, überhaupt einen hinreichend vermögenden und ansonsten qualifizierten Vertreter des von der Obrigkeit favorisierten Bekenntnisses zu ermitteln.179 Der Befund gilt aber nahezu uneingeschränkt für die Zeit von 1832 an, obwohl das demokratische badische Gemeindewahlrecht es den Mittel- und Unterschichten im Prinzip durchaus erlaubt hätte, Angehörige ihres eigenen Milieus auf den Schild zu heben. Insgesamt blieb landarmen Bürgern der Zugang zu den führenden Positionen keineswegs gänzlich versperrt, er war jedoch von Anfang an begrenzt und verengte sich im 19. Jahrhundert noch einmal fühlbar. Namentlich Kuhwirte wurden mit einer auf Proporzdenken hindeutenden Regelmäßigkeit allenfalls zu gemeinen Vorstehern bestimmt und nahmen — in der Tabelle nicht erfasst — seit 1821 naturgemäß die den Niedrigst- und Mittelbesteuerten vorbehaltenen Mandate im Bürgerausschuss ein.180
178
Die Ausnahmen um 1720 rührten zum Teil allerdings auch daher, dass die Dorfgerichte mehr Schöffen als später umfassten und erst im Laufe des 18. Jahrhunderts auf obrigkeitlichen Druck verkleinert wurden.
Die Frage der Vermögensqualifikation zählte in den konfessionell und sozial aufgeladenen Kontroversen um die Schultheißenstelle im 18. Jahrhundert bisweilen zu den zentralen Streitpunkten; vgl. Abschnitt 5.2.3. !so Vgl. Kapitel 2.4. 179
3.2 Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie
123
Tabelle 7: Inhaber höherer Gemeindeämter in acht Untersuchungsdörfern 1721-1848 Gemeinde Edingen
Jahr 1722
Amt Schultheiß Gerichtsverwandte
1767
Schultheiß Gerichtsverwandte
Gemeine Vorsteher 1790
Schultheiß Gerichtsverwandte
Gemeine Vorsteher
Hockenheim
1813
Vogt Gerichtsverwandte
1722
Schultheiß Gerichtsverwandte
1784
Schultheiß Gerichtsverwandte
Gemeine Vorsteher
Oftersheim
1848
Bürgermeister Gemeinderäte
1722
Schultheiß Gerichtsverwandte
Person Johann Jacob Bläß Johann Simon Schäfer Johann Michael Koch Johann Bernhard Montag Wenzeslaus Jäger Johann Jacob Lutz Johann Philipp Fleck Heinrich Bläß Johann Philipp Schäfer Matthias Jung Georg Bauer Johann Simon Lutz Johannes Weckesser Georg Bläß Philipp Schäfer Georg Öhl Simon Laubersheimer Heinrich Bauer Georg Ding Jacob Weckesser Georg Bläß Georg Ding Konrad Fleck Jacob Weckesser Adam Jäger Johann Georg Engelhorn Johann Georg Zahn Valentin Schopf Andreas Lehnzopf Johann Peter Köhler Johannes Schranck Seyler Johann Haas Jacob Heilmann Isaac Hofmann Franz Kässei Adam Gaa Anton Gantner Johann Hofmann Georg Steinbach Kosel Philipp Schuppel Philipp Schwab Johannes Stähli Johann Leonhard Seitz Jacob Schreiner Martin Müller Johannes Pfisterer Johann Georg Frey Franz Merkel
Besitzgruppe Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Kuhwirt Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Kleinbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Landarmer Tagelöhner Landarmer Tagelöhner Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Kleinbauer Vollbauer Kleinbauer Kuhwirt Kuhwirt Kuhwirt Kleinbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer
3. Dorfgesellschaft
124
Fortsetzung Tabelle 7 Gemeinde (Oftersheim)
Jahr 1848
Amt Bürgermeister Gemeinderäte
Plankstadt
1722
Schultheiß Gerichtsverwandte
Plankstadt
1840
Bürgermeister Gemeinderäte
Reilingen
1722
Schultheiß Gerichtsverwandte
1784
Schultheiß Gerichtsverwandte
Gemeine Vorsteher
Sandhofen
1815
Vogt Gerichtsverwandte
1833
Bürgermeister Gemeinderäte
1722
Schultheiß Gerichtsverwandte
1742
Schultheiß Gerichtsverwandte
1803
Schultheiß Gerichtsverwandte
Gemeine Vorsteher Seckenheim
1721
Schultheiß Anwaltschultheiß Gerichtsverwandte
Person Jakob Seitz Gund Koppert Siegel Johann Jacob Gund Daniel Hofacker Nicolaus Treiber Philipp Friedrich Merx Leonhard Treiber Johann Georg Treiber Philipp Eberwein Philipp Gaa Peter Jung Johannes Reinhard Thomas Filiinger Hans Adam Kestle Nicolaus Zahn Simon Röder Claus Johannes Förster Adam Leiser Jacob Müller Andreas Fillinger Peter Kieff Eichhorn Fillinger Schneider Ludwig Eichhorn Philipp Bräuninger Joseph Götzmann Peter Schneider Johann Wilhelm Rietz Johann Philipp Bayer Johannes Küchler Johann Philipp Stahner Peter Müller Hans Georg Rupp Wilhelm Ritz Hans Georg Rupp Johann Dieter Stellwagen Philipp Stahner Brauch Johann Back Andreas Kissel Johann Küchler Adam Schäfer Georg Schmelzer Andreas Stahs Henrich Meyer Nicolaus Wolf Sebastian Klumb Jacob Reiß Heinrich Seitz
Besitzgruppe Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Ohne Bodenbesitz Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Kleinbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Kuhwirt Kleinbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Kleinbauer Ohne Bodenbesitz Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer
3.2 Schichtungsgefuge und Sozialhierarchie
125
Fortsetzung Tabelle 7 Gemeinde (Seckenheim)
Jahr (1721)
1784
Amt (Gerichtsverwandte)
Person Jacob Fleck Heinrich Waidenberg Franz Natter Hans Georg Transier Hans Georg Frey Johann Georg Volz Johannes Herzberger
Besitzgruppe Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer
Schultheiß Gerichtsverwandte
Heinrich Herzberger Matthias Bühler Philipp Erne Sebastian Wolf Jacob Zahn Wendel Bühler Jacob Held Peter Hirsch Matthias Seitz
Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Kleinbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kleinbauer Vollbauer Ohne Bodenbesitz Vollbauer Kuhwirt Kuhwirt Vollbauer Kuhwirt Kleinbauer Kuhwirt Vollbauer Vollbauer Vollbauer Kuhwirt
Gemeine Vorsteher
Wallstadt
1835
Bürgermeister Gemeinderäte
Johann Georg Hörner Johann Georg Brecht Philipp Gund Philipp Kloos Johann Georg Seitz Adam Trump Johann Josef Volz
1722
Schultheiß Gerichtsverwandte
1802
Schultheiß Gerichtsverwandte
Johannes Annamayer Hans Peter Gallier Franz Barbe Hans Georg Bauer Georg Eberle Johann Brauch Jacob Strubel Kaspar Stutz Daniel Weichsel
1837
Gemeiner Vorsteher Bürgermeister Gemeinderäte
Martin Rudolph Georg Peter Hecker Andreas Bossert Adam Eberle Jacob Rudolph
Quellen: Vgl. Tabelle 3; zusätzlich Edinger Schatzungsrenovationsprotokoll von 1722, in: GLA Ka 66/4377; Edinger Schatzungsregister von 1790, in: GA Ed R 68; Edinger Schatzungsregister von 1813, in: ebd. R 107; Hockenheimer Steuerkataster von 1847, in: StA Ho R 188; Sandhofener Schatzungstabelle von 1742, in: StA Ma AB Sa 23; Seckenheimer Ortssteuerkataster von 1835, in: ebd. AB Se 226; Wallstadter Schatzungsregister von 1802, in: ebd. AB Wa I 14; Wallstadter Steuerkataster von 1837, in: ebd. 138. Die Namen der Amtsträger stammen aus den Schatzungs- und Steuerverzeichnissen oder — vor allem für die 1830/40er Jahre — aus zeitnahen Dokumenten der Gemeindeverwaltung; dazu für die Phase um 1835 Probst, Seckenheim, S. 625. Mit der s c h o n bestehenden und sich im Betrachtungszeitraum zusätzlich verstärkenden Kongruenz v o n agrarischer Wirtschafts- und kommunaler Amtselite entsprach die badische Rheinpfalz d e m Grundmuster lokaler Honoratiorenherrschaft in den südwest-
126
3. Dorfgesellschaft
deutschen ländlichen Gesellschaften der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts.181 Für sich genommen birgt eine solche Feststellung daher wenig Überraschendes. Eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte dieser Umstand freilich für die Artikulationsund Durchsetzungschancen der halb- und unterbäuerlichen Gruppen, die in den kommunalen Leitungsgremien nur marginal vertreten waren. Es wird deswegen speziell darauf zu achten sein, welcher organisatorischen und informellen Strategien sie sich bedienten, um ihren Anliegen trotzdem Gehör zu verschaffen, inwieweit es ihnen gelang, ihre wohlhabenderen Nachbarn im Rahmen dörflicher Politik auch auf die Interessen der Unterschichten zu verpflichten, oder in welchem Grad sie dazu im Gegenteil bewusst aus dem institutionellen Gehäuse der Gemeinde ausbrachen.
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie Bevölkerungsentwicklung und Bodenverteilung enthüllen nur die halbe Wahrheit der lokalen Existenzbedingungen. Es genügt nicht, so unerlässlich dies im ersten Zugriff bleibt, fixe Besitzgrößengruppen nach geomorphologischen und anderen inerten Faktoren zu definieren. Hinsichtlich der „Einkommenschancen des Kleinbetriebs"182 ist der Maßstab der Ackernahrung vom Kriterium naturaler Selbstversorgung zu scheiden und zu fragen, in welchem Umfang agrarische Modernisierung die landwirtschaftlichen Subsistenzmöglichkeiten auch im unterbäuerlichen Milieu und damit die Tragfähigkeit des gesellschaftlichen Gesamtsystems verbesserte.183 Zugleich muss auf eventuelle Trägheitsmomente und zeitliche Verwerfungen zwischen demographisch induzierten Engpässen und ökonomischen Neuerungen geachtet werden, um Krisen- und Konsolidierungsphasen mit ihrem jeweiligen Niederschlag im Sozialklima genauer markieren zu können. 3.3.1 Voraussetzungen Das Bündel produktions- und effizienzsteigernder Veränderungen, mit dem die Landwirtschaft in vielen Regionen Mitteleuropas seit dem 18. Jahrhundert auf wachsenden demographischen Druck und erweiterte Absatzmärkte antwortete, bestand vor allem aus drei oftmals miteinander verflochtenen Reaktionen: (1) der Ausdehnung der urbaren Fläche im Rahmen des inneren Landesausbaus, (2) der Zurückdrängung kollektiver Vgl. etwa Bader, Dorfpatriziate; Maisch, Unterhalt, S. 426f£; Sabean, Property, S. 64f.; Kaschuba/Lipp, Überleben, S. 271-276, 572-598; Grewe, Eliten; Mahlerwein, Herren, S. 309f. '82 Mooser, Unterschichten, S. 328. 181
183
So stellen Berkner/Mendels, Inheritance, S. 215, für bestimmte Erscheinungsformen marktgebundenen agrarischen Strukturwandels fest: „Market forces may also induce changes in agricultural specialization and thus [...] remove constraints on holding size. As a result [...] the new crops may facilitate or encourage subdivision."
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
127
Organisationsformen (Weideallmenden, Flurzwang) zugunsten individueller Dispositionsmöglichkeiten sowie (3) einer Reihe von Intensivierungsmaßnahmen, unter denen die Besömmerung der Brache, die Einführung ertragreicherer Pflanzensorten und eine sorgfaltigere Düngung und Bodenbearbeitung herausragten.184 Mit gewissen Einschränkungen bei der Gewinnung neuer Kulturflächen, für die es im eng bevölkerten Altsiedelland am unteren Neckar vergleichsweise wenig Spielraum gab, griffen diese Wandlungen auch in der Rheinpfalz Platz, wo sie sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einer gelegentlich als „Agrarrevolution"185 titulierten Transformation des Nutzungssystems verdichteten. Im regional dominierenden Siedlungskontext, dem Haufendorf mit Gewannflur und Gemengelage der Parzellen, hatte sich seit dem Mittelalter die Dreifelderwirtschaft mit reiner Brache und gemeinschaftlichem Weidegang als gebräuchlichste Nutzungsform etabliert.186 Kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden erste Modifikationen an diesem System erkennbar, die für die Variabilität der überkommenen Zelgenordnung sprechen.187 So bezeugt ein Zehntregister des Oberamts Heidelberg von 1669, dass zwar das Wintergetreide (v.a. Spelz, seltener Roggen) erwartungsgemäß rund ein Drittel des Ackers okkupierte, die Sommergetreidearten Hafer und Gerste allerdings deutlich weniger als dreißig Prozent ausmachten.188 Sie hatten vielerorts neuen Handelsgewächsen, vorrangig dem Tabak, weichen müssen, die man nun im Sommerfeld und bisweilen in der Brache anzupflanzen begann. Die Diffusion der von französischen Flüchtlingen initiierten Spezialkultur hing zum einen mit der Getreidepreisdepression der unmittelbaren Nachkriegsperiode zusammen, die — wie typisch für Verlagerungen zugunsten einer „alternative Agriculture"189 — viele Bauern nach lukrativeren Produkten Ausschau halten ließ.190 Zum anderen gab es schon in jener Phase eine Reihe ärmerer Landbewohner, die sich den abwechselnden Verzicht auf ein Drittel ihres Bodens nicht leisten konnten. Als es 1681 deswegen in Seckenheim zum Konflikt mit dem Pächter der herrschaftlichen Schäferei kam, der sein Weideservitut auf der Brache geschmälert sah, rechtfertigte sich das Dorfgericht jedenfalls damit, „daß nit ein jedwederer in jeder Gewannen oder Feld Äcker genug hat, und dahero notwendig mancher uf das Brachfeld bauen muss, will er änderst sich auch ernähren und seine herrschaftlichen Be-
184 Vgl Kopsidis, Agrarentwicklung, S. 350; ferner Dipper, Übergangsgesellschaft, S. 69-77; ähnlich schon ders., Landwirtschaft, S. 284-289. Monheim, Agrargeographie, S. 62. im Vgl. ebd., S. 42-46. 187 Vgl allgemein zur beachtlichen Flexibilität der scheinbar so rigiden genossenschaftlichen Agrarökonomie Mattmüller, Dreizelgenwirtschaft. 188 Vgl Monheim, Anbauverhältnisse, S. 87-101; ders., Agrargeographie, S. 49-61. 189 Vgl Thirsk, Alternative Agriculture, S. 2£, 43. Zur alternativen Landwirtschaft rechnet Thirsk in Westeuropa alle Agrargüter außer Getreide und Vieh bzw. Fleisch. Generell gilt ihr zufolge: „All phases of alternative agriculture magnify the attractions of cash crops [...]. Ebd., S. 155. 185
190 Vgl. Gothein, Lande, S. 27ff.; ders., Kulturgeschichte, S. 19.
128
3. Dorfgesellschaft
schwerden abstatten." 191 Jenseits solcher genossenschaftlich-feudalen Friktionen führte die Entwicklung freilich auch im gemeindeökonomischen Rahmen da2u, dass infolge disgruenter Saat- und Erntezeiten in den Getreide und Handelspflanzen zusammen gewidmeten Feldern eine einheitliche Terminierung etwa des Viehtriebs künftig ausschied. Die Flexibilisierung der Sommerung und das Auflockern von Flur- und Brachzwang durch Industriegewächse sind so insgesamt als ein frühes „Stadium im Übergang zur heute hier allgemein üblichen Fruchtwechselwirtschaft zu werten", das lange vor der Verbreitung von Futterkräutern und Hackfrüchten einsetzte. 192 Die nächste, nun fundamentale Zäsur erfolgte seit den 1760er Jahren bis um 1800 durch einen Umwälzungsprozess, mit dem die Rheinpfalz zu einer Pionierregion der agrarischen Modernisierung avancierte und der im Wesentlichen vier interdependente Komponenten des „klassischen Intensivierungszyklus" einschloss. 193 Erstens wurden in relativ kurzer Zeit und bis auf wenige Reste die gemeinen Weiden in den Dörfern umgebrochen, zur individuellen Nutzung an die Ortsbürger ausgeteilt und dadurch zusätzliche Ackerflächen geschaffen. Zweitens fing man nun in größerem Stil an, Klee und andere Futtermittel auf den frischen Allmendäckern, in der Brache und zum Teil auch im Sommerfeld anzubauen. Auf dieser Basis vollzog sich drittens der Ubergang zur ganzjährigen Stallfütterung des Rindviehs, dessen gesammelte Exkremente als Mist ausgebracht wiederum der Ertragskraft der Felder zugute kamen. Solche Umstellungen bahnten viertens — oft über die Zwischenstufe der verbesserten Dreifelderwirtschaft — komplexeren Fruchtfolgen den Weg, die mit Hilfe erhöhter Düngung und der stickstoffanreichernden Wirkung des Klees am Ende ganz ohne Brache auskamen.
3.3.2 Zeitgenössische Agrarpublizistik und herrschaftliche Impulse Schon die frühen Agrarschriftsteller der „Ökonomischen Aufklärung" wurden nicht müde, das gewaltige Entwicklungspotential der rheinpfalzischen Landwirtschaft zu unterstreichen. 194 Friedrich Casimir Medicus etwa, der Direktor der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft, beklagte Mitte der 1770er Jahre die mangelnde Diversifizierung der Produktion und glaubte an der „Menge der Felder, die unsere Landleute zur Brache jährlich liegen lassen", ablesen zu können, „in welcher Kindheit der Ackerbau noch
Zitiert nach Monheim, Agrargeographie, S. 60. i'J2 Ebd. 191
193 Vgl. ebd., S. 61-79. Zum Begriff „klassischer Intensivierungszyklus" für die typischen Elemente wachstumsorientierten agrarischen Strukturwandels in vorindustrieller Zeit vgl. Popplow, Ökonomische Aufklärung, S. 16f. et passim, in Anlehnung an Prass, Reformprogramm, S. 36. 194
Zur „Ökonomischen Aufklärung" aus der Perspektive einer „Wissensgeschichte der Ressourcennutzung" vgl. neuerdings vor allem Popplow, Ökonomische Aufklärung; ausführlich zur Kurpfalz, einschließlich der im Folgenden behandelten Autoren ders., Bienen, bes. S. 190-209 (Publikationen).
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
129
bey uns ist."195 Infolgedessen sei man gezwungen, „anstatt baares Geld in unser Land durch den Ackerbau herein zu ziehen, für viele Landsprodukten noch baares Geld her[zu]geben."196 Demgegenüber müsse zur stetigen Leistungserhöhung die Viehzucht auf der Basis einer verstärkten Futtererzeugung gefördert werden; denn, wie Medicus leitsatzartig schrieb: ,,[W]o der Kleebau fehlt, da wird die Stallfutterung fehlen, wo die Stallfutterung fehlt, da wird es an Dung gebrechen, und wo dieser fehlt, da fehlt die Seele des Ackerbaus."197 Ferner sei es erforderlich, „auf andere Landsprodukten zu denken, denen die Menge des Dungs nichts schadet, sondern ersprießlich ist", wobei Medicus namentlich „Handlungskräuter" wie „Tabak, Raps, Hanf, Flachs [und] Maagsaamen" vor Augen hatte.198 Schließlich bedürfe es - neben der Aufhebung von Triftrechten — nicht zuletzt aus bevölkerungspolitischen Gründen energischer Bemühungen zur Gemeinheitsteilung, um insbesondere den Kleinbesitzern zu weiteren Bodenressourcen zu verhelfen.199 Das anfangs zu erwartende Widerstreben der „Wohlhabende [n]" werde rasch schwinden, sobald sich der damit verbundene Aufschwung der Arbeits- und Absatzmärkte manifestiere. Wenn ,,[d]er Reiche [...] für sein Feld mehr Arbeiter braucht, als er in seiner Haushaltung ernährt, so wird das in der Anzahl zugenommene Dorf ihm solche reichlich verschaffen." Zudem werde er „in seinem Dorf für seine überschüssigen Produkten Käufer und Abnehmer finden."200 Die skizzierte Argumentation beruhte auf optimistischen Prognosen zum Zusammenhang von Bevölkerungsexpansion, durchschnittlichen Betriebsgrößen und einer Intensivierung der Anbaumethoden. Medicus erläuterte: Eine Familie vermehrt sich nun in mehrere, und da die Zahl der väterlichen Aecker sich nun in mehrere zertheilet, so kann der Sohn auf die wenigere Zahl der Aecker mehr Fleis verwenden, und dadurch wird sich die Ergiebigkeit der Aerndten immer vergrößern.201
Unter dieser Prämisse gelangte Medicus avant la lettre zu einer anti-malthusianischen — oder pro-Boserupschen - demoökonomischen Theorie.202 So erschien ihm die Frage nach den „Gränzen der Bevölkerung [...] sehr metaphysisch", und er fuhr fort: „Daß die Bevölkerung ihre Gränzen habe müße, und daß sie über diese Gränzen zum Nach195
Medicus, Glückseligkeit, S. 9. Medicus sah in der „Einheit von Früchten, die wir bauen, ein[en] gewisse[n] Beweis, daß unser Ackerbau noch weit von seiner Vollkommenheit entfernt sey. Korn, Spelz, Gerste, Haber und Grundbirn sind bey den meisten Bauern der ewige Zirkel, in dem sie sich herum drehen. Und dennoch erfordert die Klugheit, alle Produkten, so viel als thunlich, zu vervielfältigen." Ebd. ™ Ebd., S. 18. »8 Ebd., S. 12. 199
200 201 202
Medicus meinte: „So lange als in einem Dorf Gemeinheiten sind, so lange ist es fast unmöglich, daß solches sich hinlänglich bevölkern werde." Er zog daraus die radikale Folgerung: „Will man [...] in der Sache klar werden, so hebe man alle die Gemeinheiten gänzlich auf." Ebd., S. 16f. Ebd. Ebd., S. 13. Vgl. Abschnitt 1.4.1.
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3. Dorfgesellschaft
theil der Menschlichkeit könne ausgedehnet werden, läßt sich zwar einbilden, aber ich zweifle, ob dieser Fall jemals sich ereignen werde." Vielmehr gehe von der „Bevölkerung eine Beförderung des Ackerbaus" aus, der „eine Menge Hände erfordert". Ein „Staat, der [...] die ächten Grundsätze des Ackerbaus angenommen hat [...], wird nun auf alle Art und Weise die Bevölkerung befördern, und dadurch den [sie] Wachsthum und die Blüthe des Ackerbaus zusehends vergrößern." Letztlich — so das populationistisch gewendete Vertrauen in die ertragssteigernde Wirkung effektiverer Nutzungstechniken - sei der „Reichthum des Ackers [...] unermeßlich."203 Medicus steht stellvertretend für eine Reihe tonangebender pfalzischer Agrarexperten, die seit den 1760er Jahren für durchgreifende Neuerungen plädierten.204 Kennzeichen dieser Richtung waren nicht allein die Ablehnung kollektiver Wirtschaftspraktiken und eine dezidiert kapitalistische Sicht ländlicher Ökonomie, der zufolge der „Ackerbau" ein „Handlungsgeschäft" mit der Maxime darstellte: „Was dem Bauer am meisten einträgt, das muß er bauen."205 Hinzu kam noch eine bemerkenswerte, vermutlich dem kleinbetrieblichen regionalen Erfahrungshintergrund der Autoren geschuldete Sensibilität für die Situation der halb- und unterbäuerlichen Schichten, in denen man keineswegs primär Lohnarbeitskräfte, sondern zuvorderst Produzenten erblickte. So illustrierte das prominente Mitglied der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft Stephan Gugenmus, der selbst in Handschuhsheim bei Heidelberg einen über hundert Morgen umfassenden Hof als eine Art Mustergut führte, 1773 seine sich ganz auf Medicus' Linie bewegenden Reformideen mit Bedacht am Beispiel einer Kuhwirtschaft von nur drei Morgen. Es solle „der arme Mann, welcher gemeiniglich glaubet, es gienge nur bei großen Güthern an, was man in Schriften zu seinem Besten vorschlaget, [diesen] Vorwurf nicht machen können." Gugenmus habe hauptsächlich auf seine eingeschränkten Begriffe gesehen, und ihm handgreiflich zeigen wollen, wie sehr er seinen Nuzzen auch bei der mühseligsten Arbeit verfehle, und wie leicht er sich im Gegentheile ohne weiteren Aufwand bei seinen wenigen Feldern seine Einkünften verdoppeln könte. 206
Dass solche Motive auf dörflicher Ebene durchaus verfingen, demonstriert die Begründung des Käfertaler Ortsvorstands, als er 1805 gegen die behördlich gewünschte Veräußerung von Gemeindeparzellen für deren Umwandlung in Wiesenallmenden warb. Dieses Vorhaben empfehle sich aus sozial- und agrarpolitischer Perspektive, denn jeder „Bürger erhaltet einen neuen Zuwachs von Wohlstand, die Stallfütterung gewinnt den Vorzug [und] die Wiesenstükke werden künstlich verbässert." Dadurch 203 Medicus, Glückseligkeit, S. 19ff. 204 Vgl etwa auch Gugenmus, Landwirtschaft. Grob zu den unterschiedlichen Positionen in der agrarreformerischen Diskussion der ökonomischen Aufklärung Konersmann, Markennutzung. Medicus, Aufsätze, S. 94. 206 Gugenmus, Bauart, S. 64f. In gleichem Sinn äußerte sich Medicus, als er 1771 betonte, dass bei den ,,Arme[n] die Stallfütterung eben so möglich sey, als bei den Reichen. Im Gegentheil ist für diese Leute die Stallfütterung ein vorzügliches Gewerbe, da sie in der Milch Lebensunterhalt, und beim Vieh-Verkauf Geldverdienst haben." Medicus, Beobachtungen, S. 280; ähnlich ebd., S. 228. 205
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
131
sei „der wahre Vortheil für die Gemeindsglieder bezwekket."207 Mit dem Rekurs auf die hier auch für die unterbäuerliche Landwirtschaft avisierten Innovationschancen wie Wiesenmeliorationen und Stallfütterung fand der (populär-)wissenschaftliche Modernisierungsdiskurs demnach ein hörbares Echo in der lokalen Lebenswelt. In welchem Grad die agrarischen Fortschritte, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollzogen, innerdörflichem oder obrigkeitlichem Druck entsprangen, ist schwierig zu beurteilen. Einige Orte etwa hatten bereits Teile ihres Kollektivbesitzes separiert, bevor die höhere Verwaltung sich ernsthaft landwirtschaftlichen Fragen zuwandte.208 Auf breiter Front gewann der Reformprozess jedoch erst an Schubkraft, als um 1765 unter Einfluss der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft die kurpfälzische Regierung die Thematik aufgriff und sich — wie viele andere Territorialobrigkeiten bald darauf einem Programm zur Ertragssteigerung verschrieb, das die Umwandlung gemeiner Weiden in Ackerparzellen einschloss.209 Mit Anreizen wie Freijahren für den Kleezehnt, der Bereitschaft zur Ablösung herrschaftlicher Weideservitute und direkten Anordnungen zu Gemeinheitsteilungen versuchte besonders die Polizeikonferenz zu intervenieren. Letztlich war es das Zusammenspiel staatlicher Impulse und lokaler Interessen, das den Wandel vorantrieb, zugleich aber soziale Reibungen provozierte.210 Als die Regierung zu volkspädagogischen und gesetzlichen Maßnahmen griff, folgte sie auch einem fiskalischen Kalkül, da die Allmenden nach ihrer Kultivierung der Schätzung und dem Novalzehnt unterworfen waren. Darüber hinaus schwebte ihr aber ein agrarischer Systemwechsel vor, in dem die Zurückdrängung der Weide mit dem begleitenden Zwang zu ausgedehnter Stallhaltung die Initialzündung für eine sorgfältigere Düngerbehandlung, verstärkte Futtermittelerzeugung, Einschränkung der Brache und dadurch für ein insgesamt erhöhtes Produktionsniveau liefern sollte. An dieser Zielvision orientierte sich jedenfalls eine Verordnung, mit der die Polizeikonferenz im November 1770 als Pilotprojekt in den Ämtern Heidelberg und Ladenburg vorderhand vier Gemeinden — darunter Feudenheim, Neckarhausen und Seckenheim — anwies, durch Abstellung bisher schlecht benutzter gemeiner Viehe- oder Huth-Wayden, forth deren Verwandlung [...] zu Wiesen und Acker Land, dann Anbau dienlicher Klee- und Fütterungs Kräuter, den Viehestandt und dessen Vermehrung [...] vorzüglich empor zu bringen.
207
Schreiben von Schultheiß, Gericht und gemeinen Vorstehern zu Käfertal an das Amt Ladenburg vom 12.11.1805, in: G L A Ka 229/50629.
208
In Seckenheim zum Beispiel hatte man in den 1760er Jahren Abschnitte der Pferdeweide zum Anbau von Tabak, Raps, Sommergerste und Klee an die einzelnen Bürger ausgeteilt, allerdings nur temporär auf vier Jahre, um die meliorierten Distrikte anschließend wieder dem Viehtrieb zu öffnen. Vgl. Bericht des Zentgrafen Reinewald über die Weidewirtschaft in Seckenheim und Feudenheim vom 16.6.1769 in: G L A Ka 229/28205. Insgesamt zur Diversität der Bewirtschaftung von Kollektivbesitz in der Frühen Neuzeit vgl. Prass, Gemeinheitsnutzung.
205
Vgl. von Hippel, Kurpfalz, S. 232-237; Mörz, Kurpfalz, S. 281-284; Schaab, Kurpfalz, Bd. 2, S. 227f. Zur Rolle der Agrarschriftsteller für die Gesetzgebung Popplow, Bienen, S. 209-215. Zur Verschränkung dörflicher und obrigkeitlicher Triebkräfte in der Implementierung der Agrarreformen vgl. Abschnitt 4.1.1.
210
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3. Dorfgesellschaft
Ein Kernargument lautete, dass „die also zu Haus in dem Stall erwonnene Besserung [Dung] dem zerschiedentlich daran mangelnden Ackerfeld verträglicher und zu mehrerer Fruchtbarkeit ersprießlicher seye."211 Ursprünglich war vorgesehen, die Verteilung unter die Dorfbewohner „ä proportion ihres halten dörfenden Viehes" vorzunehmen. In der Rheinpfalz kam es jedoch in der Regel zu einer egalitären Vergabe in Gestalt eines lebenslangen Nießbrauchsrechts für jeden Ortsbürger. Unter anderem beugte diese Bij^ndividualisierung von in kommunalem 'Eigentum verbleibenden Allmenden — anders als eine Vollprivatisierung — einer späteren Konzentration in den Händen wohlhabender Bauern vor.212 Da sich das Vorgehen zu bewähren schien, wurde es rasch zur allgemeinen Norm erhoben, indem ein Generale im Juli 1771 landesweit festlegte, „daß fürs Künftige die gemeine Wayden, soviel nach deren Laag möglich, unter die Singulos stückweis [...] zertheilet, umgerissen und mit Futter oder andere Cresenzien besaamet, hingegen das Viehe zu haus im Stall be- und erhalten" werden sollten.213 Die 1808 eingeleitete, ohnehin eher zaghafte großherzoglich-badische Gesetzgebung zur Modifikation der Gemeinheitsnutzung tangierte die Rheinpfalz dann nur noch am Rande, weil das Gros der Teilungen zu dieser Zeit bereits vollzogen war. Die Gemeindeordnung von 1831 schließlich bestätigte den lokalen Status quo des Allmende wesens und stellte einheitliche Verfahrensregeln für dessen künftige Revision auf.214
3.3.3 Intensivierung der badisch-pfälzischen Landwirtschaft 1770-1870 Bepflanzungshäufigkeit: die Zurückdrängung von Weide und Brache Die pfälzischen Agrarpublizisten begnügten sich nicht mit abstrakten Anregungen und hochrangiger Politikberatung, sondern verfolgten zumindest in der Anfangsphase recht genau, auf welche Resonanz ihre eigenen Vorschläge und die staatlichen Direktiven im lokalen Bereich stießen. Medicus etwa unternahm im Mai 1771 eine Studienreise, die ihn auch in einige Dörfer am unteren Neckar führte. Über Schriesheim notierte er anerkennend, dass „beinahe die Halbscheid [der] Güter, über 900 Morgen beständiges Hegfeld ist [und] die übrige 1100 Morgen [...] mit umwechselnder Brache gebauet werden", womit die Regenerationsfläche sich nur auf rund ein Viertel der Ackerflur 211
2,2
213
214
Verordnung die bessere Benutzung deren Viehe- und Huth-Wayden betr. vom 8.11.1770, in: GLA Ka 77/6685, fol. 50. Nach diesem Modell verfuhr man auch in einigen anderen, vor allem südwestdeutschen Territorien; vgl. Prass, Reformprogramm, S. 103ff., 128-133, 137-140; Warde, Common Lands, S. 215; Grüne, Individualisation. Zur Funktionsweise der darauf basierenden Allmendrangordnungen vgl. Abschnitt 3.2.2. Generale an sämtliche Kameralrezepturen vom 16.7.1771, in: GLA Ka 77/6685, fol. 115. Im selben Wortlaut hatte drei Tage zuvor der Vorsitzende der Kommerzienkommission Maubuisson in einer Denkschrift den Reformkurs abgesteckt; vgl. Memorandum Maubissons vom 13.7.1771, in: ebd., fol. 68'. Vgl. Ellering, Allmenden, S. 46ff.; Grüne, Individualisation.
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
133
belief.215 Die „Einwohner des Orts Feidenheim" hatten seiner Meinving nach „das mehrste Glück bei Austheilung dieses Weidstrichs gehabt, weil sie gar zu vielen Weidgang besessen."216 Insgesamt verfüge jeder Bürger nun über Allmendlose im Umfang von gut eineinhalb Morgen, die vorwiegend mit Tabak, Raps und Klee bepflanzt würden. Ahnlich verhalte es sich in Seckenheim, wo bisher zwei Weiden von zusammen hundert Morgen separiert worden seien.217 Ebenfalls 1771 sammelte Medicus aus allen Ämtern Berichte für seinen Traktat „Von der Stallfütterung in der Kurpfalz" und konnte am Ende 136 Ortschaften auflisten, in denen die Viehweiden aufgelöst worden seien.218 Aus dem weitläufigen Oberamt Heidelberg wusste er allerdings nur dreizehn Gemeinden zu nennen — vom unteren Neckar allein Friedrichsfeld, das „lauter Stallfütterung, und gar vielen schönen Kleebau" habe. Ansonsten herrsche „noch meistens Weydtrieb" vor.219 Schon 1783 indessen rühmte Friedrich Peter Wund in einer Beschreibung des Oberamts Ladenburg die Dörfer um Mannheim und Heidelberg für ihr „zahlreiches und wohlgefüttertes Vieh, das [...] das ganze Jahr in dem Stalle stehet, und so, von den meisten Krankheiten sicher, einen stärkern Gewinn an Milch und Dünger abgiebt." Hier seien „überall die Gemeinheiten und das eigensinnige Gesez der Brachäcker aufgehoben, und die schändliche Vieh- und Ochsenweiden verdammet."220 Sicherlich übertrieb Wund, hatte er selbst doch einige Seiten zuvor die Neckarhausener dafür getadelt, dass der „Kleebau [...] nicht so beträchtlich [ist], weil sie sich noch wahrscheinlich auf ihre 60 Morgen Gemeineweide verlassen."221 Auch nach Medicus' Ansicht um 1800 aber war die Umwälzung in „Riesenschritte [n]" vonstatten gegangen, und bestand in den meisten Orten der Rheinpfalz nun neben der fast ganzjährigen Stallfütterung lediglich eine auf wenige Wochen befristete Herbstweide.222 Aufzeichnungen über den Neubruchzehnten aus mehreren Gemeinden bestätigen den Eindruck, dass die parzellierten Weiden ziemlich rasch unter den Pflug kamen und intensiv bewirtschaftet wurden. In Seckenheim etwa waren 1779 knapp fünfzig Morgen
215
Medicus, Beobachtungen, S. 291. Ebd., S. 298-301, 298 (Zitat).
Ebd., S. 311. Weitere frühe Beispiele bei Monheim, Agrargeographie, S. 64 (Plankstadt, Neckarau, Käfertal). 2 1 8 Medicus, Fruchtbarkeit, S. 279. Dieses Resultat fand noch 1795 lobenden Eingang in die PfalzBaierische Erdbeschreibung Aloys von Hillesheims, dem die „allgemeine Stallfiitterung" als Ausweis des „hohen Grad[s] von Bevölkerung und Kultur" in der Pfalz galt; von Hillesheim, Erdbeschreibung, S. 19. 219 Medicus, Fruchtbarkeit, S. 261. 22« Wund, Ladenburg, S. 217f. 217
221
222
Ebd., S. 207. Wund schloss sogleich die Suggestivfrage an, „ob diese nicht auch besser benuzet werden könnten, wenn sie auch zu Fruchtfluren umgeschaffen würden." Medicus, Aufsätze, S. 3 (Zitat), 20. Der Band versammelte Beiträge aus dem seit 1766 erscheinenden und 1804 eingestellten kurpfalzischen Landkalender und eröffnete mit einem „Rückblick auf das zurückgelegte achtzehnte Jahrhundert in Betracht der Landeskultur der Rheinpfalz" (S. 1-43).
134
3. Dorfgesellschaft
dem Novalzehnt unterworfen, von denen lediglich drei Morgen brach lagen.223 Auf den 66 Morgen umgebrochener Pferde- und Kuhweide in Heddesheim wuchsen 1797 allein 29 Morgen Kartoffeln und je 11 Morgen Tabak und Hanf. 224 1798 produzierten dreißig Käfertaler Haushalte im dortigen „kleinen Noval-Zehenden-Felde" von 45 Morgen unter anderem auf 29 Morgen Kartoffeln und auf 6,5 Morgen Tabak. 225 In Neckarau wurden 1799 rund hundert Morgen zum Novalzehnt herangezogen, auf denen 75 Personen vorrangig vierzig Morgen Tabak, 36 Morgen Rüben und sechzehn Morgen Kartoffeln pflanzten. 226 Im Plankstadter „Noval-Districte und zware in denen pro 1797 sich ergebene Allment Grundstückere", die rund 79 Morgen maßen, baute man 1805 in erster Linie 19,5 Morgen Gerste, zwanzig Morgen Spelz, zehn Morgen Kartoffeln und vierzehn Morgen Tabak an. 227 Gleichzeitig waren hier auf den gut fünfzig Morgen umfassenden „Neuen Rott-Stückeren auf den Wald stoßend [...] De 1802" vor allem achtzehn Morgen Spelz, 5,5 Morgen Kartoffeln und neunzehn Morgen Tabak gesät.228 Dass diese Beispiele vornehmlich aus den 1790er Jahren stammen, lässt in den meisten Fällen zwar nicht unmittelbar auf einen späten Zeitpunkt der jeweiligen Gemeinheitsteilungen schließen. Auch die damalige Agrarstatistik aber gibt zwischen den frühesten verfügbaren Lokaldaten von 1774 und der Zählung von 1791 erstaunlicherweise noch keinen Schwund der Weiden zu erkennen. Vielmehr verharrte ihr Umfang auf knapp einem Zwanzigstel der landwirtschaftlichen Nutzfläche. 229 Erst 1803 fiel ihr Anteil mit 1,21 Prozent spürbar niedriger aus,230 um bis zur Mitte des Jahrhunderts auf
Seckenheimer Novalzehntverzeichnis vom 20.6.1779 in: StA Ma BMA Se 791. Heddesheimer Zehntversteigerungsprotokoll vom 28.8.1797, in: GLA Ka 145/724. 225 Käfertaler Zehntversteigerungsprotokoll vom 22.8.1798 und namentliche Aufstellung der Zehntpflichtigen vom 16.8.1798, in: ebd. 226 Neckarauer Zehntversteigerungsprotokoll vom27.8.1799 und namentliche Aufstellung der Zehntpflichtigen vom 21.8.1799, in: GLA Ka 145/725. In derselben Akte finden sich für Wallstadt und Friedrichsfeld weitere Belege aus dem Sommer 1799 für vorwiegenden Tabak- und Kartoffelanbau auf den umgebrochenen Weiden. 227 Plankstadter Zehntversteigerungsprotokoll vom 11.7.1805, in: GLA Ka 391/30636. Das Verzeichnis nennt neunzig Personen, von denen 31 Tabak produzierten. 228 Plankstadter Zehntversteigerungsprotokoll vom 12.7.1805, in: ebd. Aufgeführt sind 97 Personen; 37 davon bauten Tabak an. 229 1774 entfielen in den siebzehn kurpfalzischen Untersuchungsgemeinden von 28.527 Morgen landwirtschaftlicher Nutzfläche (Acker, Wiese, Garten, Wingert, Weide) 1.259 Morgen auf Weiden (4,41 Prozent). 1777 waren es 1.343 von 27.890 Morgen (4,82 Prozent) und 1791 wurden 1.365 von 27.862 Morgen registriert (4,91 Prozent). Vgl. Generalverhältnis der Kurpfalz, Gemeindeergebnisse (1774), in: GLA Ka Hfk Handschriften 415; dass. (1777), in: ebd. 77/6142; Generaltabellen der Oberämter Heidelberg und Ladenburg (1791), in: LA Sp A 2 114/2. 230 1803 bestanden in achtzehn Auswahlorten (ohne Alt- und Neulußheim) von 28.680 Morgen landwirtschaftlicher Nutzfläche nurmehr 348 Morgen aus Weiden; vgl. Übersicht der Chur Badenschen Pfalzgraffschafft nach alphabetischer Ordnung, in: GLA Ka 77/6176. 223 224
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135
unter ein Prozent231 und anschließend zu einer gänzlich vernachlässigbaren Größe zu schrumpfen.232 In der Phase um 1800 muss demzufolge der kollektive Weidegang in den Dörfern am unteren Neckar seine ursprünglich zentrale landwirtschaftliche Funktion weithin verloren haben. Das unterstreichen die Äußerungen namhafter Agrarschriftsteller des 19. Jahrhunderts. Wenn etwa Johann Nepomuk Schwerz 1816 nach einer Reise durch die Pfalz die „Gegend zwischen Mannheim und Heidelberg" als „eine der schönsten und bestkultivirtesten, die das Auge sehen mag", pries, so bewog ihn dazu nicht zuletzt die ihm dort allenthalben begegnende Stallfütterung des Viehs.233 Karl Heinrich Rau erklärte 1830, dass „die meisten hiesigen Wirtschaften ohne Beistand von Wiesen und Weiden auf den, dem Acker abgewonnen Futtervorrath angewiesen sind"234 — eine Bemerkung, die Alexander von Lengerke wörtlich in die Passage über den „Garten Badens" seiner „Landwirthschaftlichen Statistik der deutschen Bundesstaaten" von 1840/41 übernahm.235 Für Lambert von Babo schließlich verstand sich 1859 „von selbst [...], [d]aß in den Gemeinden bis über Heidelberg hinauf der Waidgang für das Rindvieh schon längst abgeschafft" war.236 Im Unterschied zum Zuwachs an Ackerböden durch die Urbarmachung von Weideund Ödland entzieht sich der Rückgang der periodischen Regenerationsflächen einer Quantifizierung im zeitlichen Verlauf. Wie sich allein präzise greifen lässt, war die Brache in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre, als erstmals umfassende Angaben zu den lokalen Anbau- und Ertragsverhältnissen erhoben wurden, in allen Untersuchungsorten außer Gebrauch gekommen.237 Bereits 1853 hatten die Gemeinderäte des Bezirks Ladenburg zum Beweis einer hoch entwickelten Agrarökonomie unisono gemeldet, dass
«1 Die acht Dörfer des Amts Ladenburg gaben 1853 bei 15.188,25 Morgen Nutzfläche 121,25 Morgen als „unkultiviertes Weid- und Ödland" an (0,80 Prozent). Zudem antworteten die Gemeinderäte auf die Frage nach Mängeln im Betrieb der Landwirtschaft einhellig, dass kein Weidegang vorkomme. Quellen: Statistische Notizen vom Herbst 1853 für die Orte des Amtbezirks Ladenburg; vgl. Anm. zu Tabelle 5 (alle Orte S. 2, 18; außer Heddesheim S. 10). 232 Im Durchschnitt der Jahre 1866-1868 berechnet sich ein Anteil von 0,05 Prozent; vgl. Ernteberichte der Bezirksämter Mannheim, Schwetzingen und Weinheim 1865-1895, in: GLA Ka 434/ Zug. 1974-39 Nr. 124, 190, 249. Nach der Betriebszählung von 1873 schließlich ergeben sich 0,07 Prozent; vgl. BSB 37, S. 27. 233 Schwerz, Beobachtungen, S. 65 (Zitat), 67, 74 (Stallfütterung am Beispiel Seckenheims und Wieblingens). 234 Rau, Rheinpfalz, S. 47. Auch in seiner Darstellung der regionalen Agrarverhältnisse von 1860 wies er auf das Fehlen öden Weidelandes hin; vgl. ders., Landwirthschaft, S. 278. 235 Von Lengerke, Bundesstaaten, S. 389. Er adelte die Rheinpfalz zu dem badischen „Landstrich [...], welcher das meiste Interesse in Bezug auf seine Wirthschaftssysteme in Anspruch nimmt." 236 Von Babo, Beschreibung (1859), S. 27. Seines Wissens war er „[hjöchstens [...] noch in einzelnen Gemeinden an der südlichen Gränze des Bezirks zu finden." Vgl. auch ebd. (1858), S. 191. 237 1866 beispielsweise wurden in der Summe der zwanzig Gemeinden nur 33 Morgen Brache bei einer Gesamtackerfläche von 36.727 Morgen angegeben (0,09 Prozent); 1868 waren es 24 von 36.614 Morgen (0,07 Prozent); Quellen vgl. Anm. 232.
136
3. Dorfgesellschaft
es in ihren Dörfern keine Brache gebe.238 Vertraut man darüber hinaus dem Urteil sachkundiger Augenzeugen, stellte sich die Lage schon vierzig Jahre früher kaum anders dar. Schwerz etwa beschrieb um 1815 eine „reiche, untadelhafte Sechsfelderwirthschaft" ohne jede Brache als typisch für die Rheinpfalz und erwähnte, dass das immer noch so genannte Brachfeld „an manchen Orten ausschließlich dem Tabak und Klee [...] bestimmt" sei.239 Von Babo sah 1825 „die Dreyfelderwirthschaft mit eingebauter Brache als herrschend" in den Dörfern am Rhein und in der Ebene an.240 Und nach Adam Ignaz Valentin Heunisch, der sich hierin auf Raus kurz zuvor veröffentlichte Regionalstudie stützen konnte,241 war .Anfang der 1830er Jahre die Brache „in dem Rheinthale [und] Neckarthale [...], wo immer es der Boden gestattet, längst abgeschafft."242 Nimmt man also zusammenfassend an, dass in der Rheinpfalz um 1750 meistenteils die klassische Dreifelderwirtschaft betrieben wurde und — vorsichtig nach der Erhebung von 1774 geschätzt — ein Zwanzigstel des nicht bewaldeten Bodens außerhalb der Ortsetter als Weide diente, so wuchs die jährliche Anbaufläche im Lauf der folgenden Dekaden um mehr als die Hälfte von knapp zwei Dritteln auf nahezu hundert Prozent des agrarischen Nutzlandes.243 Diese enorme, im regionalen Vergleich auf einem schon recht hohen Niveau ansetzende Steigerung der Bepflanzungshäufigkeit wurde von der Individualisierung der Gemeinheiten und zuvorderst von der fast völligen Zurückdrängung der Brache getragen.244 Der damit bezeichnete Transformationsprozess kam in nennenswertem Maß gegen 1770 in Gang, beschleunigte sich nach den obigen Beobachtungen vermutlich in den 1790er Jahren nochmals und war um 1810 im Wesentlichen abgeschlossen. Wie es Ester Boserups „frequency of cropping"Modell für die Hauptelemente vorindustriellen Agrarwachstums nahe legt, standen
238 Vgl Anm. 230. Von Babo, Beschreibung (1859), S. 191, stellte wenige Jahre darauf gleichlautend fest: „In dem ganzen Distrikt existirt [...] keine reine Brache mehr." 239 240
Schwerz, Beobachtungen, S. 66f. V o n Babo, Zustand, S. 159.
241
Rau, Rheinpfalz, S. 48, hob 1830 mit Blick auf den Dispositionsspielraum der Dorfbewohner hervor, dass „weder Brache gehalten wird, noch auch Weiderechte der beliebigen Benutzung des Bodens im Wege stehen."
242
Heunisch, Beschreibung, S. 70. Dass sich die landwirtschaftliche Nutzfläche zur selben Zeit punktuell auch durch Waldausstockungen vergrößerte, soll an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Solche Rodungen waren oft politisch aufgeladene und lokal - z.B. in Plankstadt und Seckenheim - durchaus bedeutsame, für den agrarischen Wandlungsprozess im Untersuchungsgebiet insgesamt aber nicht entscheidende Vorgänge; vgl. Monheim, Agrargeographie, S. 67-71. Michael Kopsidis etwa, der Boserups Ansatz in der deutschen Forschung bislang am konsequentesten aufgegriffen hat, gibt für die westfälischen Regierungsbezirke Münster und Arnsberg noch um 1830 eine durchschnittliche Bepflanzungshäufigkeit von nur 56,3 Prozent an. Vgl. Kopsidis, Leistungsfähigkeit, S. 317f.
243
244
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
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dabei der Übergang zu intensiveren Fruchtfolgen und die bodensparende Erhöhung des Arbeitseinsatzes je Flächeneinheit als Wirkmechanismen im Mittelpunkt.245
Viehhaltung Die Viehhaltung kam in der rheinpfälzischen Agrarökonomie vorrangig auf der Produktionsseite zum Tragen. Sie diente „in dem eigentlichen Kornlande blos als Vehikel des Ackerbaues"246 und bildete für die große Mehrzahl der Haushalte keinen marktorientierten Betriebszweig. In den meisten Dörfern des Amts Ladenburg etwa geschah die Zucht um 1850 erklärtermaßen „nur" oder „hauptsächlich für den eigenen Bedarf." In Neckarhausen und Ilvesheim wie auch anderswo verkaufte man daher lediglich das „alte abgängige Vieh", d.h. „dasjenige [...], welches zum Ackerbau oder [zur] Milcherzeugung unbrauchbar geworden."247 Neben der Tatsache, dass Kuhmilch und hauseigenes Fleisch — auch im Unterschichtenmilieu nicht zuletzt von Schweinen — wesentlich zur Ernährung beitrugen, blieb Viehbesitz vor der Verbreitung von Traktoren und Kunstdünger und damit während des gesamten Betrachtungszeitraums zweifellos in doppelter Hinsicht unverzichtbar für einen erfolgreichen Feldbau: Pferde oder Kühe wurden als Zugtiere vor den Pflug gespannt und der Stallmist stellte ein notwendiges Mittel zur Wahrung und Steigerung der Bodenfruchtbarkeit dar. Die Veränderung der Viehzahlen je Familie in der Rheinpfalz spiegelt zum einen den relativen Bedeutungsverlust der größeren Bauern wider (Graphik 9). Der Anteil der Pferde, die sich vorwiegend in den Vollerwerbsbetrieben fanden, sank von seinem Höhepunkt 1791 um nahezu die Hälfte auf 0,36 im Jahr 1855. Bezeichnenderweise fiel der Rückgang in Gemeinden wie Käfertal und Seckenheim, wo die bäuerliche Schicht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein besonderes Beharrungsvermögen an den Tag legte, merklich schwächer aus.248 2« Vgl. Abschnitt 1.4.1. 246 Heunisch, Beschreibung, S. 78. 247 Statistische Notizen vom Oktober 1853; vgl. Anm. zu Tabelle 5 (Schriesheim S. 21 f.; Ilvesheim, Neckarhausen, Sandhofen, Wallstadt S. 28f.; Feudenheim, Käfertal S. 29f.; Heddesheim S. 36f.). Zitate aus den Berichten zu Heddesheim, Käfertal, Neckarhausen und Ilvesheim. Die Zahlen zum jährlichen Verkauf von (Rind-) Vieh und dem Erlös daraus lauteten: Feudenheim 100 Stück für 3.400 Gulden; Heddesheim 170 Kühe (7.500 Gulden), 97 Rinder (2.400 Gulden); Ilvesheim 60 Stück (3.000 Gulden); Käfertal 100 Stück (4.000 Gulden); Neckarhausen 30 Stück (1.500 Gulden); Sandhofen 10 Pferde (960 Gulden), 36 Kühe (1.872 Gulden), 25 Schweine (625 Gulden); Schriesheim 270 Stück ä 50 Gulden; Wallstadt 20 Stück (1.200 Gulden). Für Edingen südlich des Neckars ist indes überliefert, dass der für seine Bewohner gängige Uzname „Kälwlin" (Kälbchen) von der erfolgreichen Rinderzucht herrühre; vgl. Depenau, Ortsnecknamen, S. 46. 248 Käfertal: Von 63 Pferden bei 123 Haushalten 1791 (0,51) auf 136 Pferde bei 347 Haushalten 1855 (0,40), somit eine Verringerung um ein Fünftel. Von einem höherem Ausgangspunkt Seckenheim: 233 Pferde bei 282 Familien 1791 (0,82) auf 339 Pferde bei 528 Familien 1855 (0,64), d.h. ebenfalls eine Abnahme um rund 20 Prozent.
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3. Dorfgesellschaft
Graphik 9: Viehbesatz pro Haushalt in den Untersuchungsdörfern 1774-1855
1774
1791
1808
1855
Jahr • Pferde
• Kühe
• Schweine
Anmerkung: 1774 und 1791 ohne Altlußheim, Ketsch und Neulußheim. Quellen/Datenbasis: Viehbestände je Gemeinde nach Generalverhältnis Kurpfalz 1774, in: GLA Ka Hfk Handschriften 415; Generaltabelle Kurpfalz 1791, in: LA Sp A2 114/2; Statistische Tabellen der badischen Ämter 1808, in: GLA Ka 313/2811; BSB 6, S. 63, 69 (1855). Haushaltszahlen vgl. Tabelle 3 im Anhang.
Dagegen wies der Kuh- und Schweinebesatz eine weitaus stärkere Konstanz auf. Bezogen auf die Einwohnerschaft wuchsen die Bestände mit einer Geschwindigkeit, dass sich die Haushaltsquoten zwischen 1774 und 1855 nur um ein Sechstel bis ein Siebtel verringerten. Die fast gleichbleibend hohe Kuhdichte deutet vor allem auf eine durchgängige Ausstattung auch vieler unterbäuerlicher Familien mit einem Minimum an Spann- und Mistvieh hin. An dem bereits 1774 beachtlichen Umfang der Schweinezucht lässt sich deren nicht unerhebliche Selbstversorgungsfunktion ablesen, obgleich einschränkend hinzuzufügen ist, dass nach Angaben von 1861 lediglich 44 Prozent der Familien wirklich Schweine besaßen.249 Wichtiger wurde im weiteren Verlauf möglicherweise die Haltung von Ziegen, deren Zahl sich von 1855 bis 1873 mehr als verdoppelte.250 Im Ganzen erhärtet sich in der Viehwirtschaft der durch die Analyse der Sozialstruktur und Ressourcenverteilung gewonnene Eindruck: Für das Gros der Ein249
250
Nach der Vieherhebung von 1861 gab es in den zwanzig Untersuchungsdörfern 3.108 Schweinebesitzer; vgl. BSB 17, S. 106f., 112f. Die Volkszählung desselben Jahres verzeichnete 7.044 Familien; vgl. BSB 13, S. 60, 66. Im Jahr 1855, dem frühesten Zeitpunkt ihrer exakten Erfassung, gab es in den zwanzig Gemeinden 1.459 Ziegen, 1861 bereits 2.268 und 1873 schließlich 3.652; für 1873 vgl. BSB 37, S. 127.
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
139
wohner trat an den elementaren Voraussetzungen, um aus eigenem Ackerbau einen Teil des Lebensunterhalts zu bestreiten, seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts keine gravierende Verschlechterung ein.
Nutzungssysteme
und Anbauproportionen
Die in der Literatur des 19. Jahrhunderts für die Rheinpfalz dokumentierten Betriebssysteme blieben, wie angedeutet, nur noch vordergründig der traditionellen Gliederung in drei Zeigen verhaftet. Schon Schwerz zufolge waren die „Fluren [...] zwar in drei Arten oder Felder vertheilt, man muß sich aber dadurch nicht irre machen lassen, und glauben, daß hier eine Dreifelderwirthschaft geführt werde."251 Die beispielsweise 1808 vom Wallstadter Ortsgericht konstatierte „flürliche Bauart", nach der ,,[j]ede Flur [...] ein besonderes Feld aus [macht] und [...] gegenwärtig das Oberfeld die Winter- und das Mittelfeld die Sommer- und das große Unterfeld die Brachflur" ist, täuscht somit über die tatsächliche Flexibilisierung hinweg.252 Um 1850 war bereits „eine freie Bewirthschaftung von der nördlichen Gränze des Bezirkes bis über Heidelberg hinaus die vorherrschende", wobei sich die „Rotation [...] nach dem Bedürfnis der einzelnen Bauern" richtete. Auch wenn „gegen die südliche Gränze die Ueberbleibsel der Dreifelderwirthschaft immer deutlicher hervor" traten, hielt man „eigentlich nur in der Erinnerung an den früher gebräuchlichen Flurbenennungen [...] fest."253 Dass man dem Flurzwang und koordinierten Anbaurhythmen nicht gänzlich den Rücken kehrte, hing in erster Linie mit der Gemengelage der Parzellen zusammen. Denn laut Rau befanden sich die Grundstücke [...] in kleinen Abtheilungen in der Flur umher zerstreut, es fehlt bei sehr vielen an Wegen, um zu ihnen zu gelangen und die Bearbeitung ist nur dann leicht auszuführen, wenn auch die benachbarten Ländereien leer sind. Wer da zur Gerstensaat ackern wollte, wo die Anstößer rings um schon Spelz stehen haben, der könnte mancherlei Beschädigungen nicht vermeiden. 254
Welche Komplikationen unter solchen Vorzeichen eine diversifizierte Nutzung aufwarf, geht aus der Schilderung des Seckenheimer Vogts Körner anlässlich einer 1822/23 vorgenommenen Teilbereinigung der Flur hervor. Er meinte, dass der schädliche Mißstand dieser Feldeintheilung in früheren Zeiten (wo die Feldcultur noch solche Fortschritte nicht gemacht hatte, daß man in der Brache Handelsproducte, und in den Sommerfluren Gewächse verschiedener Gattungen erzeugte, sondern die Cultur sich nur
Schwerz, Beobachtungen, S. 66. „Alsdann verdiente die Gegend den Namen einer der bestkultivirten nicht." 252 Gerichtliche Renovation über sämtliche Wallstadter Gemarkung 1808, in: StA Ma AB Wa I 344. 253 Von Babo, Beschreibung (1858), S. 191, (1859), S. 25. 251
254
Rau, Rheinpfalz, S. 48. Rau glaubte allerdings zugleich, dass „diese Folge der zerstreuten Lage [...] zu übersehen [ist], weil die eingeführte Fruchtfolge im Ganzen so angemessen ist, daß man füglich bei ihr bestehen kann."
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3. Dorfgesellschaft
auf Getreideanbau und Brach beschränkte) nicht so auffallend [war], als in gegenwärtiger Zeit, in welcher der Gutsbesitzer [...] in die Notwendigkeit versetzet ist, seine Güter auch in dem Brachjahre [...] mit verschiedenen, sein Bedürfniß [...] möglichst befriedigenden Gattungen von Gewächsen zu bepflanzen.
Infolge divergierender Produktpräferenzen und Feldarbeitstermine hätten sich darum „von Jahr zu Jahr häufige Klagen und Beschwerden über erlittene Beschädigungen und Beeinträchtigungen erhoben."255 Die Hemmnisse der Flurordnung gingen jedoch nicht so weit, den Landwirten in ihrem Streben nach einer anpassungsfähigen Betriebsfuhrung starre Fesseln anzulegen. Nicht nur war es im gemeindlichen Rahmen möglich, auf Konjunktursignale zu reagieren, indem man etwa wie in Seckenheim bei hohen Absatzpreisen das ganze Brachfeld mit Tabak einsäte.256 Auch innerhalb der Dörfer boten sich den einzelnen Sozialgruppen Spielräume für unterschiedliche Erzeugungsschwerpunkte. Namentlich geringe Besitzer nutzten ihre familialen Kapazitäten, um sich auf besonders arbeitsaufwendige Agrargüter zu konzentrieren. So berichtete Rau von „kleine [n] Leuten, die nur einige Morgen zur Verfügung haben [und] vielleicht die Hälfte davon zu Tabak anwenden, um viel Geld zu lösen", während ansonsten in den Gemarkungen lediglich ein Sechstel des Bodens dem Tabak gewidmet war.257 In der Ladenburger Gegend favorisierten nach von Babo die „kleineren Ackerpächter ein[e] Fruchtfolge", bei der „in dem einen Jahr Tabak, dann Spelz gebaut [wird] und so fort, bis die Nähe der Pachtzeit eine aussaugendem Fruchtfolge gebietet."258 Aufgrund solcher Phänomene sah sich der Bürgermeister von Plankstadt 1853 zu der missbilligenden Bemerkung veranlasst, „daß die ärmere Klasse von Einwohnern nach Verhältnis ihrer Güter zu viel Tabak bauen."259 Nach Raus Auskunft wurden die Fluren vieler rheinpfalzischer Dörfer um 1830 in einer „Sechsfelderwirthschaft mit besommerter Brache" bestellt: 1. Tabak, Mohn, Hanf, Raps, Mais; stark gedüngt 2. Spelz, darauf Wickendüngung oder Stoppelrüben 3. Gerste mit eingesätem Klee 4. Klee 5. Spelz; häufig schwach gedüngt 6. Gerste oder Hafer, z.T. auch Kartoffeln und Runkelrüben260
255 Bürger, Abhandlung, S. 2f. 256 Vgl. Schwerz, Beobachtungen, S. 68; ebenso Rau, Rheinpfalz, S. 50. Rau, Landwirthschaft, S. 333. Er kannte aber auch „kleinere Landwirthe, die solchen Aufwand [Kauf von Futter- und Düngemitteln — N. G.] nicht bestreiten können", „keine Handelsgewächse und dafür mehr Futter und menschliche Nahrungsmittel" anbauten; ders., Rheinpfalz, S. 54. 258 Von Babo, Beschreibung (1859), S. 26f. 2ss BMA Plankstadt an BZA Schwetzingen vom 28.5.1853, in: GLA Ka 376/145. Der Vorwurf war freilich primär luxuskritisch motiviert. Er galt denjenigen, „die den Tabakerlös mehr zu Kleidung als Schuldenzahlung verwenden" und deswegen „Mangel an Futter und Brod erleiden." 260 Rau, Rheinpfalz, S. 50; vgl. ders., Landwirthschaft, S. 329-335; auch Fetzer, Edingen, S. 653f. 257
3.3 Agrarmodernisierung und kommerzialisierte Subsistenzökonomie
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Zudem führte er ein charakteristisches Beispiel für eine Feldeinteilung aus der Ebene zwischen Rhein und Bergstraße an, wonach auf 180 Morgen Acker folgende Produkte angebaut wurden: fünfzig Morgen Spelz, sechs Morgen Roggen, zwanzig Morgen Gerste, sechzehn Morgen Hafer, vier Morgen Wicken; siebzehn Morgen Kartoffeln, sieben Morgen Runkelrüben, zwanzig Morgen Klee, siebzehn Morgen Luzerne; achtzehn Morgen Tabak und fünf Morgen Raps.261 Unter Zugrundelegung beider Angaben nahm das Getreide demnach die Hälfte bis zwei Drittel der Fläche ein, während Futterpflanzen und Hackfrüchte ein Sechstel bis ein Drittel und Handelsgewächse rund ein Sechstel beanspruchten.262 Diese Betriebsweise bewegte sich somit an der Schwelle von der Felder- zur echten Fruchtwechselwirtschaft, die Rau in Anlehnung an Schwerz mit einem Absinken der Halmfruchtquote auf unter sechzig Prozent ansetzte.263 Die Integration von Futterkräutern in die Fruchtfolge — speziell der Luzerne (ewiger Klee), einer „Hauptstütze der hiesigen Landwirthschaft"264 - bildete seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eine unentbehrliche Voraussetzung für die zunehmende Bepflanzungshäufigkeit, da nur auf dieser Basis die Stallhaltung des Viehs und, mit Hilfe des vermehrten Dungs, die Reduktion der Brache zu realisieren waren. Mit der fortschreitenden Intensivierung innerhalb des so geschaffenen Systems, die primär durch die Ausweitung der Tabakproduktion erfolgte, traten bei Futter und Dünger indes abermals Engpässe auf, die sich im einzelbetrieblichen Kreislauf oft nicht mehr überwinden ließen. „Bei einer geschlossenen Wirthschaft, die weder Futter noch Mist hinzukaufen soll", — so Rau 1856 — sei, wenn „1/7 des Ackerlandes dem Tabaksbau gewidmet [sind], nicht wohl weiter im Anbau eines Handelsgewächses zu gehen." Da jedoch für gewöhnlich „dem Tabak [...] ein grösserer Theil der ganzen Gemarkung angewiesen" ist, müssten ,,[v]iele Landwirthe [...] von anderen Orten Heu und Mist herbeiführen."265 Zumindest in den Orten der Ebene scheute man deswegen nicht den Ankauf größerer Mengen an Viehfutter — vor allem Wiesenheu aus den Dörfern der Rheinniederung - , sofern die Erlöse der zu Lasten von Klee oder Rüben ausgedehnten Gewerbepflanzen die Mehrausgaben rechtfertigten.266 Im Bereich der Düngemittel bediente
2«
Vgl. Rau, Rheinpfalz, S. 52. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man das bei von Babo, Beschreibung, S. 25, Ende der 1850er Jahre als „gebräuchlichste Rotation" eingestufte Neunfeldersystem betrachtet. Von Babo nannte als Reihenfolge: „1) Tabak (auch Runkelrüben und Kartoffeln) auf Dünger; 2) Spelz (auch Gerste oder Roggen); 3) Runkelrüben oder Kartoffeln; 4) Gerste oder Hafer mit Kleesaat; 5) Klee; 6) Spelz, wobei der Klee öfters überdüngt wird; 7) Kartoffeln; 8) Gerste; 9) Hafer." 2 « Vgl. Rau, Rheinpfalz, S. 53. 2
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