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German Pages 302 Year 2014
Uwe Christian Dech Der Weg in den Film
Film
Uwe Christian Dech (Dr. phil., Dipl.-Psych., Dipl.-Päd., Dipl.-Soz., M.A.) ist in Gießen als Körper- und Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.
Uwe Christian Dech
Der Weg in den Film Stufen und Perspektiven der Illusionsbildung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: »Kinovorhang«, © Dirk Rotermundt, digitalvisionen, Royal Ocean Liner Photography; »Wassertreppe«, © Uwe Christian Dech Lektorat: Uwe Christian Dech Satz: Carolin Mönter, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1716-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 13 1. Konzeptionelle Vorannahmen | 17 2. Der theoretische Weg zu den Einstellungen in der filmischen Erzählung | 21 Einstellungen | 21 Perspektiven | 23
Gewichtungen von Einstellungen in den Perspektiven | 26 Die drei Pole des Filmverstehens: Kindheit, Alltagsleben Erwachsener und filmische Erzählung | 28 Die Stufentexte in den Einstellungen | 29 I. Raumperspektive | 30 II. Körperperspektive | 34 III. Ereignisperspektive | 37 IV. Symbolperspektive | 40 V. Verlaufsperspektive | 43 Das Entstehen von Wirkung | 47 Filmwahrnehmung | 49 Überblick: Die Einstellungen in der Narration des Films | 52 3. Eine kleine Philosophie der Bewegung in den Film | 57 Fragmente | 57 Bewegungen | 62 Feld der Möglichkeiten | 67 Schemata | 71 Wirklichkeiten | 75
4. Empirische Analyse ausgewählter Filmbeispiele | 81 Sichtung des Materials | 81 Leitfragen | 87 Auswertungsverfahren | 89 Ergebnisse | 91 Beispielfilm 1: „Citizen Kane“ | 91 Beispielfilm 2: „Das doppelte Lottchen“ | 101 Beispielfilm 3: „Nosferatu“ | 109 Beispielfilm 4: „Der Leopard“ | 117 Resümée | 123 1. Das Vorkommen der filmischen Einstellungen | 123
2. Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren | 125 3. Filmische Einstellungen und Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens | 126 4. Filmische Einstellungen in den Intervallen | 127 5. Filmische Einstellungen und ihre Wirkfaktoren | 127 5. Die Wirkungen der filmischen Einstellungen auf das Bild der Leinwand, das Selbst des Zuschauers und den Moment der Zeit | 129 Beobachter in Räumen (Raumperspektive) | 129
Vergrößerung/Zentralperspektive („Zielstrebige Bewegung“) | 130 Belebung/Schärfentiefe („Gegebenheit“) | 135 Gegenstandsmagie/Schwenk („Positionsänderungen“) | 140 Déjà-vu-Erfahrungen/Kadrierung („Raumbild“) | 146 Sakralisierung des Raums/Kreisfahrt („Kreisbewegung“) | 151 Berührer von Körpern (Körperperspektive) | 156 Annäherung an die Aura/Vor der Großaufnahme („Aura“) | 156 Vertrautheit oder Erotik/Haptische Bilder („Haut“) | 162 Somatische Empathie/Motor Mimicry („Hände“) | 166 Das Gesicht: Spiegel der Seele/Spiegelneurone („Augen“, „Mund“) | 171 Teilnehmer an Ereignissen (Ereignisperspektive) | 178
Zur Konstruktion von Handlung und Ereignis/Geschlossene Dramaturgie („Geschehen“) | 178 Die Figur und ihr Charakter/die teilnehmende Beobachtung („Figurenbeobachtung“) | 183 Die Szene und die Rolle/Drehbuch („Spiel“) | 188 Die Erinnerung als Fragment der Geschichte („Vorstellungsbilder“) | 194 Rhythmus und Atmung/Montage („Rhythmus“) | 199 Bedeutungsstifter mit Symbolen (Symbolperspektive) | 205 Das Milieu („Ort“) | 205 Die Lichtwesen/Führungslicht („Licht“) | 211 Überzeugung: Illusionäre Wahrheit („Sprache“) | 217 Der sichtbare Entwurf des Möglichen („Selbstbilder“) | 221 Die „unsichtbaren Schauspieler“ („Musik“) | 227 Integrierter im Verlauf (Verlaufsperspektive) | 232 Die unmögliche Aufgabe („Hoffnung“) | 232 Der Kompetenzzuwachs („Glaube“) | 237 Das Spektrum der Bedürfnisse („Offenheit“) | 241 Bildgiganten als Hüter des Schlafs („Gerechtigkeit“) | 245 Die temporäre Aufhebung der Fragmentiertheit („Liebe“) | 250 Literaturverzeichnis | 255 Anhang | 271
Ergebnisse zu den Filmlisten | 271 Liste 1: The American Film Institute | 271 Liste 2: Der Deutsche Filmpreis | 276 Liste 3: Empfehlungsliste für Filme (Fachbereich Medienwissenschaften der Universität Marburg) | 281 Liste 4: „Cinemathek“ der Süddeutschen Zeitung | 286 Gesamtliste | 291 Liste der ausgewählten Filme und der Rechtsinhaber ihrer Bilder | 296
Vorwort
Als Kind war ich fasziniert von einer amerikanischen Fernsehserie, die in Deutschland unter dem Titel „Kobra, übernehmen Sie!“ lief. Jahrzehnte später entdeckte ich, daß Spuren dieser Begeisterung immer noch vorhanden waren, und als ich dann ab dem Wintersemester 2005/2006 eine Reihe filmtheoretischer Seminare an der PhilippsUniversität Marburg besuchte, war die Idee zu diesem Buch entstanden. Dankbar bin ich meiner Frau Heike, mit der zusammen ich im hiesigen Programmkino viele Filme gesehen habe. In der „Kammer“ am Steinweg hatte ich auch mehrmals die Möglichkeit, anläßlich der Verleihung des Marburger Kamerapreises an der Diskussion zwischen Praktikern der Bildgestaltung und Filmtheoretikern teilzunehmen. Dem Dank, der Prof. Karl Prümm für die Initiierung dieser Marburger Kameragespräche vielfach ausgesprochen wurde, schließe ich mich hiermit gerne an. In der Fachbereichsbibliothek Germanistik/Medienwissenschaft war mir Sigrid Hartmann mit außerordentlicher Freundlichkeit und aufmunternden Worten behilflich. Für die Diskussion des Manuskriptes, vor allem auch für sprachliche Anregungen, fühle ich mich Franz Siepe verpflichtet. Matthias Michel, Kameramann, Cutter und Mitarbeiter des Fachgebiets Medienwissenschaften der PhilippsUniversität, war so freundlich, die vorläufige Endfassung des Manuskripts zu lesen und die Arbeit mit manchem wertvollen Hinweis zu bereichern. Besonders danke ich Matthias Michel für seine ermunternden, mir Mut machenden Worte. Anregend und instruktiv waren auch die Gespräche mit dem Filmkomponisten und Toningenieur Michael Witzel in Rauschenberg sowie, am Nil, mit dem Kameramann Tilman Schwamberg. Die Diplom-Psychologin Eva Winkler unterstützte die
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Fertigstellung des Projekts mit dem Erstellen der Graphiken für den empirischen Teil und mit dem Korrekturlesen des Textes. Nicht zuletzt gilt mein Dank Dr. Nadja Cholidis und Ulrike Dubiel, M. A., die mir als Mitarbeiterinnen des Pergamonmuseums zu Berlin ihre Arbeitsweise erläuterten: Inmitten von Paletten, auf denen um die 25000 Steinfragmente gelagert waren, berichteten sie mir in einer Werkhalle am Stadtrand, wie es ihnen über Jahre hinweg gelingen konnte, die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Skulpturen in mühevollster Kleinarbeit wieder zusammenzusetzen. Damals hatte ich das Gefühl, mit meinem Buch vor einer ähnlichen Aufgabe zu stehen: aus einer hohen Anzahl zerstreuter filmtheoretischer Texten ein Konzept zu konstruieren. Allerdings hatte ich, anders als die Archäologinnen, kein Bild des Endzustandes vor Augen. Mein Buch ist im Gedenken an den Filmtheoretiker und Filmemacher Béla Balász (1884-1949) entstanden, dem es auch gewidmet ist. Balász’ assoziativ-poetische Sprache ist für mich von vorbildlicher Anschaulichkeit und ausdrucksstarker Schönheit. Marburg, im September 2010
U. C. Dech
„Der Zuschauer ist der Tanz, er ist der Ball, er ist der Hof“ (Edgar Morin 1958: 121). „Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst“ (Rainer Maria Rilke 2004: 131, Achte Duineser Elegie).
Einleitung
Der Regisseur Fred Zinnemann äußerte einmal, es sei ihm bei seinen Dreharbeiten zu „High Noon“ daran gelegen gewesen, daß „das Publikum in die Leinwand hineingezogen wird“1. Er fügte sogleich hinzu: „Das ist natürlich sehr schwierig“; doch gelang es ihm und vielen Filmemachern vor und nach „12 Uhr mittags“, diese Intention zu verwirklichen. Schon umgangssprachlich bestätigen wir, daß es beim Kinobesuch darum geht, „in die Leinwand hineingezogen“ zu werden, indem wir sagen, wenn wir „in einen Film gehen“. Und jeder passionierte Kinogänger hat gewiß schon einmal sagen können: „Ich war mittendrin“. Das vorliegende Buch fragt nach den Konstitutionsbedingungen der geheimnisvollen Tatsache, daß das Geschehen auf der Leinwand mit der Wahrnehmungswelt des Zuschauers im Projektionsraum verschmilzt. Viele Filmtheoretiker haben in den letzten hundert Jahren die Frage nach dem „Realitätseindruck“ des Kinos gestellt und ganz unterschiedliche Antworten gefunden. Der filmwissenschaftliche Diskurs behandelt die unterschiedlichsten Teilaspekte, so daß schon aufgrund der Vielfalt divergierender Ansätze kein einheitliches Bild dieses Fachgebietes existiert. Vor allem aber bereitete die – in mancher Hinsicht durchaus fruchtbare – Konkurrenz zwischen verschiedenen Schulen Sprach- und Verständnisschwierigkeiten, wie das ja auch in anderen Disziplinen häufig der Fall ist. Angesichts dessen scheint es gerechtfertigt, wenn nicht gar notwendig, einen nicht schulgebundenen, „integrativen“ Ansatz zu wählen. Eine solche Herangehensweise, wie sie etwa von Jens Eder (2005, 2006, 2008) gewählt wird, möchte Kommunikation innerhalb dieser Forschungsrichtung vorantreiben,
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S. „Starinfos als Film: Fred Zinnemann” in „12 Uhr mittags“ (DVD, Timcode 02:06:40).
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und von einer solchen Absicht ist auch mein „Der Weg in den Film“ getragen. Dazu möchte ich allerdings hervorheben, daß ich mich nicht als Insider der scientific community verstehe, sondern eher als ein Liebhaber des Spielfilms, der sich gelegentlich gern von den großen farbigen Illusionslandschaften der Leinwand faszinieren und unterhalten läßt. Als Körper- und Psychotherapeut habe ich vor einigen Jahren den „Übergangskreis“ entworfen, der als Frucht meiner beruflichen Arbeit entstanden war und sich als einigermaßen transferfähig erwies, insofern seine stufenförmig angelegte Architektur als ein Erklärungsmodell auch für Phänomene außerhalb der therapeutischen Praxis dient, wie ich es beispielsweise in „Sehenlernen im Museum“ (transcript-Verlag 2003) erprobt habe. Mit jener Publikation wollte ich dazu anleiten, die Aussagekraft musealer Gegenstände mit meinem Konzept zu erkunden. Im vorliegenden Buch nun stütze ich mich erneut auf dieses Stufenmodell, und wieder geht es mir um die visuelle Wahrnehmung, die in meinen Überlegungen immer ein eminent körperbezogenes Geschehen ist. Zum Aufbau des Buches: Nachdem ich im ersten Kapitel („Konzeptionelle Vorannahmen“) in knapper Form etwas zu meiner Sicht über den Menschen im Alltag genauer, im Medienalltag, vermerkt habe, rufe ich im zweiten Kapitel („Der theoretische Weg zu den Einstellungen in der filmischen Erzählung“) noch einmal das Stufenkonzept des „Übergangskreises“ in Erinnerung und modifiziere das Konzept so, daß es für die Hauptabsicht: die Beschreibung des „Weges in den Film“, Tauglichkeit gewinnt. Weil ich Kindheit und Alltag für die beiden entscheidenden Momente halte, die uns für die Rezeption einer filmischen Geschichte prädisponieren, sind diese beiden Lebenssphären jeweils stufenspezifisch beschrieben, und zwar in der Weise, daß sie mit der von mir konstruierten Stufenspezifik der Filmwahrnehmung analog sind. Die „Stufentexte“ sollen diese Analogie zwischen den Lebenssphären und der Filmwahrnehmung möglichst sinnfällig demonstrieren. Das dritte Kapitel („Eine kleine Philosophie der Bewegung in den Film“) möchte anhand von fünf Begriffen („Fragmente“, „Bewegungen“, „Feld der Möglichkeiten“, „Schemata“ und „Wirklichkeiten“) ein terminologisches Instrumentarium für einen Dialog zwischen den Vertretern der verschiedenen filmwissenschaftlichen Schulen vorschlagen, indem ein Ansatz zu einer Theorie zur Interdependenz von Bewegung im Film und Bewegung im Alltagsleben formuliert wird. Das vierte Kapitel („Empirische Analyse ausgewählter Filmbeispiele“) möchte belegen, daß die mit den Stufentexten theore-
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tisch postulierten „Einstellungen“2 in der Filmbetrachtung tatsächlich nachweisbar sind. Schließlich begründet das fünfte und abschließende Kapitel („Die Wirkungen der filmischen Einstellungen auf das Bild der Leinwand, das Selbst des Zuschauers und den Moment der Zeit“) die Entstehungszusammenhänge filmischer Effekte auf „stufenbezogener“ Ebene: Meine Überlegungen zu jeder einzelnen filmischen Einstellung werden in den Kontext von Stellungnahmen und Einschätzungen renommierter Filmtheoretiker und -praktiker gestellt. So ist es gut möglich, daß sich einem Leser, der Fragen der Filmwahrnehmung aus filmtheoretischer Perspektive anzugehen gewohnt ist, die Hauptintention der vorherigen Kapitel erst hier, quasi retrospektiv, erschließt. Im Anhang finden sich statistische Auswertungen zu den Ergebnissen meiner Filmanalysen. Insgesamt habe ich versucht, gerade auch jenem Kinogänger verständlich zu bleiben, der nicht durch filmtheoretische Seminare vorgebildet ist. Meine „Stufentexte“ möchten den Leser ermuntern, meine Gedanken mit eigenen Lebens- und Seherfahrungen zu vergleichen. Hierzu sollen die Filmbilder im fünften Kapitel einen zusätzlichen Anreiz geben. Im Übrigen weiß ich, daß ich dem Leser mitunter viel Geduld und wohlwollende Einfühlung abverlange. Doch ist das Buch auch so geschrieben, daß man nicht unbedingt kontinuierlich von Seite zu Seite lesen muß; man kann – je nach Orientierungsbedürfnis – ruhig auch einmal etwas überblättern oder von vorne nach hinten springen und umgekehrt.
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Das Wort „Einstellung“ gebrauche ich hier und später – abweichend von der üblichen filmtechnischen Verwendung – als innertheoretischen Begriff meines Konzepts und nicht im üblichen filmtechnischen Sinne. Zur Vermeidung von semantischen Überschneidungen habe ich „Einstellung“ im herkömmlichen, filmtechnischen Verständnis kursiv gesetzt.
1. Konzeptionelle Vorannahmen
Im Fachdiskurs über Filmtheorie sind die Vorstellungen darüber, wie das gezeigte Bildmaterial für den Zuschauer Wirklichkeitsstatus erlangt, unterschiedlich. Die Differenz hängt von den Schwerpunktsetzungen der Theoretiker bzw. Richtungen ab, die sich mit der Frage „Was wird wirklich?“ beschäftigen. Die Annahmen, welche dabei den Ausgangspunkt für ihre verschiedenen Konstruktionen bilden, werden jedoch oft nicht artikuliert. So möchte ich zu Beginn meiner Arbeit kurz die grundsätzlichen Voraussetzungen offenlegen, die den Menschen im Medienalltag und seinen Weg in den Film a priori bestimmen. Es sind insgesamt vier Bereiche zu nennen: Der Mensch im Leben Es sind fünf Aspekte, die ich zur Beschreibung dessen, was den Menschen im Leben ausmacht, für wesentlich halte: •
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Der Mensch braucht Ziele, um sein Handeln planvoll gestalten zukönnen. Zum planvollen Handeln wiederum ist Selbstwahrnehmung notwendig. So verrichtet der Mensch in der Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Natur Arbeit und schafft sich so eine Lebensgrundlage. Sein Lebenselement sind die Aufgaben in der räumlichen Umgebung seines Alltags. Uns ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung gegeben. Sie ist die Bedingung dafür, daß wir unsere Kräfte gezielt einzusetzen können, und darüber hinaus ist sie für das individuelle Wohlbefinden entscheidend. Sie wurzelt in der Jeweiligkeit und der unumgänglichen Allgegenwärtigkeit des Körpers. Das Handeln in der Welt eröffnet dem Menschen Möglichkeiten, sein Handlungsrepertoire erfinderisch zu nutzen. Die Interaktion
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zwischen Mensch und Welt ist ein dynamisches Verhältnis, aus dem Ereignisse entstehen, auf die der Mensch erneut reagiert, ihre Bedeutung erkennt und wiederum in die Welt eingreift. Der Mensch begrenzt die Fülle der Ereignisse und stiftet somit Ordnung. Grenzen zu setzen und Grenzen einzuhalten ist eine Bedingung des Lebens. Die sprachlichen und figürlichen Symbole, mit dem der Mensch sich umgibt, verweisen darauf, daß auf diesem Wege des Ordnens Bedeutungen entstanden sind. Der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sind Grenzen gesetzt. Es läßt sich somit nicht alles fassen und alles sagen, was sich beobachten und spüren läßt. Das größte Geheimnis ist die Liebe.
Der Alltag Der Alltag ist der „Handlungsbiotop“ (Boesch 1976: 15) des Menschen. Alle Aufgaben sind dem Menschen hier gestellt. Der Alltag bietet ihm an, sie anzunehmen, ihre Chance zu ergreifen und mit ihnen eine Ordnung im Leben zu finden. Dazu ist es notwendig, an den Aufgaben zu wachsen und zu reifen. Wenn an jedem Morgen die Aufgaben des Alltags ihr Recht fordern, kann der Mensch sich an ihnen bewähren. Die praktische Lebensführung steht im Vordergrund des Alltagserlebens. Alltag ohne Verantwortung gibt es nicht. Er ist die Herausforderung zum Handeln und die „Wirklichkeit par excellence“ (Berger/Luckmann 1984: 24), das schlechthin Dauerhafte im Leben des Menschen. Die Bedeutung der Phantasie Jedem von uns ist eine Vorstellungswelt gegeben, die nicht immer den Gesetzen der Logik gehorcht. Zumeist erscheint die Abfolge der Bilder als eine Reihe von nicht zusammenhängenden, ungeordneten Phantasiefragmenten. Die Fähigkeit, solche Vorstellungsbilder hervorzubringen, ist uns in die Wiege gelegt. Im Spiel reift die Fähigkeit zu phantasieren und weitet sich aus. Und im Spiel individualisiert sich auch der Fundus der Bilder, insofern wie die jeweils im einzelnen Menschen angelegten Begabungen wachsen. Ob diese Anlagen in Erscheinung treten und inwieweit sie sich entfalten, hängt im Wesentlichen von den Umständen ab, in denen das Kind sich entwickelt. Spielen und Phantasieren sind Angelegenheiten aber nicht nur für Kinder. Auch Erwachsene können sich im Spiel entfalten und ihr Po-
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tential zum Entwerfen von Bildern und Vorstellungswelten nutzen. Wenn ihnen das aus äußeren Gründen, wie beispielsweise durch einen ungeliebten Beruf, versagt ist, der den eigenen Begabungen nicht entspricht, werden Menschen verstärkt dazu neigen, vorgefertigte Phantasien anderer zu konsumieren. Mit derartigen Kompensationsangeboten verdienen sich die Verkäufer industriell gefertigter visueller Massenware ihr Geld. Auf der einen Seite stehen die professionellen Anbieter, auf der anderen die Laien. Der Einfluß der Massenmedien Die Tatsache, daß die Massenmedien großen Einfluß auf unser Bewußtsein ausüben, ist unbestritten. Ob nun Bücher, Zeitschriften oder Medien der visuellen Kultur: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, sagt der Soziologe Niklas Luhmann (1996: 9). Dabei ist die Prägung durch Bilder möglicherweise viel wirkungsvoller und nachhaltiger als die durch Worte oder Schrift. Denn ein Bild sagt eben mehr als tausend Worte. Überall begegnen wir industriell gefertigten Bildern, die unseren Wahrnehmungsapparat durchlaufen und die in das Innere unseres psychischen Haushalts gelangen. Wir kommen nicht umhin sie zu sehen, auch wenn wir sie im Alltag nicht immer bewußt wahrnehmen. Viele von ihnen verkünden eine „message“, vor allem die, auf sich selbst aufmerksam machen zu wollen. Wir gehen niemals ohne Vorprägung in einen Film: Schon bevor wir den verdunkelten Vorführungsraum betreten, hat uns die Filmwerbung in der Regel in Form von Plakaten in unserer Wahrnehmung vorherbestimmt. Solche visuellen Leitmotive bilden den ersten Einfluß, der den Zuschauer auf seinen „Weg in den Film“ erfaßt.
2. Der theoretische Weg zu den Einstellungen in der filmischen Erzählung
E INSTELLUNGEN Mein Modell zur Wirkung von Filmen geht letztlich zurück auf meine Publikation „Der Übergangskreis“ (2001). Dort hatte ich ein „integratives Konzept zur Körper- und Psychotherapie“ vorgestellt, das auf der folgenden Überlegung beruhte, die ich später für mein „Sehenlernen im Museum“ (2003) fruchtbar zu machen versuchte: Sämtliche Handlungen, die wir ausführen, bezeugen, daß wir mitten in der Welt stehen; daß sämtliche Äußerungen und Selbstäußerungen sich in einem Beziehungsfeld ereignen. Der Mensch ist von Natur aus ein relationales Wesen. Ich bezog mich damals vor allem auf den niederländischen Bewegungswissenschaftler Jan W. I. Tamboer (1991), der für das menschliche Handeln innerhalb seiner Beziehungsverhältnisse den Ausdruck „Weltverstehen-in-Aktion“ (68) prägte. Damals war ich der Überzeugung, daß es eine Reihe von „Handlungsformen“ gibt, die im Wesentlichen unser In-der-Welt-Sein bestimmen. Ich nannte sie – wiederum in Anlehnung an Tamboer – „Bedeutungsrelationen“ und möchte heute für mein Filmmodell den schlichteren Begriff Einstellungen verwenden. Dabei ist der Doppelsinn des Wortes Einstellung durchaus willkommen und gewollt; deshalb, weil er die Korrespondenz zwischen dem Subjekt der Wahrnehmung (seiner inneren Disposition) und dem Objekt der Wahrnehmung (den bewegten Bildern im Kino) auf eine begriffliche Formel bringt. Ganz in diesem Sinne meinte der ungarische Filmtheoretiker Béla Balász 1930:
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„Jedes Bild meint eine Einstellung, jede Einstellung meint Beziehung, und nicht nur eine räumliche. Jede Anschauung der Welt enthält eine Weltanschauung. Darum bedeutet jede Einstellung der Kamera eine innere Einstellung des Menschen. Denn es gibt nichts Subjektiveres als das Objektiv. Jeder Eindruck, im Bilde festgehalten, wird zu einem Ausdruck, ob das beabsichtigt war oder nicht. Das braucht nur, bewußt oder intuitiv, gehandhabt zu werden, und die Photographie wird zur Kunst“ (71).
Nun halte ich fünf dieser Einstellungen für zentral, wenn es um die verstehende Wahrnehmung und Wirkung von Filmen geht: 1. „annähern“ 2. „akzeptieren“ 3. „loslassen“ 4. „bildhaft werden lassen“ und 5. „sich einigen“.
Die Reihenfolge dieser fünf Einstellungen ist steigernd zu verstehen: Die jeweils frühere Stufe gilt als wichtigste Voraussetzung für die jeweils folgende. Nehmen wir zur Erklärung ein einfaches Beispiel aus dem Alltag: Ich führe mit einem Kollegen ein Gespräch über ein gemeinsames Projekt. Dabei nähere ich mich auf der ersten Stufe dem Gesprächspartner und dem Ziel an, das den Anlaß für die Unterredung bildet. Mit dieser Annäherung, die ich als ein ruhiges und langsames Geschehen auffassen möchte, schaffe ich die bestmögliche Voraussetzung zum „Akzeptieren“: mich selbst und den Kollegen ernst zu nehmen. Es wird uns nun auf einer weiteren Stufe möglich sein, so miteinander zu sprechen, daß wir eigene Ideen äußern, uns selbst äußern, daß wir also „loslassen“ können. Ein solches wechselseitiges SichÄußern erzeugt gemeinsame Vorstellungsbilder, die „bildhaft werden“ und das gemeinsame Vorhaben auf diese Weise illustrieren, d.h. konkretisieren. Schließlich bilden solche in der Kommunikation entstandene Bilder eine gute Grundlage dafür, daß ich mit meinem Gesprächspartner zu einer sinnvollen Einigung gelange.
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P ERSPEKTIVEN Nun sehe ich neben diesen fünf hauptsächlichen Einstellungen, welche die Beziehungsverhältnisse des Menschen in seiner Umwelt bezeichnen, eine Reihe von fünf Grundorientierungen, die ich Perspektiven nennen möchte1. Das Gefüge dieser Perspektiven bildet den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen sich m. E. die verstehende Wahrnehmung von Filmen vollzieht. Christian Metz (1972) schreibt: „Was man zu verstehen suchen muß, ist die Tatsache, daß Filme verstanden werden“ (197). Mit meinem Filmkonzept möchte ich einen Beitrag zur Erfüllung dieser von Metz formulierten Aufgabe leisten: Wir verstehen Filme, weil unser Alltagsleben durch diese fünf Perspektiven bestimmt ist und weil wir aus diesen Perspektiven das Filmgeschehen betrachten. Meine These ist, daß eine klassische Filmhandlung so konstruiert ist, daß sie aus diesen fünf Perspektiven adäquat, d.h. sinnverstehend wahrgenommen werden kann. Jede dieser fünf Perspektiven teilt sich auf in die obengenannten fünf Einstellungen bzw. Stufen. Dabei ist jeweils eine dieser Einstellungen für eine der Perspektiven zentral; denn sie bestimmt ihre besondere Qualität. So ergibt sich die folgende Zuordnung von Perspektiven und zentralen Einstellungen: Die Perspektive wird qualifiziert durch die Einstellung: I. Raum „annähern“ II. Körper „akzeptieren“ III. Ereignis „loslassen“ IV. Symbol „bildhaft werden lassen“ V. Verlauf „sich einigen“ Wie lassen sich die Perspektiven inhaltlich beschreiben? I. Raumperspektive Diese Perspektive steht am Anfang, weil die Erfahrung des Raums die erste Grunderfahrung der menschlichen Existenz ist. Sie ist der Ein-
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Es ist erscheint mir wichtig zu betonen, daß dieser Gebrauch von Perspektive von der kunsthistorischen Terminologie (Perspektive als räumliche Darstellung auf einer zweidimensionalen Fläche) verschieden ist.
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stellung des Annäherns zugeordnet, weil schon das kleine Kind zielgerichtete Bewegungen ausführt. Insofern der Mensch, der sich auf Ziele hinbewegt, mit Blicken kontrolliert, ob und inwieweit ihm die Annäherung an seine Ziele im Raum gelingt, verstehe ich seine Position als die eines Beobachters. Ähnliches ist es im Kino: Der Zuschauer2 beobachtet, was die Kamera sieht. Er unterscheidet zwischen sich und den Bildern auf der Leinwand. Der Zuschauer befindet sich dann in der Raumperspektive, wenn er mit der Kamera seinen Blick auf den Raum zentriert. II. Körperperspektive Die zweite Perspektive rückt den Tastsinn in den Blick. Hier ist die Einstellung „akzeptieren“ zentral, weil das Berühren eine fundamentale Vertrautheit mit der Welt schafft. Die Augen „tasten“ die Beschaffenheit des Gesehenen ab; und der hieraus resultierende Eindruck von Wirklichkeit basiert im Wesentlichen auf dieser Kontakterfahrung. Beim Betrachten eines Films ereignet sich visuelles Fühlen, wenn die Kamera sich in einer Position zu den auf der Leinwand gezeigten Personen befindet, von der aus der Zuschauer diese mit seinem eigenen Arm berühren könnte3. Diese Nähe aktiviert Berührungswünsche, wie man sie im Alltag verspürt, wenn man sich in der Nähe einer Person oder überhaupt einer Figur oder eines Gegenstandes befindet, die
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Wenn ich hier und im folgenden für die Rolle des Kinogängers, Zuschauers oder Lesers nur die männliche Form verwende, so geschieht dies einzig aus dem Grunde der leichteren Lesbarkeit.
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Der vom Zuschauer wahrgenommene Abstand zwischen Kamera und Objekt wird natürlich durch die unterschiedlichen Brennweiten bestimmt. Der tatsächliche Ort der Kamera ist sekundär: „Mit der Variabilität des Objektivs kann nicht mehr unmittelbar aus dem Gezeigten auf den Kamerastandpunkt geschlossen werden, da die Objektive von einem Standpunkt aus ganz unterschiedliche Abbildungen erzeugen. Dennoch hat diese Differenz der Brenn- weiten nur einen geringen Einfluß auf die filmische Wahrnehmungskonstruktion, weil der Zuschauer von seiner alltäglichen Wahrnehmung, seinem ,unbewaffneten‘ Auge, ausgeht, und sich an den dort gewonnenen Maßstäben auch bei der Filmwahrnehmung hält” (Hickethier 2001: 69).
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Berührungswünsche erwecken4. Jetzt ist der Kinogänger ein vom Berührungswunsch Berührter und man kann sich der Intensität dieser Kontakterfahrung kaum entziehen. Die Körperperspektive folgt auf die Raumperspektive, weil Berührungen ein Geschehen im Raum sind und diesen somit als Voraussetzung haben. III. Ereignisperspektive Diese Perspektive thematisiert solche Ereignisse, die von handelnden Menschen erzeugt werden. Dem menschlichen Handeln eignet grundsätzlich eine gewisse Offenheit wie auch das Moment der Freiheit, so daß hier die Kategorie „des Möglichen“ hineinspielt, mit welcher der Psychotherapeut Dieter Wyss (1973) das In-der-Welt des Menschen charakterisiert. D. Wyss meint, es sei für den Menschen elementar, „für die Möglichkeiten des Lebensweges offen zu sein“ (38). Diese Perspektive kennzeichnet den Kern der Attraktivität des Kinos, insofern die Bilder selbst zum Ereignis für den Zuschauer werden. In das Geschehen hineingezogen, wird er zum Teilnehmer der Filmhandlung. Wenn die Kamera Ereignisse im obengenannten Sinne spielerisch und erkundend einfängt – vor allem durch Positionswechsel – kann man sagen, daß sie sich gleichsam neugierig verhält wie ein Mensch, der sie aus allen Blickwinkeln kennenlernen möchte. Weil ein fixierter Standpunkt verlassen wird, meine ich, daß hier die Einstellung „loslassen“ zentral ist. IV. Symbolperspektive Diese Perspektive wird vom Bild als Symbol für einen Erlebniszusammenhang regiert. Als Symbol verdichtet das Bild die von Menschen verursachten – Ereignisse und erhält damit eine sehr energiereiche Form. Daher ist hier die Einstellung „bildhaft werden lassen“ zentral. Die Symbolperspektive folgt auf die Ereignisperspektive, weil ich, wie gesagt, das bildhafte Symbol als eine Verdichtung von Ereignissen verstehe. Die Ereignisperspektive hat deshalb dieser Perspektive vorauszugehen.
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Eigentlich geht es zumeist um Personen; aber hier und im folgenden wollte ich nicht ausschließen, daß auch andere Objekte der Lebensweltumgebung dazu auffordern, berührt zu werden.
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Im Kino nimmt der Zuschauer die Bilder auf der Leinwand als Symbole wahr; denn er verbindet sie sowohl mit seiner alltäglichen als auch mit seiner biographischen Erfahrung und lädt sie so mit Bedeutung auf. Im verdunkelten Raum des Kinos wird das Individuum durch die Wahrnehmung der Symbole zum Stifter von Bedeutungen. Der Film ist wieder etwas mehr zur Welt des Zuschauers geworden. V. Verlaufsperspektive Diese fünfte und energiedichteste Perspektive kennzeichnet solche Einstellungen, mit denen ein erwachsener Mensch stabil auf den Verlauf von Handlungen reagiert. Zugleich möchte der Mensch in seinen Handlungen einen Sinn erkennen, und es ist letztlich die Liebe, in der sich dieses Bedürfnis erfüllt. In der Liebe kann sich ein Mensch mit der Geschichte seines bisherigen Weges einigen und die Wirklichkeit unmittelbarer erfahren als beispielsweise in der Hoffnung. Deshalb wird die Verlaufsperspektive von der Einstellung „sich einigen“ dominiert. Da der Alltag mit seinen Diskontinuitäten den Wunsch nach Stiftung von Kontinuität entstehen läßt, ist der Zuschauer für das Angebot einer Geschichte im Film dankbar. Er geht in den Film, um eine Geschichte zu erleben und um auf diese Weise Sinn zu erfahren. In Wirklichkeit ist er es aber, der den Sinn, seinen Sinn, in den Verlauf der Bilder hineinträgt. So gesehen ist er nun ein in den Film Integrierter. Als letzte und wichtigste Perspektive setzt sie die vierte (Symbolhaftigkeit der Bilder) fort.
G EWICHTUNGEN VON E INSTELLUNGEN IN DEN P ERSPEKTIVEN Bisher war von Einstellungen und Perspektiven die Rede; und zwar in dem Verständnis, daß Einstellungen basale Handlungsformen sind, die jeder Mensch tagtäglich in den unterschiedlichen Situationen seines Lebens vollzieht. Die Perspektiven betrachte ich als ein komplexes Gefüge von Einstellungen, die als Grundorientierungen des Handelns zu verstehen sind. Ich verweise hier auf die später folgenden „Stufentexte“, die diesen Zusammenhang deutlich machen werden. Bezüglich der fünf Einstellungen ist nun zu sagen, daß sie im Zusammenhang der fünf Perspektiven nicht immer dieselbe Gewichtung
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haben: In jeder Perspektive ist jeweils eine Einstellung zentral, die übrigen vier sind folglich nachrangig. Veranschaulichen wir uns noch einmal dieses Verhältnis: Perspek-
I. Raum
II. Körper III. Ereignis IV. Symbol
V. Verlauf
tive Stufe 1
zentral „annähern“
zentral 2
„akzeptieren“
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zentral „loslassen“ zentral
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„bildhaft werden lassen“
zentral 5
„sich einigen“
Abb. 1: Die zentralen Stufen in den Perspektiven
Wie man sieht, gibt es solche peripheren Einstellungen, die der zentralen Einstellung vorgelagert sind und solche, die ihr nachgelagert sind. Die vorgelagerten Einstellungen nenne ich hinführende, die ihr nachgeordneten vertiefende Einstellungen. Die unterschiedlichen Gewichtungen der einzelnen Einstellungen in den fünf Perspektiven sind insofern in meinem Filmkonzept von großer Bedeutung, da die zentrale Einstellung mit den dazugehörigen hinführenden Einstellungen notwendige Vorbedingung für das Verständnis eines Films sind, die vertiefenden Einstellungen sind in diesem Sinne nicht notwendig.
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D IE DREI P OLE DES F ILMVERSTEHENS : K INDHEIT , ALLTAGSLEBEN E RWACHSENER FILMISCHE E RZÄHLUNG
UND
Mit meinem Konzept möchte ich zeigen, wie grundlegende Einstellungen in Perspektiven und ihre unterschiedlichen Wirkungen das Verständnis einer Handlung ermöglichen und auf diese Weise den Weg des Zuschauers „in den Film“ bahnen. Hierfür sind die Pole „Kindheit“ und „Alltagsleben Erwachsener“ relevant, weil diese beiden Wirkfaktoren unser Leben wesentlich bestimmen. Die hauptsächlichen Ordnungsmuster unserer Wahrnehmung stellen sich in unserer Kindheit her und bestimmen auch später unser Alltagsleben. Ich sehe in den Einstellungen jene Grundbedingungen, die es dem Kind ermöglicht haben bzw. dem Erwachsenen erlauben, diese lebensnotwendigen Ordnungsstrukturen herzustellen und zu stabilisieren. Die Nachzeichnung dieser Muster ist als idealtypisch zu verstehen; selbstverständlich gibt es im konkreten Leben immer wieder krisenhafte Abweichungen. Die Pole „Kindheit“ und „Alltagsleben Erwachsener“ sind für den „Weg in den Film“ deshalb richtungsweisend, weil der Zuschauer mit dieser – ihm freilich nicht immer bewußten – Grundorientierung den Kinosaal betritt. Der Grund dafür, daß er eine Filmerzählung versteht, liegt nun darin, daß er in seiner Sozialisation die Wirkung dieser Einstellungen an Leib und Seele erfahren hat und auch in seinem täglichen Leben noch erfährt. Diese Einstellungen werden auf der Seite des Zuschauers aktiviert, wenn die entsprechende Einstellung in der filmischen Erzählung auf der Leinwand erscheint. Indem dies geschieht, versteht der Zuschauer die Filmszenen und geht tatsächlich „in den Film“. Kurzum: Die Ordnungsmuster Kindheit und Alltag ermöglichen das Verständnis der filmischen Fiktion, insofern sie den filmischen Ordnungsmustern entsprechen. Filmverständnis ist also nur dann möglich, wenn die grundlegenden Einstellungen, die ich im nächsten Abschnitt aufzeigen werde, sich auch im Film wiederfinden lassen. So bilden die drei Pole: „Kindheit“, „Alltagsleben Erwachsener“ und „filmische Erzählung“ den Dreh- und Angelpunkt meines Konzepts. Es setzt die Kreativität des Zuschauers voraus, die im Film Ordnungen erkennt und stiftet, so daß er imstande ist, eine Geschichte zu verstehen. Der nächste Abschnitt konkretisiert die im ersten Kapitel („Das Ausgangsfeld“) genannten Konzept-Voraussetzungen.
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IN DEN
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Die folgenden Stufentexte machen deutlich, daß sich die einzelnen Einstellungen in den Perspektiven auf unterschiedliche Weise verwirklichen. So ist beispielsweise die erste Einstellung „sich annähern“ in der Raumperspektive der „Zielstrebigen Bewegung“ zugeordnet, in der Körperperspektive der „Aura“, in der Ereignisperspektive dem „Geschehen“, in der Symbolperspektive dem „Ort“ und schließlich in der Verlaufsperspektive der Hoffnung. Gemeinsam ist allen Perspektiven, daß die Folge der Einstellungen dem Prinzip der Entwicklung folgt. Wenn etwa unter der Rubrik „Die kindliche Situation“ die Reihenfolge der Einstellungen in der Raumperspektive ist: „Zielstrebige Bewegung“, „Gegebenheit“, „Positionsänderungen“, Raumbild“ und „Kreisbewegung“, dann wird damit dem Verlauf der frühkindlichen Entwicklung gefolgt. Um ein zweites Beispiel zu nennen: Die Reihenfolge der Einstellungen in der Ereignisperspektive unter der Rubrik „Die filmische Erzählung“ („Geschehen“, „Figurenbeobachtung“ „Spiel“, „Vorstellungsbilder“ und „Rhythmus“) beschreibt, auf welchen Stufen der Zuschauer üblicherweise einen Film wahrnimmt. Der Leser ist eingeladen, selbst zu assoziieren, indem er die Stufentexte mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit und mit Erfahrungen seines Alltagslebens in Verbindung setzt. Möge die in den Stufentexten zur filmischen Erzählung gewählte Komposition und Sprache zunächst auch unvertraut erscheinen, so wird sich das Gemeinte doch gewiß erschließen, wenn diese Texte im Zusammenhang der filmtheoretischen Diskussion (viertes Kapitel) wiederkehren werden. Grundsätzlich ist dem Leser überlassen, welche Reihenfolge der Stufentexte er bei der Lektüre wählt. Die untenstehende Tabelle gibt einen Überblick über die Stufentexte in den Perspektiven (Fett gedruckt sind die Begriffe, die für den Stufentext einer Perspektive zentral sind):
1
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Perspek-
I. Raum
II. Körper III. Ereignis
IV. Symbol
V. Verlauf
Ort
Hoffnung
Licht
Glaube
Sprache
Offenheit
tive Stufe 1
2
Zielstrebige
Aura
Geschehen
Bewegung
Gegebenheit
Haut
Figurenbeobachtung
Positions3
änderun-
Hände
Spiel
gen 4
5
Raumbild
Kreisbewegung
Augen
Mund
Vorstellungsbilder
Rhythmus
Selbstbilder
Musik
Gerechtigkeit
Liebe
Abb. 2: Die Stufentexte der Perspektiven
I. Raumperspektive Die kindliche Situation Zielstrebige Bewegung („annähern“) Das Kind führt solche Körperbewegungen aus, die es ihm erlauben, sich umweglos einem Ziel annähern zu können. Dieses Bewegungshandeln bildet eine wichtige Grundlage für sein Lernen, denn es ermöglicht ihm eine erste und einfache Koordinierung seiner Motorik im Raum. Zugleich haben solche zielgerichteten Bewegungen den Zweck, Bedürfnisse wie die nach Nahrung und Berührung zu befriedigen. Das Kind bewegt beispielsweise seine Hand zum eigenen Körper hin, wenn es sie zum Mund führt, oder aber es nähert sich einem Gegenstand im Raum an, indem es zu ihm krabbelt oder läuft. Gegebenheit („akzeptieren“) Wenn die Mutter sich mehr und mehr von dem Kind entfernt, um es zur Selbständigkeit zu erziehen, geschieht es in der Regel, daß das Kind den Raum um sich akzeptiert. Denn dieser kann mit seinem bergenden Volumen die schützende Funktion der Mutter ersetzen. Das
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Kind kann an einer Stelle im Raum ruhig verweilen und sich mit dessen Gegebenheit vertraut machen. Dabei nimmt es wichtige Eindrücke auf: die Unverrückbarkeit und Beständigkeit des Raums, die ihn begrenzenden Flächen und seine Öffnungen zu anderen Räumen hin. Positionsänderungen („loslassen“) Nach seiner Aufrichtung kann das Kind Räume weiter erkunden. Es kann sich nun spielerischer drehen und wenden. Die neue Bewegungsform erlaubt ihm eine raschere Änderung von Positionen, die ihm neue Einsichten in die Räume bieten. Das Kind erfreut sich an seinen Entdeckungen, weil es seine Geschicklichkeit in allen Richtungen hin üben kann. Raumbild („bildhaft werden lassen“) Mit größerer Beweglichkeit sammelt das Kind nun eine Vielzahl neuer Informationen, die sich in seiner Vorstellungswelt auf spezifische Weise organisieren: Es bilden sich prägnante Raumbilder, in denen sich die wesentlichen Aspekte der Eigenerfahrung des Kindes bündeln. Dies bedeutet einen Zuwachs an klarer Orientierung und Ordnung im Raum. Kreisbewegung („sich einigen“) Indem das Kind in Kreisbewegungen läuft, tanzt oder springt, erlebt es, daß sich der Raum, in dem es sich bewegt, rundet. Es bemerkt, daß es mit seiner kreisförmigen Körperbewegung den Raum für sich harmonisieren kann. Zugleich rundet diese Erfahrung das kindliche Selbst und stiftet Einigung zwischen der eigenen Person und der räumlichen Umwelt.
Das Alltagsleben Erwachsener Zielstrebige Bewegung („annähern“) Der Erwachsene tut gut daran, sich in seinem Alltagsleben an die Dinge in seiner räumlichen Umgebung mit ruhiger Zielstrebigkeit anzunähern. Dies gilt insbesondere für seinen Arbeitsweg und seine beruflichen Tätigkeiten, insofern er sich absichtsvoll und kontinuierlich auf einen Raum hinbewegt. In seiner Freizeit ist es ihm erlaubt, großzügi-
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ger mit seiner Zeit umzugehen, doch ist das Prinzip der Zielstrebigkeit auch hier nicht völlig außer Kraft gesetzt. Gegebenheit („akzeptieren“) Das Bewegungsverhalten im Alltag wird durch das Bedürfnis nach Ruhe eingeschränkt. Die Ruhe erlaubt es, den Raum um sich wahrzunehmen und in seiner Gegebenheit zu akzeptieren. Als Erwachsene fokussieren wir unsere Wahrnehmung auf solche Gegebenheiten, die uns angenehm sind. Auf diese Weise können wir uns von Sinneseindrücken entlasten, die wir in unwirtlichen Räumen aufnehmen. Das ruhige Verweilen macht das Akzeptieren von Räumen leichter und ist gut für das Wohlbefinden. Positionsänderungen („loslassen“) Die Ausstattung von Räumen, in denen wir leben, bestimmt wesentlich unser Bewegungsverhalten. Ein Stuhl ist zum Sitzen da, eine Liege zum Liegen; wenn beides nicht vorhanden ist, sind wir zum Stehen genötigt oder laufen herum. Üblicherweise hat man in der Freizeit mehr Bewegungsmöglichkeiten als im Berufsleben und kann sich in entspannten Bewegungen von den Einengungen des Arbeitslebens befreien. Wenn es unsere Zeit erlaubt, sind hier wie dort unsere Blicke auf interessante Gegenstände des Raumes gerichtet, während wir unsere Position in ihm verändern. Raumbild („bildhaft werden lassen“) Jedem Erwachsenen steht bildhaft vor Augen, wie die Räume aussehen, in denen er sich bewegt. Ein solches inneres Bild charakterisiert den Raum und verleiht ihm seine besondere Bedeutung, d.h., es kennzeichnet die Intentionen, mit denen der jeweilige Raum betreten wird. So kann für einen Studenten das Bild gefüllter Bücherregale eine Bibliothek repräsentieren oder für einen Verkäufer das Bild vieler Kunden an der Kasse stellvertretend für das ganze Geschäft sein. Kreisbewegung („sich einigen“) Oft verwenden wir das Bild des „Kreises“, um persönliche Intimität und gelingende Kommunikation zu bezeichnen. So sprechen wir von einem „Kreis von Gleichgesinnten“, vom „Kreis der Familie“ oder vom „Freundeskreis“. Wir freuen uns, an einer „gemütlichen Runde“ teilzunehmen, und eine Gruppe von Geschäftsleuten setzt sich an einen
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„runden Tisch“, um miteinander zu verhandeln. Die kreisförmige Sitzordnung bietet allen Teilnehmern eine gleichrangige Position mit Blick auf das gemeinsame Zentrum.
Die filmische Erzählung Zielstrebige Bewegung („annähern“) Die Kamera bewegt sich ruhig und zielstrebig durch einen Raum. Der Zuschauer nimmt dies wahr und befindet sich in der Position des Beobachters. Gegebenheit („akzeptieren“) Die Kamera verweilt für eine gewisse Zeit bei einem Gegenstand (ggf. einem Ensemble von Gegenständen) im Raum. Der Zuschauer nimmt Kontakt mit diesem Gegenstand auf, bleibt jedoch Beobachter. Positionsänderungen („loslassen“) Die Kamera zeigt interessante Gegenstände des Raumes aus verschiedenen Distanzen und/oder Blickwinkeln. Der Zuschauer verfolgt dies als interessierter Beobachter. Raumbild („bildhaft werden lassen“) Die Kamera richtet sich aus einer größeren Entfernung auf einen für den Raum charakteristischen Gegenstand. Der Zuschauer erkennt diesen als einen Hinweis auf die Spezifik dieses Raumes. Kreisbewegung („sich einigen“) Die Kamera beginnt aus größerer Entfernung eine Kreisbewegung um einen Gegenstand (ggf. einem Ensemble von Gegenständen) im Raum. Damit rundet sich die Einsicht des Zuschauers in die Beschaffenheit des jeweiligen Raumes.
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II. Körperperspektive Die kindliche Situation Aura („annähern“) In seiner Versorgungsbedürftigkeit nähert sich das Kind der Mutter an, indem es sich auf sie hinbewegt und seine Arme ausstreckt. Auf der Suche nach Zuwendung, Ernährung und Pflege kann das Kind, bevor es die Mutter berührt, nur ihre Konturen, ihre Bewegungen und den Klang ihrer Stimme erkennen. Für das bindungsbedürftige Kind haben diese Merkmale eine besondere Ausstrahlung, die ich Aura nenne. Haut („akzeptieren“) Das Kind berührt die Haut der Mutter und erfährt ihre Weichheit und ihre Wärme, wobei sich seine Körperspannung verringert. In diesen Momenten, aber auch dann, wenn es sich selbst berührt, entsteht das Bewußtsein des Unterschieds: Ich berühre und werde berührt. Die Dinge beginnen nun auf eine zuvor unbekannte Weise zu existieren, und dies ist ein neuer Grad des Akzeptierens. So entsteht auch im Kind die fundamentale Gewißheit, daß es selbst ein Dasein hat. Hände („loslassen“) Die Beweglichkeit seiner Finger erlaubt es dem Kind, spielend und erkundend in das Leben einzugreifen. Es kann die Gegenstände seiner Umgebung nun erforschen, indem es sie dreht und wendet. Wenn es mit seinen Händen spielt, entdeckt es Ursache und Wirkung seines Tuns, und sein Interesse an der Welt wächst. Die Vielfalt neuer Bewegungs- und Spürerfahrungen erlebt das Kind nun auch außerhalb des häuslichen Bereichs. Augen („bildhaft werden lassen“) Die taktilen Erfahrungen sammeln sich in den Augen des Kindes, und das Sehen kann bald in vielen Situationen die Berührungserfahrungen ersetzen. Denn das sehend Berührte wird vom Kind schon aus der Ferne auf seine Bedeutung hin bemessen, und diese neue Kompetenz bewirkt einen starken Zuwachs an Verhaltensautonomie.
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Mund („sich einigen“) Das Kind ißt nun selbständig, wird also nicht mehr gefüttert. So lernt es zu entscheiden, welche Substanzen es für seine Ernährung aufnehmen kann und möchte. Indem es sich die Nahrung einverleibt und dabei ihre Zufuhr reguliert, erfährt es das wohltuende Gefühl der Sättigung und vor allem – nicht nur der körperlichen –Befriedigung.
Das Alltagsleben Erwachsener Aura („annähern“) Im Alltag nähern wir uns anderen Personen nach dem Maß unserer Sympathie für sie an. Wir orientieren uns hierbei an eigener Erfahrung und Intuition. Die Ausstrahlung, die von sympathischen Personen ausgeht, belegen wir mit Qualitätsbezeichnungen wie „gut“ oder „angenehm“, wenn sich uns auch die andere Person ruhig und mit freundlicher Absicht annähert. Ich verstehe diese Wirkung als die einer Aura. Unsere Wahrnehmung der auratischen Wirkung einer Person hängt also von ihrem Bewegungsverhalten und damit letztlich ihrem körperlichen Spannungszustand ab. Haut („akzeptieren“) Wenn wir uns selbst berühren, spüren wir die Weichheit und Wärme der Haut. Wir vergewissern uns unserers Selbst und dessen, daß wir wirklich leben. Dieses angenehme Spüren macht es möglich, daß wir uns selbst akzeptieren, wenn wir im Alltag handeln. Im gesellschaftlichen Umgang signalisieren Berührungen freundliche Absichten wie etwa Vertrautheit wie beispielsweise eine Schulterberührung bei der Begrüßung. Hände („loslassen“) Allgemein kann man sagen, daß die Hände in unserem Alltag die wichtigsten Werkzeuge zur Erledigung unserer Aufgaben sind. Manchmal, wenn wir die Hände in die Nähe unserer Augen führen, sehen wir sie in „Großaufnahme“. Wir sagen, daß wir etwas „begreifen“ oder daß „etwas auf der Hand“ liegt, wenn wir etwas für ganz selbstverständlich halten. Was „in unserer Hand“ liegt, steht in unserer Macht, und wir haben dafür Verantwortung zu tragen. Unsere Hände sind nicht die eines Roboters. Bei aller Zweckgerichtetheit bewegen
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sie sich organisch und gewissermaßen spielerisch. Wenn unsere Hand sich verkrampft, kann sie ihrer Bestimmung nicht dienen. Augen („bildhaft werden lassen“) In einem kurzen Moment verschaffen wir uns ein Bild von der Situation, in der wir uns befinden. Früher sagte man, die Augen sind das Fenster der Seele, und wer einem länger in die Augen blickt, fährt gleichsam in dessen Innerstes. Wenn der andere seinen Blick abwendet, dann wissen wir, daß er nicht möchte, daß wir uns ein Bild von seinen intimsten Emotionen, Trieben, Leidenschaften, Absichten etc. machen können. Mund („sich einigen“) Der Mund ist das menschliche Organ des Sich-Einigens schlechthin. Denken wir nur an die Intimität des Kusses oder an die Freundlichkeit eines Lächelns. Eine mündliche Unterredung ist der beste Weg zur Einigung in den unterschiedlichsten Situationen des Alltags. Politiker zelebrieren das Ritual des „Gesprächs unter vier Augen“, wenn es gilt, kritische Entscheidungssituationen einer Lösung zuzuführen.
Die filmische Erzählung Aura („annähern“) Die Blicke der Kamera nähern sich einer Figur an, und zwar bis auf eine solche Entfernung, die etwa einer Armlänge des Zuschauers entspricht. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Aura der Figur. Haut („akzeptieren“) Die Blicke der Kamera bleiben für längere Zeit auf eine Figur gerichtet. Die Entfernung entspricht etwa einer Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Haut der Figur. Hände („loslassen“) Die Blicke der Kamera zeigen die Hand einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Hand der Figur.
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Augen („bildhaft werden lassen“) Die Blicke der Kamera richten sich auf die Augen einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Augen der Figur. Mund („sich einigen“) Die Blicke der Kamera zeigen in einer längeren Sequenz den Mund einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke den Mund der Figur.
III. Ereignisperspektive Die kindliche Situation Geschehen („annähern“) Das Kind nähert sich nun bewegten Dingen an, beispielsweise einem rollenden Ball, den Bildern im Fernsehen oder dem Haustier, das sich im Raum befindet. Derartige Geschehnisse in seiner Umgebung stehen dann im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zuvor hatte das Kind solche Ereignisse mit Interesse verfolgt, die sich in oder in seinem Körper abspielen: (Selbst-)Berührung, Nahrungsaufnahme oder Verdauung. Figurenbeobachtung („akzeptieren“) Es fällt dem Kind leicht, Ereignisse zu akzeptieren, die mit jemandem (ggf. einem Tier) verbunden werden können, der mit diesen Geschehnissen in ursächlichem Zusammenhang steht und den es mag; zumal mit solchen, von denen es angenehm berührt wird. Seine Sympathie trägt es jenen entgegen, die ihm Aufmerksamkeit entgegenbringen und sein Tun mit Wohlwollen begleiten. Das Kind begleitet dann auch seinerseits interessiert die Tätigkeit und das Verhalten dieser Person(en) mit Blicken. Spiel („loslassen“) Das Kind macht sich einen Teil der Welt verfügbar, indem es mit ihm spielt. Das im Spüren und Bewegen der eigenen Hände entdeckte Verhältnis von Ursache und Wirkung wird nun auf die äußeren Objekte des Spiels übertragen. Indem das Kind erkundet, wie vielfältig sich
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Gegenstände bewegen lassen und auch seine eigene Position wechselt, hebt es die Grenze zwischen sich und den Gegenständen vorübergehend auf. Vorstellungsbilder („bildhaft werden lassen“) Beim Spiel entwickelt das Kind Vorstellungsbilder, die gemeinhin als Phantasien bezeichnet werden. Sie organisieren das Spielverhalten, indem sie kommende Ereignisse visualisieren. Sie erwächst aus einem angeborenen, chaotischen Fundus von bildlichen Fragmenten, die ebenfalls Ereignisse darstellen. Im Spiel werden die Begabungen des Kindes entdeckt und gefördert, während die Vorstellungsbilder seine Aufmerksamkeit an sich ziehen und es so vertieft spielen lassen. Rhythmus („sich einigen“) Das Kind ist glücklich, wenn es einen Rhythmus gefunden hat, in dem sein Spiel fließt. Dann koordinieren sich Atmung, Bewegungen und Vorstellungsbilder. Diese Integration bewirkt eine Harmonisierung des Tuns, weil sich der Rhythmus je nach der Phase des Spiels sich wandeln kann. In dieser Einigungssituation findet das Kind ein entspanntes Verhältnis zu anderen Ereignissen des Tages und seiner Welt.
Das Alltagsleben Erwachsener Geschehen („annähern“) Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, die Bedeutungen von Ereignissen zu erkennen, denn das Spielfeld der auratischen Wirkungen, das wir alltäglich betreten, bedarf eines Schutzes: Aufgaben können dann ruhig und zielgerichtet ausgeführt werden, wenn der Raum, in dem Ereignisse geschehen, frei von Gefahr ist. Deshalb ist es unverzichtbar, Geschehnisse im Raum zu kontrollieren. Wenn man sicher ist, geschützt zu sein, kommt die Neugierde ins Spiel. Sie hält in all der Routine und Regelmäßigkeit des Alltags die Phantasie lebendig. Figurenbeobachtung („akzeptieren“) Personen, die uns sympathisch sind, vertrauen wir eher als jenen, die uns mit gegnerischer Gesinnung begegnen. Das Handeln und Verhalten ersterer verfolgen wir mit aufmerksamen, berührenden Blicken, das der anderen mit körperlicher Anspannung. Blickkontakt halten wir
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lieber mit befreundeten Personen als mit solchen, gegen die wir Abneigung empfinden. Spiel („loslassen“) Im Verlauf eines jeden Tages verursachen wir mit unserem Körper, insbesondere mit den Händen Ereignisse. Dabei greifen wir entweder mit bewußter Aufmerksamkeit oder mit selbstverständlicher Routine in die Welt ein. Die Dinge erweisen sich aber oft nicht so wie erhofft, so daß wir mit ihnen anders umzugehen haben als wir es gewohnt sind. Unausgesprochen akzeptieren wir am Beginn eines jeden Tages, daß wir uns auf einem Spielfeld der Ereignisse bewegen werden. Vorstellungsbilder („bildhaft werden lassen“) Mit der Ausübung eines Berufes übernimmt jeder Erwachsene eine Rolle. Entspricht der Beruf den eigenen Vorstellungen, sind die mit ihm verbundenen Ereignisse erfreulich. Denn dann bindet sich unser Phantasieleben an das erworbene Wissen und die eigene Erfahrung. Zudem fließt der Fluß der Vorstellungsbilder, der uns seit der Kindheit begleitet, im professionellen Tun weiter. Rhythmus („sich einigen“) Der Fluß von Bewegungsabläufen wird allgemein als angenehm empfunden. Er ökonomisiert Arbeitsprozesse oder einfach überhaupt Handlungsprozesse. Der Bewegungsfluß koordiniert Atmung, Körperbewegung und Vorstellungswelt, macht sie zu einem rhythmischen Ganzen, und läßt die Tätigkeiten des Alltags leicht und wie selbstverständlich von der Hand gehen.
Die filmische Erzählung Geschehen („annähern“) Die Blicke nähern sich einem Ereignis, das in einem eindrucksvollen Raum geschieht. Der Zuschauer selbst nähert sich ihm an. Figurenbeobachtung („akzeptieren“) Die Blicke bleiben im Kontakt mit einer Figur, die ein Ereignis verursacht oder im Zusammenhang mit ihm steht. Der Zuschauer verfolgt dies aufmerksam.
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Spiel („loslassen“) Die Blicke zeigen ein Ereignis aus interessanten Kamerapositionen. Der Zuschauer erlebt dieses Ereignis selbst. Vorstellungsbilder („bildhaft werden lassen“) Die Blicke richten sich auf ein Ereignis. Der Zuschauer hat Bilder aus seiner eigenen Phantasie oder Erinnerung vor Augen. Rhythmus („sich einigen“) Die Blicke zeigen ein Ereignis in einer längeren, rhythmisierten Filmsequenz. Der Zuschauer folgt mit seiner Wahrnehmung diesem Rhythmus.
IV. Symbolperspektive Die kindliche Situation Ort („annähern“) Aus der Ferne erkennt das Kind sein Elternhaus und spürt dessen Aura. Wenn es sich diesem Ort öfters angenähert hat, wird er zum Symbol für Geborgenheit und familiales Zusammensein. Die hierin verdichteten Erlebnisse stellen sich den Geschehnissen der fremden Welt entgegen. So wird das Elternhaus zum Inbegriff von Sicherheit: der Ort, in dem das Kind den Spielraum hat, seine Begabungen zu entfalten. In einfachen Malereien verbildlichen Kinder die Empfindungen, die sie mit dem Elternhaus verbinden. Licht („akzeptieren“) Das Kind hält je nach Bedürfnislage Blickkontakt mit den Eltern. Wie sehr es diese mag, hängt vom Maß ihrer Zuwendung zu ihm ab. Elterliche Wärme und Fürsorge bringen das Gesicht des Kindes zum Strahlen und lassen seine Augen leuchten. Denn Versorgtsein ist eine existentielle Erfahrung, eine Basis für die sichere Orientierung in der Welt. Es ist hell im Kind, wenn es gut beschützt ist; und Dunkel ist um es herum, wenn es die Geborgenheit entbehrt. Sprache („loslassen“) Mit dem Beginn des Spracherwerbs wird es dem Kind erstmalig möglich, sich mittels Symbolen allmählich aus der Unmittelbarkeit seines
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körperlichen Erlebens zu lösen und sich sprachlich frei zu bewegen. Auf diese Weise konturiert sich sein Bewußtsein über sich und die Welt. Mit Worten und Sätzen kann es nun spielen und Ereignisse schaffen, wenn es seine Handlungsabsichten und Gefühle artikuliert. Selbstbilder („bildhaft werden lassen“) Das Kind sieht sich zugeordnet zu seinen Eltern und ihrer Welt. Es teilt sein Bild von sich mit dem Bild von anderen: Indem es sich – in einfachen Malereien – im Haus seiner Eltern oder anderswo gemeinsam mit ihnen sieht, verbildlicht es sein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Seine Hilfs- und Schutzbedürftigkeit zeigt das Kind dadurch, daß es sich zumeist mit seinen engen Bezugspersonen im Bild darstellt. Musik („sich einigen“) Das gemeinsame Singen im Kreis der Familie, im Kindergarten oder in der Schule bindet das Kind an eine Gemeinschaft. Das Singen ist für alle Beteiligten ein sensibler körperlicher Vorgang, der nur dann möglich ist, wenn sich der Mund entspannt. Im gesungenen Lied fließen Text und Musik mit ihrer Melodik, Harmonik und Rhythmik ineinander, wodurch eine besondere Art gemeinschaftlicher Emotionalität entsteht.
Das Alltagsleben Erwachsener Ort („annähern“) Der Alltag ist bestimmt von einer Reihe von Aufgaben, die zu bewältigen sind. Der größte Teil des Tages ist geprägt von Berufsarbeit, die an dafür festgelegten Orten erledigt wird. Diese haben wir aufzusuchen, indem wir uns ihnen annähern; und weil an diesen Arbeitsstellen mit einiger Regelmäßigkeit sich ständig wiederholende Ereignisse stattfinden, können die Orte unserer Arbeit die Qualität eines Symbols annehmen. Sie gewinnen somit an Bedeutung, die über das rein Pragmatische hinausgeht. So kann für den einen das eigene Haus ein Symbol für Schutz, für den anderen ein Symbol für Last sein. Auch kann der Straßenraum für die Mutter eines kleinen Kindes Ausdruck der Gefahr, für den Busfahrer ein Bild der Freiheit sein.
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Licht („akzeptieren“) Alle Menschen freuen sich, wenn es hell ist und die Sonne scheint. Währenddessen werden das Dunkel und die Finsternis als unangenehm empfunden und für bedrohlich gehalten. In der Alltagssprache sprechen wir davon, jemanden „ins Licht zu stellen“ oder eine Handlung ins „rechte Licht“ zu rücken. Solche Sprachbilder wollen besagen, daß das Licht ein Symbol für Erkenntnis sein kann. Ebenso qualifizieren wir im Alltag mit Attributen aus dem Wortfeld „Licht“ (z.B. hell, dunkel, farbig, düster, klar oder sonnig usw.) nicht nur das Äußere, sondern auch en Charakter von Personen. Dabei fällt es uns leichter, uns mit hellen, lichten Dingen anzufreunden als mit düsteren und finsteren. Sprache („loslassen“) Erwachsene nutzen die Sprache, um die Vielfalt der Dinge, mit denen sie umzugehen haben, auszudrücken. Damit entwerfen sie auch ein Bild von sich und der Welt. Die mittels des symbolischen Systems Sprache geschaffenen Konstruktionen ermöglichen es zudem, Fremdes zu verstehen. Im Alltag der allermeisten Menschen ist Sprache unverzichtbar. Selbstbilder („bildhaft werden lassen“) Erwachsene leben nach bestimmten Bildern, die sie von sich machen. Es handelt sich dabei um symbolisch organisierte Formen ihrer Vorstellungswelt. Psychische Arbeit ist vonnöten, um sein Leben nach dem eigenen Selbstbild einzurichten, und das geschieht in einem Rahmen, der von den gesellschaftlichen Bedingungen abgesteckt ist. Im Beruf und in der Freizeit stabilisieren positive Selbstbilder unsere Handlungsorientierung; aber weil sie nicht in Gänze verwirklicht werden können, bleiben sie ein Ideal. Musik („sich einigen“) Als Symbol des eigenen Lebens vermag die Musik unmittelbarer als Sprache und Bilder die Höhen und Tiefen unserer Existenz auszudrücken. Die Sprache der Musik ist international und wird überall verstanden. Selbst Gehörlose sind davon nicht ausgeschlossen: So können sie etwa in einer Diskothek den Rhythmus des vibrierenden Bodens spüren und mit anderen im Tanz eine Einheit finden.
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Die filmische Erzählung Ort („annähern“) Die Bilder rücken einen Ort in die Nähe, der zentral für die erzählten Ereignisse ist. Der Zuschauer erkennt diese Bedeutung des Ortes. Licht („akzeptieren“) Es erscheinen Bilder, die mittels ihrer Lichtgebung eine Figur im Zusammenhang der erzählten Ereignisse charakterisieren. Der Zuschauer erkennt diese Bedeutung der symbolischen Lichtgebung. Sprache („loslassen“) Es erscheinen Bilder, wobei die Ereignisse der Geschichte sprachlich verdeutlicht werden. Der Zuschauer erkennt die verstärkende Funktion der gesprochenen Worte. Selbstbilder („bildhaft werden lassen“) Es erscheinen Bilder in einer Einstellung, die während der erzählten Ereignisse ein – möglicherweise auch idealisiertes – Selbstbild des Zuschauers spiegeln. Der Zuschauer erkennt diese Symbolik. Musik („sich einigen“) Es erscheinen Bilder in einer längeren Sequenz, während die Ereignisse der Geschichte von einer dazu passenden Musik begleitet werden. Der Zuschauer erkennt die symbolische Bedeutung des Zusammenklangs.
V. Verlaufsperspektive Die kindliche Situation Hoffnung („annähern“) Mit der Sprache kann das Kind sich seine Wünsche, Bedürfnisse und Ziele formulieren. Damit nimmt sein Lebensweg eine Richtung an. Denn es entsteht nun Vergangenheit im Bewußtsein des Kindes, das für Getanes und Geschehenes Worte findet. Auch die Zukunft entsteht, indem das Kind von erhofften Ereignissen spricht. Die Hoffnung des Kindes bildet eine Brücke, auf der es sich seiner Zukunft annähert. Sie
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beginnt an jenem Ort, auf den die erste Kindheitserinnerung des Erwachsenen zurückgeht. Glaube („akzeptieren“) Das Kind vertraut denen, die es auf seinem Weg begleiten, seien es die Eltern, seien es in der Schule die Lehrer. Wenn sie ihm im Licht erscheinen, werden sie ihm zu Vorbildern. Deren Anwesenheit und Forderungen werden von ihm dann leichter akzeptiert. So glaubt das Kind im positiven Umgang mit Elternhaus, Schule und Freunden an den guten Verlauf der Dinge. Offenheit („loslassen“) Auf seinem Lebensweg begegnet das Kind unumgänglichen Situationen. Prüfungen und Zeugnisse fragen nach seiner sprachlichen Befähigung, vorgegebene Lebensstationen zu passieren. Wenn das Kind seine Begabungen nutzen kann, geht es diese Rituale und Übergangssituationen mit neugieriger Offenheit an. Richtet sich das Interesse vorwiegend auf Außerschulisches, so gilt die Offenheit des Kindes mehr seinen Freizeitbeschäftigungen. Gerechtigkeit („bildhaft werden lassen“) Was das Kind mit den Augen sieht, beginnt sich allmählich zu ordnen, indem es in Selbstbilder umgesetzt wird. Diese sind anders als die Vorstellungsbilder deshalb symbolisch, weil sie die Rollen widerspiegeln, die das Kind im Elternhaus, in der Schule oder in der Freizeit übernimmt. Die Rollen zeigen ihm die Grenzen auf, die ihm und den anderen gesetzt sind. Indem es nun begründet, warum es die Grenzen einhält oder nicht einhalten möchte, trifft es eigene Gewichtungen und sorgt sich dabei um die Gerechtigkeit in seinem Leben. Liebe („sich einigen“) Das Glück der Kindheit besteht darin, beschützt und versorgt aufwachsen zu können. In der Familie übernimmt das Kind selbst Pflichten, damit die Zuwendung der Eltern erhalten bleibt. Die Liebe, die es zu seinen Eltern und Lehrern empfindet, beruht auch auf der Gewißheit, sich schrittweise Selbständigkeit aneignen zu können. Sie richtet sich auf die Vorbilder des Kindes, die es mit der Welt verbinden. Das Kind einigt sich mit ihnen, indem es sich zunehmend auf seine Fertigkeiten
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versteht. Indem es seine Aufgaben zu bewältigen lernt, wächst es in das Erwachsenenleben hinein.
Das Alltagsleben Erwachsener Hoffnung („annähern“) Der Alltag Erwachsener ist von Lebensnotwendigkeiten bestimmt. Deshalb wünschen wir uns immer wieder einen Ortswechsel, um einen Raum zu haben, in dem wir zu uns selbst finden können. Dort haben wir die Möglichkeit, auf unser Leben zu blicken, den bisherigen Verlauf unserer Geschichte zu erkennen und die Hoffnung zu nähren, daß das Leben auf ein sinnvolles Ziel hinausläuft. Glaube („akzeptieren“) Wie das Kind braucht auch der Erwachsene Menschen, die sein Leben begleiten und damit Teil seiner Geschichte werden. Denn unvorhergesehene Situationen, die im Alltag immer wieder eintreten, machen eine Unterstützung durch andere, die in der Regel Freunde oder Partner sind, notwendig. Im Glauben, daß der Kontakt zu diesen Personen erhalten bleibt und sie uns als Vertraute zur Verfügung stehen, wird der täglich vor uns liegende Weg heller, weil er sinnvoll zu verlaufen scheint und damit akzeptierbar wird. Offenheit („loslassen“) Mit jedem Morgen tritt der Erwachsene in das Spiel der Ereignisse ein. Er hat es gelernt, sie zu erzeugen und bestimmte Dinge zu handhaben. Jedoch benötigt der Erwachsene auch Offenheit, denn die Zufälligkeiten des Tagesablaufes machen eine vollständige Kontrolle der Ereignisse unmöglich. Mit Neugierde lassen sich viele Situationen entspannter bewältigen und aufregender erleben. Gerechtigkeit („bildhaft werden lassen“) Im Alltag werden wir geschützt durch die unterschiedlichen Rollen, die wir übernehmen. Auch brauchen wir eine sichere Umgebung für unser Handeln. Um uns in einer Rolle behaupten zu können, formulieren wir den Mitmenschen gegenüber unsere Vorstellungen von dem, was wir als gerechte oder ungerechte (Be-)Handlung empfinden. Dabei beurteilen wir Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit nach unserem
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Selbstbild: Was ihm entspricht, halten wir für angemessen, was ihm nicht entspricht, für unangemessen. Ein solches Urteil fällt dann besonders überzeugend aus, wenn das sich in ihm artikulierende Selbstbild möglichst plastisch gezeichnet ist; z.B. dann, wenn es sich in einer konkreten Person des Alltags verkörpert. Liebe („sich einigen“) Der Alltag verlangt den Menschen ständig Kräfte ab. Wenn wir lieben, verschwenden wir Energie, bekommen aber mehr als das Gegebene zurück. Wer gläubig ist, bindet sich mit seiner Liebe an ein göttliches Wesen. Sie ist jene Kraft, die dort einigend und glücksstiftend wirkt, wo Uneinigkeit bestand. Dabei wirkt sie unmittelbar und vermag die Enge des Alltagslebens zu transzendieren.
Die filmische Erzählung Hoffnung („annähern“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der im Zuschauer die Hoffnung hervorruft, daß der Handlungsverlauf sich einem Ziel annähert. Glaube („akzeptieren“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der den Zuschauer daran glauben läßt, die Geschichte werde gut verlaufen. Offenheit („loslassen“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der das Interesse des Zuschauers am weiteren Verlauf der Handlungen erweckt. Gerechtigkeit („bildhaft werden lassen“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der dem Zuschauer den Handlungsverlauf als gerecht erscheinen läßt. Liebe („sich einigen“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der den Zuschauer Glück im Handlungsverlauf empfinden läßt.
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Der Zuschauer möchte die Aufgabenhaftigkeit seines Alltags verlassen. Das ist sein primäres Motiv für den „Weg in den Film“. Zudem gibt ihm der Film, was ihm die Diskontinuität eines einzelnen Tages nicht geben kann: eine sinnvolle Geschichte. Er versteht sie, indem er sie mit seiner Phantasie anreichert. Das Gefühl, sich mit der filmisch erzählten Geschichte einigen zu können, weil sie vorübergehend zu seiner eigenen wird, erhebt ihn über die Singularität eines einzelnen, immer fragmentarisch bleibenden Tages. Das Verstehen der filmisch erzählten Geschichte befreit den Zuschauer von den Begrenzungen des Alltags und läßt ihn für einige Momente seine Existenz transzendieren. Die Wirkung des Films wird durch das Interesse des Zuschauers initiiert. Er geht „in den Film“, weil er sich aus seinem Alltag hinausbewegen möchte. Während der Film eine Geschichte erzählt, bietet er dem Zuschauer interessante Bilder an. Der Zuschauer sieht, der Film zeigt. Der „Weg in den Film“ entsteht, indem Wirkungen entstehen. Der Ort hierfür ist das Kino. Hier wirken Filmwirklichkeit und die phantasierende Aktivität des Zuschauers zusammen. Begünstigt wird dies durch die Dunkelheit des Projektionsraums, die den Alltag ausschließen will. Wirken heißt im Zusammenhang meiner Überlegungen: Einstellungen realisieren. Wenn der Zuschauer eine Einstellung verwirklicht, so begibt er sich einen Schritt in den Film. Wenn der Film eine Einstellung realisiert, so bereitet er dem Zuschauer hierfür den Weg. Wenn der Zuschauer und der Film dieselbe Einstellung realisieren, dann entsteht das, was ich Filmwirkung nenne. Sie entsteht deshalb, weil der Film das zeigt, was der Zuschauer braucht: Kontinuität, die ihm an einem einzelnen Tag fehlt. Meine Analyse des „Wegs in den Film“ begreift die Verwirklichung von Einstellungen als Bewegungsformen – filmseits und zuschauerseits. Die Art und Weise, wie der Zuschauer in den Film hineingeht, ist ein Indikator dafür, wie er den Film versteht. 25 Einstellungen beschreiben dynamisch eine Reihe von Filmwirkungen mit zunehmend energetischer Dichte, die damit endet, daß die filmische Fiktion unmittelbare Erfahrungswirklichkeit auf Seiten des Zuschauers geworden ist. In einem Diagramm dargestellt, sieht das folgendermaßen aus:
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Perspek-
I. Raum
II. Körper
III. Ereignis
IV. Symbol
V. Verlauf
tive Stufe 1
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Abb. 3: Die energetische Dichte der filmischen Einstellungen Ein Zuschauer, der beispielsweise die Einstellung 7 realisiert, erlebt die Filmbilder wirklicher als in dem Moment, in dem er die Einstellung 1 realisiert; aber deutlich weniger, als wenn er die Stufe 19 betritt. Denn ein Mensch, der seine Haut sieht, begegnet seinem Leben tiefer, als wenn er sich nur langsam in einem Raum bewegt; aber weniger tief, als wenn er sich sein Selbstbild vor Augen hält. Am höchsten ist die Intensität des Realitätseindrucks in der Erfahrung der Liebe. Die Plazierung einer Einstellung im obigen System (Abb. 3) korreliert also mit der Dichte der Wirklichkeitserfahrung wie auch mit dem Standort des Zuschauers auf seinem „Weg in den Film“. Je verdichteter die Wirklichkeitserfahrung, desto komplexer ist die Reaktion des Zuschauers auf das Filmbild. Wenn dem Bild eine hohe Informationsdichte zukommt, so hat der Zuschauer demgemäß mit einer hohen Wahrnehmungsenergie zu reagieren. Grundsätzlich gilt: Je höher eine Perspektive angesiedelt ist, desto mehr lösen sich ihre Stufen von der Konkretheit des Bildmaterials und setzen die Vorstellungsprozesse, die im Phantasieleben des Zuschauers und in seiner Sozialisation liegen, in Gang. In der Praxis der Wahrnehmung eines Films ist die Reihenfolge der Perspektiven und Einstellungen jedoch diskontinuierlich, d.h. sowohl der Film als auch der Zuschauer verwirklichen die Einstellungen in einer prinzipiell nicht planbaren Reihenfolge. Sie ist abhängig vom Drehbuch und der Regie, von den Schauspielern, also von allem, was die Qualität des jeweiligen Films ausmacht. Zuschauerseits ist die Reihenfolge abhängig von der individuellen Geschichte und persönlichen Prädisposition des Kinogängers. All dies hat wesentlichen Einfluß auf den Ablauf der erzeugten Wirkungen, die beim Wahrnehmen des Films einander zumeist mit hoher Geschwindigkeit ablösen. Der Zuschauer kann allerdings immer nur eine Stufe betreten, also nur eine einzige Einstellung verwirklichen.
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F ILMWAHRNEHMUNG Der Kinobesuch erzeugt eine spezifische Gestalt des Bewußtseins, die sich von der des Alltags unterscheidet. Die Kenntnis dieser besonderen inneren Verfaßtheit ist nicht unwesentlich für meine spätere „Kleine Philosophie der Bewegung“, weshalb ich zur Frage der Filmwahrnehmung einige Bemerkungen voranschicken möchte. „Vergessen Sie nie, daß der Zuschauer mit jedem Blick auf die Leinwand eine seelische Leistung vollbringen muß“, ermahnte der Regisseur Hans Carl Opfermann (1963: 200) die Adressaten seiner „Schmalfilm-Schule“. Diese „seelische Leistung“ des Kinogängers besteht primär darin, sich im Projektionsraum auf ein wahrnehmendes Sehen einzustellen: Indem wir als Zuschauer der Erzählung folgen und ihre einzelnen Einstellungen zu einer Geschichte verbinden, entsteht eine auf den Film gerichtete Aufmerksamkeit. Angeregt durch die Prägnanz des Bildmaterials steigern sich unsere Phantasie und unsere Assoziationsbereitschaft, so wie es im „inneren Dialog“ und in den „Tagträumen“ der Fall ist5. Die Wahrnehmung des Films schwächt allerdings auch das Gefühl für unsere individuelle Verantwortlichkeit, weil wir das Geschehen auf der Leinwand nicht beeinflussen können. Zudem sind im Kinosaal unsere Gefühle tendenziell entkörperlicht, weil die sitzende Haltung jede physische Gefühlsregung eindämmt. Das Bewußtsein des Zuschauers möchte sich mit einer Geschichte füllen. Etwa zwei Stunden lang setzt es sich den dargebotenen Informationen aus und wird damit verfügbar und verführbar. Schon der amerikanische Psychologe und Filmtheoretiker Hugo Münsterberg (1996 [1916]) wußte: „Es herrscht sicherlich kein Mangel an Mitteln, mit denen unser Bewußtsein im rapiden Spiel der Bilder gelenkt und beeinflußt werden kann“ (53). Der Wahrnehmungsapparat des Kinogängers hat nicht nur Arbeit zu leisten, sondern, so könnte man sagen, er wird auch bearbeitet. Das Bewußtsein während des Betrachtens eines Filmes ist prinzipiell vielfältig in dem Sinne, daß es – auf der zentralen Stufe der dritten Perspektive („Spiel“) – seine Aufmerksamkeit auf eine Vielzahl von Ereignissen verteilt. Dies hat auch zur Folge, daß die Gefühle des Kinobesuchers sich ausbreiten und verstreuen, weil er seine Anteilnahme während der Vorführung an mehrere Rollen und Figuren bin-
5
Siehe Kap. „Feld der Möglichkeiten“.
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det. Diese Diversifikation wird eingeleitet, indem auf der Leinwand Figuren in Großaufnahmen gezeigt werden und sich damit als Attraktoren positionieren. Die im Film immer gegebene Vielfalt der quasi zur Berührung präsentierten Attraktoren läßt den Zuschauer – ob er will oder nicht – zum multiplen Teilnehmer der Geschehnisse werden, und zwar in einem zeitlichen Rhythmus, der ebenfalls nicht seiner Verfügungsgewalt untersteht. Letztlich ist es der Filmschnitt, der diesen Rhythmus bestimmt. Trotzdem kann die Quasi-Multiplizierung der Rollen des Kinogängers seine innere Verfaßtheit nicht soweit fragmentieren, daß er außerstandgesetzt würde, die dargebotenen Sensationen zu (re)konstruieren, will sagen, dem Handlungsverlauf mit Verständnis zu folgen. Ein Mittel, die Grenzen der Selbst-Integrität des Zuschauers sei es zu bewahren, sei es zu erzeugen, ist es, ihm stabile Identifikationsangebote in Form von „Selbstbildern“ zu unterbreiten, die ihm bei aller Zerstückelung und Zerstreuung ein Zentrum zuweisen. Je häufiger ein Zuschauer ins Kino geht, desto enger verklammert sich wahrscheinlich die Wahrnehmung seines Alltags mit seinem von der Fiktion des Films abhängigen Bewußtseins. Sofern der Kinogänger eine Vorliebe für ein bestimmtes Genre entwickelt, gewöhnt er sich damit an eine bestimmte Art und Weise der Konstruktion und Rezeption von Filmen. Von der Warte des hier vorgestellten Filmkonzepts bedeutet dies: er setzt sich der prägenden Dominanz bestimmter filmischer Einstellungen aus, nach deren Maßgabe er den gesamten Film und dessen Wirklichkeiten sieht. Nebenbei: Es wäre interessant, einmal zu untersuchen, welche Genres von welcher Zielgruppe favorisiert werden, weil man dann vielleicht auch Rückschlüsse darauf ziehen könnte, mit welcher Perspektive (und mit welcher zentralen Einstellung) die jeweilige Zuschauergruppe auch in das außerfilmische Leben sieht. Ein Leser, der mit Hilfe meines Konzepts verstehen möchte, wie ein Film auf ihn wirkt, geht am besten folgendermaßen vor: Zunächst sollte er sich nach eigenem Belieben eine von den 25 Einstellungen aussuchen und die drei dazugehörigen Stufentexte („die kindliche Situation“, „das Alltagsleben Erwachsener“ und „die filmische Erzählung“) lesen und in Ruhe darüber nachdenken. Er sollte sich den Inhalt des Gelesenen einprägen, dann ins Kino gehen und, während er den Film sieht, darauf achten, ob und wie er diese Einstellung im Film wiederfindet. In der Regel wird ihm die Einstellung während eines Kinobesuchs mehrfach begegnen, wobei das Genre des Films
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Akzente setzt. Hat man die Einstellung entdeckt, auf die man sich vorbereitet hat, ist ein Teil persönlicher Lebenserfahrung im dunklen Kinoraum aufgehellt worden. Wenn man sich solcher Korrespondenzen zwischen filmischer Wirklichkeit und dem eigenen Leben bewußt wird, versteht man, warum man den Film versteht. Einen weiteren Erkenntnisprozeß bringt es, wenn der Zuschauer seine Beziehung zu den Bildern prüft. Dabei können folgende Fragen hilfreich sein: •
• • • •
Bin ich momentan Beobachter, Berührer, Beteiligter, Bedeutungsstifter oder Integrierter? Welche Beziehung habe ich in diesen Augenblicken zu den Kinobildern? Wie würde ich selbst meine Rolle als Zuschauer dem Leinwandgeschehen gegenüber beschreiben? Was läßt sich in diesen Momenten, wenn ich meine Rolle als Zuschauer beschreibe, auf der Leinwand wahrnehmen? Und was nehme ich an mir selbst wahr? Ist es mehr das gesehene Bild, das auf mich wirkt oder ein gedanklicher Vorgang, der mir den Verlauf der Geschichte erklärt?
Die Identifizierung einer filmischen Einstellung benötigt nur wenige Sekunden. Das geht so rasch, daß man von der Filmhandlung nichts Wesentliches verliert. So kann also man dem Sog des Films ruhig nachgeben, so daß die Freude an der Vorführung nicht beeinträchtigt wird.
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Ü BERBLICK : D IE E INSTELLUNGEN N ARRATION DES F ILMS
IN DER
I. Raumperspektive Zielstrebige Bewegung („annähern“) Die Kamera bewegt sich ruhig und zielstrebig durch einen Raum. Der Zuschauer nimmt dies wahr und befindet sich in der Position des Beobachters. Gegebenheit („akzeptieren“) Die Kamera verweilt für eine gewisse Zeit bei einem Gegenstand (ggf. einem Ensemble von Gegenständen) im Raum. Der Zuschauer nimmt Kontakt mit diesem Gegenstand auf, bleibt jedoch Beobachter. Positionsänderungen („loslassen“) Die Kamera zeigt interessante Gegenstände des Raumes aus verschiedenen Distanzen und/oder Blickwinkeln. Der Zuschauer verfolgt dies als interessierter Beobachter. Raumbild („bildhaft werden lassen“) Die Kamera richtet sich aus einer größeren Entfernung auf einen für den Raum charakteristischen Gegenstand (ggf. ein Ensemble von Gegenständen). Der Zuschauer erkennt diesen als einen Hinweis auf die Spezifik dieses Raumes. Kreisbewegung („sich einigen“) Die Kamera beginnt aus größerer Entfernung eine Kreisbewegung um einen Gegenstand (ggf. einem Ensemble von Gegenständen) im Raum. Damit rundet sich die Einsicht des Zuschauers in die Beschaffenheit des jeweiligen Raumes.
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II. Körperperspektive Aura („annähern“) Die Blicke der Kamera nähern sich einer Figur an, und zwar bis auf eine solche Entfernung, die etwa einer Armlänge des Zuschauers entspricht. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Aura der Figur. Haut („akzeptieren“) Die Blicke der Kamera bleiben für längere Zeit auf eine Figur gerichtet. Die Entfernung entspricht etwa einer Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Haut der Figur. Hände („loslassen“) Die Blicke der Kamera zeigen die Hände einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Hände der Figur. Augen („bildhaft werden lassen“) Die Blicke der Kamera richten sich auf die Augen einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Augen der Figur. Mund („sich einigen“) Die Blicke der Kamera zeigen in einer längeren Sequenz den Mund einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke den Mund der Figur.
III. Ereignisperspektive Geschehen („annähern“) Die Blicke nähern sich einem Ereignis, das in einem eindrucksvollen Raum geschieht. Der Zuschauer selbst nähert sich ihm an. Figurenbeobachtung („akzeptieren“) Die Blicke bleiben im Kontakt mit einer Figur, die ein Ereignis verursacht oder im Zusammenhang mit ihm steht. Der Zuschauer verfolgt dies aufmerksam.
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Spiel („loslassen“) Die Blicke zeigen ein Ereignis aus interessanten Kamerapositionen. Der Zuschauer erlebt dieses Ereignis selbst. Vorstellungsbilder („bildhaft werden lassen“) Die Blicke richten sich auf ein Ereignis. Der Zuschauer hat Bilder aus seiner eigenen Phantasie oder Erinnerung vor Augen. Rhythmus („sich einigen“) Die Blicke zeigen ein Ereignis in einer längeren, rhythmisierten Filmsequenz. Der Zuschauer folgt mit seiner Wahrnehmung diesem Rhythmus.
IV. Symbolperspektive Ort („annähern“) Die Bilder rücken einen Ort in die Nähe, der zentral für die erzählten Ereignisse ist. Der Zuschauer erkennt diese Bedeutung des Ortes. Licht („akzeptieren“) Es erscheinen Bilder, die mittels ihrer Lichtgebung eine Figur im Zusammenhang der erzählten Ereignisse charakterisieren. Der Zuschauer erkennt diese Bedeutung der symbolischen Lichtgebung. Sprache („loslassen“) Es erscheinen Bilder, wobei die Ereignisse der Geschichte sprachlich verdeutlicht werden. Der Zuschauer erkennt die verstärkende Funktion der gesprochenen Worte. Selbstbilder („bildhaft werden lassen“) Es erscheinen Bilder in einer Einstellung, die während der erzählten Ereignisse ein – möglicherweise auch idealisiertes – Selbstbild des Zuschauers spiegeln. Der Zuschauer erkennt diese Symbolik. Musik („sich einigen“) Es erscheinen Bilder in einer längeren Sequenz, während die Ereignisse der Geschichte von einer dazu passenden Musik begleitet werden.
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Der Zuschauer erkennt die symbolische Bedeutung des Zusammenklangs.
V . V erlaufsperspektive Hoffnung („annähern“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der im Zuschauer die Hoffnung hervorruft, daß der Handlungsverlauf sich einem Ziel annähert. Glaube („akzeptieren“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der den Zuschauer daran glauben läßt, die Geschichte werde gut verlaufen. Offenheit („loslassen“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der das Interesse des Zuschauers am weiteren Verlauf der Handlungen erweckt. Gerechtigkeit („bildhaft werden lassen“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der dem Zuschauer den Handlungsverlauf als gerecht erscheinen läßt. Liebe („sich einigen“) Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der den Zuschauer Glück im Handlungsverlauf empfinden läßt.
3. Eine kleine Philosophie der Bewegung in den Film
Es ist eine Binsenweisheit, daß zwischen den Wirklichkeiten des Alltags und denen des Films eine Verbindung besteht. Mir geht es im folgenden darum, eine neue Sicht auf diese Gemeinsamkeiten zu eröffnen, weshalb ich in diesem Kapitel in fünf Abschnitten jeweils einen Begriff vorstelle und entwickle. Dieses Konstrukt könnte m.E. ein Instrumentarium für den Dialog zwischen den Vertretern verschiedener filmwissenschaftlicher Schulen bereitstellen. Zugleich möchten diese Überlegungen einen Ansatz zu einer Theorie der Interdependenz von Bewegung im Alltagsleben und Bewegung im Film liefern.
F RAGMENTE Der Begriff des Fragments scheint mir von hohem Erklärungswert zu sein, wenn es darum geht, die strukturelle Ähnlichkeit der Wirklichkeit des Alltags mit der des Films offenzulegen. Obschon der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (1964) in seiner Schrift „Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“ feststellt, daß unsere „innere Welt aus Fragmenten“ (393) besteht, ist dieser Gedanke m. W. bislang noch nicht systematisch verfolgt worden. Ich beschreibe im folgenden lediglich solche Fragmente, die visuell erscheinen, weil diese es sind, die im Zentrum unseres Themas stehen1. Wenn wir an uns selbst feststellen wollen, was mit diesen „Fragmenten“ gemeint ist, sind zwei Phasen in unserem Tagesablauf dafür
1
Die akustischen Fragmente sind das Pendant der visuellen Fragmente.
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besonders gut geeignet: die ersten Minuten nach dem Aufwachen und die letzten Minuten vor dem Einschlafen. Beide Situationen versetzen uns in einen Übergang: Wir wechseln vom Schlafen zum Wachzustand bzw. gehen vom Wachen hinüber in den Schlaf. Umgangssprachlich nennen wir diese Zustände „Dösen“ oder „Dämmern“. Wenn wir uns in dieser Lage befinden, bewegen wir uns üblicherweise nicht oder nur sehr wenig. Während dieser Übergangsphasen sehen wir bei geschlossenen Augen innere Bilder. Diese visuellen Eindrücke entstehen und vergehen in rascher Folge, huschen gleichsam an unserem inneren Auge vorbei, so daß sie kaum erkennbar sind. Tempo und Richtung dieses Fließens sind unvorhersehbar; die Reihenfolge scheint regellos, ungeordnet und ohne Zusammenhang zu sein. Das Vorbeiströmen der inneren Bilder bleibt uns merkwürdig fremd, wenngleich es aus uns selbst stammt. Sobald wir versuchen, diese flüchtig erscheinenden Fragmente zu fixieren, sie festzuhalten und uns auf sie zu konzentrieren, werden wir über diesen Versuch einschlafen. Unser Nervensystem nämlich ist offenbar überfordert, wenn wir eine so große Anzahl ungeordneter Informationen fokussieren und ins Bewußtsein rücken wollen. Während dieses hypnoiden Zustandes vor und nach dem Einschlafen befinden wir uns in einer Ausnahmesituation; denn normalerweise unterscheiden wir in unserem hellen Tagesbewußtsein – schon dadurch, daß wir denken und sprechen – zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen Subjekt und Objekt, und stiften zwischen beiden Polen eine Beziehung. Anders verhält es sich im Dämmerzustand: Die Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt, ist hinfällig geworden, die Grenze zwischen beiden existiert hier nicht. In gewissem Sinne sind wir selbst zu dem Strom von Bildern geworden, der in uns vorbeifließt. Dieses Paradox aber, Ich und zugleich nicht Ich zu sein, überlastet die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns, welches die Widersprüchlichkeit, die in dieser doppelten Anforderung liegt und die systemintern nicht aufgelöst werden kann, konsequent quittiert: Es schaltet ab, knipst praktisch die innere Beleuchtung aus, und wir schlafen ein. Wenn wir uns unserer „inneren Welt aus Fragmenten“ weiter annähern wollen, können wir versuchen, uns dem Chaos der inneren Bilder hinzugeben und uns ihnen frei zu überlassen; denn vielleicht erfährt man mehr, wenn man „ins Wasser springt“. Der Sog ist aber stärker als erwartet, und das Bewußtsein wird gleichsam in diesen Strudel
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hineingezogen mit der Folge verminderter Aufmerksamkeit und reduzierter Unterscheidungskraft. Dieses Hinschwinden der Beobachterrolle führt unmittelbar in den Schlaf. Wenn der Raum nicht ganz abgedunkelt ist und wenn wir während des Vorbeifließens der inneren Bilder die Augen öffnen, lenkt uns die wahrgenommene äußere Wirklichkeit von der Welt der inneren Welt der Fragmente ab und macht sie unsichtbar. Dominant werden nun die äußeren Bilder auf der Netzhaut und unser Bewußtsein ist damit beschäftigt, diese zu registrieren und so zu verarbeiten, daß ihnen der Status einer „objektiven“ Realität zukommt. Das Reich der Fragmente bildet nach meinem Verständnis eine Realitätsstufe ersten Grades. Die Existenz der Fragmente ist wirklich, aber ihre Inhalte sind es nicht. Wären sie es, wäre es notwendig, daß sie unverändert wiederkehren oder sich zumindest in unveränderter Gestalt reproduzieren ließen. Das ist jedoch nicht der Fall. Das von seinem Eindruck her prägnanteste Fragment ist und bleibt ein flüchtiges, entschwindendes Wesen. Hier liegt der Grund dafür, daß Fragmente nicht zum Gegenstand einer kontinuierlichen Erfahrung werden können. Sie entziehen sich jedem Versuch des erkennenden Zugriffs. Fragmente sind Bewegungsenergien in nicht materialisierter Form. Anzuführen wäre hier vielleicht die Bemerkung der Kognitionspsychologen Heinz-Rolf und Inge Lückert (1994), die eine Beobachtung des Neuropsychiaters Donald Galin referieren. Diesem Autor zufolge besteht eine „auffallende Ähnlichkeit“ zwischen der Funktionsweise der rechten Hälfte des Gehirns und „unbewußten“ Prozessen, insofern beides Mal die Produktion solcher Bilder dominiert, die „gewöhnlich nicht verbalisiert werden können“ (161). Der Pädagoge Johannes Merkel (2000) schreibt von der „alltägliche[n] Erfahrung, daß mit dem vollständigen Abschalten visuellen Inputs, also mit dem Schließen der Augen, fast automatisch die inneren Bildwahrnehmungen ansteigen“ (278). Wie J. Merkel betont, entstehen solche Bilder spontan und anscheinend völlig unbeabsichtigt, so daß sich wenig oder nichts über ihre Herkunft sagen läßt: „Gute Gründe sprechen jedenfalls dafür, daß die menschliche Vorstellungskraft durchaus Bilder zu erzeugen vermag, die keiner erinnerbaren Vorlage entsprechen. Wohl phantasieren viele Wachträume, deren bizarre Bilder und Handlungsweisen ohne erkennbare Vorlagen bleiben, deren Deutung vor ähnlich unlösbare Probleme stellt wie unsere nächtlichen Traumgesichte und die an die
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Erfahrungen erinnern, die in veränderten Bewußtseinszuständen gemacht werden können“ (278).
Ungeachtet der Frage, ob der tiefenpsychologische Ansatz der Traumdeutung zu rechtfertigen ist oder nicht, halte ich mit Merkel dafür, daß eine sinngebende Deutung der Fragmente unmöglich ist, weil diese inneren Bilder, wie gesagt, so flüchtig sind, daß sie sich jedem Versuch, sie festzuhalten und in sprachliche Form zu fassen, prinzipiell entziehen. Sie können daher auch nicht als Phantasien früherer familiärer Herkunft (S. Freud) oder als Ausdruck archaischen kollektiven Geschehens (C. G. Jung) betrachtet werden. So läßt sich also über die Natur der Fragmente anscheinend nicht viel sagen, und diese Bilanz mag manchen veranlassen, sie als bloße halluzinatorische Folgen chemischer Prozesse abzutun. Für so belanglos halte ich die hier zur Debatte stehenden Fragmente nicht. Vielmehr scheint mir in ihrem Vorhandensein eine Möglichkeit zu liegen, das Verstehen von Filmen zu verstehen. Mit meinem Deutungsversuch folge ich der erkenntnistheoretischen Position S. Kracauers (1964), der sagt: „Wir können nur darauf hoffen, der Realität nahezukommen, wenn wir ihre untersten Schichten durchdringen“ (387). Denn nach meiner Ansicht repräsentieren die inneren Bilder, von denen hier die Rede ist, die „untersten Schichten“ der Wirklichkeit, und zwar unserer innerpsychischen Realität. Analog scheint der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini (1985) zu denken, wenn er erklärt, er nehme die von ihm hergestellten Bilder nicht aus einem vorgefertigt daliegenden Bildlexikon, „sondern aus dem Chaos, wo sie nur als pure Möglichkeiten oder als Schatten mechanischer oder onirischer [traumbezogener] Kommunikation existieren“ (52).
Auch wenn P. P. Pasolinis Äußerungen über das „Chaos“, aus dem seine Filmbilder stammen, den Gedanken an die „Fragmente“ des hier vorgelegten Konzepts wohl nahelegen, hält er die Herkunft der aus dem Chaos stammenden Bilder einer verstehenden Erklärung prinzipiell zugänglich: Es handelt sich dabei für ihn um „Bilder der Erinnerung und des Traums, das heißt Bilder der ,Kommunikation mit uns selbst‘“ (58).
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Der Dichter, Maler und Filmemacher Jean Cocteau hält den Kontakt mit der „imaginären Welt des Inneren“ (301) im Akt des schöpferischen Arbeitens für unverzichtbar. „Zutritt zu ihr erhält man“, wie Reinhardt Schmidt (1988), der Herausgeber der deutschen Werkausgabe Cocteaus erklärt, „wenn die Kontrolle des Verstandes nachläßt und im Dämmern des Bewußtseins unwillkürlich Bilder heraufsteigen. Das ist, bildlich gesprochen, der Tod, den der Dichter immer wieder zu durchleben habe“ (301). Die Existenz der Fragmente lehrt uns, daß visuell alles möglich ist; ebenso, daß eine wesentliche Grundsubstanz des Psychischen das Visuelle ist. Die Fremdheit dieser Phänomene ist eines der vielen Indizien dafür, daß der Grund unserer Existenz unerforschbar ist. Die Fragmente kennen keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft. Wer Geschichten sucht, sucht die sinnstiftende Kontinuität seines Lebens; und wer den Sinn will, kommt an Geschichten nicht vorbei2. Deshalb gehen wir in den Film, der genau aus diesem Wunsch seine Magie bezieht. Während uns der Übergangszustand zwischen Schlafen und Wachen den Abgrund des Nichts offenbart, gibt uns der Film die Möglichkeit eines erfüllten Seins. Er kann dies, weil und indem die Bilderflut im Kinosaal sich an den Bilderstrom im Übergangszustand anschließt. Der Zuschauer nimmt das Angebot der Filmbilder an und konstruiert – motiviert durch den Mangelzustand des Fragmentiertseins – aus ihnen eine Geschichte. Fragmente sind die bewußtlose, innere Bewegung des Menschen. Sie sind die Urkraft menschlicher Phantasie, und in ihnen steckt die Anlage des Menschen zu seiner Kreativität, aber auch zu seiner Destruktivität. Der Spannungszustand zwischen Nichtung und Schöpfung kann nicht stärker sein. Ihn vorübergehend aufzuheben, ist der Film kraft seiner Fiktion in der Lage. André Bazin (2004) bezeichnet unseren Wunsch, mit filmischen Illusionen versorgt zu werden, als „ein Bedürfnis, das an und für sich nicht ästhetisch, sondern rein mental ist und dessen Ursprung allein im magischen Denken zu suchen ist“ (35). In meiner Bewegungsphilosophie sind die „Fragmente“ des Übergangszustandes der Raumperspektive zugeordnet; denn jeder Mensch hat einen solchen psychischen Innenraum, den er bei geschlossenen Augen sehen kann.
2
Vgl. Thomä (2007 [1998]): Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem.
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B EWEGUNGEN Sobald wir die Augen öffnen, nehmen wir visuelle Eindrücke vom eigenen Körper und der Umgebung wahr. Der Realitätsgehalt dieser Außenwahrnehmungen steigt, wenn wir zielstrebige Körperbewegungen mit bewußter Kontrolle ausführen. Dies macht jeder spätestens dann, wenn er sich aus dem Bett erhebt. Hiermit endet das Reich der Fragmente, indem das morgendliche Sich-Erheben ihre Macht zum Verschwinden bringt. Je mehr man in den Tag hineingeht, desto unvorstellbarer wird es, daß das Reich der Fragmente je existierte. Wie wird das Sehen geordneter Bilder möglich? – Die äußeren visuellen Impulse vermengen sich mit einem Teil der inneren Bilder, also der Fragmente. Diese sind für sie ein vortreffliches Sammelbecken, weil aus diesen inneren Urelementen sich prinzipiell alles formieren kann. Dabei bildet das, was wir mit offenen Augen sehen, nur einen winzigen Bruchteil dessen, was aus den Fundus der Fragmente potentiell visualisiert werden kann, ab. Bewußtes und klares Sehen kommt deshalb zustande, weil es einerseits aus der Augenmotorik resultiert und andererseits auf der psychischen Intentionalität beruht, die das Sehfeld selektiert und seine Inhalte fokussiert. Um ein geordnetes Bild erzeugen zu können, das sich von einem anderen unterscheidet, verlangsamen sich die Augenbewegungen, ohne jedoch stillzustehen. Experimente zeigen, daß sich die Motorik der Augen überhaupt nicht fixieren läßt (Gelernter 2007: 69). Das Sehenlernen findet in der Kindheit statt und wird durch den Erwerb der Sprache begleitet. Es vertieft sich, weil die sprachlichen Symbole das Sehfeld präzisieren und strukturieren. Ein bildender Künstler, der über seine Werke nicht sprechen mag, bekundet mit seinem Schweigen allerdings, daß die Wortsprache für ihn kein adäquates Ausdrucksmedium ist. Bewegung und Wahrnehmung gehören zusammen, und selbst das stille Denken wird von der Körperbewegung der Atemtätigkeit begleitet. Auch unsere Aufmerksamkeit ist in ständiger Bewegung, indem sie Wichtiges von Unwichtigem unterscheidet, Differenzen setzt und damit klares Bewußtsein ermöglicht. Manche Autoren meinen, daß die körperliche Bewegung ursprünglich für unser Denken und Fühlen ist. Die Kognitionspsychologen I. und H. J. Lückert (1994) schreiben: „Wir müssen [...] das begriffliche Denken und Urteilen als Handlung, als motorischen Akt fassen“ (273),
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und auf Sigmund Freud (1982 [1933]), den Vater der Psychoanalyse, geht das Diktum zurück: „Das Denken ist ein Probehandeln mit kleinen Energiemengen“ (524). Oder: „Wie jedermann weiß, sind Emotionen aufs engste verknüpft mit den motorischen Reaktionen des Organismus“ (126), so der Filmtheoretiker Albert Michotte van den Berck (2003a [1953]). Es ist nun für mein Konzept wesentlich, daß „Bewegung“ eine Universalie ist, was bedeutet, daß sie sich nicht einseitig dem Geistigen, Seelischen oder Körperlichen zuordnen läßt. Bewegung ist das Muster, das im Sinne Gregory Batesons (1983) komplexe Systeme extern und intern miteinander verbindet. Von nun an also werden wir „Bewegung“ unabhängig davon verstehen, in welchem Bereich des menschlichen Daseins sie sich vollzieht. Bewegungen bilden die Wirklichkeitsstufe zweiten Grades3, denn sie lassen sich aus den Fragmenten ableiten, setzten uns aber anders als diese in eine unmittelbare Berührung mit dem alltäglichen Leben. Weil die Körperatmung aber die ursprünglichste und kreatürlichste Bewegung ist, die wir kennen, habe ich „Bewegung“ in meinem Konzept der Körperperspektive zugeordnet. Seit der Frühzeit der „bewegten Bilder“ ist die Frage nach dem Wesen der Bewegung von Filmtheoretikern immer wieder angesprochen und erörtert worden. Um exemplarisch nur einige Äußerungen wiederzugeben: „Wenn man ein so starkes Phänomen wie die Realitätswirkung des Kinos erklären will“, schreibt der Filmtheoretiker C. Metz (1972), so seien „insbesondere die Elemente der Realität“ in Betracht zu ziehen, die der Film selbst enthält, „allen voran jene der Realität der Bewegung“ (31-32). Das „Gefühl der Bewegung“, so derselbe Autor weiter, wird „allgemein als Synonym für Leben angesehen“. Nach C. Metz besteht das „,Geheimnis‘ des Kinos [...] auch darin, in die Irrealität des Bildes die Realität der Bewegung hineinzutragen und so die Fiktion bis zu einem noch nie erreichten Grad zu realisieren“ (35). In ähnlichem Sinne kann H. C. Opfermann (1963) auch sagen: Bewegung „verstärkt stets den Gegenwartseindruck“ – gleichgültig, ob sich in der Filmszene etwas bewegt oder die Kamera während der Aufnahme wandert“ (312).
3
Zur Erinnerung: Die Fragmente bilden nach meiner Auffassung die Wirklichkeit ersten Grades.
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Der Philosoph Edgar Morin (1958) spricht die Frage nach der Kinowirklichkeit mit der Bemerkung an, Bewegung bringe ein „unwiderstehliches Realitätserlebnis“ (145) zum Ausdruck, und ein Film ohne sie sei zugleich „ohne Atem“ (220). Bewegung sei „dermaßen an die biologische Erfahrung gebunden, daß sie ebensowohl die innere Empfindung des Lebens bringt wie seine äußere reale Erscheinung. Nicht nur Körper, sondern auch Seele. Nicht allein Empfindung, nicht allein Realität: sondern die Empfindung der Realität“ (147).
Bewegung ist in der Sicht E. Morins die „entscheidende Wirklichkeitsmacht“ (133) überhaupt. Die „natürliche und fundamentale Bewegung“ (206) des Films sei gleichzusetzen mit dem evolutionären Zustand des menschlichen Geistes zu dem frühen Zeitpunkt, da er sich noch in „seiner ursprünglichen Ganzheit“ (207) befand. Für die amerikanische Filmtheoretikern Vivian Sobchack (2004, 1994, 1992) steht außer Frage, daß Bewegung in ihrer Intentionalität Welterfahrung und Körpersubjekt verbindet. Der Sinn unseres Lebens hänge von dieser wechselseitigen Verschränkung von Körper und Welt im Akt der Bewegung ab: „[...] for both the film and ourselves, motility is the basic bodily manifestation of intentionality, the existential basis for visible signification“ (1992: 277)4. „Im Grunde hat jede Bewegung einen Sinn“, schreibt Jan Marie Peters (1984: 381), Direktor der Netherlands Film Foundation. Und doch sei es „nicht leicht“, diesen Sinn „eindeutig zu interpretieren“. Denn Bewegungen regen das Gefühl an, deren Bedeutungen sich nur mit Mühe in die Logik der Wortsprache übersetzen lassen. „Wir fühlen ihren Sinn [der Bewegung], ohne ihm sprachlichen Ausdruck verleihen zu können“, reflektiert der Autor. Der holländische Filmtheoretiker Ed Tan (1994) bindet die biologische Erfahrung der Bewegung, die im Film auf der zweidimensionalen Leinwand erscheint, an unsere neurophysiologische Verfaßtheit an: „Film establishes a number of illusions that are difficult to escape. The basis illusion is, of course, that of movement, where in fact a series of stills is per-
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„[...] sowohl für den Film wie für uns selbst (ist) Beweglichkeit die grundsätzliche Erscheinung von Intentionalität, die existentielle Basis für sichtbaren Sinn“ (Sobchack 1992: 277).
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ceived. This illusion cannot be escaped, because it resides in the anatomy of the brain. Given the usual circumstances of projection, one cannot help seeing movement“ (10-11)5.
Zu einem ähnlichen Schluß kommt der Niederländer Albert Michotte van den Berck (2003b [1948]), der sich mit dem „Realitätscharakter der filmischen Projektion“ beschäftigt. Seiner Auffassung nach kann man „nicht genügend auf der Tatsache beharren, dass die scheinbare Realität (diejenige der Bewegung im Kino) durch das Wissen, ,dass es sich nur um eine Illusion handelt‘, nicht im geringsten beeinträchtigt oder modifiziert wird“ (112)6. Der Regisseur Ernst Iros (1957) wirft einen Blick auf die Vorgänge auf der menschlichen Retina und dem Filmträger: „Eine Bewegung kommt auf der Netzhaut des Auges dadurch zustande, daß sich beim Sehen eine Vielzahl von Einzeletappen dieser Bewegung auf ihr abbildet. Diese sind nach Zahl, Größe und zeitlichem Ablauf (Beharrung und Bewegung) bestimmbar. Diesem Vorgang entsprechend ist die Bewegungsvorrichtung der Kamera konstruiert. Zahl, Größe und zeitlicher Ablauf der Bewegungsetappen dürfen weder über- noch unterschritten werden. Die Kamera wird gleichsam zum menschlichen Auge, und das Filmband hält die Einzelteile der Bewegung fest. Der Projektionsapparat macht sie auf der Leinwand sichtbar“ (33).
J. M. Peters (1984) hebt hervor, daß der Zuschauer im Kino „immer mit dem Kamera-Auge“ sieht, „auch wenn er sich dessen nur selten bewußt ist“ (382), und kommt dann auf das psychologische Phänomen der „induzierten Bewegung“ zu sprechen: „Die optische Identifikation des Zuschauers mit dem Kamerastandpunkt kann dabei so weit gehen, daß er beim Sehen einer mit bewegter Kamera aufgenommenen Szene selbst das Gefühl hat, in Bewegung zu sein“ (382).
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„Der Film schafft eine Reihe von Illusionen, denen man kaum entfliehen kann. Die grundsätzliche Täuschung besteht selbstverständlich in der Bewegung, in der eigentlich eine Reihe von Standfotos erkannt werden kann. Dieser Illusion läßt sich nicht entgehen, sie ist in der Anatomie des Gehirns zu Hause. Unter den üblichen Umständen der Filmprojektion kann man nicht anders, als Bewegung zu sehen“ (Tan 1994: 10-11).
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Ausführlich zu den Überlegungen v. Bercks s. Hediger (2003: 67 ff.).
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Schließlich ist es für S. Kracauer (1964) gerade der Fluß der Bilder, der den Zuschauer „am stärksten berührt“ (231). Für den Autor besteht kein Zweifel „an der Tatsache, daß die Darstellung von Bewegung Widerhall in körperlichen Tiefenschichten findet [...]. Es sind unsere Sinnesorgane, die hier unwillkürlich ins Spiel gebracht werden“ (216-217). Und diese Sinnesorgane, so könnte man ergänzen, binden sich auch an die innere Bewegung des Films an. In ähnlichem Sinne schreibt H. C. Opfermann (1963): „Ja, der erfahrene Filmgestalter weiß, daß die innere Bewegung, die seinen Filmszenen durch die Art der Montage erteilt wird, viel wichtiger und wirksamer ist als alle Vorgänge in der Szene“ (317). Nun betrachtet E. Morin (1958) das Kino als ein „System, dessen Sinn es ist, den Zuschauer völlig in den Fluß des Films hineinzuziehen“ bzw. umgekehrt „den Film völlig in psychischen Fluß des Zuschauers hineinzuziehen“ (117). Die Metapher des Flusses bemüht auch S. Kracauer (1964), der den kinematographischen Fluß der Bilder für geeignet ansieht, „physisches Sein in seiner Endlosigkeit einzufangen.“ S. Kracauer weiter: „Dementsprechend kann man auch sagen, daß sie [die Bilder] eine – der Fotografie versagte – Affinität zum Kontinuum des Lebens oder ,Fluß des Lebens‘ besitzen“ (109). Und an anderer Stelle resümiert er: „Bewegung ist das A und O des Mediums“ (216). Es ist nach alldem nur zu verständlich, wenn ein Kinogänger nach dem Besuch eines Films, in den er sich besonders hineingezogen fühlte, sagt, er habe sich „bewegt“ gefühlt. Daß die Zuschauer sich schon vor der Vorführung darauf einrichten, einer starken inneren Bewegung ausgesetzt zu werden und intensiver motorischer Erregungsabfuhr bedürftig zu werden, erkennt man übrigens an der Vorliebe der Zuschauer für die großen Popcorn-Becher, deren Inhalt mechanische Arm- und Kaubewegungen für die Zeit der Vorführung erlaubt und erfordert.
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Im Vorhergehenden wurde gesagt, daß sich einige Fragmente in Bewegungsvorgänge umwandeln, welche wiederum der Erzeugung bewußter visueller Wahrnehmung dienen. Die „Fragmente“ (inneren Bilder) und die „Bewegungen“ sind also bisher als die beiden Qualitäten erkannt worden, die auf Seiten des Zuschauers für die Illusionsbildung des Films essentiell sind. Die dritte Qualität, die nun anzuvisieren ist, möchte ich „Feld der Möglichkeiten“ nennen. Wenn wir im Alltag über etwas nachdenken, geschieht es oft, daß uns plötzlich Gedanken, Gefühle oder Bilder anderen Inhalts in den Sinn geraten. Solche Abschweifungen der Aufmerksamkeit sind uns in der Regel aber durchaus nicht unwillkommen, weil sie uns momentane Entlastung und Entspannung verschaffen. Unangenehm werden solche plötzlichen Einfälle aber, wenn sie Inhalte mit sich führen, die uns Sorgen bereiten oder belasten. Wir können dann zwar versuchen, das Auftreten dieser Wahrnehmungen zu unterbinden, bemerken aber bald, daß alle Anstrengung nur von kurzem Erfolg ist. Allgemein läßt sich sagen, daß wir uns belastender und beschwerender Einfälle öfter als anderer bewußt werden, weil unser augenblickliches Tun dadurch nachhaltig gestört wird. Solche plötzlichen Digressionen geschehen, weil wir die linear gerichteten Wahrnehmungs- und Bewegungsintentionen nicht beständig aufrecht erhalten können. Die Instabilität unserer bewußten und gerichteten Aufmerksamkeit hat ihren Grund nicht zuletzt in der Existenz der o.g. Fragmente, die dem Chaotischen in uns immer wieder auch gegen unseren Willen zu seinem Recht verhelfen. Der dynamische Gehalt dieser Fragmente ist ein wesentlicher Impuls für die Energetik des „Feldes der Möglichkeiten“. Das Feld der Möglichkeiten wird während des gesamten Tages durch die Einwirkung der Fragmente aktiv gehalten. Es bildet den Fundus grundsätzlich jeder bewußtseinsfähigen Sinneswahrnehmung. Kein äußeres Ereignis gerät in unser Bewußtsein, ohne daß das Feld der Möglichkeiten aus dem Status der Potentialität in das der Aktualität transformiert worden wäre. Deshalb wird es von mir der dritten (Ereignis-)Perspektive zugeordnet. Soweit ich sehe, sind von psychologischer Seite bisher zwei Phänome beschrieben worden, die als Komponenten dessen, was ich mit
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dem „Feld der Möglichkeiten“ meine, betrachtet werden können. Es handelt sich um den „inneren Dialog“ und den „Tagtraum“. Wenden wir uns dem ersteren zu: Der Begriff entstammt aus der Kognitionspsychologie und bezieht sich auf das Problemlöseverhalten, bei dem das Individuum eine gedankliche Kommunikation mit sich selbst beginnt (vgl. Frank 1986: 39). Donald W. Meichenbaum (1979), einer der Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie, ist mit Aaron T. Beck der Auffassung, daß der „interne Dialog“ ein Prozeß ist, der eine digressive, d.h. ausschweifende Bewegungsform aufweist; er sei „keinesfalls das Ergebnis von Überlegungen, Begründungen oder des Nachdenkens über ein Ereignis oder einen Gegenstand. Die Schritte haben keine logische Abfolge wie etwa beim zielorientierten Denken oder Problemlösen. Die Gedanken ,treten einfach nur auf‘... Es sieht geradeso aus, als wären sie relativ autonom“ (209).
Alexander Sokolov, den D. W. Meichenbaum zitiert, spricht die essentielle Bedeutung an, welche dieser Prozess für das menschliche Dasein hat: Der interne Dialog sei ein „sehr bedeutender und universeller Mechanismus“ (10), der Bewußtseinsprozesse wie auch ganz allgemein die pychische Aktivität regelt. Denn er gewährleiste, daß wir Menschen uns der eigenen Existenz vergewissern können, und helfe darüber hinaus, Realität zu konstruieren. „In Wirklichkeit erhalten wir uns unsere Welt durch unser inneres Gespräch“, meinte Carlos Castaneda einmal7. Und der Raum dieses internen Dialog ist, so sagt es der Philosoph und Jurist Wilhelm Schapp (1959), „so groß und tief, daß wir kein Ende finden würden, wenn wir, soweit es uns überhaupt möglich ist, es nach allen Richtungen ableuchten und durchschreiten wollten“ (267). W. Schapp ist der Ansicht, daß von dem „gesamten Sprechen noch nicht ein Tausendstel auf das laute Sprechen entfällt“ (263). Niemals steht die Daueraktivität unseres inneren Dialogs still und wirkt selbstverständlich auch dann, wenn wir einen Spielfilm ansehen. Prinzipiell ist es ja so, daß uns die Filmbilder Deutungsofferten geben und damit den inneren Dialog stimulieren. Der russische Filmemacher Wsewolod Pudowkin sah es so, daß Filmbilder Fragen stellen, die der Zuschauer beantwortet. Nun geht W. Pudowkin allerdings so weit zu behaupten, die der Filmwahrnehmung inhärente Technik der Montage
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Zit. nach Meichenbaum (1979: 10).
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determiniere das Ergebnis des inneren Dialogs, wenn er (1961) sagt: „Montage bedeutet im Grunde die zielbewußte, zwangsläufige Führung der Gedanken und Assoziationen des Zuschauers“ (73-74). Dem würde ich nicht ganz folgen, sondern lediglich postulieren wollen, daß das Leinwandgeschehen das Gespräch des Zuschauers mit sich selbst in Gang setzt, wobei die Resultate dieses Dialogs höchst individualisiert, d.h. letztlich nicht programmierbar sind. So ist eher dem russischen Filmtheoretiker Boris Ejchenbaum ([1927] 1984) beizupflichten, der in aller Vorsicht argumentierte: „Für das Studium der Gesetze des Films (vor allem der Montage) ist es sehr wichtig zu erkennen, daß Wahrnehmung und Verstehen des Films unauflöslich verbunden sind mit der Bildung einer inneren, die einzelnen Einstellungen untereinander verbindenden Rede“ (110). Das zweite Phänomen, das uns das „Feld der Möglichkeiten“ näherzubringen vermag, ist das des Tagtraums: Er ist ebenso alltäglich wie der innere Dialog, hat aber trotz seiner anscheinenden Selbstverständlichkeit Interpretationen ganz unterschiedlicher Art auf den Plan gerufen: So etwa hat ihn S. Freud (1981 [1916]) wie auch den Nachttraum als einen Weg zur Wunscherfüllung verstanden. Die Daseinsanalyse Medard Boss’ (1974) begreift Träume als Ausdruck existentieller Wirklichkeit, und schließlich erkennt die anthropologischintegrative Psychotherapie von D. Wyss (1988) den Traum wie den Tagtraum als einen Ausdruck von Selbstentwürfen einer Person. J. Merkel (2000) bietet unter der Kapitelüberschrift „Das Kino in unserem Kopf“ eine beeindruckend phänomenologische Betrachtung der „fesselnden Sequenzen inneren Sehens, die wir als ,Tagtraum‘ bezeichnen“ (273): „Wo das Bewußtsein sich selbst überlassen bleibt, ohne die Aufmerksamkeit auszurichten, macht es Sprünge, schlägt Haken, fließt rückwärts, kann aber auch verweilen, sich in den eigenen Bildern verlieren und darüber fast vollständig ausblenden, was vor den eigenen Augen geschieht. Nur selten bewegt es sich gleichmäßig vorwärts, wie es das Bild des Strömens andeutet, eher scheint es wie ein Scheinwerfer zu arbeiten, dessen Lichtkegel durch abgedunkelte Räume geistert, die aufblitzenden Gegenstände abtastet, verwundert darauf verweilt oder achtlos darüber hinweggleitet oder gar wie die Lichteffekte in einer Disco nervös auf- und abblitzt. Diese irrlichternde Beweglichkeit ist uns so selbstverständlich, daß wir sie kaum bemerken. Erst wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, die auf uns einstürmenden Eindrücke, Bilder
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und Gedanken bewußt registrieren, sozusagen den Schwenks und Pirouetten des Scheinwerfers zu folgen versuchen, nehmen wir die ständig wechselnden Einstellungen wahr. Was dabei sichtbar wird, erinnert an ein Puzzle, das sich aus vielen Elementen zusammensetzt. Die rasche Flucht von Sinneswahrnehmungen, inneren Bildern, Erinnerungen und Gedanken wird aber auch immer wieder unterbrochen von Phasen anhaltender und gerichteter Aufmerksamkeit sei es, daß wir uns vollkommen einem überwältigenden Sinneseindruck überlassen, uns ganz auf einem Gedankengang konzentrieren oder daß vor unserem inneren Auge Handlungen und Bilder vorbeiziehen, die fast völlig verblassen lassen, was im sinnlichen Außenraum lockt und fordert“ (273-274).
Die filmische Verfahrenstechnik der Montage8 ist dem von J. Merkel hier skizzierten Wesen des Tagtraums („ein Puzzle, das sich aus vielen Elementen zusammensetzt“) strukturell verwandt, weshalb der Film mit seinem charakteristischen Konstruktionsmittel an unsere Fähigkeit, Tagträume zu produzieren, anknüpfen kann. Die vom Film mittels Montage hergestellte Illusion bildet sich also in den Regionen unseres psychischen Interieurs, in denen üblicherweise die Tagträume entstehen. Dem, was man im Alltag als das Tagtraum-Bewußtsein nennen könnte, entspricht im Kinosaal also jener durch die Montage induzierte traumartigen Zustand, den ich mit dem Wort „Filmbewußtsein“ bezeichnen möchte. S. Kracauer (1964) spricht mit Blick auf dieses Phänomen vom „reduzierten Bewußtsein“ (217). Fassen wir noch einmal zusammen: Innerer Dialog und Tagtraum sind Prädispositionen, die wir als Filmzuschauer mitbringen und auf diese Weise das Feld der Möglichkeiten betreten, auf dem die illusionäre Wirklichkeit des Films entstehen kann. Beide Prädispositionen sind der Montagetechnik strukturell ähnlich; und nur wegen dieser Strukturähnlichkeit zwischen dem Bewußtseinsgefüge einerseits und der auf der Leinwand erscheinenden montierten Filmwirklichkeit andererseits, kann sich jener Illusionssog bilden, der uns in die fiktive Wirklichkeit des Film hineinzieht.
8
Pudowkin (1961) definiert Montage als den „Aufbau einer Szene aus einzelnen Einstellungen, einer Episode aus Szenen, eines Aktes aus Episoden usw.“ (66). Sie ist für ihn die „Grundlage der Filmkunst“ (7) und „Schöpferin filmischer Wirklichkeit“ (11).
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S CHEMATA Im Alltagsleben sind wir auf eine Reihe fester Schemata angewiesen, die unsere Bewegungsaktivitäten in gewohnten und geordneten Bahnen halten. Die Wirkkraft dieser Schemata begrenzt das prinzipiell unbegrenzte Feld der Möglichkeiten, so daß wir uns nicht dauernd in weglosen Unverbindlichkeiten verlieren. Chaostheoretisch formuliert, übernehmen Schemata die Funktion von Ordnern, welche im Verlauf von Fluktuationen entstehen und ein Gesamtsystem neu organisieren (passim Jantsch 1982). So kann ein Mensch aus (Tag- oder Nacht-)Träumen oder aus einem „inneren Dialog“ plötzlich mit neuen Ideen heraustreten, die Antworten auf Fragen liefern, welche u. U. völlig neue, ungeahnte Wege weisen. Das Feld der Möglichkeiten kann als die Quelle angesehen werden, aus der sich die Schemata, alte wie neue, speisen. Betrachten wir die Eigenschaften eines Schemas genauer: Wenn wir es beispielsweise gelernt haben, die Wohnung oder den Schreibtisch aufzuräumen, so steht uns eine ganze Reihe verschiedener Ordnungsmuster zur Verfügung: solche, die unseren prüfenden Blick überhaupt den Anlaß geben, aufzuräumen, um die Unordnung zu beseitigen; solche, mit denen wir die Gegenstände erkennen und voneinander unterscheiden können; einige, die unser Wissen über den Umgang mit den Gegenständen beinhalten, und schließlich andere, die uns ein Bild von dem erwünschten Zustand liefern. In vergleichbarer Weise regulieren Schemata auch unsere Handlungsformen beim Kinobesuch: Wir folgen dem Ritual des Kaufs einer Kinokarte, wissen, daß wir uns im verdunkelten Raum einen Platz suchen und wie wir uns während der Film läuft, zu verhalten haben. Und nicht zuletzt ist uns gleichsam schematisch klar, daß es ein Kinofilm ist, den wir da sehen und daß wir ihn als einen solchen aufzunehmen haben. Darüber hinaus aber ist unser „Weg in den Film“ wesentlich von denjenigen Schemata geleitet, die ich oben9 Stufen genannt und fünf verschiedenen Perspektiven zugeordnet habe. In diesen Stufen sind Wahrnehmungsinhalte und Bedeutungen (Bewegungsqualitäten) gespeichert, und sie garantieren, daß wir Gleiches unter verschiedenen Bedingungen auch als Gleiches wiedererkennen und es uns nicht jedesmal erneut aneignen müssen. In ihrer Eigenschaft als Schemata
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Vgl. 2. Kap.
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sind die Stufen also dafür zuständig, daß wir uns mit einer verläßlichen Wahrnehmungsökonomie durch den Alltag bewegen können. Diejenigen Stufen, denen in bewegungsphilosophischer Hinsicht eine besondere Bedeutung zukommt, habe ich der vierten Perspektive (Symbolperspektive) zugeordnet. Natürlich gibt es auch Schemata des Sehens, und diese sind die für den Weg in den Film ausschlaggebenden (die akustischen sind letztlich sekundär): Wir bewegen uns in den Film hinein, indem wir die von der Leinwand angebotenen visuellen Schemata annehmen und ihren Informationsgehalt uns deshalb zu eigen machen können, weil wir sie ständig – durch die Übungen des Alltags – aktiv halten. Da die Schemata grundsätzlich neutral gegen ihre jeweiligen konkreten Inhalte sind – sie sind wie Gefäße, die unterschiedlichste Substanzen aufnehmen können –, können sie Alltags- und Filmwirklichkeit strukturell verklammern. Als „Behältnisse“ nehmen die Stufen meines Konzepts zunächst Bewegungsvorgänge aus Kindheit und Alltag auf, die wiederum aus der Verwandlung von Fragmenten entstanden sind. Durch ihre Eigenschaft, ihrem Inhalt Form zu geben, begrenzen sie das Feld der Möglichkeiten. Der renommierte amerikanische Filmtheoretiker David Bordwell hat sich 1985 erstmalig explizit mit der Frage der Schemata befaßt, wobei er seine Überlegungen noch sieben Jahre später „im Sinne einer ersten Annäherung“ (1992: 12) versteht. Als ein führender Vertreter der neoformalistischen Theorie geht er von der Prämisse aus, daß das Verstehen eines Filmes Ausdruck und Ergebnis eines Konstruktionsprozesses des Zuschauers ist, in dem Schemata und sogenannte „cues“ eine wichtige Rolle spielen. Diese Cues vermitteln nach Auffassung D. Bordwells dem Kinogänger den normativen, wertsetzenden Gehalt des Bildmaterials und sind Hinweise oder Signale für die Bedeutung einer Situation oder einer Handlung. Sie sind es letztlich, die den Zuschauer mit dem appellativen Gehalt der montierten Bilder versorgen. Der filmische Einsatz der Cues ist deshalb mit höchster Wahrscheinlichkeit effektvoll, weil er kulturell vorgeprägte Schemata, die individuelle Erfahrungen normieren, aktiviert. D. Bordwell (1992) schreibt: „Wir können uns das Funktionieren normgesteuerter Subsysteme [hier: des Films] als die Übermittlung von ‚Hinweisen‘ [cues] an den Zuschauer vorstellen. Diese geben den Anstoß zum Verarbeitungsprozeß, der letzten Endes zur Bildung von Schlußfolgerungen und Hypothesen führt. Der Zuschauer begeg-
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net den cues mit relevantem Wissen aus verschiedenen Bereichen, insbesondere mit dem, das von Kognitionstheoretikern als schema-fundiertes Wissen bezeichnet wird. Ein Schema ist eine Wissensstruktur, die es dem Rezipienten ermöglicht, über die gegebene Information hinauszudenken“ (8).
Kein Film also ohne Verwendung solcher derartiger Schemata! Man kann sie an Anlehnung an D. Bordwell in als „agent based“ (13), personenbezogen, und „action-based“ (12), handlungsbezogen, unterteilen. Diese Differenzierung vereinfacht D. Bordwells frühere Ansicht von 1985, gemäß der er – in Anlehnung an den amerikanischen Psychologen Red Hastie – drei Typen von Schemata voraussetzte: Prototypische Schemata präsentieren diejenigen Leitfiguren, welche eine Szene dominieren; füllende Schemata10 geben diejenigen Zusammenhänge und Gründe an, welche die Geschehnisse der Geschichte kausal ordnen, und verlaufsbezogene Schemata sind solche, die den Filmverlauf dadurch transparent machen, daß die Motive der Handelnden sichtbar werden (vgl. S. 34 ff). In meinem Konzept haben die vier Stufen resp. Einstellungen der Körperperspektive („Haut“, „Hände“, „Augen“ und „Mund“) eine gewisse Verwandtschaft mit Bordwells prototypischen Schemata; denn sie zeigen Figuren in berührungsfähiger Nähe und setzen mit Großaufnahmen effektiv Betonungen und Akzente in der Geschichte. Welche Figur dabei wie in Szene gesetzt wird, entscheidet die Dramaturgie der Bildgestaltung: Beispielsweise sieht man die Augen einzelner Krieger, die im Heer für ihren Kaiser streiten, oder die Augen des Kaisers selbst. „Characters are embodied“, schreibt D. Bordwell (1989: 153), und so wird keine Filmfigur körperlos bleiben. Die Aufgabe der füllenden Schemata kann von der Stufe der Ereignisperspektive („Figurenbeobachtung“) übernommen werden, die registriert, wie die Bilder in Kontakt mit einer Filmfigur stehen, die ein Ereignis verursacht; z.B. wenn sie als Krieger mit einem anderen um die Verteidigung eines Reviers kämpft. Diese Einstellung liefert ein Erkenntnismuster für die Rekonstruktion der kausalen Abläufe des Geschehens in Raum und Zeit. Die psychologische Wirkung dieser Stufe
10 Diese werden auch schablonenhafte („template“) Schemata genannt. Wuss (1992a, 1993) betrachtet die Anreihung dieser Schemata als Kausalketten und bezeichnet sie als wesentlich für das Verstehen narrativer Filme.
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kann freilich gesteigert werden, wenn die Bilder den Verursacher des Ereignisses mit körperbezogenen Nahaufnahmen zeigen. Ich meine weiterhin, daß die Einstellungen der Symbolperspektive meines Konzeptes sich den verlaufsbezogenen Schemata von D. Bordwell zuordnen lassen. Der Zuschauer erkennt die Motivationslage einer handelnden Figur am klarsten, wenn sie in einem entsprechenden symbolischen Kontext präsentiert wird. So sind „Ort“, „Licht“, „Sprache“, „Selbstbilder“ und „Musik“ besonders bedeutungsträchtige Mittel, um die Handlungsabsichten eines Protagonisten durchscheinen zu lassen. Wenn diese – um nochmals mit D. Bordwell zu sprechen – verlaufsbezogenen Schemata in einem narrativen Film fehlten, würden die Handlungsgründe einer Figur dem Kinogänger letztlich blaß und gar völlig verborgen bleiben. Gerade die symbolische Einbettung von Intentionen erlaubt es dem Zuschauer, sich in die filmische Handlung einzuleben. So bangen wir beispielsweise um eine Figur wie Lawrence von Arabien, die wir erblicken, während ihr zugleich von anderen Figuren eine besondere Kraft zugeschrieben wird („Sprache“), und die wir daher gerne selbst wären („Selbstbilder“). Während Lawrence sein Heer mit weißem Gewand („Licht“) tagelang durch die trockene Wüste („Ort“) führt, wird seine Reise von dramatischen Klängen („Musik“) begleitet. D. Bordwell selbst demonstriert die Anwendung seiner Theorie der Schemata am Beispiel Hitchcocks Film „Fenster zum Hof“. Diese Kinoerzählung jedoch, so darf man wohl einwenden, macht das Konstruieren des Zusammenhangs schon zur Sache ihrer Protagonisten, die uns ihre Deutungsangebote quasi aus der Leinwand zuwerfen. Filme berühren aber in erster Linie durch Bilder und nicht durch Worte. Wenn D. Bordwell (1992) das Hauptgewicht auf das Rationale legt, indem er sagt: „Interpretieren bedeutet kognizieren“ (23), so vernachlässigt er auch die intuitive Verstehensbasis, die jedem Zuschauer gegeben ist. Dieser aber ist in aller Regel nicht der kühle Beobachter, der beständig Hypothesen bildet, die er prüft, akzeptiert oder verwirft. Wenn er es wäre, dann würde er die ganze Zeit „draußen“ bleiben und nicht wirklich in den Film hineinfinden. Wohl ist das Bilden von Hypothesen vermutlich die rationale Außenschicht des inneren Dialogs, doch ist die Montage von Bildern nicht mit dem Sprechen der Wortsprache identisch. Es gibt selbstverständlich eine Sprache der Bilder, aber deren Wirkung basiert darauf, daß sie die Sprachlosigkeit der Fragmente zu einem „sprechenden“ Fluß zusammenfügt.
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Es bleibt festzuhalten, daß Schemata zuschauerseits ihrer Aufgabe der Informationsverarbeitung (vgl. Wuss 1993) am besten nachkommen, wenn sie filmseits möglichst anschaulich gezeigt werden. Es ist daher für den Kinogänger weitaus leichter, die filmischen Einstellungen eines konkreten Raums im Hier und Jetzt zu erfassen, als die einer über längere Zeit und in vielfältigen Räumen verlaufenden Geschichte. Schemata sind in Hierarchien verortbar, deren Aufbaulogik jedoch klar erkennbar sein muß, wenn man Schlußfolgerungen für die Gestaltung eines Films ableiten möchte.
W IRKLICHKEITEN Um lebensfähig im Alltag zu sein, benötigen wir das Gefühl, daß wir und die Welt um uns wirklich sind. Diese Sicherheit stellt sich ein, wenn unsere Wahrnehmungen einigermaßen verläßlich andauern und nicht sogleich verschwinden, wie dies bei den Fragmenten der Fall ist. Während der Übergangszustand, den wir morgens und abends passieren, höchst irreal ist, weil er kaum in Worte gefaßt werden kann, werden im Verlauf des Tages andere Wirklichkeiten bestimmend, die wir zu allermeist sprachlich fassen können. Sie verdanken ihre Existenz dem Wirksamsein von Schemata und/oder dem „Feld der Möglichkeiten“. Die Wirklichkeiten unseres Alltagslebens konstituieren sich sowohl aus geordneten, kontinuierlichen als auch aus unstrukturierten, diskontinuierlichen Sinnesbewegungen. Beide Formen können einander abwechseln, aber auch fließend ineinander übergehen. Auf diese Weise werden die unterschiedlichen Gestalten unseres Alltagsbewußtseins hervorgebracht, die wir als Stimmungen oder Befindlichkeiten erleben. Gehen wir von dem Idealfall aus, also davon, daß der Alltag in seinem üblichen Ablauf dahinfließt, so pulsieren diese Wirklichkeiten rhythmisch und das heißt konkret: Das Zusammenspiel von Handlung und Ereignis, von Arbeit und Muße, vom zielstrebigen Erledigen anstehender Aufgaben und entspannter Tätigkeit, folgt einer bestimmten regelmäßigen Ordnung. Wenn aber nun der geordnete Rhythmus des Pulsierens von Anspannung und Entspannung außer Kraft gesetzt ist – und unser Alltag ist nie der Alltag idealer Verläufe –, dann steht uns eine Handvoll von Bewältigungsmodalitäten zur Verfügung und die ich deshalb meiner
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Verlaufsperspektive zugeordnet habe, weil die aus diesen Dispositionen sich konstituierenden Wirklichkeiten in die Zukunft hineinweisen: Es handelt sich um „Hoffnung“, „Glaube“, „Offenheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“. Mit diesen Haltungen oder Dispositionen (im herkömmlichen Sinne handelt es sich um Tugenden) schaffen wir es, den unsicher gewordenen Boden im alltäglichen Leben wieder begehbar zu machen. Sie harmonisieren oder glätten Risse und Brüche im Tagesablauf, bringen in ihrer Funktion als Schemata Ordnung und Kontinuität ins Leben, stiften also verläßliche Wirklichkeiten. Wenden wir uns nun der Situation im Kinosaal zu. V. d. Berck (2003b [1948]) vermerkt, daß „es im Verlauf einer Vorführung zahlreiche Oszillationen zwischen [den] Polen“ (112) von Realität und Illusion gibt, was besagen will, daß wir als Filmzuschauer beständig schwanken zwischen dem Hineingesogenwerden in den illusionären Raum und der Gewißheit über die Fiktionalität dieser Illusion. Manchmal, so könnte man sagen, bleiben wir dessen gewahr, daß wir im Kinosaal sind, manchmal vergessen wir diese Wirklichkeit aber auch, weil wir uns in die Filmwirklichkeit begeben haben. Nach meiner Theorie sind es die o.g. Dispositionen, mit deren Hilfe wir es immer wieder erreichen, nicht aus der filmischen Realität hinauszugleiten, sondern vielmehr aus der Kinosaal-Wirklichkeit immer wieder in den Film zurückzukehren. Vor allem ist es das Gefühl der Liebe, das uns in Gestalt des kurzen Glücks in das Leinwandgeschehen einbindet. Filmtheoretiker haben die Frage nach dem Realitätsgehalt des Kinos schon gestellt, als die laufenden Bilder noch in den Kinderschuhen steckten. Wie wir zuvor sehen konnten, ist der anthropologische Begriff der Bewegung oft aufgenommen worden, und der abstrakte Terminus des Schemas hat sich zumindest für die Schule der Neoformalisten im Diskurs etabliert. Alle Filmtheoretiker sind sich jedoch darüber einig, daß die Wirklichkeit des Films nicht dieselbe ist wie die im Alltag vorwaltende. Referieren wir kurz einige Stellungnahmen von Autoren: Für den Italiener Cesare Musatti (2004 [1950]) wird die „kinematographische Situation“ (135) im Unterschied zur Alltagswelt „vom Zuschauer nur als eine Art schwächere Wirklichkeit anerkannt“, weil „ein Abstand zwischen ihr und der tatsächlichen Realität herrscht“ (138); wie v. d. Berck (2003b [1948]) vermerkt, ist die Realität im Kinosaal „nicht ganz die unsere“ (125). Für H. Münsterberg (1996 [1916]) liegt die filmische „Abweichung von der Wirklichkeit im Dienste menschlichen Verlangens und menschlicher Ideale“ (76). Das
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Bildmaterial der Leinwand bietet laut Münsterberg ähnlich wie Phantasie und Traum ein Medium, das die Aufgabe hat, den Zuschauer – durchaus im Sinne der klassischen Bildung – zu festgelegten Zielen hin zu erziehen. Für amerikanische Vertreter der neoformalistischen Filmschule ist – in Anlehnung an ältere russische Filmtheorien – gerade der Grad der Abweichung von der alltäglichen Wirklichkeit Maßstab für die Qualität künstlerischer Darstellung. So schreibt Kristin Thompson (1995): „Die [Film-]Kunst verfremdet die gewohnte Wahrnehmung der Alltagswelt, der Ideologie [und] anderer Kunstwerke, indem Material aus diesen Quellen entnommen und transformiert wird. Die Transformation geschieht dergestalt, daß das Material in einen neuen Kontext gestellt und dadurch in ungewohnte formale Muster eingebunden wird“ (31).
Weiter meint K. Thompson: „Die Werke, die wir als einzigartig betrachten und für die wertvollsten halten, sind meist jene, die entweder die Realität besonders stark verfremden oder aber Konventionen verfremden, die zuvor von anderen Kunstwerken etabliert wurden – oder gar beides“ (32). S. Kracauer (1964) sieht die Stärke des Films gerade darin, in der materiellen Welt bisher Ungesehenes sichtbar zu machen und dem Kinogänger damit ungewohnte Bilder vorzuführen: „Indem der Film die physische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war [...]. So merkwürdig es klingt: Straßen, Gesichter, Bahnhöfe usw., die doch vor unseren Augen liegen, sind bisher weitgehend unsichtbar geblieben“ (388).
Wie auch André Bazin lehnt S. Kracauer „die Kontrolle des Filmemachers über die Reaktionen des Zuschauers ab“ (Borstnar, Pabst, Wulff 2002: 214) und wendet sich damit kritisch gegen das HollywoodKino, das mit seinen Techniken der Illusion sowie der Erzähl- und Montageformen die Manipulation der Wahrnehmung des Zuschauers intendiert. Die Filmtheoretiker Ralph Stephenson aus Neuseeland und Jean R. Debrix (1969) aus Frankreich gehen in eine ähnliche Richtung, indem sie im Film ein Mittel zur gezielten Beeinflussung unserer Aufmerksamkeit sehen. Anders als im Alltag, wo das Sehen von unserer Intentionalität abhängig sei, lenke im Kino das Gezeigte unsere Intentionalität:
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„It should be noted that, in the real world, vision is controlled by attention, but in the cinema it is the other way round: attention is controlled by vision. In everyday life we see what we attend to; in the cinema we attend to what we see – that is, what the film director chooses to show us. In fact in a dozen different ways (not only by cutting, but by camera movement, by setting, by lighting, by movement of actors, by composition, by colour, and so on) it is part of the film-makers art to determine what the viewer will see“ (72).
Indem der Kinogänger von einem festen Sitzplatz aus sieht, was ihm der Filmemacher zeigen möchte, entfällt für ihn die Notwendigkeit eigener Körperbewegungen fast vollständig. Weder Füße, Rumpf, Arme noch Kopf verändern ihre Position wesentlich, während der technische Apparat die bewegten Bilder vorführt. Gerade dieser aber hat sich im Lauf der Filmgeschichte sehr stark verändert, und die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Alltag und Kinofiktion erhöht. Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier schreibt 2001 zum damaligen Stand der Entwicklung: „Mit den technischen Veränderungen werden auch Kamerablicke möglich, die kaum noch Entsprechungen in der außerfilmischen Realität des Betrachters haben. Sie liegen in der Kombination mehrerer Komponenten: Die Synthese von Schwenk und Zoom, oder Kamerafahrt und Zoom kann dabei gleichlaufend sein, d.h. die Bewegungen von Fahrt und Zoom sind gleichlaufend und einander ergänzend. Sie können aber auch gegenläufig benutzt werden: bei einer Kamerafahrt auf ein Objekt zu kann gleichzeitig ein Zoom eingesetzt werden, der ein Sich-Entfernen vom Objekt suggeriert [...] Deutlich wird damit jedoch, dass sich mit der Veränderung der filmischen Techniken auch der Blick verändert. Mehr und mehr wird er aus seiner dem Zuschauerblick analogen Konstruktion herausgenommen und in neue technische Abbildverhältnisse transformiert“ (70).
Neben den technischen Innovationen gibt es drei weitere wesentliche Merkmale zur Unterscheidung filmischer und alltäglicher Wirklichkeiten. Sie wurden seit Beginn der Filmtheorie herausgearbeitet und sind besonders prägnant von Rudolf Arnheim (2002 [1932]) mit Rückgriff auf gestaltpsychologische Erkenntnisse benannt worden: erstens die Begrenztheit des Bildfeldes der Leinwand, zweitens die Zweidimensionalität des Filmbildes und drittens die Fragmentierung raumzeitli-
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cher Kontinuität durch die Montage11. Letzteres illustrieren R. Stephenson und J. R. Debrix (1969) folgendermaßen: „We know by experience that space and objects in the real world exist before we see them and continue to exist after we have lost sight to them. In the cinema, by means of shot-change, we are continually jumping from one view to another. We are transported in a flash from the house to the street, from the town to the country, and from the present to the past. Different parts of space appear before our eyes discontinuously, and objects on the screen appear and disappear without any predetermined spatial relationship. In the cinema we accept this as a matter of course. It is an artistic convention to which we are so accustomed that we are hardly conscious of it“ (64).
Am Ende dieses Abschnitts angelangt, möchte ich kurz zurückblicken. Ich meine gezeigt zu haben, daß es möglich ist, den Weg des Zuschauers „in den Film“ nicht nur über Stufen und Perspektiven, sondern auch – in abstrakterer Form – wahrnehmungstheoretisch zu beschreiben, wie ich es mit den fünf Kategorien „Fragmente“, „Bewegungen“, „Feld der Möglichkeiten“, „Schemata“ und „Wirklichkeiten“ getan habe. Da dieser Ansatz meiner „kleinen Philosophie der Bewegung in den Film“ keiner speziellen Fachdisziplin verpflichtet ist, hat er möglicherweise eine Brückenfunktion dergestalt, daß sich Vertreter unterschiedlichster filmtheoretischer Richtungen, die derzeit selbst die Schwierigkeiten einer konstruktiven fachinternen Diskussion beklagen, auf diesem Boden gemeinsam treffen könnten. Die Hauptbegriffe des hier vorgestellten Ansatzes wollten die Wirklichkeitssphären von Alltag und Film miteinander verklammern, ohne freilich einer von beiden ihren besonderen Status zu bestreiten. Nach meiner Ansicht bezieht der Film einen wesentlichen Teil seiner Sogwirkung eben daraus, daß er nicht darauf verzichten kann, Elemente des Alltags-Erlebens in seine Konstruktionsprinzipien zu integrieren. Womöglich ist es nicht völlig abwegig, die in diesem Kapitel vorgestellten wahrnehmungstheoretischen Grundüberlegungen als metatheoretischen Rahmen des vorangestellten Stufen- und Perspektivenkonzepts anzusehen. Seine hauptsächliche Intention liegt jedoch darin, ein filmtheoretisches Vokabular anzubieten, das den Diskurs bereichern könnte.
11 Siehe auch Wallon (2003b [1947]: 96), Stephenson, Detrix (1969: 34).
4. Empirische Analyse ausgewählter Filmbeispiele
In diesem Kapitel lade ich den Leser ein, mit mir die zuvor in die Diskussion eingebrachten filmischen Einstellungen im Korpus von 50 ausgewählten Filmen zu entdecken und mit eigenen Seherfahrungen zu vergleichen. Vor allem aber möchte ich hier anhand ausführlicher Protokolle meiner Filmsichtung evident machen, daß den theoretisch postulierten filmischen Einstellungen empirisch beobachtbare FilmPhänomene entsprechen.
S ICHTUNG DES M ATERIALS Insgesamt habe ich 50 Filme1 untersucht und mein Interesse ausschließlich darauf gerichtet, wie jeweils der „Weg in den Film“ gebahnt wird. Das Untersuchungsmaterial wurde aus drei Filmlisten und einer DVD-Sammlung zusammengestellt. Es handelt sich dabei um: 1. Die aktuelle Liste des American Film Institute2, welche die Bewertungen von internationalen Organisationen des Metiers, von Filmschaffenden und angesehenen Filmkritikern alle zehn Jahre in einem Ranking von insgesamt 100 Titeln zusammenfaßt. Das AFI wurde 1965 als eine unabhängige und gemeinnützige Einrichtung gegründet. Die Jury rekrutiert sich aus 1500 Mitgliedern. Die mir vorliegende Liste stammt aus dem Jahre 2007. Die Bewertungskriterien sind: Filmpreise, Medienresonanz, Popularität (d.h. Verkaufserfolg), filmgeschichtliche Relevanz (z. B. narrative oder technische Innovativität), 1
Sämtliche Filme sind als DVD käuflich zu erwerben. Nicht in der jeweiligen DVD angegebene Informationen habe ich der International Movie Database entnommen. Vgl. www.imdb.com (20.05.2009).
2
Vgl. www.afi.com (7.07.2009).
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kulturelle Bedeutung und Signifikanz für die amerikanische Kultur3. Von mir wurden die ersten 15 Titel des AFI-Rankings ausgewählt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Citizen Kane [1941] (Regie: Orson Welles) The godfather (dt.: Der Pate) [1972] (R.: Francis Ford Coppola) Casablanca [1942] (R.: Michael Curtiz) Raging bull (dt.: Wie ein wilder Stier) [1980] (R.: Martin Scorsese) Singin’ in the rain [1952] (R.: Stanley Donen, Gene Kelly) Gone with the wind (dt. Vom Winde verweht) [1939] R.: Victor Fleming) Lawrence of Arabia [1962] (Regie: David Lean) Schindlers Liste [1993] (R.: Steven Spielberg) Vertigo (dt. Zusatz: Aus dem Reich der Toten) [1958] (R.: Alfred Hitchcock) The wizard of the Oz (dt. Der Zauberer von Oz) [1939] (R.: Viktor Fleming) City lights (dt. Lichter einer Großstadt) [1931] (R.: Charles Chaplin) The searchers (dt. Der schwarze Falke) [1956] (R.: John Ford) Star wars (dt. Episode IV: Krieg der Sterne – Eine neue Hoffnung) [1977] (R.: George Lucas) Psycho [1960] (R.: Alfred Hitchcock) 2001: A space 0dyssey [1968] (R.: Stanley Kubrick)
2. Die Liste des Deutschen Filmpreises, der von der Bundesrepublik Deu 1951 vergeben wird und Kernstück der hiesigen Filmförderung ist. Bis zum Jahre 2004 bestand die Kommission zur Auswahl der besten inländischen Filme neben Fachleuten auch aus Vertretern der Politik und der Kirchen. 2003 wurde die Deutsche Filmakademie gegründet, die zwei Jahre später eine Jury einsetzte, welche die bisherige Auswahlkommission ersetzte. Die Akademie besteht gegenwärtig aus ca. 750 Mitgliedern, denen die Nominierung obliegt4. Bei der folgenden Auswahl der 15 preisgekrönten deutschen Spielfilmproduktionen 3
Vgl. http://de.wikipedia.org.wiki/American_Film_Institute (23.04.2009, S.
4
Vgl. http://de.wikipedia.org.wiki/Deutscher_Filmpreis (31.05.2009).
29).
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zwischen 1951 und 2009 war der Bekanntheitsgrad ausschlaggebend. Außerdem wurde auf eine möglichst gleichmäßige chronologische Streuung geachtet. Bei den 15 ausgewählten Filmen dieser Liste handelt es sich um: 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.
Das doppelte Lottchen [1950] (R.: Josef von Báky) Der Hauptmann von Köpenick [1956] (R.: Helmut Käutner) Die Brücke [1959] (R.: Bernhard Wicki) Abschied von gestern [1966] (R.: Alexander Kluge) Katzelmacher [1969] (R.: Rainer Werner Faßbinder) Die Blechtrommel [1979] (R.: Volker Schlöndorff) Rosa Luxemburg [1985] (R.: Margarethe von Trotta) Der Himmel über Berlin [1987] (R.: Wim Wenders) Kaspar Hauser [1993] (R.: Peter Sehr) Comedian Harmonists [1997] (R.: Joseph Vilsmaier) Die innere Sicherheit [2000] (R.: Christian Petzold) Nirgendwo in Afrika [2001] (R.: Caroline Link) Good Bye, Lenin! [2003] (R. Wolfgang Becker) Das Leben der Anderen [2006] (R.: Florian Henckel von Donnersmarck) 30. Auf der anderen Seite [2007] (R.: Fatih Akin) 3. Die Empfehlungsliste für Filme, die vom Institut für Medienwissenschaften an der Philipps-Universität-Marburg im Internet für Studierende bereitgehalten wird5. Die Liste versteht sich zwar nicht als Kanon der Filmgeschichte im strengen Sinne, enthält aber dennoch nur Filme, „denen eine besondere epochen-, genre- oder stilspezifische Bedeutung zukommt und die daher besonders häufig in der Filmhistoriographie oder in der filmwissenschaftlichen Fachliteratur behandelt werden“6. Aus dieser Liste wählte ich solche Spielfilme ab 1922 aus, die für das Studium obligatorisch sind. Von diesen fanden sich nur 12 Filme auf der Marburger Liste, die nicht bereits auf der AFI-Liste stehen. Es sind dies:
5
Empfehlungsliste als download unter http://de.Medienwissenschaften (31.05.2009).
6
Vgl. Vorbemerkung dieser Liste.
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31. Nosferatu [1922] (R.: Friedrich Wilhelm Murnau) 32. Bronenosets Potemkin (dt. Panzerkreuzer Potemkin) [1925] (R.: Sergey Eisenstein) 33. Metropolis [1927] (R.: Fritz Lang) 34. M – Eine Stadt sucht einen Mörder [1931] (R.: Fritz Lang) 35. Modern Times (dt.: Moderne Zeiten) [1936] (R.: Charles Chaplin) 36. To be or not to be (dt.: Sein oder Nichtsein) [1942] (R.: Ernst Lubitsch) 37. High Noon (dt.: 12 Uhr mittags) [1952] (R.: Fred Zinnemann) 38. A bout de souffle (dt.: Außer Atem) [1960] (R.: J.–L. Godard) 39. Händler der vier Jahreszeiten [1972] (R.: R. W. Faßbinder) 40. Jaws (dt.: Der weiße Hai) [1975] (R.: Steven Spielberg) 41. Blue Velvet [1986] (R.: David Lynch) 42. Pulp Fiction [1994] (R.: Quentin Tarantino) 4. Die „Cinemathek“ der Süddeutschen Zeitung, die im Jahre 2005 mit einer DVD-Sammlung von 100 Kinofilmen bekannter Regisseure startete. Sie wurde von der SZ-Redaktion im Hinblick auf eine große Zielgruppe erstellt, wenngleich man nicht sagen kann, daß hier ausschließlich kommerzielle Interessen bestimmend waren7. Aus diesem Angebot habe ich die ersten acht der in dieser Reihe aufgenommenen Filme ausgewählt. Auf diese Weise erreichte ich das von mir angestrebten Untersuchungskorpus von insgesamt 50 zu sichtenden Filmen: 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50.
7
Der Leopard [1963] (R.: Luchino Visconti) Heat [1995] (R.: Michael Mann) Rio Bravo [1959] (R.: Howard Hawks) Lost Highway [1997] (R.: David Lynch) Der Partyschreck [1968] (R.: Blake Edwards) Fitzcarraldo [1982] (R.: Werner Herzog) Die drei Tage des Condor [1975] (R.: Sydney Pollack) Tiger&Dragon [2000] (R.: Ang Lee).
Vgl. Büsser (2008): Über den deutschen DVD-Markt. In: Jungle World Nr. 47 vom 20. November 2008 (http://jungle-world.com/artikel/2008/47/30 468.html.
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Für die Sichtung des Materials begab ich mich selbst in die Rolle eines Kinogängers, der den jeweiligen Film zum ersten Mal sieht, und ging dann so vor, daß ich eine zeitliche Markierung8 dort setzte, wo mir das Auftreten einer filmischen Einstellung9 erstmalig auffiel. Freilich ist diese isolierte Laborsituation, in die ich mich mit meinem DVD-Player zum Zweck der Analyse begeben hatte, wahrnehmungspsychologisch weit entfernt von den Rezeptionsbedingungen eines Kinosaals. Das bedeutet aber nicht, daß man die von mir auf einem kleinen Monitor identifizierten filmischen Einstellungen als Kinozuschauer nicht wahrnehmen würde. Der Unterschied besteht darin, daß man den DVD-Player stoppen oder auch vor- und zurücklaufen lassen kann. Währenddessen ist man im Kino dem kontinuierlichen Fluß der Vorführung ausgesetzt und wird auf diese Weise in den Film hineingezogen. Bei der Sichtung des Materials zeigte sich ein Übungseffekt dahingehend, daß ich die zuvor nach meinen theoretischen Prämissen konstruierten Wahrnehmungsschemata immer besser und schneller im Bildmaterial ausfindig machen konnte. Zugleich wurde ich von Mal zu Mal sicherer, daß sich mit dem im zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgestellten Analyseinstrumentarium tatsächlich gut arbeiten läßt. Trotzdem ergab sich die Notwendigkeit, einige wenige Korrekturen am ursprünglichen Konzept vorzunehmen, um es meinen nunmehrigen Erfahrungen anzupassen. Um mein Verfahren zu veranschaulichen: Vom ersten Bild des Filmes an hatte ich, mit der Liste der 25 filmischen Einstellungen im Hinterkopf, darauf zu achten, wann welche dieser Einstellungen sichtbar wird. Es läßt sich sagen, daß durchschnittlich etwa 20 von ihnen in der ersten Viertelstunde eines Films registriert werden konnten, so daß leicht vorstellbar ist, daß ich meine Hauptarbeit auf die Analyse dieser Minuten des Filmanfangs zu konzentrieren hatte. Ich stoppte den Film immer dann, wenn ich eine Einstellung identifiziert hatte, betrachtete das Standbild und machte mir Notizen. So ergab es sich, daß ich allein für die Bearbeitung der ersten fünfzehn Minuten des Films durchschnittlich zwei bis drei Stunden benötigte, zumal ich nach Bedürfnis 8
Es ist darauf hinzuweisen, daß die Timecodes u. U. dann verzerrt werden, wenn man den Film über den Computer ablaufen läßt (vgl. Bienk 2006: 170).
9
Zum Begriff „Filmische Einstellung“ siehe in Kap. 2 „Das Entstehen von Wirkung“.
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Pausen einlegte, um das Gesehene emotional und mental zu verarbeiten. Daß ich ausschließlich das erstmalige Auftreten einer filmischen Einstellung vermerkte, hat pragmatische Gründe: Selbstverständlich wäre es auch möglich gewesen, einen einzelnen Film, sagen wir „Citizen Kane“, von vorn bis hinten nach meiner Methode durchzugehen. Dann hätte es sich aber um die Analyse eines Films gehandelt, und meine Arbeit hätte einen entsprechenden Titel tragen müssen wie etwa „Wahrnehmungsschemata und filmische Einstellungen in Orson Well´s Citizen Kane“. Auch für dieses Vorgehen wäre ein zeitlicher Aufwand von einigen Wochen erforderlich gewesen, und bereits für die bloße Verschriftlichung der Resultats wäre ein Buch von voluminösen Umfang die Folge geworden. Meine Absicht war es aber, anhand einer Stichprobenanalyse (50 Kinoproduktionen) das Auftreten von Einstellungen zu untersuchen, so daß ich Arbeitszeit und Seitenumfang auf die Analyse eben dieser 50 Spielfilme verteilen konnte. Die beschriebene Herangehensweise erscheint mir aus inhaltlichen Gesichtspunkten jedoch nicht illegitim zu sein, weil mit der Registrierung des jeweils ersten Auftretens einer Einstellung zugleich die auf dieser Einstellung beruhende Wirkung auf den Zuschauer festgehalten wird. Dies hat zur Folge, daß nach der Identifizierung aller im Film einmal sichtbar gewordenen Einstellungen vollständig beschrieben werden, mit Hilfe welchem Instrumentarium der jeweilige analysierte Film seine Zuschauerwirkung erzielt. Nur die Häufigkeit des Vorkommens der einzelnen Einstellungen – diese wäre nur bei der Gesamtanalyse eines einzelnen Films möglich und notwendig gewesen – konnte nicht berücksichtigt werden. Freilich hat sich die Frage nach Subjektivität bzw. Objektivität meines Analyseverfahrens zu stellen. Dazu ist erstens zu sagen, daß es insofern sehr subjektiv ist, als ich selbst die „Versuchsperson“ war. Zweitens aber gilt es auch unter dieser Voraussetzung zu differenzieren: Während die filmischen Einstellungen von Stufe 1 („Zielstrebige Bewegung“ bis Stufe 13 „Spiel“) in der Hinsicht vergleichsweise „objektiv“ erkennbar sind, daß ich denke, meine Ansicht lasse sich intersubjektiv überprüfen, erfordern die Stufen 14 „Vorstellungsbilder“ bis 25 „Liebe“ ein viel größeres Maß an subjektiver Beurteilung, insofern hier inhaltliche Deutungsarbeit zu leisten ist. Um zwei Beispiele zu bringen: Die ruhige und zielstrebige Annäherung der Kamera an einen Gegenstand im Raum z. B. an einen Felsen, dem Verlauf eines Straßenpflaster oder einer Decke (Stufe 1) wird mit hoher Wahrschein-
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lichkeit von jedem anderen Beobachter ähnlich wie von mir als „ruhig und zielstrebige Annäherung“ erkannt werden. Anders verhält es sich aber, wenn bei der Identifizierung einer Einstellung individuelle Wertungen ins Spiel kommen. Die Kategorisierung einer Filmszene beispielsweise unter die Rubriken „Glaube“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“ ist vielmehr vom Empfinden der jeweiligen Person und ihren subjektiven Maßstäben abhängig.
L EITFRAGEN Vorab ist an meine Prämisse zu erinnern, wonach die filmische Illusion dadurch hergestellt wird, daß „Einstellungen“, die im Zuschauer aus Kindheit und Alltag wahrnehmungsdominierend sind, im Bildmaterial aktiviert werden. Ausgehend von dieser Vorannahme wollte ich überprüfen, ob und in welcher Weise die Illusionserzeugung in den betrachteten Spielfilmen stattfinden würde. Es interessierte mich dabei zunächst, ob die filmischen Einstellungen, deren Existenz ich theoretisch postuliert hatte, tatsächlich in Kinofilmen zu beobachten sind und, so dies denn der Fall wäre, in welcher Reihenfolge, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Zeitspanne sie erstmalig auftreten. Eine weitere Aufmerksamkeit galt der, wie ich es nennen möchte, energetischen Dichte: Jeder filmischen Einstellung hatte ich eine Ziffer zur Bestimmung ihrer Wirkungsquantität beigegeben10,11, welche den Grad ihres Beitrags am Zustandekommen der filmischen Illusion indiziert. Aufgrund dieser Zuordnung hat beispielsweise die Einstellung in jeder Perspektive „sich annähern“ einen wesentlich niedrigeren Wirkungsgrad als die Einstellung „sich einigen“. Am Ende dieses Kapitels finden sich Graphiken, die diese Verhältnisse illustrieren. In der folgenden Abbildung ist dargestellt, wie sich ein – faktisch allerdings nicht zu erwartender und auch von mir nie beobachteter – idealtypischer Verlauf zeigen würde.
10 Vgl. gleichnamigen Abschnitt im 2. Kapitel. 11 Die numerische Quantifizierung der Stufenenergie behauptet keine arithmetische Strenge in dem Sinne, daß etwa die Einstellung „Liebe“ (Wirkfaktor 25 tatsächlich 25) tatsächlich genau 25mal intensiver wäre als die Einstellung „Zielstrebige Bewegung“ (Wirkfaktor 1).
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Abb. 4: Idealtypischer Verlauf der filmischen Einstellungen und ihrer Wirkungen
Wie gesagt, dieses rein postulierte theoretische Modell, wonach die Chronologie des Films exakt parallel so zur Architektur meines Stufenkonzepts verläuft, daß die Einstellungen 1 bis 25 genau in dieser Reihenfolge erstmalig auftreten, findet sich in den Filmen nicht. Dort ordnen sich die Stufen natürlich nach einem System an, das von der Absicht des Drehbuchautors und vor allem von den Intentionen des Regisseurs bestimmt ist. Eine weitere Leitfrage, der ich in meiner Untersuchung nachgehe, ist die, ob es im gesichteten Korpus der 50 Filmproduktionen bestimmte Regelmäßigkeiten in der Abfolge gibt. Sodann möchte ich ermitteln, ob bei den ausgewählten Filmen der Einstieg in die Illusion in den ersten fünf, zehn oder fünfzehn Minuten erfolgt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß eine baldige und rasche Herstellung des Illusionsraums dem Kinogänger schon von Anfang an in das Leinwandgeschehen einbindet. Die Medienwissenschaftlerin Alice Bienk (2006) vermerkt hierzu: „Aus wahrnehmungspsychologischer Sicht ist die Aufmerksamkeit in den ersten Minuten besonders hoch; die ersten Einstellungen müssen dementsprechend eine Sogwirkung erzielen, die den Zuschauer ins Geschehen hineinzieht und bis zum Schluß fesselt“ (94)
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Analog möchte ich dazu formulieren: Je eher und je mehr die filmischen Einstellungen zu Beginn eines Films erscheinen, desto größer ist ihre Sogwirkung12. Bei der Festlegung der Zeitintervalle (5, 10 oder 15 Minuten) ließ ich mich von zwei Überlegungen leiten: Zum einen hat der Zuschauer im allgemeinen ein aus seiner Alltagswelt mitgebrachtes Zeitgefühl: Die fünf oder zehn Minuten oder die Viertelstunde sind für ihn Vorstellungs- und Bezugsgrößen, mit denen er täglich operiert („Ich komme in fünf Minuten an“; „ich bleibe noch zehn Minuten“; „es dauert noch eine Viertelstunde“). Üblicherweise unterscheidet man drei Hauptstadien im dramaturgischen Verlauf eines Spielfilms zwischen Exposition des Themas, Durchführung und Auflösung13. Für Syd Field (1991, 1998), der Drehbuchautor ist, hat die zweite Phase etwa doppelt so lang wie die erste und die dritte zu dauern. Nach dieser Einteilung ist die Expositionsphase eines zweistündigen Kinofilms also nach 30 Minuten Spielzeit beendet. Michaela Krützen (2004: 110 ff.) hingegen, Regisseurin und auch Drehbuchautorin, gibt für die einzelnen Phasen keine bestimmte Zeitlänge vor, sondern orientiert sich an den Schwerpunkten des erzählten Verlaufs. Folglich legt sie auch für die Expositionsphase keine zeitlichen Grenzen fest. Für meine Sichtung des Materials entschied ich mich dafür, für die Initialphase des Films ein Viertel seiner Gesamtlaufzeit anzusetzen und bei der statistischen Auswertung eine filmische Einstellung auch dann noch zu registrieren, wenn sie bis maximal fünf Minuten hinter dem Expositionsende liegt.
AUSWERTUNGSVERFAHREN Die Resultate meiner Filmanalysen werden folgendermaßen präsentiert: Zuerst werden die Analyseresultate des jeweils ersten Films aus jeder der oben genannten vier Listen (AFI, Deutscher Filmpreis, Mar12 Es wäre für eine Anschlußarbeit interessant, die folgende Hypothese zu prüfen: Je eher der Sog entsteht, desto länger bleibt die Sogwirkung während des Filmverlaufs erhalten. 13 Für diese Einteilung gibt es auch andere Begrifflichkeiten wie „Exposition, Konfrontation, Auflösung“ (Field 1991, 1998: 41; Keane 2002: 108) oder „Trennung, Prüfung, Ankunft“ (Krützen 2004). Die Filmtheorie lehnt sich hier freilich eng an die allgemeine Erzähltheorie an.
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burger Filmliste und DVD-Sammlung der SZ) als Beispiel vorgestellt. Bei diesen Filmen handelt es sich also um: Liste 1: Citizen Kane [USA 1941] (R.: O. Welles) (Lfd. Nr. 1) Liste 2: Das doppelte Lottchen [D 1950] (R.: J. v. Báky) (Lfd. Nr. 16) Liste 3: Nosferatu [D 1922] (R.: F. W. Murnau) (Lfd. Nr. 31) Liste 4: Der Leopard [I 1963] (R.: L. Visconti) (Lfd. Nr. 41) Nach dem Protokoll meiner Materialsichtung zu den jeweiligen Beispielfilmen folgen stets fünf Graphiken, welche die folgenden Fragen beantworten bzw. folgende Zusammenhänge veranschaulichen sollen: 1. Frage: Welche der filmischen Einstellungen kommen überhaupt vor? 2. Frage: In welcher Reihenfolge (Rangplatz) kommen die filmischen Einstellungen – unter Berücksichtigung ihrer Wirkfaktoren – erstmalig vor? 3. Frage: Zu welchem Zeitpunkt des Films treten die jeweiligen Einstellun- gen erstmalig auf? 4. Frage: Wieviele der filmischen Einstellungen (in Prozent) werden in welchem Zeitintervall (0-5 min., 5:01 bis 10 min., 10:01 bis 15 min.) erstmalig sichtbar? 5. Frage: Welches Zeitintervall ist mit welcher Wirkfaktoren-Größe der erstmals auftretenden filmischen Einstellungen besetzt? (Der Einfachheit halber werden die Wirkfaktoren in Wirkstufen rubriziert: Raumperspektive (1-5) = „sehr niedrig“, Körperspektive (6-10) = „niedrig“, Ereignisperspektive (11-15) = „mittel“, Symbolperspektive (16-20) = „hoch“ und Verlaufsperspektive (21-25) = „sehr hoch“). Nachdem auf diese Weise die Resultate der Analyse jeder der vier ausgewählten (Listen-)Beispielfilme vorgestellt worden ist, folgt eine Deutung der Ergebnisse. Um dem Leser den Blick auf die Auswertung der jeweiligen Liste zu ermöglichen sowie ihm das Ergebnis der Gesamtliste aus den 50 Filmen darzustellen, werden im Anhang Graphiken präsentiert, welche sowohl die einzelnen Listen wie auch die Gesamtliste nach denselben Gesichtspunkten wie oben aufschlüsseln. Auch hier wird eine Deutung der Ergebnisse vorgenommen.
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E RGEBNISSE Beispielfilm 1: „Citizen Kane“ (USA 1941) (Regie: Orson Welles) (Lfd. Nr. 1) Figuren A John Foster Kane (Orson Welles) B Susan Alexander Kane (Dorothy Comingore) Spielzeit: 119 Minuten Filmische
Stufe/
Einstellung
Persp.
Szene und ggf. Kommentar
Timecode Hh:mm:ss
Die Kamera verweilt für einige Momente bei einem Verbotsschild „Gegebenheit“
2/I
(„No Tres-passing). Es hängt an dem Drahtgitter eines Zaunes, hinter dem
00:00:36
man keine Konturen des dahinterliegenden Geländes erkennen kann.
Die Kamera zeigt hinter dem die Kamera zeigt hinter dem hohen Eingangstor das ornamentierte „K“ als Initiale des „Raumbild“
4/I
Besitzers Kane. Es handelt sich offen-
00:01:08
sichtlich um ein sehr großes Anwesen, weil in der Ferne, auf einem Berg gelegen, das Lustschloß zu sehen ist. Die getragene, düster romantische Orchestermusik unterstreicht die geheimnisvolle Atmosphäre: Das Schloß mit seinen Türmen erinnert an die Archi„Musik“
5/IV
tektur vergangener Zeiten. Nur ein
00:01:11
Fenster ist erleuchtet, und Nebel zieht in die Dämmerung ein. Im Vordergrund sitzen zwei exotischanmutende Äffchen auf den Stangen eines Käfigs. „Rhythmus“
5/III
Vor einer Anlegestelle auf einem Gewässer, in dem sich im Lichtspiel das
00:01:23
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Schloß spiegelt, sind zwei venezianische Gondeln zu sehen. Diese erscheinen mir als beunruhigende Symbole eines totgeweihten Lebens. Ich achte auf meine Bauchatmung, um mich für jetzt und die kommenden Bilder zu beruhigen Als in einer weiteren Annäherung der Kamera an das Schloß eine zweiteilige Zugbrücke zu sehen ist, fällt mir das „Vorstellungsbilder“
4/III
Bild einer Burg aus einem PhantasieFilm ein. Dort wurde in einer Szene
00:01:31
die schwere Zugbrücke nach oben gezogen, um die Bewohner der Burg vor ihren Angreifern zu schützen.
Die Kamera hat sich seit ihrer ersten Position hinter dem Gitterzaun lang„Zielstrebige Bewegung“
1/I
sam und zielstrebig dem beleuchteten Fenster des Schlosses angenähert, das
00:01:40
immer an der gleichen Bildstelle zu sehen bleibt. Die Kamera zeigte bisher aus verschiedenen Blickwinkeln unterschied„Positionsänderungen“
3/I
liche Gegenstände der Schloßumgebung: u.a. einen griechischen Tem-
00:01:48
pel, tropische Bäume, eine Sitzbank und einen Golfplatz. Nachdem auf dem gesamten Bilderweg zum riesigen Schloß weitere Objekte zu sehen waren, die den Eindruck gelebter Träume erweckten, die ihre Bedeutung verloren haben, wird erstmals das „Ort“
1/IV
beleuchtete Fenster von innen heraus gezeigt. Es kommt mir so vor, als wäre dieses weit entrückte als auch massiv geschützte Innere des Schlosses jener Ort, an dem die Ereignisse der Geschichte sich abspielen werden.
00:02:09
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As offene Hand, in der sich eine Glas„Hände“
3/II
kugel befindet, wird in Großaufnahme
00:02:23
gezeigt As Mund wird in Detailaufnahme ge„Mund“
5/II
zeigt. Während er seine Lippen be-
00:02:24
wegt, spricht er das Wort: Rosebud.
„Figurenbeobachtung“
Die Blicke bleiben in Kontakt mit einer 2/III
Krankenschwester, wie sie durch eine
00:02:30
Tür den Raum betritt Als die Schwester im dunklen Raum As Hand auf seinen Brustkorb legt und dann die Decke über seinen Kopf zieht, „Licht“
2/IV
erkenne ich, daß er gestorben ist; denn der Raum ist trotz des durch Fensters
00:02:48
einfallendes Tageslicht so dunkel, daß ich nicht einmal das Gesicht der Schwester erkennen kann. Während die Bilder einer Wochenschau As Landbesitz „Kubla Khan“ „Sprache“
3/IV
zeigen und der Sprecher den Namen
00:03:25
„Xanadu“ (As Schloß) ausspricht, wird der herrschaftliche Besitz gezeigt.
„Kreisbewegung“
5/I
Die Kamera beginnt aus der Vogelperspektive As Traumschloß zu umkreisen.
00:03:33
Unterschiedliche Kamerapositionen zeigen, wie aufwendig die Bauarbeiten „Spiel“
3/III
für „Xanadu“ waren und zu welchem
00:03:47
sprichwörtlich grandiosem Ergebnis sie geführt haben. Als ich vom Sprecher der Wochenschau „Selbstbilder“
4/IV
höre, daß „Xanadu“ eine immense Kunstsammlung birgt, wäre ich auch gerne A, der diese Schätze besitzt.
00:04:00
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Als Zuschauer bin ich für einen Moment glücklich, als ich zwei Giraffen in „Liebe“
5/V
einem Gehege aus As Besitz sehe. Denn ich liebe diese Tiere mit ihrem
00:04:09
langen Hals, ihren entspannten, eleganten Körperbewegungen. Als weitere exotische Tiere gezeigt werden, die A auf sein Land gebracht „Offenheit“
3/V
hatte, werde ich neugierig, welche an-
00:04:18
deren interessanten Dinge er noch wohl erworben hat.
Als ich höre, daß seit dem Bau der Pyramiden sich kein Mensch ein kostspie„Glaube“
2/V
ligeres Bauwerk errichtet hat, glaube ich, daß alles gut wird, weil es doch
00:04:31
nur von der Macht dieses Einen, diesem göttlichen A abhängt. „Augen“
4/II
As Augen werden auf einer Zeitung in Großaufnahme gezeigt.
00:04:59
Nachdem der Leichnam As aus der Kapelle seines Schlosses getragen wurde und nun Schlagzeilen von Ta„Hoffnung“
1/V
geszeiten eingeblendet werden, die As
00:05:08
Tod melden, hoffe ich, daß die Welt auch ohne As Allmacht gut weiterregiert wird.
Als ich sehe, daß A auch Ozeandampfer erworben hat, denke ich, daß es „Gerechtigkeit“
4/V
richtig und gerechtfertigt ist, daß A in
00:05:52
seinem unermeßlichen Reichtum auch über die Meere herrscht. Der Hinterkopf eines Mitgliedes des Untersuchung-ausschusses ist einige „Haut“
2/II
Momente im Bildvordergrund zu sehen, so daß man glaubt, ihn berühren zu können.
00:06:29
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Die Blicke nähern sich einer Karikatur des Protagonisten, die von seinen demonstrierenden Gegnern hochgehal„Geschehen“
1/II
ten wird. Unter dieser Abbildung beeindrucken in der Dunkelheit die Köp-
00:07:57
fe von Demonstranten, eine weiße Hausfassade sowie der dunkle Luftraum der Nacht. Die Blicke der Kamera nähern sich B „Aura“
1/II
an, wie sie betrunken an einem Tisch sitzt und sich den Antworten eines Journalisten verweigert.
Formale Dauer der Expositionsphase: 28 Min. Innerhalb der Expositionsphase: 25 filmische Einstellungen
00:14:40
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Abb. 5: Vorkommen filmischer Einstellungen
Die Tabelle zeigt, daß im Beispielfilm 1 alle 25 filmischen Einstellungen vorkommen.
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Abb. 6: Reihenfolge der Einstellungen und ihre Wirkfaktoren
Die Graphik verbildlicht, in welcher Reihenfolge die filmischen Einstellungen in „Citizen Kane“ auftreten; zuerst „Gegebenheit“, und zuletzt „Aura“. Auffällig ist die Ballung von fünf Einstellungen der Verlaufsperspektive (schwarze Balken) zum Ende der Beobachtungszeit hin. Wie man sieht, kommt diesen Einstellungen („Hoffnung“, „Glaube“, „Offenheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“) zugleich die höchste Wirksamkeit zu14. Die Wirkfaktoren sind durch die Zahlen am oberen Balken gekennzeichnet.
14 Vgl. Abschnitt „Das Entstehen von Wirkung“ im 2. Kapitel.
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Abb. 7: Filmische Einstellungen und Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens
Diese Graphik zeigt die zeitlichen Verhältnisse auf, in denen die filmischen Einstellungen im Beispielfilm 1 erstmals registriert wurden. Dabei sind die einzelnen Einstellungen auf der x- (horizontalen) Achse in der ursprünglichen Reihenfolge meines Konzeptes präsentiert und gemäß der zugehörigen Perspektive markiert (Raumperspektive weiß, Körperperspektive längsgestreift, Ereignisperspektive grau, Symbolperspektive quergestreift und Verlaufsperspektive schwarz). Es fällt auf, daß 22 der 25 filmischen Einstellungen innerhalb der ersten sechs Minuten gefunden wurden. Lediglich „Haut“ (7. Min.), „Geschehen“ (8. Min.) und „Aura“ (15. Min.) haben eine etwas spätere Auftretenszeit.
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Abb. 8: Filmische Einstellungen in den Zeitintervallen Die Graphik zu „Citizen Kane“ veranschaulicht, daß im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) 80 Prozent der filmischen Einstellungen bereits gesichtet wurden, 16 Prozent im zweiten Intervall (6. bis 10. Min.) und vier Prozent im dritten Intervall (11. bis 15. Min.).
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Abb. 9: Zeitintervalle und Wirkfaktoren-Größe
Diese Graphik illustriert, wann, d.h. in welchem Intervall der Beispielfilm 1 durch seine Einstellungen welche Wirksamkeit entfaltet. Dazu wurde die Summe der Wirkstufen gebildet15, die über der jeweiligen Säule in Zahlen angegeben wird. Wir sehen hier eine auffallend hohe Wirkkraft in den ersten fünf Minuten. Man kann auch erkennen, daß in diesem ersten Intervall beinahe viermal soviel Wirkung erzielt wird wie im zweiten Intervall, das wiederum fünfmal soviel Wirkung erreicht wie das dritte. Mithin ist die Wirkung innerhalb der ersten fünf Minuten ziemlich genau 20mal stärker als in der 11. bis zur 15. Minute.
15 Vgl. Abschnitt „Auswertungsverfahren“, 5. Frage.
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Beispielfilm 2: „Das doppelte Lottchen“ [D 1950] (R.: Josef von Báky) (Lfd. Nr. 16) Figuren A Der Erzähler (Erich Kästner) B Lotte Körner (Jutta Günther) Spielzeit: 99 Min. Filmische
Stufe/
Einstellung
Persp.
Szene und ggf. Kommentar
Timecode Hh:mm:ss
Die fröhlich schwungvolle Musik bereitet, zusammen mit der ge„Musik“
5/IV
schwungenen Buchstabenschrift
00:00:30
des Vorspanns, auf die heitere Grundstimung des Films vor.
Die Blicke der Kamera zeigen die „Hände“
3/II
übereinander geschlagenen Hän-
00:01:34
„Augen“
4/II
As Augen und sein Mund werden
00:01:36
„Mund"
5/II
in Großaufnahme gezeigt.
00:01:37
„Sprache“
3/IV
de As auf einem Tisch liegen.
Als A erzählt, die Geschichte werde in Seebühl spielen, wird dieser
00:01:56
fiktive Ort aus der Weite gezeigt.
Es handelt sich bei Seebühl um „Raumbild“
4/I
ein kleines ländliches Dorf an
00:01:56
einem See mit vertreuten Häusern und Bauernhöfen. Die Kamera schwenkt von der Fassade eines Bauernhauses auf die Straße. Dabei kommen unterschiedliche Objekte ins Bild: Die
„Positionsänderungen“
3/I
Architektur dieses Hauses mit seinen ornamentierten Fenstern, der Bürgersteig, klares Sonnenlicht und Schatten, Passanten, und im Hintergrund, auf einer Anhöhe gelegen, weitere Bauernhöfe.
00:02:00
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Die Blicke bleiben in Kontakt mit „Figurenbeobachtung“
2/III
zwei Seebühlern, die in einiger Entfernung auf der Straße ent-
00:02:05
langgehen. Die Kamera ist bisher mehrmals geschwenkt, um den Zuschauer mit dem Ort und mit dem Kinder„Rhythmus“
5/III
heim vertraut zu machen. Die Kamerabewegung ist so gleich-
00:02:27
mäßig und und ruhig, daß ich den Bildern mit sanft fließender Atmung folgen kann.
Als die Kinder des Heims am „Vorstellungsbilder“
4/III
Morgen nach draußen laufen, erinnere ich mich an meine Zeit im
00:02:52
Kindergarten. Das klare und freundliche Licht „Licht“
2/IV
auf den Kindern unterstreicht
00:02:52
ihre Fröhlichkeit. A erzählt, daß die Kinderherzen im Heim nachts weinen; und als die Kinder am Morgen draußen „Ort“
1/IV
springend gezeigt werden, denke ich, daß Seebühl und insbesonde-
00:02:54
re das Kinderheim der Ort ist, wo sich die Ereignisse der Geschichte abspielen werden.
Ich verspüre den Wunsch, jetzt „Selbstbilder“
4/IV
auch an diesem Ort zu sein und ausgelassen mit den Kindern im
00:02:54
hellen Tageslicht zu laufen. Als eines der Mädchen am Tisch gezeigt wird, dessen freudiges Gesicht von Licht und Schatten „Liebe“
5/V
leicht berührt werden, bin ich als Zuschauer für einen Moment glücklich. Denn das Glück meiner Kinderjahre war für einen Moment wiedergekehrt.
00:02:59
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FILMBEISPIELE
| 103
Als die Mädchen, von links in das Bild kommend, in den Bühlsee laufen und vergnügt ins kühles Wasser springen und den Wider„Glaube“
2/V
stand der Wellen brechen, glaube
00:03:12
ich, daß diese Geschichte einen guten Verlauf nehmen wird, weil diese Mädchen alle Schwierigkeiten meistern können. Unterschiedliche Kameraposi„Spiel“
3/III
tionen zeigen die Wasserspiele
00:03:25
der Kinder.
Als ein kleines Mädchen gezeigt wird, das mit einem großen Sonnenschirm im Wasser stolziert „Offenheit“
3/V
und dabei den Kreis der Badegäste um sie herum wie eine Königin
00:03:33
begrüßt, bin ich gespannt, wie sich dieses Verhalten erklären wird. Als eine Aufseherin alle Kinder aus dem Wasser gebeten hat, das Mädchen mit dem großen Son„Gerechtigkeit“
nenschirm aber immer noch im 4/V
Wasser stolziert, finde ich es ganz
00:04:04
gerechtfertigt, daß die Aufseherin sie energisch mit den Worten „Der Gong gilt für alle!“ auffordert, das Wasser zu verlassen Als die schnatternde Mädchenherde den Heimweg antritt und A das Mädchen mit dem Schirm, die
„Hoffnung“
1/V
nun zurückgelassen das Ufer be-
00:04:24
steigt, zur Eile treibt, hoffe ich, daß es den Anschluß an die Gruppe noch findet.
Die Blicke der Kamera verweilen „Haut“
2/II
einige Momente bei zwei Mädchen, die hinter dem Eingangstor
00:04:55
104 | D ER W EG IN DEN FILM
gespannt auf das Eintreffen der neuen Heimbewohnerinnen warten. Dabei ist die Kamera im Abstand etwa der Armlänge eines Kindes postiert. Die Blicke der Kamera nähern sich einigen Mädchen, die auf einer Mauer sitzen. Die geradlinige Bewegung endet bei einem „Aura“
1/II
Mädchen, das seine Bäume bau-
00:08:31
meln läßt, ohne daß man den Eindruck hätte, es ließe sich das Kind vom Standpunkt der Kamera berühren.
Als B ihre Kleidchen auspackt, „Gegebenheit“
verweilen die Blicke der Kamera 2/I
für einige Momente bei einer
00:09:17
Fotografie Bs Mutter, das in dem geöffneten Koffer liegt. Die Blicke nähern sich zwei Aufseherinnen an einem Frühstücks-
„Geschehen“
1/III
tisch. Hinter ihnen ist eine beein-
00:09:59
druckend offene Wiesen- und Waldlandschaft zu erblicken. „Zielstrebige Bewegung“
Die Kamera nähert sich zielstre1/I
big einer Zimmerwand, an dem
00:40:09
drei Bilder hängen.
Formale Dauer der Expositionsphase: 33 Min. Innerhalb der Expositionsphase: 23 filmische Einstellungen Es fehlt die „Kreisbewegung“.
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AUSGEWÄHLTER
FILMBEISPIELE
| 105
Abb. 10: Vorkommen filmischer Einstellungen Die Tabelle zeigt, daß im Beispielfilm 2 bis auf „Kreisbewegung“ alle der 25 filmischen Einstellungen vorkommen.
106 | D ER W EG IN DEN FILM
Abb. 11: Reihenfolge der Einstellungen und ihre Wirkfaktoren Wie wir sehen, kommt in „Das doppelte Lottchen“ zuerst die filmische Einstellung „Musik“ und zuletzt „Zielstrebige Bewegung“ vor. Bemerkenswert ist hier ebenso wie bei „Citizen Kane“ die Konzentration der fünf Einstellungen der Verlaufsperspektive („Hoffnung“, „Glaube“, „Offenheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“), die auf relativ späten – chronologischen – Rangplätzen ihre höchste Wirksamkeit entfalten.
Abb. 12: Filmische Einstellungen und Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens
E MPIRISCHE A NALYSE
AUSGEWÄHLTER
FILMBEISPIELE
| 107
Genauso wie im Fall von „Citizen Kane“ konnten 22 der 25 filmischen Einstellungen innerhalb seiner ersten sechs Minuten festgestellt werden. Nur „Aura“ (8. Min.), „Gegebenheit“ (9. Min.) und „Zielstrebige Bewegung“ (40. Min.) fallen hinter diese Zeitspanne.
Abb. 13: Filmische Einstellungen in den Zeitintervallen Hier läßt sich sehen, daß im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) 84 Prozent der filmischen Einstellungen gezeigt wurden (zum Vergleich: In „Citizen Kane“ waren es 80 Prozent). 8 Prozent fallen auf das zweite Intervall (6. bis 10 Min.), während es im amerikanischen Beispielfilm doppelt so viele waren (16 Prozent); jenseits der ersten 15 Filmminuten waren es 8 Prozent. „Citizen Kane“ hatte mit vier Prozent im dritten Intervall (11. bis 15. Min.) die 100prozentige Auffüllung in den ersten 15 Minuten schon erreicht.
108 | D ER W EG IN DEN FILM
Abb. 14: Zeitintervalle und Wirkfaktoren-Größe Die Summe der Wirkfaktoren im Beispielfilm 2 ist im ersten Intervall mit einem Punktwert von 70 deutlich höher als im Beispielfilm „Citizen Kane“ (dort 58), fällt dementsprechend aber auf den nur den geringen Wert von 3 im zweiten Intervall, während dieses im amerikanischen Film 15 Punkte erreichte. Ist im dritten Intervall bei dem deutschen Film keine filmische Einstellung mehr zu verzeichnen, so hatte „Citizen Kane“ in dieser Zeitspanne den Punktwert 3 als die Summe der Wirkfaktoren. Im Ganzen läßt sich sagen, daß der deutsche Film „Das doppelte Lottchen“ als ein herausragendes Beispiel dafür gelten darf, wieviel Sogwirkung ein Film in seinen ersten fünf Minuten entwickeln kann.
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AUSGEWÄHLTER
FILMBEISPIELE
| 109
Beispielfilm 3: „Nosferatu“ [D 1922] (R.: Friedrich Wilhelm Murnau) (Lfd. Nr. 31) Figuren A Jonathan Harker (Gustav von Wangenheim) B Nina, seine Frau (Greta Schroeder) C Renfield (Alexander Granach) Spielzeit: 84 Min.
Filmische Einstellung
Stufe/ Persp.
Szene und ggf. Kommentar
Timecode Hh:mm:ss
Die surreale Musik verstärkt meine Erwartung, daß in dem kommenden
„Musik“
5/IV
Film, in dem die Schauspieler, deren Namen ich jetzt im Vorspann le-
00:01:58
se, gespenstisch unwirkliche Rollen annehmen werden.
Als, für mich unerwartet, die Musik während des Vorspanns endet, wird „Rhythmus“
5/III
es mir etwas unheimlich, und ich be-
00:01:18
ruhige mich, indem ich meine Atmung reguliere. Die Kamera fokussiert aus der Vo„Raumbild“
4/I
gelperspektive ein Charakteristikum
00:02:16
für eine europäische Kleinstadt: einen Kirchturm. Die Blicke der Kamera bleiben mit A eine längere Zeit in Kontakt. Er „Haut“
2/II
ist von hinten zu sehen, während er
00:02:25
dabei ist, sich sein Hemd zuzuknöpfen.
„Augen“
4/I
„Mund“
5/II
Als sich A sich umdreht, werden seine Augen und sein Mund in Großaufnahme sichtbar.
00:02:27 00:02:28
110 | D ER W EG IN DEN FILM
Die Blicke zeigen, wie A ans Fenster geht und in gebückter Haltung, „Figurenbeobachtung“
2/III
so daß er selbst von außen nicht ge-
00:02:32
sehen werden, aus dem Fenster blickt. Als A heimlich und neugierig aus „Selbstbilder“
4/IV
dem Fenster schaut, denke ich: Dieser heimliche Beobachter könnte
00:02:33
ich sein.
Die gestreifte Katze, die im Bild zwischen dicht stehenden Topfblu„Vorstellungsbilder“
4/III
men gezeigt wird, erinnert mich,
00:02:35
aufgrund ihres Aussehens an ein Raubtier, obwohl sie mit einer Schnur spielt, die ihr B hinhält.
„Hände“
3/II
Bs Hände werden in Großaufnahme
00:02:39
gezeigt. Als A in der zuvor gezeigten Form B die Tür öffnet, sich dann aufrichtet „Offenheit“
3/V
und dabei lacht, bin ich neugierig,
00:02:57
wie B auf seine unerwartete Anwesenheit reagiert.
Als Zuschauer bin ich für einen „Liebe“
5/V
Moment glücklich, weil B sich über
00:03:03
die Anwesenheit As freut. Als A und B sich in die Arme fallen, geraten auch ihre Oberkörper ins Licht und werden zugleich links und „Licht“
2/IV
rechts von einer hellen Tapete gerahmt. Ich denke, daß die Liebe der beiden den Verlauf der Geschichte dominieren wird.
00:03:16
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| 111
Als A die rechte Hand seiner Geliebten an sein Herz zieht, hoffe ich, „Hoffnung“
1/V
daß die beiden im weiteren Gang
00:03:25
der Geschichte zusammenbleiben werden und den Intrigen Nosferatus trotzen werden. Als A nun B an sich zieht, nachdem sie den ihr von ihm geschenkten „Glaube“
2/V
Blumenstrauß bewundert hat, glau-
00:03:38
be ich, daß die Geschichte für die beiden Liebenden gut ausgehen wird.
Als A auf dem Pflaster des mittelalterlichen Städtchens entlangläuft, „Ort“
1/IV
meine ich, daß dieses Städtchen der
00:03:48
Ort sein wird, an dem sich die Ereignisse des Films abspielen werden. Nachdem A auf dem Weg einem alten Mann begegnet ist, der auf ihn zugeht und ihn begrüßt, wird die Anrede eingeblendet: „Warten Sie, junger „Sprache“
3/IV
Mann, Sie können ihrem Schicksal nicht
entgehen“.
Genau
00:04:03
diese
freundlich-mahnende Geste des alten Mannes zu A hin wird dann vom Film ins Bild gesetzt. Die Kamera verweilt für einige „Gegebenheit“
2/I
Momente bei einem Blatt Papier mit geheimnisvollen Buchstaben, das C in seinen Händen hält.
00:04:32
112 | D ER W EG IN DEN FILM
Als A so übermäßig lacht, weil ihm C anbietet, für gutes Geld Graf Dracula aus der Ferne zu holen, „Gerechtigkeit“
4/V
denke ich, daß es um diesen jungen
00:07:19
Menschen, der nur auf Geld aus ist, gar nicht schade ist, wenn er von dem Vampir ausgesaugt wird. Die Kamera schwankt nach rechts „Positionsänderungen“
3/I
und zeigt eine bewaldete Bergland-
00:10:18
schaft.
Unterschiedliche Kamerapositionen zeigen, wie erschreckt und verängs„Spiel“
3/III
tigt Dorfbewohner in einem Gasthof
00:11:30
auf As Ankündigung reagieren, daß er Graf Dracula besuchen will. „Geschehen“
1/III
Die Blicke nähern sich einem Segel-
00:46:49
schiff auf hoher See
Formale Dauer der Expositionsphase: 21 Min. Innerhalb der Expositionsphase: 21 filmische Einstellungen Es fehlen: „Zielstrebige Bewegung“, „Aura“ und „Kreisbewegung“
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AUSGEWÄHLTER
FILMBEISPIELE
| 113
Abb. 15: Vorkommen filmischer Einstellungen Die Tabelle zeigt, daß im Beispielfilm 3 bis auf „Zielstrebige Bewegung“, „Kreisbewegung“ und „Aura“ alle der 25 filmischen Einstellungen vorkommen.
114 | D ER W EG IN DEN FILM
Abb. 16: Reihenfolge der Einstellungen und ihre Wirkfaktoren In „Nosferatu“ ist zuerst die filmische Einstellung „Rhythmus“ und zuletzt „Geschehen“ zu beobachten gewesen. Das Vorkommen der fünf Einstellungen der Verlaufsperspektive („Hoffnung“, „Glaube“, „Offenheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“) konzentrierte sich mit seiner höchsten Wirksamkeit anders als im Fall von „Citizen Kane“ und „Das doppelte Lottchen“ mehr auf die mittleren – chronologischen – Rangplätze.
Abb. 17: Filmische Einstellungen und Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens
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| 115
Wie wir sehen können, ließen sich im Beispielfilm 3 18 der 25 filmischen Einstellungen schon innerhalb der ersten fünf Minuten beobachten. Nur „Gerechtigkeit“ (8. Min.), „Positionsänderungen“ (10. Min.), „Spiel“ (11. Min.) und „Geschehen“ (47. Min.) wurden hinter dieser Zeitspanne gesichtet. Zur Erinnerung: In den beiden ersten Beispielfilmen „Citizen Kane“ und „Das doppelte Lottchen“ konnten 22 der 25 filmischen Einstellungen erst nach sechs Minuten identifiziert werden.
Abb. 18: Filmische Einstellungen in den Zeitintervallen
„Nosferatu“ zeigt im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) 72 Prozent der filmischen Einstellungen (zum Vergleich: in „Citizen Kane“ waren es 80 Prozent, in „Das doppelte Lottchen“ 84 Prozent). Ebenso wie in dem Beispielfilm der deutschen Liste fallen 8 Prozent auf das zweite Intervall (6. bis 10 Min.), während es im amerikanischen Beispielfilm 16 Prozent waren. Auf das dritte Intervall fallen die nämlichen vier Prozent wie im amerikanischen Beispielfilm; jenseits der ersten 15 Filmminuten waren bei „Nosferatu“ 16 Prozent der Einstellungen einschließlich jener, die gar nicht im Film auftauchten, zu registrieren.
116 | D ER W EG IN DEN FILM
Abb. 19: Zeitintervalle und Wirkfaktoren-Größe
Die Graphik veranschaulicht, daß im Beispielfilm 3 im ersten Intervall der Punktwert von 59 deutlich niedriger ist als in „Das doppelte Lottchen“ (dort 70), aber geringfügig höher als in „Citizen Kane“ (dort 58). Das zweite Intervall weist einen mittleren Wert auf: Er ist doppelt so groß wie in „Das doppelte Lottchen“ (dort 3) und weniger halb so groß wie in „Citizen Kane“ (dort 15). Es läßt sich hervorheben, daß „Nosferatu“ wie die beiden anderen Beispielfilme ein Maximum an Sogwirkung in den ersten fünf Minuten entfaltet.
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| 117
Beispielfilm Nr. 4: „Der Leopard” [I, F 1963] (R.: Luchino Visconti) (Lfd. Nr. 43) Figuren A Marina Stella Salina (Rina Morelli) B Don Fabrizio Salina (Burt Lancaster) C Tancredi Falconeri (Alain Delon) Spielzeit: 178 Min.
Filmische Einstellung
Stufe/ Persp.
Szene und ggf. Kommentar
Timecode Hh:mm:ss
Die hinter einem Bauch positionierte „Positionsänderungen“
3/I
Kamera schwenkt auf das Eingangstor eines ausgedehnten Schloßparks
00:00:38
zu.
Als die Kamera auf eine Büste „Musik“
5/IV
schwenkt, verstärkt die Orchestermusik den feierlich-dramatischen
00:00:48
Charakter der Inszenierung. „Gegebenheit“
Die Kamera zeigt in der Untersicht 2/I
seitlich eine weitere Büste, die den
00:00:59
Schloßpark ziert. Die Kamera fokussiert mehrere Charakteristika eines italienischen
„Raumbild“
4/I
Schlosses: Büsten auf dem Zufahrts-
00:01:23
weg, mediterraner Baumbestand und das Gebäude selbst
„Zielstrebige Bewegung“
Die Kamera fährt ruhig und gerad1/I
linig auf dem Zufahrtsweg auf das
00:01:43
fürstliche Gebäude zu. Als Zuschauer bin ich für einen Moment glücklich, weil ich das Ge-
„Liebe“
5/V
fühl habe, mit der Kamera auf das Gebäude im herrlichen Sonnenschein hinzuschreiten
00:02:05
118 | D ER W EG IN DEN FILM
Als die Bewegung der Kamera en„Hoffnung“
1/V
det, hoffe ich, daß ich bald das
00:02:21
Innere des Gebäudes sehen werde Die Blicke nähern sich von der Sei„Geschehen“
1/III
te einem Balkon, durch dessen offene Tür man eine vor einem Altar
00:03:18
betende Figur sehen kann.
„Figurenbeobachtung“
2/III
Die Blicke zeigen mehrere Figuren, die auf dem Boden kniend beten.
00:03:26
Das einfallende Licht auf die Be„Licht“
2/IV
tenden verdeutlicht die Sakralität
00:03:32
der Szene. Nachdem ich diese sakrale sakrale Handlung gesehen habe, meine ich, „Ort“
1/IV
daß diese Schloßkappe ein bedeu-
00:03:46
tungsträchtiger Ort für die Ereignisse des Films ist.
Die Blicke der Kamera bleiben für eine längere Zeit auf die betende A „Haut“
2/II
gerichtet, und zwar aus einer Entfer-
00:03:50
nung, in der man meint, sie berühren zu können. Als einer der Gläubigen aufstehen möchte, aber zurück gehalten wird, bin ich neugierig, welchen Grund er „Offenheit“
3/V
für sein ungewöhnliches Verhalten
00:04:22
hat, zumal im selben Augenblick eine andere Person den Raum verläßt. Als die heilige Zeremonie beendet ist, aber die streitenden Stimmen weiterhin von außerhalb des Rau„Rhythmus“
5/III
mes zu hören sind, und B von einem Hausangestellten von Unruhen in der Stadt erfährt, halte ich meine Atmung bewußt ruhig und folge der weiteren Geschichte.
00:05:44
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| 119
Als der Hausangestellte B sagt, er „Sprache“
3/IV
habe einen Brief vom Herzog erhalten, hält er ihn in seinen Händen
00:05:47
und reicht ihn B. „Hände“
3/II
Bs Hände, die den Briefhalten, werden in Großaufnahme gezeigt.
00:06:01
Als A unter Tränen B anfleht, den „Gerechtigkeit“
gemeinsamen Sohn angesichts der 4/V
politischen Unruhen nicht aus dem
00:07:10
Haus zu schicken, halte ich ihre Vorsicht für gerechtfertigt. Die Augen und der Mund zweier äl-
„Augen“
4/II
terer Gläubigen, die B zur Verab-
00:07:25
„Mund“
5/II
schiedung grüßen, werden in Groß-
00:07:26
aufnahme gezeigt. Als B und C, Onkel und Neffe, sich „Selbstbilder“
4/IV
freundlich voneinander verabschieden, könnte ich mir vorstellen, einer
00:16:30
von beiden zu sein.
Die grün-gelb-orange bemalten Tü„Vorstellungsbilder“
ren erinnern mich an ein Foto, das 4/III
ich vor Jahren von Türen eines
00:16:36
Lustschlössleins in Südengland gemacht habe. Als C das Schloß verläßt, glaube
„Glaube“
2/V
ich, daß er nach vielen Erlebnissen verändert, aber lebend an diesen
00:16:51
Ort zurückkehren wird. Der Angriff und die Verteidigung „Spiel“
3/III
der Aufständigen wird aus unter-
00:24:29
schiedlichen Kamerapositionen gezeigt.
Die Kamera nähert ich B, der sich „Aura“
1/II
im Spiegel beschaut, bis auf eine Entfernung, in der man ihn fast be-
01:20:19
rühren könnte.
Formale Dauer der Expositionsphase: 50 Min. Innerhalb der Expositionsphase: 23 filmische Einstellungen Es fehlt „Kreisbewegung“.
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Abb. 20: Vorkommen filmischer Einstellungen Die Tabelle veranschaulicht, daß im Beispielfilm 4 bis auf „Aura“ alle der 25 filmischen Einstellungen vorkommen.
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Abb. 21: Reihenfolge der Einstellungen und ihre Wirkfaktoren
In „Der Leopard“ ließ sich zuerst die filmische Einstellung „Positionsänderungen“ und zuletzt „Aura“ erkennen. Anders als in den drei vorherigen Beispielfilmen ist auffällig, daß die fünf Einstellungen der Verlaufsperspektive („Hoffnung“, „Glaube“, „Offenheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“) mit ihren höchsten Wirkfaktoren auf die – chronologischen – Rangplätze des Films nahezu gleichmäßig verteilt sind.
Abb. 22: Filmische Einstellungen und Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens
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Wie sehen hier, daß sich im Beispielfilm 4 nur 14 der 25 filmischen Einstellungen innerhalb der ersten fünf Minuten beobachten ließen. Am weitesten überschreiten „Aura“ (80. Min.), „Spiel“ (24. Min.) und „Vorstellungsbilder“, „Selbstbilder“ und „Glaube“ (jeweils um die 18. Min.) diese Zeitmarkierung. Damit ergeben sich für diesen Film erheblich andere Verhältnisse als für die Beispielfilme 1-3, in denen über 75 Prozent der Einstellungen spätestens bis zur 6. Minute gesichtet werden konnten.
Abb. 23: Filmische Einstellungen in den Zeitintervallen
Im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) zeigt „Der Leopard“ 52 Prozent der filmischen Einstellungen. Das ist wesentlich weniger als im Fall von „Das doppelte Lottchen“, „Citizen Kane“ oder „Nosferatu“, wo es 84, 80 bzw. 72 Prozent waren. Auf das zweite Intervall fallen in „Der Leopard“ jedoch 24 Prozent der filmischen Einstellungen. Das ist dreimal so viel wie in den Beispielfilmen der deutschen und der Marburger Liste (dort beidesmal 8) und 50 Prozent mehr als im Beispielfilm der amerikanischen Liste „Citizen Kane“ (dort 16). Während im dritten Intervall keine neuen filmischen Einstellungen auftreten, sind es jenseits der ersten 15 Filmminuten 24 Prozent; einschließlich jener, die während des gesamten Filmes gar nicht zu sehen waren. Damit erreicht dieser Film den Höchstwert; zum Vergleich: „Citizen Kane“ (0), „Das doppelte Lottchen“ (8) und „Nosferatu“ (16).
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Abb. 24: Zeitintervalle und Wirkfaktoren-Größe
Diese Graphik zeigt, daß im Beispielfilm 4 der Punktwert von 39 im ersten Intervall 20 Punkte niedriger ist als in „Nosferatu“ (dort 59) und noch niedriger als im deutschen (dort 70) und im amerikanischen Beispielfilm (dort 58). Wenn man das zweite Intervall von „Der Leopard“ mit dem der anderen Beispielfilme vergleicht, so ergibt sich, daß in der Zeit zwischen der 6. und 10. Minute mit dem Punktwert von 18 die höchste Zahl vorliegt. Man könnte dies so verstehen, daß „Der Leopard“ im zweiten Intervall vergleichsweise die höchste Sogwirkung entfaltet.
R ESÜMÉE 1. Das Vorkommen der filmischen Einstellungen Nach Sichtung der 50 Filme (4 Beispielfilme und 46 weitere) konnte das Vorkommen sämtlicher filmischen Einstellungen bestätigt werden. 11 der 25 Einstellungen waren in jedem der Filme zu konstatieren. Es sind dies:
124 | D ER W EG IN DEN FILM
• • • • • • • • • • •
„Haut“, „Augen“, „Mund“, „Figurenbeobachtung“, „Vorstellungsbilder“, „Rhythmus“, „Ort“, „Licht“, „Sprache“, „Hoffnung“ und „Offenheit“.
Die Verhältnisse sind bei den vier Beispielfilmen noch klarer: Hier waren 25, 24, 23 und 24 der filmischen Einstellungen aufzufinden. Damit haben die wichtigsten Bausteine meines Konzeptes eine empirische Basis erhalten. Die Tatsache, daß ausnahmslos Spielfilme von einer gewissen Qualität (garantiert durch die Gütekriterien der vier Listen) analysiert wurden, besagt, daß auch Kinoprodukte mit einigem Anspruchsniveau die von mir postulierten illusionsbildenden Wirkmechanismen vorweisen können. Freilich könnte man entgegenhalten, daß bei der Auswertung der Einstellungen ein beträchtliches Maß an Subjektivität auf seiten des Verfassers vorhanden war. Dieser subjektive Faktor ist im Falle des Auffindens einiger Einstellungen (von „Vorstellungsbilder“ bis zur „Liebe“) gewiß höher zu veranschlagen als bei anderen. Mir ging es ja lediglich darum, meine Seherfahrungen mit Hilfe des von mir erarbeiteten Filmkonzepts zu schärfen und meine Wahrnehmungen auf überprüfbare Weise dem Leser zu Protokoll zu geben. Ich kann hier nicht mehr tun, als den Leser anzuraten, mit dem von mir entwickelten Instrumentarium selbst entweder die von mir untersuchten Filme anzusehen und das Ergebnis mit dem meinen zu vergleichen oder völlig frei einen oder mehrere Filme eigener Wahl mit dem hier vorgestellten Stufenkonzept anzuschauen16.
16 Zwar enthält mein Auswertungsteil lediglich die Protokolle zu den vier Beispielfilmen, doch würde ich mich freuen, meine Ergebnisse zu einem oder mehreren der übrigen 46 von mir gesichteten Filmen einem interessierten Leser in Form einer PDF-Datei per E-Mail ([email protected]) übermitteln zu können.
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Es gibt aber auch einen anderen Weg zur Herstellung von Intersubjektivität zwischen Autor und Leser: Wer die Subjektivität meines Sichtungs- und Auswertungsverfahrens problematisch findet, könnte sich selbst einmal die Frage stellen, ob er beim Betrachten von Filmen nicht ebenfalls die Disposition verspürt, von den „filmischen Einstellungen“, so wie ich sie entwickelt und in ein Stufensystem gebracht habe, angeregt, d.h. auf den Weg in den Film geführt zu werden. Hat denn ein Zuschauer nicht mehr von der Rezeption einer Bildgeschichte, wenn er etwa für einen Moment Glück („Liebe“) empfindet oder mit eigenen Erinnerungen („Vorstellungsbilder“) reagiert? M. E. ist der Wunsch danach, sich durch Illusionen unterhalten und verzaubern zu lassen, im Kinoraum ebenso selbstverständlich und legitim wie Umgang mit anderen Freizeitmedien. Das hohe Vorkommen der filmischen Einstellungen im analysierten Testkorpus beruht nicht zuletzt auf der von mir vorausgesetzten Plausibilität ihres Begründungsfeldes: Alltag und Kindheit sind eben zwei unhintergehbare Erfahrungsräume, und eben aus der Ordnungsstruktur dieser beiden Erfahrungsräume17 ist das Instrumentarium gewonnen, das dann für die Filmanalyse anwendbar gemacht worden ist. 2. Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren Im dritten Kapitel18 war gesagt worden, daß die Reihenfolge der filmischen Einstellungen einer Leinwandgeschichte nicht dem theoretisch ausgewiesenen schrittweisen Anstieg von Wirkungen entspricht. Dies zeigte sich bereits im Vergleich der Beispielfilme, kristallisierte sich aber überzeugend erst im Vergleich der vier Listen heraus. Mit Blick auf die Gesamtliste kann gesagt werden: Die – chronologische – Reihenfolge der Einstellungen weist die Tendenz auf, daß „Figurenbeobachtung“ an erster Stelle eines Films steht und daß dann recht bald die Einstellungen der Körperperspektive („Aura“, „Haut“, „Hände“, „Augen“ und „Mund“) folgen. Dieses Resultat, das sich vermutlich auch bei einem noch größeren Testkorpus ergeben würde, erscheint mir durchaus verständlich: Menschen konstruieren Geschichten am liebsten über die Beobachtung von Menschen. Der Zuschauer im Kino richtet seine Verstehensakte also 17 Siehe 2. Kap. „Die drei Pole des Filmverstehens“. 18 Siehe „Das Entstehen von Wirkung“.
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zuallererst auf die Figuren und ihr äußeres Erscheinungsbild. Wir kennen das auch aus dem Alltag, wenn wir die Nähe anderer Menschen suchen und uns in Gesellschaft wohler fühlen als in der Einsamkeit. Die Dominanz von „Figurenbeobachtung“, „Hände“, „Augen“ und „Mund“ in der Rangplatzordnung 1 bis 5 steht wohl auch mit unserem Wunsch in Verbindung, uns selbst im Film – fernab vom Alltag – in idealisierter Weise wiederzuerkennen. Für die Konstitution der filmischen Einstellungen „Selbstbilder“ im Wahrnehmungshaushalt des Zuschauers ist das Abbilden der körperlichen Erscheinung von Filmfiguren am selbstverständlichsten und in der Großaufnahme fraglos am eindruckvollsten. Denn diese Präsentationsweisen sind uns aus dem Alltag im Hinblick auf uns selbst und auf die Mitmenschen in unserer Umgebung höchst vertraut. Es ist hier wie mit dem Vorkommen der filmischen Einstellungen ganz allgemein: Ihre Alltagsgebundenheit macht sie zu verläßlichen Gefährten für den Weg des Kinogängers in den Film. 3. Filmische Einstellungen und Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens Das Ergebnis, daß im Korpus der 50 ausgewählten Filme im Durchschnitt 16 der filmischen Einstellungen in den ersten zehn Minuten auftauchen, schließt ein, daß sie bereits in dieser frühen Zeitspanne ihre Wirkung entfalten. Daß dabei alle Einstellungen der Symbolperspektive beteiligt sind, besagt, daß der Zuschauer hier schon im vollen Sinne als Bedeutungsstifter für sich tätig ist und sich mit einem seiner – mitunter idealisierten – Selbstbilder auf der Leinwand wiedererkannt hat. In den ersten 600 Sekunden sieht der Kinogänger also im wesentlichen das, was er sehen möchte. In dem dabei entstandenen Lustgewinn vermute ich ein starkes Motiv, dem Geschehen der Bilder auch über die zehnte Minute hinaus zu folgen. Den Regisseuren gelingt die Bindung des Zuschauers an die filmische Bilderwelt auch dann, wenn ihr Film bis zu dieser Zeitmarkierung die zentrale Einstellung der Raumperspektive („Zielstrebige Bewegung“) nicht zeigt. Diese ließ sich nämlich im Durchschnitt der 50 betrachteten Filme in den ersten drei Intervallen nicht entdecken. Durchschnittlich war sie in der 28. Minute vorhanden. Die vier Beispielfilme deuten dieses Ergebnis bereits an: Während in „Citizen Kane“ und „Der Leopard“ die „Zielstrebige Bewegung“ zugleich am Anfang
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sichtbar wurde, war sie in „Das doppelte Lottchen“ erst um die 40. Minute und in „Nosferatu“ gar nicht auffindbar. Es ergibt sich also, daß die Annäherung an einen Gegenstand im figurenleeren Raum von den Filmemachern für den Filmbeginn nicht bevorzugt wird. Doch ist gerade diese Bewegungsform eine der alleralltäglichsten. Deshalb bin ich überzeugt, daß der Illusionseffekt von Filmen zusätzlich gesteigert werden könnte, wenn „Zielstrebige Bewegung“ früher, als es in den betrachteten Filmen der Fall war, eingesetzt würde. Diese Einstellung ist der einfachste und sicherste Weg zur Erzielung der filmtypischen Sogwirkung. 4. Filmische Einstellungen in den Intervallen Anders als in den vier Beispielfilmen zeigte sich in der Gesamtheit der 50 analysierten Filme durchschnittlich nicht im ersten, sondern erst im zweiten Intervall (6. bis 10. Min.) die höchste Anzahl des Erstauftretens filmischer Einstellungen. Der Zuschauer wird also in dieser Zeitspanne in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit versetzt, insofern er auf eine größere Zahl verschiedener Einstellungen reagieren muß, als dies im ersten Intervall von ihm abverlangt wurde und im dritten wird. Daß dieses Maximum an Adaptionsleistung auf das angebotene Bildmaterial nun in die zweiten fünf Filmminuten fällt, kann eigentlich nicht überraschen, weil auch der Vorspann mitgezählt wurde: Neben der Fülle der Informationen, die er zu vermitteln hat, bleibt nicht viel Raum zur darüber hinausgehenden szenischen Gestaltung. Dennoch enthält ein guter Vorspann mehrere Einstellungen: Zuerst das Hintergrund- bzw. Standbild, das einer bestimmten filmischen Einstellung entspricht; dann „Sprache“, weil der Schriftzug des Titels die Aussage des Gezeigten verstärkt, und zeitgleich „Musik“, insofern sie die Bedeutung der Schrift akustisch unterstreicht. Schließlich kann es auch gelingen, dem Zuschauer schon im Vorspann „Vorstellungsbilder“ zu entlocken. 5. Filmische Einstellungen und ihre Wirkfaktoren Die relativ zu den anderen Intervallen hohe Verteilung der filmischen Einstellungen im zweiten Zeitintervall bildet sich auch in der Summe der Wirkfaktoren ab. Das bedeutet, daß eine Kinogeschichte nicht nur zwischen der 6. und 10. Minute eine hohe Varianz filmischer Einstellungen, sondern auch eine hohe Wirkung zeigt. In dieser Anfangspha-
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se verdichtet sich das Erleben des Zuschauers, dem in diesem Intervall erhöhte Aufmerksamkeit abverlangt wird. Wenn Zuschauer meinen, sie möchten den Anfang eines Filmes nicht verpassen, so tun sie dies in der Regel aus dem Grund, von Anfang an eine komplexe Geschichte besser konstruieren können. Brigitte Hartmann (2003, 2002, 1995) stellt heraus, wie wichtig Filmanfänge sind: „Jeder Filmanfang macht seinen Zuschauer mit den Gegebenheiten und Eigenheiten des Films bekannt und stellt so ein spezifisches und umfassendes initiatorisches Programm dar. Dieses bezieht sich nicht allein auf die Einführung und Etablierung der narrativen Substanzen – der Figuren und Figurenkonstellationen, der erzählten Welt und der sich darin entwickelnden Geschichte –, sondern zielt auf die Initialisierung sämtlicher Elemente, Dimensionen, Schichten und Register der Narration sowie der textuellen und kommunikativen Verfaßtheit“ [...] (2003: 20).
Meine Untersuchung hat gezeigt, daß auch zuschauerseits der Beginn eines Films (besonders, wie gesagt, zwischen der 6. bis 10. Minute) von großer Bedeutung ist, weil er nicht nur textuell eine „höhere informationelle Dichte“ (20) als die „nachfolgende(n) Phasen“ aufweist, sondern auch, weil dies im Erleben des Zuschauers selbst stattfindet. Meine Ergebnisse ergänzen demnach aus Rezipientensicht den Befund, den Hartmann aus produktionsästhetischer Perspektive erhoben hat. Damit mag der empirische Teil der vorliegenden Arbeit sichern können, daß der Weg des Zuschauers „in den Film“ tatsächlich auch emotional stattfindet, weil eine hohe affektive Zuwendung an das Bildgeschehen beobachtet werden konnte, deren Peak im o. g. Intervall liegt, woraufhin ein Abfall festzustellen ist. Zu konstatieren bleibt, daß ein Prädikatsfilm seinem Zuschauer etwa fünf Minuten Zeit gibt, sich – auch mit Hilfe des Vorspanns – zu akklimatisieren, dann aber in den nächsten fünf Minuten emotional und kognitiv eine kräftige Sogwirkung entfaltet, um danach mit weniger intensiven, neuen filmischen Einstellungen aufzuwarten.
5. Die Wirkungen der filmischen Einstellungen auf das Bild der Leinwand, das Selbst des Zuschauers und den Moment der Zeit
Das letzte Kapitel lenkt die Rekonstruktion des „Weges in den Film“ nun auf ein filmtheoretisch ambitioniertes Gelände, indem es verschiedene Aspekte der Technik und der Theorie des Films anspricht und zugleich psychologische, mitunter lebensphilosophisch orientierte Überlegungen unterbreitet. Die einzelnen Abschnitte folgen der chronologischen Reihenfolge der filmischen Einstellungen, die im „Überblick“ des zweiten Kapitels zusammengefaßt worden sind. Im tatsächlichen Ablauf von Filmen finden sich, wie gesagt, die 25 Stufen durchaus nicht in der von mir idealtypisch konstruierten Abfolge, lassen sich aber gleichwohl isolieren und zeitigen ein Wirkungsfeld, das im Zuschauer spezifische Effekte hervorruft. Für ihre Veranschaulichung habe ich jedem Abschnitt dieses Kapitels zwei Bildzitate aus dem im vierten Kapitel untersuchten Filmkorpus beigegeben.
B EOBACHTER
IN
R ÄUMEN (R AUMPERSPEKTIVE )
Der figurenleere Raum stimuliert die Phantasie des Zuschauers, weil er dessen Wahrnehmung nicht durch die potentielle Ereignishaftigkeit von Personen in Anspruch nimmt. Der Kinogänger, in Erwartung einer Geschichte, projiziert sein Inneres also in diesen leeren Raum hinein. So wie im Kino geschieht dieses Hineinverlegen des Inneren nach außen auch im Alltag, und zwar sowohl angesichts vertrauter als auch fremder leerer Räume.
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Vergrößerung/Zentralperspektive („Zielstrebige Bewegung“) „Die Kamera bewegt sich zielstrebig und langsam durch einen Raum. Der Zuschauer befindet sich in der Position des Beobachters.“ Auf der Bühne, sei es in der Oper, sei es im Theater, agieren die Darsteller in einem vierdimensionalen Raum; im Kino hingegen auf der Leinwand, von der wir wissen, daß sie eine Fläche ist. Wir haben uns daran gewöhnt, dies zu vergessen, und die Filmtechnik tut alles dafür, daß wir dieses Vergessen nicht wieder verlieren. * * * Wie aber wandelt sich die Fläche in einen Raum? – Wahrnehmungspsychologisch ist hier die filmische Einstellung „Zielstrebige Bewegung“ grundlegend: Während die Kamera sich geradlinig einem Gegenstand annähert, wird er auf der Leinwand größer. Seine Umgebung bewegt sich an den Rand des Sichtfelds, so daß kontinuierlich zuvor noch Sichtbares aus dem Blickfeld entschwindet1. Der Zuschauer registriert dies vielleicht einen Moment lang, schenkt aber dem Verschwundenen bzw. Verschwindenden keine Aufmerksamkeit mehr. Er wird in den Fokus des Bildes hineingezogen, in dem er das Wesentliche zu sehen glauben muß. Die Illusion der Raumbildung hat begonnen: Die Kamera hat für den Beobachter entschieden, daß er sich dem Gegenstand anzunähern hat. Wenn er der Geschichte folgen will, muß er in das Bild hinein wollen. Dieses scheinbare Selbsttätigkeit: die Illusion, der Kinogänger habe Steuerungsmacht über das Sichtbare, sowie die Vergrößerung des Bildes heben sein Selbstwertgefühl2. Wir empfinden uns nun nicht mehr als klein, sondern als souveräne Beobachter, die erhaben in den filmischen Raum hineingehen. Tatsächlich aber sitzt der Zuschauer passiv im Sessel, und es wäre eine ganz natürliche Reaktion, wenn es ihm Angst bereitete, daß etwas unkontrolliert immer näher auf ihn zu-
1
Vgl. Liptay (2006: 112).
2
Das gilt sowohl dann, wenn wir uns, geleitet vom Kamera-Auge, einem mächtigen Berg annähern, als auch dann, wenn wir als Insekt durchs Gras kriechen (s. Abb. 24 und 25).
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kommt3. Um sich nicht fürchten zu müssen, entscheidet er sich folglich, er sei es, der diese Annäherung vollzieht. Für die Stabilität unseres Selbst ist es nützlicher wahrzunehmen, daß nicht das Bild auf uns, sondern wir uns auf das Bild zubewegen. Die Geschwindigkeit des Gehens oder Schreitens sichert uns am ehesten die Kontrolle über uns und unser Verhältnis zur umgebenden Welt. Im alltäglichen Leben wie im Kinosaal setzen wir auf dieses Prinzip und entscheiden uns deshalb dafür, in den Film hineinzugehen. Hinzu kommt: Gemessen an der Größe der Leinwand sind wir selbst nur kleine Figuren: Aber auch diese – eigentlich kränkende – Wahrheit vergessen wir, indem wir annehmen, wir selbst seien es, die sich dem gezeigten Gegenstand annähern. Wir nehmen ebenfalls nicht wahr, daß nicht wir selbst es sind, welche die Bewegung initiieren, sondern unsere vermeintlich eigene Wahrnehmungsleistung de facto das Produkt der Kamerabewegung ist. Jan Marie Peters (1984) bemerkt: „Der Zuschauer im Kino schaut immer mit dem Kamera-Auge, auch wenn er sich dessen nur selten bewußt ist [...] Die optische Identifikation [...] mit dem Kamerastandpunkt kann dabei so weit gehen, daß er beim Sehen einer mit bewegter Kamera aufgenommenen Szene selbst das Gefühl hat, in Bewegung zu sein. Die Psychologie nennt dieses Phänomen ,induzierte Bewegung‘“ (382). Der Zuschauer war es, der das Kino aufgesucht hatte. Der technische Apparat aber übernimmt fortan das Gesetz der Bewegung. Hier formuliert Béla Balász knapp, aber treffend: „Die Kamera nimmt das Auge mit“. Im Alltag bewegen wir uns durch Räume, in der Regel mit einer bestimmten Intention. Diese ist es, welche die Richtung unserer Handlungen bestimmt. Im Film ist es die geradlinige Bewegung, die an die Stelle des uns gewohnten absichtsvollen Gehens tritt. Nähert sich die Kamera „als Erzählinstanz“ (Bildhauer 2007: 70) einem Objekt, sug-
3
Wie beispielsweise in der Anfangsszene von „Lost highways“ (USA 1997, R.: Lynch), in der ein Auto, gezeigt aus der subjektiven Perspektive eines Fahrers, nachts nach vorne jagt. Eine beschleunigte Bewegung der Kamera führt zur Verkleinerung von Raum und Zeit, weil die einzelnen Momente, sich gleichsam überstürzend, nach vorne eilen. Damit wendet sich das Erleben des Zuschauers von seiner Bewußtseinsstärke ab, und die Zeit verrinnt, getrieben durch die Stärke des Erlebens. Gerade bei eingeschränktem Gesichtsfeld wie in der obigen Situation kann dies beängstigende Wirkungen hervorrufen.
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geriert sie dem Zuschauer, es sei für ihn wesentlich und liege in seiner Absicht, dieses Ziel zu erreichen. Die zielstrebige Kamerabewegung ist die Pforte zum Königsweg der Hoffnung, den Alltag hinter sich zu lassen. Magisch wird die Intentionalität der geradlinigen Bewegung im Falle der Zentralperspektive: Denn alle Fluchtlinien – in unserem Sinne die „Intentionen“ – streben auf einen fiktiven Punkt zu. Mit der Zentralperspektive wird „eine räumliche Wirkung des flächig Abgebildeten erzeugt“ (Hickethier (2001: 72), und der im Bildhintergrund gelegene Fluchtpunkt4 ist es, von dem die Sogwirkung auf den Zuschauer ausgeht. So spricht die Zentralperspektive die Offerte „Tritt hinein!“ aus, und ihre Räume sind wie Höhlen, an deren Eingang man steht. Ihre Linien bilden den Gang in die Tiefe des Bildes. Sie beschleunigt zugleich die Zeit, weil sie das Ergebnis der Gehbewegung quasi vorwegnimmt. Indem sie das Alles-zu-einem-Strebende zeigt, nährt sie die Illusion, das Ferne, Unsichtbare schon aus der Nähe zu kennen. Sagen wir es mit dem Fotografen Fritz Kempe: „Nicht die zentralperspektivische Abbildung macht uns den Raum erlebbar, sondern die Bewegung in ihm“ (33). Der französische Filmtheoretiker Jean Louis Baudry (1986) [1970]) fragt nach den ideengeschichtlichen Implikationen der Zentralperspektive und führt die quasi naturwissenschaftliche Objektivität des Kamera-Auges auf die Kunst der Renaissance zurück. In jener Zeit des Erstarkens des individuellen menschlichen Selbst erfand man die Zentralperspektive zur rein immanenten visuellen Erfassung der Welt5.
4 5
Vgl. Hamann (1983: 164). Ausführlich zu Zentralperspektive und Realitätseindruck s. auch Hickethier (2003: 191), Allen (1995: 19 ff.) sowie Kappelhoff (2003), der sich auf Baudry bezieht. Erst nach und nach wurde die Zentralperspektive in der Renaissance zum Code, zur allgemeinen Richtlinie (vgl. Winkler 1992: 230). Sie fand bei Raumkonstruktionen Anwendung und gipfelte im Barock in der Garten- und Schlösserarchitektur. „Das Vermögen der Perspektivkunst, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, ja sogar aufzulösen und zu verwandeln, kam den Gestaltungsabsichten der barocken Künstler entgegen“ (Geyer 1994: 47). Und der Physiker Zajonc (2001) vermerkt: „Elemente der Perspektive lassen sich schon bei den Griechen entdecken, doch erst 1425 zeigte sich ein kohärentes, klares Verständnis der Zentralperspektive. Brunelleschi und die Renaissance wollten die Welt in Ein-
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In dieser Tradition steht nach Baudry auch die durch das KameraAuge vermittelte filmische Wirklichkeit; zugespitzt formuliert: Was im Film real erscheint, ist nur der Traum des Menschen von sich selbst. Das Kino erzeugt, so Baudry, eine „phantasmatization of the subject“ (295). Sehen wir uns nun einmal im Alltag um, so sind die wenigsten Situationen “zentralperspektivisch“ so konstruiert, daß wir als souveräne Subjekte den Fluchtpunkt des Geschehens bestimmen. Das Kino macht uns nun zum Herr der Lage. Zwar ist das nur eine Illusion, muß aber dennoch nicht schon deshalb tadelnswert sein. In früheren Zeiten waren „Schein und Täuschung [...] erlaubt, wenn sie nur zur Bereicherung des Erlebnisses beitrugen“, schreibt Bernhard Geyer (1994: 49). – Ich meine, wenn wir die Mittel kennen, mit denen dies geschieht, sind wir in der Lage, die cinematographische Verführung zur Steigerung unseres Selbst zu kontrollieren. Ich spreche von Verführung, weil die Steigerung der ZuschauerPotenz durch die filmische Einstellung „Zielstrebige Bewegung“ auch eine sexuelle Komponente hat. Denn tiefenpsychologisch wäre das direkte Eindringen in einen Raum als phallisch zu deuten; und seine Konstruktion zu einem Raum, der von jeder Stelle seiner Betrachtung ein deutliches Angebot macht, in seiner unendlichen, nie zu erreichenden genitalen Tiefe penetriert zu werden, als uteral. Hierin liegt auch ein Moment der Lust an der Bewegung mit zentralperspektivischen Bildern, wobei jedoch daran zu erinnern ist, daß die filmische Einstellung „Zielstrebige Bewegung“ recht selten zu sehen ist. Sie gehört nicht zum Standardrepertoire der Filmemacher in den ersten 15 Minuten. Kommen wir zu einem letzten Aspekt: Die schrittweise Bewegung in den Raum dehnt wie die „Zielstrebige Bewegung“ die Zeit, die am intensivsten körperlich erfahren wird. So sind Wahrnehmungsveränderungen beim langsamen Voranschreiten deutlicher bewußt als beim schnellen, und es entsteht auch mehr Bewußtheit als beim regungslosen Stehen. Dieses dagegen überdehnt den Moment, da ihm kein weiterer folgt, der durch Eigenbewegung erzeugt wurde. Zeit wird zur Körperbewegung. Körperliche Reglosigkeit bringt das Zeiterleben zum Erliegen: Die Zeit verschwindet oder zieht wie berührungslos
klang mit der ,visuellen Wahrheit‘ sehen und darstellen, wie Lorenzo Ghiberti es genannt hatte“ (83).
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vorbei. Eine ruhige Zielstrebigkeit, die sich in der Kamerabewegung vollzieht, garantiert darüber hinaus, daß wir Zeit als etwas betrachten können, worüber wir verfügen, und daß sie sich nicht überdehnt oder bis zu einem Nichts minimiert wird. Insgesamt, so können wir sagen, bewirkt die filmische Einstellung „Zielstrebige Bewegung“ nicht nur eine Vergrößerung der gezeigten Gegenstände, sondern komplementär dazu auch eine – mit Lust verbundene – Steigerung und Vergrößerung unseres Selbst.
Abb. 25: „Die Kamera nähert sich langsam und zielstrebig aus einer größeren Entfernung einem Berg an, der aus dem Wüstensand herausragt“ („Lawrence von Arabien“, USA 1962, R.: David Lean, 00:29:30).
Abb. 26: Die Kamera bewegt sich ruhig und zielstrebig durch das Gras eines Gartens“ („Blue Velvet“, USA 1986, R.: David Lynch, 00:03:21).
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Belebung/Schärfentiefe („Gegebenheit“) „Die Kamera verweilt für eine gewisse Zeit aus einer größeren Entfernung bei einem Gegenstand im Raum. Der Zuschauer nimmt Kontakt mit diesem Gegenstand auf.“ Das Verweilen der Kamera im Raum ist besonders effektvoll, wenn die Bilder zuvor von großer Dynamik und Bewegung waren. Am natürlichsten erscheint der Wechsel von Bewegung zur Statik, wenn die vorherige Annäherung an das Objekt möglichst langsam war. * * * Jede Einstellung ist ein Instrument zum Gestalten einer Geschichte. Welches ist nun die spezifische Funktionsweise der Einstellung „Gegebenheit“? – Es ist die Funktion der Belebung bzw. der Verlebendigung des Erzählten. Paradoxerweise wird ein Bild belebt, wenn die Kamera verweilt. Solche Sequenzen kommen zumeist unerwartet, weil üblicherweise alles im Film heute 120 Minuten lang in Bewegung ist6. Wo „Gegebenheit“ erscheint, wird stets Aufmerksamkeit erzeugt7. Die Interpunktion des Regisseurs wird bemerkt, aber sie paßt nicht in unser heutiges Bild vom Film, denn mit ihr wird zu wenig gespielt. Das Bild hat in dieser Einstellung Dauer und damit eine eigentümliche Wirkung erhalten, die typischerweise von einer Fotografie ausgeht. „Gegebenheit“ im Film scheint ihre Kraft konstant zu bewahren, ohne sich dabei zu verändern. Mit ihrem Innehalten stellt sie sich dem Bilderstrom entgegen, und diesen Stillstand der Handlung zu tolerieren, verlangt vom Zuschauer Geduld. Er ist schließlich darauf eingestellt, sich zwei Stunden lang in immer neue Situationen hineinzufin-
6
Deshalb wirkt die Anfangsszene von „Heat“ (USA 1995, R.: Mann; s. Abb. 26) schwer erträglich: Ein Bahnhof wird nachts gezeigt. Kein Ereignis. Nur Gegebenheit. Dann endlich können wir einen einfahrenden Zug erkennen.
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Auch dann, wenn es sich selbst kontrapunktiert wie z.B. in „Metropolis“ (D 1926, R.: Lang), wo „Gegebenheit“ eine Uhr zeigt.
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den. Ein Spielfilm will immer Handlung und braucht Akteure. Figurenleere Räume8 hingegen sind selten. In der Einstellung „Gegebenheit“ belebt sich nun das vor der Kamera Verweilende durch sein pures Dasein. Dargeboten wird ein Intensivbild des Gegenstandes im Raum, doch diesen Luxus des Verweilens kann sich die Leinwand nur kurzzeitig leisten. Falls der Stillstand länger andauerte, wäre die Gefahr der Verflachung des Bildes gegeben und sogar die der Zerstörung der Raumillusion. Der Grund für diese Gefahr könnte darin liegen, daß die Tatsache der Flächigkeit der Leinwand nie ganz unserem Bewußtsein entschwindet und wir, wie H. Münsterberg (1996 [1916]) schreibt, „weil beide Augen identische Eindrücke empfangen, ständig an die Flächigkeit des Bildes erinnert werden“ (45). Beginnt die Kamera zu ruhen, gewährt sie uns die Zeit, die Gegebenheit zu betrachten. Ein attraktives Bild lädt den Kinogänger zum Verweilen ein. Die vorherige Bewegung der Bilder sammelt sich nun im aktuellen Standbild, was dem Zuschauer den Impuls gibt, die im Kino unerwartete Statik des Bildes mit seiner Phantasie zu dynamisieren. Überrascht, in einen figurenleeren Raum hineinzusehen, beginnt er bald, Personen zu imaginieren. Dabei werden Gegenstände im figurenleeren Raum zu Hinweisern, gelegentlich mit einem Ausrufezeichen versehen. „Gegebenheit“ öffnet dem Zuschauer den Weg zu Figuren und zu deren Handlungen: „Selbst dort, wo Räume ohne Menschen gezeigt werden, erscheinen sie als potentielle Aktionsräume und Betätigungsfelder, als Projektionen von Vorstellungen und Träumen, stehen, nicht zuletzt durch den betrachtenden Blick des Zuschauers, in Beziehung zum menschlichen Handeln“ (Hickethier 2001: 74).
Figurenleere Räume beleben den Kinogänger, insofern seine Phantasie für ihn und für die Geschichte aktiv wird. Wenn der Raum figurenleer ist, wird die Zeit langsamer und somit erfahrbarer. Während dieser Dehnung der Zeit sind die Blicke des Zuschauers für einige Momente freigelassen. Der Kinogänger ist nun von der Fokussierung entlastet, welche die Kamera ihm vorgegeben hatte. Er hat jetzt die Freiheit, sei-
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Im Korpus der 50 ausgewählten Filme sind selbst großartige Landschaftsaufnahmen in der „Der schwarze Falke“ (USA 1956, R.: Ford) zumeist mit Personen bevölkert.
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ne Augen souverän im Bild zu bewegen und dabei autonom zu fokussieren. Dinge, die er auf der Leinwand vorher noch nicht wahrgenommen hatte, erreichen nun sein Bewußtsein. Natürlich ist dieser Prozess der Verlangsamung gewollt und inszeniert: Der Regisseur und sein Team9 haben den Bildaufbau gründlich überlegt und wollen eine bestimmte Wirkung erzielen. Jede spezifische Intention schafft sich ihre eigene Bilddramaturgie. Wir sehen nur, was wir denken sollen. Für die Belebung des Bildes sorgt auf eine eigene Weise die hohe Schärfentiefe, wodurch erreicht wird, daß Vorder- und Hintergrund des Bildes gleichmäßig klar zu erkennen sind. Ist aber der ganze Bildraum gleich scharf fotografiert, hat dies zur Folge, daß kein eigentliches Schärfezentrum vorgegeben ist10. Das ganze Bild ist quasi übersäht mit lauter Zentren. Hohe Schärfentiefe also stimuliert den Zuschauer zur eigenen Erkundung, denn die Augen gleiten über die gesamte Leinwand leicht und widerstandslos hinweg. Der Kinogänger ist nicht gezwungen, einer vorgegebenen Fokussierung zu folgen und empfindet dies, weil er im Alltag in seiner natürlichen Umgebung das Scharfstellen des Blicks selbst vornehmen muß, als eine angenehme Erleichterung. Zugleich aber erzeugt Schärfentiefe im gesamten Kinobild eine Irritation: Wo immer ich hinsehe, hat die Bildprojektion mir die Arbeit des Scharfstellens bereits abgenommen. Wohin mein Blick will, dort hat die Kamera bereits einen imaginären Fokus gesetzt. Sie ist schneller als ich, und so verliert mein Zeitgefühl die gewohnte Kontinuität. Der virtuellen Entlastung11, die durch hohe Schärfentiefe einerseits erzielt wird, steht andererseits die beunruhigende Wahrnehmung12 ent-
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„Ein Filmteam besteht im Durchschnitt aus 50 Leuten. Ein Regisseur ist ohne diese 50 Leute nicht fähig, einen Film zu drehen“ (Hormann 2006: 79).
10 Siehe auch Dadek (1968: 266). 11 Virtuelle Entlastung bezieht sich auf einen rein psychologischen Effekt, da das Auge aus physiologischer Sicht stets auf die Leinwandoberfläche fokussiert. 12 Dieses unheimliche Gefühl können wir vor allem in dem legendären Film von Orson Wells „Citizen Kane“ erleben, der in vielen entscheidenden Szenen eine große Schärfentiefe aufweist. Vgl. Ast (2002: 70 ff; (Borstnar, Pabst, Wulff 2002: 142).
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gegen, daß das Bild jenseits meiner Fokussierungsanstrengungen sein Eigenrecht behauptet. „Gegebenheit“ führt also zu einer Belebung des Bildes, weil sie sich kontrapunktisch gegen die Bildbewegung stellt. Zudem aktiviert die ungewohnte Situation die Phantasie des Beobachters und stiftet im menschenleeren Raum Beziehung zur filmischen Erzählung. Wir haben in den obigen Überlegungen drei Arten der Zeit berührt: die physikalische, psychologische und dramatische Zeit. Ralph Stephenson und Jean R. Debrix (1969: 90) halten diese Unterscheidung13 für „useful and logical“. Denn der Zuschauer, der aus seinem Alltag heraus das Kino betritt, weiß – physikalisch –, daß es sich um etwa zwei Stunden Film plus Vorschau und Werbung handeln wird, die er dort im Sitzen verweilt. Das Zeitgefühl ändert sich aber rasch, wenn er die Institution betritt, die im Kassenbereich mit vielen großformatigen Bildern aufwartet, die auf das Ereignis Film, das hier gesehen werden kann, hinweisen. Dieser Eingangsbereich markiert den Zutritt in die psychologische Zeit, die der Kinogänger wenig später im verdunkelten Projektionsraum erlebt. Die Gestaltung der Geschichte strukturiert dieses Zeiterleben und Interpunktionen müssen gesetzt werden, damit Aufbau und Verlauf nicht verwässert werden. Der Kinogänger reagiert auf diese Zeitmarken, so daß das dramaturgische Moment sein Zeiterleben determiniert. Im figurenleeren Raum verdichtet sich die filmische Narration: „Der im Film gezeigte Raum wird als Handlungsraum der Figuren verstanden“ (Hickethier 2001: 74). Indem er gezeigt wird, „wirft [das Kino] auf eine Leinwand“ nicht nur „Bilder der Vergangenheit“ (Brook 2001: 145), sondern auch der Zukunft.
13 Sie schreiben diese Balász zu, doch konnte ich keinen Beleg dafür finden.
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Abb. 27: „Die Kamera verweilt für eine gewisse Zeit bei den Gleisen und Strommasten eines Bahnhofes zu nächtlicher Zeit, während sich langsam ein Zug nähert“ („Heat“, USA 1995, R.: Michael Mann, 00:00:55).
Abb. 28: „Die Kamera verweilt für eine gewisse Zeit auf dem Ziffernblatt einer futuristischen Wanduhr“ („Metropolis“, D 1926, R.: Fritz Lang, 00:02:58).
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Gegenstandsmagie/Schwenk („Positionsänderungen“) „Die Kamera zeigt aus einer größeren Entfernung einen Gegenstand aus bzw. in verschiedenen Raumpositionen. Der Zuschauer verfolgt dies mit Interesse.“ Verweilt die Kamera zuerst vor einem Gegenstand und zeigt ihn dann erst aus verschiedenen Positionen des umgebenden Raumes, so wird das Interesse an ihm verstärkt. „Filme ohne jeden Wechsel des Kamerablicks werden als strapaziös empfunden“ (Hickethier 2001: 56). * * * Für diese Einstellung gibt es prinzipiell mehrere Möglichkeiten, so etwa: • • •
Die Kamera verändert sprunghaft ihren Standort und betrachtet den ruhenden Gegenstand. Die Kamera ruht und schwenkt. Oder: Die Kamera fährt auf Schienen im Raum, während sie seine Gegenständen in unterschiedlichen Bildpositionen zeigt.
Die erste ist die effektivste Methode, die zweite die gebräuchlichste. Für die beiden ersten Fälle trifft die Bemerkung Marlene SchnelleSchneyers (1990) zu: „Die Position, in die die Kamera gebracht wird, entscheidet darüber, in welcher Weise die optischen Anordnungen in das Bild transformiert werden“ (34-35). Soll Bildkontinuität erreicht werden, macht der sprunghafte Standortwechsel der Kamera einen Schnitt14 notwendig, wobei in der Regel
14 Platinga (1990) verweist darauf, daß die Anzahl der Filmschnitte beständig zunimmt: „Average shot lengths in mainstream films have been steadily decreasing since the 1960. By 1981, the average shot length for motion pictures was roughly 10 seconds [...]. It has been estimated that today’s average film contains roughlys 1.200 shots. If we take the 1.200 shots figure, and consider two hours to be the average lenght of a feature, then the average shot lenght would be about six seconds“ (249) Innerhalb der letzten zehn Jahren hat sich durchschnittlich die Länge der shots weiterhin vermindert.
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das sogenannte „180-Grad-Prinzip“ (Beller 1993: 16) befolgt wird. Das besagt, daß der technische Apparat seine Bilder innerhalb eines 180- Grad-Achsenbereichs (vom Standpunkt des Zuschauers aus) zeigt. Überschreitet sie dieses Feld, werden ihre Bilder für den Kinogänger irritierend, da sein Blick sonst hinter das Objekt geraten würde (vgl. Ast 2002: 26). Technisch gesprochen, wäre dies ein „Achsensprung“ (Borstnar, Pabst, Wulff 2002: 138). Also hält das 180-GradPrinzip die Filmillusion aufrecht. Der Schnitt begrenzt die Bewegung der Kamera und somit die Wahrnehmung des Kinogängers. Nach dem Schnitt entsteht ein neues Bild, das eine neue Adaptation notwendig macht, insofern jetzt eine eigenständige Erfassungsleistung verlangt wird. Zudem bewirkt die sprunghafte Positionsänderung des Kamerablicks ein verändertes Zeitgefühl beim Zuschauer. Dieser registriert den neuen Standort als Resultat einer Bewegung, die er selbst nicht vollzogen hat15. Die visuelle Diskontinuität irritiert ihn, da der sprunghafte Positionswechsel wie etwas Fremdes, Unkontrollierbares auf ihn zukommt. Wir sind gewohnt, Zeit in einer kontinuierlichen Bewegung zu erleben und nicht in abrupten Sprüngen, die uns von außen erreichen. Der Kinogänger quittiert diesen Umstand mit der Änderung seines Bewußtseins dahingehend, daß es ihm möglich wird, der Geschichte trotz der vielen Diskontinuitäten zu folgen. Mit der „Filmwahrnehmung“ ausgestattet16 gelingt es ihm mühelos, die Handlungen zu konstruieren, und der Schnitt wird so zum Eingangstor für einen tagtraumartigen Zustand. Das Selbst des Zuschauers verliert seinen Halt in der gewohnten Bewußtheit des Ichs und der Zuschauer nimmt die Illusion der Raumsprünge mit Befriedigung entgegen. Der rezeptive Umgang mit Schnitten ist uns allen selbstverständlich geworden. Jeder hat einmal gelernt, einen Film zu betrachten. R. Stephenson und J. M. Debrix (1969) schreiben: „In the cinema, by means of shot-change, we are continually jumping from one view to another. We are transported in a flash from the house to the street, from the town to the country, and from the present to the past. Different parts of space appear before our eyes discontinuously, and objects on the screen appear
15 So etwas begegnet uns in dieser Form im Alltag nicht. Selbst im ICE wissen wir, daß er es ist, der uns bewegt. Der Kinosaal jedoch ruht. 16 Vgl. den entsprechenden Abschnitt im zweiten Kapitel.
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and disappear without any predetermined spatial relationship. In the cinema we accept this as a matter of course. It is an artistic convention to which we are so accustomed that we are hardly conscious of it“ (64).
Zwischen Schnitt und den früher abgehandelten „Fragmenten“ 17 besteht eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit: Beides Mal handelt es sich um rasch aufeinanderfolgende Trennungen, die Veränderungen im Bewußtsein hervorrufen. Diese Ähnlichkeit zwischen Filmschnitt und der Fragmentiertheit unserer „inneren Bilder“ stiftet eine Vertrautheit mit den durch Schnitt fragmentierten Leinwandbildern. Sie ist uns freilich nicht bewußt. Gegenstände, die der Film aus unterschiedlichen Raumpositionen zeigt, rufen unsere besondere Aufmerksamkeit hervor. Wir sind es nämlich gewohnt, in erster Linie die im Film handelnden Figuren aus verschiedenen Positionen zu sehen. Geschieht dies nun einmal mit einem leblosen Gegenstand, so wirkt er beseelt. Möglicherweise hat diese Beseelung etwas Magisches an sich, Doch in Spielfilmen kommt das vergleichsweise selten vor18, weil sie eben Spiel-Filme sind und keine Dokumentationsfilme. Es scheint, daß der Filmraum ein Personenraum ist und keine weiteren Begleiter braucht. In der Tat: Geschichten handeln in aller Regel von Menschen (ausnahmsweise auch von Tieren, die dann aber vermenschlicht sind) und konzentrieren sich daher auf Personen als Akteure. Häufiger als die sprunghafte Positionsänderung mit harten Schnitten im figurenleeren Raum ist aber im Kinofilm der Schwenk. Dabei verändert die Kamera ihre Position nicht, sondern streift über die Dinge hinweg. Diese Erfahrung ist dem Zuschauer von seinem Alltag her
17 Unter Fragmenten verstehe ich innere Bilder, die im Zustand zwischen Wachen und Schlafen auftreten und in scheinbar regelloser Reihenfolge und ohne Zusammenhang wahrgenommen werden können. Vgl. den ersten Abschnitt in „Eine kleine Philosophie …“. 18 Unter den gesichteten 50 Filmen erhielten Gegenstände in „Positionsänderungen“ vor allem in dem Klassiker „Citizen Kane“ (USA 1941, R.: Welles) diese magische Wirkung, als die Kamera aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedliche Gegenstände der Schloßumgebung zeigte: u.a. einen griechischen Tempel, tropische Bäume, eine Sitzbank und einen Golfplatz (00:01:48).
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bekannt; schließlich erkundet er bewußt seine Umwelt durch den „Schwenk“ seines Kopfes. Dabei kann das visuelle Abtasten verschiedene Wirkungen erzielen: Vollzieht es sich in auf der Leinwand gezeigten Privaträumen, so eignet dem Bild etwas untergründig Erotisches. Denn das Intime, von der Öffentlichkeit abgeschirmte Leben verlangt nach einem Zutrittsrecht, das sich der Zuschauer mit der Eintrittskarte quasi erkauft hat. Somit ist er gleichsam ein legitimer Voyeur. Der Kinogänger will in den Film, und auf seinem Weg dorthin ordnet er, gerade wenn figurenleere Räume gezeigt werden, Gegenstände, wie bereits vermerkt19, als „Hinweise“ Personen zu. Und wenn wir fremde, isolierte Objekte schweifenden Auges berühren, erleben wir diese besondere Spannung intensiver, als wenn die mit ihnen verbundene Person zugleich sichtbar wird. Die erotische Wirkung des Dings ist deshalb so mächtig, weil es seinen Besitzer – oder seine Besitzerin – repräsentiert. Wenn der Kamerablick über Gegenstände schwenkt und dann auf einer der Figuren ruhen bleibt, geht die potentielle erotische Wirkung jedoch verloren. Denn letztlich überstrahlt die Aura, die personal von einer Figur ausgeht, den Raum. Handelt es sich hingegen um Räume, die dem öffentlichen Blick per se zugänglich sind, so informiert der Schwenk über das, was jeder sehen darf. Das können Garagen, Tankstellen, Landschaften oder Städtebilder sein. Dieser Schwenk, vor allem über solche räumlichen Gegebenheiten, deren Kenntnis der Kinogänger zumindest ansatzweise benötigt, versetzt den Zuschauer in die Lage, den weiteren Stationen der Geschichte folgen zu können. Werner Kamp und Manfred Rüssel (1998), die als Filmemacher zwischen Schwenks und Fahrten unterscheiden, schreiben, „daß langsame Kameraschwenks entweder der räumlichen Erfassung oder der Verfolgung von Personen oder Objekten dienen. Hier steht die Informationsvermittlung im Vordergrund. Schnelle Kameraschwenks dagegen verstärken die dramaturgische Funktion einer Szene“ (25). Wenn Kamerafahrten oder Schwenks in öffentlichen Räumen stattfinden, erhalten wir, anders als bei der sprunghaften „Positionsänderung“, unser Zeitgefühl aufrecht bzw. gewinnen es kurzzeitig wieder. Das Stilmittel des Schwenks wirkt daher am Ende eines Films eher künstlich, am Anfang aber immer wirklichkeitsnah. Die dem Schwenk
19 Vgl. vorheriges Kap. „Gegebenheit“.
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eigene „Natürlichkeit“ beeindruckt, wenn sie zur Hinführung in eine Szenerie dient20; und gerade dann, wenn diese filmische Einstellung früh kommt zeigt sich ihre wesentliche Funktion: Sie kann dem Zuschauer grundlegende Informationen zur Verfügung stellen, die ihm zugleich Wertungen und Gewichtungen anbietet: „Was sagt dieser Raum? Finde ich Gefallen an ihm? Spricht er mich an?“ Dem Kinogänger werden solche zu Beginn einer Geschichte erscheinenden Raumimpressionen in nachhaltiger Erinnerung bleiben, weil es Ersteindrücke sind. Wer den Kinosaal betritt, ist auf ein opulentes Werk aus Bild und Handlung eingestellt. In diesem Aufmerksamkeitsstadium wirken einfache Informationen eindringlicher und prägnanter als an späteren Stelle des Films. Die verschiedenen Ansichten eines Baums, einer Mauer oder einer Hausfront in den ersten Bildern sind initiale Wegweiser, die man als Signale dankbar und gerne entgegennimmt, weil der Weg in den Film gerade erst begonnen hat. Darüber hinaus gibt es in jedem von uns ein Wissen über die Raumkonstanz: Selbst wenn sich die Gegebenheiten in ihrer Gestimmtheit durch Licht und Farben wandeln, erwarten wir von Räumen selbst keine substantielle Veränderung. Das eben macht auch die Speicherung der Informationen über den Raum am Anfang eines Films leichter. Kamp und Rüssel vermerken zu Schwenk und Kamerafahrt: „Beide Bewegungsgruppen vergrößern den Bildraum, verschaffen Überblick, zeigen Räume und Personen, verfolgen Objekte. Sie leiten den Blick der Zuschauerinnen und Zuschauer und verstärken das Gefühl von Aufmerksamkeit“ (23). Es bleibt festzuhalten, daß „Positionsänderungen“ ebenso wie die beiden vorherigen Einstellungen der Raumperspektive („Zielstrebige Bewegung“ und „Gegebenheit“) ein einfaches und zugleich wirkungsvolles Stilmittel ist, dem Kinogänger auf den Weg in die Geschichte zu bringen. Es stellt basale Informationen bereit, die in Einstellungen in figurenbesetzten Räumen nicht oder nicht so prägnant gegeben werden können.
20 Beispielsweise in den Anfangsszenen von „Psycho“ (USA 1960, R.: Hitchcock) oder „Auf der anderen Seite“ (D 2007, R.: Akin).
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Abb. 29: „Die Kamera macht innerhalb des Wohnzimmers von Wiessler (Ulrich Mühe) einen Schwenk, so daß unterschiedliche Einrichtungsgegenstände sichtbar werden“ (Das Leben der Anderen, D 2006, R.: Florian Henckel von Donnersmark, 00:17:08)
Abb. 30: „Die Kamera fährt, während sie nach rechts schwenkt und den Verlauf des Mauerwerks, ein Gebäude, einen Erdhaufen, einen Bus und anderes zeigt, bis ihr Blick auf einer Tankstelle stehen bleibt“ (Auf der anderen Seite, D 2007, R.: Fatih Akin, 00:00:39).
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Déjà-vu-Erfahrungen/Kadrierung („Raumbild“) „Die Kamera fokussiert aus einer größeren Entfernung einen für den Raum charakteristischen Gegenstand. Der Zuschauer erkennt diesen als einen Hinweis auf die Spezifik dieses Raumes.“ Ob ein Gegenstand für einen Raum charakteristisch ist, erkennt der Zuschauer leichter, wenn er ihn zuvor aus unterschiedlichen Positionen gesehen hat. * * * Die Leinwand des Kinos ist eine Fläche, auf die alle Zuschauersitze ausgerichtet sind. Selbst dem Besucher aus einer anderen Welt, der nichts von der Funktion des cinematographischen Arrangements wüßte, würde sie als zentraler Gegenstand des Raums erscheinen. Dieser Eindruck bleibt selbst dann erhalten, wenn die Lichter sich verdunkeln und wenn sich die Leinwand von einer weißen Fläche in einen Bildträger verwandelt hat. Sie strahlt ihr Licht nach außen ab, wobei die Helligkeit ständig variiert. Dem Kinogänger ist es selbstverständlich, daß die Leinwand bespielt ist, und so konzentriert er sich ganz auf das Lichtgeschehen. Während der Vorführung wird er gelegentlich auch die Dunkelheit des Raums bemerken und nur aus Gründen der Sicherheit bleiben die Gänge für den Zuschauer konstant im Dämmerlicht. Kurzum: Jenseits der Leinwand endet der Zauber. Die Einrahmung des Filmbildes nennen wir Kadrierung. Der französische Philosoph Gilles Deleuze (1989) ist der Auffassung, daß mittels der Rahmung ein geschlossenes System konstituiert wird, „das alles umfaßt, was im Bild vorhanden ist“ (27). Es umschließt folglich „ein Ensemble, das aus einer Vielzahl von Teilen“ besteht. Wir können, so Deleuze, diese Elemente in unterschiedliche Kategorien bringen. Sie lassen sich beispielsweise ordnen nach Farben, Formen, Linien und Figuren oder – unter materialen Gesichtspunkten – nach Kleidung, Gegenständen privater Häuslichkeit oder solchen des öffentlichen Raums. Grundsätzlich aber ist die Kadrierung ein Resultat bewußten Schaffens, denn sie ist „die Kunst, Teile aller Art für ein Ensemble auszuwählen“ (35). „Es kann gar nicht oft genug betont werden, daß alle transformierten
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Elemente im Bild ihren Stellenwert aus der Bildgrenze erhalten“ (35), schreibt M. Schnelle-Schneyder (1990)21. Ohne die Rahmung könnte kein Informationswert entstehen, der festlegen könnte, welche Elemente für das Bild konstitutiv sind, und der Rahmen ist selbst ein elementares Mittel der Bildkomposition: „Die Begrenzung des Bildfeldes strukturiert das Bildfeld, indem es alle Teile zueinander in Beziehung setzt. Kennzeichen dafür ist zunächst, daß das Bild eine Bildmitte aufweist“ (Hickethier 2001: 50). Eine Begrenzung unseres Sichtsfeldes, wie sie während der Projektion im Kino stattfindet, ist im Alltag unüblich. In allen offenen und geschlossenen Räumen können wir unsere Wahrnehmung nahezu beliebig ausdehnen. Zu diesem Zweck müssen wir nur unseren Körper, den Kopf oder ganz einfach unsere Augen bewegen. So etwas tun wir beständig, ohne jedes Nachdenken und wie automatisch. Diese Unbegrenztheit stellt uns zugleich vor die Aufgabe, unser Blickfeld bewußt zu organisieren, und zwar so, daß wir selbst selektieren, was für uns im weitesten Sinne nützlich ist. Wir haben im alltäglichen Leben unsere „Bildmitte“ also erst zu suchen und zu finden. Diese Arbeit nimmt uns nun das gerahmte Leinwandbild ab: Der „Kamerablick organisiert das Bild, er setzt den Rahmen, wählt den Ausschnitt, der von der Welt gezeigt wird, er bestimmt, was zu sehen ist“ (Hickethier 2001: 57). Für den Kunsthistoriker Richard Hamann (1983) sind es die Faktoren „Konzentration“, „Isolation“ und „Intensivierung“ (13), die – in der Regel kadrierte – Kunstwerke wie ein Gemälde, Fotografien, aber auch – so können wir hinzufügen – Kinobilder von der nicht medial vermittelten Naturansicht unterscheiden. So führt Hamann aus: „Der Rahmen hat [...] eine konzentrierende, das Auge auf das Bild lenkende und heftende Wirkung, indem er den Bildinhalt in eine einzige in sich zurücklaufende, mittelpunktbehaftete Figur zusammendrängt. Das Relief des Rahmens, das im allgemeinen eine in den Bildinhalt gleichmäßig, d.h. konzentrisch hineinführende Perspektive besitzt, sorgt ebenfalls für die Konzentration des Blickes. Die für die isolierende Bildlichkeit des Gemäldes [bzw. des Filmbildes] so wichtige Flächigkeit erlaubt es, ohne Adaptation des Auges auf die Nähe und die Ferne mit ihrer dadurch bedingten Veränderung des Bildes den ganzen Bildinhalt mit einem Blick zu erfassen, und konzentriert so die sehbedeutsamen Einzelheiten, drängt sie in eine Sicht zusammen“ (16).
21 Siehe auch Andrew (1984: 43).
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Hamann bezieht sich anschließend auf die Erfahrung, die jeder von uns ständig macht: „Einen Innenraum, in dem wir weilen“, so der Autor, „können wir nie auf einmal als Bild ins Auge fassen“. Aber das (gerahmte) Kunstbild, ob nun mit der Hand gemalt oder mit der Kamera erstellt, vermag „einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus ein viel umfassenderer, im Bilde zusammengedrängter Inhalt auf einen Blick zur Erscheinung kommen kann als in Wirklichkeit“ (16). Wenn nun darüber hinaus die filmische Einstellung „Raumbild“ einen charakteristischen Gegenstand zeigt, so kommt es zu einem zweifachen Effekt des Kompositionsprinzips: Zum einen erscheint der Gegenstand tendenziell in der Bildmitte, auf die hin alle Kräfte sich konzentrieren und durch den Rahmen ihren eigentlichen Status erhalten. Zum anderen ist das gezeigte Objekt selbst charakteristisch für den Raum, in dem die Szene spielt. An den ersten Effekt ist das Auge des Zuschauers gewöhnt: Er sieht im Filmbild, das ja immer gerahmt ist, wie auf einem Gemälde die von der Kamera für wesentlich gehaltenen und gemachten Dinge. Sein Interesse am Bildgeschehen wird gerade dadurch aufrecht erhalten, daß es durch die Kadrierung seine Inhalte hervorhebt und ihnen eine gänzlich unalltägliche Wirkung verleiht. Das Kinobild, so läßt sich sagen, leistet qua Kadrierung immer eine Aufwertung des Gezeigten. Die filmische Einstellung „Raumbild“ ruft ein ähnliches Gefühl der Vertrautheit mit dem Gesehenen hervor, wie es Personen in Handlungssituationen tun. Wenn der Zuschauer sofort erkennen kann, in welchen Raum ihn die Kamera führt, fühlt er sich gut orientiert. Selbst beispielsweise der Kamerablick durch das Gitter einer Gefängniszelle, die als solche sofort erkennbar ist, weil sich dahinter eine Pritsche befindet, stiftet eine solche wohlorientierte Vertrautheit, obschon der gezeigte Raum das Gegenteil einer Idylle ist. Anheimelnder wirkt die Einstellung „Raumbild“, wenn imposante Räumlichkeiten wie etwa die Eingangshalle eines Theater oder Opernhauses (s. Abb. 31) oder eine stimmungsvolle Dorfansicht an einem Fluß (s. Abb. 32) erscheinen. Immer aber steht der Raum als Bedeutungsträger für sich da und bedarf keiner weiteren Kommentierungen. Von der psychologischen Seite her erzeugt „Raumbild“ das Gefühl verläßlicher Sicherheit, indem diese Einstellung dem Zuschauer das Wissen darüber vermittelt, an welchem Ort sich seine Phantasie gerade befindet. Diese Standortgewißheit, verbunden mit dem Gefühl, von der
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Aufmerksamkeit auf die Handlung für einen Moment entlastet zu sein, ebnet ihm zusätzlich den Weg in den Film. So ist es nicht verwunderlich, wenn diese filmische Einstellung häufig zu Filmbeginn, als „Establishing“-Shot, verwendet wird, also als eine Aufnahme, die das Handlungsgeschehen etabliert. Voraussetzung ist allerdings die Klarheit des Filmbildes: Eine nächtliche Szene, die wir erst nach einigen Sekunden als eine Bahnhofsszenerie identifizieren können22, ist der Einstellung „Gegebenheit“ zuzuordnen, weil dort eben das Verweilen der Kamera das entscheidende Kriterium ist. „Raumbild“ hingegen liefert zugleich eine Wahrnehmungserkenntnis, wie sie in aller Regel nur in den vertrauten Räumlichkeiten des Alltags gegeben ist. Das ist es, was die Charakteristik dieser Einstellung dem Kinogänger anbietet: die Freiheit, ohne große Anstrengung, sei sie konstruierender, sei sie rekonstruierender Art, sozusagen im selben Moment dort präsent zu sein, wo sich ihm der Raum vermittels eines starken Repräsentanten öffnet. Dieses Pars-pro-toto-Prinzip funktioniert freilich am besten im Fall von Gegenständen, deren Signalcharakter uns gut bekannt ist, beispielsweise eines Kirchturms (in „Nosferatu“ D 1922, R.: Friedrich Wilhelm Murnau) oder einer Brücke (in „Die Brücke“, D 1959, R.: Bernhard Wicki). Dieser Wiedererkennungseffekt ist in den meisten Fällen Resultat eigener Erfahrung, so daß sichergestellt ist, daß eine Reihe von biographischen Erinnerungen und Alltagserlebnissen anreichernd hinzukommen. Wenn diese filmische Einstellung Assoziationen (Kirchturm, Brücke, Treppenfoyer) weckt, so deshalb, weil mit ihr das Bild vom Raum im (Leinwand-)Bilde erscheint. Die Fähigkeit, spontan und adäquat auf „Raumbild“ zu reagieren, ist Resultat eines langen Aneignungsprozesses nicht nur filmischer, sondern überhaupt kultureller Erfahrungen, Zeichen und Symbolik. Aktiviert werden innere Repräsentationen, die im visuellen Gedächtnis des Zuschauers gespeichert sind. Sie wachzurufen ist eine der Hauptaufgaben der Eingangssequenzen eines Films. Wir werden später23 sehen, daß das „Raumbild“ selbst zu einem Symbol für den „Ort“ der Handlungen werden kann, wenn sich in ihm die Ereignisse der Geschichte bündeln. Vorerst mag der Leser ermuntert sein zu überprüfen, mit welchen „Raumbildern“ er sein eigenes Leben gestaltet. Vermut-
22 Siehe Abb. 27, „Heat“ (USA 1995, R.: Mann, 00:00:55). 23 Siehe Abschnitt „Ort“ in diesem Kapitel.
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lich wird er feststellen, daß ein starker Zusammenhang besteht zwischen diesen und den für ihn attraktivsten von der Kamera gelieferten Raumbildern.
Abb. 31: „Die Kamera fokussiert die Eingangshalle eines repräsentativen Gebäudes“ (Comedian Harmonists, D 1998, R.: Joseph Vilsmaier, 00:00:09).
Abb. 32: „Die Kamera fokussiert mehrere Charakteristika eines Dorfes: den Fluß, dann die Häuser, die Brücke und den Zufahrtsweg“ (Tiger&Dragon, Taiwan 2000, 00:00:38).
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Sakralisierung des Raums/Kreisfahrt („Kreisbewegung“) „Die Kamera beginnt in einer längeren Sequenz aus einer größeren Entfernung einen Gegenstand zu umkreisen. Damit rundet sich die Einsicht des Zuschauers in die Beschaffenheit des jeweiligen Raumes.“ Die Umkreisung eines Gegenstandes ist dann besonders eindrucksvoll, wenn der Zuschauer ihn zuvor als ein diesen Raum charakterisierendes Objekt erkannt hat. * * * Beginnen wir mit etwas Bekanntem: Wenn die Kamera einen Gegenstand umkreist, so erreicht sie mit dieser Bewegungsform nach einer gewissen Zeit wieder ihren Ausgangspunkt, und sie hat 360 Grad durchmessen. Nach 180 Grad der Umdrehung hatte sie den „imaginären“ Zuschauerraum anvisiert. Auch wenn die professionellen Bildgestalter zu Recht möchten, daß jeder ihrer Zuschauer ein Höchstmaß an Filmwahrnehmung24 entwickelt, so sträubt sich in ihm doch alles dagegen, sein prüfendes und urteilendes Realitäts-Ich vollständig aufzugeben. Schließlich gewinnt er ein unverzichtbares Maß an Stärke dadurch, daß er Kontrolle über seine Umgebung aufrechterhält. So strebt der Kinogänger einerseits nach einer Maximierung der Wunscherfüllung durch Illusion: Er will im verdunkelten Kinoraum die Welt mit den fremden Augen der Kamera sehen. Andererseits möchte er sich nicht einem vollständigen Kontrollverlust hingeben und den Beobachterstatus für die gesamte Zeit der Filmvorführung verlassen. Eine vollständige Kreisfahrt, bei der die Kamera den Gegenstand kontinuierlich im Winkel von 360 Grad umzirkelt, bedeutet für das Verhältnis von Wunsch nach Illusion und Kontrollverlust: Das Moment der Illusionsbildung wird gestärkt und das Moment der Selbstkontrolle geschwächt. Es sind vier Aspekte der Kreisfahrt, die ich hier beleuchten möchte:
24 Siehe den entsprechenden Abschnitt in 2. Kapitel.
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1. Häufig findet sie nur in Ausschnitten (Segmenten) statt. Hierzu ließe sich die Anfangsszene von „Die drei Tage des Condor“25 (USA 1975, R.: Sydney Pollack) anführen. Obwohl es sich dort um eine elektrische Schreibmaschine handelt, macht die langsame Kreisbewegung die Sehbeziehung zu diesem Gerät persönlich (00:00:31). Diese Grundtendenz, die Beziehung zum umkreisten Gegenstand zu einer vermenschlichten Beziehung werden zu lassen, wohnt jeder Kreisbewegung inne, auch wenn sie wie hier nur partiell vollzogen wird. Diese Quasi-Verlebendigung eines ansonsten leblosen Objektes beruht auf der Langsamkeit und der Weichheit der Bewegung, die einem aufmerksamen Umschreiten gleichkommt. Aus dem Alltag kennen wir es in dieser Form nur in spezifischen Situationen, beispielsweise wenn wir einen runden Tisch dekorieren oder ein neues Auto umkreisend begutachten. 2. Betrachten wir einmal eine Kreisbewegung aus Alexander Kluges „Abschied von gestern“ (D 1966, 00:10:44). Es handelt sich hierbei um eine Umfahrt auf menschlicher Augenhöhe, die vollständig, d.h. nicht segmentiert und ungeschnitten verläuft. Die Protagonistin auf einer Rasenfläche inmitten eines Straßenkreisels wird von einem im Kreisverkehr fahrenden Auto aus gefilmt. Hier sind es die Schnelligkeit der Bewegung und der Kontext der Situation, die diesen Eindrücken nicht etwa persönliche Wärme, sondern objektive Kälte verleihen: Anita G. wird verfolgt, und die vollständige Kreisfahrt gleicht einer Gefangennahme. Dem hilflosen Opfer sind alle Auswege versperrt. Andererseits aber haben diese Bilder auch etwas Erotisches, weil bei jeder Kreisbewegung die Tendenz des Umfangens, das Streben nach Einigung mit ins Spiel kommt. 3. Es gibt Kreisfahrten, die so gestaltet sind, daß die Kamera in die Lüfte geht und den Gegenstand mit einem extrem hohen Abstand umfährt. Ein Beispiel hierfür sind Hubschrauberflüge wie der in Orson Welles´ „Citizen Kane“ (USA 1941), als das Anwesen des Verstorbenen von hoch oben gezeigt wird26 (00:03:33). In Wim Wenders´ „Der
25 Film Nr. 49 im Korpus der 50 ausgewählten Filme. 26 Zuvor hatte die Wochenschau im Film Gegenstände, die sowohl den Reichtum wie das Anwesen von Kane charakterisieren, in Einzelaufnahmen gezeigt.
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Himmel über Berlin“ (D 1987) werden Häuserblocks von oben anvisiert (00:02:21); und hier wie dort evoziert das hohe Umkreisen in freier Luft das Gefühl, mit dem Gegenstand eins werden zu können. In beiden Beispielen verleiht der Adlerblick, anders als es ebenerdig möglich wäre, dem Kinogänger das Gefühl von Macht bzw. überirdischer Kraft. So wunderlich es auch klingen mag: Wir sind für einen kurzen Augenblick glücklicher, wenn wir kreisend über ein Haus fliegen können, als wenn wir in ihm wohnen. 4. Die Kreisbewegung wird von einem unveränderlichen Standpunkt aus vollzogen, indem sich die Kamera um ihre eigene Achse dreht. Dies ist beispielsweise der Fall in „Lawrence von Arabien“ (USA 1962; R.: David Lean), wenn der innere Seelenzustand des Protagonisten herausgestellt wird, als dieser sich im Innenhof eines Gebäudes mehrmals auf seinem Fuß umwendet und die Kamera diesen Vorgang aus seiner Perspektive verfolgt. Der sich rundende Raum läßt eine Wirkung des Einigwerdens, der visuellen Vervollständigung entstehen, die aber sogleich wieder zerfällt, weil die kreisende Bewegung sich maßlos beschleunigt und dann jäh abbricht: Lawrence wird vom Schwindel ergriffen, und ihm schwinden die Sinne. Ein etwas anders gelagertes Beispiel findet sich in Fassbinders Film „Händler der vier Jahreszeiten“ (D 1972). Hans Epp (Hans Hirschmüller) steht in einem Innenhof, und während er sich um seine Achse dreht, zeigen die Bilder die kreisenden Häuserfronten, derweil Epp laut rufend seine Ware anpreist (00:01:39). Die Kreisfahrt der Kamera gewährt Einfühlung in die Kundensuche und in Epps Wunsch, mit der Käuferschaft Einigung zu erzielen. Von den vier hier genannten Möglichkeiten, Kreisfahrten zu gestalten, ist die zweite (Personenumrundung) die gebräuchlichste. In Spielfilmen als einem narrativen Genre wird man nämlich eher eine von Menschen getragene Handlung erwarten als das Erscheinen figurenleerer Räume. Für die Wirkung der Kreisfahrt reichen wenige Sekunden, denn es genügt eigentlich schon eine Andeutung dieser Bewegungsart, weil der Kreis diejenige geometrische Form ist, die der Mensch am einfachsten erkennt27. Die Kreisbewegung führt ohne Ecken und Enden auf sich selbst zurück und ist deshalb ein leicht eingängiges optisches Muster. Die
27 Vgl. Arnheim (1988).
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zyklische Bewegung hebt nicht nur die gewohnte Erfahrung der linearen Zeit auf, sondern verwandelt damit auch das subjektive Zeiterleben: Indem ein Sehfeld nach dem Vollzug des Kreises wiederkehrt, erkennt auch das Ich sich wieder und bemerkt in der neuen Wahrnehmung die Wiederkehr des Alten. Die Zeit hat sich gewandelt: Obwohl sie sich anscheinend nach vorne richtete, ist sie in sich zurückgekehrt. Von daher wirken Kreisfahrten, zumal wenn sie sich aus linearen Zusammenhängen herausgelöst haben, für den Zuschauer beruhigend28, aber freilich nur dann, falls sie langsam geschehen. Für die Analyse der Wirkung einer Kreisfahrt böte sich im Weiteren die tiefenpsychologische Deutung von Form und Bewegung an, wonach sie die Liebesvereinigung der Geschlechter repräsentiert: Ein männlich-phallisches Prinzip umkreist ein rundes Zentrum: das weiblich-vaginale Prinzip. Die Kreisbewegung sakralisiert den Gegenstand in ihrem Zentrum. Denn welcher Raum bzw. welcher Gegenstand in ihm wäre es wert, umkreist zu werden, und wie selten bietet sich im profanen Alltag – wir nannten vorhin als Beispiel das Dekorieren eines Tisches – hierfür eine Gelegenheit? Wenn wir etwas umkreisen, sind wir über uns selbst erhoben, weil diese Bewegung dem umzirkelten Objekt wie auch uns selbst, die wir an seiner Besonderheit partizipieren, einen höheren Sinn verleiht. Wir sehen diese Sakralisierung durch Umkreisen beispielsweise bei den Tibetern, wenn sie ihre Tempel und Berge, die für sie spirituell besetzt sind, umschreiten. Während sie sich aber in rhythmischen Abständen zu Boden werfen, ihr Selbst erniedrigen mit der Intention, dessen Nichtung hervorzurufen, will das westliche, aufgeklärte mündige Subjekt sein Selbst bewahren, und die Absicht, es zu nichten, ist ihm fremd. Die Selbsterhöhung qua Sakralisierung durch Umkreisen eines Orts zeigt sich in zahlreichen Filmen29 auch dann, wenn Wolkenkratzer – die modernen Türme zu Babel – als Symbole techni-
28 Hierfür ist die oben erwähnte Szene mit Anita G. (00:10:44) aus Kluges Film „Abschied von gestern“ ein gutes Beispiel: Denn der zyklischen Kreisbewegung ist eine lineare Bewegung vorgeschaltet: Die Protagonistin hastet auf einer Brücke nach vorne. Während man zuvor das Gefühl des Tempos und der Flucht nach vorne hatte, scheint diese Bewegung bei der Umfahrt plötzlich zum Stillstand zu kommen. 29 Aus unserer Filmliste ist Nr. 44 „Heat“ (USA 1995, R.: Mann) hierfür ein Beispiel.
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scher Omnipotenz und Schöpferkraft die Apotheose des Menschen bezeugen und verkünden. Gegenstände, die durch den Modus des Betrachtswerdens, hier: durch die Kreisfahrt, eine solche Bedeutung erhalten, daß sie den Status eines „heiligen Bezirks“ erlangen, werden auratisch. Magisch aufgeladen wurden sie ja schon durch die „Positionsänderung“ der Kamera. Nun wird durch die Kreisbewegung der Wunsch der Vereinigung mit dem Objekt und damit eine starke intrapsychische Dynamik geschaffen, die diesem Gegenstand eine sakrale Aura verleiht. Wer sich auf die Szene der untenstehenden Abbildung 33 einläßt, wird diese Aura um die elektrische Schreibmaschine spüren. Für die Bildgestalter liegt darin, diese Ausstrahlung dem Zuschauer zugänglich zu machen, eine große Chance: Für einen Moment wird die Einigungsthematik, die sich in der Lebensgeschichte eines jeden Zuschauers entfalten möchte, von den Filmfiguren losgelöst und in den unbelebten Raum transponiert, wo sie ohne Worte, aber um so eindringlicher, vom auratisierten Objekt auf den Kinogänger wirkt. Wenn wir von einer „runden Geschichte“ sprechen, spielen wir metaphorisch auf das Glück an, das wir empfinden, wenn sich etwas kreisförmig vollendet hat.
Abb. 33: „Die Kamera beginnt in der Obersicht eine Kreisbewegung um einen Korrekturausdruck in einem Bücherverlag“ (Die drei Tage des Condor, USA 1975, R.: Sydney Pollack, 00:00:31).
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Abb. 34: „Die Kamera beginnt eine Kreisbewegung aus der Vogelperspektive über einem Stadtteil von Berlin“ (Der Himmel über Berlin, D 1986, R.: Wim Wenders, 00:02:21).
B ERÜHRER
VON
K ÖRPERN (K ÖRPERPERSPEKTIVE )
Das Bild des Menschen ist uns näher als alle anderen Bilder. Zugleich vermittelt uns eine abgebildete Person unausweichlich etwas von ihrer Geschichte. Geschichten erzählen von Menschen, und auf seinem Weg in den Film folgt der Zuschauer dem – von der Kamera induzierten – Drang, die Figuren zu berühren, die ihm der Film liefert und die ihn mit der Geschichte versorgen. Für den Weg in den Film ist die Bindung des Kinogängers an die Filmfiguren also konstitutiv.
Annäherung an die Aura/Vor der Großaufnahme („Aura“) „Die Blicke der Kamera nähern sich einer Figur an, und zwar bis auf eine solche Entfernung, die etwa der Armlänge des Zuschauers entspricht. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Aura der Figur.“ Auf der Leinwand erhält eine Figur, der sich die Blicke der Kamera annähern, eine besondere Ausstrahlung, wenn zuvor eine Kreisbewe-
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gung um einen Gegenstand vollzogen wurde, mit der diese Figur in Verbindung steht. Denn durch die Kreisfahrt wird der Gegenstand auratisch aufgeladen, und die Objekt-Aura überträgt sich auf die Person, auf die der Gegenstand hindeutet. * * * Im Alltag ist es nicht unüblich, von der „Aura“ eines Schauspielers zu sprechen. Bemerkbar dabei sind oft schlichte Schematisierungen, da sich mit Worten kaum differenziert sagen läßt, wie genau die Ausstrahlung einer Person empfunden wird. Einfacher ist es hingegen, sich leibhaftig in den Wirkungskreis der charismatischen Figur zu begeben, d.h. ins Kino gehen und sich einen Film anzusehen. Die Aura spricht augenscheinlich durch sich selbst und für sich selbst und offenbart, was sie ist, ohne es aussprechen zu müssen. Für Béla Balász (2001 [1924]) ist Aura eine „seelische Ausstrahlung“ (65), die es ermöglicht, daß der Schauspieler seine „unmittelbare Umgebung [...] sozusagen selbst beleuchten kann“. Richtung und Ziel dieser Ausstrahlungskraft wird durch die Intentionalität der Figur so bestimmt, wie diese in die Dramaturgie des Drehbuchs eingebettet ist. Als Erscheinung ist sie immaterieller Ausdruck dinglicher Substanz. Die Ausgestaltung einer Rolle hängt von der Ausrichtung der Aura und der Physiognomie der Figur ab. „Images themselves are immaterial, but their effect is all the more physical and corporeal“, schreibt Steven Shaviro (1993: 50). Wir können sagen: Aura ist verkörperte Intentionalität, verkörpertes Wollen also; aber keineswegs der Körper selbst. Für die Filmtheorie ist sie noch Desiderat, wie der Medienwissenschaftler Jens Eder (2008, 2006, 2005, 2000) vermerkt: „Trotz des wissenschaftlichen Interesses an Körperlichkeit fehlen bisher systematische Kategorien zur differenzierten Wahrnehmung und Beschreibung des Figurenkörpers“ (2008: 251). Daß hier noch theoretischer Bedarf besteht, wird auch deutlich, wenn wir an die Worte des ungarischen Philosophen Michael Polanyi (1985) denken: „Unser Körper ist das einzige Ding in der Welt, das wir gewöhnlich nie als Gegenstand, sondern als die Welt erfahren, auf die wir von unserem Körper aus unsere Aufmerksamkeit richten“ (23). Es ist aufnahmetechnisch ein leichtes, den Kontakt des Zuschauers mit der Ausstrahlung einer Figur anzubahnen. Dies geschieht, wenn er sich dem auratischen Feld annähern kann, dessen zunehmende Stärke
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er bemerkt, wenn ihm Fragen und Gefühle bezüglich seiner Beziehung zur jeweiligen Filmfigur bewußt werden. Ein unvorbereiteter und plötzlicher Sprung in die Aura aber vermag eine solche Bewußtwerdung der Nähebeziehung nicht zu erreichen. Denn er läßt eine Distanzlosigkeit entstehen, die, weil man sich in der Körper-Kontaktzone des Gegenübers befindet, keine Reflexion zuläßt. Ein intuitives Wissen besagt, daß man das Wesentliche erst dann sieht, wenn man ihm nicht zu nah ist. „Der Film will den Abstand nicht. Er will die Nähe, wenn er sie für notwendig hält“, schreibt der Fotograf F. Kempe (1958: 139). Die unvermittelte Begegnung mittels der Großaufnahme ist so ubiquitär geworden, daß sie dem Filmzuschauer inzwischen gar nicht mehr als solche auffällt: Man hat ihn daran gewöhnt, mittels dieser Art zu fotografieren, in das auratische Feld der Figuren quasi hineingestoßen zu werden30. Die Großaufnahme wurde in der Frühzeit des Kinos noch „als grundlegender stilistischer Akzent“ (Ejchenbaum 1927/ 1984: 126) gefeiert, weil sich mit ihr eine „völlig neue Perspektive“ (Münsterberg 1996 [1916]: 39) auftat und den Regisseuren eine innovative Beziehung zum Filmbild eröffnete. Für Rudolf Harms´ „Philosophie des Films“ (1926) ist die Großaufnahme „eine der eigensten und eigenartigsten Ausdrucksmittel der Lichtbewegungskunst“ (146). B. Balász (2001 [1924]) erkannte in ihr „die Kunst der Betonung“ (50). Heute scheint ihre überhäufige Anwendung ein beliebtes Mittel der Wahrnehmungsmanipulation zu sein: Ohne distanzierten Respekt vor der Aura einer Person, also ohne das langsame Sichannähern der Kamera an den Körper, verletzt das heutige Kino erstens einerseits die Integrität der gezeigten Person und versetzt zweitens den Zuschauer in die Peinlichkeit zu großer Intimität, die uns im Alltag stört und die wir dort möglichst zu vermeiden trachten. Der Vorzug des graduellen Sichherantastens an die Aura ergibt sich aus dem Umstand, daß der Zuschauer die Kontrolle über die Bewegung, der er von der Kamera ausgesetzt wird, nicht verliert. Es ist für ihn wichtig, relevante Informationen über die gezeigte Figur dadurch zu bekommen, daß er sie in der Relation zu ihrer räumlichen Umgebung erkennt. Wie groß oder klein eine Person ist, nimmt man
30 Filmgeschichtlich bemerkenswert ist der Hinweis von Witte: „Die ersten Großaufnahmen des menschlichen Gesichts in Filmen von Griffith jagten einem Publikum Angst ein, das auf der Leinwand abgeschnittene Köpfe zu sehen glaubte“ (zit. nach Brittnacher (2006: 542).
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eben nur in bezug zu den fixen Merkmalen des umgebenden Raums wahr. Auch andere Charakteristika einer Figur wie Gestik, Gang und Komplexion vermitteln sich diesseits der Großaufnahme. Zwar ist das menschliche Gehirn in der Lage, binnen 1,2 Sekunden Millionen Farben und über unzählige Formen zu identifizieren und so über Sympathie oder Ablehnung zu entscheiden (vgl. Brost, Hildebrandt 2007: 6); doch gedankliche Abwägungen kann es in dieser Zeit nicht vollziehen. Die Aura einer filmischen Figur kann so stark sein, daß sie die Zweidimensionalität der Leinwand zu verlassen und in den Kinosaal hineinzureichen scheint. In „Modern Times“ (USA 1936, R.: Charles Chaplin) nähern sich die Blicke der Kamera einem Arbeiter an, der zugleich auf sie zuläuft, aber dann im Lauf abbiegt und sich vor die Maschine rechts im Bild stellt (00:01:49). Der Wendepunkt dieser Bewegung liegt dort, wo die Kamera kurz davor ist, eine Berührungsnähe zu erreichen und in die Aura dieses Mannes einzudringen. In dieser Sequenz, in der wir die Aura für einen kurzen Moment berühren, entstehen Fragen wie: Was will ich von dem Mann mit dem nackten Oberkörper? Warum läuft er auf mich zu? Was tut er jetzt? Hätte Chaplin mit einem brutalen Schnitt den nackten Oberkörper unvermittelt in Großaufnahme gezeigt, wären solche oder ähnliche Fragen wohl kaum entstanden. Vielmehr wäre eine vorreflexive, quasi olfaktorische Nähe entstanden. So wie es in „Modern Times“ jedoch gemacht worden ist, kann sich der Kinogänger die Wirkung dieser Figur bewußt werden. Chaplin mißbraucht also weder die Figur des Arbeiters noch den Blick des Zuschauers. Zeit und Raum für Reflexion gewährt auch eine Szene aus „Citizen Kane“ (USA 1941, R.: Orson Welles), als sich die Blicke der Kamera der Ehefrau des Protagonisten (Dorothy Comingore), die an einem Tisch sitzt, annähern, ohne schon in ihre Körper-Kontaktzone hineinzugeraten. Daß sie betrunken und niedergedrückt ist, sehen wir an ihrer Körperhaltung. Aber die Frage, welche Beziehung der Zuschauer zu ihr eingehen möchte, hat er selbst zu beantworten. Man hat, so meine ich, Grund anzunehmen, die Rezeption des Films würde nicht affektlos verlaufen, wenn die Kamera sich nicht distanzlos ins auratische Feld einer Filmfigur hineinzoomt. Nur wäre das Selbst des Kinogängers dann nicht entmachtet und hätte mehr Zeit, im Spiel mit seinen Gefühlen eine bewußte Beziehung zu Stars und Helden zu entwickeln. So könnte der Zuschauer kontrolliertes Vertrauen
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herstellen (ggf. auch verweigern) und müßte nicht blind vertrauen. Ohne „Aura“ bleibt die Wunscherfüllung im Film-Traum unreflektiert und verführungsgefährdet, weil dem Kinogänger keine Zeit gelassen ist, sie der Zensur seines bewußten Willens zu unterwerfen. Die filmische Einstellung „Aura“ läßt dem Zuschauer ein wenig Freiraum und einen Rest an Sicherheit und Autonomie während seines „Weges in den Film“. Die filmische Einstellung „Aura“ will das Gegenteil von visuell-emotionaler Überrumpelung. In einem vielzitierten Aufsatz vertritt Walter Benjamin (1963 [1936/39]) die Auffassung, daß die Aura eines Kunstwerkes „im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ [...] „verkümmert“ (16). Denn sie bestehe vor allem in seiner „Einzigartigkeit“ (19) des Kunstwerks, die in vergangenen Zeiten im kultischen Bereich mit Unberührbarkeit verbunden war. Die Figuren und Gegenstände kultureller Verehrung waren vormodern durch Rituale geschützt: Nur wenige Personen besaßen Zugang zur Gottheit im Tempel. Eine Annäherung an die verehrte Figur war auch dem Volk möglich, aber es durfte die Grenze zur körperlichen Berührung nicht überschreiten. Ein Spielfilm ist heute fast überall in der Welt zugänglich und die Tatsache seiner unbegrenzten Reproduzierbarkeit rührt niemanden an. Es gelingt diesen Produkten, Menschenmassen in das Kino zu ziehen. Dieser Kult basiert nicht auf Einmaligkeit, sondern auf Ubiquität, und das Medienbild, das in Sekundenschnelle den Erdball umfliegt, zeigt sich gleichzeitig millionenfach in den technischen Geräten. Trotz des von Benjamin konstatierten Verlusts der Aura moderner Bildmedien: Die Großaufnahme will eine Berührung zwischen Betrachter und der im Bild erscheinenden Person herstellen. Meine Verwendung des Begriffs „Aura“ bezieht sich eben hierauf: Auf die Berührungskontaktzone, die jede Person umgibt, auch wenn das Trägermedium Filmbild im Prozeß seiner zunehmenden technischen Reproduzierbarkeit seine Aura im Sinne W. Benjamins verloren hat. Kunstwerke mögen ihre auratische Qualität eingebüßt haben; nicht dürfte dies im selben Sinne auch dem Menschen widerfahren sein.
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Abb. 35: „Die Blicke der Kamera nähern sich einem namenslosen Arbeiter mit nacktem Oberkörper an, der auf eine Maschine hinläuft, und enden in einer Entfernung, aus der man den Mann fast berühren könnte“ (Modern Times, USA 1936, R.: Charles Chaplin, 00:01:49)
Abb. 36: „Die Blicke der Kamera nähern sich Susan Alexander Kane (Dorothy Comingore) an, wie sie betrunken an einem Tisch sitzt“ (Citizen Kane, USA 1941, R.: Orson Welles, 00:14:38).
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Vertrautheit oder Erotik/Haptische Bilder („Haut“) „Die Blicke der Kamera bleiben für längere Zeit auf eine Figur gerichtet. Die Entfernung entspricht etwa einer Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Haut der Figur.“ Der Blickkontakt der Kamera mit einer Figur in Berührungsnähe ist dann leichter zu akzeptieren, wenn zuvor eine Annäherung an sie stattgefunden hat und ihre auratische Wirkung wahrnehmbar werden konnte. * * * Mit der Einstellung „Haut“ berühren die Blicke der Kamera die Haut der Filmfigur tatsächlich, während in der Einstellung „Aura“ doch eine gewisse Entfernung gewahrt blieb. In der jetzigen Einstellung wird eine Großaufnahme in Form einer halbnahen oder nahen Einstellung gezeigt, und es erscheint der Habitus der Figur, d.h. ihr Körperausdruck vom Kopf etwa bis zur Mitte ihres Körpers. Die Blicke des Kinogängers durch die Augen der Kamera haben gegenüber jenen in der Einstellung „Aura“ eine neue Qualität angenommen, die stärker und intensiver ist. Nun tasten die Blicke, werden haptisch, während sie zuvor nur gesehen hatten. Es entspricht der Tiefendimensionalität des Blickes, daß er in der Nähe taktile Qualitäten annimmt, gerade weil er mehr Oberfläche wahrnimmt. Die Figuren auf der Leinwand sind aus Fleisch und Blut, meist bekleidet. Ihre Berührung löst sensorische Empfindungen aus, die bestimmt sind durch das Material der Kontaktoberfläche (Haut, Stoff, Fell, Panzer und diverse andere), beeinflußt durch ihre Farbgebung und durch ihre Bestrahlung, also durch Licht. Freilich ist die Kontaktoberfläche Haut für den Menschen die natürlichste, weil sie für ihn selbst sein größtes Sinnesorgan ist. Durch tägliche Berührung des eigenen Körpers ist der Kinogänger darauf gestimmt, der Haut von Figuren auf der Leinwand einen besonderen Stellenwert zuzuschreiben. Derjenige Kinogänger aber, der in seinem alltäglichen Leben Berührungen am eigenen Körper bewußt wahrnimmt, ist für taktile Bilder empfänglicher als ein anderer, weil er Körperlichkeit schon dann spürt, wenn er sie sieht. Verweilen die Blicke der Kamera auf der Haut, wird der Zuschauer an die Figur gebunden.
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Wir sehen die betende Fürstin Salina (Rina Morellia) in „Der Leopard“ (I, F 1963, R.: Luscino Visconti, 00:03:50) in Großaufnahme und spüren ihre Andacht, weil wir ihr so nahe sind, daß wir meinen, sie berühren zu können. Die Frage, wie sich Religiosität anfühlt, können wir erst beantworten, wenn wir eine Figur, die religiöses Verhalten symbolisiert, mit tastenden Blicken berühren können. Beim Sehen einer Großaufnahme wird der Zuschauer zum Berührenden und zugleich zum Berührten. Wir bekommen ebenso ein Gefühl für Dude (Dean Martin) in „Rio Bravo“ (USA 1959, R.: Howard Hawks, 00:01:33), der eine Kneipe betritt und für uns zu Filmbeginn eigentlich ein Fremder sein müßte; aber er ist es nicht länger, nachdem er uns in der Einstellung „Haut“ nahegekommen ist. In fast allen Geschichten ist es so, daß der Held einen Gegenspieler hat, der das Böse repräsentiert. So kann es sein, daß die filmische Einstellung „Haut“ uns durchaus unsympathisch erscheinende Figuren zeigt, von denen wir uns aber nicht abwenden können, weil wir das Bedürfnis nach Bindung haben. Wenn die böse Figur attraktiv ist, kommen wir kaum umhin, uns an sie zu binden. Auch der übelste Verbrecher kann uns in einer halbnahen Einstellung an sich binden. Üblicherweise aber befällt uns der Wunsch zur Flucht, wenn die Blicke der Kamera uns zu einer Nähe mit Figuren nötigt, die wir bewußt ablehnen. Allerdings wird die Nähe zu bedrohlichen, unsympathischen Filmfiguren dann wieder erträglich, wenn der aufhellende Protagonist auftritt, der den Zuschauer in seinen Schutz nimmt. Dennoch: Wir verleihen generell der mit dem Bild hergestellten Nähe trotz des Schreckens, das es verbreiten kann, einen positiven Wert. So entstehen Wirkungen, die wir zwar reflektieren, aber nicht immer unterbinden können. Die körperliche Aufnahme von Kontakt ist in allen Lebensphasen wichtig. Und selbst wenn wir berührungsgesättigt den Projektionsraum betreten, nehmen wir die von der Leinwand im Großformat angebotenen Beziehungen an, obschon wir wissen, daß sie nur flüchtig und illusorisch sind. Durch die Bindung wird eine Figur zur Person und die Großaufnahme macht selbst ein tierisches Wesen menschlich. Was „Kreisbewegung“ mit ihrer Umrundung eines Gegenstandes erreicht, nämlich das Herstellen einer emotionalen Beziehung, wird in der filmischen Einstellung „Haut“ in einfacher Weise durch die Permanenz des Kontaktes erzielt. Hierfür reichen schon zwei bis drei Sekunden, die aber inmitten der Geschwindigkeit der Einstellungsfolge mitunter recht
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lang erscheinen können. Diese wenigen Sekunden genügen also, filmseits ein Bindungsangebot zu unterbreiten, worauf der Zuschauer mit seinem unbewußten Berührungswunsch reagiert. Denn je länger uns die Blicke der Kamera erlauben, eine Figur abzutasten, desto mehr geraten wir in einen persönlichen Kontakt mir ihr. Man mag das Kino als einen Sonderfall der Herstellung von Vertrautheit betrachten: Während wir im privaten Leben nur Personen unserer Sympathie in diesen engen, berührungsfähigen Radius vordringen lassen, erzwingen unterschiedslos alle Figuren, die wir in der filmischen Einstellung „Haut“ sehen, diese haptische Nähe. Das Selbst des Zuschauers wird weich in dem Sinne, daß es auch dort noch mit Vertrauen reagiert, wo sich ihm im Bild der Böse zeigt. Der Besorgnis, daß „Haut“ im Zuschauer verführbare Naivität hervorruft, versucht unser Bewußtsein damit zu begegnen, daß wir uns sagen, das Leinwandgeschehen sei doch nicht real und für unser Verhalten ohne Konsequenzen. „Ich gehe von der Annahme aus, daß Filmbilder ungleich anderen Arten von Bildern vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren und ihn so zunächst physiologisch beanspruchen, bevor er in der Lage ist, seinen Intellekt einzusetzen“,
schreibt Kracauer (1964: 216). Nach der hier vorgetragenen Ansicht ist es vor allem die filmische Einstellung „Haut“, die den von Kracauer beschriebenen Effekt hervorruft. Selbst in Horrorfilmen empfinden wir immer wieder Lust am Schrecken der Großaufnahme, weil haptische Erfahrungen ursprünglich und deshalb wichtig sind. Für die Filmtheoretikerin Laura Marks (2002) erzeugen haptische Bilder eine besondere Form der Sinnlichkeit: Erotik31. Die Autorin begründet dies damit, daß die Berührbarkeit des visuellen Materials den Zuschauer in eine Situation führt, in der er sich von dem Wissen über seine Person löst, so ein wichtiges Moment seiner Selbstkontrolle aufgibt und in eine Oszillation zwischen sich als Zuschauer und dem Kinobild gerät. Völlig unabhängig vom Inhalt erzeugt der Film – in unserem Verständnis insbesondere die Großaufnahme – dieses erotische Spannungsverhältnis:
31 Empfehlenswert zu der Frage der Erotik: Mulvey (1993 [1975]; 2004).
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„Haptic images are erotic regardless of their content, because they construct a particular kind of intersubjective relationship between beholder and image. Eroticism arrives in the way a viewer engages with this surface and in a dialectical movement between the surface and the depth of the image. In short, haptic visuality is itself erotic“ (13).
Die Beziehung des Kinogängers zu Bildern der filmischen Einstellung „Haut“ sowie zu den nachgelagerten Stufen „Hand“, „Auge“ und „Mund“ ist ebenfalls als erotisch zu werten, weil auch diese Einstellungen dem Zuschauer haptische Bilder liefern, denen er sich selbst in Aufmerksamkeitsphasen, in denen er sich um die Konstruktion der Geschichten bemüht, nicht entziehen kann. Haptische Bilder führen besonders sein Unbewußtes weiter auf den Weg in den Film, wo immer er auch sonst mit seinen Gedanken sein mag.
Abb. 37: „Die Blicke der Kamera bleiben für eine längere Zeit auf die betende Fürstin von Salina (Rina Morelli) gerichtet, und zwar aus einer Entfernung, in der man meint, sie berühren zu können“ (Der Leopard, I, F 1963, R.: Luscino Visconti, 00:03:50)
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Abb. 38: „Die Blicke der Kamera bleiben mit Dude (Dean Martin), der den Raum betritt, in Berührungsnähe“ (Rio Bravo, USA 1959, R.: Howard Hawks, 00:01:33).
Somatische Empathie/Motor Mimicry („Hände“) „Die Blicke der Kamera zeigen die Hände einer Figur aus unterschiedlichen Einstellungen und Perspektiven. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Hände der Figur“. Die Bilder der Hände einer Figur gewinnen dann eine besondere Wirkkraft, wenn die Kamera diese Person zuvor für eine gewisse Dauer in Großaufnahme gezeigt hatte. Denn dem Zuschauer war so die Zeit gegeben worden, diese Person visuell abzutasten und einen Eindruck von ihrem Habitus zu erhalten. * * * „Es gibt eine Reihe von basalen Reaktionen der Zuschauer auf die filmischen Figuren, die auf einer weitgehend vorbewußten Leib-Koppelung an das Leinwandgeschehen beruhen (und ähnlich auch in der Realität vorkommen). Diese körperliche Anverwandlung des Leinwandgeschehens wird in der neueren Literatur meist als motor mimicry oder als somatische Empathie bezeichnet“ (Wulff 2003: 138)32. 32 Hierzu auch Elsaesser, Hagener (2007: 137-162).
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Was der Medienwissenschaftler Hans Jürgen Wulff hier beschreibt, hat jeder Kinogänger schon einmal erlebt: Ohne daß er es eigentlich bewußt will, hat sein Körper bereits auf das Leinwandgeschehen reagiert. Offensichtlich reicht die Intentionalität der Bilder in seine eigene Körperlichkeit hinein. Die zuerst in der angloamerikanischen kognitiven Psychologie bekannt gewordene „motorische Nachahmung“ gehört in den Themenkreis der Einfühlung. Sie ist mit der „affective mimicry“ verwandt, dem spontanen Mitempfinden von zentralen Gefühlen, die sich an der Körpersprache eines anderen ablesen lassen. Verwandt ist sie auch mit der „emotional simulation“, dem versuchsweisen Sich-hinein-Versetzen des Gegenübers. Alle diese Aspekte von „Einfühlung“ deuten hin auf „eine Art Rückmeldung über Belange des Anderen, die nicht im Denken, sondern im eigenen Körper lokalisiert ist, aber Erkenntnisse in Gang setzen oder Handlungen vorbereiten kann (112)“, wie Christine Noll Brinckmann (1999) schreibt. Die Autorin verweist darauf, daß diese empathischen Prozesse – weil nur von kurzzeitiger Natur – keine identifikatorischen sind und die beobachtete Figur ein „separates Gegenüber“ bleibe. Dabei ist es gerade das Bild und nicht das Wort, das Wirkung hervorruft: „Die Abwesenheit des Wortes führt außerdem dazu, daß die Bewegungen, die wir sehen, für unser Bewußtsein eine noch größere Bedeutung erhalten. Unsere gesamte Aufmerksamkeit kann nun auf das Spiel des Gesichts und der Hände konzentriert werden. Jede Geste und jede mimische Regung rührt uns so viel stärker an, als wenn sie lediglich als Zutat zur Sprache aufträte“ (Münsterberg 1996 [1916]: 53).
Dank H. Münsterberg (1996 [1916]) können wir uns vorstellen, daß beispielsweise eine Hand in Großaufnahme dargestellt wird: „Genau die nervöse Hand, die fieberhaft nach der tödlichen Waffe greift, kann hier plötzlich für ein oder zwei Atemzüge vergrößert und allein sichtbar auf der Leinwand erscheinen, während alles andere tatsächlich ins Dunkel entschwindet. Der sich in unserem Bewußtsein vollziehende Akt unserer Aufmerksamkeit hat die Umgebung selbst umgeformt. Das Detail, das beobachtet wird, ist plötzlich zum ganzen Inhalt der Darstellung geworden, und alles, was unser Bewußtsein nicht beachten möchte, ist plötzlich unseren Augen entzogen und verschwunden“ (55-56).
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Ich möchte im folgenden die Motor Mimicry bzw. somatische Empathie, die mit Körper-Großaufnahmen entsteht, weiter erörtern: Wir können die Bereitschaft, auf Großaufnahmen körperlich zu reagieren, psychologisch und neurophysiologisch erklären. Bekanntlich ist die Hand ein ganz besonderes anthropologisches Merkmal33. Sie ist „das Symbol der Menschheit in ihrer ganzen Entwicklung und Geschichte [...] Die Tätigkeit der Hand durchzieht die ganze Geschichte der Menschheit und die Lebensgeschichte der Einzelnen“ (Révész 1944: 9). Die Hände sind ein unverzichtbares, einzigartiges Werkzeug unserer Intentionen, und sie sind selbst imstande, komplexe Ideen und Gedanken in einer Geste zu symbolisieren. Was immer wir tun, findet wesentliche Impulse in den unseren Händen, die dazu beitragen, aus unseren Absichten Handlungen werden zu lassen. Der Philosoph Merleau-Ponty lehrt uns, daß der Gebrauch der Hände unser Werden gestaltet: „Die Geste der Hand, die sich auf einen Gegenstand zubewegt, impliziert einen Verweis auf den Gegenstand [...] als dieses sehr bestimmte Ding, auf das hin wir uns entwerfen, bei dem wir vorgreifend schon sind“ (zit. n. Rizzolatti, Sinigaglia 2005: 64). Die Einstellung „Hände“ trat in den ausgewählten Filmen zum Beispiel in Bildern auf, die zeigten, wie Hände eine Glaskugel halten, Papier in eine Schreibmaschine ziehen, mit Boxhandschuhen bewehrt sind, Oberarme berühren, Blumen halten, einen Pinsel führen, ein Streichholz entzünden, an eine Stange greifen, eine Reparatur ausführen, gestikulieren, den Rücken eines Pferdes säubern, eine andere Hand berühren, auf einer Kanzel ruhen, ein Bein umgreifen, Schuhe polieren, den Lenker eines Fahrrades umgreifen, einen Klöppel an die Pauke schlagen, grüßen, ein Kreuz schlagen, Mundharmonika spielen, einen Revolver ziehen, eine Zigarette halten und Sitar spielen. Wenn man sich die Vielfalt möglicher Beispiele vor Augen hält, in welchen Situationen Hände im Film34 in Großaufnahmen gezeigt werden, so wäre man beinahe zur Annahme verleitet, daß ein Film ohne (das Zeigen von) Hände(n) ein Film ohne Handlung ist. In allen Situationen, in denen die Hände einer Figur von ganz nah gezeigt werden,
33 Sie sind am Homunculus, die figürliche Repräsentation der neokortikalen Hirnfelder, sehr ausgeprägt dimensioniert. 34 Siehe hierzu die Ausführungen von Marschall (1996: 254).
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wird ein Handlungsimpuls auf den Zuschauer übertragen35. Auch wenn er diesen Impuls nicht bewußt als solchen wahrnimmt, ist ihm dennoch ein vorsprachliches Wissen intuitiv darüber verfügbar, was die auf den Bildern gezeigte Person beabsichtigt und was sie dabei spürt. Es ist diese somatische Empathie, die den Kinogänger auch dazu führt, sich selbst in die Figur eines Helden zu inkorporieren. Solche Verkörperungseffekte spricht C. Noll Brinckmann (1999) mit der folgenden Formulierung an: „Das Dispositiv Kino gestattet also ein besonders versunkenes, intensives Zuschauen, ein weitgehendes Vergessen des eigenen zugunsten der fremden Körper, die man wahrnimmt und die man sich einfühlt. Damit sind günstige Bedingungen für die Entfaltung somatischer Empathie gegeben“ (113).
Gerade die Hände einer Figur in Großaufnahme ermöglichen dem Kinogänger, sich für das Handeln einer Figur zu öffnen, weil sich ihm über diese vorbewußte Information das intuitive Verständnis der Geschichte eröffnet. Dabei ist somatische Einfühlung sogar in solche Tätigkeiten möglich, die wir selbst noch nie ausgeführt haben, weil wir über ein großes Repertoire an Eigenerfahrung verfügen. So ist das in Filmen gezeigte Klettern einer Figur am Felsen, das Springen aus Flugzeugen oder das Kriechen in engen Tunneln für uns mitfühlbar, weil jeder von uns schon einmal irgendwo und irgendwie geklettert, gesprungen oder gekrochen ist. Anders gesagt: Wir haben uns für die Einstellung „Hände“ in unserem Leben mit genügend Spürmaterial angereichert36, um ein somatisches Hineinphantasieren leisten zu kön-
35 Dies gilt freilich auch für die beiden der Einstellung „Hände“ nachfolgenden, die Dynamik des „Wegs in den Film“ vertiefenden Stufen „Augen“ und „Mund“. Die Filmtheoretikern Sobchack schreibt: „Unsere Finger, unsere Haut und Nase und Lippen und Zunge, unser Magen und all unsere anderen Teile wissen, was wir in der Filmerfahrung sehen“ (zit. n. Robnik 2002: 258). 36 Im Alltag, wenn wir in der Nähe einer Person stehen, sie also quasi in Groß-aufnahme sehen, ist die somatische Empathie zum Zwecke der Verständigung, die für uns zwischenmenschlich essentiell ist, ganz selbstverständlich. Zudem wissen wir, daß wir gesehen werden und eine reale Person vor uns haben, die Wert darauf legt, daß ihre Mitteilungen angenommen werden und daß auf sie reagiert wird.
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nen. Es handelt sich bei dieser körperlichen Grundlage des Filmverständnisses letztlich um eine Projektion, denn der Zuschauer bleibt für sein Spüren sein eigener Zeuge wie auch der Schauspieler, der zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen seine eigenen Wahrnehmungen hatte. Doch wird es durch somatische Empathie möglich, eine ähnliche Empfindung zu haben wie derjenige selbst sie hat, der die Handlung ausführt. Diese Bereitschaft der körperlichen Verständigung mit realen Personen wie auch mit Filmfiguren ist intentional begründet, weil die Nähe zu unseren Mitmenschen für unsere psycho-physische Existenz konstitutiv ist. Freilich variiert die Disposition zur somatischen Empathie von Individuum zu Individuum: „Allerdings sind nicht alle Zuschauer in gleicher Weise empathiebereit; und was bei manchen manifeste körperliche Reaktionen hervorruft, angenehme wie unangenehme, generiert in anderen allenfalls ein fernes Echo der beobachteten Handgriffe oder Muskelspannungen. Ebenso scheinen die Stimuli, die empathische Reaktionen auslösen, persönlichkeitsspezifisch zu variieren. Hier bedarf es noch weiterer empirischer Forschung und Klärung“ (Noll Brinckmann 1999: 214).
Die beiden Abbildungen in diesem Abschnitt möchten illustrieren, wie Motor Mimicry bzw. somatische Empathie gleich zu Filmbeginn induziert und durch geschickte Szenenkomposition aktiviert werden kann.
Abb. 39: „Zwei Hände greifen an eine Metallstange, die zuvor im Bild erschienen ist“ (Vertigo – Aus dem Reich der Toten, USA 1958, R.: Alfred Hitchcock, 00:03:20
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Abb. 40: „Die Blicke der Kamera zeigen die Hände dreier Personen, deren Gesichter der Zuschauer noch nicht gesehen hat“ (Kaspar Hauser, D 2006, R.: Peter Sehr, 00:01:35)
Das Gesicht: Spiegel der Seele/Spiegelneurone („Augen“, „Mund“)37 „Die Blicke der Kamera fokussieren die Augen einer Figur. Die Entfernung ist dabei nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren seine Blicke die Augen der Figur.“ „Die Blicke der Kamera zeigen in einer längeren Sequenz den Mund einer Figur. Die Entfernung ist nicht größer als etwa eine Armlänge des Zuschauers. Während dieser Zeit berühren dessen Blicke den Mund dieser Figur.“ Der Blick in die Augen einer Person wirkt besonders stark, wenn zuvor ihre Hände gezeigt wurden. Denn die somatische Empathie, die 37 Ich fasse die beiden filmischen Einstellungen „Augen“ und „Mund“ aus zwei Gründen in einen Text zusammen: Erstens kommen sie in den gesichteten Filmbeispielen fast ausschließlich gemeinsam vor, und zweitens kann ich in der Filmliteratur nur eine theoretische Referenzquelle (Eder 2008) ausfindig machen, und diese ist auf beide Einstellungen in gleichem Maße zu beziehen. Die Abbildungen in diesem Abschnitt sind Ausnahmen, die jedoch in der Lage sind, die Eigenarten der Einstellungen „Augen“ und „Mund“ herauszustellen.
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von der Hand ausging, kann nun mit dem nahen Blick auf die Augen intensiviert werden. Aus Gründen der Intensitätssteigerung gilt weiter, daß der Mund einer Figur im Bild dann stärker wirkt, wenn unser zuvor Blick zuvor die geöffneten Augen berührt hatte. * * * Wenn im Film eine Detailaufnahme der beiden Augen oder des Mundes gezeigt wird, handelt es sich um eine Ausnahme; denn in aller Regel erscheint das gesamte Gesicht der Person im Bild. Am Filmanfang produzieren Detailaufnahmen ausgesprochen viel Nähe, ohne daß man sie schon in einen Handlungskontext stellen könnte sehen wir „Vertigo“ (USA 1958, R.: Alfred Hitchcock), so wirken die beiden Augen der unbekannten Person (00:00:38) seelenlos, eben weil wir ihre Befindlichkeit nicht aus der erzählten Geschichte erklären können. Als sich dann die Augen nach beide Seiten drehen, können wir das Gefühl nicht abwehren, daß dies mechanisch, quasi fremdgesteuert geschieht, oder aber wir interpretieren, daß ein starres Wesen Angst bekommen hat. Ganz anders aber, wenn wir alle Partien des Gesichts im Ensemble wahrnehmen können: Dann lassen sich die Züge eindeutiger interpretieren. Nicht unbelebt, sondern sehr intim wirkt die Detailaufnahme des Mundes einer Person, die wir nicht kennen, in „Citizen Kane“ (USA 1941; R.: O. Welles). In diesem Film sehen wir den Mund des im Sterben liegenden Protagonisten (00:02:24). Er spricht das Wort „Rosebud“, und danach verlischt sein Atem. Aus dramaturgischer Sicht sind die filmischen Einstellungen „Augen“ und „Mund“ damit geeignet, den auf diese Weise herausgehobenen Figuren einen Sonderstatus zu verleihen. Beide filmische Einstellungen evozieren eine Nähe zum Zuschauer, offenbaren ihm so viel Intimes und Privates, daß er meint, diese Person schon lange zu kennen. In welcher Situation, wenn nicht im Zusammensein mit einem geliebten Menschen, erleben wir schon ein solch dichtes Beisammensein? In den Einstellungen „Augen“ und „Mund“ werden wir, wie J. Eder (2008) bemerkt, „zu Zeugen oder Voyeuren des intimsten Privatlebens von Figuren“ (630). Der Filmregisseur Hans-Christian Opfermann (1963) beschreibt die große Intimität einer Großaufnahme des Kopfes:
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„Ein Gesicht in Großaufnahme, das bei der Aufnahme in das Objektiv hineingeblickt hat, sieht bei der Vorführung von der Leinwand herunter, dem Zuschauer direkt in die Augen. Da dieses Gesicht lebendig ist, hat der Zuschauer nicht nur das Gefühl des Betrachtens, er spürt darüber hinaus deutlich, wie er angeblickt wird. Alles, was in diesem Gesicht auf der Leinwand vor sich geht, das gilt ihm, und zwar ihm persönlich, er wird durch das Gesicht zum Mitfühlen gezwungen“ (302-303).
Um dem Zuschauer jedoch dabei einen gewissen Schutz vor zu großer Intimität zu gewähren, hat sich in Hollywood scheinbar eine Regel etabliert, die besagt, daß die Augen der Figur nicht frontal, sondern aus einem Winkel von mindestens 30 Grad in die Kamera zu blicken haben. Diese Vorsichtsnaßnahme soll es erlauben, Distanz und damit Illusionsbildung des Zuschauers aufrechtzuerhalten. Wenn wir die Großaufnahme eines Gesichtes38,39 sehen, in der all seine Partien vereint sind, sind, dann wirkt auf uns ein Gesamteindruck, den wir mit ästhetischen Kriterien (schön, häßlich, attraktiv etc). beschreiben und aus dem wir sehr viele feine, vorsprachliche Informationen bekommen können. Ein ausdrucksstarkes Gesicht („Charakterkopf“) liefert schon von sich aus einen starken Bildreiz und ist bei der Besetzung von Rollen fraglos mitentscheidend. Für E. Morin (1958) wird auf der Leinwand „das Gesicht zur Landschaft, und die Landschaft wird Gesicht, das heißt Seele“ (83). Für Balász 2001 [1924] ist die Lesbarkeit der Gesichtslandschaft davon abhängig, daß das Mienenspiel in Großaufnahme gezeigt wird; denn „in der Groß-
38 Plantinga (1999) weist auf Ekman hin, der weltweit fünf oder sechs verschiedene Gesichtsausdrücke fand, die überall verstanden werden können: „As Ekman writes, there ,seems little basis for disputing the evidence that for at least five emotion categories there are facial behaviours specific to each emotion and that these relationships are invariant across cultures‘ […]. These emotion programs are thought to include automatic neural ,messages‘ to the facial musculature that – without ,override‘ in accordance with social display convention – produce the emotional facial expression“ (242). 39 Peters (1984) bemerkt, daß mit der Großaufnahme „unsere Aufmerksamkeit hingelenkt [wird] auf das Gesicht allein, in der Totale geht dieser Akzent verloren. Die Form des Bildes zwingt uns, das Dargestellte in dieser Form und unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten“ (376-377).
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aufnahme wird jedes Fältchen des Gesichtes zum entscheidenden Charakterzug, und jedes flüchtige Zucken eines Muskels hat ein frappantes Pathos, das große innere Ereignisse anzeigt“ (49). Der amerikanische Filmtheoretiker Carl Plantinga (1999) erkennt die ansteckende Wirkung des menschlichen Gesichtes, das eine emotionale Antwort provoziert und zur motorischen Nachahmung verleitet: „Viewing the human face can move beyond communication to elicit an emotional response in the viewer. That the face, both communication information about and elicits emotion is true both in our every-day lives and in our filmviewing experience. The represented face elicits emotion by various means, including the processes of ,emotional contagion‘ as induced by ,affective mimicry‘ and ,facial feedback‘“ (242).
Der Weg des Zuschauers in den Film wird entscheidend durch Aufnahmen beeinflußt, in denen das Gesicht einer Person in berührungsfähiger Nähe gezeigt wird. Denn sie sind mit einer langen Kette anderer visueller Bildern verbunden, die ihrerseits auf das früheste unserer Bilder, das Gesicht der Mutter, zurückgehen. Jeder Mensch hat als Säugling in den ersten Wochen seines Lebens auf jene Gesichtszüge reagiert, die sich ihm annäherten, und zwar im Sinne einer Spiegelung, d.h. Imitation. Der immer und überall beobachtbare Vorgang erfolgt freilich vor der Zeit des Spracherwerbs, des Ich-Bewußtseins oder komplexerer Fähigkeiten wie z.B. des differenzierten Sehens. Aus neurophysiologischer Sicht ist diese Imitation des Verhaltens anderer nachweisbares Resultat von Spiegelneuronen, welche die biologische Grundlage dafür abgeben, daß wir mit anderen mitfühlen, mitleiden und uns überhaupt in sie empathisch hineinversetzen und von ihnen lernen können40. Beginnend von der frühkindlichen Situation mit der Spiegelung von Verhalten gelingende Kommunikation mit
40 So steht die in der Kulturgeschichte des Menschen tief verankerte Tendenz der Nachahmung im Zusammenhang mit der wirksamen Aktivität der Spiegelneuronen. Sie sind sowohl tätig für die Situation, die W. Benjamin (2002 [1933]) bezeichnet: „Das Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und Eisenbahn“ (123), als auch dann, wenn der Schauspieler Robert de Niro kundtut, er würde auch ein Stück Holz spielen (vgl. S. „Robert de Niro“ in Wikipedia vom 05.01.2010).
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der Versorgungsfigur zu sichern, erstrecken sich Beobachtungslernen und Einfühlung über unsere gesamte Biographie. Die Spiegelneurone wurden vor ca. 20 Jahren von dem italienischen Physiologen Giacomo Rizzolatti (2008) entdeckt. Sie liefern eine Erklärung dafür, daß „das Erkennen der anderen, ihrer Handlungen und sogar ihrer Intention in erster Linie von unserem motorischen Vermögen abhängt“ (14). Die Aktivität dieser Neurone ist im prämotorischen Cortex (z.B. im Broca-Zentrum) nachgewiesen worden und ist besonders dann hoch, wenn sich positive Gesichtsausdrücke beobachten lassen41. Das Anschauen eines freundlichen Gesichtsausdrucks nämlich führt beim Gegenüber zu einer Aktivität sogenannter Planneurone, die in so engem Zusammenhang mit Handlungsneuronen stehen42, daß sie ein körperliches Nachfühlen ermöglichen auch dann, wenn Gefühlszustände nicht sichtbar, sondern nur hörbar sind. Das komplexe System der Spiegelneurone erlaubt uns in allen denkbaren Tätigkeiten (also auch bei einem Kinobesuch), „die beobachteten Bewegungen mit unseren eigenen in Beziehung zu setzen und dadurch deren Bedeutung zu erkennen. Ohne einen solchen Mechanismus könnten wir über eine sensorische Repräsentation, eine ,bildliche‘ Vorstellung des Verhaltens anderer verfügen, doch würden uns diese nicht erlauben, zu verstehen, was die anderen wirklich tun“.
G. Rizzolatti und Corrado Sinigaglia erkennen vor allem in der Fähigkeit, Gefühle durch die Aktivität der Spiegelneurone nachzuvollziehen, einen immens hohen sozialen Wert; und wir können nun sagen, daß die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Phänomene der Motor Mimicry und der somatischen Empathie neurophysiologisch auf die Spiegelneurone zurückzuführen sind. Wir können ebenfalls sagen, daß der Kinozuschauer das Verhalten der Personen im Film nachempfinden und intuitiv antizipieren kann, weil er motorische Impulse über seinen Sehkanal erhält. So wird einleuchtend, was J. Eder (2008) meint, wenn er schreibt, daß der „Figurenkörper [...] ein mimetischer Gegenstand [ist], auf den Zuschauer unmittelbar mit dem eigenen Leib reagieren“ (251).
41 S. „Spiegelneurone“ in Wikipedia v. 04.01.2010. 42 Die Begriffe sind der Publikation von Bauer (2005) entnommen.
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Es ist in der Tat eine verblüffende neurophysiologische Erkenntnis, daß dieselben Bereiche der Großhirnrinde aktiviert werden in der Person, die bei einer anderen Schmerz beobachtet, wie in dieser schmerzempfindenden Person selbst. Wichtige Voraussetzung für diese interpersonale Spiegelung ist jedoch, daß wir das Verhalten, in das wir uns empathisch einfühlen, als authentisch erleben, d.h. als nicht überzogen oder für den Kontext der Situation als deplatziert43. Es ist also gerade für einen Schauspieler unerläßlich, in all seinem professionellen Tun „natürlich“ zu wirken. Er muß „ungekünstelt spielen“, schreibt der Philosoph Maurice Merlau-Ponty (2003 [1947]: 43). Mit Blick auf das Theater sagen G. Rizzolatti und C. Sinigaglia, was fraglos auch für das Kino geltend gemacht werden kann: „Jenseits aller sprachlichen oder kulturellen Unterschiede [....] sind Schauspieler und Zuschauer darin vereint, daß sie dieselben44 Handlungen und Emotionen erleben. Die Erforschung der Spiegelneuronen scheint uns zum ersten Mal einen einheitlichen theoretischen und experimentellen Rahmen zu bieten, in dem wir beginnen können, jene Art von Teilhaberschaft zu entschlüsseln, die das Theater inszeniert und die tatsächlich die Voraussetzung unserer gesamten intersubjektiven Erfahrung bildet“ (15).
Filmtheoretisch gewendet, führt Eder (2008) aus: „Sobald die Figuren im Bild erscheinen und zu handeln beginnen, setzt eine Affektübertragung durch Spiegelneuronen ein, die den körperlich-affektiven Mitvollzug ihrer dargestellten Handlungen ermöglicht. Dieses unterschwellige Miterleben des Verhaltens begleitet als emotionaler Grundton, als eine Art Generalbasis der emotionalen Symphonie, den gesamten Filmverlauf und bildet eine Basis für intensivere Formen der emotionalen Anteilnahme“ (687).
43 Bauer (2005) führt das folgende Beispiel an: „Ein Vater, der sein kleines Kind in einen Fluß fallen sähe und dann lediglich ergriffen in lautes Schluchzen ausbräche, würde keine Sympathiepunkte sammeln. Sein Mitgefühl muß also richtig dosiert sein und zwar so, daß adäquate Handlungen stattfinden können“ (49). 44 Hervorhebung von mir.
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Die filmischen Einstellungen „Augen“ und „Mund“ aktivieren die Spiegelneurone in besonders ausgezeichneter Weise. Der Zuschauer fühlt sich in die Person hinein und nimmt teil an den inneren Vorgängen der Filmfigur. Noch ist er aber nicht „Teilnehmer an Ereignissen“, zu dem er erst in der nächsten Perspektive wird.
Abb. 41: „Die Augen einer Frau werden in leinwandfüllender Nahaufnahme gezeigt“ (Vertigo, USA 1958, R.: Alfred Hitchcock, 00:00:38)
Abb. 42: „Michel Poiccards (Jean Paul Belmondos) Mund wird in Großaufnahme gezeigt (Außer Atem, F 1960, R. Jean Louis Godard, 00:00:23)
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T EILNEHMER AN E REIGNISSEN (E REIGNISPERSPEKTIVE ) Ein interessantes Spiel der Bilder führt den Zuschauer fort von den kleinen Erlebnissen seines Alltags und zeigt ihm großartige, bedeutende Szenen mit außergewöhnlichen Figuren und Handlungen. Der Kinogänger wird zum Teilnehmer an diesen außeralltäglichen Geschehnissen. Auf der Hälfte des Weges in den Film, in den fünf Einstellungen der Ereignisperspektive dynamisiert sich seine Bildwahrnehmung.
Zur Konstruktion von Handlung und Ereignis/Geschlossene Dramaturgie („Geschehen“) „Die Blicke nähern sich einem Ereignis, das in einem eindrucksvollen Raum geschieht. Der Zuschauer selbst nähert sich ihm an.“ Ein Ereignis auf der Leinwand wird vom Zuschauer dann mit besonderer Intensität erlebt, wenn zuvor das Gesicht einer Person in Großaufnahme gezeigt worden ist. Denn in den Augen und im Mund des in der Großaufnahme Porträtierten spiegelt sich eine Befindlichkeit, die der Kinogänger auf das Ereignis überträgt. * * * Der Zuschauer weiß, daß er handelt, wenn er ins Kino geht. Für ihn ist selbstverständlich, daß er dort Handlungen sehen wird, während er dabei selbst recht bewegungslos bleibt. Die durch das Tun der Akteure entstehenden Geschehnisse konfigurieren sich zu einer Geschichte, und es ist seine Aufgabe, aus den Handlungen den Sinn des Spielfilms zu konstruieren. Innerhalb von zwei Stunden wird erfahren, was ansonsten im Alltag 24 Stunden nicht passieren könnte. Während man außerhalb des Kinos bemüht ist, durch Arbeit Ordnung zu erzielen und zu bewahren, erbringt der Film eine wahrhaft unvergleichliche Leistung: Er gibt dem, der sich ihm überläßt, Ordnung und Sinn durch eine Geschichte. Die für das Spiel des Films Sinn-konstituierenden Räume sind etwa dann besonders beeindruckend, wenn sie verboten sind (wie Foster Kanes Anwesen hinter dem hohen Zaun), in der Ferne liegen (wie die
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afrikanische Steppe; s. Abb. 43), unerreichbar (wie das Weltall in „2001: Odyssee im Weltraum“) oder auch zugänglich und bekannt sind, aber im Film optisch verfremdet werden (wie die Weltzeituhr, in der sich die Ereignisse des Berliner Alexanderplatzes spiegeln; s. Abb. 44). Wenn die Bilder solche Räume nicht nur zeigen, sondern auch die Blicke sich dem Ereignis annähern, wird das mit diesen Räumen verbundene Ereignis in seinem Wert gehoben. Die filmische Einstellung „Geschehen“ läßt den Zuschauer zum Teilnehmer eines Ereignisses werden. Ereignisse in meinem Verständnis sind immer an das Handeln von Menschen gebunden und daher für uns von persönlichem Interesse. Sie übertragen die interpersonale Beziehung zwischen den Figuren auf eine einleuchtende, sinnlich begreifbare Handlungsebene. In den Momenten, in denen sich die Blicke dem Ereignis annähern, steht das Zeiterleben des Zuschauers still. Die Inszenierung des Raums tut ihr übriges, um sein Selbst in das Filmereignis hineinzuziehen. Es ist dies eine Vorstufe der völligen Auflösung des Selbst im Film, ein weiteres Stadium hin zur völligen Identität von Leinwandbild und Kinogänger gemäß der Äußerung Morins (1958): „Der Zuschauer ist der Tanz, er ist der Ball, er ist der Hof“ (121). In dramaturgisch dichten Ereignissen zeigen sich jene deutlich hervortretenden Entwicklungen, mit denen handelnde Akteure Wendepunkte in der sich entfaltenden Geschichte markieren. Im filmischen Normalfall agieren die Personen stets aus Motiven heraus: „Keine Handlung erfolgt ohne Grund“ (Vale 2000: 122), wie ein Drehbuchautor einmal bemerkt. Alle Handlungen sind im Idealfall zielgerichtet45 und dienen der Entwicklung ihrer Geschichte. Jede Handlung soll, so will es die klassische Dramaturgie, eine neue Handlung erzeugen, wobei ihre Richtung eindeutig nach vorne zielt. Eben weil der Zuschauer die Finalität der Geschichte nicht kennt, muß er ihren Verlauf konstruieren46. Um so wichtiger ist es daher, dem Kinogänger vor allem die Intentionen der handelnden Personen transparent zu machen. Die Drehbuchautorin Linda Seger (2001a) wendet sich dabei beschwichti-
45 Die Dramaturgin Benke (2002) erinnert daran, daß „das Ziel der Hauptfigur das zentrale Element der klassischen dramatischen Erzählung ist“ (116). Vgl. auch Hiltunen (1999: 57 ff.), Seger (2001b: 181, 188). 46 Benke (2002: 33).
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gend an ihre Kollegen: „Sie müssen kein Psychologe sein, um zu verstehen, was ihre Figur antreibt und motiviert“ (79). In Ereignissen bündeln sich nicht nur die Handlungen der Personen, sondern sie indizieren Umschwünge in der psychologischen Entwicklung der Figuren. Für den Zuschauer sind die Hauptereignisse der Geschichte Orientierungsgrößen, weil er an ihnen eine Verdichtung der Kausalitäten der Story abliest47. Ein grandioses Filmereignis ist von einer Dimension, die den Alltag übersteigt, und erhöht damit das Erlebnispotential des Zuschauers. Solche Ereignisse entstammen einem Erfahrungsfundus, der ein Sammelbecken für essentielle Momente des Lebens ist: Geburt, Wachstum, Verfall, Schöpfung, Zuversicht, Tod, Bindung, Veränderung, Trennung, Liebe, Macht, Krankheit usw. In diese breite Palette mischen sich existentielle Gefühle, tiefe Ängste und Wünsche. MainstreamSpielfilme streben durchwegs eine überwiegend positive Sicht auf die Welt an, um den Zuschauer von den alltäglichen Spannungen zu entlasten; „wenn die Produzenten eines nicht wollen, dann einen deprimierenden Film“, bemerkt die Schriftstellerin Holly-Jane Rahlens (2000: 121). Die meisten gängigen Theorien zur Konstruktion von Filmgeschichten, deren Handlungen sich am Ende schließen48, gehen von einer Dreiteilung aus, die den Spielfilm zeitlich und dramaturgisch strukturiert49. Erstens gibt es eine Expositionsphase, die der Etablierung der Hauptfigur(en) dient, den Spielort zeigt und den Ausgangspunkt für das Thema festlegt. Danach folgt zweitens die Bearbeitung des Themas, bei der die Ziel-Determiniertheit des oder der Haupthelden hervortritt, indem ihr Spiel von dem der Gegenspieler konterkariert wird, das Widerstände, Verwicklungen und Verzögerungen bewirkt. Schließlich und drittens vereinen sich die Hauptlinien mit Parallel- und Nebenhandlungen, und die entstandenen Komplikationen werden einer Lösung zugeführt: Der Protagonist erreicht das Ziel ihrer Aufgaben. Es ist bemerkenswert, daß
47 Wuss (1992a, 1992b) spricht von „Kausal-Ketten“. In meinen Überlegungen beziehe ich mich, wie im zweiten Abschnitt „Schemata“ des Kapitels vermerkt, ausschließlich auf menschliches Tun. Die Natur handelt nicht. 48 Im Gegensatz zu Geschichten mit einem offenen Ende. 49 Vgl. Bildhauer (2007: 21), Carriére, Bonitzer (2002: 23), Chion (2001: 183), Eder (2000: 26 ff.), Field (2000: 41 ff.), Grodal (2000: 58) und Seeger (2001a: 37). Ich hatte im 4. Kapitel darauf verwiesen.
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Aristoteles in seiner „Poetik“ (2001) hierfür die Grundlagen bereitstellte, „auf dessen Thesen sich die meisten Drehbuchautoren gestützt haben“, schreibt C. Kallas (2007: 60); und auch viele Filmtheoretiker nehmen auf die Dichtungstheorie des griechischen Philosophen Bezug50. Geschichten bergen Wissen, das in schematisierter Weise von Figuren verbreitet wird, deren Handeln von Motiven geleitet ist, die eine „Mangelsituation“ (Vogler 2007: 175) kompensieren wollen. Voraussetzung für eine akzeptable Geschichte ist, daß sie vom Publikum verstanden wird. „Ein Charakter steht erst, wenn man begreift, was ihm fehlt“ (91), schreibt Sybille Knauss in ihrem Leitfaden für Roman- und Drehbuchautoren (2006). Dabei ist die Anzahl der einer Geschichte zugrundeliegenden Strukturen limitiert, d.h., es gibt eine Reihe immer wieder bevorzugter Zentralthemen, eben weil sich solche Fokusse nicht beliebig erfinden lassen. Robert McKee (2001) geht sogar einen Schritt weiter. Für ihn, der sich an der Archetypenlehre Carl Gustav Jungs orientiert, gibt es „nur eine einzige Geschichte. Im wesentlichen haben wir seit Anbeginn der Menschheit auf die eine oder andere Weise einander dieselbe Geschichte erzählt, und diese Geschichte könnte zweckmäßig die Suche heißen. Alle Geschichten nehmen die Gestalt einer Suche an“ (213).
Jung (1962) reflektiert in seinen Erinnerungen: „Es ist der Sinn meiner Existenz, daß das Leben eine Frage an mich hat. Oder umgekehrt: ich bin selber eine Frage, die an die Welt gerichtet ist, und ich muß meine Antwort beibringen, sonst bin ich bloß auf die Antwort der Welt angewiesen“ (320-321). Es kann für Freunde des Kinos einen Lernprozeß bedeuten, von der tatsächlichen Diversität der Ereignisräume im Film zu abstrahieren, Gleiches im Ähnlichen51 zu entdecken und den „aristotelischen“ dreiteiligen Phasenverlauf exemplarisch zu rekonstruieren. Der Zuschauer ist für alle Fälle gut beraten, wenn er nach der Filmvorführung das anthro-
50 Z.B. Neill (1996: 179 ff). 51 Hierfür bieten sich als einfache Sehübung die unterschiedlichen Verfilmungen ein und derselben Geschichte an, z. B. Nosferatu (D 1922, R.: Murnau; D 1979, R.: Herzog), King Kong (D 1933, Drehbuch: Creelman, Ruth, Rose; USA 1976, R.: Guillermin; USA 2005, R.: Jackson) oder Titanic (USA 1954; R.: Negulesco; USA 1999, R.: Cameron).
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pologisch Universelle der Geschichte zu entdecken versucht. Er mag dabei Schemata wiederfinden, die seine Alltagserfahrungen stark überzeichnen, wird aber auch erfahren, daß er Sehnsüchte in sich trägt, die sein Alltag nicht erfüllt. Das Ereignisfeld Film hilft ihm, sich von einem Überschuß andrängender Wünsche zu entlasten, für die das sonstige Leben keine Ausweich-Institutionen bereithält. Es wird kein markantes Ereignis in der Biographie eines Zuschauers geben, für das sich nicht thematische Analogien in zahllosen Filmen finden ließen. Wer nicht bereit ist, sein Besonderes in den allgemeinen, schematisierten Strukturen des Kinos wiederzufinden, wird kaum dorthin gehen. Die besten Filme gehen alle an, denn „eine ,gute Story‘ bedeutet etwas Erzählenswertes, das die Welt hören möchte“ (McKee 2001: 29). Das Erleben eines personal wahrgenommenen Ereignisses führt den Zuschauer tiefer in den Film.
Abb. 43: „Die Blicke nähern sich aus der Ferne dem Jungen, der durch die Steppe radelt“ (Nirgendwo in Afrika, D. 2001, R.: Caroline Link, 00:03:19).
Abb. 44: „Die Blicke nähern sich der Weltzeituhr am Alexanderplatz in Ostberlin, in der sich plötzlich eine Straßenszene spiegelt. Auffallend ist der strahlend blaue Himmel“ (Good bye Lenin, D 2003, R.: Wolfgang Becker, 00:01:36).
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Die Figur und ihr Charakter/Die teilnehmende Beobachtung („Figurenbeobachtung“) „Die Blicke bleiben im Kontakt mit einer Figur, die ein Ereignis verursacht oder im Zusammenhang mit ihm steht. Der Zuschauer verfolgt diese aufmerksam.“ Die Aufmerksamkeit des Zuschauers für eine Figur ist dann besonders groß, wenn zuvor ein Ereignis gezeigt wurde. Denn die affektive Wirkung dieses Ereignisses überträgt sich auf diese Person. * * * „Figurenbeobachtung“ ist die häufigste Einstellung, die wir in Filmen sehen. Personen, in der Halbtotalen gezeigt, enthüllen dem Zuschauer ihre Positionierung innerhalb des Ereigniskontextes. Zudem stillt diese Einstellung seine Neugierde auf interessante Szenen, die sich – anders als im Alltag – zu einem komplexen Gefüge, zu einer Geschichte konfigurieren. „Figurenbeobachtung“ bildet erzähltechnisch das nächstliegende und einfachste Mittel, dem Kinogänger die Handlungslinien der Geschichte einsichtig werden zu lassen. Zudem verbindet sich diese Einstellung spielerisch mit allen anderen Stufen des Wegs in den Film. Zwar schreibt J. Eder (2008), „daß wir auf fiktive Wesen anders reagieren als auf reale Personen“ (657), und doch ist es so, daß der Zuschauer seine realitätsbasierte Rationalität („es ist ja nur ein Film“) für die Zeit der Aufführung gleichsam an den Rand seiner Wahrnehmungsfähigkeit stellt, weil er ja „in den Film hinein“ gehen und nicht „draußen“ bleiben möchte. Die Wunscherfüllung im Irrationalen wird gerade dadurch begünstigt, daß die Filmhelden prototypische Verhaltensweisen zeigen, die im komprimierten Zeitkontext der Geschichte dominant werden. Wenn Zuschauer Personen auf der Leinwand beobachten, können ihnen die Bilder Ideen, Verhaltensmodelle und Deutungsangebote für das eigene Leben unterbreiten. Freilich sind diese technisch erzeugten Interpretationsmuster zumeist überzeichnet und schematisch konturiert, weil der Massenfilm ein Industrieprodukt ist, das auf möglichst breite Distribution angelegt ist. Ungeachtet seiner entindividualisierenden Machart spricht der Kinofilm eine so verlockende Einladung zur teilnehmenden Beobachtung aus, daß der Kinogänger bereitwillig seinen Realitätssinn marginali-
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siert. Mancher Geschichte glaubt er eine Hilfe für sein Alltagsleben entnehmen zu können. Figuren im Film streben nach Dingen, nach denen auch der Zuschauer eine Sehnsucht in seinem Herzen trägt. J. Eder schreibt: „Die wesentlichen Fragen, die der Mensch hat, kreisen um den Menschen, und als Menschen-Nachbildung erbt die Figur einen Gutteil dieser Fragen“ (33). Diese anthropologisch anscheinend feststehenden Grundfragen können in einer filmischen Geschichte – belehrend wie unterhaltend – bilderzählerisch verhandelnd werden, wenn die Story Zusammenhänge des realen Lebens dicht zentriert und die Handelnden mit ihren Absichten nicht an ausweglosen Situationen scheitern läßt. Diese „Idealität“ der Filmfigur zeichnet sie vor den Menschen unseres realen Alltagslebens aus: „Eine Figur ist ein Kunstwerk, eine Metapher für die menschliche Natur. Wir sprechen von Figuren, als seien sie echt, doch sie sind der Wirklichkeit überlegen. Ihre Eigenschaften werden als klare und erkennbare entworfen; unsere Mitmenschen hingegen sind schwer zu verstehen, um nicht zu sagen rätselhaft“ (McKee 2001: 403).
Mehr noch als die grandiosen Räume, in denen der Film spielt, transzendieren die auf der Leinwand handelnden Personen die Dimensionen der Alltagserfahrung. „Figurenbeobachtung“ kann prinzipiell jedes menschliche Verhalten vor Augen stellen. Figuren beseelen Filme, während das ungelebte Leben des Zuschauers den Wunsch nach Partizipation an einer Geschichte weckt und ihn so in das Bild hineinführt: Was wir selbst nicht tun, tut dort ein anderer, den wir teilnehmend beobachten. Die Bilder heben damit vorübergehend jene Empfindungen der Defizienz auf, die mit den Versagungen des Alltags verbunden sind: Unerfülltheit, Ungeordnetsein, Unvollständigkeit oder Unruhe. Sieht ein Kinogänger, wonach er strebt, erfährt sein Bedürfnis nach Besitz eine temporäre Befriedigung. Abschätzig könnte man dies Voyeurismus nennen, der im Fall erotischer Bilder eine visuell imprägnierte Vorlust erzeugt, die mitunter den Wunsch nach letzter Befriedigung sogar übertönen kann. Wünsche können sich auch auf Symbole übertragen: auf Türme, Bäume, Berge, Seen etc. Der Zuschauer akzeptiert dabei, daß er selbst in seiner Beziehung zur Filmfigur namenslos im Schatten bleibt. Im Verborgenen nähert er sich den Eigenschaften der bewunderten Person an und läßt sein Herz mit ihrer Aura erfüllt werden. Grundsätzlich gilt, daß es den Kinogänger zu besonderen Fi-
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guren hindrängt, die in besonderen, in außeralltäglichen Ereignissen handeln und ihn einladen, in diesen außerordentlichen Spiel-Raum einzutreten. Die Wandlung einer Person im Film vollzieht sich zielorientiert, entlang dem Ereignisverlauf der Geschichte; der sich dabei abzeichnende Weg verleiht ihrem Leben eine Wirklichkeit, ein gleichsam mythisches Gewicht52. Die narrative Überhöhung des filmischen Ereignisses erlaubt es dem Zuschauer, seine eigene Welt anders zu sehen als zuvor. Der Tiefenpsychologe und Filmanalytiker Dirk Blothner (1999) vermerkt: „Wirksame Spielfilme eröffnen einen Raum für Übergangserlebnisse. Sie thematisieren Grundkomplexe des Lebens, ohne das Leben selbst zu sein“ (164). Die ungewöhnlichen Bilder im Projektionsraum offerieren Ideen, die sich in Figuren, Charaktereigenschaften und Handlungen verkörpern. Ihre auratische Existenz verdanken sie ihrem Kontrast zum Alltäglichen, das sie überstrahlen und zu einer Sphäre der Uneigentlichkeit degradieren. Sie setzen sich an die Stelle der tendenziell geschichtenlosen Alltäglichkeit und behaupten vorübergehend, das Eigentliche, die wirkliche Wirklichkeit zu sein. „Unter uns dürfte wohl kaum jemand sein, der nicht einen tiefsitzenden Schmerz oder alte Kränkungen kennt“ (179), schreibt der Drehbuchautor Christopher Vogler (2007). Frappierend ist, wie eigene Traumata, die im Alltag verdrängt, aber nie beseitigt werden können, im Illusionsraum Kino gezeigt werden, da jede der Filmfiguren ihren Lebensschmerz zu tragen hat: „Ihnen fehlt etwas Wichtiges, oder ihnen ist gerade etwas weggenommen worden“ (175), bemerkt Vogler weiter und fügt hinzu: „Derartige Mangelsituationen tragen viel dazu bei, daß wir Sympathie für den Helden empfinden und uns wünschen, daß er am Ende das fehlende Element finden wird. Das Publikum hat einen ausgeprägten Widerwillen gegen das Vakuum, das sich aufgrund eines Mangels in einem Charakter ausbildet“ (176).
Wir sind bereit, für die Rettung des Helden und damit für unsere seelische Restauration Eintrittsgeld zu zahlen, weil die Aussicht auf visuel-
52 Für die Protagonisten mancher Filme gilt, daß sie ihre Entwicklung auf einer „gefährlichen, durch mancherlei Hindernisse beschwerten Reise der Seele“ (351) vollziehen, wie Campbell (1978) den mythischen Erzählstoff ausweist.
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le Kompensation uns in den Film lockt. Das äußere Leben bietet niemandem immer das, was er innerlich zur Stabilität benötigt. Allerdings: Diese cinematographische Ersatzbefriedigung will immer wieder aufgefrischt werden, denn ihre Wirkung verpufft im Gewöhnlichkeitsraum des Alltags. „In der Regel verdrängt das tätige Leben das Kinoerleben sehr schnell“, bemerkt D. Blothner (1999: 35-36). Visieren wir das Zeiterleben des Zuschauer an, so können wir sagen: Wem das Kino das bietet, was er braucht, d.h., wenn die Figuren das tun, wonach er sich sehnt, dann verläuft sein Zeiterleben im Sinne seiner eigenen Erwartung: Das Handeln der Figuren dient seiner Wunscherfüllung, und während er teilnehmend beobachtet, ist die reale Gegenwartszeit, die Präsenz des Jetzt, für ihn vernichtet. Real ist lediglich die auf der Leinwand sich vollziehende Zeit, wo sie an den Handlungen haftet und sich mit deren Verlauf dehnt und kürzt. Jedoch sind der Retardierung wie der Beschleunigung des Zeitverlaufs im Film Grenzen gesetzt. So dürfen die Ereignisse die Finalität der Geschichte verzögern, aber nicht unnötig behindern; und die Aussicht auf Erfolg des Helden darf dem Zuschauer weder grundlos vorenthalten werden noch darf er sich frühzeitig in der Gewißheit des guten Ausgangs wiegen. Spannung ist eben gefragt, und Spannung ist eines der absolut wesentlichen Qualitätskriterien eines ansprechenden Spielfilms. Es gibt auch dramaturgische Herangehensweisen, die den Figuren Luft für digressives Verhalten lassen, so wie wir es aus dem Alltag kennen, aber im Kino eben nicht gewohnt sind: Die Protagonisten handeln anscheinend nicht zielorientiert und ohne an die Kausalität der Ereignisse gebunden zu sein. Eine treffliche Beispielsszene ist hierfür in Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ (USA 1994) zu sehen, in der die Hauptfiguren auf dem Weg zum Morden über die Qualität von Fußmassagen debattieren. Mit solchen humoristisch-spielerischen Einsprengseln werden die Wünsche und Erwartungen irritiert. Für das Bewußtsein des Zuschauers wird der Kontext von Ziel und Handlung entkoppelt und die Logik der Geschichte prinzipiell in Frage gestellt, dem Zufall unterworfen. Intrapsychisch wird die Sicherheit im Handeln von der Unberechenbarkeit des Gedankens bedroht. Gerade weil der Zuschauer dennoch unter dem Einfluß der Großaufnahmen steht, wodurch seine „Motor Mimicry“ ausgelöst wird und seine „soziale Empathie“ Impulse erhält, die erwartete Kausalität für Ziel und Handeln sich aber nicht einstellt, behalten die Figuren in „Pulp Fiction“ zwar, wie in allen Mainstream-Filmen, den Anschein realistisch ge-
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zeichneter Charaktere. Doch es ist etwas Unheimliches heraufgezogen, so daß wir diese Menschen eigentlich nicht verstehen können. Auch S. Kracauer (1964) sieht das Verhältnis von Kontingenz und Notwendigkeit im Film, ohne einen prinzipiellen Gegensatz erkennen zu wollen: „Die Affinität zum Zufälligen ist in der Tat sehr wohl mit den Interessen an kausalen Zusammenhängen vereinbar“ (101). Dem ist zuzustimmen, insofern das kausal Unerklärbare (das Zufällige) dann zur stärksten Desorientierung führt, wenn es sich aus dem „normalen,“ dem erwarteten Ereignisverlauf1 heraushebt. Anzuführen wäre hier die Einsicht Eders (2008), der das „vielleicht tiefgreifendste Rätsel der Figur“ (27) dahingehend verortet, „daß Menschen fiktiven Figuren ähnlich begegnen wie realen Wesen; daß sie ihre Persönlichkeiten und Handlungen zu verstehen suchen und auf sie mit Gefühlen und Verhalten reagieren – bis hin zu Zuschauerbriefen an Fernsehcharaktere“. Wie gesagt, „Figurenbeobachtung“ ist die bei weitem häufigste filmische Einstellung. Das ist auch völlig einleuchtend, weil sie das Fenster des Films zur teilnehmenden Beobachtung öffnet. Wir partizipieren am Weg der Figuren durch ihr Leben und begleiten sie in der sicheren Erwartung, mit ihnen ans Ziel zu gelangen. Demgegenüber wissen wir in unserem eigenen Leben prinzipiell nicht, wohin das Schicksal uns leiten wird, und das Ziel bleibt uns verborgen, wenngleich wir keinen Zweifel an der Unausweichlichkeit des Endes hegen.
Abb. 45: „In einem Boxring tänzelt der trainierende Jake La Motta (Robert de Niro)“ (Wie ein wilder Stier, USA 1980, R.: Martin Scorsese, 00:00:50).
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Abb. 46: „Die Blicke zeigen, wie Jonathan Harker (Gustav von Wangenheim) ans Fenster geht und in gebückter Haltung aus dem Fenster schaut, so daß er von außen nicht gesehen werden kann“ (Nosferatu, D 1922, R.: Friedrich Wilhelm Murnau, 00:02:32).
Die Szene und die Rolle/Drehbuch („Spiel“) „Die Blicke zeigen ein Ereignis aus interessanten Kamerapositionen. Der Zuschauer erlebt dieses Ereignis selbst“. Die Einsicht in eine Szene aus unterschiedlichen Blickwinkeln ist dann besonders eindrucksvoll, wenn die Blicke zuvor bei einer Figur auf eine Figur gerichtet waren, die ein Ereignis verursacht. Denn der Eindruck, den diese Person hinterlassen hat, ragt noch in die neue Szene hinein, was auch dann gilt, wenn diese Figur selbst hier nicht auftritt53. * * *
53 Stellen wir uns vor, wir sehen auf der Leinwand eine Figur in Großaufnahme, die ein Streichholz anzündet (Szene 1), und in der nächsten Szene (Szene 2) wird ein Fußballspiel aus verschiedenen Perspektiven gezeigt. Erst wenn in Szene 2 die Großaufnahme eines Fußballers erscheint, verblaßt der Eindruck der Person aus Szene 1, und die Figur aus Szene 2 erhält nun ihre eigene Aura.
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„Spiel“ beleuchtet ein Ereignis aus verschiedenen Blickwinkeln, wobei Nähe und Ferne einander abwechseln können. Unter den ausgewählten Filmen findet sich die wohl bekannteste Einstellung „Spiel“ in Gestalt der Duschszene in Alfred Hitchcocks „Psycho“ (USA 1960): Marion Crane (Janet Leigh) wird von Norman Bates (Anthony Perkins) mit einem Messer ermordet (00:45:29), und der Zuschauer wird ganz und gar unmittelbar zum selbst erlebenden Teilnehmer des Geschehens. Die Einstellung „Spiel“ erleben wir ebenfalls in den Bildern der schlafenden Matrosen in „Panzerkreuzer Potemkin“ (R 1925, R.: Sergej Eisenstein) (siehe Abb. 48), welche die Szene im Wechsel von Halbtotalen und Nahaufnahmen in malerischen Dreieckskompositionen zeigt. In „Der Zauberer von Oz“ (USA 1939, R.: Viktor Fleming) macht „Spiel“ das Aufkommen eines Gewitters erlebbar, vor dem sich die Farmbewohner in Sicherheit bringen (00:15:27). Ein letztes und viertes Beispiel: „Sein oder Nicht-Sein“ (USA 1942) von Ernst Lubitsch enthält das Ereignis („Hitler“ steht auf der Strasse) dem Kinogänger zunächst vor, und dieser darf raten, was die erschreckten Gesichter der Passanten sehen (Abb. 47). Schließlich stellt der Bildaufbau den vermeintlichen „Führer“ (Tom Tugan) in den Mittelpunkt der Passantengruppe. In diesen oder ähnlichen Szenen wird das Geschehen für den Zuschauer zum eigenen Erlebnis, weil die Kameraposition variiert und dadurch den Zuschauer in einen Zustand besonderer Aufmerksamkeit versetzt. Nicht das auf der Leinwand Dargestellte selbst: Mord, Schlaf, Unwetter etc. ist in den obigen Szenen das eigentlich Ausschlaggebende, sondern das digressive Verhalten der bildaufnehmenden Instanz. Der Kinogänger erlebt die Zeit im Jetzt, da sich mit jedem Positionswechsel der Kamera mit einem Sprung seine Sehbeziehung zum Geschehen ändert. Aus der Frage „Wozu und warum?“, die sich der Zuschauer stellt, um die Geschichte (re)konstruieren zu können, wird nun, in der Einstellung „Spiel“, die Frage nach dem Wie? In dem Moment, in welchem man diese Einstellung von der Leinwand angeboten bekommt, ist einem das analytische Denken verwehrt. Auch J. Merkel (2000) befaßt sich in seinen Überlegungen zum „Kino im Kopf“ mit der Digressivität des Filmspiels: „In seiner Sprunghaftigkeit, ziellosen Offenheit und Unvorhersehbarkeit erscheint Spielen wie ein Gegenpol zum systematischen Denken, das Erscheinungen nach Ursachen und Wirkungen zu erfassen sucht“ (24).
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Durch die in diesem Abschnitt verhandelte filmische Einstellung wird der Zuschauer in Spielbereitschaft versetzt, ohne die er im Kinosaal nicht adäquat auf die Bilder der Leinwand reagieren kann. Sein Selbst verteilt sich mit jedem neuen Schnitt auf die jeweils erscheinenden Figuren. R. Stephenson und J. R. Debrix (1969) weisen nach ihrer Beschreibung des technischen Mittels, durch Positionswechsel der Kamera eine Geschichte zu erzählen, darauf hin, daß ungeachtet der scheinbaren Zwecklosigkeit dieses Spiels der Bilder eine auf den Erzählverlauf hin ausgerichtete Intentionalität erhalten bleibt: „The fundamental characteristic of narrative consists in the use of a mobile point of view in the course of the action. Recording an event by separate successive shots was the representation of the same event from different points of view or in a different time order which created a new art. Cutting during the action created a new optical, psychological, and dramatic for world very different from the world of reality, for it meant that the event filmed was not reproduced objectively, but analysed and reconstituted subjectively. The film-maker imposed his personal vision and with the intervention of human agency artistic factors came into play“ 132).
„Spiel“ fördert mit seiner Digressivität das Erkundungspotential des Zuschauers. Diese Einstellung bahnt den Zugang zu seiner Seele, denn sie schließt mit ihren spontanen Sprüngen an das Feld der Möglichkeiten an. Indem „Spiel“ die Lust am ungebundenen Beschauen zum Ausdruck bringt, befriedigt sie stärker noch als „Figurenbeobachtung“ die menschliche Neugierde. Denn hier wird das Erlebnis nicht nur durch die begleitenden Blicke hergestellt, sondern in erster Linie auch durch die Freiheit der Bewegung, die der Zuschauer – selbst das Ereignis erlebend – in der Szene vollzieht. „Film schafft Erlebnispotential“, sagt Wuss (1993: 9), und H. Münsterberg (1996 [1916]) erklärt: „Die Menschen und Dinge kommen von außen, das Spiel der Aufmerksamkeit aber beginnt von innen“ (58). Auch dieser Autor hat erkannt, daß der Film, mit welchen Mitteln er auch arbeiten mag, an die psychische Disposition der Kinogänger anknüpft. „Ja“, wirft der Regisseur H. C. Opfermann (1963: 317) ein, „der erfahrene Filmgestalter weiß, daß die innere Bewegung, die seinen Filmszenen durch die Art der Montage erteilt wird, viel wichtiger und wirksamer ist als alle Vorgänge in der Szene“.
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Aus dem Alltag kennen wir Situationen, in denen sich Handlung und Bedeutung in einer Person zentrieren, gut. Wenn wir dabei beteiligt sind, spielen auch wir eine auf unsere Ziele zugeschnittene Rolle. Wenn Max Frisch (1964) in „Mein Name sei Gantenbein“ formuliert: „Jede Geschichte ist eine Erfindung“ und „jedes Ich, das sich ausspricht, spielt eine Rolle“ (72), so gilt dies insbesondere auch für den breiten Bereich von Theater, Film und Literatur. Das Rollenspiel im Alltag hat, vereinfacht gesagt, eine ernste und eine spielerische Seite. Beruf und Freizeit weisen uns jeweils verschiedene Aufgabenbereiche und Möglichkeiten zu und wir spielen dort unsere jeweiligen Rollen trotz aller Professionalität und Routine einmal besser, das andere Mal weniger gut. Der Alltag ist in seiner Ordnung eben nicht von einem Regisseur inszeniert, die Mitmenschen sind keine Schauspieler, die nach Drehbuch handeln, und vor allem ist die Zukunft eines jeden offen. Der Entwurf unseres Lebens enthält immer die Züge des Möglichen. Nur im Bereich der Fiktion gibt es die kreative, souveräne Gestaltung mit ihren kompositionellen Möglichkeiten. So erfüllt der Film einen Wunsch, den das Leben nicht befriedigt: den Wunsch, einen – glücklichen – Ausgang der Geschichte geliefert zu bekommen. Im Alltag läßt sich die Angst vor der Zukunft mildern, indem wir – wie ein Schauspieler – an der eigenen Rolle arbeiten. Dazu braucht man Mentoren oder Meister. Der gelingende Alltag fällt jedoch bezüglich seiner Glücksmöglichkeiten weit hinter eine gelungene fiktionale Geschichte zurück. Die komplexe Story eines Drehbuchs bietet mehr Phantastisches als die profane Welt mit ihren alltäglichen Notwendigkeiten. Aber auch das Wissen, daß uns im Film mit viel Aufwand und teuren Mitteln von professionellen Machern etwas vorgespielt wird, verhindert nicht unsere Empfindung von Freude. Wir vergessen die unhintergehbare Illusionshaftigkeit der Vorführung, denn der Lohn für das Vergessen ist groß: Das eigene Leben wird aus seiner Verdinglichung gehoben und in den Bereich des Möglichen gesetzt. Die Narration des Films offenbart, was nicht sein kann, aber darf. Im Film gelingt es zumeist einem Protagonisten, sich gegen die Widerstände derer durchzusetzen, die das Erreichen eines Ziels vereiteln wollen. Wenn die Figuren auf der Leinwand für uns spielen, können wir Grundstrukturen in den von ihnen verursachten Ereignissen, erkennen, denen wir im Leben beinahe täglich begegnen. Denn jenseits dessen, daß sie die Grenzen aufheben, die unseren Alltag einschränken, versorgen uns Filme mit leichtverständlichen und eingän-
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gigen Lebensweisheiten, wie z.B. der, daß auch der Held sterblich ist oder scheitern kann54. Es gibt also existentielle Kongruenzen zwischen der Rolle im Film und der Lebensrolle eines jeden Zuschauers, auch wenn die Szenen auf der Leinwand dem visuellen Anschein nach sich von unserem Alltag – vor allem durch Überzeichnungen und Überhöhungen – abheben. Natürlich gibt es filmische Glücksversprechen wie z.B. das der erfüllten Liebe, aber der Kinogänger hat, bevor es zu diesem Finale kommt, genügend Widrigkeiten mitgefühlt, um nicht glauben zu können, daß das Leben der Liebenden zukünftig keinen weiteren Belastungsproben ausgesetzt sein wird. Insofern ist jedes Filmende ein vorläufiges. Der Zuschauer ist derweil damit zufrieden, daß die großen Personen vor seinen Augen ihre Ziele erreicht und ihre Rolle erfüllt haben, und diese Aussicht auf das Happy End motiviert ihn, „in den Film zu gehen“. Die Frage, wer besser spielt: der Filmheld oder wir, stellt sich nicht; doch können wir nicht umhin, der Perfektion, mit der die Helden ihre Rolle spielen, Bewunderung zu zollen. Wir sind ja mit Leib und Leben beteiligt an der Fiktion, und so glauben wir, daß unser Filmheld stärker, kühner und geschickter ist als wir. Obschon wir uns eigentlich der professionellen Verwandlungskunst des Schauspielers bewußt sind, erstaunt uns immer wieder, mit welcher – vielleicht von höheren Mächten – gegebenen Begnadung der Protagonist seinen Weg durch den Film geht. Wir wollen uns die Illusion nicht rauben lassen, daß unsere Helden Unmögliches möglich machen und für die Widrigkeiten des Lebens ungleich besser gewappnet sind als wir. Im Charisma des Schauspielers liegt die magische Kraft, die ihm vom Drehbuch vorgeschriebene Rolle in den Zauber einer ideal gelebten, fiktiven Rolle zu transformieren.
54 Siehe Jake La Motta (Robert de Niro) in „Wie ein wilder Stier“ (USA 1980, R.: Scorsese).
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Abb. 47: „Verschiedene Großaufnahmen zeigen überraschte Gesichter von Personen, die alle auf ein – dem Zuschauer bisher noch nicht gezeigtes – Ereignis blicken“ (Sein oder Nichtsein, USA 1942, R.: Ernst Lubitsch, 00:01:26).
Abb. 48: „Unterschiedliche Kamerapositionen zeigen, wie die schlafenden Matrosen in ihren schaukelnden Hängematten liegen“ (Panzerkreuzer Potemkin, R 1925, 00:03:13)
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Die Erinnerung als Fragment der Geschichte („Vorstellungsbilder“) „Die Blicke fokussieren ein Ereignis. Der Zuschauer hat Bilder aus seiner eigenen Phantasie oder Erinnerung vor Augen“. Wenn der Zuschauer während des Films mit einem eigenem Vorstellungsbild reagiert, so wird dieses dadurch verstärkt, daß ihn zuvor die Einstellung „Spiel“ in die Position versetzt hat, ein Ereignis zu erleben. Denn dieses Gefühl schwingt sich in das Vorstellungsbild hinein und verleiht ihm mehr Lebendigkeit. * * * H. Münsterberg (1996) beschrieb im Jahre 1916 ein Phänomen der Visualität. das im Alltag wie im Kino begegnet: „Mit der ganzen Freiheit unserer Phantasie, mit der vollen Beweglichkeit unserer Assoziationen schieben sich flüchtige Bilder der Vergangenheit in die Gegenwartsszenen“ (86). Diese Erinnerungsfragmente werden von den Filmbildern evoziert, und zwar deshalb mit besonderer Macht, weil die Figuren auf der Leinwand zumeist extrem groß und spezifisch beleuchtet sowie von professionell ausgebildeten Personen mit rollengemäßen Gesichtern gespielt werden. Manchmal ist das Aufkommen dieser Erinnerungsfragmente so gewaltig und erschütternd, daß es den Illusionscharakter destruiert und den Kinogänger so überwältigt, daß er den Saal verlassen muß. Umgekehrt, und das ist das Übliche, gleicht der Zuschauer das gesehene Bild mit seinen Erinnerungsstücken ab55, bestätigt seinen Ähnlichkeitscharakter, schließt an seine Bedeutung an und gewinnt dadurch an Vertrautheit mit dem Filmgeschehen. Dann betritt er mit Partikeln aus der ganzen Fülle seiner Biographie den Boden, auf dem er in den Film geht. Mit der visuellen Erinnerung aus seiner Geschichte gibt der Zuschauer der Geschichte auf der Leinwand eine individuelle, unverwechselbare Gestalt. Es hat sich ein Fragment des gelebten Lebens in den Dienst des Spielfilms eingefügt, und die Vergangenheit des Zuschauers wird zur Gegenwart des Films.
55 Vgl. Deleuze (1991: 77).
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Es gibt jedoch auch Bilder, die nicht der Biographie, sondern der Phantasie56 entstammen. Wenn ein solches Vorstellungsbild entsteht, meint man, es entstamme dem Fundus der eigenen Einbildungskraft; aber es gewinnt keine klaren Konturen und verschwindet im Strom der Wahrnehmung der filmischen Bilder57. Erinnerungsbild und Kinobild können sich also unterscheiden, aber auch vermischen. So ist E. Morin (1958) der Auffassung, daß das Bild der Leinwand mit seiner Faktizität als „genaue(r) Widerschein der Realität“ (89) zwar zunächst der „Extravaganz der Einbildungskraft“ widerspreche, dann aber „von den subjektiven Gewalten durchdrungen“ werde, die es „entführen, entformen und in den Raum der Phantasie und des Traumes werfen“. Und für den Regisseur P. P. Pasolini (1985) gibt es im Zuschauer „eine ganze Welt“ (51), die sich „vorwiegend durch signifikante Bilder“ (51) und die „Welt der Erinnerung und der Träume“ darstelle. „Dennoch“, so meint Walter Panofsky (1940), „tritt das Filmbild an die Stelle der eigenschöpferischen Phantasie und bleibt bestimmend für jedes Rückerinnern“ (29-30) Der Filmtheoretiker Oliver Fahle (2002) macht geltend, daß Erinnerungsbilder „Scharniere“ (102) sind, denn sie können „aktualisiert werden, um eine gegenwärtige Wahrnehmungssituation zu unterstützen“; andererseits sind sie virtualisiert, nämlich in den Tiefen des Gedächtnisses abgespeichert. Hierbei bezieht sich Fahle auf die Ausführungen Gilles Deleuzes zum „Erinnerungsbild“, auf die wir in diesem Abschnitt weiter unten zu sprechen kommen werden. In eine ähnliche Richtung wie Fahle zielt Cesare Musattis (2004 [1950b]) mit seinen psychologischen Überlegungen: „Das filmische Bild spricht mit besonderer Unmittelbarkeit zu unserem Unbewussten und das Unbewusste verfügt über eine besondere Resonanz auf filmi-
56 Es handelt sich dabei um jenen Begriff von Phantasie, den A. Kluge (1975) verwendet, wenn er mit ihm eine „Energie“ (244) meint, die „vom technischen Vollzug der Gesellschaft ausgeschlossen“, als durch Herrschaft unterdrückt und in ein „subdominantes Bewußtsein“ verlagert wird. Phantasie gehört zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen und läßt sich m.E. nicht so radikal unterdrücken, wie A. Kluge offenbar meint. 57 Ähnlich wie in der phantasienbildenden Situation des spielenden Kindes oder auch während des Tagtraumserleben des Erwachsenen (S. 2. Kapitel, III. Ereignisperspektive, Spiel [„loslassen“]).
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sche Bilder, und zwar aufgrund der Ähnlichkeit, die solche Bilder, so wie wir sie erleben – in ihrem Realitätscharakter, aber losgelöst und wie auf einer ,anderen‘ Ebene –, mit unbewussten Fantasien aufweisen“ (143).
Wir können mit Gewißheit sagen, daß Filmbilder verborgene Schichten des Psychischen ansprechen und dabei Vorstellungsbilder aus der Biographie des Zuschauers evozieren können. Tritt ein Erinnerungsbild in sein Bewußtsein, führt dieses Fragment ihn individuell weiter in den Film hinein. Damit könnte der Leistung solcher Bilder genügend Anerkennung gezollt sein. Doch S. Kracauer (1964) postuliert darüber hinaus: „Infolge ihrer Unbestimmtheit sind Filmbilder besonders geeignet, als zündender Funke zu wirken. Irgendein solches Bild kann im Kinobesucher Kettenreaktionen auslösen – ein Flucht von Assoziationen, die nicht mehr um ihre ursprüngliche Quelle kreisen, sondern aus einer erregten Innenwelt aufsteigen. Dieser Vorgang führt den Zuschauer vom gegebenen Bild zu subjektiven Träumerein“ (225).
Kracauer skizziert hier eine Situation, die den Kinogänger erst einmal weg von den Bildern der Leinwand führt, weil sehr viele Eigenwahrnehmungen entstanden sind. Nun führt der Autor weiter aus: „Das Bild selbst tritt zurück, nachdem es die vorher unterdrückten Angstgefühle des Zuschauers freigesetzt oder ihn dazu veranlaßt hat, in der Erfüllung eines Wunschtraumes zu schwelgen“. Der Zuschauer wird also in eine Affektlage versetzt, die stark genug ist, ihn noch weiter von den filmischen Bildern zu trennen. Sicher ist auf jeden Fall, daß sich die seelischen Tiefenschichten des Kinogängers kaum ausloten lassen. Je tiefer die Erinnerungen reichen, desto mehr wird das biographisch Vergangene zur erlebten Gegenwart. D. Blothner (1999) stellt fest, daß Film „nur eine anschauliche Spur zur Anregung weitgehend unbewußten Wirkungsprozesses“ ist. G. Deleuze (1991) hat sich philosophisch intensiv mit dem Kino beschäftigt und Gedanken formuliert, die u.a. den Stellenwert von Zeit, Raum und Erinnerung betreffen: Wenn wir über einen erlebten Moment reflektieren oder ihn uns in der Erinnerung vergegenwärtigen, können wir erfahren, daß die Zeit einerseits die Gegenwart an sich vorübergehen läßt und andererseits die Vergangenheit in sich bewahrt. G. Deleuze bezeichnet diese zwei Aspekte als „aktuell“ bzw. „virtuell“
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(68 ff.). Jeder Moment enthalte zwei Bilder („Kristallbilder“): „eines, das vorüberzieht, und ein anderes, das aufbewahrt wird“ (Fahle 2002: 102). Eine Erinnerung, die im Kino wie andernorts auftaucht, kann uns so weit in die Vergangenheit zurückversetzen, daß wir einerseits die aktuelle Brisanz des Bildes der Leinwand wahrnehmen, andererseits zugleich erkennen, daß es Träger unserer Vergangenheit ist. – Denken wir beispielsweise an O. Welles „Citizen Kane“ (USA 1941), wo mittels solcher „Kristallbilder“ ein Erinnerungsraum geschaffen und der Zuschauer daher animiert wird, mit dem Reporter, der den Sinn des Wortes „Rosebud“ entschlüsseln will, die Vergangenheit der Hauptfigur zu erforschen. Speziell diese Bilder unterbreiten verschiedene Offerten, Kanes spätere Lebensgeschichte zu verstehen (vgl. Fahle 2002: 104). Es kann sein, daß die Erinnerungen eines Kinogängers während eines Films um so kräftiger evoziert werden, je mehr sich die Fiktion von der Realistik entfernt und zur Phantastik übergeht. Das Maximum wird erreicht, wenn es der cinematographischen Phantasmagorie gelingt, archaische, kindliche Bedürfnisse natürlich visuell sprechen zu lassen. Doch ist es, um verschüttete Vorstellungsbilder wachzurufen, weder notwendig noch filmästhetisch möglich, den Urgrund, von dem die Produktion der Vorstellungsbilder ihren Ausgang nimmt, explizit zu demonstrieren. Jedoch führen die Erinnerungsbilder des Zuschauers ihn auch dann auf seine Biographie zurück, wenn die Leinwandbilder ihrerseits anscheinend nur die Oberfläche einer Wirklichkeit spiegeln. Immer richten sie an uns den Appell: „Schau zu, denn es ist deine Geschichte oder könnte deine Geschichte werden. Du bist ja mit deiner Erinnerung schon an ihr beteiligt!“.
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Abb. 49: „Als in einer weiteren Annäherung der Kamera an das Schloß eine zweiteilige Zugbrücke zu sehen ist, fällt mir das Bild einer Burg aus einem Fantasy–Film ein. Dort wurde in einer Szene die schwere Zugbrücke nach oben gezogen, um die Bewohner der Burg vor ihren Angreifern zu schützen“ (Citizen Kane, USA 1941, R.: Orson Welles, 00:01:31).
Abb. 50: „C3-Po-Android (Anthony Daniels) erinnert mich jetzt, nachdem ich es zuvor nicht wahrhaben wollte, trotz seiner kindlichhilflosen Art mit seinem goldenen Metallkörper, auf den sich das Sonnenlicht spiegelt, an den Gott Tutenchamun, dessen Totenmaske ich einmal in Kairo gesehen habe. Für die alten Ägypter war Gold die Götterfarbe schlechthin“ (Krieg der Sterne - Eine neue Hoffnung, USA 1977, R.: Georg Lucas, 00:09:40).
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Rhythmus und Atmung/Montage („Rhythmus“) „Die Blicke zeigen ein Ereignis in einer längeren, rhythmisierten Filmsequenz. Der Zuschauer folgt mit seiner Wahrnehmung diesem Rhythmus“. Jeder Rhythmus wird dann mit besonderer innerer Beteiligung erlebt, wenn ihm ein intensives Vorstellungsbild vorausgegangen ist. * * * „Die Kunst, einzelne aufgenommene Teilstücke so zu vereinigen, daß der Zuschauer im Resultat den Eindruck einer ganzen, kontinuierlichen, fortlaufenden Bewegung bekommt, sind wir gewohnt, Montage zu nennen“ (78), schrieb Wsewolod Pudowkin (1984) in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Er verwies dabei darauf, daß ein fließendes Film-Ergebnis, das Resultat „Hunderter bis Tausender von Schnitten“ sei und daher „guter Meister“ bedürfe. Ähnliche Worte finden R. Stephenson und J. R. Debrix (1969): „For most of the time the spectators watching a film are not consciously aware of these switches, particularly as the director normally takes care to make his cuts unobstrusive“(65). Montage ist die Kunst, Bilder mit ihrer Inhalten und jeweiligen Zeitdauern58 in eine solche Reihenfolge zu fügen, daß ihr Zusammenschnitt möglichst unbemerkbar bleibt. Wie kommt dieser Effekt zustande bzw. wie ist dieser montierte Bilderfluß nun organisiert? – Hierfür gibt es für die Kameraführung wie für die Montage Regeln in technisch-formaler und in bildästhetischer Hinsicht. Sie geben Aufschluß darüber, wie eine Geschichte von ihrem Bildaufbau her organisiert sein muß, damit sie vom Zuschauer verstanden werden kann. B. Ejchenbaum ([1927] 1984) bemerkte schon in den 1930er Jahren: „Es kommt eben darauf an, daß die benachbarten Einstellungen als vorhergehende und folgende wahrgenommen werden: dies ist ein allgemeines Gesetz des Films. Der Regisseur muß sich diesem Gesetz fügen und es zur Konstruktion der Zeit ausnutzen, d.h. die Illusion einer Kontinuität erstellen“ (121).
58 Vgl. Kempe (1958: 9).
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Dies ist der erste verbindliche Leitfaden für die Montage. Weitergehend fassen die Filmtheoretiker Nils Borstnar, Eckhard Pabst und Hans Jürgen Wulff (2002) unter Bezugnahme auf Rudolf Kersting das Prinzip der Kontinuitätsstiftung durch Montage in Hollywoodfilmen in einem Kanon von vier Regeln: „– Längere Szenen (insbesondere mit vielen Darstellungen) sind mit Master Shot (gesamte Szene in der Totalen oder Halbtotalen gefilmt) und Insert aus kleineren Ausschnitten zu schneiden. – Zur Vermeidung des Jump Cut (Einstellungswechsel mit zu geringer Veränderung von Position und Distanz, so daß der Eindruck eines ,Bildsprungs‘ entsteht) muß die Einstellung aus einer anderen Kameraposition und möglichst in einem anderen Ausschnitt erfolgen. – Ein Wechsel des Kamerastandortes hat nach einer Daumenregel mindestens 300 zu betragen, weil sonst die Veränderung erfahrungsgemäß nicht ausreicht, um den Sprung innerhalb des Kaders zu motivieren. – Verbot des Achsensprungs59: Bei Veränderung der Kameraposition zwischen zwei aufeinander folgenden Einstellungen darf die Aktionslinie, auf der sich die Personen bewegen, nicht überschritten werden, anderenfalls tritt Desorientierung durch Seitenverkehrung innerhalb der Bildfläche auf“ (138).
Das Einhalten dieser Regeln strukturiert das Vorführen von Handlungen so, daß der Eindruck eines ununterbrochenen Flusses der Bilder entsteht. B. M. Ejchenbaum ([1927] 1984) hatte noch versucht, das Verstehen der Bilder von „einer inneren, die einzelnen Einstellungen untereinander verbindenden Rede“ (110) des Zuschauers abhängig zu machen. Es liegt nahe, dieses von Ejchenbaum konstatierte Verhältnis als ein dialogisches aufzufassen: Indem der Kinogänger sich bewußt nach Zusammenhängen zwischen den Bildern fragt, gibt die Montage die gesuchten Antworten. Bei der Verknüpfung der Einstellungen, bei welcher der Zuschauer filmsyntaktische Sätze und Sequenzen konstruiert, sei „eine komplizierte Gehirntätigkeit zu leisten, die im Alltagsgebrauch fast vollkommen fehlt“. P. P. Pasolini (1985) entgegnet, daß der Film nur „einen ,inneren Monolog‘ aus Bildern“ (64) kenne; das sei alles. Und weil, so Pasolini, ausschließlich die Sprache der Wörter und nicht der Bilder „die Mög-
59 Auf diesen Punkt wurde schon im dritten Abschnitt der Raumperspektive in diesem Kapitel verwiesen.
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lichkeiten der Verinnerlichung und Abstraktion“ besitze, könne der Film auf der Seite des Kinogängers kein Zwiegespräch induzieren. Nach Pasolinis Theorie ist das Verhältnis zwischen montierter Bildfolge und Zuschauerwahrnehmung also kein im strengen Sinne dialogisches. Hier ist der Gegensatz zwischen der Position Ejchenbaums und der Pasolinis nicht zu schlichten. Fraglos aber handelt es sich bei dem Betrachten eines Films nicht um eine symmetrische Dialogsituation, wie sie für das Gespräch zwischen Menschen charakteristisch ist. Dennoch aber würde man wohl die Eigentümlichkeit der Film-Wahrnehmung verfehlen, wenn man zuschauerseits ein rein rezeptiv-passives Entgegennehmen unterstellt. In besonderer Weise ist es der durch die Montage hergestellte rhythmische Ablauf des Filmflusses, der korrespondierende Aktivitäten beim Kinogänger stimuliert. „Der Rhythmus ist die Wechselwirkung der stilistischen und der metrischen Momente in der Entfaltung des Films in seiner Dynamik“, schreibt der russische Drehbuchautor Jurij Tynjanov (2005: 74). Es sind hier vor allem jene Elemente zu nennen, die im Ablauf der Bilder selbst zu rhythmusgebenden Momenten werden. R. Stephenson und J. M. Debrix (1969) nennen die wichtigsten: „In a film the number of rhythmical elements is very large. Quite apart from music, dialogue, natural sound, colour, all of which may have rhythms of their own, there is the composition of lines, masses, light, and shade, the movement of persons, objects, and light, the movement of forms caused by shot-change or by camera movements, the duration and relationship of shots, the rhythm of the narrative, and variations in dramatic intensity“ (115).
All diese Eindrücke wirken im Ablauf der Bilder auf die Sinne des Zuschauers. Dabei bilden sich vibrierende Interferenzen, die der Kinogänger an sich selbst in Form von Erregungszuständen wahrnehmen kann. Sie machen ihn und den Film lebendig. „Der Sinn des Films ist seinem Rhythmus einverleibt“, schreibt M. Merlau-Ponty (2003 [1947]: 44). Über all seine Elemente gekonnt verfügen zu müssen, macht das Erstellen des Drehbuchs, die Komposition der Bilder und deren Montage zu einem aufwendigen Unterfangen. Was nicht aufeinander abgestimmt und rhythmisiert worden ist, wird den Zuschauer nicht mitreißen können. Hinzu kommt, daß schon bei der Filmbetrach-
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tung „nicht nur das subjektive Wahrnehmen von Rhythmus oder Rhythmisierung – zumindest zu einem gewissen Anteil – von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist“ (Schreier 2008: 23); sondern „auch das eigene Rhythmusempfinden ist einem ständigen Wandel unterworfen“. Die Bewältigung der Aufgabe, dennoch zu einem kohärenten Ergebnis in dem Sinne zu kommen, daß der Rhythmus zu einer wirklich ansprechenden Sprache wird60, hat der Richtlinie kompositorischer Selbstbeschränkung zu folgen, wie R. Stephenson und J. M. Debrix (1969) im Kontext ihrer Überlegungen anmahnen: „We have already mentioned the viewer’s difficulty in distinguishing the pure rhythm of movement amid the welter of other elements. It is just difficult for the film-maker to control every element and achieve perfection in each. This is why simplicity, spareness, austerity, can be such virtues in film“ (115).
Der Filmtheoretiker Germaine Dulac (2004) prägte 1925 das Wort: „Die Bilderführung ist der lebendige Atem des Films“ (240). Das ist freilich eine schöne Metapher; doch ganz real wird unser organisches Atmen vom rhythmischen Wechsel der Filmbilder bewegt. Wenn wir den Kinosaal betreten und den Rhythmus des Alltagleben verlassen haben, ist es einzig und allein unsere Atmung, mit der wir unsere Wahrnehmung des Bilderflusses auf der Leinwand regulieren (dämpfen oder beschleunigen) können. Von der Projektionsfläche her überflutet uns ein „Flow“61 der Gefühle, von dem Metz (1975) sagt, er gleiche „dem Traumfluß mehr als andere Hervorbringungen des Wachzustandes“ (1027). Wenn der Filmtheoretiker Torben Grodal (1999) bemerkt: „We do not have constant mental representations of our toes, ears, breast(s), or other specific body parts“ (92), so gilt das auch für unsere Atmung, denn wir sind ihrer nicht ständig bewußt. Aber: Es ist gerade die Atmung, und zwar im Besonderen die Bauchatmung, die Erregungszustände beruhigen kann und dem Zuschauer in jedem Moment der Filmvorführung zur Disposition steht. Sie senkt das Zwerchfell und gewährt damit den Lungen mehr Raum zur Aufnahme von Sauerstoff, während der Brustkorb keine eigene motorische Ener-
60 In diesem Sinne ist die Bemerkung Morins (1958) aufzufassen: „Rhythmus wird Sprache“ (207). 61 Hierzu ausführlich: Tan (1996) sowie Smith (2003: 70 ff.), der sich auf ihn bezieht.
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gie verausgaben muß. So beruhigen sich sämtliche emotionalen und kognitiven Vorgänge, und darüber hinaus verlangsamt sich auch das Erleben von Zeit. Diese Fähigkeit zur sensomotorischen Selbstregulation hat der Zuschauer in aller Regel erst wieder zu lernen, wenn sie ihm auch im Kinosaal zur Verfügung stehen soll. Die meisten Zuschauer nämlich atmen auch dort in den Brustkorb62 und beeinflußen auf diese – eigentlich schädliche und schädigende – Weise ihre Rezeption der Bilder. Solange der Kinogänger nicht bewußt atmet, geschieht seine Atmung heteronom, also fremdgesteuert eben durch die Montagerhytmik des Films. Es ist recht und billig, daß Filme mit den Emotionen ihrer Zuschauer spielen. Diese wissen ja, worauf sie sich einlassen, und ihnen ist das Wechselbad der Gefühle zumeist willkommen. Deshalb gibt es in jedem Film Szenen, die den Zuschauer in einen Zustand der Unruhe versetzen sollen. Das ist eine Vorschrift der Dramaturgie, ohne die ein dynamischer Aufbau bzw. Abbau von Spannung nicht gelingt. Die Montage erweist sich hier, unabhängig von den Inhalten der Bilder, als das technische Regulationsprinzip für die Affektlage des Kinogängers. Rhythmus wirkt im allgemein „glaubwürdig, wo er nicht zufällig wirkt“, schreibt Hanno Helbling 1999: 13). Deshalb ist eine adäquat rhythmisierte Montage so wichtig. Wenn diese nicht gelingt, schwächt sich die Illusion ab (vgl. Wallon 2003a [1951]: 108), und mit Fritz Kempe (1958) ließe sich anfügen: „Ein Film [...], der seiner Bildbewegung keinen betonten Rhythmus verleiht, bringt sich um seine Wirkung, weil er nicht erlebbar ist“ (77). Wird das Tempo des Bilderflusses durch eine schnelle Schnittfolge erhöht, beschleunigt sich die Abfolge der mit ihm transportierten Gedanken, und die Gefühle werden intensiver. Verlangsamen sich die Bilder, tritt die gegenteilige Bewegung ein. Der Drehbuchautor Michael Chion (2001) meint dazu: „Die Szenen zum Atemholen und zur Beruhigung [...] werden als notwendig für eine gut ausgewogene Geschichte betrachtet, um zu vermeiden, daß das Lachen oder die Emo-
62 Diese Art der Atmung unterliegt im eigentlichen Sinne keiner Rhythmik. Die Atemfrequenz variiert, weil die Leistung, die es motorisch zu erbringen gilt, zu hoch ist. Deshalb führt sie zwischenzeitlich immer wieder zu Blockierungen, was die erregten bzw. beängstigenden Gefühle erst recht erzeugt. In der Brustkorbatmung sind Gedanken und Gefühle stehen ständig in der Gefahr der Unruhe.
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tion durch eine Übersättigung an komischen oder dramatischen Effekten abnimmt“ (225). Würde man den Zuschauer zu lange in einen starken Erregungszustand versetzen, würde dies die Gefahr beherbergen, daß der Kinogänger sich der Illusionshaftigkeit der Bilder, die ihn so erregen, bewußt wird; das jedoch soll gerade vermieden werden. „Es ist nicht Absicht, zu desillusionieren “, schreibt F. Kempe (1958: 5). Wenn wir oben, pädagogisch motiviert, auf Rhythmus und Atmung bei der Filmwahrnehmung reflektiert haben, so können wir abschließend sagen, daß uns, die wir auf personale Autonomie Wert legen, daran gelegen ist, unsere Affektlage selbst zu regulieren. Obschon es als ein allgemeines Prinzip der Wahrnehmung ästhetischer Artefakte gilt, „daß eine inhärente rhythmische Struktur des Kunstwerks eine Rezeption erfährt, die ihrerseits von rhythmischen Grundelementen (ihres Betrachters – der Verf.) bestimmt ist“ (Helbling 1999: 89), läßt sich speziell zum Film feststellen, daß die Interaktion zwischen Zuschauer und Bild dann gefährdet ist, wenn sich der Rezipient ohne Widerstand seines selbstregulierenden Willens von der rhythmischen Macht der filmischen Montage überwältigen läßt.
Abb. 51: „Don Vito Corleone (Marlon Brando) bewahrt inmitten des bewegten Festgeschehens eine auffallende Ruhe. Ich bemerke, wie sich auch meine Atmung beruhigt“ (Der Pate, USA 1972, R.: Francis Ford Coppola, 00:07:24)
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Abb. 52: „Als Jeanne (Julia Hummer) bei der Liedstelle ,with how it was‘ mit ihrem Kopf nickt, wird mir bewußt, daß wir beide dasselbe hören und von Inhalt und Rhythmus des traurigen Songs erfaßt sind“ (Die innere Sicherheit, D 2001, R.: Christian Petzold, 00:01:52).
B EDEUTUNGSSTIFTER MIT S YMBOLEN (S YMBOLPERSPEKTIVE ) Jeder Film vermag es, mit Symbolen unsere Erfahrungstiefen anzusprechen. Der Bedeutungsgehalt von Symbolen ist sowohl ein bewegendes Moment für die Entfaltung der Filmgeschichte als auch eine treibende Kraft für den Weg des Menschen durch seinen Alltag. Daher zielt der pädagogische Tenor der Erörterung dieser Perspektive, der Symbolperspektive, darauf ab, ein vertieftes Verständnis für die Beziehung zwischen der Symbolik in der Filmwahrnehmung und im Alltag herzustellen.
Das Milieu („Ort“) „Die Bilder rücken einen Ort in die Nähe, der zentral für die erzählten Ereignisse ist. Der Zuschauer erkennt diese Bedeutung des Ortes.“ Die rhythmisch montierten Bilder nehmen immer Bezug auf einen Ort, an dem sich die Ereignisse abspielen und dem stets ein mehr oder minder großes Symbolgewicht zugewiesen wird. Wird dieser Ort nicht
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gezeigt, fehlt dem Handlungsraum seine Tiefendimension, und der Blick des Zuschauers würde dann auf Räume fallen, die nicht hinreichend dramaturgisch motiviert sind. * * * „Figuren existieren nicht in einem Vakuum“, schreibt L. Seger (2001a: 17) und führt die folgenden Beispiele an: Ein praktischer Arzt in einer Kleinstadt in Illinois verhält sich anders als ein Pathologe am Boston General Hospital; und eine Figur aus dem Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts ist keine aus dem Texas von 1980. Die Autorin resümiert diese Überlegungen: „Das Verständnis für eine Figur beginnt mit dem Verständnis für das Milieu, das sie umgibt“. Was aber ist ein Milieu? L. Seger verweist auf Syd Field, der es mit einer leeren Kaffeetasse vergleicht: „Die Tasse stellt das Milieu dar. Sie ist der Raum, der die Figur umgibt, der dann mit den Besonderheiten der Geschichte und der Figuren gefüllt wird“. Seger zitiert Field dann weiter: „Kontexte, die eine Figur am stärksten definieren, sind: Kultur, historische Epoche, der Ort und der Beruf“. Ohne Bilder, welche die für das persönliche Leben bedeutsamen Kontexte veranschaulichen, bleibt das „Milieu“ im Film abstrakt. Ich möchte den Leser also ermuntern, sich zunächst einige Fragen bezüglich seiner eigenen Lebenswelt zu stellen, bevor wir uns wieder dem Kino zuwenden: Wo sind jene Orte im Alltag, in denen sich die Bedeutung meiner Handlungen verdichtet? Wie sind diese mit symbolhafter Energie aufgeladenen Räume architektonisch beschaffen? Was ist das Charakteristische an diesen Orten? Gehören Gegenstände und Personen, die ebenfalls Symbolwert haben63, zu diesem Ort? Und wo bündeln sich die Ereignisse, die über Jahre hinweg zum Bestandteil meiner Geschichte geworden sind? Sicherlich wird die Beantwortung dieser Fragen einige Zeit in Anspruch nehmen. Orte, die uns in Erinnerung treten, mögen entweder der Arbeitsplatz oder auch der Freizeitraum sein. Idealerweise sind
63 Um zwei kontrastierende Beispiele zu nennen: Charakteristisch für das akademische Milieu ist etwa als Ort der Hörsaal, als Gegenstand das Buch und als Person ein Student. Für das Milieu des Handwerks ist etwa als Ort charakteristisch die Baustelle, als Gegenstand der Hammer und als Person der Maurer.
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diese Orte solche, aus denen wir die meiste Kraft beziehen und auch wieder verausgaben, an denen wir unseren Realitätssinn prüfen sowie insgesamt unsere entscheidenden wegbestimmenden Lernerfahrungen sammeln. Wenn wir diese Introspektion weiterführen wollen, läßt sich das gleiche Frage-Spiel auf frühere Lebensabschnitte anwenden, wobei sich zeigen wird, daß unsere gegenwärtigen Lebenswelten sich erst allmählich in ihrer nun gewohnten Stabilität etabliert haben. Auch werden wir erkennen, daß wir an einem soziokulturellen Milieu teilhaben, in dem wir uns in einem Personenkreis befinden, mit dem zusammen wir auf das Erreichen von Zielen ausrichtet sind64. Das Milieu als eng gefaßte Lebenswelt verfestigt Handlungsschemata und hat dabei seine Spielregeln: Man weiß, was man tut und wie man sich bewegt. B. Balász (2001 [1924]) schreibt: „Das Milieu wird zur sichtbaren ,Aura‘ des Menschen, zu seiner über die Konturen des Körpers erweiterten Physiognomie“ (65). Hat der Leser einige Bilder vor Augen, welche die bestimmenden Orte seines Lebensweges illustrieren, kann er die bedeutungstragenden Orte der Filmgeschichte geschärfteren Sinnes wahrnehmen und damit besser auf seinen Weg in den Film voranschreiten. Betrachten wir nun filmseits das Verhältnis von Protagonist und Lebenswelt, so wie es sich uns in den meisten Geschichten zeigt: Es gibt Filme, in denen der Protagonist seine heimatlichen Kreise nicht verläßt und dort dazu herausgefordert wird, Proben zu bestehen und Aufgaben zu bewältigen. In anderen Filmen bricht der Protagonist in die Fremde auf und gerät in Kontakt mit Ereignissen, die ihn betreffen. Eine solche Geschichte zeigt typischerweise, wie sich der Held auf unbekanntem Terrain in der Auseinandersetzung mit oftmals milieufremden Verhaltenskodexen bewährt65. Gelegentlich ist der neue Le-
64 Z.B. die Mütter an die Erziehung der Kinder, die Pfleger an das Wohlbefinden der Kranken, die Polizisten an einen geordneten Straßenverkehr. 65 Ein Film, der beide Varianten kombiniert, ist „Der weiße Hai“ (USA 1975, R.: Spielberg): In der natürlichen Umgebung von Kleinstadtbürgern tritt ein externer Störfaktor auf: In den heimischen Meeresgewässern wird eine Frau von einem Hai getötet. Es stellt sich die Frage, wie die Stadtbewohner mit der unerwarteten Situation umgehen werden. Will man das Ereignis verheimlichen, um keine Touristen zu verschrecken, oder will man offensiv gegen das Tier angehen? Der Konflikt wird von ökonomischen Interessen dominiert, weil die Kleinstädter vom Besucherzustrom leben. Die Be-
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bensraum feindlich gestaltet, und die Hauptfigur muß erst Freunde und Mitstreiter gewinnen. Dabei ist der Raum mit schematisierenden Darstellungen so zu umreißen, daß er vom Zuschauer klar identifiziert werden kann. Zwar kommt dem Ort der Handlung insofern eine gewisse Beliebigkeit zu, als das Vorkommen von Schicksalsereignissen (Liebe, Tod, Verführung, Unrecht etc.) grundsätzlich nicht an eine bestimmte Lokalität gebunden ist. Wohl aber bestimmt der Ort die Art und Weise, wie sich Handlungen und Ereignisse vollziehen: Der Streit zweier Männer um ein wenig Wasser in der Wüste hat anders auszusehen als eine Rangelei um ein Dokument in einem Konzerngebäude. Bestimmte Genres weisen zwar eine bestimmte Typik auf: Man war gewohnt, ein Duell im Wilden Westen, einen Gruselfilm im Schloß, einen Katastrophenfilm auf dem Meer, einen Krimi auf der Straße und eine Liebesgeschichte in wohlhabenden Häusern zu sehen66. Doch die Geschichte des Films schuf stets neue Milieus für alte Ereignisstrukturen, weil man den Zuschauer nicht langweilen wollte (vgl. Gans 1999: 154). So kann man heute Kinofilme mit einem Duell auf Hochhäusern, Gruseligem im Weltall oder Liebesszenen in einer U-Bahn bestaunen. „Der Science-Fiction macht sogar die Innenwelt des menschlichen Körpers zum Handlungsort“ (Hickethier 2001: 74). Trotz aller Variationslust des Kinos: Ein wesentlicher Grund für seine fortbestehende Attraktivität ist in dem Bedürfnis der Menschen zu sehen, mit „Grundkomplexen des Lebens“ (Blothner 1999: 164) in Kontakt zu bleiben. Kinobilder zeigen also das ewig Alte in immer neuer Weise und verzaubern uns auch dann nicht weniger, wenn wir längst wissen, worum es eigentlich geht, und das Ende längst ahnen.
völkerung spaltet sich in zwei Parteien, bis man sich, nachdem dem weißen Hai weitere Menschen zum Opfer gefallen sind, zum gemeinsamen Handeln entschließt. Ein Meeresbiologe, der in der Funktion eines Beraters von Anfang an vor der Katastrophe gewarnt hatte, vertritt in klarer Weise wissenschaftliche Interessen und stellt sich damit gegen die Bürger, welche die Gefahr ignorieren wollen. Die Bewährungszeit des Wissenschaftlers ist offenbar beendet, als der Hai endlich besiegt wird. 66 Klassiker einer solchen Genretypik sind: „High Noon“ (USA 1975, R.: F. Zinnemann), „Nosferatu“ (D 1922, R.: Murnau), Der weiße Hai (USA 1975, R.: Spielberg), „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (D 1931, R.: Lang) und „Vom Winde verweht“ (USA 1939, R.: Fleming).
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Gehen wir nun zum Thema „Kinosaal als Milieu“ über: Die Leinwand ist ein Ort, an dem sich die Bedeutungen eines Handlungskontextes verdichten und vor dem sich Menschen, die diese fiktive Welt betreten wollen, anonym67 treffen. Eine Gemeinsamkeit der Besucher sieht der Regisseur Oliver Schütte in der – trotz bestehender Anonymität – affektiven Aufwärmung: „Jeder von uns hat diesen Wunsch, akzeptiert und angenommen zu werden. Nicht so einsam in seiner Existenz zu sein. Für mich ist diese Erfahrung auch im Kino etwas Schönes, weil Kino ein gemeinschaftliches Erlebnis ist. Ich sitze mit anderen Zuschauern in einem dunklen Raun und mir wird eine Geschichte erzählt. Unter Umständen lache und weine ich mit den Menschen, die dort sitzen, an der gleichen Stelle. Sie haben die gleichen Probleme, weil sie genauso reagieren wie ich. Und ich gehe mit dem Gefühl raus, daß ich gar nicht so alleine bin. Kino ist insofern auch ein Ort, der einem ein Gefühl von Geborgenheit geben kann“ (Dresen 2006: 54).
Man kann das Milieu des Kinosaals aus weiteren Gründen aufsuchen: Man wünscht sich Ablenkung von den gewohnten Wohn- oder Arbeitsräumen, visuelle Bereicherung68 und erfrischende Stimulation
67 Deprun (2004b [1947]) sieht diese Anonymität für die Kinosituation im Unterschied zum Theater mit einer Aufgabe des kontrollierenden IchBewußtseins verbunden: „Hier danke ich ab und entledige mich meines Ichs. Ich entziehe mich den Blicken, die mich zwingen, meine Form zu wahren und auf ihre Erwartungen einzugehen. Niemand sieht mich, und ich sehe niemanden. Niemand setzt mehr seine Hoffnungen oder Befürchtungen in mich; ich bin jede Verantwortung los“ (173). Der Publizist Siepe bestätigte Depruns Analyse dahingehend, daß selbst und gerade im anonymen Schutzraum des Pornokinos sich eine derartige Entlastung einstellen könne (mündliche Mitteilung vom 15.07.2010). 68 Sehr kritisch gegen das Kino gewendet, schreibt Fülöp-Miller (1931), der Filme diene dem Zuschauer dazu, „sich seinen schäbigen Alltag durch ein Schattenspiel erfreulicher zu gestalten“ (9). V. Hofmannsthal urteilt (1931) zur gleichen Zeit über die Lohnabhängigen in der Industrie: „Was alle die arbeitenden Leute im Kino suchen, ist der Ersatz für die Träume. Sie wollen ihre Phantasie mit Bildern füllen, starken Bildern, in denen sich Lebensessenz zusammenfaßt; die gleichsam aus dem Inneren des Schauenden
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von Gedanken und Gefühlen69. Sodann mag man von der Ahnung getrieben sein, das Leben sei anderswo besser, und die Hoffnung hegen, hier das verlorene Paradies zu finden. Schließlich kann man mit dem aufgeklärten Bewußtsein in den Kinosaal hineingehen, die gebotene Illusion der Leinwand als bloßes Schauspiel zu genießen, um daraus spielerisch Impulse für das eigene Lernen zu bekommen. Gleichviel, das Milieu des Kinosaals bietet allen eine Geschichte an, möge sie auch von jedem Menschen unterschiedlich interpretiert werden. Es trainiert jeden einzelnen Zuschauer im beständigen Sicheinstellen auf Orte, deren Insichtnahme in dieser Weise im Alltag unüblich ist. Im Weiteren suggeriert das Kino als Ort der großen Gefühle und Entscheidungen, daß das Leben etwas Großartiges und Wichtiges ist. Diese Empfindung wird dem Zuschauer von der ihm eigenen Lebenswelt durchaus nicht immer vermittelt, so daß dem Kino auch in dieser Hinsicht kaum zu überschätzende Kompensation zukommt.
Abb. 53: „Als Christine Watkins (Susan Backlinie) nachts ins Wasser gegangen ist und das Meer erstmalig in der Totalen gezeigt wird, ist mir klar, daß dies der Ort ist, in dem sich die – vermutlich grausamen – Ereignisse der Geschichte abspielen werden“ (Der weiße Hai, USA 1975, R.: Steven Spielberg, 00:03:05).
gebildet sind und ihm an die Nieren gehen. Denn solche Leben bleibt ihnen das Leben schuldig“ (264). 69 Hierzu sagt Blothner (1999): „Der Alltag hat sich das Kino geschaffen als den ,anderen Ort‘, dessen Verheißungen und Versprechungen in den unruhigen Tagesabläufen aufleuchten und verlocken“ (23).
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Abb. 54: „Nachdem bisher die Gruppe der Hauptpersonen sehr oft vor dieser Hauswand gezeigt worden ist, erkenne ich, daß es dieser öffentliche Ort ist, an dem die Beteiligten über sich und Ereignisse reden, die den Verlauf der Geschichte bestimmen“ (Katzelmacher, D 1969, R.: Rainer Werner Faßbinder, 00:38:48).
Die Lichtwesen/Führungslicht („Licht“) „Es erscheinen Bilder, die mittels ihrer Lichtgebung eine Figur im Zusammenhang der erzählten Ereignisse charakterisieren. Der Zuschauer erkennt diese Bedeutung der symbolischen Lichtgebung.“ Tritt eine Figur an einem Ort auf, an dem sich die Ereignisse der Geschichte bündeln, so charakterisieren die Lichtverhältnisse ihr Handeln deutlicher, als es an einer Lokalität möglich wäre. Denn die Bedeutung eines Ortes wird vertieft durch seine Beleuchtung. * * * Es ist bezeichnend, daß man „die meisten Mitteilungen über Licht im Film [...] in Äußerungen über oder von Kameraleuten“ (Schmid 1996: 106) findet. Diese Berufsgruppe „filtriert, kanalisiert und verbreitet Schatten und Lichter“, um die Bilder der Leinwand „mit einem
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Höchstmaß gefühlswirksamer Kräfte aufzuladen“ (Morin 1958: 45). Der Kameramann Richard Blank (2009: 14) berichtet: „Das Einrichten des Lichts dauert, dauert lange, weitaus länger als die Arbeit mit den Schauspielern“. Warum? Die Aufmerksamkeit, die man dem Licht widmet, dient in erster Linie der Belebung von Raum und Figur. Mit der Beleuchtung wird eine Szene unterstrichen und die Befindlichkeit ihrer Figuren herausgestellt. „Manipuliertes Licht belebt auch die Dunkelheit eines Kinos“, schreibt Sydney Perkowitz (1998: 13) in seiner kurzen Geschichte über die Erforschung des Mysteriums Licht und meint dabei die Tatsache, daß oftmals auch die sehr geringe Saalbeleuchtung ihre Effekte hat. Als Filmpraktiker sieht F. Kempe (1958) die „Hauptaufgabe der Beleuchtung im Film“ (37) darin, „Atmosphäre zu schaffen“. Mit K. Hickethier (2001) läßt sich hinzufügen: „Die Ausleuchtung des Raums setzt Stimmungen, schafft Athmosphäre. Sie gibt vor, was wir von diesem Raum sehen, sie verändert ihn“ (79). „The primary set of orienting emotion states is mood“, schreibt der Filmtheoretiker Greg M. Smith (1999: 113). Deshalb wird die Lichtgebung für den gesamten Film in Vorgesprächen zwischen Regisseur, Kameramann und Beleuchter minutiös geplant. Der französische Meisterbeleuchter Henry Alekan (1991) betont, wie wichtig es ist, die Schauspielkunst der Akteure mittels geeigneter Lichtführung zu unterstützen: „Il est évident que le cinéaste doit savour oú, quand, comment la lumiére devra prolonger un geste, souligner une intention, s’effacer partiellement oú totalement, ,assister‘ l’acteur et suivre pas á pas ses inflexions et ses mouvements, pour illustrer le théme dans un climat déterminé. En aucun cas, dramatique oú non, la lumiére ne doit multiplier ses gr1ces pour attirer l’attention sur elle au détriment du théme et des comédiens et ce par des effets hors de propos. La lumiére est constructive, mais elle peut aussi devenir destructive lorsqu’elle est utilisée sans discernement“ (234).
Brillante Ergebnisse des Einsatzes von Licht sind nicht ohne gründliche Vorbereitung zu erzielen. Die Entscheidungen darüber, welches Licht den Verlauf ihrer Bilder „unterschiedlich strukturiert“ (Blank 2009: 12), hat einen erheblichen Einfluß darauf, „in welchem Licht die [Film-]Welt steht, wie sie gesehen und abgebildet wird“. Licht spendet Wirklichkeit, und wie R. Blank (2009) ergänzt: „Jeder Film hat seine
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eigene Realität“ (213)70. „Film“, so schreibt der russische Literaturhistoriker Boris Kazanskij (2005 [1927]), „das ist eine Serie von Schattenbildern, die auf dem hellen Feld einer Leinwand auftreten und sich bewegen“ (90). Der Kameramann Thomas Gans (1999) äußert sich wie folgt über die vielfältigen Möglichkeiten der Gestaltung von Wirklichkeiten qua Licht: „Die Beleuchtung wird benutzt, um Charakter oder Persönlichkeit hervorzuheben. Charakterbeleuchtung hat mehr zu sein als nur realistisch, es muß dem Objekt Leben einhauchen. Die Beleuchtung lenkt die Aufmerksamkeit auf persönliche Eigenarten, wie z.B. Feinfühligkeit, schrumplige Haut, unrasiertes Gesicht usw. Man kann die Beleuchtung auch dazu gebrauchen, um die Veränderung in einem Charakter zu reflektieren. Wenn ein Charakter im Laufe einer Handlung neue Wesenszüge annimmt, verändert sich seine Beleuchtung dementsprechend“ (224).
Der Zuschauer ist sich all dieser Mechanismen kaum bewußt71. Er ist gewohnt, daß das Licht ihn im Alltag begleitet, daß es sich im Tagesverlauf und mit dem Jahresrhythmus ändert. Bis auf die Einrichtung seiner Wohn- und eventuell auch Arbeitsräume hat er keinen Einfluß auf Dauer, Richtung und Intensität des Lichts, das von der Sonne kommt. Anders hingegen die Bildgestalter des Films, die Lichtflächen und -linien mit all den modulierbaren Intensitäten und Variationen konstruieren. Ihre Hauptaufgabe ist es, das Tages- und Nachtlicht zu simulieren, wo die Szene eine gewisse Natürlichkeit verlangt, dort aber mit erkennbarer artifizieller Beleuchtung zu arbeiten, wo Verfremdung oder Überhöhung erzeugt werden soll. Priorität im Auftritt der Lichtgestalter, die Raum und Figur begleiten, hat das „Führungslicht“72, dessen „natürliche Wirkung“ (Blank 2009: 17) zu wahren ist. Dies ist „die Hauptlichtquelle für ein Objekt oder eine andere Person an einer bestimmten Stelle innerhalb der Szene“ (Gans 1999: 136).
70 Nicht nur für den Film gilt, daß die Konstruktion der Wirklichkeit eine Frage des Sehens und damit des Lichts ist. „Wirklichkeiten“ sind relativ zur gesamtkulturellen Verfaßtheit: Zajonc (2001) stellt fest, daß „jede Epoche und Kultur ihre eigene Sinneswirklichkeit herstellt“ (82). 71 Vgl. Kempe (1958: 37). 72 Hierzu auch: Müller (1996: 66), Gans (1999: 137).
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Das Führungslicht ist „eine Erfindung des Kinos“ (Müller 1996: 66), und verstärkt ein Grundbedürfnis des Zuschauers nach einer klaren Beziehung zur Filmfigur. Es ist die dominante Lichtquelle, die – wie im Alltag – die Sonne oder ein künstlicher Leuchtkörper (Lampe) sein kann. Die Strahlungsrichtung ist bei der Komposition der Bilder konsequent beizubehalten, wie auch immer die Figuren sich im Raum bewegen73. Das garantiert „Natürlichkeit“ und entspricht unserem Grundbedürfnis, Orientierungssicherheit im Leben zu haben. Licht war immer da, und wir Menschen reagieren im Alltag auf seine Ausbreitung und Verengung sensibel. Wir assoziieren mit seinem gänzlichen Verschwinden die ewige Nacht, den Tod. Deshalb kann E. Morin (1958) sagen, daß der „latente Mythos des Lichtspiels die Unsterblichkeit ist und darum das totale Kino selbst eine Variante der imaginären Unsterblichkeit“ (53). Diesen Grundgedanken möge sich der Leser einmal in Erinnerung rufen, wenn er das nächste Mal ein „Lichtspielhaus“ betritt: Denn mit der Helligkeit der Leinwandbilder breitet sich im verdunkelten Raum sein Selbst aus, und je nach ihrer Farbgebung wird es in seiner Verfassung und Stimmung moduliert. „Farben eröffnen uns [...] den Zugang zum inneren Wesen des Lichts“, schreibt der Physiker Arthur Zajonc (2001: 235) und verweist auf die hochsubjektive, weil biographisch verankerte Rezeptivität von Lichtimpulsen, indem er darauf aufmerksam macht, daß alle unsere Wahrnehmungen „buchstäblich eingefärbt vom Kontext, von früheren Erfahrungen [sind], ja von jedem Aspekt unserer Innenwelt. Sie alle sind aktiv an der Entstehung der Farbe beteiligt“. So wohnt Farben eine „außerordentlich große symbolische, assoziierende und Empfindungen erweckende Kraft“ (Balász 1976: 226) inne. „Farben sind Empfindungsräume“, schreibt der Maler Gotthard Graubner (2006: 534) Welche ausgesprochen sensiblen, von jeder Alltagssprache weit entfernten Wirkungen die filmische Lichtgebung auf Gesichtern von
73 Mehnert (1971) weist auf zahlreiche, untergeordnete Lichtquellen hin, die das Führungslicht ergänzen: „Kleidungslicht“, „Frontallicht“, „Vorderlicht“, „Augenlicht“, „Seitenlicht“, „Doppelseiten“, „Steif“-, „Kreuz“- und „Gegenlicht“ oder Spezielleres wie die Beleuchtung von Kerzenlichtszenen, Kaminszenen und das besondere Licht beim Anzünden einer Zigarette. Schließlich das „Lighting“, welche eine Figur auch in dunkleren Bildbereichen gut sichtbar erscheinen läßt (passim).
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Filmfiguren erzeugen kann, wird deutlich, wenn wir daran denken, daß das menschliche Antlitz als Spiegel der Seele betrachtet wird74. Ein vom Licht modelliertes Gesicht dringt besonders tief in die Psyche des Zuschauers ein. Denn eine durch Licht konturierte Nahaufnahme symbolisiert das Wesen einer handelnden Person mehr als ihr bloßer Gesichtsausdruck es tun könnte75. Trotz aller Materialität sind solche durch das Licht ausgezeichneten Figuren aus der natürlichen Schwere des Alltags herausgehobene Lichtwesen, die wir nicht ohne Grund als „Stars“, als Sterne, anhimmeln. In kulturanthropologischer Hinsicht „war und blieb“ das Licht „immer ein Aspekt Gottes“ (Zajonc 2001: 57). Das Lichtwesen im Film, das uns als quasi göttlich erscheint, ist jedoch in Wirklichkeit ein Massenprodukt. „The star is like gold“, schreibt E. Morin (2005: 115), und zwar nicht nur hinsichtlich seiner Lichtähnlichkeit, sondern auch seines Marktwertes: „The enormous investments, the system’s industrial techniques of rationalization and standardization, effectively convert the star into merchandise destined for a mass consumption“ (113)76. Wir wissen, daß die Licht-Erhöhung des Stars Resultat aufwendiger technischer Manipulationen ist, und dennoch wirkt dieses Licht auf uns. Auch hier gilt, was die Regisseurin Vivian Naefe (2006) zu Bedenken gibt: „Film ist 24mal in der Sekunde Lüge. Alles ist falsch, aber das Wunder einer guten Inszenierung ist ihre Authentizität und Wahrhaftigkeit“ (115). So glänzen die Sterne in unserer Phantasie weiter, auch wenn wir längst das Lichtspielhaus verlassen haben. Genauso wie ihr Licht uns auf den Weg in den Film hineinzog, so sind sie für die Wirtschaftsinteressen des Films unersetzliche ökonomische Engel. Wie für die filmische Einstellung „Ort“ gilt auch für das „Licht“: Eine aufmerksame Wahrnehmung, die sich auf seine Effekte im Kino richtet, wird, auf das Alltagsleben übertragen, zu neuen Erfahrungen und zu einer gewachsenen Sensibilität zur Erkundung der Bedeutung von Symbolen führen.
74 Vgl. „Das Gesicht: Spiegel der Seele ...“ in diesem Kapitel. 75 Nilsen (1937: 64) veranschaulicht acht Effekte unterschiedlicher Beleuchtung des menschlichen Kopfes und seines Gesichtsfeldes. 76 Vgl. Blank (2009: 137).
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Abb. 55: „Das Licht der Kerze spiegelt sich im Antlitz des Knaben. Ich erkenne, daß er an der religiösen Zeremonie innerlich beteiligt ist“ (Schindlers Liste, USA 1993, R.: Steven Spielberg, 00:00:50).
Abb. 56: „Die Landarbeiter bestellen das Feld im warmen Rot der untergehenden Sonne heim. Ich schließe daraus, daß sie jetzt ihre Arbeit in dieser angenehm-freundlichen Stimmung gerne tun“ (Vom Winde verweht, USA 1939, R.: Viktor Fleming, 00:08:52).
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Überzeugung: Illusionäre Wahrheit („Sprache“) „Es erscheinen Bilder in verschiedenen Einstellungen, wobei die Ereignisse der Geschichte sprachlich verdeutlicht werden. Der Zuschauer erkennt die verstärkende Funktion der gesprochenen Worte.“ Wenn die Sprache das benennt, was zu sehen ist, erhält das wortlose Licht-Bild einen Begleiter, der den stummen Eindruck verstärkt. * * * Es liegt in der Absicht eines populären Films, mit seinen Dialogen prägnante Aussagen über das Innenleben der Figuren hörbar zu machen. Mit Worten erklären die Handelnden, warum und wofür sie agieren, und die Geschichte soll dies zeigen. Die Einstellung „Sprache“ befördert daher intensiver den Zuschauer in den Film hinein, als es im Vermögen von Worten liegt, die nicht zeigen, was sie sagen77. Der Filmtheoretiker J. Eder (2008) schreibt allgemein zum Einsatz von Sprache: „Sie kann besser als Bilder raffen, abstrahieren, Eigenschaften direkt benennen. Das Insistieren vieler Regie- und Drehbuchratgeber auf Visualisierung der Handlung beweist nicht, daß Dialoge ungeeignet zur Charakterisierung sind, sondern im Gegenteil, daß ihre Verwendung zu naheliegend ist“ (263). Worte treffen auf eine ebenso tiefe Anlage im Menschen wie die Bilder. In dieser filmischen Einstellung nun kombinieren sich Bild und
77 Der Ansicht, daß eine Bildgeschichte der Worte nicht bedarf, konnte schon in Zeiten des Stummfilms entgegnet werden, daß kurze Einblendungen wie beispielsweise in Chaplins „City lights“ (USA 1931) erläuternde Funktion hatten. Mit dem Aufkommen des Tonfilms schien die mediale Spezifik des Kinos in Gefahr zu geraten. So schrieb Ejchenbaum 1927 (1984): „Das hauptsächliche Spezifikum des Films besteht darin, daß er ohne die Hilfe des hörbaren Wortes auskommt. Wir haben es also mit der Sprache des Fotogenen zu tun“ (133). Mit dem Hollywood-Boom in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts etablierte sich der Tonfilm endgültig. Dreißig Jahre später wurde die Filmtheorie durch linguistische Untersuchungen bereichert. Man nahm u.a. an, dem Ablauf der Bilder wohne eine Struktur inne, die der Grammatik der Sprache ähnlich sei. Dieses Unternehmen muß heute wegen der Eigengesetzlichkeiten des Films als gescheitert gelten.
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Wort in eigentümlicher Weise: Der Zuschauer erfährt sich, wenn die Sprache sagt, was das Bild zeigt, in seiner visuellen Wahrnehmung bestätigt. In psychologischer Hinsicht sind Worte, die sagen, was zu sehen ist, vertrauensbildend und wirken als Beteuerungen: Dem Zuschauer wird, ohne daß die Rede sich direkt an ihn wendet, mitgeteilt, daß das, was er sieht, wahr ist. Das Wort belegt das Bild. Dadurch gewinnt die Fiktionalität des Gezeigten an Überzeugungskraft. Hinzu kommt das emotionale Moment, insofern die Intonation der Sprache affektive Impulse im Zuschauer wachruft. Mit Rückgriff auf Erkenntnisse der Körperperspektive läßt sich zweierlei vermerken: Erstens intensivieren handlungsbestätigende Worte, die eine Figur auf der Leinwand in Großaufnahme spricht, den Inhalt dessen, was die Augen des Kinogängers abtasten. Zweitens erhöht sich die Bereitschaft des Zuschauers zur Motor Mimicry bzw. somatischen Empathie, weil die Worte eine Verstärkung der körperlichen Expressivität und Befindlichkeit der Figur bewirken, von der sie gesprochen werden. Ich empfehle etwa, sich die Abschlußszene von F. Langs Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (D 1931), in der vor einem Tribunal der Kindesmörder sein Dasein und Tun vertritt, einmal mit und einmal ohne Ton anzusehen, und sich dabei zu überlegen: Was wirkt mehr? Diese Frage artikuliert der Täter selbst mit kurzen Worten, wenn er die Kläger anschreit: „Was wißt ihr denn, wie es in mir aussieht?“ Die filmische Einstellung „Sprache“ fördert die Aktivität der beiden Gehirnhälften: Bearbeitet die rechte Hemisphäre die Ganzheit der Bilder, so ist die linke für die Analyse der Sprache zuständig. Der Neurophysiologe D. Galin (1974) vertritt sogar die Auffassung, daß der Austausch über den Balken (Corpus callosum) zwischen den Gehirnteilen Kreativität hervorruft78. „Sprache“ öffnet sich dem geheimen Wunsch des Zuschauers, sich die außerordentlichen Fähigkeiten seines Helden aneignen zu können. Obwohl jede Großaufnahme versucht, dem Kinogänger seinen Star näherzubringen, empfindet er ihn doch immer auch „zugleich als weit entrnt und unerreichbar“, wie C. Musatti (2004a [1952]: 154) vermerkt. Wenn der Kinogänger nun das, was er sieht, auch verbal formuliert vernimmt, setzt die Sprache das Heroische des Protagonisten noch imposanter ins Licht. Wenn wir beispielsweise mitbekommen, wie ein
78 Vgl. auch Bogen/Glenda (1979: 220), Hoppe (1974: 919 ff.) und Simon (1984: 1).
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Kraftprotz, der mit seinem Bizeps zuckt, von einer Schönen gesagt bekommt: „Wie stark Du bist!“, wird auch der letzte Zuschauer überzeugt sein. Die Tendenz der gesprochenen Sprache, Eindeutigkeit zu schaffen, reduziert den immer vorhandenen Bedeutungsüberschuß des Bildlichen. So wird der Kinogänger mittels der Einstellung „Sprache“ aus seiner eventuell noch bestehenden Unsicherheit darüber befreit, ob die visuell dargebotenen Idealisierungen möglicherweise nicht doch trügerisch sind. Es ist ein ganzes Repertoire von Gefühlen wie Angst, Ärger, Scham, Schmerz, Haß oder Liebe, die in ihrer Intensität den Zuschauer viel besser erreichen können, wenn sie nicht nur gezeigt, sondern auch verbalisiert werden. In seinem Alltag hingegen erfährt der Kinogänger die Verbalisierung dieser existentiellen Gefühle nur selten. Wenn es den Dialogschreibern gelingt, die Figuren das sagen zu lassen, was die Herzen der Kinogänger bewegt, dann sind diese für einen kurzen Augenblick aus den schmerzhaften Restriktionen des Alltaglebens befreit. Wenn eine Filmfigur offen sagt, was sie denkt und fühlt, und damit eine Kongruenz zwischen äußerem Anschein und innerem Empfinden stiftet, kann sich in entscheidenden Szenen eine Dramaturgie entfalten, die den Zuschauer aus seinen Ängsten und Einengungen entläßt und ihn in die Nähe seiner Stars bringt. „Sprache“ macht solche Momente erlebbar. Für diese wertvollen Augenblicke gilt: Sprache vertieft das Licht, das der Scheinwerfer auf die Figur geworfen hat. Dann auch beginnt Licht, bewußt zu sprechen.
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Abb. 57: „Als der kaiserliche Hoflieferant sich der Glastür seines Geschäftes nähert, wird die Inschrift seines Namens ,C. W. Wormser‘ sichtbar (Der Hauptmann von Köpenick, D 1956, R.: Helmut Käutner, 00:04:44).
Abb. 58: „Als der Bahnhofswärter Ben Miller (Sheb Wolley) bei Namen nennt und ihn begrüßt, wird der Angesprochene links von Jim Pierce (Robert J. Wilkie) gezeigt“ (12 Uhr mittags, USA 1952, R.: Fred Zinnemann, 00:05:15).
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Der sichtbare Entwurf des Möglichen („Selbstbilder“) „Es erscheinen Bilder in einer Einstellung, die während der erzählten Ereignisse ein – möglicherweise auch idealisiertes – Selbstbild des Zuschauers spiegeln. Der Zuschauer erkennt diese Symbolik.“ Wenn ein Zuschauer das, was er sieht, zugleich gehört hat, ist er darauf vorbereitet, sich selbst in den Leinwandbildern wiederzuerkennen. * * * Wir sagen im Alltag: „Er hat sein Ziel klar vor Augen“, und meinen damit, daß eine solche Person ihre Absichten dann besser erreicht, wenn sie diese mit einem Bild verknüpft. Das gilt auch für den, der von sich sagt, er gehe „in einen Film“. Wer das so formuliert, anstatt zu sagen: „Ich gehe ins Kino“, hat bewußt oder unbewußt ein Leitbild im Blick, d.h. eine geistige Vorstellung davon, daß er mit dem Medium eine enge Verbindung eingehen wird. Denkt oder fühlt der Zuschauer beim Gewahrwerden einer Filmfigur: „So bin ich“ oder „So möchte ich sein“, ist dies ein besonderer Moment. Denn er hat damit einen Protagonisten zum Ideal seines Selbst erhoben, und dieses handelt nun stellvertretend für ihn auf der Leinwand. Dieses Stadium des Involviertseins ist zu verstehen als eine Erweiterung des Miterlebens der Gefühle und Gedanken der Leitfigur wie es zuvor durch somatische Empathie und Motor Mimicry stimuliert worden war. Hier in der filmischen Einstellung „Selbstbilder“ dreht es sich um ein noch umfassenderes Miterleben der Wirklichkeit der Filmfigur. Selbstbilder entstammen den tiefen psychischen Schichten des Kinogängers, und wenn die Leinwand eines von ihnen evoziert, initialisiert sich eine starke Wirkung. „Das beste kommt nicht von außen“, sagt H. Münsterberg (1996 [1916]: 51) und meint damit eine Realität aus Traum und Phantasie, deren kleinste visuelle (und akustische) Elemente ich als Fragmente bezeichnet habe. Die Selbstbilder als visuelle Konstrukte sind mehr oder minder geordnete Formen mit einem symbolischen Zentrum, in dem sich Wünsche, Versagungen, Lebenserfahrungen etc. bündeln. Sie sind ursächlich dafür, welche Bedeutung ich den Wahrnehmungen meiner Selbst und meiner Außenwelt beimesse.
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Wer gern „in Filme“ geht, wird einem interessierten Gesprächspartner mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen: „Ich schaue mir gerne Geschichten an. „Am liebsten sehe ich ... (das Genre)“. „Besonders gut gefällt mir ... (Name des Schauspielers)“. „Der hat den ‚...’ (Bezeichnung der Rolle) in ... (Filmtitel)“ gespielt. Dem Fragenden gegenüber wird er jedoch nicht unbedingt bekennen: „So wie der Filmheld XY bin ich“, oder: „Wie XY möchte ich sein“. Denn ein solch intimes Bekenntnis würde ihn entblößen. Doch gibt es für jeden für uns jenseits des Alltags ein „ungelebtes Leben“ (v. Weizsäcker 1956, Zacher 1984), und die Fiktion der Leinwand stellt für die Ausmalung kompensatorischer Utopien ein großes Bildrepertoire zur Verfügung. Die Tendenz, sein eigenes Selbst in dem, was man sieht, wiederzuerkennen, scheint eine Mitgift der menschlichen Natur zu sein79. Sein auf der Leinwand zurückgespiegeltes Selbstbild heilt für einen Augenblick die Wunden unseres fragmentierten Daseins. Deshalb wird dieses Gegenüber so sehnsüchtig gesucht. Nun ist es sicherlich eine Frage der individuellen Reflexionsfähigkeit, ob und in welchem Maße ein Zuschauer über die Anziehungskraft nachdenkt, die zwischen seinen Lebensdefiziten und den Versöhnungsangeboten der Kinobilder besteht. Optimistisch gesagt: Die Reflexion über die eigenen Selbstbilder im Alltag wie im Film gibt Aufschluß über jene Impulse, die dem eigenen Leben Prägung und Gestalt verleihen. „Wir handeln dem Bilde nach, das wir von uns machen“, schreibt Moshe Feldenkrais (1978: 19). Selbstbilder machen das Un-
79 Der französische Psychoanalytiker Lacan (1986) ist der Auffassung, daß der Zuschauer deshalb Lust am Kino hat, weil er in einem frühen Kindheitsstadium sich selbst im Spiegel entdeckte. Das Kind reiße die Arme hoch und sehe in seinem gespiegelten Bild fortan ein Teil von seinem Selbst. In meiner psychotherapeutischen Praxis ist mir bisher nie von einem solchen Verhalten von Kindern berichtet worden. „Ob Lacan die Vorgänge im Inneren des Kindes mit seiner Theorie korrekt nachzeichnet, muß letztlich offen bleiben und ist experimentell nur schwer oder gar nicht überprüfbar“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelstadium vom 08.02. 2010). Kritisch hierzu gewendet s. auch: Borch-Jacobsen (1999: 58 ff.), de Lauretis (1990 [1984]: 14) u. Metz (2000 [1977]: 46 ff.).
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bewußte, das sich als je eigene Lebensgeschichte manifestiert, sichtbar80. Wie tief Selbstbilder in der Psyche des Menschen verankert sind und auf das Kinoerleben wirken, verdeutlicht E. Morin (1958), wenn er die Auffassung vertritt, daß sich der Mensch seit Urzeiten von seinen inneren Bildern mehr und mehr „entfremdet“ (243) hat. Je stärker ein Bild das Seelenleben des früheren Menschen bannte und zugleich Ausdruck seiner Bedürfnisse war, desto mehr neigte es dazu, sich nach außen auf Knochen, Elfenbein oder Höhlenwände zu projizieren. Dort, wo Bedürftigkeit und zugleich bildgebende Projektion am größten sind, „entsteht“, so Morin, „das Double, der Doppelgänger“ (30) als Abbild. Der archaische Mensch begegnete seinem „Double“, als er auf das Wasser sah, und für ihn war dieses Bild von starker Realistik. Es sei ihm, wie Morin sagt, als ein autonomes, fremdes Wesen und als eine „absolute Überwirklichkeit“ (31) erschienen. In dieser Tradition des Bildes als eines übermächtigen Doubles sieht Morin auch die Filmbilder, deren „absolute Überwirklichkeit“ jene „Aura“ sei, die nicht an das Vorhandensein einer lebenden Person gebunden ist, sondern sie „übersteigt“ (33). E. Morins Gedanken könnten darauf verweisen, daß auch die Selbstbilder des modernen Menschen von einer Grundsubstanz bewegt werden, die möglicherweise archetypischer Natur ist und sich sogar in den äußeren Rezeptionsbedingungen des Films wiederfinden läßt: Der Kinosaal ist eine „Höhle“ (Baudry 1994: 1047 ff.), also „eine Art große archetypische Gebärmutter“ (Morin 1958: 192), und die Leinwand ruft, wie K. Thompson (1995: 47) aus tiefenpsychologischen Filmtheorien referiert, die Erinnerung an die „Mutterbrust“ wach. Wenn Morin (1958) schreibt: „Der Zuschauer ist der Tanz, er ist der Ball, er ist der Hof“ (121) – ein Diktum, das ich als eines der beiden Mottos für dieses Buch gewählt habe –, so verweist er auf jene nicht rational begreifbare Kraft, die wir üblicherweise der identifikatorischen Phantasie von Kindern zuschreiben, die jedoch auch in uns Erwachsenen weiterlebt. „Die filmische Identifikation, verwandt mit
80 Regisseure sind nicht ausgenommen: Ihre Filme wollen sie nach ihren Vorstellungen gestalten. Indem sie die Zuschauer in die von den Kameramännern gelieferten Bilder hineinziehen wollen, realisiert sich ihr Unbewußtes in einer fiktiven Wirklichkeit, in der auch sie selbst vorübergehend leben möchten.
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der Hypnose und dem Traum, siedelt sich auf halbem Wege zwischen beiden an“, schreibt Jean Deprun (2004a [1947]: 179). Selbstbilder bieten die Möglichkeit, anders und woanders in Raum und Zeit zu sein, und nähren sich in der intrapsychischen Wirklichkeit des Zuschauers aus dem „Feld der Möglichkeiten“. Unsere Anlage, Vorstellungen von uns selbst in externen Bildern gespiegelt zu finden, bezeugt die Existenz des Menschen als eine Potenz der Vielfalt. Emilie Altenloh (1914) sieht das Möglichkeitsspektrum des Films als ein Gegenmittel gegen die Erfahrungsrestriktionen des Alltags: „Das Kino ist eben in erster Linie für die modernen Menschen da, die sich treiben lassen und unbewußt nach den Gesetzen leben, die die Gegenwart vorschreibt“ (94). Das zweite Motto dieses Buch ist der achten „Duineser Elegie“ von Rainer Marie Rilke entnommen und lautet: „Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst“ (131). Der Gehalt der Elegie ist der, daß der Mensch aufgrund des Wissens um seine Sterblichkeit sich dem Leben nicht öffnen kann, es sei denn kurz vor seinem Tod oder in der Liebe. In der „Kleinen Philosophie der Bewegung in den Film“ bezeichnete ich die „Fragmente“ als die „Urkraft menschlicher Phantasie“, in denen „die Anlage des Menschen zu seiner Kreativität, aber auch zu seiner Destruktivität“ steckt. Die Fragmente, die weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft kennen, erzeugen, so folgerte ich weiter, einen unspürbaren „Spannungszustand zwischen Nichtung und Schöpfung“, den der Film kraft seiner Fiktionalität vorübergehend aufzulösen vermag. Insofern nun das Kino Bilder zeigt, die das Fragmentarische zu Entwürfen des menschlichen Daseins und Handelns bündeln, verweist es auf die beständige Möglichkeit des Menschen, sich in der Konkretheit seines Lebens neu zu entwerfen. Deshalb meine ich, daß der Zuschauer gerade im Kino offen ist, weil er dort seinen Alltag aufgeben und „sterben“ lassen will wie ebenso sein gewöhnliches Ich, um sich im Kinosaal mit einem seiner idealisierten Selbstbilder über den Alltag und den Tod zu erheben81. Eben wegen dieses Wunsches nach dem Tod des Ich kann
81 Wir hatten im Abschnitt über die “Lichtwesen” in diesem Kapitel darauf verwiesen, daß wir mit dem gänzlichen Verschwinden des Lichts die ewige Nacht, den Tod assoziieren und uns auf Morin (1958) bezogen, für den der „latente Mythos des Lichtspiels die Unsterblichkeit ist und darum das totale Kino selbst eine Variante der imaginären Unsterblichkeit“ (53).
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sich der Kinogänger im Wissen von dem, was R. M. Rilke mit „dem allen“ meint, von seinen Reflexionen über sein Leben und Sterben doch lösen und den Entwürfen seiner Selbstbilder auf der Leinwand offen entgegenblicken. Diese Offenheit schließt ein, daß der Zuschauer zwar „in den Film“ gehen möchte, später aber und außerhalb des Kinos bereit ist, den illusionären Charakter der ihm dort gezeigten Bilderwelt als solchen zu erkennen. Gerade der nachdenkliche Kinogänger weiß, daß das „ungelebte Leben“ überall mitspielt, daß keine Geschichte ohne Versagung bleibt und daß nicht jeder Entwurf eines idealen Selbstbildes sich im Lauf des Lebens vollständig verwirklichen kann: Kein Mensch wird so vollständig und geordnet zum Ideal seiner Selbst, daß er seine Defizite vollständig ausgleichen könnte. Deshalb zeigt sich ja mancher Entwurf als eine bloße Illusion. Nur dann allerdings, wenn der Kinogänger illusionslos abseits des Lebens stehen möchte, ist er ein solcher Zuschauer, der seinem Gefängnis nicht entkommt („Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus!). Dem Lichtspielhaus wohnt eine kulturelle Gestaltungskraft inne, da es immer wieder neue Selbstbilder des Menschen erzeugen kann, wenngleich die Themen und Motive in der Tat alt sind und jede Geschichte eine Suche nach etwas schon Bekannten ist. Gerade die Fragmentiertheit unseres Alltags ist der Hauptgrund für die Suche nach Liebe und das „uns überfüllts“ Rilkes ist oftmals das Ergebnis dieser Suche. Dieses Überfülltsein ist jedoch ein Übergangsstadium, denn es ist uns nicht gegeben, der Konstituierung von Selbst-Bildern Beständigkeit zu verleihen. Bilder des Menschen von sich sind, wie uns gerade das Kino lehrt, ständig in Bewegung und im Wandel. Der Entwurf eines beliebigen Selbst kann nicht ein bewegungsloses Schema werden, es sei denn man verzichtet auf seine Entwicklung. „Wir ordnens“, schreibt R. M. Rilke und wir können dies als einen Versuch der Selbst-Konstituierung und als die Notwendigkeit verstehen, in der Fragmentiertheit des Lebens an Orientierung. Halt und Sinn zu gewinnen, was uns vorübergehend auch gelingt. Doch die Erfahrung lehrt uns: „Es zerfällt“. „Wir ordnen“ das mit Fragmentarischem gefüllte Leben „wieder“. Und: „zerfallen selbst“. Die Filmemacher ordnen die Bilder eines fiktiven Lebens und „zerfallen“ nach der Fertigstellung einer Geschichte ebenso wie das filmische Selbstbild des Zuschauers, der sich nach dem Kinobesuch wieder in seinen Alltag begibt. Der Zuschauer konnte sich im Projek-
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tionsraum auf ein Spielfeld der Möglichkeiten begeben, um den Wechsel von Ordnung und Zerfall im richtigen Leben leichter annehmen zu können. Ein guter Film kann den Daseinsentwurf des Betrachters bereichern, wenn dieser sich der Selbstbilder bewußt ist, die ihn veranlaßt haben, „in den Film“ zu gehen.
Abb. 59: „Als Zuschauer denke ich in dieser erotischen Situation: Ich wäre gern dieser Mann, der in der Nähe der hübschen, spärlich bekleideten Marion Crane (Janet Leigh) steht“ (Psycho, USA 1960, R.: A. Hitchcock, 00:02:47).
Abb. 60: „Als ein Europäer vor den Polizisten flüchtet, die gerade entdeckt haben, daß sein Paß abgelaufen ist, denke ich: Das würde ich auch tun. Ich liebe den Orient, der mir eine Heimat ist. Da würde ich mich auch vor der Polizeigewalt verstecken“ (Casablanca, USA 1942, R.: M. Curtiz, 00:03:25).
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„Die „unsichtbaren Schauspieler“ („Musik“) „Es erscheinen Bilder in einer längeren Sequenz, während die Ereignisse der Geschichte von einer zu dieser passenden Musik82 begleitet werden. Der Zuschauer erkennt die symbolische Bedeutung des Zusammenklangs.“ Musik wird dann stärker erlebt, wenn die Bilder der Leinwand zuvor ein Selbstbild des Kinogängers gespiegelt haben. * * * Die Musik mit ihrer Melodie und ihrem Klang hat im Film mehr Kraft als eine Figur auf der Leinwand. Die Verknüpfung von Musik und Visualität bietet im Kino zudem mehr Möglichkeiten, als dies im Alltag üblich ist: Musik im Film kann unsichtbar handeln, indem ihr Rhythmus und ihr Klang die Geschichte begleiten und vorantreiben. Im Zuschauer kann sie eine „gefühlswirksame Gegenwärtigkeit“ (Morin 1958: 94) hervorrufen und für ihn die „Rolle eines emotionalen Verstärkers“ (Ejchenbaum [1927] 1984: 113) spielen. Michael Witzel, Toningenieur und Musiker, schreibt der Filmmusik die Funktion von „unsichtbaren Schauspielern“83 zu. Diese „Akteure“ treten zwar nicht vor die Kamera, sind dort aber äußerst effektvoll, wo es für den Zuschauer darum geht, sich in das Innenleben der Figuren einfühlen zu können. Musik kann stellvertretend für die Figur deren Gefühle ausdrücken. Darüber hinaus soll im Film in der zur Verfügung stehenden Zeit ein Maximum an Expressivität erreicht werden. So bemerkt C. Plantinga (1999): „In fact, most scenes of empathy do84 incorporate music as an essential element to elicit response“ (254). Die musikalischen Motive ändern sich mit den Handlungen der Figur. Dabei leitet das akustische Material mit seinen Melodiebögen jede ihrer Bewegungen und Wandlungen. „Music can also be used symbolically as a leitmotiv“ (197), stellen R. Stephenson und J. R. Detrix (1969) heraus.
82 Einer Unterscheidung Solchbachs (2004: 8) folgend, gehe ich von Filmmusik aus, die nur für den Zuschauer, nicht aber von den Protagonisten gehört wird. 83 Mündliche Mitteilung an den Verfasser am 12. Februar 2009. 84 Hervorhebung im Original.
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Machen die „musikalischen Akteure“ hörbar, was die Bilder zeigen, intensivieren sie die Aufmerksamkeit des Kinogängers. Deshalb wird heute kaum mehr ein Film ohne begleitende Musik gezeigt, und B. Ejchenbaum (1984) konnte schon 1927 vermerken, daß ein Film ohne Melodie und Klang „manchmal einen unheimlichen Eindruck“ (114) hinterläßt85. Wieviel Musik dazu beiträgt, die Stimmungslage einer Figur intuitiv zu erfassen, merkt man, wenn man zu Hause einige Passagen eines Spielfilms ohne Musik laufen läßt. Gerade zu Filmbeginn, wenn mit dem richtigen Ton das Thema der Geschichte angeschlagen wird, bereitet die musikalische Einleitung den Zuschauer auf das Kommende vor. Eine markante Anfangsmusik kennzeichnet Prädikatsfilme wie „Psycho“ (USA 1969, R.: A. Hitchcock) oder „Krieg der Sterne“ (USA 1977, R.: G. Lucas) und bleiben lange in Erinnerung. Offensichtlich gelingt es diesen Filmmusiken, den Nerv des Kinogängers zu treffen. R. Stephenson und J. R. Debrix (1969) schreiben mit Blick auf die Funktion des akustischen Materials in einem Film: „Like images, sound can be used subjectively to express the impressions or state of mind of a character in the film“ (198). Die „unsichtbaren Schauspieler“ können als immaterielle Rollenträger mit den Bildern der Leinwand harmonieren, sie können aber auch zu ihnen in Kontrast stehen. Der Komponist kann die Rhythmik so einsetzen, daß sie die Akzentfolge der Bilder kontrapunktiert, während diese, die Bilder, selbst die Ereignisse der Geschichte zeitlich strukturieren (vgl. Koebner 2004: 57). Das komplexe Geschehen verflicht auf verschiedenen Ebenen Sinneseindrücke, und zwar nicht selten synästhetisch, wenn wir z.B. an den emotionalen Gehalt der Farben der Bilder denken, der durch die Farben des Klangs der Musik unterstützt werden kann. Wir entdecken hier, wie das Medium des Lichts und das der Schallwellen – beides immaterielle Träger von Information – einander wechselseitig bereichern. Das Metier der Filmmusik ist mittlerweile ein so spezialisiertes Gewerbe geworden, daß es nicht einem einzelnen Kopf überlassen wird, sondern einem oder mehreren
85 Solbach (2004) vermerkt, daß lange vor dem Tonfilm „die musikalische Begleitung der filmischen Darbietung die Regel“ (9) geworden war. Mit der Nachsynchronisation der Tonspur ist es etwa ab 1930 technisch möglich geworden, die Filmmusik zu einem „gleichberechtigten künstlerischen Darstellungsmittel“ werden zu lassen.
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Experten, die wiederum mit den Spezialisten für Bild, Dramaturgie, Licht, Musik, Story, Schnitt usw. kooperieren. E. Morin (1958) vertritt die Auffassung, daß Musik in den Momenten, in denen sie ihre höchste Wirkungskraft erreicht, „in gewisser Weise“ (115) der Großaufnahme gleichkommt. Dies trifft m. E. insbesondere dann zu, wenn der Zuschauer sein Selbstbild auf der Leinwand wiedererkennt. Für diese Momente ist er selbst eine Einheit aus Melodie und Klang geworden. Er ist sich dann selbst unsichtbar, spürt sich aber als Musik, und seine Phantasie beflügelt sich. Ist diese Verwandlung seiner Person in Melodie und Klang gelungen, kann ihn dies in große Höhen führen, in denen die Materialität der Welt vergessen ist. In solchen Augenblicken ist die Illusionsbildung so groß, daß der Zuschauer glauben mag, die Bilder würden seinen eigenen inneren Regungen folgen, weil er selbst Musik geworden ist. Freilich verschwindet dieser Trug bald, denn die Dramaturgie will ihre eigenen Ereignisse ins Spiel bringen. Grundsätzlich ist es aber Sinn dieser oder ähnlicher „Kunstgriffe der emotionalen Intensivierung [...], den Zuschauer ganz im Film und umgekehrt den Film völlig im Zuschauer aufgehen zu lassen“ (Morin 1958: 115)86. Der Filmemacher Tony Thomas (1995: 11) notierte: „Von allen Künsten entfernt sich die Musik am weitesten von der Realität und wirkt am stärksten im Bereich des Unterbewußten“, und vielleicht hat H. Münsterberg (1996) diese Wirkung der Filmmusik für den Kinogänger erahnt, als er 1916, zu einer Zeit, als die Bilder laufen lernten, schrieb: „Die Klänge, aus denen der Komponist seine Melodien und Harmonien aufbaut, sind gar kein Bestandteil der Welt, in der wir leben. Keine unserer Handlungen im praktischen Leben ist mit den Klängen der Musikinstrumente verwandt, doch können die Klänge einer Symphonie in uns die tiefsten Emotionen, die feierlichsten und die genußreichsten Gefühle erregen“ (81).
86 Am Rand sei vermerkt: Musik ist im Spielfilm nach den Worten Gorbmans (2001) „die einzige erzählerische Komponente, die die ansonsten unüberwindliche Grenze“ (19) zwischen dem Diegetischen, d.h. dem Erzählenden, und dem Nicht-Erzählten „zu überschreiten vermag“. Beispielsweise geschehe dies in einer Szene, wenn „eine Figur eine bestimmte Melodie summt, die daraufhin vom Orchester auf der Tonspur übernommen wird“.
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Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Aufsatzes „Das Lichtspiel“ von H. Münsterberg, dem das obige Zitat entstammt, bemerkte Frieda Teller, daß die Musik im erwachsenen Zuhörer „den Zensor aufweicht“ (zit. nach Gorbman 2001: 21). Tiefenpsychologisch orientierte Autoren verweisen, um die „hypnotische Wirkung“ der Musik zu beschreiben, in ihren Überlegungen im Anschluß an F. Teller auf eine Schwächung der Ich-Abwehr, die eine „zeitlich beschränkte, leichte Regression auszulösen vermag“. Dieses Rückschreiten auf schon zurückgelegte Stufen seiner Entwicklung „entführt“ den Erwachsenen „in das lustvolle Reich frühkindlicher Phantasien“. Ich schlage dem Leser zum Schluß dieses Abschnitts vor, sich eine Melodie ins akustische Gedächtnis zu rufen, die ihm einmal in einem Film aufgehen ließ und dann zu versuchen, sich die zu dieser Musik gehörende Musik visuell zu vergegenwärtigen. Wenn ihm dabei nur ein einziges Bild vor dem inneren Auge erscheint und kein Bilderfluß, dann bezeugt dieses kleine Experiment, wie die wieder ins Leben gerufene Melodie die Bewegung des Visuellen übernommen hat. Diese Erfahrung ist es, die uns lehrt, daß eine Transformation stattgefunden hat, in welcher der Geist der Bilder in den Klang und in die Melodie der Töne übergegangen ist. Die „unsichtbaren Schauspieler“ haben sich der Bilder bemächtigt und den Zuschauer noch tiefer als zuvor in den Film genommen.
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Abb. 61: „Die akustische Begleitmusik (Gitarre und Geigen) unterstreicht diese Szene, weil in Klang und Musik das Gefühl von Natur und Weite hörbar wird, das man als Zuschauer – und erst recht als Martha Edwards (Dorothy Jordan), welche sich nun aus ihrer Hütte heraus bewegt – verspürt, wenn man auf die Landschaft schaut“ (Der schwarze Falke, USA 1956, R.: John Ford, 00:01:37).
Abb. 62: „Es spielt im rechten Bildhintergrund ein Quintett eine ihrem Aufführungsort – den der Zuschauer im Blick hat – entsprechende Kaffeehausmusik“ (Abschied von gestern, D 1966, R.: A. Kluge, 00:01:58).
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I NTEGRIERTER IM V ERLAUF (V ERLAUFSPERSPEKTIVE ) In dieser Perspektive geht es um die Erzeugung des Gefühls für den Verlauf der Geschichte, in die sich der Zuschauer nun wahrhaftig integriert. Der Weg in den Film hat hier seine größte Tiefe. Er beginnt mit Hoffnung und erreicht seinen Gipfelpunkt mit der Empfindung des Glücks. Dieses hebt im Zustand der Filmwahrnehmung die Urerfahrung des Fragmentiertseins der menschlichen Existenz auf. Der Spielfilm wird somit zum willkommenen Mittel der Sinnstiftung.
Die unmögliche Aufgabe („Hoffnung“) „Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der dem Zuschauer die Hoffnung gibt, daß der Handlungsverlauf sich einem Ziel annähert“. Wenn zuvor die Filmmusik eine emotional tragende Kraft vermittelt hat, wächst die Hoffnung des Zuschauers, daß die Geschichte auf ein Ziel hinsteuert. * * * Jeder Filmprotagonist hat eine bestimmte Aufgabe. Er bekommt sie meist zu Beginn der Geschichte gestellt und kann sie entweder annehmen oder sich ihr verweigern. Wenn er letzteres tut, wird er sie jedoch alsbald akzeptieren. Die Figur kann sich die Aufgabe auch selbst suchen, entweder motiviert von einem eigenen Bedürfnis, einer Konfliktlage oder einer äußeren Notwendigkeit. Klassische Initialstimuli, also Beweggründe für das Übernehmen einer Aufgabe sind beispielsweise eine soziale oder moralische Verpflichtung, Abenteuerlust, Größenwahn, Langeweile, Liebe, eine offene Rechnung, unabgegoltene Kränkungen oder eine unbezahlte Schuld. Auf alle Fälle ist das Vorhandensein einer Aufgabe für die Story unerläßlich, denn ohne sie entsteht kein Handeln, auf dessen Erfolg der Zuschauer mit der Leitfigur seine Hoffnung setzen kann. Später, am Ende der Geschichte, wird die Figur in der Regel zu dem Ort zurückkehren, an dem sie sich befand, als sie die Aufgabe übernahm, und wo der Prozeß der Persönlichkeitsent-
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wicklung ihren Beginn hatte. Nun ist der Held am Ausgang der Geschichte angekommen und gereift87. Von der dramaturgischen Struktur her ist die Tatsache, daß die Hauptfigur eine Aufgabe zu übernehmen hat, ethisch neutral. Die Hauptsache ist, daß der Zuschauer emotional an sie anknüpfen kann. Vor allem sind es bildtechnische Mittel, die eventuell moralische Bedenken des Kinogängers überspielen und ihn in die Geschichte der Aufgabenerledigung integrieren. Beispielsweise bietet die Großaufnahme taktile Reize an88, denen er sich widerstandslos hingibt, weil sein Verlangen, zu berühren und berührt zu werden, so stark ist. Ein anderes, besonders effektives Stilmittel, eine an sich nicht gutzuheißende Aufgabe akzeptabel zu machen, ist es, die Rollenträger mit sexueller Attraktivität auszustatten. Sexuelle Reize überzeugen immer. Auch kann das Drehbuch eine Figur scheinbar sterben lassen, so daß wir auf ihre Auferstehung und damit auf die Wiederaufnahme der ursprünglichen Aufgabe hoffen. Immer aber sind es kunstvoll komponierte und wohlplazierte Bilder, die unsere Hoffnung nähren: Ein Revolver auf dem Tisch einer Gaststätte, im Affekt in die Hand genommen, läßt uns den Tod unschuldiger Menschen fürchten, und wir hoffen, daß dieses Unglück ausbleibt. Die Bilder einer alten Frau, die, mit einem schweren Wäschekorb beladen, schleppenden Schrittes eine Treppe emporsteigt, signalisiert uns die Anstrengung langer, harter Arbeit und läßt uns hoffen, daß diese Person sich ihrer Last bald entledigen kann. Die Aufgaben, die dem Helden am Anfang des Films gestellt werden, zeichnen sich zumeist dadurch aus, daß es extrem schwierig, wenn nicht sogar unmöglich zu sein scheint, sie zu bewältigen: In einer Großstadt ist ein Kindermörder zu finden89, an einem Strand sind Badegäste vor dem Hai zu schützen90, ein anonymes Syndikat ist zu bekämpfen91 oder es gilt, auf der Flucht unerkannt zu bleiben92. Die Außergewöhnlichkeit der Aufgabe hebt die Geschichte aus den Di-
87 Das Drehbuch kontrastiert die Entwicklung der Figur gelegentlich einer anderen, entwicklungsresistenten Person. 88 S. die Abschnitte zur Körperperspektive in diesem Kapitel. 89 „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, D 1931, R.: Lang. 90 „Der weiße Hai“, USA 1975, R.: Spielberg. 91 „Die drei Tage des Condor“, USA 1975, R.: Pollack. 92 „Die innere Sicherheit“, D 2001, R.: Petzold.
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mensionen unseres Alltagslebens heraus, und gerade das macht die Angelegenheit für uns, deren gewöhnliches Leben so arm an Außerordentlichkeiten ist, so aufregend und spannend. Auf seinem Weg in den Film lebt der Kinogänger von der Hoffnung, aus den Bildern der Leinwand mehr Erfahrungssubstanz. Es gibt eine alte Weisheit, die besagt, es gebe eine wichtige Aufgabe im Leben, und die sei dreigeteilt: Erstens habe man seine eigene Lebensaufgabe zu erkennen; zweitens habe man dieser Aufgabenstellung dann zu folgen und drittens habe man einzusehen, daß man seiner Aufgabe niemals gerecht werden könne. Wie alle Lebensweisheiten vermischt auch diese Optimismus und Skepsis zu einer Essenz, die, je nach seelischer Grundausstattung, entweder heitere Gelassenheit oder Melancholie mit sich bringt. Jedenfalls eröffnet diese Weltsicht zwischen dem Pol der pflichthaften Aufgabe und dem der Nichterfüllung ein breites Spektrum von Möglichkeiten: Die Ziele, die man sich setzt oder gesetzt bekommt, scheinen das Gewicht einer ehernen Notwendigkeit zu haben, doch die Einsicht, daß wir voller menschlicher Schwächen sind, daß wir die strengen Anforderungen des Notwendigen nie ganz erfüllen können, entlastet uns von Pflichterfüllungszwängen. Aus dem rigiden „Du mußt“ wird ein sanftes „Du kannst nicht alles“ oder „Du mußt nicht alles können“. Was ereignet sich aber dann in uns, wenn wir sehen, wie der Filmheld – zwar in labyrinthischen Windungen und Abweichungen, aber doch erkennbar voranschreitend – auf dem Weg ist, sein Ziel zu erreichen? Denken wir daran, daß der Heros auf der Leinwand in aller Regel eine übergroße, übermenschliche Aufgabe zu erfüllen hat, während die Aufgabenhaftigkeit unseres Alltags im Vergleich dazu klein und unbedeutend ist. Der Zuschauer spürt diesen Kontrast in den Dimensionen: Er ist kleiner und unbedeutender als der Leinwand-Übermensch, aber dafür sind doch die ihm aufgegebenen Pflichten nicht so gewaltig: Wie der Held im Film werde ich also auch in meinem Alltag die Hürden überspringen, die Berge erklimmen, das Meer durchschwimmen und überhaupt alle Widerständigkeiten überwinden können. Man sieht, wie hier das dem „Feld der Möglichkeiten“93 inhärente Gesetz, demzufolge Unmögliches nicht sein darf, seine Wirkung tut. Die unumstößliche Regel, daß eine finale Niederlage des Helden unmöglich ist, sichert die Aufrechterhaltung der Hoffnung des Zuschauers.
93 Vgl. den Abschnitt „Eine kleine Philosophie...“ im 3. Kapitel.
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Nach tiefenpsychologischen Einblicken in die frühe Lebensgeschichte von Klienten kann ich sagen, daß einigen von ihnen in der Kindheit eine ,unmögliche‘ Aufgabe auferlegt wurde, die sie mit der Herausbildung ihrer Begabungen zu erledigen bereit waren, mitunter um ihr seelisches Selbst vor der Vernichtung zu retten. Der Lebenslauf dieses Kreises von Personen nährt sich aus der Hoffnung, daß später einmal der Beruf die Gelegenheit geben werde, die große Kindheitsaufgabe endlich bewältigen zu können. Für solche Menschen können Spielfilme faszinierend wirken, wenn sie die zentrale Lebensaufgabe irgendwie thematisieren. Bei der Gestaltung des Weges hin zur Aufgabenerledigung offeriert das „Feld der Möglichkeiten“ filmseits mannigfaltige Variationen, was die Attraktivität für Zuschauer, sich einem Film hinzugeben, erhöht. Allerdings haben diese eher introspektiven Menschen während ihres Berufsweges erkannt, daß die Aufgabe an sich in der Lebenspraxis unendlich ist. Eben daher bleibt sie stets größer als das eigene Leben, und man kann ihr nie gänzlich gerecht werden. Diese Einsicht fördert den Weg in den Film, weil der Wunsch nach eigenem Heldentum die Kränkung des Versagens zu kompensieren versucht. Die Worte des Regisseurs Sven Bohse (2006) können diesem Befund zustimmend angefügt werden: „Film ist zwar immer eine Flucht aus dem Leben, dennoch schöpft er seine Berechtigung und seine Kraft aus dem Bezug zur Realität“ (324). In der Filmfigur verkörpert sich also die Idee einer Aufgabe an sich, die sich im jeweiligen Verlauf der Geschichte konkretisiert. Indem der Held sich seinem Ziel annähert, wird er zum Hoffnungsträger für den Kinogänger, der Mut für seinen Alltag benötigt. Als Zuschauer kann er auf der Leinwand beobachten, wie Figuren, die für ihn – in Großaufnahme – zu Personen geworden sind, ihre Geschicke erfolgreich meistern. Mit der Erledigung der zunächst als unmöglich erscheinenden Aufgabe liefert der Film als Vorbild den Beleg dafür, daß auch der Zuschauer aus seiner Fragmentierung heraus zielgerichtet handeln kann. Die filmische Einstellung „Hoffnung“ wirkt zudem der natürlichen Tendenz des Kinogängers entgegen, sich zu überschätzen. Seine Phantasie bleibt zwar nach dem Kinobesuch befriedigt, aber nach einer Weile möchte sie wieder die Grenzen des Alltags überschreiten. Abschließend können wir festhalten: Die in diesem Abschnitt behandelte filmische Einstellung spricht die tiefe Hoffnung des Zuschauers an, daß eine fiktive Aufgabe auf der Leinwand absolviert wird. Der
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Kinogänger hofft damit zugleich die ihm im Alltagsleben auferlegten Pflichten besser erfüllen und dabei die ,unmöglichen‘ Aufgaben gelassen hinzunehmen zu können.
Abb. 63: „Als eine Frau mit einem vollen Wäschekorb keuchend das Treppenhaus nach oben kommt, hoffe ich, daß sie hier die schwere Last endlich absetzen kann“ (M – Eine Stadt sucht einen Mörder, D 1931, R.: Fritz Lang, 00:02:34).
Abb. 64: „Als Pumpkin (Tim Roth) seinen Revolver auf den Tisch legt und mit Money Bunny (Amanda Plummer) den sofortigen Überfall des Restaurants beschließt, hoffe ich, daß auch wirklich keiner der Gäste – so hatte es Pumpkin angekündigt – zu Schaden kommt“ (Pulp Fiction, USA 1994, R.: Quentin Tarantino, 00:04:16).
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Der Kompetenzzuwachs („Glaube“) „Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der den Zuschauer daran glauben läßt, die Geschichte werde gut verlaufen.“ Der Zuschauer schätzt jeden denkbaren Verlauf einer Filmgeschichte dann eher als gut ein, wenn er in ihm ein Ziel sieht, auf das er hofft. * * * Filme wollen zeigen, wie Menschen sich verhalten, wenn das Leben mit ihnen spielt. Hierfür kennt das „Feld der Möglichkeiten“ keine Grenzen. Die Filmfiguren können auf übermenschliche Fähigkeiten vertrauen und erheben sich über alle Widrigkeiten, die wie der Alltag auch das fiktive Leben beschert. Während die Filmhelden niemals scheitern, zeigt uns im Alltag die „brutale Zufälligkeit des Lebens“ (Dubiel 2006: 29) unsere Grenzen auf. Wir alle wissen deshalb, daß man trotz bester Absicht, Übung und Erfahrung im Leben scheitern kann. Das ist im Kino anders. Filme können die Allgegenwärtigkeit der Gefahr des Scheiterns vorführen und dennoch vermitteln, wie man wieder auf die Beine kommt. Figuren zeigen uns, wie man in unverhofften Situationen nicht untergeht, sondern sich bewähren kann. Unserem Gehirn ist es dabei gleichgültig, ob die Gegebenheiten lebenswirklich oder fiktiv sind. Auch die fiktiven Problemsituationen sind insofern real, als sie mit dem „Feld der Möglichkeiten“ in uns korrespondieren. Daher verfügen wir über die Potenz, uns im Kino in das Selbst-noch-nicht-Erfahrene zu integrieren. Das Mögliche kann immer Anspruch auf Verwirklichung in den – filmischen und alltäglichen – Realitäten erheben. Wenn wir sehen, daß die Lichtwesen auf der Leinwand ihre Kompetenzen erweitern und an der gestellten Aufgabe reifen, zieht uns dies tiefer in den Film hinein. Indem wir das beobachten, wird die Hoffnung zu dem Glauben, daß der Protagonist sein Ziel erreichen wird. Ohne die Erfahrung, daß wir selbst mit unseren Aufgaben wachsen und an ihnen reifen, wären wir kaum in der Lage, neuen Lebensanforderungen zu begegnen und neue Prüfungen und Proben zu bestehen. Und ebenso wie der Filmfigur ist uns die Aufgabe der inneren Wandlung und gegebenenfalls auch äußeren Veränderung gestellt, was zu neuen Ordnungen führt, die an die Stelle der alten, zerfallenen, treten.
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Selbst wenn die Notwendigkeit der Entwicklung der eigenen Potentiale durch einen Zufall entsteht, so ist auch dann der Zuwachs an Kompetenz – für uns Filmzuschauer wie für uns als Beobachter unserer selbst –, erst dann glaubwürdig, wenn wir die Kausalitäten, die Entwicklungen bewirkt haben, erkennen können. Manchmal sieht das Drehbuch eine Figur ohne erkennbares Reifungspotential vor; so beispielsweise den Geheimagenten James Bond. Da dieser Held schon von vorneherein alles kann, benötigt er keine Entwicklung, zumal er neben seiner Agententätigkeit mit unübersehbarem Erfolg sexuell aktiv ist. Solche Figuren sind problematisch, doch können auch diese Helden, die anscheinend der Notwendigkeit einer Selbstentwicklung enthoben sind, am Ende der Geschichte eine wesentliche Einsicht94 erwerben. Jeder Film erhält einen Zugewinn an Kraft, etwas Wichtiges über das Leben zu sagen, wenn er mit seinen Bildern zeigt, wie die Kompetenz zumindest einer seiner Rollenträger wächst. Es werden deshalb die Sorgen, Nöte und der Selbstzweifel dieser Figur dem Zuschauer auf der Leinwand vorgeführt. Ihre Kompetenz wächst, wenn es dem Helden gelingt, seine Kräfte für die Absolvierung der Aufgabe richtig einzusetzen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die filmische Fiktion nicht von der Profanität des Alltags. Jeder gute Film läßt zunächst bezweifeln, daß der Held über ausreichende Kräfte verfügt, seinem Auftrag gerecht zu werden, um danach um so deutlicher den Zuwachs seiner Kompetenz plausibel darzustellen. Manche Filme aber gratulieren schon zu Anfang ihrem Protagonisten zum Erfolg und führen im weiteren Verlauf vor, wie dieser vermeintliche Übermensch zusehends seine Kompetenzen verliert und sie dann erneut unter Beweis zu stellen hat. Andere Filme lassen die Frage nach der Reifung ihrer Leitfigur lange offen. Man kann dann beispielsweise sehen, daß ihrem öffentlichen Heroismus eine Schwäche im Privaten gegenübersteht. Eine solche Konstellation erhöht die Aufmerksamkeit des Zuschauers, weil er in Zusammenhänge eingeweiht wird, über die er in der Regel keine Kenntnis verfügt. In diesen Fällen wird dem Protagonisten die Chance gegeben, innerhalb seiner privaten Sphäre zu reifen.
94 So Li Mu Bai (Chow Yan-Fat) kurz vor seinem Tod in „Tiger&Dragon“ (Taiwan 2000; R.: Lee).
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Indem der Film zeigt, wie andere Personen ihre Fähigkeiten entfalten, fördert er unsere Bereitschaft, im realen Leben die Augen nicht vor Entwicklungsmöglichkeiten zu verschließen. Melancholisch formuliert Andreas Dresen (2006), daß Filmbilder ihrem Zuschauer anbieten, „nicht so einsam in seiner Existenz zu sein“ (54). Den Bedürfnissen der meisten Kinogänger nach Entwicklung und Veränderung ist genüge getan, wenn der Film ihre Phantasien sowie ihre jeder Lebensphase innewohnende Lebensangst aufnimmt, und ihnen einen Wachstumsstimulus bietet, der ihren Weg in den Film vorantreibt. Für den Zuschauer ist der Glaube, die Story werde gut verlaufen, unverzichtbar. Manchmal täuscht dieser Glaube allerdings: Plötzlich steht beispielsweise nicht der erwartete Retter, sondern der Mörder vor der Haustür. Jeder empfehlenswerte Film leistet wertvolle Arbeit, die uns zugute kommt. Indem seine Handlung nach vorne strebt, liefert er visuelles Übungsmaterial für die Reifeprüfung Leben. Was in einer realen Biographie das Ergebnis vieler kleiner Schritte ist, faßt die filmische Geschichte in einer Abfolge bedeutsamer Ereignisse komprimiert zusammen. Freilich werden damit Kausalitäten der Entwicklungen suggeriert, die das reale Leben so nicht kennt. Denn jeder Film reduziert die Vielschichtigkeit menschlicher Wachstumsdynamik auf wenige Parameter. Das geringe Aufgebot an Kausalitätslinien dient der Überschaubarkeit oder, wie man heute sagen würde, der Komplexitätsreduktion: Die Aufnahmefähigkeit des Kinogängers soll nicht überfrachtet werden. Und so, wie sich die Figur in der Filmerzählung entwickelt, verwandeln wir uns als Zuschauer in ihr. Kein Medium konzentriert sich so intensiv und dicht wie der Spielfilm auf die Illustration des Voranschreitens von Entwicklung. Auch am Ende dieses Abschnitts sei der Leser zur Reflexion über seine Biographie ermuntert, die ihn seinen Weg in den Film womöglich besser verstehen läßt: Welche Lebensstationen bezeugen das persönliche Wachstum im eigenen Lebenslauf? Wie könnten sie sich in einem „Storyboard“ abbilden lassen? Sinnvoll ist eine solche Rückerinnerung deshalb, weil nicht alle Bewährungsproben unseres Lebens fotografisch festgehalten sind wie etwa die ersten Schritte des Kleinkindes, der erste Schultag oder die Hochzeit. Ein solches imaginäres „Fotoalbum“ unseres graduellen Kompetenzzuwachses könnte zeigen, daß wir, wie die Figuren, die wir im Film bestaunen, selbst als reale Helden einige Widrigkeiten des Lebens bisher bereits überstanden haben.
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Abb. 65: „Als eine Stimme in russischer Sprache etwas aus dem Gefängnishof ruft, eilen die Insassinnen zum Fenster ihrer Zelle, in das starkes Licht einfällt. Ich glaube, daß die Frauen nun befreit werden“ (Rosa Luxemburg, D 1985, R.: Margarete von Trotta, 00:03:26).
Abb.: 66: „Als die Mädchen, von links in das Bild kommend, in den Bühlsee laufen und vergnügt ins kühlende Wasser springen und den Widerstand der Wellen brechen, glaube ich, daß diese Geschichte einen guten Verlauf nehmen wird, weil diese Mädchen alle Schwierigkeiten meistern können“ (Das doppelte Lottchen, D 1951, R.: Josef von Báky, 00:03:12).
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Das Spektrum der Bedürfnisse („Offenheit“) „Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der das Interesse des Zuschauers am weiteren Verlauf der Handlungen erweckt.“ Eine Geschichte mit ihren Bildern wirkt auf den Zuschauer besonders interessant, wenn er glauben kann, daß sie gut verläuft. Will sich der Kinogänger dem Film öffnen, so hilft es ihm, wenn er Vertrauen hat. * * * Erfolgsfilme investieren viel Kunstfertigkeit, um die Bedürfnisstruktur des Zuschauers an sich zu ziehen und ihn in sein Bildergeschehen zu integrieren, so daß er sich in ihm wiederfindet und dem Verlauf der Geschichte mit Interesse folgt. Damit dies gelingt, sind die filmischen Symbolträger so anzulegen, daß sie jene Aspekte im Selbst des Kinogängers ansprechen, die ungelebt im Schatten seines Alltags verborgen bleiben und darauf warten, im Lichtspielhaus auf der Leinwand gesehen zu werden95. Für die kompensatorische Inszenierung von filmischen Symbolträgern liefert der Alltag reichlich Anlaß, denn er setzt dem „Feld der Möglichkeiten“ unausweichlich Grenzen, weil jede Gesellschaft die ursprünglich unbegrenzten Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder in Berufen formiert und einbindet. Letztlich gebieten es auch die Moral und das Gesetz, eine ganze Reihe von Handlungen für ein sittliches bzw. geordnetes Sozialleben normengerecht auszuführen. Hier nun bietet das Kino viel mehr Freiheit: Nicht ausgelebte Potentiale werden auf viele fiktive Figuren, Handlungen und Ereignisse verteilt mit der Folge, daß das Erleben des Zuschauers sich vervielfältigt und ausweitet96. Indem unser fragmentiertes Selbst im Spielfilm vorübergehend eine neue Heimat findet, nimmt das Bildgeschehen der Leinwand seine Bedürfnisstruktur in die Arme. Je mehr Bedeutung die Figuren und Geschehnisse im Verlauf des Films gewinnen, desto mehr wird die Geschichte für den Zuschauer eine persönliche. Was filmseits tech-
95 Hierfür sind die filmischen Einstellungen der Symbolperspektive („Ort”, „Licht”, „Sprache”, „Selbstbilder” und „Musik”) prädestiniert. 96 Vgl. den entsprechenden Abschnitt im zweiten Kapitel.
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nisch durchdacht eingesetzt wird, führt den Kinogänger dazu, sich spontan den Symbolträgern zu öffnen. Die schöpferische Gestaltung eines Films fügt wie eine musikalische Partitur verschiedenartige Strömungen nach dem Gesetz von Maß und Harmonie zusammen. In der cinematographischen Kunst hilft das Vertrauen, die Geschichte könne gut verlaufen, unangenehme und spannungsreiche Phasen zu ertragen; und das ist so ähnlich, wie wenn sich in der Musik die Dissonanzen in einer angenehmen und leichten melodischen Bewegung auflösen. Auch unser Alltag ist von dem Spiel der Dissonanzen und Harmonien bestimmt. Als Träger sozialer Rollen haben wir Gegenspieler, die mit divergierenden Interessen unser Tun durchkreuzen. Die Tiefenpsychologie lehrt uns, daß Wünsche sich in Ängste transformieren können, wenn sie sehr intensiv sind und wenn zugleich Versagen oder Versagung droht. Wer nun in einen Film geht, verlagert diese dialektische Dynamik von Wunsch und Angst auf die Vielfalt der auf der Leinwand erscheinenden Figuren und Phänomene. So besteht die Kunst des Drehbuchs darin, die Phantasiewelt des Rezipienten mit einer Vielfalt fiktiver Ichs zu attachieren und diese stellvertretend miteinander spielen, konkurrieren, sich trennen und wieder vereinigen zu lassen. Dadurch ergibt sich für den Zuschauer die attraktive, dem Kontrollverlust ähnliche Situation97, daß sein Selbst, für ihn unbemerkt, auf die Träger der Filmrollen übertragen wird. Der permanente Wechsel der Gefühle wie wir ihn ihm Kino erleben, entsteht daraus, daß wir einerseits die Sache der positiven Helden vertreten, andererseits aber immer auch uneingestanden danach verlangen, dem Gegenspieler „die Hand zu geben“. Ein gutes Drehbuch spiegelt die Wahrheit, die wir im Alltag zumeist verleugnen: daß der Kampf mit dem Gegner eigentlich dem Ziel dient, von unserem Wunsch abzulenken, mit ihm Freund zu sein. Die Absicht der Verteidigung des Helden und die Ausgrenzung oder Vernichtung des Widersachers ist daher lediglich ein Oberflächenphänomen; tief innen zieht es uns eben auch immer zum „Widersacher“ hin. Und der Energieauf-
97 Für den Alltag heben die Kognitionspsychologen I. u. H.- R. Lückert (1994) die Tatsache hervor, daß wir im Alltag das Bedürfnis haben, Autonomie aufrechtzuerhalten: „Der Mensch erlebt Kontrolle über Umwelt und sich selbst als positiv; er möchte die Welt und sich selber als geordnet und vorhersagbar erleben und sich nicht als Spielball zufälliger Antriebe und Ereignisse sehen“ (159); S. auch Wuss (2005: 215).
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wand, der erforderlich ist, um unsere unbewußte Zuneigung zum „Bösen“ abzuwehren, hält uns im Alltag permanent beschäftigt und zieht uns kräftig in den Film, wo wir die Freiheit haben, auch unseren illegitimen Wünschen gefahrlos Erfüllung zu gewähren. Die Lizenz für die – in dieser sinnlich-bildhaften Intensität eigentlich nur im Kino zugängliche – Erfahrung, bewußte und unbewußte Teile seines Ichs auf externe Rollenträger zu übertragen, bezahlt der Zuschauer mit dem Lösen der Eintrittskarte an der Kasse. Er schließt damit einen Vertrag ab, der ihn allerdings zugleich den Absichten des Filmemachers ausliefert, wie der holländische Medienwissenschaftler Ed Tan (1994) herausstellt: „A kind of pragmatic contract may be thought to underline the control of what viewers see in the cinema. Generally speaking, the viewers have no say in the control the film exerts on what they see and when and how they see it. Film makers have a tremendous freedom in deciding for the viewers what they are to see. At the same time, they have to obey certain constraints, namely the accepted logic of storytelling by means of film. The contract ensures that, in the end, the viewers get what they want, although not always at the points, at which it is expected“ (15).
Der Kunde ist König, insofern der Zuschauer entscheidet, mit welchem Film er das Reich seiner Phantasien erweitern möchte. Sobald er aber einmal den Kinosaal betreten hat, sind seiner Souveränität Grenzen gesetzt. Doch ist auch die Verfügungsgewalt der Filmproduzenten und Filmemacher über den Erfolg ihres Produkts nicht unbegrenzt: Weder läßt sich von vorneherein mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob und wieweit es gelingen wird, die Phantasie des Zuschauers zu fesseln, noch lassen sich die Chancen am Markt sicher kalkulieren. Um das Risiko zu minimieren, wird – mit steigender Tendenz – ein beträchtlicher Teil der Gesamtkosten für die Werbung eines Films eingesetzt. Der Titel des Films wie auch seine Bewerbung beabsichtigen, den potentiellen Kunden so neugierig zu machen, daß sich seine Phantasie schon im zeitlichen Vorfeld des Films zu ihm hinbewegt. Die Geschichte des Films öffnet sich daher seinem Zuschauer plakativ oder akustisch mittels diversester Werbetrailer. Unabhängig davon, ob man dem Mainstream-Film mit Sympathie oder mit kritischer Skepsis begegnet, läßt sich sagen, daß er, um ein
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Massenpublikum zu erreichen, nicht darauf verzichten kann, allgemeinmenschliche Primärbedürfnisse anzusprechen. A. Kluge (1999): „Manchmal kann man sagen: der Film verkehrt mit dem Es direkt“ (90). Zu einem Kulturprodukt im eigentlichen Sinne wird der Film jedoch erst dann, wenn er sich nicht in der Evokation bzw. der Befriedigung sogenannter niederer Bedürfnisse erschöpft, sondern die menschliche Wirklichkeit in all ihren ,tieferen‘ wie ,höheren‘ Dimensionen auslotet. Dann nämlich weitet sich das Bedürfnisspektrum der filmischen Symbolträger und damit zugleich das des Kinogängers. Für diesen nimmt der Weg in den Film mit zunehmender Tiefe größere Offenheit an.
Abb. 67: „Dorothy Gale (Judy Garland) balanciert auf dem Zaun des Schweinestalls. Ich frage mich, ob sie herunterstürzen wird“ (Der Zauberer von Oz, USA 1939, R.: Victor Fleming, 00:03:54).
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Abb. 68: „Als die Polizisten Anna Koljaiczek (Tina Engel) umkreisen, um nach einem Flüchtling zu suchen, der sich unter ihren vier Röcken versteckt hat, bin ich gespannt, ob sie ihn entdecken werden“ (Die Blechtrommel, D 1979, R.: Volker Schlöndorff, 00:03:28).
Bildgiganten als Hüter des Schlafs („Gerechtigkeit“) „Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der dem Zuschauer den Handlungsverlauf als gerecht erscheinen läßt.“ Wenn sich der Zuschauer zuvor für die Geschichte geöffnet hat, ist er besser imstande, den Handlungsverlauf unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit anzusehen. * * * Das Kino als eine „kommunikative, ästhetische und gesellschaftliche Tatsache“ (Hartmann, Wulff 2002: 204) ist eine Institution, die dem Zweck der Unterhaltung und/oder Bildung der Mitglieder einer Gesellschaft dient. Die Besucher können nicht umhin, das Verhalten der Figuren als ethisch-moralisch zu qualifizieren, wobei die eigene „sittliche“ Prädisposition üblicherweise entscheidender ist als das Leinwandgeschehen selbst. H. J. Wulff (2003) stellt fest: „Es ist deutlich, daß die moralischen Dimensionen der empathischen Prozesse stärker von den Einstellungen und Haltungen beeinflußt sind, welche die Zuschauer in die Rezeption einbringen, als allein durch die textuelle Organisation des Werteraums“ (139).
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Das Normensystem des Kinogängers wird durch die Geschichte entweder bestätigt, verunsichert oder verwirrt: „It is often the case that films shape our ethical responses to them in a way that diverges from our everyday moral judgements“, schreibt der amerikanische Philosoph No1l Carroll (1999: 45). Der Spielfilm versetzt den Zuschauer in einen Zustand von Spannung und Öffnung; und der Wechsel vom einen zum anderen wird durch die Dramaturgie der Handlungsabfolge rhythmisiert und in ein Gesamtkonzept gebracht. Die Produzenten des Films legen aus verständlichen Gründen Wert darauf, daß die Auftragsarbeit den moralischen Ansprüchen des Durchschnitts nicht allzusehr zuwiderläuft. Als kommerzielles Produkt muß der Film ,in Ordnung‘, d.h. dem Sittlichkeitsniveau der Gesellschaft in etwa angepaßt sein. Im Kosmos der Szenen artikulieren sich moralische Werte oft am Anfang der Geschichte, verbunden mit einem zentralen Ereignis. Es dient als Ausrufezeichen, auf das sämtliche Figuren im weiteren Verlauf Bezug nehmen. Sie leuchten Varianten normativer Einstellungen aus und initiieren eine Bewegung im Kontext des Spielfilms sowie im Bewertungssystem des Zuschauers. Hier in der Anlage des Drehbuchs, dort im Kopf des Kinogängers, changieren sie zwischen den Polen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Nicht selten unterliegen moralische Qualitäten einem morphologischen Wandel: Das Gute wird zum Bösen, das Böse wird erotisch, und beide werden zu Geschwistern, die einander brauchen. Die „naivste Form des Dramas, die Bestrafung des Bösewichts durch den Tod“ (Arnheim 1977: 135), ist selten. Die Empfindungen des Zuschauers werden transferiert und moduliert, während er Freude empfindet, wenn die Fiktion des Films die sittlichen Unstimmigkeiten seines Alltagslebens ins Bild setzt und dann neu harmonisiert. Dieses inszenierte Spiel mit seinen Werten kann ebenso seine Nerven reizen wie beruhigen. Die Figuren fungieren als Träger von Werten unabhängig davon, ob sie Sittlichkeit affirmieren oder negieren. Im Zustand der Filmwahrnehmung gibt der Zuschauer seine üblichen Empfindungen von Gerechtigkeit auf, weil sich, wie wir im vorherigen Abschnitt sahen, sein Ich vervielfacht. In welche Nähe zum ,Guten‘ dabei das ,Böse‘ dramaturgisch gerückt werden darf, ist eine Frage des Feingefühls, der kompositorischen Bildgestaltung sowie gelegentlich des wirtschaftlichen Kalküls; denn Filme können auch durch Provokation viel Geld einspielen. In der Regel bestätigen Mainstream-
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Filme am Ende vorhandene Werte, und auf dem Weg dorthin durchläuft der Zuschauer einen Prozeß der Katharsis: Was zuvor für ihn gerecht war, wird es nicht lange bleiben, und es wird sich sogar – wie es scheint – in Unrecht wandeln, bis das Gerechte wieder in seiner Klarheit und Reinheit auftritt und schließlich über das Böse siegt. Moralische Fragen betreffen den Zuschauer schon deshalb, weil sein Alltag ihn vor die Notwendigkeit einer hinreichenden, ihn begrenzenden wie schützenden Ordnung stellt. Deshalb kommt keine Geschichte umhin, mitgebrachte Ordnungserwartungen zu irritieren, ohne zu riskieren, langweilig zu werden: Vor allem die Laster der Menschen, menschliches oder technisches Versagen sowie Naturkatastrophen sind geeignete Mittel zur vorübergehenden Destabilisierung unserer Alltagsruhe. N. Carroll (1996) vertritt mit Blick auf die Spannungsregulation des Films die Auffassung, „that suspense occurs when a moral outcome is improbable and, conversely, that suspense does not occur when an immoral outcome is improbable“ (111). Nur dann also, wenn der Zuschauer nicht sicher sein kann, daß seine moralischen Hoffnungen erfüllt werden, ist der Filmverlauf spannend. Wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt, daß das Ende der Geschichte gegen seine moralische Wunschvorstellung verstößt, kann ihm das eine schlaflose Nacht einbringen. Ein Film kann die Verletzung sittlicher Werte mit Erotik legitimieren. Die Lichtgebung kann den Schrecken einer Vergewaltigung in den Schatten stellen. Die Beleuchtung kann unverfroren das moralisch Helle in die Düsternis verbannen. Die Möglichkeiten, das Gute wie das Böse je nach Absicht auszuleuchten, sind auch in der Sprache vielfältig: Beispielsweise kann eine gezeigte Gewalttat wie der Schlag ins Genick einer Figur mit den Worten des Schlägers kommentiert werden: „Ruhe selig. Du warst eh eine Schlafmütze!“ Solche sprachlich inszenierten Lustigkeiten können das Bewertungssystem korrumpieren. Gelegentlich kann Sprache aber auch Verwirrung oder Empörung hervorrufen, wenn etwa ein schöner Mensch häßliche Dinge sagt, oder wenn eine sexuell attraktive Person, gezeigt in Großaufnahme, sich unsittlich äußert. Filme können diesen Brennstoff im Haushalt der menschlichen Seele zünden, weil er im „Feld der Möglichkeiten“ existiert, und sie können die Schaulust des Publikums auch mit solchen Bildern befriedigen, deren Kraft die lebensweltlich eingeengten Sehgewohnheiten destruieren.
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Das Gerechtigkeitsempfinden des Zuschauers ist selten stabil, denn es orientiert sich an den auf der Leinwand handelnden Personen. Indem er sich seinen Helden sucht, wird der Kinogänger bereit sein, die Ethik der Geschichte aus dessen Perspektive zu bewerten. Damit hat sich seine Moral in die eines besonderen, auf der Leinwand unbesiegbaren Menschen verwandelt, was der Rechtmäßigkeit der Handlungen des Filmhelden eine gewisse Unantastbarkeit verleiht. Filme stabilisieren letztlich solche Werte, die menschliches Handeln erfolgreich werden lassen, zeigen aber auch, wie verführbar wir sind. Wer hat sich noch nie gefreut, das ,Böse‘ siegen zu sehen?98 Filmische Geschichten stellen das ,Böse‘ zumeist in unsympathischen Figuren dar. Indem wir diesen Leinwandgestalten in die Augen schauen, nehmen wir vielschichtige Zusammenhänge personifiziert und somit immer auch simplifiziert wahr. Folglich kann dieses Muster der Komplexitätsreduktion oftmals der Mehrdimensionalität der Ereignisse nicht gerecht werden. Der Kinogänger läßt sich eine Zeitlang auf das Spiel mit seinen Werten ein, aber er möchte diese am Ende dann doch bestätigt sehen. Jede Geschichte hat daher zumindest einen Ordnungshüter, der die Sache der gesellschaftlichen Moral schließlich erfolgreich erledigt und den Zuschauer vor einer schlaflosen Nacht bewahrt. Steht diese Kraft des sittlichen Gesetzes im Film auch einsam da, so stärkt ihm der Kinogänger doch meistens den Rücken; so klassischerweise in „High Noon“. Die Geschichte braucht ihr moralisch vertretbares Ende, weil nur dieses die gegensätzlichen Bestrebungen in der Bedürfnisstruktur des Kinogängers versöhnt. Während wir uns im Alltag oft über Tage, manchmal Wochen, selten sogar über Jahre mit einer ungerechten Sache herumplagen, die uns noch bis in die Nacht verfolgt, hat sie der Film mit allen Mitteln der Kunst in zwei Stunden für uns erledigt. Der Weg in den Film wird mit der filmischen Einstellung „Gerechtigkeit“ von einer nicht zu unterschätzenden Kraft vorangetrieben, gerade weil wir wissen, daß das reale Leben – in seinen ungerechten Momenten ein Monstrum – gnadenlos um sich greifen kann. Wie anfällig und schwach aber die filmische Fiktion eines gerechten Leben letztlich ist, dessen wird derjenige inne, der einmal den Abbruch eines
98 So können geistreich durchgeführte Bankeinbrüche für einen Zuschauer auch einen Genuß darstellen und in seinen Augen Respekt und Achtung verdienen.
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Lichtspielhauses gesehen hat. Heute erhalten Großraumkinos die Fiktion der letztlich siegreichen Gerechtigkeit aufrecht. Mit ihren übergroßen Leinwänden sind sie als Bildgiganten99 zu Hütern unseres Schlafs geworden.
Abb. 69: „Als der Schüler Walter Forst (Michael Hinz) vom Fenster des Klassenzimmers aus seine Mutter in einem Wagen sitzen sieht und dann aus der Schule stürzt, um sich von ihr zu verabschieden, macht mir das die Enge menschlicher Beziehungen auch in Kriegszeiten deutlich. Ich halte sie gerade in diesen Notzeiten für gerechtfertigt und den laufenden Schüler für den Symbolträger von Menschlichkeit“ (Die Brücke, D 1959, R.: Bernhard Wicki, 00:08:30).
99 Guattari (1975) formuliert: „Das Kino ist eine gigantische Maschine zur Modellierung der gesellschaftlichen Libido geworden [...]“ (83).
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Abb. 70: „Don Lockwood (Gene Kelly) wird aufgefordert, über sein Leben zu sprechen, zögert erst, gibt aber dann dem Wunsch seiner laut schreienden Fans nach und erzählt. Das halte ich für gerechtfertigt, weil diesem Star soviel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird und das Publikum doch einen berechtigten Anspruch auf seine Erzählung hat“ (Singin’in the rain, USA 1952, R.: Stanley Donen, Gene Kelly, 00:04:15).
Die temporäre Aufhebung der Fragmentiertheit („Liebe“) „Während einer Bildsequenz erscheint ein Symbolträger, der dem Zuschauer Glück im Handlungsverlauf empfinden läßt.“ Glück wird vom Zuschauer dann stärker erlebt, wenn er zuvor den Verlauf der Geschichte als gerecht bewertet hat. Denn dieses Urteil ist Ausdruck eines Wunsches nach Ordnung, deren Vorhandensein als Glück empfunden wird. * * * Es ist eines der Hauptziele der Filmemacher, den Zuschauer in ihre Bildwerke hineinzuziehen, indem sie zeigen, wie vielgestaltig das Le-
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ben sein kann. Das illusionäre Kunstwerk soll die Tiefenschichten des Kinogängers berühren, und die Montage der Bildfragmente aus dem „Feld der Möglichkeiten“ ist der Königsweg dorthin. Die tiefste Stelle der filmischen Illusionsbildung ist das Glück des Kinogängers, für einige Augenblicke seine fragmentarische Verfaßtheit aufgehoben zu wähnen. Kein anderes Gefühl als dieser Höhepunkt der Vereinigung kann der Film wirkungsvoller im Innenleben des Zuschauers hervorrufen. Glück ist für den Kinogänger jene Kraft, die sein Selbst-Erleben am intensivsten zentriert und zugleich am stärksten nach außen hin öffnet. „Bezeichnenderweise hat man Hollywood eine ,Traumfabrik‘ genannt“, schreibt S. Krakauer (1964), und fährt fort: „Da die meisten Spielfilme für den Massenverbrauch produziert werden, sind wir in der Tat zur Annahme berechtigt, es bestehe eine Beziehung zwischen ihren Stories und gewissen Wunschträumen, wie sie das breite Publikum zu nähren scheint“ (222-223). Mehr noch als ,Wunschträume‘ ist die Suche des Zuschauers nach Glück allen Menschen in der Tiefe ihrer Seele gemeinsam. Der Traum vom Glück will eine zumindest kurzzeitige Vereinigung mit dem Dasein, und eine solche Vereinigung darf man wohl mit einigem Recht erfüllte Liebe nennen, weil das Glück der Liebe der Zustand der Vereinigung des Getrennten, Fragmentierten ist. Die Glückserfahrung des Zuschauers im Kino ist der stärkste Zugfaktor für seinen Weg in den Film. Die Dramaturgie bereitet sie vor und plaziert sie meist ans Ende der Geschichte, wo sich der Held gegen seine Widersacher und alle Widrigkeiten durchsetzt, nachdem alle Wege zu seinem Glück vergeblich und aussichtslos erschienen. So wird der Kinogänger in die Position gebracht, das, was er sich am meisten für den Protagonisten wünscht, zunächst für das Unerreichbare zu halten, bis es ihm dann doch gegeben wird. Die Flut visualisierter leib-seelischer, durch Großaufnahmen initiierter Bewegungen in einem Spielfilm bringt es mit sich, daß der Kinogänger während des Films vielfältiges Bildmaterial aus seinem inneren Reservoir zur Stillung seines Durstes nach Glück schöpfen kann. Der Zuschauer bringt ja seinen eigenen Fundus einer Bilderbiographie mit sich ins Kino; und dieser Fundus wird von den Bildern der Leinwand bereichert, die sich mit solchen vereinen, in denen unser Bedürfnis nach Wunscherfüllung wohnt.
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In Spielfilmen tritt ein Glücksempfinden dann auf, wenn der Kinogänger bejahend auf die Moral reagiert, die der Film in seiner Geschichte etablieren möchte. Dabei handelt es sich zumeist um dem Übergang von einer alten zu einer neuen Ordnung oder um die Überwindung bzw. die Beseitigung von Situationen, welche die bestehende Ordnung existentiell bedrohen. Wir können glücklich sein, wenn beispielsweise eine Diebesgruppe in F. Langs Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (D 1931) dem Kindesmörder, der eine Großstadt in Aufruhr versetzt, den Prozeß machen will. Das Glück im Film hat mit dem Glück des Alltags eine Gemeinsamkeit: Es tritt auf, wenn der Verlauf von Wunsch, Versagung und schließlicher Erfüllung einen moralisch akzeptablen Rahmen gefunden hat: Motiv, Hindernis und Erfolg sind Garanten für die Erfahrung von Sinn und Fortgang in der Fiktion wie im realen Leben. Die Filmdramaturgie entwickelt hierfür Szenarien, die den Zuschauer nach allerlei Irrungen und Wirrungen auf unerwartete Weise zum guten Ende der Geschichte führen. Dennoch: Das Glück im Alltag ist die Liebe, und die Fiktion des Films kann dieses nur für begrenzte Zeit schenken. Während die Gefühle der Leinwand fiktiv sind und magisch, weil sie sich stärker und größer als das Leben zeigen, weiß der Kinogänger vor und nach der Vorführung, daß die Liebe zweier Protagonisten auf der Leinwand nur ein Spiel ist. Er weiß, daß seine Suche nach Glück am Ort der Illusionen im gewissen Sinne naiv, wenngleich verständlich ist: Der Alltag bietet nun einmal nicht genügend Glückserfahrungen an. Der Weg des Zuschauers in den Film endet, wenn er im Augenblick des Glücks das im Alltag so oft Unmögliche erlebt: Seine Fragmentiertheit, die ihn durch sein Leben begleitet und ins Kino geführt hat, ist für einen seligen Moment aufgehoben.
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Abb. 71: „Dr. Heywood Floyd (William Silvester) berührt den Monolithen ohne Schaden zu nehmen, worüber ich glücklich bin. An meiner Empfindung ändert auch die schaurige Musik nichts“ (2001: Odyssee im Weltraum, USA 1968, R.: Stanley Kubrick, 00:51:28).
Abb. 72: „Der Tramp (Charly Chaplin) und das Blumenmädchen (Virginia Cherrill) wenden sich einander mit liebevoller Aufmerksamkeit zu“ (Lichter der Großstadt, USA 1931, R.: Chaplin, 00:07:07).
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Anhang
E RGEBNISSE
ZU DEN
F ILMLISTEN
Liste 1: The American Film Institute
Abb. 73: Vorkommen filmischer Einstellungen Die Tabelle listet links die von mir analysierten Filme der ersten Liste auf. Die Häkchen zeigen an, welche der 25 Einstellungen im Film registriert werden konnten. Die Kreuzchen markieren nicht beobachtete
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Einstellungen. Es ist zu sehen, daß in allen Filmen dieser amerikanischen Liste die weitaus überwiegende Mehrzahl der filmischen Einstellungen beobachtet werden konnte. Auffallend ist, daß die Einstellung „Kreisbewegung“ am häufigsten von allen nicht vorkommt (insgesamt elfmal). Mehr als zwei „Fehlmeldungen“ gibt es u.a. auch für „Zielstrebige Bewegung“ (7), und „Positionsänderungen“ (5).
Abb. 74: Durchschnittliche Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren In dieser Graphik wird veranschaulicht, in welcher Reihenfolge die filmischen Einstellungen in den Filmen der Liste des Amerikanischen Filminstituts auftreten: zuerst die „Figurenbeobachtung“, gefolgt von „Musik“ und am Ende der Reihenfolge die – insgesamt seltene – „Kreisbewegung“, die aber zeitlich vor der letzten Einstellung („Geschehen“) liegt. Wie schon beim Beispielfilm „Citizen Kane“ ist beim Betrachten dieser Liste auffällig, daß sich die Einstellungen der Verlaufsperspektive (schwarze Balken) zum Ende der Rangplätze hin ballen. Allerdings befindet sich die „Offenheit“ hier schon auf dem achten Rangplatz.
A NHANG
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Abb. 75: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens
Die Graphik verbildlicht die zeitlichen Verhältnisse, in denen die filmischen Einstellungen erstmals registriert wurden. Dabei sind die einzelnen Einstellungen horizontal auf der x-Achse in der ursprünglichen Reihenfolge meines Konzeptes präsentiert und gemäß der zugehörigen Perspektive markiert (Raumperspektive weiß, Körperperspektive längsgestreift, Ereignisperspektive grau, Symbolperspektive quergestreift und Verlaufsperspektive schwarz). 14 der 25 filmischen Einstellungen, also weit mehr als die Hälfte, wurden innerhalb der ersten zehn Minuten gefunden. Bemerkenswert ist auch, daß in dieser Zeitspanne nur von der Symbolperspektive alle fünf filmischen Einstellungen enthalten sind. Weiterhin ist zu vermerken, daß die „Kreisbewegung“ erst nach über einer Stunde Laufzeit auftritt, während die Einstellungen „Zielstrebige Bewegung“ und „Aura“ weit hinter dem dritten Intervall auftauchen, nämlich durchschnittlich erst nach der 20. Minute der Laufzeit.
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Abb. 76: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens in den Zeitintervallen
Hier zeigt sich, daß 12 Prozent der filmischen Einstellungen der amerikanischen Liste bereits im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) gesichtet wurden, 44 Prozent im zweiten (6. bis 10. Min.) und 16 Prozent im dritten Intervall (11. bis 15. Min.). 28 Prozent der filmischen Einstellungen liegen außerhalb der ersten 15-Minuten Filmminuten, was bedeutet, daß immerhin 72 Prozent innerhalb der ersten viertel Stunde registriert wurden. Im Spiegel dieser Beobachtungen wird erst recht die besondere Bedeutung des Beispielfilms „Citizen Kane“ erkennbar, der in den ersten fünf Minuten schon 80 Prozent der filmischen Einstellungen zeigt. Aber es wird auch deutlich, daß die hier betrachtete Liste im Durchschnitt die meisten Einstellungen nicht im ersten oder dritten, sondern in der Mitte: von der 6. bis zur 10. Minute, zeigt. Merken wir uns: ¾ der Einstellungen werden in den ersten 15 Minuten und ¼ danach gezeigt.
A NHANG
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Abb. 77: Zeitintervalle und durchschnittliche Wirkfaktoren-Größe
Die Graphik hebt hervor, wann, d.h. in welchem Intervall der Film durch seine Einstellungen welche Wirksamkeit entfaltet. Wie schon vermerkt1, wurde dazu die Summe der Wirkstufen gebildet. Wir sehen hier die durch die filmischen Einstellungen erzielte hohe Wirkkraft im zweiten Intervall, die mehr als dreimal höher als im ersten Intervall und mehr als doppelt so hoch ist wie im dritten. Der Punktwert von 18 fällt außerhalb der Drei-Intervall-Zeitspanne. Auch angesichts dieser Beobachtung ist „Citizen Kane“ als Vergleichsgröße zu beachten, insofern er in seinen ersten fünf Minuten mit der Punktzahl 58 fast dieselbe Wirkung entfaltet, wie die 15 Filme der Liste 1 im Durchschnitt erst im Laufe der ersten 15 Minuten Laufzeit (Punktzahl 57).
1
Vgl. Abschnitt „Auswertungsverfahren“, 5. Frage.
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Liste 2: Der Deutsche Filmpreis
Abb. 78: Vorkommen filmischer Einstellungen
Es ist zu sehen, daß in allen Filmen der zweiten (deutschen) Liste ebenso wie in der ersten (amerikanischen) die weitaus überwiegende Mehrzahl der filmischen Einstellungen beobachtet werden konnte. Auffallend ist, daß die Einstellung „Kreisbewegung“ wiederum am häufigsten (insgesamt sechsmal) nicht vorkommt, aber deutlich weniger häufiger fehlt als in der amerikanischen Liste (dort elfmal). Die „Zielstrebige Bewegung“ taucht nur etwas weniger als in der ersten Liste auf (dort siebenmal, hier sechsmal). An dritter Stelle der „Fehlmeldungen“ stehen hier nun aber nicht die „Positionsänderungen“ (fünfmal in der Liste des Amerikanischen Filminstituts, hier nur zweimal), sondern „Geschehen“ mit 4 Ausfällen.
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Abb. 79: Durchschnittliche Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren
Genau wie in der amerikanischen liegt in der deutschen Liste die filmische Einstellung „Figurenbeobachtung“ an der ersten Stelle der Reihenfolge des Auftretens. Es folgt hier jedoch nicht wie dort „Musik“ sondern, sondern „Augen“. Am Ende des erstmaligen Vorkommens steht aber erneut die „Kreisbewegung“, der hier indes nicht „Geschehen“ (amerikanische Liste), sondern „Aura“ vorangeht. Ebenso wie in dem Beispielfilm „Das doppelte Lottchen“ ist bemerkenswert, daß sich die Einstellungen der Verlaufsperspektive (schwarze Balken) zum Ende der Rang-plätze hin konzentrieren. „Offenheit“ auf dem zwölften – chronologischen – Rangplatz ist hier näher an die anderen Einstellungen der Verlaufsperspektive gerückt als in Liste der amerikanischen Liste, wo sie auf dem achten Rangplatz stand.
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Abb. 80: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens In dieser Graphik kann man sehen, daß sogar 16 der 25 filmischen Einstellungen innerhalb der ersten zehn Minuten auftraten. Das sind zwei mehr als in der Liste des Amerikanischen Filminstituts (dort 14). Wieder sind es wie in der amerikanischen Liste alle fünf Einstellungen der Symbolperspektive, die in dieser Zeitspanne identifiziert wurden. Auffallend ist des Weiteren, daß sich im Unterschied zur ersten Liste die Einstellungen der Körperperspektive und der Verlaufsperspektive näher an der 10 Minuten-Markierung sammeln. Das gemittelte Erstauftreten der „Kreisbewegung“ ist wiederum sehr spät (um die 60. Min.). Weitaus länger als bei den untersuchten amerikanischen Filmen hat man auf „Zielstrebige Bewegung“ zu warten, nämlich etwa 35 Minuten lang, und nicht nur etwa 20. War in der amerikanischen Liste „Aura“ an zweiter Stelle plaziert, so ist es in den ausgewählten deutschen Filmen die Einstellung „Spiel“ (um die 25. Minute). Schließlich tritt „Aura“ an dritter Stelle auf, und zwar auch wieder nach den ersten fünfzehn Filmminuten.
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Abb. 81: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens in den Zeitintervallen
In den ersten fünf Minuten (Intervall 1) konnten in den 15 Filmen der deutschen Liste durchschnittlich 44 Prozent aller filmischen Einstellungen registriert werden; das sind genau viermal mehr als in der amerikanischen Liste. Während es dort dann im zweiten Intervall 44 Prozent waren, sind es hier jedoch nur 16 Prozent. Es scheint, als hätten sich die Verhältnisse zwischen den Intervallen in der amerikanischen und der deutschen Liste umgekehrt: Hier wie dort sind es bemerkenswerterweise 16 Prozent der filmischen Einstellungen, und auch die übrigen, die erst nach den ersten 15 Filmminuten vorkamen oder im gesamten Film gar nicht auftraten (24 Prozent in der 2. Liste, 26 Prozent in der 1. Liste), sind vom prozentualen Anteil hier wie dort fast gleich. Für die deutsche Liste ist mithin zu resümieren: Etwa ¾ der Einstellungen werden in den ersten 15 Minuten und ¼ danach gezeigt. Vor diesem Hintergrund wird die Besonderheit des Beispielfilms „Das doppelte Lottchen“ augenfällig: Dort treten schon 84 Prozent der filmischen Einstellungen im ersten Intervall auf; in „Citizen Kane“ waren es ähnliche hohe 80 Prozent.
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Abb. 82: Zeitintervalle und durchschnittliche Wirkfaktoren-Größe
In der deutschen Liste wird während der ersten fünf Minuten ein fast viermal so hoher Punktwert für die Wirksamkeit erreicht wie in der Liste des amerikanischen Filminstituts (34 gegenüber 9). Ferner erreicht das zweite Intervall in der deutschen Liste den Punktwert von 14, während es in der amerikanischen den Wert von 33, also mehr als doppelt so viel ist. Der Punktwert ist in beiden Listen für das dritte Intervall nahezu gleich: 16 hier bzw. 15 dort. Der Punktwert von 11 fällt außerhalb der Drei-Intervall-Zeitspanne. Mit Blick auf den Beispielfilm „Das doppelte Lottchen“ kann gesagt werden, daß dieser Film mit 70 einen mehr als doppelt so hohen Punktwert erreicht wie die Liste 2, zu der er gehört. Dies kennzeichnet seine Besonderheit, die vergleichbar ist mit der des Films „Citizen Kane“ in Bezug auf die amerikanische Liste. Dieser Film übertraf mit einem Punktwert von 58 mehr als sechsmal den durchschnittlichen Punktwert von 9 seiner Liste.
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Liste 3: Empfehlungsliste für Filme (Fachbereich Medienwissenschaften der Universität Marburg)
Abb. 83: Vorkommen filmischer Einstellungen
Wie wir sehen können, konnte in den ausgewählten Filmen der dritten (Marburger) Liste ebenso wie in denen der Liste 1 und 2 die weitaus überwiegende Mehrzahl der filmischen Einstellungen gesichtet werden. Diesmal fehlt die Einstellung „Kreisbewegung“ neunmal, zweimal weniger als in der amerikanischen Liste und dreimal mehr als in der deutschen. Die „Zielstrebige Bewegung“ taucht sechsmal nicht auf, liegt damit im Durchschnitt der „Fehlmeldungen“ (bisher siebenmal und sechsmal) und rangiert so gleich mit „Aura“, die in der deutschen Liste auch sechsmal fehlt. An dritter Stelle der Ausfälle steht hier wie in der deutschen Liste „Geschehen“ mit 5 Notierungen.
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Abb. 84: Durchschnittliche Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren
Wie in Liste 1 und 2 liegt auch in der Marburger Liste die filmische Einstellung „Figurenbeobachtung“ an erster Stelle in der Reihenfolge des Auftretens. Es folgt sodann „Sprache“ und am Ende steht nun nicht (wie in Liste 2) „Kreisbewegung“, sondern „Zielstrebige Bewegung“, der hier erneut, wie in der amerikanischen Liste, „Geschehen“ vorangeht. Im Vergleich zum Beispielfilm „Nosferatu“ ist bemerkenswert, daß sich die Einstellungen der Verlaufsperspektive (schwarze Balken) beinahe gleichmäßig über den Zeitverlauf (chronologische Reihenfolge der Rangplätze) verteilen und sich nicht wie dort eher zur Mitte hin konzentrieren. „Offenheit“ steht in dieser Liste 3 weit vorne, nämlich auf dem dritten Rangplatz.
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Abb. 85: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens
Diese Graphik veranschaulicht, daß immerhin 18 der 25 filmischen Einstellungen innerhalb der ersten zehn Minuten auftraten. Das sind wiederum zwei mehr als in der deutschen Liste (dort 16) und vier mehr als in der Liste des Amerikanischen Filminstituts (dort 14). Diesmal sind es nicht nur, wie in den ersten beiden Listen, alle fünf Einstellungen der Symbolperspektive, die in dieser Zeitspanne identifiziert wurden, sondern auch zusätzlich alle fünf Einstellungen der Körperperspektive („Aura“, „Haut“, „Hände“, „Augen“ und „Mund“). Die „Kreisbewegung“ tritt (um die 50. Min) wiederum recht spät auf (Liste 1 und 2 jeweils um die 60. Min.). Ebenfalls vergleichsweise spät (um die 32. Min.) tritt „Geschehen“ auf wie auch „Positionsänderungen“ um die 28. Minute.
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Abb. 86: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens in den Zeitintervallen
In den ersten fünf Minuten (Intervall 1) konnten in den 12 Filmen der Marburger Liste durchschnittlich 48 Prozent aller filmischen Einstellungen registriert werden; das sind 2 Prozent mehr als in der deutschen Liste und etwa viermal mehr als in der amerikanischen. In der Marburger Liste sind es dann im zweiten Intervall 28 Prozent, d.h. drastisch weniger als in der amerikanischen Liste (dort 44), aber deutlich mehr als in der deutschen (dort 16 Prozent). Der Wert von 28 Prozent stellt sich im Blick auf die ersten drei Listen als durchschnittlich heraus. Die Marburger Liste verzeichnet allerdings nur 4 Prozent der filmischen Einstellungen für das dritte Intervall (11. bis 15. Minute) und ist damit in dieser Zeitspanne nur mit einem Viertel der filmischen Einstellungen gefüllt (bei den ersten beiden Listen zeigte das dritte Intervall diese Füllung auf). 20 Prozent der filmischen Einstellungen kommen in der hiesigen Liste nach den ersten 15 Minuten vor oder treten gar nicht auf. Insgesamt ist festzuhalten, daß das bisherige Ergebnis (etwa ¾ der Einstellungen werden in den ersten 15 Minuten und ¼ danach gezeigt) noch stärker zugunsten der ersten drei Zeitintervalle ausfällt, als in den vorherigen beiden Listen zu konstatieren war. Zuletzt wäre zu erwähnen, daß diese Graphik erneut die Besonderheit des Beispielfilms „Nosferatu“ unterstreicht: Mit 84 Prozent des Auftretens der filmischen Einstellungen während der ersten fünf Minu-
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ten liegt „Nosferatu“ weit über dem Durchschnitt dieser Liste so wie „Das doppelte Lottchen“ und „Citizen Kane“ in dieser Hinsicht weit über dem Durchschnitt ihrer jeweiligen Liste lagen.
Abb. 87: Zeitintervalle und durchschnittliche Wirkfaktoren-Größe
In der Marburger Liste wird in den ersten fünf Minuten mit 42 ein sechsmal so hoher Punktwert der Wirkfaktoren wie für die Filme der amerikanischen Filme erreicht, der in diesem Intervall erheblich höher ausfällt als in der deutschen Liste (34). Im Weiteren erreicht das zweite Intervall in der Marburger Liste den Punktwert von 17, also 3 Punkte mehr als in der deutschen Liste und ist damit nur fast halb so hoch wie in der amerikanischen (dort 33). Der Punktwert 5 in der obigen Graphik für das dritte Intervall entspricht nur einem Drittel der in den ersten beiden Listen (dort 15 bzw. 16) errechneten Summe der Wirkfaktoren. Mit Blick auf den Beispielfilm „Nosferatu“ läßt sich erkennen, daß dieser Film mit 84 einen doppelt so hohen Punktwert erreicht wie die Marburger Liste im Durchschnitt.
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Liste 4: „Cinemathek“ der Süddeutschen Zeitung
Abb. 88: Vorkommen filmischer Einstellungen
Hier können wir sehen, daß auch in allen ausgewählten Filmen der SZListe (ebenso wie es in den vorherigen Listen der Fall war) die weitaus überwiegende Mehrzahl der filmischen Einstellungen beobachtet werden konnte. Diesmal fehlt die – generell recht seltene – Einstellung „Kreisbewegung“ dreimal. Das ist vom Anteil her mit 40 Prozent ebensoviel, wie in der deutschen Liste an „Fehlmeldungen“ festzustellen war, aber deutlich weniger als in der amerikanischen und in der Marburger Liste. Ebenfalls fehlt die „Zielstrebige Bewegung“ dreimal, „Aura“, „Geschehen“ und „Spiel“ fehlen zweimal.
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Abb. 89: Durchschnittliche Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren In der SZ-Liste ist „Musik“ diejenige filmische Einstellung, die am frühesten zu beobachten gewesen war. Bei den anderen drei Listen war es „Figurenbeobachtung“. „Kreisbewegung“ tritt auch in dieser Liste sehr spät auf (vorletzte Stelle), an letzter Stelle „Aura“. Wie im Beispielfilm dieser Liste („Der Leopard“) verteilen sich die fünf Einstellungen der Verlaufsperspektive (schwarze Balken) sehr gleichmäßig. „Offenheit“ steht, ähnlich wie bei der Marburger Liste weit vorne. Dies unterscheidet diese beiden Listen von der amerikanischen und deutschen.
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Abb. 90: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens Hier wird für die vierte Liste veranschaulicht, daß 15 der 25 filmischen Einstellungen innerhalb der ersten zehn Minuten auftraten. Dieser Wert entspricht in etwa dem in den Listen 1, 2 und 3 festgestellten (14, 16 und 18). Anders als in den vorherigen Listen aber ist keine der Perspektiven vollständig im Zeitraum von der 1. bis zur 10. Minute vertreten, doch füllen – wie in der Marburger Liste – die Symbolperspektive und die Körperperspektive mit jeweils vier Einstellungen diesen Zeitraum. In dieser Liste nun tritt „Aura“ (52. Min.) zeitlich am spätesten auf, während es in den anderen Listen durchgängig „Kreisbewegung“ war.
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Abb. 91: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens in den Zeitintervallen
Die SZ-Liste mit ihren acht Filmen zeigt in den ersten fünf Minuten (Intervall 1) durchschnittlich 28 Prozent aller filmischen Einstellungen. Das sind 12 Prozent mehr als in Liste 1, aber 16 Prozent weniger als in Liste 2 und 18 Prozent weniger als in Liste 3. Mit einem Prozentwert von 32 ist das zweite Intervall der vierten Liste durchschnittlich besetzt. Das dritte Intervall der SZ-Liste hingegen mit 24 Prozent den Höchstwert aller Listen auf. Ebenfalls liegen die 16 Prozent nach der 15-Minuten-Markierung unter dem Durchschnitt, womit eine Abweichung von dem bisher beobachteten Verhältnis vorliegt (etwa ¾ der Einstellungen werden in den ersten 15 Minuten und ¼ danach gezeigt). Auch durch dieses Listenergebnis wird eine Besonderheit des Beispielfilms hervorgehoben: „Der Leopard“ erzielte im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) 52 Prozent seiner filmischen Einstellungen, also 24 Prozent mehr als die Filme seiner Liste, aus der er stammt.
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Abb. 92: Zeitintervalle und durchschnittliche Wirkfaktoren-Größe
In der SZ- Liste wird in den ersten fünf Minuten mit 26 ein Punktwert erreicht, der die bisherigen Listen in etwa mittelt: In den Listen 1, 2 und 3 waren es 9, 34 und 42 Punkte. Dieses mittlere Verhältnis wird auch im zweiten Intervall mit einem Punktwert von 23 erreicht. In der amerikanischen Liste waren es 33, in der deutschen 14 und in der Marburger Liste 17 Punkte. Allerdings sind die Verhältnisse für das dritte Intervall der SZ-Liste anders: Hier wird mit einem Punktwert von 19 ein Spitzenwert erreicht, der den von 15 (1. Liste), 16 (2. Liste) oder 5 (Marburger Liste) übersteigt. Mit Blick auf das zeitliche Auftreten der filmischen Einstellungen außerhalb der 15-MinutenMarkierung treten bei den Filmen der SZ-Liste nur 7 Prozent auf. Auch das ist eine Abweichung nach unten gegenüber den Filmen der Listen 1-3. Dort waren es 18, 11 und 9 Prozent.
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Gesamtliste
Abb. 93: Vorkommen filmischer Einstellungen Es läßt sich unschwer erkennen, daß in allen 50 Filmen die weitaus überwiegende Mehrzahl der filmischen Einstellungen registriert werden konnte. 11 Einstellungen kamen in allen 50 Filmen vor und erreichen somit in dieser Graphik einen Prozentwert von 100. Bemerkenswerte Abweichungen zeigen sich allerdings im Falle von „Kreisbewegung“ (ca. 40 Prozent), „Zielstrebige Bewegung“ (ca. 57 Prozent) sowie „Aura“ und „Geschehen“ (beide mit ca. 70 Prozent).
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Abb. 94: Vorkommen filmischer Einstellungen
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Wir sehen in der Gesamtliste, daß die überwiegende Mehrzahl der filmischen Einstellungen gesichtet werden konnte. Die Einstellung „Zielstrebige Bewegung“ fehlt jedoch zweiundzwanzigmal, „Kreisbewegung“ neunundzwanzigmal und „Geschehen“ fünfzehnmal.
Abb. 95: Durchschnittliche Reihenfolge der filmischen Einstellungen und ihre Wirkfaktoren
Die Graphik zeigt, daß die filmische Einstellung „Figurenbeobachtung“ (mit dem ihr eigenen Wirkfaktor 12) in den 50 analysierten Filmen durchschnittlich als erste der filmischen Einstellungen auftrat. Es folgt in der – chronologischen – Rangfolge „Musik“. An vorletzter Stelle steht „Aura“, gefolgt von „Kreisbewegung“. Vier der fünf Einstellungen der Symbolperspektive („Hoffnung“, „Glaube“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“) haben ihren festen Platz in der zweiten Hälfte der Reihenfolge gefunden (Platz 16, 18, 22 und 24). Der Blick auf die Graphik macht weiterhin deutlich, daß die Einstellungen der anderen Perspektiven sich zeitlich recht gleichmäßig verteilen. Etwas anders verhält es sich mit den Einstellungen der Körperperspektive: „Auge“, „Mund“ und „Hände“ stehen an 3., 4. und 5. Position.
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Abb. 96: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens In allen 50 Filmen traten durchschnittlich 16 der 25 Einstellungen in den ersten zehn Minuten auf. Die Symbolperspektive ist die einzige Perspektive, von der alle fünf Einstellungen („Ort“, „Licht“, „Sprache“, „Selbstbilder“ und „Musik“) in diesem Zeitraum liegen. Am deutlichsten überschreitet die Raumperspektive mit ihren Einstellungen „Zielstrebige Bewegung“ und „Kreisbewegung“ die 15-Minutengrenze. Von der Ereignisperspektive überschreiten „Geschehen“ und „Spiel“ das dritte Intervall.
Abb. 97: Filmische Einstellungen und durchschnittlicher Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens in den Zeitintervallen
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Die Gesamtliste bestätigt den bei der Betrachtung der vier Einzellisten gewonnenen Eindruck, daß sich ca. 75 Prozent aller filmischen Einstellungen in den ersten drei Zeitintervallen (1.-5. Min., 6.-10. Min. und 11. bis 15. Min.) identifizieren lassen. Das erste Intervall erreicht 28 Prozent, das zweite 36 Prozent und das dritte 12 Prozent. Somit ist die Zeitspanne von der 6. bis zur 10. Minute die entscheidende für die Sogwirkung der filmischen Einstellungen. Bemerkenswert ist aber auch, daß ca. ein Viertel aller filmischen Einstellungen (24 Prozent) außerhalb der 15-Minuten-Zeitmarkierung liegt oder nicht auftreten.
Abb. 98: Zeitintervalle und durchschnittliche Wirkfaktoren-Größe
In der Gesamtliste gilt auch für die Verteilung der Summen der Wirkfaktoren, daß im zweiten Intervall (6. bis 10. Min.) die höchste Wirkung entfaltet wird. Die Summe der Wirkfaktoren ist dort mit einem Punktwert von 32 um 11 Prozentpunkte höher als im ersten Intervall (1. bis 5. Min.) und fast dreimal so hoch wie im dritten Intervall (11. bis 15. Min.), das den Punktwert von 11 aufweist. Bemerkenswert ist weiterhin, daß die Summe der Wirkfaktoren im dritten Intervall genauso hoch ist wie in der gesamten Zeit hinter der 15-Minuten-
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Markierung. Kurzum: die ersten 10 Minuten sind die für die Sogwirkung entscheidenden, was die Forderungen vieler Filmemacher wiederspiegelt, den Zuschauer in dieser Zeit schon gepackt zu haben.
L ISTE DER AUSGEWÄHLTEN F ILME R ECHTSINHABER IHRER B ILDER 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
UND DER
Citizen Kane [USA 1941] Kinowelt Home Entertainment Gmbh Der Pate [USA 1972] Paramount Pictures Casablanca [USA 1942] Warner Brothers Wie ein wilder Stier [USA 1980] MGM Home Entertainment Singin´ in the rain [USA 1952] Warner Brothers Vom Winde verweht [USA 1939] Warner Brothers Lawrence von Arabien [USA 1962] Columbia Tristar Homevideo Schindlers Liste [USA 1993] Universal Studios and Amblin Entert. Vertigo [USA 1958] Universal Der Zauberer von Oz [USA 1939] Warner Brothers Lichter einer Großstadt [USA 1931] Kinowelt Home Entertainment Der schwarze Falke [USA 1956] Warner Brothers Krieg der Sterne – Episode IV [USA 1977] Lucas Ltd. Psycho [USA 1960] Columbia Tristar Homevideo 2001: Odyssee im Weltraum [USA 1968] Warner Brothers Das doppelte Lottchen [D 1951] Universal Film, Atlas Pictures Der Hauptmann von Köpenick [D 1956] Kinowelt Home Entert. Die Brücke [D 1959] Kinowelt Home Entertainment GmbH Abschied von gestern [D 1966] film & kunst GmbH Katzelmacher [D 1969] Rainer Werner Fassbinder Foundation Die Blechtrommel [D 1979] Kinowelt Home Entertainment Rosa Luxemburg [D 1985] Kinowelt Home Entertainment Der Himmel über Berlin [D 1987] Kinowelt Home Entert. Kaspar Hauser [D 1993] Cine Plus Home Entertainment
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25. Comedian Harmonists [D 1997] Universal Film, Atlas Pictures 26. Die innere Sicherheit [D 2000] Media Cooperation One GmbH 27. Nirgendwo in Afrika [D 2001] Constantin Video 28. Good Bye Lenin! [D 2003] Warner Brothers 29. Das Leben der Anderen [D 2006] Homescreen 30. Auf der anderen Seite [D 2007] corazón international GmbH 31. Nosferatu [D 1922] Alpha Video 32. Panzerkreuzer Potemkin [R 1925] Icestorm Entertainment GmbH 33. Metropolis [D 1927] Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung 34. M – Eine Stadt sucht einen Mörder [D 1931] Universum Film 35. Moderne Zeiten [USA 1936] Warner Brothers 36. Sein oder Nichtsein [USA 1942] Kinowelt Home Entertainment 37. 12 Uhr mittags [USA 1952] Kinowelt Home Entertainment GmbH 38. Außer Atem [F 1960] Kinowelt Home Entertainment GmbH 39. Händler der vier Jahreszeiten [D 1972] R. W. Fassbinder Foundation 40. Der weiße Hai [USA 1975] Universal 41. Blue Velvet [USA 1986] Metro Goldwyn Mayer 42. Pulp Fiction [USA 1994] Buena Vista Home Entertainment 43. Der Leopard [I, F 1963] Süddeutsche Zeitung GmbH Cinemathek 44. Heat [USA 1995] Warner Brothers 45. Rio Bravo [USA 1959] Warner Brothers 46. Lost Highway [Fr, USA1997] Universum Film 47. Der Partyschreck [USA 1968] Metro Goldwyn Mayer 48. Fitzcarraldo [Peru, D 1982] Anchor Bay 49. Die drei Tage des Condor [USA 1975] Kinowelt Home Entert. 50. Tiger & Dragon [Taiwan 2000] Kinowelt Home Entertainment
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Gesche Joost Bild-Sprache Die audio-visuelle Rhetorik des Films 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-923-7
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