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German Pages XX, 513 [511] Year 2020
Sören Becker Matthias Naumann Hrsg.
Regionalentwicklung in Ostdeutschland Dynamiken, Perspektiven und der Beitrag der Humangeographie
Regionalentwicklung in Ostdeutschland
Sören Becker · Matthias Naumann (Hrsg.)
Regionalentwicklung in Ostdeutschland Dynamiken, Perspektiven und der Beitrag der Humangeographie
Hrsg. Sören Becker Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Bonn, Deutschland
Matthias Naumann Institut für Geographie Technische Universität Dresden Dresden, Deutschland
ISBN 978-3-662-60900-2 ISBN 978-3-662-60901-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Wolf Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
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Regionalentwicklung in Ostdeutschland – Geographien einer Transformation. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sören Becker und Matthias Naumann 1.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Ostdeutschland als Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Ostdeutschland: Eingebettet, differenziert und politisch. . . . . . . . . . . . 5 1.4 Facetten einer Transformation: Zu den einzelnen Beiträgen. . . . . . . . . 8 1.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Teil I Die Politische Geographie Ostdeutschlands 2
Der „Osten“ ist anders!? Anmerkungen zu den Diskursen über die politischen Einstellungen in Ostdeutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Manfred Rolfes 2.1 Vorbemerkung und theoretische Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2 Politische Einstellungen und Verhaltensweisen im „Osten“ und ihre Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.3 Der „Westen“ als Konstruktionsprinzip des „Ostens“. . . . . . . . . . . . . . 24 2.4 Die raumbezogene Semantik „Osten“: Funktionen und blinde Flecken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.5 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
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Eliten in Ostdeutschland. Repräsentationsdefizit und Entfremdung der Ostdeutschen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Raj Kollmorgen 3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2 Begriffliche Vorklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.3 Rekrutierungs- und personelle Repräsentationsprobleme. . . . . . . . . . . 34
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3.4
Gründe für die Marginalisierung der Ostdeutschen in der Elitenrekrutierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.5 Das Rekrutierungsdefizit: Zukunftsperspektiven und Lösungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4
Die Polizei in Sachsen. Umstrukturierungen und Veränderung polizeilicher Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Sophie Perthus 4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Die Entwicklung der Polizei in Sachsen 1990–2016. . . . . . . . . . . . . . . 45 4.3 Verpolizeilichung sozialer Konflikte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
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Ostdeutsche Grenzregionen. Zwischen Systemtransformation, EU-Osterweiterung und alltäglichem Bordering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Hans-Joachim Bürkner 5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.2 Phasen der Entwicklung der ostdeutschen Grenzregionen seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.3 Fazit: Die Grenze fordert transnationale Perspektiven ein . . . . . . . . . . 67 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
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Geographien der Unsicherheit. Bürgerwehren an der ostdeutschen EU-Binnengrenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Kristine Beurskens und Judith Miggelbrink 6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 6.2 Vigilantismus und bürgerschaftliches Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . 73 6.3 Vigilantismus und grenzbezogene Kriminalitätsfurcht: Erste Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6.4 Vigilantismus und Grenzkriminalität: Eine komplexe Beziehung. . . . . 78 6.5 Folgerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Teil II Wirtschaftlicher Strukturwandel und Politische Ökonomie 7
Wirtschaftsräumliche Struktur und Entwicklung Ostdeutschlands. Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Sebastian Henn und Susann Schäfer 7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 7.2 Allgemeine Strukturmerkmale ostdeutscher Unternehmen. . . . . . . . . . 86 7.3 Regionale Konvergenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 7.4 Regionale Differenzierungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 7.5 Zur besonderen Rolle der Städte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
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7.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 8
Kapitalmangel und Transferabhängigkeit. Zur Politischen Ökonomie Ostdeutschlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Dominik Intelmann 8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 8.2 Die Rolle der Wiedervereinigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 8.3 Quantifizierung der Transferströme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 8.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
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Finanzialisierung in Ostdeutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Christoph Scheuplein 9.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9.2 Finanzialisierung und postsozialistische Transformation . . . . . . . . . . . 112 9.3 Kommunale Privatisierung und private Verschuldung. . . . . . . . . . . . . . 115 9.4 Unternehmen als Ware. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 9.5 Wertextraktion und fehlende Finanzzentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
10 Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland. Fiskalische Herausforderungen für Mittelzentren durch den demographischen Wandel und eine ländlich-periphere Lage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Frauke Richter und Daniel Schiller 10.1 Mittelzentren und ihr Beitrag zur Daseinsvorsorge. . . . . . . . . . . . . . . . 123 10.2 Ursachen der besonderen Finanzbedarfe in Ostdeutschland. . . . . . . . . 125 10.3 Fiskalische Asymmetrie in Zentrum-Peripherie-Strukturen . . . . . . . . . 128 10.4 Demographische Struktur und Dynamik in Zentralen Orten und ihren Verflechtungsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 10.5 Handlungsoptionen und Forschungsbedarf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 11 Internationale Fachkräfte auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Ein Beitrag zur Minderung des Fachkräftemangels?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Susann Schäfer und Sebastian Henn 11.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 11.2 Fachkräftemangel: Ursachen und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . 138 11.3 Fachkräftemangel in den neuen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 11.4 Ausländer in den neuen Bundesländern: Arbeitsmarktintegration und Erwerbsbeteiligung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 11.5 Hochqualifizierte Migranten: Das Fallbeispiel Thüringen. . . . . . . . . . . 142 11.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
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12 Kreative Ökonomien in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg. . . . . . 149 Suntje Schmidt 12.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 12.2 Ausgangslage: Transformation und wirtschaftliche Entwicklung in Berlin-Brandenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 12.3 Abgrenzung kreativer Ökonomien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 12.4 Kreative Ökonomien in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg . . . 154 12.5 Fazit und aktuelle Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 13 Zentralisierung, Suburbanisierung und Filialisierung. Zur Entwicklung des Einzelhandels in Ostdeutschland. . . . . . . . . . . . . . . . 163 Elmar Kulke 13.1 Ausgangslage und Entwicklungen seit der Wiedervereinigung. . . . . . . 164 13.2 Aktuelle Merkmale der Einzelhandelslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 13.3 Zukünftige Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 13.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Teil III Sozialer Wandel in Ostdeutschland 14 „Mitteldeutschland“. Regionalentwicklung und regionale Identität aus konstruktivistischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Tilo Felgenhauer 14.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 14.2 Deutungen und Konstruktionen von „Mitteldeutschland“. . . . . . . . . . . 179 14.3 Spannungsfelder der Konstruktion „Mitteldeutschlands“. . . . . . . . . . . 182 14.4 Fazit: „Mitteldeutschland“ zwischen Pragmatismus und Identifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 15 Ostdeutsche Identität im Wandel der Zeiten. 30 Jahre und noch kein Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Daniel Kubiak 15.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 15.2 Nationale Identität in der DDR? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 15.3 Die neu konstruierte Differenz nach der Wiedervereinigung . . . . . . . . 191 15.4 Ostdeutsche Identität in verschiedenen Generationen. . . . . . . . . . . . . . 193 15.5 Die Post-Wende-Generationen: Identitätskonstruktionen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 15.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
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16 Wanderungen und Regionalentwicklung. Ostdeutschland vor der Trendwende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Tim Leibert 16.1 Von der Abwanderungsregion zum Zuzugsgebiet?. . . . . . . . . . . . . . . . 199 16.2 Wanderungen und Regionalentwicklung: It’s the economy, stupid?!?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 16.3 Selektive Wanderungen: Der Exodus der jungen Frauen?. . . . . . . . . . . 202 16.4 Rückwanderung: Chance oder Chimäre?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 16.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 17 Migrationsgeschichte Ostdeutschlands I. Von der Zeit der DDR bis in die 1990er-Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Birgit Glorius 17.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 17.2 Migration und Integration in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 17.3 Internationale Migrant*innen in Ostdeutschland während der 1990er-Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 17.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 18 Migrationsgeschichte Ostdeutschlands II. Internationale Migration in Ostdeutschland und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung seit der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Birgit Glorius 18.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 18.2 Struktur und Entwicklung der ausländischen Bevölkerung Ostdeutschlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 18.3 Arbeitsmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 18.4 Aufnahme von Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 18.5 Gesellschaftliche Wahrnehmung internationaler Migration . . . . . . . . . 229 18.6 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 19 Ostdeutschland multikulturell und postmigrantisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Jonathan Everts, Kim Anna Juraschek, Larissa Fleischmann und Florian Ringel 19.1 Ostdeutschland als vernachlässigtes Forschungsfeld in der Integrations- und Migrationsforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 19.2 Multikulturalität und postmigrantisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 19.3 Bisherige Forschungsarbeiten im ostdeutschen Kontext. . . . . . . . . . . . 238 19.4 Neue Impulse für eine ostdeutsche Forschung zu postmigrantischer Multikulturalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 19.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
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20 „Aus der eigenen Sozialisierung kann man so einfach nicht heraus“. Geographische Lehre und Forschung in und zu „Ostdeutschland“ . . . . . . 249 Anne Köllner, Lea Bauer, Alejandro Armas-Díaz und Vera Denzer 20.1 Geographische Institute als Orte der Wissens(re)produktion zu „Ostdeutschland“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 20.2 Wissen im Kontext betrachten und situieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 20.3 In Leipzig zu „Ostdeutschland“ lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 20.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Teil IV Ostdeutsche Städte im Umbruch 21 Wohnungsmärkte in ostdeutschen Großstädten. Zwischen Schrumpfung und Vermarktlichung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Karin Wiest 21.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 21.2 Achterbahnfahrten auf städtischen Wohnungsmärkten und Phasen sozialräumlicher Differenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 21.3 Wem gehören die ostdeutschen Städte? Persistente Strukturunterschiede zwischen Ost und West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 21.4 Fazit: Wohnungsmärkte und sozialräumliche Differenzierung. . . . . . . 277 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 22 Vorzeichenwechsel der Stadtentwicklung in Ostdeutschland nach 1989. Sub-/Des-/Reurbanisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Mathias Siedhoff 22.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 22.2 Erster Migration Turnaround: Suburbanisierung und Desurbanisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 22.3 Zweiter Migration Turnaround: Reurbanisierung im Schrumpfungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 22.4 Dritter Migration Turnaround: Das Ende der Reurbanisierung? Neue Suburbanisierung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 22.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 23 Ostdeutsche Großwohnsiedlungen. Zwischen Wohnungsmarktentwicklung und politischen Entscheidungen. . . . . . . . . . 295 Nico Grunze 23.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 23.2 Vom Neubaugebiet zur Großwohnsiedlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 23.3 Die Wendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
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XI
23.4
Die Zeit der Bewohnerverluste: Fünf bis zehn Jahre nach der Wende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 23.5 Wohnungsleerstand … überall im Osten: Zehn Jahre nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 23.6 Die Vielfalt ostdeutscher Großwohnsiedlungen: Die Situation heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 23.7 Herausforderungen für die zukünftige Entwicklung ostdeutscher Großwohnsiedlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 23.8 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 24 Gentrification in ostdeutschen Städten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Andrej Holm 24.1 Was ist Gentrification?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 24.2 Gentrification-Forschung in Ostdeutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 24.3 Besonderheiten der Gentrification in Ostdeutschland. . . . . . . . . . . . . . 314 24.4 Prognose: Gentrification ante portas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 25 Bodenwertentwicklungen in Wachstumspolen Ostdeutschlands. Eine Untersuchung am Beispiel der Städte Dresden, Erfurt und Jena. . . . 321 Andreas Ortner, Jasmin Uttner, Robert Krägenbring und Alexandra Weitkamp 25.1 Zunahme der Herausforderungen in ostdeutschen Großstädten . . . . . . 322 25.2 Bodenpreis – Bodenwert – Bodenrichtwert: Zentrale Größen des Immobilienmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 25.3 Bodenwertentwicklung als bedeutender Indikator für das Marktgeschehen und die Lagequalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 25.4 Ausgewählte Determinanten der Bodenwertentwicklung in Dresden, Erfurt und Jena. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 25.5 Ergebnisse und Schlussfolgerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 26 Umkämpfte Internationalisierung in Berlin. Großprojekte, Tourismus, Web-Tech-Branche und Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Janina Dobrusskin, Valentin Domann, Henning Füller und Jenny Künkel 26.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 26.2 Großprojekte: Internationalisierung mit der Brechstange. . . . . . . . . . . 337 26.3 Tourismus: Internationalisierung durch Konsumption städtischer Authentizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
XII
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26.4
Webtech Urbanism: Internationalisierung durch internetbasierte Wertschöpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 26.5 Teilhabe in der postmigrantischen Stadt: Internationalisierung durch die Inwertsetzung von Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 26.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
27 Städtische Protestbewegungen in Leipzig. Orientierungsversuche innerhalb einer veränderten Marktrealität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Rico Rokitte 27.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 27.2 Leipzig als Hauptstadt der Armen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 27.3 Leipzig als Hauptstadt der Träumer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 27.4 Leipzigs neue urbane Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 27.5 Städtische Protestbewegungen in der Leipziger Aushandlungsarena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 27.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Teil V Ländlicher Wandel in Ostdeutschland 28 Zukunftsfähige Agrarstrukturen in Ostdeutschland?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Christine Tamásy und Oliver Klein 28.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 28.2 Entwicklungspfade, Lock-ins und historische Umbrüche. . . . . . . . . . . 363 28.3 Agrarwirtschaft heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 28.4 Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 29 Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Zwischen Abbau, Umbau und Ausbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Annett Steinführer 29.1 Daseinsvorsorge: Abstrakt-normatives Konzept und Alltagspraxis zugleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 29.2 Lokale Infrastruktur in ländlichen Räumen in der DDR. . . . . . . . . . . . 377 29.3 Abbau, Ausbau und Umbau: Transformation ländlicher Daseinsvorsorge seit 1990. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 29.4 Daseinsvorsorge im institutionellen Wandel: abschließende Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
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XIII
30 Sesshaftigkeit in ostdeutschen ländlich-peripheren Räumen. Wie Wanderungen die Bevölkerungsstruktur langfristig verändern . . . . . . . . . 389 Jochen Corthier 30.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 30.2 Demographie in Ost und West. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 30.3 Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 30.4 Die Sesshaften: Ein Einstieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 30.5 Sesshafte in Mecklenburg-Vorpommern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 30.6 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 31 Alltag in ländlichen Räumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Stephan Beetz 31.1 Alltag als Untersuchungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 31.2 Alltag als Konzept zur Erforschung der Umbrüche in der ostdeutschen ländlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 31.3 Alltag als soziale Konstruktion von Kontinuität im gesellschaftlichen Umbruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 31.4 Aktualität des Alltagskonzeptes als Forschungsansatz zur Analyse ländlicher Räume. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 31.5 Folgerungen aus dem Alltagskonzept für die Regionalentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 32 „Smart Countryside“ im Osten? Zum Wandel ländlicher Räume und den Herausforderungen der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . 413 Thomas Weith 32.1 Veränderungen ländlicher Räume als Kulturlandschaften. . . . . . . . . . . 413 32.2 Digitalisierung und smarte Konzepte: Stand und Entwicklungen. . . . . 415 32.3 Grundlagen für ein Konzept von „Smart Countryside“. . . . . . . . . . . . . 418 32.4 Digitalisierung, Gleichwertigkeit und Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . 420 32.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 33 Raumordnung in Ostdeutschland. Labor und Innovator für die Raumentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Peter Dehne 33.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 33.2 Raumordnung in Ostdeutschland: Aufbau Ost oder Ideenschmiede?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 33.3 Leitbilder der Raumentwicklung zwischen Ausgleich oder Wachstum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 33.4 Regionalentwicklung als neue Aufgabe der Raumordnung. . . . . . . . . . 430
XIV
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33.5 33.6
Schrumpfung: Erleiden oder Gestalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Modellvorhaben der Raumordnung: Experimentierfeld (nicht nur) in Ostdeutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 33.7 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
Teil VI Mensch-Natur-Verhältnisse und Infrastrukturen 34 Verkehrspolitik und Mobilitätsentwicklung in Ostdeutschland. . . . . . . . . . 439 Matthias Gather und Barbara Lenz 34.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 34.2 Zustand des ostdeutschen Verkehrssystems Anfang der Neunzigerjahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 34.3 Prognosen, Erwartungen und Ziele nach der Wende. . . . . . . . . . . . . . . 442 34.4 Entwicklung des Straßenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 34.5 Entwicklung des Schienenverkehrs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 34.6 Stadtverkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 34.7 Die Entwicklung der Alltagsmobilität Ost- und Westdeutschlands im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 34.8 Kennwerte der Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 34.9 Mobilität und Tagesablauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 34.10 Pkw-Besitz und Verkehrsmittelwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 34.11 Fazit: Konvergenz der Verkehrssysteme oder „eigener Weg“? . . . . . . . 453 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 35 Ostdeutsche Kulturlandschaften im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Ludger Gailing 35.1 Entwicklungsfaktor „Kulturlandschaft“ in der Raumplanung. . . . . . . . 455 35.2 Was ist „Kulturlandschaft“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 35.3 Die Transformation ostdeutscher Kulturlandschaften. . . . . . . . . . . . . . 459 35.4 Aussichten ostdeutscher Kulturlandschaftsentwicklung. . . . . . . . . . . . 463 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 36 Sanierung alter Industrieregionen in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Gerd Lintz und Peter Wirth 36.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 36.2 Ansätze der Sanierung und Entwicklung: Ein Überblick . . . . . . . . . . . 469 36.3 Fallbeispiel: Von Bergbaurestlöchern zur Tourismusdestination in der Lausitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 36.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
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XV
37 Tourismus und Regionalentwicklung innerhalb und außerhalb ostdeutscher Großschutzgebiete. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Marius Mayer und Susanne Stoll-Kleemann 37.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 37.2 Tourismus, Großschutzgebiete und regionale Entwicklung . . . . . . . . . 484 37.3 Entwicklung der Großschutzgebiete in Ostdeutschland seit 1990. . . . . 485 37.4 Tourismusentwicklung in Ostdeutschland seit 1990. . . . . . . . . . . . . . . 486 37.5 Großschutzgebiete und ihre Wirkungen für Tourismus, Wirtschaft und regionale Identität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 37.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 38 Klimapolitik in Dresden. Diskurse um Klimawandel im Kontext von Stadtentwicklungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Cindy Sturm 38.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 38.2 Lokaler Umweltschutz vs. globaler Klimaschutz: Stadtentwicklungspolitische Problematisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 499 38.3 Politische Aushandlungsprozesse um Klimaveränderungen im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 38.4 Die Steuerung kommunaler Klimapolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 38.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Sören Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Wirtschaftsgeographie an der Universität Bonn. Zuvor war er an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Digitalisierung und Smart Cities, Transitionen im Energie- und Abfallsektor sowie Urban Governance und regionale Entwicklung. Matthias Naumann vertritt derzeit die Professur „Didaktik der Geographie“ an der Technischen Universität Dresden. Er lehrte und forschte unter anderem an der Freien Universität Berlin, dem Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung und der Universität Hamburg. Seine Schwerpunkte liegen in der Transformation von Infrastrukturen, der Kritischen Geographie und in der Stadt- und Regionalentwicklung.
Autorenverzeichnis Alejandro Armas-Díaz Institut für Geographie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Lea Bauer Institut für Geographie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Sören Becker Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland Stephan Beetz Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Mittweida, Mittweida, Deutschland Kristine Beurskens Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland Hans-Joachim Bürkner Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner, Deutschland
XVII
XVIII
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Jochen Corthier Statistisches Amt, Landesamt für innere Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin, Deutschland Peter Dehne Fachbereich Landschaftswissenschaften und Geomatik, Hochschule Neubrandenburg, Neubrandenburg, Deutschland Vera Denzer Institut für Geographie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Janina Dobrusskin Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Valentin Domann Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Jonathan Everts Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Tilo Felgenhauer Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich Larissa Fleischmann Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Henning Füller Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Ludger Gailing Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner, Deutschland Matthias Gather Institut Verkehr und Raum, Fachhochschule Erfurt, Erfurt, Deutschland Birgit Glorius Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland Nico Grunze freiberufliche Tätigkeit, Berlin, Deutschland Sebastian Henn Institut für Geographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Andrej Holm Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Dominik Intelmann Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ, Leipzig, Deutschland Kim Anna Juraschek Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Oliver Klein Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Raj Kollmorgen Fakultät Sozialwissenschaften, Hochschule Zittau/Görlitz, Görlitz, Deutschland Anne Köllner Institut für Geographie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Robert Krägenbring Referat 34 | Kataster- und Vermessungswesen, Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft, Erfurt, Deutschland
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
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Daniel Kubiak Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Elmar Kulke Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Jenny Künkel Geography Department, Centre National de la Recherche Scientifique (UMR 5319 Passages), Bordeaux, Frankreich Tim Leibert Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland Barbara Lenz Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Gerd Lintz Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, Dresden, Deutschland Marius Mayer Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich Judith Miggelbrink Institut für Geographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland Matthias Naumann Institut für Geographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland Andreas Ortner Geodätisches Institut, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland Sophie Perthus Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Leipzig, Deutschland Frauke Richter Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Florian Ringel Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Halle (Saale), Deutschland Rico Rokitte Professur für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Bauhaus-Universität Weimar, Weimar, Deutschland Manfred Rolfes Institut für Umweltwissenschaften und Geographie, Universität Potsdam, Potsdam-Golm, Deutschland Susann Schäfer Institut für Geographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Christoph Scheuplein Institut Arbeit und Technik, Gelsenkirchen, Deutschland Daniel Schiller Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Suntje Schmidt Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Mathias Siedhoff Institut für Geographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Annett Steinführer Institut für Ländliche Räume, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Braunschweig, Deutschland Susanne Stoll-Kleemann Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Cindy Sturm Sächsisches Staatsministerium für Energie, Klima, Umwelt und Landwirtschaft, Dresden, Deutschland Christine Tamásy Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Jasmin Uttner Geodätisches Institut, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland Thomas Weith Institut für Geographie, Universität Potsdam, Potsdam-Golm, Deutschland Alexandra Weitkamp Geodätisches Institut, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland Karin Wiest Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland Peter Wirth Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, Dresden, Deutschland
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Regionalentwicklung in Ostdeutschland – Geographien einer Transformation. Zur Einleitung Sören Becker und Matthias Naumann
Zusammenfassung
Diese Einleitung zum Sammelband „Regionalentwicklung in Ostdeutschland“ gibt einen kurzen Überblick über die bisherige Forschung zu Ostdeutschland, deren Erkenntnisse oft an der westdeutschen Realität als Vergleichsgröße gemessen werden. Dazu zählen Befunde zu Abwanderung, demographischem Wandel und wirtschaftlicher Strukturschwäche. Es wird argumentiert, dass der Blick über vereinheitlichende und stereotype Bilder von Ostdeutschland hinaus gehen muss. Der Beitrag der Geographie zu dieser Diskussion wird darin gesehen, Ostdeutschland nicht als feststehende Raumkategorie, sondern als „gewordene Region“ zu betrachten. Eine geographische Perspektive fokussiert auf die Einbettung Ostdeutschlands in überregionale und internationale Entwicklungen, sowie auf die kleinräumigen Differenzierungen und Ungleichheiten, die auch innerhalb Ostdeutschlands bestehen. Letztlich ist Ostdeutschland als politische Raumkategorie zu verstehen, die gleichzeitig Ausdruck und Ort der Aushandlung verschiedener politischer Interessen ist.
S. Becker (*) Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Naumann Institut für Geographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_1
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1.1 Einleitung Im Februar 2020 berichteten zahlreiche Medien über das Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation, das zwischen Ost- und Westdeutschland „auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung große strukturelle Unterschiede, die sich u. a. auf die Innovationstätigkeit von Unternehmen auswirken“ konstatiert (Expertenkommission Forschung und Innovation 2020, S. 13). Jenseits solcher Strukturfragen war der Erfolg rechter Parteien und Bewegungen in Ostdeutschland Anlass, über die Kontinuitäten und Brüche ostdeutscher Regionalentwicklung nachzudenken. Es ist auch ein Ergebnis dieser Entwicklungen und Erklärungsversuche, dass sich der Blick von Unterschieden der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend auf alltägliche und biographische Prägungen richtet, die Strukturbrüche in Ostdeutschland reproduzieren. Hierfür stehen auch Romane, die in den letzten Jahren erschienen sind und das Aufwachsen in Zeiten gesellschaftlicher Transformation thematisieren (Bangel 2017; Hensel 2002; Präkels 2017; Rietzschel 2018). Das bedeutet insofern eine neue Qualität, als dass hier neue Sprecher*innenpositionen zum Vorschein kamen. Ostdeutschland als Raumkategorie hat in der öffentlichen Debatte weiterhin eine hohe Bedeutung, angesichts der festgestellten Unterschiede zwischen Ost und West. Gleichzeitig bestehen innerhalb Ostdeutschlands offensichtliche Differenzierungen, beispielsweise zwischen den Groß- und Universitätsstädten einerseits, und ländlichen Räumen sowie Klein- und Mittelstädten andererseits, in denen sich Spuren des Strukturbruchs infolge der Wiedervereinigung weiterhin deutlich in Stadtbild und Landschaft abzeichnen. Vor diesem Hintergrund erscheint „Ostdeutschland“ immer auch als eine problematische Raumeinheit, die häufig mit politischen Interessen verbunden ist. Darauf verweisen die Diskussionen um den Solidaritätszuschlag ebenso wie die Abstimmungen der ostdeutschen Bundesländer bei der Ausrichtung der Förderprogramme im Rahmen des Kohleausstiegs. Während die administrative Grenze Ostdeutschlands durch die neuen Bundesländer – Berlin einmal ausgeklammert – relativ schnell umrissen ist, ist die Frage, was „Ostdeutschland“ ursprünglich ausmacht, irreführend. Forschungen zu ostdeutscher Identität beispielsweise diskutieren die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung in den „neuen Ländern“ als „Ostdeutsche“ selbst als ein Produkt der Nachwendezeit (Ahbe 2004; Pollack und Pickel 1998). Ostdeutschland ist als eine „gewordene Region“ zu verstehen, deren Entwicklung durch die Zeit vor und nach 1989 geprägt ist. Stadt- und Regionalforschung zu Ostdeutschland ist damit auch eine Suche nach und ein Hinterfragen der Spuren der DDRVergangenheit wie auch der Transformationszeit in den 1990er-Jahren. Das „spezifisch Ostdeutsche“ entsteht jedoch erst mit dem Forschungsgegenstand, zum Beispiel biographischen Erfahrungen oder dem Blick auf wirtschaftliche Strukturmerkmale. Die fortdauernde Relevanz von Ostdeutschland – als komplizierte und differenzierte, aber doch weiterhin gerechtfertigte Raumeinheit – war für uns der Anlass für den Band „Regionalentwicklung in Ostdeutschland“. Im Folgenden stellen wir die ungleiche Entwicklung in Ostdeutschland als wissenschaftlichen Gegenstand, unseren konzeptionellen Zugang
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bei der Betrachtung von Regionalentwicklung in Ostdeutschland, den Aufbau des vorliegenden Bandes und mögliche weitergehende Anschlüsse vor.
1.2 Ostdeutschland als Forschungsgegenstand Der oben skizzierte mediale Blick auf Ostdeutschland wird flankiert von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die – in der Regel gemessen an „Westdeutschland“ als Vergleichsgröße – häufig eine krisenhafte Entwicklung konstatieren (Roth 2008). Dies illustrieren Titel von Studien wie „Die Wucht der deutschen Teilung wird völlig unterschätzt“ (Rösel 2019) oder „Forschung, Entwicklung und Innovationen in Ostdeutschland: Rückstand strukturell bedingt“ (Eickelpasch 2015). Wirtschaftliche Kennzahlen zeigen nach wie vor ein signifikantes Gefälle gegenüber Westdeutschland hinsichtlich von Exporten, Beschäftigung, Produktivität, Lohnniveau und Aktivitäten in den Bereichen Forschung und Entwicklung (Grömling 2019; Gropp und Heimpold 2019). Ein viel diskutierter Bericht des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (Saale) beginnt mit den Worten: „Die Berliner Mauer als das Symbol der deutschen Teilung ist mittlerweile länger verschwunden als sie gestanden hat, doch die Unterschiede innerhalb des Landes sind auch nach drei Jahrzehnten noch sichtbar“ (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle 2019). Der Bericht sieht in der heute kleinteiligen Strukturierung der ostdeutschen Wirtschaft einen Grund für diese Unterschiede. Doch innerhalb von Ostdeutschland gibt es auch sogenannte „Gazellen“: kleine, schnell wachsende Unternehmen, die als Wachstumsmotor für Regionen gelten (Ochsner und Ragnitz 2018). Im Vergleich zu Westdeutschland fehlen allerdings weiterhin bestimmte Industrien, insbesondere Großunternehmen und Hauptsitze von Konzernen (Arnold et al. 2015). Politische Brisanz erhielt der erwähnte IWH-Bericht dadurch, dass seine Schlussfolgerungen empfahlen, Fördermittel und die Bereitstellung von Infrastrukturen auf städtische oder wachsende Regionen in Ostdeutschland zu konzentrieren und damit gleichzeitig die Fördermittel für andere Regionen drastisch zu reduzieren (LeibnizInstitut für Wirtschaftsforschung Halle 2019). Damit bleibt die Frage, wie mit der divergierenden Entwicklung der regionalen „Leuchttürme“ und „roten Laternen“ umzugehen ist, eine dauerhafte Herausforderung für regionale Entwicklung und Politik (Kubis et al. 2008). Ein weiterer Indikator für die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland ist die demographische Entwicklung. Wissenschaftliche Publikationen sprechen von verschiedenen Abwanderungswellen während und nach der Teilung (Rösel 2019) oder gar von einer „demographischen Revolution“, die sich nach der Wende „als Ergebnis individueller Strategien der Problembewältigung“ (Zapf und Mau 1993, S. 4) im Rückgang von Geburten und Eheschließungen auf ein historisches Minimum äußerte. Weiterhin thematisieren entsprechende Arbeiten eine auf Alter, Geschlecht und bestimmte Regionen bezogene selektive Abwanderung (Mai 2006) und die damit verbundene kleinteilige Polarisierung zwischen Schrumpfungs- und Wachstumsregionen in Ostdeutschland
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(Müller 2003). Aktuelle Debatten beziehen sich auf den Trend zur Rückwanderung in einigen Gebieten Ostdeutschlands (Fuchs und Weyh 2016). Auch wenn in Ostdeutschland bereits vor der Wende bedeutende räumliche Disparitäten bestanden (Grundmann 1997), steht in Anbetracht der derzeitigen räumlichen Polarisierungen in Frage, ob das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ostdeutschland noch realistisch ist (Herfert 2007; Sixtus et al. 2019). Die ungleiche Entwicklung zwischen Ost- und Westdeutschland, deren kleinräumliche Differenzierung und politische Aushandlung stellt einen wichtigen Gegenstand der humangeographischen Forschung in und über Ostdeutschland dar. Doch zunächst bedeuteten die Wende im Herbst 1989 und die Wiedervereinigung im Oktober 1990 einen Einschnitt für die geographische Lehre und Forschung in Ostdeutschland. Viele Institute erfuhren eine Umstrukturierung, vor allem Lehrstühle in der Humangeographie wurden neu besetzt – zum großen Teil von westdeutschen Kolleg*innen. Aktuell gibt es Geographische Institute in Greifswald, Berlin, Potsdam, Halle (Saale), Leipzig, Dresden und Jena. Darüber hinaus sind außeruniversitäre Forschungsinstitute wie das LeibnizInstitut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner, das Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden, das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg oder das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Halle-Leipzig Orte, an denen humangeographische Forschung stattfindet. Jenseits der engeren disziplinären Zuordnung behandeln Stadtund Regionalplaner*innen an der Bauhaus-Universität Weimar, der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, den Hochschulen in Eberswalde, Erfurt, Neubrandenburg und Potsdam, Soziolog*innen an der Humboldt-Universität zu Berlin, den Hochschulen in Zittau/Görlitz und in Mittweida oder auch die Europäischen Studien an der Technischen Universität Chemnitz Themen der ostdeutschen Regionalentwicklung. Ein Anliegen des Bandes war es daher, zur Sichtbarkeit der ostdeutschen Stadt- und Regionalforschung beizutragen. Darüber hinaus findet Forschung zu Ostdeutschland selbstverständlich auch an westdeutschen Wissenschaftsstandorten statt, wie einige Beiträge des Bandes zeigen. Vorliegende Forschungsarbeiten aus der Humangeographie und benachbarten Disziplinen zur Regionalentwicklung in Ostdeutschland behandeln vor allem Prozesse, in denen die Veränderung bestehender räumlicher Strukturen oder die Entstehung neuer räumlicher Ungleichheiten sichtbar wurde. Bis Anfang der 2000er-Jahre wurden Arbeiten zu Ostdeutschland häufig unter der Überschrift der Geographischen Transformationsforschung diskutiert, und damit im Zusammenhang mit dem Übergang vom Realsozialismus in ein kapitalistisches System zumindest implizit in den Kontext anderer postsozialistischer Länder gestellt (Fassmann 2000; Hannemann et al. 2002). Danach liegen zunehmend Beiträge vor, die sich einzelnen humangeographischen Teildisziplinen zuordnen lassen. Wirtschaftsgeographische Untersuchungen erfassten die Entwicklung von Betrieben, wirtschaftlichen Strukturen und Fachkräftebedarfen (Matuschewksi 2010). Andere Arbeiten haben die Entwicklung der Grenzräume an Oder und Neiße erfasst (Krätke 1999). Pendel- und Wanderungsmuster wurden in der Bevölkerungsgeographie sowohl
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quantitativ erfasst als auch auf die Veränderung von Alltagsbeziehungen durch größere Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort untersucht (Nadler 2017; Leibert et al. 2015). In der Stadtgeographie und den angrenzenden Sozialwissenschaften standen zunächst die neuen politischen, ökonomischen und verwaltungsrechtlichen Rahmenbedingungen im Vordergrund (Häußermann 1996; Wollmann 2001), bevor sich hier verschiedene eigenständige Themenfelder etablierten, allen voran das Phänomen der „schrumpfenden Städte“ (Bernt 2018). Sozialgeograph*innen widmeten sich der Anpassung des Alltags unter postsozialistischen Bedingungen (Wiest 2000), z. B. der Neuorientierung von jungen Menschen in einer Lebenswelt, deren räumliche Bezüge nicht mehr durch den Eisernen Vorhang definiert waren (Hörschelmann und Schäfer 2007). Neuere Forschungen werfen Fragen zur Empfindung von Angst und (Un-)Sicherheit, insbesondere unter Personen mit Migrationshintergrund, auf (Bürk 2012). Hinzu kommen sozialökologische Forschungslinien, die ihren Ausgang in der Betrachtung von industriellen und militärischen Altlasten als Entwicklungshindernis nahmen (Heinrich und Wiegandt 1991). 30 Jahre nach der Wiedervereinigung stellt sich nun die Frage, wie eine humangeographische Diagnose für die „neuen Bundesländer“ im Jahr 2020 aussehen kann, die auch einer gewachsenen konzeptionellen wie auch empirischen Vielfalt der Humangeographie Rechnung trägt. Der Band knüpft dabei an vorliegende Bestandsaufnahmen zur Raumentwicklung in Ostdeutschland an, etwa Sammelbände zur Raumplanung in den neuen Bundesländern (Weith und Strauß 2017), aber auch an Beiträge aus den Politikwissenschaften und der Soziologie (Bertram und Kollmorgen 2001; Lorenz 2011). Innerhalb der Geographie sind eine Zusammenstellung von Beiträgen zum zehnjährigen Jubiläum der Wiedervereinigung anlässlich des Kongresses der International Geographical Union in Seoul (Mayr und Taubmann 2000) oder eine Zusammenschau des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2010) anlässlich von 20 Jahren Wiedervereinigung zu nennen. Diese Arbeiten möchte der Band um eine eigene konzeptionelle Perspektive und aktuelle empirische Befunde ergänzen.
1.3 Ostdeutschland: Eingebettet, differenziert und politisch Ziel des Bandes „Regionalentwicklung in Ostdeutschland“ ist die Herausarbeitung der Widersprüche, der kleinräumlichen Ausdifferenzierung und der Konflikthaftigkeit räumlicher Entwicklung in Ostdeutschland seit der Wende. Mit dem regionalen Bezug auf Ostdeutschland nehmen wir in diesem Buchprojekt 30 Jahre nach dem Mauerfall zwar die Setzung vor, dass Ostdeutschland als räumliche Kategorie und Forschungsperspektive nach wie vor eine eigene Berechtigung hat. Wir möchten aber in konzeptioneller, empirischer wie auch disziplinärer Hinsicht den Blick erweitern, um die gängigen medialen wie auch wissenschaftlichen Zuschreibungen von ostdeutschen Städten und Regionen zu hinterfragen. Ostdeutschland kann dabei weder als abgeschlossene Einheit verstanden, noch kann die ostdeutsche Regionalentwicklung
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allein auf ökonomische Kennzahlen und tradierte Klischees reduziert werden. Für einen alternativen Blick auf die ostdeutsche Regionalentwicklung gehen wir von den folgenden Überlegungen aus. Erstens ist Ostdeutschland keine isolierte Raumeinheit. Die Entwicklung ostdeutscher Städte und Regionen zeigt vielmehr Verflechtungen mit weiteren Maßstabsebenen und Verbindungen zu anderen Regionen. Hier beziehen wir uns auf die Debatte zu den „Politics of Scale“ in der kritischen Humangeographie (für eine deutschsprachige Übersicht siehe Wissen et al. 2008), die von der sozialen Produktion und der wechselseitigen Durchdringung räumlicher Maßstabsebenen ausgeht. Die „Glokalisierung“ (Swyngedouw 1997), als Wechselwirkung globaler und lokaler Bedingungen, kann auch in Ostdeutschland nachvollzogen werden. Die Privatisierung des Wohneigentums der Stadt Dresden im Jahr 2006, beispielsweise, war ebenso ein Ausdruck lokaler Finanzknappheit wie internationaler Kapitalzirkulation (Glatter 2013). Globale Prozesse wie der ökonomische Wettbewerb zwischen Städten und Regionen, der Trend hin zu neoliberaler Governance und einem schlanken Staat (Jessop 2002) wirkten sich ebenso in Ostdeutschland aus wie „Megatrends“ wie Klimawandel, Digitalisierung sowie Flucht und Migration. Insofern zeigt sich in Ostdeutschland die Überlagerung von Strukturbrüchen auf unterschiedlichen Ebenen und in gesellschaftlichen Bereichen. Zweitens liegt der Fokus des Bandes auf den kleinräumlichen Unterschieden ostdeutscher Regionalentwicklung sowie deren Spannungsverhältnis zwischen räumlicher Differenzierung und Angleichung. Es liegt auf der Hand, dass die Wende und die Wiedervereinigung Gewinner*innen und Verlierer*innen produzieren – zwischen Ost und West wie auch innerhalb der ostdeutschen Länder und Regionen. Die Brüche ostdeutscher Regionalentwicklung können als „fragmentierte Entwicklung“ (Land 2003) verstanden werden, Wachstumszentren bestehen neben Räumen, die von Entwicklungsimpulsen weitgehend abgekoppelt sind. Die Entstehung von peripheren Regionen – im Sinne ökonomischer Entwicklung, infrastruktureller Anbindung, politischer und medialer Repräsentation – wird in der Stadt- und Regionalforschung mit dem Begriff der „Peripherisierung“ bezeichnet (Bernt und Liebmann 2013; Fischer-Tahir und Naumann 2013; Kühn 2015). Vor allem ländliche Regionen in Ostdeutschland gelten hierfür als Beispiele (Beetz et al. 2008). Wir verstehen diese räumlichen Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland, aber auch innerhalb Ostdeutschlands als Ausdruck ungleicher Entwicklung, die ein konstitutives Element räumlicher Entwicklung im Kapitalismus ist (Wissen und Naumann 2008). Ungleiche Entwicklung kann das Resultat neuer räumlicher Arbeitsteilungen (Massey 1995) oder des geographischen Transfers von Mehrwert (Hadjimichalis 1987) darstellen; sie generiert räumliche Abhängigkeitsbeziehungen und einen dadurch geprägten Austausch von Waren, Wertschöpfung und auch Menschen zwischen den Regionen. Während diese Prozesse die Entwicklungen in der Nachwendezeit bestimmten, können der wirtschaftliche Strukturbruch und die folgende DeIndustrialisierung als besondere Startbedingung Ostdeutschlands gelten (Martens 2010). Räumliche Disparitäten befinden sich im permanenten Wandel. Die kleinräumlich differenzierte Entwicklung ostdeutscher Städte und Regionen hat damit auch eine
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zeitliche Dimension. So gibt es beispielsweise eine Gleichzeitigkeit von Prozessen der Schrumpfung und Reurbanisierung, von Gentrifizierung und Suburbanisierung in städtischen Räumen. Die hohe Anzahl an Pendler*innen, die Ab- und Rückwanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland führen zu zeitlichen Schwankungen der Bevölkerungszahl (Nadler 2017). Die Phasen ostdeutscher Regionalentwicklung lassen sich damit nicht als lineare Prozesse darstellen, sie produzierten keinen einheitlichen Raum, sondern ein kleinteiliges Nebeneinander von Boom und Niedergang, Wachstum und Schrumpfung, Anschluss und Abkopplung. Drittens ist Ostdeutschland eine politische Kategorie. Wir verstehen dabei nicht nur die jeweiligen Bestimmungen und Verwendungen des Begriffs „Ostdeutschland“ als Ausdruck politischer Interessen. Der „Osten“ oder Ostdeutschland ist immer auch eine politische Bezeichnung in Abgrenzung zu Gesamt- oder Westdeutschland, die Fragen nach der politischen Repräsentation, regionalpolitischen Programmen, Grenzziehungen und kultureller Hegemonie aufwirft. Darüber hinaus ist Regionalentwicklung in Ostdeutschland selbstverständlich das Resultat bestimmter politischer Entscheidungen. Die Beschlüsse zur Währungsunion, das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ oder die Tätigkeit der Treuhand waren ebenso wenig zwangsläufig noch alternativlos wie die Herausbildung von spezifischen politischen Einstellungen und Wahlverhalten in Ostdeutschland. So ist danach zu fragen, wer Entscheidungen zur ostdeutschen Regionalentwicklung traf, wer von ihnen profitierte und wer von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen war. Die Bewertung dieser Entscheidungen ist ebenfalls politisch umstritten und kann zu unterschiedlichen Einschätzungen führen, wie auch die Beiträge dieses Bandes zeigen. Hier treffen dystopische Bilder von Ostdeutschland als „Dunkeldeutschland“ oder der Stigmatisierung ostdeutscher Städte und Regionen (Bürk und Beißwenger 2013) auf optimistischere Einschätzungen von Ostdeutschland als „Neuland“ (Frech et al. 2017) oder gar Avantgarde (Engler 2002). Der wirtschaftliche und politische Strukturbruch sowie die darauf folgende Zeit des Übergangs haben, wie in vielen Beiträgen des Bandes deutlich wird, auch in den Feldern von Planung und Umweltsanierung die Möglichkeit für komplett Neues geschaffen. Für die weitere Entwicklung ist entscheidend, ob sich – entsprechend Erik Swyngedouws (2009) Überlegungen zur Post-Politik – stadt- und regionalpolitische Entscheidungsprozesse an scheinbar feststehenden Sachzwängen und immer weniger an demokratischer Mitbestimmung orientieren. Doch De-Politisierung birgt immer auch die Möglichkeit einer Re-Politisierung in sich und ermöglicht die Entwicklung von Alternativen, die David Harvey (2000) als „Spaces of Hope“ beschreibt. Derzeit haben rechtspopulistische Bewegungen und die Proteste gegen diese zu einer starken Politisierung in ostdeutschen Städten und Regionen geführt. Damit ist die Frage vordergründig, welche Zukunftsvorstellungen die weitere Entwicklung in Ostdeutschland bestimmen werden. Wir nutzen diese Überlegungen als einen Fokus, um Verallgemeinerungen zum „Osten“ zu hinterfragen. Der Blick auf den multiskalaren, kleinräumlichen, differenzierten und politisch umstrittenen Charakter ostdeutscher Regionalentwicklung eröffnet eine kritische Reflektion von Ostdeutschland als scheinbar eindeutige und feststehende Analysekategorie.
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Gleichzeitig macht die oben skizzierte Perspektive auch spezifische Eigenschaften und historische Prägungen ostdeutscher Regionalentwicklung sicht- und damit auch analysierbar, ohne in einer länderkundlichen Diskussion das „Wesen“ Ostdeutschlands bestimmen zu müssen. Insofern geht es in diesem Sammelband nicht um das „AufDauerstellen“ der deutschen Teilung als räumliches Bild, sondern um die Thematisierung einzelner Problemfelder, Entwicklungslinien und verschiedener, teilweise auch widersprüchlicher Perspektiven. Regionalentwicklung in Ostdeutschland steht exemplarisch für die Geographien postsozialistischer Transformationen. Ostdeutschland ist damit sowohl Sonderfall als auch ein Beispiel für die historischen Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa.
1.4 Facetten einer Transformation: Zu den einzelnen Beiträgen Die hier angerissenen Punkte finden sich im Aufbau des Bandes und den einzelnen Beiträgen wieder. Die sechs inhaltlichen Blöcke, in die die insgesamt 37 Beiträge unterteilt sind, sollen eine grobe inhaltliche Orientierung geben. Die Blöcke weisen untereinander zahlreiche inhaltliche Bezüge auf und sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Teil I „Politische Geographien Ostdeutschlands“ greift die historische Gewordenheit und Konflikthaftigkeit ostdeutscher Regionalentwicklung auf. Der Teil stellt Fragen nach der Repräsentation von Ostdeutschland in Diskursen und Entscheidungsprozessen und zieht eine Verbindung zwischen politischen Diskursen und den politischen Praktiken der ostdeutschen Bevölkerung. Manfred Rolfes thematisiert die Unterschiede der politischen Einstellungen in Ost- und Westdeutschland sowie deren Interpretationen als Ausdruck eines Andersseins. Raj Kollmorgen behandelt ungleiche Machtverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland am Beispiel der unterdurchschnittlichen Repräsentation von Ostdeutschen in gesellschaftlichen Eliten. Der Text von Sophie Perthus führt anhand der Entwicklung der Polizei in Sachsen die Veränderung von Staatsapparaten und deren Rolle bei der Bearbeitung sozialer Konflikte aus. Hans-Joachim Bürkner zeichnet die Entwicklung ostdeutscher Grenzregionen nach der Wiedervereinigung nach und zeigt die alltagsweltlichen Auswirkungen bzw. Reproduktionen veränderter Grenzregime. Kristine Beurskens und Judith Miggelbrink zeigen, wie neue Praktiken der Sicherheit an der ostdeutschen Grenze zu Polen von Prozessen der Reskalierung, Versicherheitlichung und Ent-Ortung geprägt sind und damit überregionale Entwicklungen widerspiegeln. Teil II „Wirtschaftlicher Strukturwandel und Politische Ökonomie“ schließt an Teil I an, denn die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland geht maßgeblich auf politische Entscheidungen seit 1990 zurück. Gleichzeitig zeigen sich mit Blick auf wirtschaftliche Strukturen die Ungleichheiten und Differenzierungen in Ostdeutschland besonders deutlich. Sebastian Henn und Susann Schäfer geben zunächst einen Überblick über die wirtschaftsräumliche Entwicklung Ostdeutschlands, indem sie Strukturmerkmale ostdeutscher Unternehmen aufzeigen und eine Typologisierung ostdeutscher
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Regionen entwickeln. Hierbei wird eine Differenzierung zwischen Landkreisen mit nur einem geringen Entwicklungspotenzial und Groß- und Universitätsstädten mit einem mittleren bis großen Potenzial deutlich. Die strukturelle Abhängigkeit Ostdeutschlands von Westdeutschland ist Gegenstand des Beitrags von Dominik Intelmann, der die Ursachen und Perspektiven einer transfergestützten Ökonomie erläutert. Christoph Scheuplein zeigt, wie die ökonomische Schwäche zahlreicher ostdeutscher Regionen deren öffentlichen Sektor für eine Finanzialisierung leichter zugänglich macht, während der kleinteilige private Sektor bislang davon weniger betroffen ist. Frauke Richter und Daniel Schiller erläutern die prekäre Situation kommunaler Haushalte ostdeutscher Mittelstädte, die durch demographischen Wandel, ökonomische Transformation und ländlich-periphere Lage vor zusätzlichen Herausforderungen stehen. Den Umgang mit dem Dilemma zwischen Fachkräftemangel einerseits und dem nicht ausgeschöpften Potenzial internationaler Arbeitskräfte andererseits schildern Susann Schäfer und Sebastian Henn am Beispiel Thüringen. Suntje Schmidt diskutiert hingegen den Beitrag der Kreativwirtschaft als positive Strategie für die wirtschaftliche Entwicklung ostdeutscher Städte und Regionen am Beispiel von Open Creative Labs in Berlin und Brandenburg. Die Transformation eines ostdeutschen Wirtschaftssektors, des Einzelhandels, vollzieht Elmar Kulke nach und identifiziert nach wie vor bestehende Besonderheiten gegenüber Westdeutschland. Der wirtschaftliche Strukturwandel lief nicht nur mit enormer Geschwindigkeit ab, er hatte auch weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen. Diese und aktuelle Debatten um die Wahrnehmung von Migration sind Gegenstand von Teil III „Sozialer Wandel in Ostdeutschland“. Tilo Felgenhauer diskutiert die Wiederentdeckung der Region „Mitteldeutschland“ durch Medien, Politik und Wissenschaft. Der Beitrag von Daniel Kubiak zeigt, wie sich ostdeutsche Identitäten verändert haben und auch von der Nachwendegeneration fortgeschrieben werden. Der Abwanderung von Bevölkerung aus Ostdeutschland, auch als eine Folge von wirtschaftlichen Strukturbrüchen verstanden, stellt Tim Leibert den aktuellen Trend einer Zuwanderung in die ostdeutschen Bundesländer gegenüber. Birgit Glorius zeichnet in zwei Beiträgen die Migrationsgeschichte Ostdeutschlands vor und nach der Wende nach. Diese spezifische Geschichte bildet den Hintergrund für nach wie vor signifikante Unterschiede in Ostdeutschland zum bundesweiten Diskurs um Zuwanderung. Jonathan Everts, Kim Anna Juraschek, Larissa Fleischmann und Florian Ringel fassen aktuelle Entwicklungen von Migration und Integration in Ostdeutschland mit dem Begriff der postmigrantischen Multikulturalität, der unter anderem die zunehmende Alltäglichkeit von Migration beschreibt. Wie sich die gesellschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland in der humangeographischen Lehre und Forschung widerspiegeln, zeigen Anne Köllner, Lea Bauer, Alejandro Armas-Díaz und Vera Denzer am Beispiel des Instituts für Geographie der Universität Leipzig. Teil IV „Ostdeutsche Städte im Umbruch“ zeigt die urbanen Dimensionen dieser politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationen. Hier wird die kleinräumliche Differenzierung räumlicher Entwicklung in Ostdeutschland deutlich. Karin Wiest gibt einen Überblick über die Entwicklung der Wohnungsmärkte in ostdeutschen
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Städten und identifiziert dabei Phasen der marktwirtschaftlichen Überführung, des Nebeneinanders von Schrumpfung und Wachstum sowie von aktuellen Verknappungstendenzen. Eine Phasenhaftigkeit lässt sich auch für die demographische Entwicklung ostdeutscher Groß- und Mittelstädte nachweisen, die Mathias Siedhoff als Prozesse der Suburbanisierung, Des- und Reurbanisierung diskutiert. Die räumliche wie auch zeitliche Ausdifferenzierung ostdeutscher Stadtentwicklung macht Nico Grunze am Beispiel von Großwohnsiedlungen deutlich. Diese lassen sich auf Grundlage städtebaulicher und sozialer Merkmale einer Typologie zuordnen, die durch unterschiedliche Entwicklungstrends gekennzeichnet ist. Dem medialen Bild des unausweichlichen Niedergangs ostdeutscher Städte stellt Andrej Holm Befunde der Gentrification-Forschung in Ostdeutschland gegenüber. So lassen sich in zahlreichen, teilweise auch in schrumpfenden Städten Aufwertungs- aber auch Verdrängungsprozessenachweisen. Andreas Ortner, Jasmin Uttner, Robert Krägenbrink und Alexandra Weitkamp nutzen die Entwicklung von Bodenwerten in ausgewählten Stadtvierteln, um die verschiedenen Trends ostdeutscher Stadtentwicklung zu verdeutlichen. Janina Dobrusskin, Valentin Domann, Henning Füller und Jenny Künkel zeigen am „Sonderfall“ der Internationalisierung von Berlin die Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit städtischer Entwicklung in der größten Metropole Ostdeutschlands. Daran schließt der Beitrag von Rico Rokitte an, der die Rolle und Rationalitäten städtischer Protestbewegungen in Leipzig thematisiert. Teil V „Ländlicher Wandel in Ostdeutschland“ behandelt die Entwicklung der Räume jenseits der ostdeutschen Großstädte. Im ruralen Kontext zeigen sich die gesellschaftlichen Umbrüche nach 1989 besonders deutlich. Christine Tamásy und Oliver Klein zeichnen den strukturellen Wandel der ostdeutschen Landwirtschaft nach und zeigen, wie weiterhin großbetriebliche Strukturen für diesen Sektor bestimmend sind. Die infrastrukturelle Dimension der Transformation in Ostdeutschland diskutiert Annett Steinführer als Ab-, Um- und Ausbau der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Jochen Corthier erläutert die demographische Entwicklung ländlich-peripherer Räume am Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern, die zur Herausbildung einer „Residualbevölkerung“ führte. Die Auswirkungen politischer, wirtschaftlicher, demographischer und infrastruktureller Veränderungen auf den Alltag in ländlichen Räumen ist Gegenstand des Beitrags von Stephan Beetz. Mit „Smart Countryside“ als mögliches Zukunftsszenario ländlicher Regionen setzt sich Thomas Weith kritisch auseinander. Peter Dehne bilanziert schließlich die bisherigen Instrumente und Programme der Raumordnung und Regionalentwicklung in Ostdeutschland. Eng verbunden mit ländlicher Entwicklung in Ostdeutschland ist Teil VI zu „Transformationen von Infrastrukturen und Mensch-Natur-Verhältnissen“. Dieser Teil wirft einen Blick auf ökologische Fragen einer Regionalentwicklung unter den Bedingungen gesellschaftlicher Umbrüche. Matthias Gather und Barbara Lenz untersuchen die Entwicklung der Verkehrsinfrastrukturen und des Mobilitätsverhaltens in Ostdeutschland. Hier zeigen sich widersprüchliche Ergebnisse einer verbesserten Autobahnerreichbarkeit einerseits und einer Einschränkung des Flächennetzes im Schienenverkehr andererseits.
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Die Transformation ostdeutscher Kulturlandschaften und deren Erschließung als Potenzial für regionale Entwicklungsstrategien ist Gegenstand des Beitrags von Ludger Gailing. Die Erfolge bei der Umweltsanierung in ostdeutschen Industrie- und Bergbauregionen sowie mögliche touristische Folgenutzungen erläutern Gerd Lintz und Peter Wirth. Fragen der touristischen Entwicklung behandeln auch Marius Mayer und Susanne StollKleemann am Beispiel von Großschutzgebieten. Die lokale Aushandlung von Nachhaltigkeitstransformationen ist der Gegenstand von Cindy Sturms Analyse der Klimapolitik in Dresden. Ungeachtet seines Umfangs erheben wir mit dem vorliegenden Band keinen Anspruch darauf, alle Facetten der Regionalentwicklung in Ostdeutschland vollständig abgebildet zu haben. Wir können lediglich eine Momentaufnahme der Forschung zu ostdeutscher Regionalentwicklung liefern, die zahlreiche Lücken offenlässt und neue Fragen aufwirft.
1.5 Ausblick Zur eingangs problematisierten Reproduktion von Ostdeutschland als Raumkategorie und Forschungsgegenstand trägt auch dieser Band zwangsläufig bei. Die Selbstreflektion humangeographischer Forschung hinsichtlich ihrer Grundannahmen, thematischen Schwerpunktsetzungen und bislang blinden Flecken bleibt eine konzeptionelle, empirische wie auch methodische Herausforderung. Dies schließt auch Fragen der Positionalität einer vor allem westdeutsch sozialisierten Forschung zu Ostdeutschland ein. Dieses Buch liefert einen aktuellen Überblick zu Fragestellungen und Befunden der geographischen Auseinandersetzung aus und mit Ostdeutschland. Zu Ostdeutschland, zur kritischen Ostdeutschlandforschung wie auch zur Kritik an der Ostdeutschlandforschung wünschen wir uns weitergehende Debatten. Dieser Sammelband beschränkte sich auf eine Auswahl an Themen, die der Aktualisierung und Erweiterung bedürfen. Die Serie rechtsextremer Gewalttaten sowie die anhaltende Normalisierung rassistischer und nationalistischer Positionen als Anliegen „besorgter Bürger*innen“ wird leider, wie letzte Wahlergebnisse und der Umgang bürgerlicher Parteien damit zeigen, beiderseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Forschungsgegenstand der Humangeographie an Bedeutung zunehmen. Zu weiteren Gegenständen, die wir in diesem Buch nicht abbilden konnten, zählen Fragen der Kultur-, Bildungs- und Gesundheitsgeographie. Weitere offene Forschungsfelder betreffen die ambivalente Rolle der Geographie als Disziplin im politischen System der DDR, den Wandel der Raumbilder von Ostdeutschland in der zeitgenössischen Literatur, historische Längsschnittstudien zum Wandel einzelner Regionen und Städte, einen internationalen Vergleich von Transformationsgesellschaften 30 Jahre nach dem Ende des Ostblocks sowie die noch zukünftigen Auswirkungen des demographischen Wandels. Die Kritik an der bisherigen Struktur- und Förderpolitik wirft die Frage nach Alternativen auf, aber auch grundsätzlich danach, wie die politische Repräsentation und Selbstbestimmung ostdeutscher Regionen gestärkt werden kann. Die Bearbeitung dieses
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Forschungsbedarfes ist auch eine wissenschaftspolitische Frage. Letztendlich hängt die humangeographische Stadt- und Regionalforschung vom Erhalt von Wissenschaftsstandorten, der Wiederbesetzung von Lehrstühlen und der Zulassung von Studiengängen ab. Hier zeigen die Beiträge des Bandes die gesellschaftliche Relevanz und die ausgeprägte interdisziplinäre Anschlussfähigkeit humangeographischer Stadt- und Regionalforschung. Humangeographische Forschung und Lehre kann nur in Kooperation gelingen, und so ist auch dieser Band das Ergebnis der Mitwirkung verschiedener Menschen, denen wir dafür unseren Dank aussprechen möchten. Zunächst möchten wir allen Autor*innen für die Beteiligung an diesem Publikationsprojekt und die Nachsicht uns gegenüber bei Überarbeitungswünschen sowie Verzögerungen bei der Fertigstellung des Bandes danken. Anna Rehermann, Ana Sohler Sánchez und Jascha Littmann haben als studentische Hilfskräfte am Geographischen Institut der Universität Bonn die Formatierung der Texte übernommen. Für die angenehme Zusammenarbeit mit dem Verlag Springer Spektrum bedanken wir uns bei Meike Barth und Stefanie Wolf. Schließlich gebührt unser Dank allen Teilnehmenden der Fachsitzung „Regionalentwicklung in Ostdeutschland – Forschungsstand und ‐perspektiven auf räumliche Transformationen und soziale Praktiken“ auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2019 in Kiel, von deren Kommentaren wir sehr profitiert haben.
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Teil I Die Politische Geographie Ostdeutschlands
2
Der „Osten“ ist anders!? Anmerkungen zu den Diskursen über die politischen Einstellungen in Ostdeutschland Manfred Rolfes
Zusammenfassung
Der Beitrag thematisiert die Unterschiede der politischen Einstellungen bei „Ostdeutschen“ und bei „Westdeutschen“ sowie deren Plausibilisierungen und Interpretationen. Dazu werden zum einen Überlegungen angestellt, welchen Stellenwert das Räumliche und der „Westen“ bei der politischen Konfiguration des „Ostens“ besitzen. Zum anderen wird auf einer erkenntnistheoretischen Ebene diskutiert, was aus dem Blick geraten kann, wenn Fragen nach der Andersartigkeit des „Ostens“ und der politischen Einstellung seiner Bewohner*innen gestellt und beantwortet werden. Der Beitrag soll darauf aufmerksam machen, dass in den wissenschaftlichen und politischen Debatten über das Anderssein des „Ostens“ und die politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ blinde Flecken auftauchen, die es auszuleuchten gilt.
2.1 Vorbemerkung und theoretische Rahmung Diskurse über den „Osten“ begleiten die wissenschaftlichen, politischen und medialen Debatten in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Darin werden die Charakteristika des „Ostens“, Ostdeutschlands, der neuen Bundesländer oder der „Ostdeutschen“ beobachtet und herausgestellt. In der Regel wird dabei der „Osten“ als etwas Besonderes oder anderes bezeichnet. Dies ist auch nachvollziehbar, denn wenn der „Osten“ nicht anders wäre, würde es schließlich gar keinen Sinn machen, ihn zu bezeichnen und von
M. Rolfes (*) Institut für Umweltwissenschaften und Geographie, Universität Potsdam, Potsdam-Golm, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_2
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etwas anderem zu unterscheiden. Aus einer beobachtungstheoretischen Perspektive markiert die Bezeichnung „Osten“ also eine Differenz, die für die Gesellschaft einen Unterschied macht (Bateson 2001, S. 582); ohne Unterscheidung wäre eine Bezeichnung wie „Osten“ beliebig und für gesellschaftliche Kommunikation nicht anschlussfähig. In diesem Beitrag werden vor allem solche Merkmale interessieren, die Unterscheidungen innerhalb der Kategorie des Politischen betreffen. Denn gerade hinsichtlich der politischen Einstellungen offenbart ein Blick auf den „Osten“ einen Unterschied. Vor diesem Hintergrund sollen in Abschn. 2.2 Überlegungen angestellt werden, was im Hinblick auf politische Einstellungen das Besondere des „Ostens“ ist, was den Unterschied ausmacht. Dazu gilt es zu analysieren, welches Wissen insbesondere die Wissenschaft über die Besonderheiten des „Ostens“ produziert. Welche Hypothesen werden für die spezifischen Merkmale der politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ angeführt? Worin werden die Ursachen und Hintergründe hierfür gesehen? Bei der Analyse dessen, was den „Osten“ oder die „Ostdeutschen“ bei politischen Einstellungen als etwas Besonderes oder zu Unterscheidendes ausmacht, stößt man häufig auf einen Vergleich mit dem „Westen“ oder den „Westdeutschen“. Es ist daher ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, inwiefern bei der Thematisierung der im „Osten“ zu beobachtenden politischen Einstellungen der „Westen“ als Vergleichsebene herangezogen wird. An dieser Stelle ist es angezeigt, kurz über die Funktion der Kategorie Raum nachzudenken: In diesem Beitrag werden der „Osten“ und der „Westen“ als mit Bedeutungen aufgeladene Raumbilder – oder präziser – als raumbezogene Semantiken verstanden. Im Sinne von Redepenning (2006, S. 128 ff.) sind dabei raumbezogene Semantiken als Reduktionen oder Vereinfachungen sozialer, ökonomischer, kultureller oder politischer Komplexität aufzufassen, die speziell zu diesem Zweck von sozialen Systemen hergestellt werden. Sie stabilisieren soziale Systeme, indem sie beispielsweise deren Grenzverläufe markieren (z. B. Unterschiede zwischen hier/dort oder wir/die) und zur kommunikativen Erwartungsund Strukturbildung beitragen (z. B. sich eines kollektiven Gedächtnisses oder Identitäten versichern, Normen und Regeln im System (re-)produzieren). Mit dieser theoretischen Folie wird in Abschn. 2.3 das Verhältnis des „Ostens“ zum „Westen“ untersucht. In Abschn. 2.4 wird abschließend diskutiert, inwieweit die politischen und wissenschaftlichen Beobachtungen der politischen Einstellungen von „Ost- und Westdeutschen“ durch das Einziehen eines räumlich-differenzierenden Blicks beeinflusst oder gar ungenauer werden. Was wird verdeckt, wenn Differenzen des politischen Verhaltens oder politischer Einstellungen auf Raumkategorien gelegt werden? Welche Funktionen haben die raumbezogenen Differenzierungen und die ihnen zugeschriebenen Begründungen?
2.2 Politische Einstellungen und Verhaltensweisen im „Osten“ und ihre Hintergründe Als Einstieg für die Beobachtung der politischen Einstellungen in Ostdeutschland sollen die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 dienen. In Abb. 2.1 ist dargestellt, wie stark die Zweitstimmenanteile der sechs größten Parteien in den 16 Bundesländern vom Ergebnis
2 Der Osten ist anders!? Diskurse zu Ostdeutschland
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+0,2
SchleswigHolstein Bremen -5,3
Mecklenburg-Vorpommern -5,2
Hamburg -0,1
Niedersachsen -0,5 Berlin
+0,3
NordrheinWestfalen
-2,4
Brandenburg
Sachsen-Anhalt -8,0
Sachsen
-0,7
Thüringen -1,8 Hessen +0,9
Rheinland-Pfalz +1,6 Saarland +0,5
-0,7
Länderbezogene Abweichungen der Parteien von ihrem Bundesgesamtergebnis (in Prozentpunkten)* CDU/CSU SPD Linke B90/Grüne FDP AFD -15 -10 -5
+2,2
Baden-Württemberg
+2,0 Bayern
0 0 +5 +10 +15
Ergebnis der Bundestagswahl 2017 (Zweitstimmen) sonstige CDU/CSU AFD 5,0 12,6 32,9 FDP 10,7
-1,6 Länderbezogene Abweichungen der Wahlbeteiligung vom Bundesgesamtergebnis 8,9 +8,0 (in Prozentpunkten) Wahlbeteiligung im Bundesgebiet: 76,1 % B90/Grüne
9,2 20,5 SPD Linke *Es ist für die sechs größten Parteien dargestellt, wie stark deren Zweitstimmanteile im jeweiligen Bundesland vom Ergebnis für das gesamte Bundesgebiet abweichen (in Prozentpunkten). Quelle: Der Bundeswahlleiter (2018): Informationen des Bundeswahlleiters Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017. Statistsiches Budnesamt: Wiesbaden. S. 15
Abb. 2.1 Länderbezogene Wahlergebnisse und Wahlbeteiligungen bei der Bundestagswahl 2017. (Quelle: Bundeswahlleiter 2018, S. 15)
für das gesamte Bundesgebiet abweichen. Auch die länderspezifischen Abweichungen der Wahlbeteiligung vom Bundeswert sind aufgeführt. Die bekannten Eigenschaften der ostdeutschen Länder springen sofort ins Auge: Überdurchschnittliche Anteile für die AfD
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und DIE LINKE, unterdurchschnittliche Stimmenanteile für die anderen Parteien und eine geringere Wahlbeteiligung als im Bundesdurchschnitt kennzeichnen teilweise schon seit Jahren die neuen Länder. Ergänzen lassen sich die Zuschreibungen durch mediale Berichterstattungen, politische Statements und auch wissenschaftliche Analysen, die in den neuen Ländern einen höheren Anteil von Personen mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Einstellungen ermitteln (Decker et al. 2018a, S. 71 ff.; Zick et al. 2016, S. 129 ff.), auf ein höheres Ausmaß rechter Gewalt im „Osten“ verweisen und deren Ursachen thematisieren (Kohlstruck 2018, S. 3 ff.; Best 2016, S. 119). In zahlreichen Studien werden diese besonderen politischen Einstellungen der ostdeutschen Bevölkerung oder des „Ostens“ untersucht und herausgestellt. Die Ergebnisse ähneln sich seit Jahren. Danach findet beispielsweise im „Osten“ die bundesdeutsche Demokratie weniger Zustimmung, die politische Partizipation in Form von Parteienmitgliedschaft, Parteiidentifikation und Wahlbeteiligung fällt geringer aus (Rudzio 2015, S. 526 f.), und das Vertrauen in politische Institutionen ist schwächer ausgeprägt (Rainer et al. 2018, S. 109 f.). Die empirischen Erkenntnisse werden in der Regel mit Abbildungen und Karten aufbereitet (Rösel und Samartzidies 2018, S. 11), wodurch das Soziale abstrahiert, (karto)graphisch visualisiert und schließlich räumlich fixiert wird. Die raumbezogene Semantik „Osten“ wird z. B. mit den Bedeutungen „rechtsextrem“ oder „rechtspopulistisch“ aufgeladen, und diese Eigenschaften werden durch Abbildungen und Karten verräumlicht und naturalisiert. Gerade im Hinblick auf die Frage, warum im „Osten“ den etablierten Parteien sowie den politischen Institutionen mit Zurückhaltung begegnet und in der Tendenz eher der LINKEN sowie rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien gefolgt wird, liefert die Forschung eine Vielzahl an Hypothesen; dabei lassen sich im Folgenden drei Argumentationsstränge identifizieren.
2.2.1 Lange Schatten eines autoritären Sozialismus Ein zentrales Argument für die Besonderheit der politischen Einstellungen im „Osten“ wird gesehen in einem „Fortbestand antidemokratischer, antipluralistischer und antikapitalistischer Einstellungen und Normen, die sich vor allem auf eine Sozialisation im autoritären Sozialismus sowjetischer Prägung zurückführen lassen“ (Best 2016, S. 120; Michelsen et al. 2017, S. 194 ff.; Quent 2016, S. 111). Solche Einstellungsmuster gelten in Ostdeutschland als stark verbreitet. Die „ostdeutsche“ Persönlichkeitsstruktur sei gekennzeichnet durch eine Überhöhung autoritärer Ordnungen (Michelsen et al. 2017, S. 191; Grau 2017, S. 17), autoritäre Aggression und Unterwürfigkeit sowie eine „Verschwörungsmentalität“ (Decker et al. 2018b, S. 122 ff.; Gudkov 2017, S. 104 ff.). Dementsprechend wird gefolgert: „In den neuen Bundesländern sind die autoritären Reaktionen besonders massiv; auch der Wunsch nach einer autoritären Führung ist im Osten offenbar immer drängender geworden“ (Decker et al. 2018b, S. 151).
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2.2.2 Transformation und fraternale Deprivation In nahezu allen einschlägigen Publikationen zu diesem Thema wird die „Wahrnehmung einer kollektiven Diskriminierung“ (Best 2016, S. 120) oder eine „fraternale Deprivation“ (Michelsen et al. 2017, S. 198; Klose 2018, S. 398) als Erklärung für das Wahlverhalten und die politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ angeführt: Durch den Transformationsprozess nach der Wiedervereinigung hätten viele Bürger*innen im „Osten“ biographische Brüche und infrastrukturelle Veränderungen erfahren. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die oft damit verbundenen Verluste von Arbeitsplätzen und Statuslagen hätten zumindest vorübergehend für zahlreiche „Ostdeutsche“ zum Wegfall einer für sie wichtigen sozialen Anerkennungssphäre (Michelsen et al. 2017, S. 200) und ihrer sozialen Sicherung geführt. Daraus habe der Eindruck einer kollektiven Benachteiligung resultiert, durch die sich viele „Ostdeutsche“ als Bürger*innen zweiter Klasse oder Modernisierungsverlierer*innen gefühlt hätten (Grau 2017, S. 15), einige sogar zu Modernisierungsgegner*innen geworden wären (Rösel und Samartzidis 2018, S. 9). Der Transformationsprozess sei mit einer permanenten diskursiven Abwertung und Enttäuschung einhergegangen: „‚Ostdeutsche‘ seien rückständig und noch nicht vollkommen in der Moderne angekommen“ (Kubiak 2018, S. 29).
2.2.3 Überzogene Homogenitätserwartungen Es wird auch argumentiert, dass bei der ostdeutschen Bevölkerung aufgrund der marginalisierenden DDR-Migrationspolitik und der zahlenmäßig sehr geringen Kontakte zum ethnisch Fremden eine mangelnde Erfahrung mit multiethnischer Heterogenität vorliege (Glorius und Schondelmayer 2018, S. 76 f.). Es existierten historisch bedingte Normalitätserwartungen, die auf eine ethnisch-kulturell homogene Bevölkerung ausgerichtet seien und auf eine stärkere Inländerprivilegierung zielten (Kohlstruck 2018, S. 7). „Ostdeutsche“ würden sich als Benachteiligte oder Ausgegrenzte im eigenen Land fühlen, was sich auch in Vorbehalten gegenüber Fremden und einer Neigung zum Rechtspopulismus äußere (Küpper 2017, S. 99). Dieser Kausalzusammenhang zeige sich aufgrund der besonderen sozioökonomischen und kulturellen Struktur vor allem in ländlichen Regionen Ostdeutschlands (Glorius und Schondelmayer 2018, S. 77 f.; Schubarth und Ulbricht 2012, S. 43). Diese drei Diskursstränge bilden einen fest gefügten Argumentationskorpus, der die spezifischen Eigenschaften des „Ostens“ und seiner Bevölkerung sozialwissenschaftlich sowie methodisch absichert und einen markanten Unterschied plausibilisiert. Diese Kausalitäten werden durch weitere empirische Befunde gestützt, beispielsweise dass bei der „ostdeutschen“ Bevölkerung ein gutes Wirtschaftswachstum, technischer Fortschritt und öffentliche Sicherheit einen höheren Stellenwert habe, dass mehr staatliche Versorgung erwartet werde und eine andere Form der Mediennutzung beobachtbar sei
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(Rudzio 2015, S. 526 ff.), dass bei einem geringeren gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr AfD gewählt würde und generell eine „niedrigere Toleranz gegenüber modernen Lebensformen und eine höhere Skepsis gegenüber Politikern“ (Rösel und Samartzidis 2018, S. 13) zu verzeichnen sei. Es lasse sich sogar feststellen, dass diese Zuschreibungen zur Festigung einer eigenen „ostdeutschen“ Identität beitrügen (Klose 2018, S. 398; Kubiak 2018, S. 39; Kap. 15). Rudzio kommt zu dem Schluss: „Diese Züge der politischen Kultur erlauben es, von einer regionalen Sonderkultur zu sprechen“ (2015, S. 528). Die Ausführungen machen deutlich, dass die raumbezogenen Semantiken, die den „Osten“, die neuen Bundesländer und deren Bewohner*innen betreffen, vielfältig aufgebaut und stabilisiert werden. Die Grenzziehung ist eindeutig und umfasst das Gebiet der ehemaligen DDR. Wissenschaftlich abgesicherte empirische Erhebungen objektivieren die Befunde zu den politischen Einstellungen im „Osten“ und laden die Ost-Semantik multikomplex auf. Neben den räumlichen gibt es historisierende Essenzialisierungen, die der sozialistischen DDR-Vergangenheit eine zentrale Rolle bei der Etablierung einer Ost-Semantik zuschreiben. Auch eine emotionale Aufladung findet statt, die sich aus den Diskriminierungen und Benachteiligungen speist, die der politische und sozioökonomische Transformationsprozess ausgelöst hat. Man denke hier beispielsweise an die mit dem Stichwort „Ostalgie“ verbundenen Sehnsüchte und Heimatzuschreibungen. Die Ost-Semantik weist dabei zirkuläre Züge auf, da gerade die emotionalisierten Aufladungen kollektive Bezugspunkte für eine Ostidentität zu werden scheinen.
2.3 Der „Westen“ als Konstruktionsprinzip des „Ostens“ Der „Osten“ kann also als eine raumbezogene Semantik aufgefasst werden, die als Ergebnis einer Unterscheidung in gesellschaftlicher Kommunikation zu verstehen ist. Doch wovon wird der „Osten“ unterschieden? Von wem oder was unterscheiden sich die „Ostdeutschen“? Was ist die andere Seite der Unterscheidung? Oder, um die Unterscheidung und Bezeichnung „Osten“ aus der formentheoretischen Perspektive von Spencer Brown (1997) zu verstehen: Was steht außerhalb der Unterscheidung? Was ist die andere Seite der Form? Zunächst scheint es naheliegend, den „Westen“ oder die alten Länder als zweite Seite der Form anzunehmen. Aus formentheoretischer Sicht muss man sich allerdings von dieser Vorstellung trennen; denn der „Westen“ stellt nur eine mögliche andere Seite der Bezeichnung „Osten“ dar. Auf der anderen Seite könnte auch Polen, Rumänien, postsozialistischer Staat oder Heimat stehen. Es gibt quasi eine unendliche Zahl an Möglichkeiten, was als Gegenstück zur Markierung „Osten“ vorstellbar wäre. Für den hier vorliegenden Untersuchungszusammenhang ist daher die Frage von Bedeutung, in welchem gesellschaftlichen Kontext die Markierung „Osten“ überhaupt erst eine
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Relevanz erlangt. Da es um politische Einstellungen und deren wissenschaftliche Analyse geht, haben wir es offenbar mit einem politischen und wissenschaftlichen Kontext auf nationaler Ebene zu tun. Der „Westen“ kann aus einer formentheoretischen Perspektive nicht als Kontext der Markierung „Osten“ oder als andere Seite der Unterscheidung „Osten“ aufgefasst werden. Der „Westen“ ist vielmehr ein Bestandteil der Konstruktion der Bezeichnung „Osten“, ein Konstruktionsprinzip für die raumbezogene Semantik „Osten“. Der „Westen“ oder die Bevölkerung Westdeutschlands taucht in den politischen, massenmedialen und wissenschaftlichen Diskursen um die Konstruktion und Konturierung des „Ostens“ in zweifacher Weise auf: zum einen als Vergleichsgröße für den „Osten“. Der „Westen“ ist die Norm, an der der „Osten“ und seine Bewohner*innen gemessen und bewertet werden (Klose 2018, S. 401). Und zum anderen als eine gestaltende Kraft des Transformationsprozesses, der wiederum für die Diskriminierung und Benachteiligung des „Ostens“ verantwortlich gemacht wird (Michelsen et al. 2017, S. 190 ff.). Für die These, dass der „Westen“ als normensetzende Größe für den „Osten“ herangezogen wird, finden sich mehrere Anhaltspunkte. Zwar existieren einige Ost-West-Gegenüberstellungen, die als neutral gelten können, dass z. B. bezogen auf politische Werte „die Mehrzahl im Westen für Freiheit und im Osten für Gleichheit eintritt“ (Klose 2018, S. 403). Auch weisen einige Autor*innen explizit darauf hin, dass es zwischen Ost und West mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gebe oder die Ost-West-Differenzen nur minimal seien (Glorius und Schondelmayer 2018, S. 90; Küpper 2017, S. 96; Zick et al. 2016, S. 130). Dennoch lassen sich immer wieder Auswertungen finden, in denen die „Ostdeutschen“ im Vergleich zu den „Westdeutschen“ als defizitär charakterisiert werden. So zeigen beispielsweise Studien, dass beim Umgang mit Zuwanderung in ostdeutschen Kommunen eher autoritative Handlungsorientierungen dominieren, während in westdeutschen Kommunen ein proaktives, selbstverantwortliches Handeln festgestellt wird (Glorius und Schondelmayer 2018, S. 90 ff.). Einige Studien argumentieren auch, dass die Selbstidentifikation der Bewohner*innen des „Ostens“ tendenziell eher negativ ausfällt, während eine Selbstidentifikation als „Westdeutsche“ in der Regel fehlt (Kubiak 2018, S. 34 ff.). Der „Westen“ als Pendant zum „Osten“ bleibt in seiner Charakteristik häufig unbestimmt. Ihm wird gleichwohl zugeschrieben, dass er trotzdem die Normen und Regeln setzt, nach denen der „Osten“ entwickelt wird. Damit kommt man zu der Frage, wie der „Westen“ die „Entwicklung“ des „Ostens“ gestaltet hat bzw. noch gestaltet. Dabei wird wiederholt formuliert, der „Osten“ wurde durch den „Westen“ „schnell eingenommen und protektionistisch verteidigt“ (Klose 2018, S. 401), z. B. in Bezug auf rückübertragenes Bauland und Eigentum. In Anlehnung an Kubiak (2018, S. 29 ff.) kann sogar argumentiert werden, dass postkoloniale Ansätze gute Kategorien liefern, das Verhältnis zwischen dem deutschen „Osten“ und dem deutschen „Westen“ zu beschreiben. „Westdeutsche“ Denkmuster und
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Strukturen wurden seit 1990 im „Osten“ eingeführt und wirken bis heute weiter; asymmetrisch wahrgenommene Machtstrukturen haben sich etabliert, die auf der einen Seite einen fortschrittlichen „Westen“ mit Expansionsstreben sehen und auf der anderen Seite einen rückständigen Rest mit marginalisierten Subjekten (Lossau 2012, S. 126). Die Wissensproduktion über Ostdeutschland und die DDR war „jahrelang geprägt von ‚westdeutschen‘ Forscher*innen, die den Diskurs über den ‚Osten‘ prägten“ (Kubiak 2018, S. 30). Somit kann zwischen „Westen“ und „Osten“ ein gefühltes Verhältnis von Überund Unterordnung festgestellt werden, bei dem auf westdeutscher Seite das „Eigene … als so ‚normal‘ empfunden [wird], so dass es nicht hinterfragt wird“ (ebd., S. 37). Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Einheit wird diese asymmetrische Geber-Empfänger-Verbindung mit positiven Begriffen wie Solidarität, Stolz oder Dankbarkeit aufgeladen und emotionalisiert (Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Länder 2018, S. 13). Das (post)koloniale Verhältnis gerät dadurch etwas aus dem Blick. Die Macht- und Anerkennungsasymmetrien bleiben aber für Ost- wie Westdeutsche stets präsent und werden immer wieder thematisiert (Michelsen et al. 2017, S. 198). Die Ost-West-Differenzen können also als zwei Seiten derselben Medaille verstanden werden. Für die Bezeichnung und Markierung des „Ostens“ in Form einer raumbezogenen Semantik ist der „Westen“ konstitutiv. Der „Westen“ kann nicht als logisches Pendant zum „Osten“, sondern eher als ein spezifisches Konstruktionselement für den „Osten“ aufgefasst werden. Die politischen Einstellungen im „Osten“ sind unter anderem deshalb etwas Besonderes und können erst dadurch als anders bezeichnet werden, weil sie von den zur Norm erhobenen Werten des „Westens“ abweichen. Der „Westen“ ist also nicht die andere Seite der Form „Osten“, sondern ein Stabilisator der Ost-Semantik. Der „Westen“ bringt den „Osten“ mit hervor, schält dessen Markierung weiter heraus, verschafft ihm zusätzliche Klarheit. Alles, was an den politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ anders erscheint, muss anders erscheinen, weil es erstens nicht der westdeutschen Vergleichsnorm entspricht, ihr gar nicht (oder nur zufällig) entsprechen kann, und zweitens, weil man in sozialen Zusammenhängen stets Differenzen findet, wenn Beobachtungen räumlich unterschieden werden.
2.4 Die raumbezogene Semantik „Osten“: Funktionen und blinde Flecken Die im gesellschaftlichen Diskurs etablierte raumbezogene Semantik „Osten“ (in ihren verschiedenen Varianten) ist sehr robust. Sie liefert einen räumlich codierten Gegenstand und Bezugspunkt für Selbst- und Fremdrepräsentationen und lässt sich sehr gut plausibilisieren und reproduzieren. Sie „funktioniert“ und wirkt, wie es von ihr erwartet wird (Redepenning 2006, S. 128 ff.): Das Politische und Soziale wird im „Osten“ territorialisiert, naturalisiert und homogenisiert. Die politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ werden als ontologisch anders beschrieben. So ist der „Osten“, so sind die
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„Ostdeutschen“, und die Gründe dafür sind plausibel. Zumindest in alltagsweltlicher Kommunikation stehen somit „Ostdeutsche“ unter dem Generalverdacht, neu-rechts, rechtsextrem, autoritativ geprägt oder rechtspopulistisch(er) zu sein. Man bildet diese wissenschaftliche Debatte jedoch nicht korrekt ab, wenn nicht auch auf Differenzierungen und Relativierungen hingewiesen wird. So zeigen diverse Studien, dass sich die Ost-West-Unterschiede bei den politischen Einstellungen erheblich verringern, je jünger und ähnlicher die sozialen Gruppen werden, die man miteinander vergleicht (Richter und Bötsch 2017, S. 40; Rainer et al. 2018, S. 170 ff.). Auch innerhalb des „Ostens“ werden räumliche Differenzierungen ermittelt. So gedeihen rechtspopulistische oder rechtsextreme Einstellungen vor allem in peripheren-ländlichen ostdeutschen Kommunen und weniger in ostdeutschen Städten (Glorius und Schondelmayer 2018, S. 77 f.; Michelsen et al. 2017, S. 196). Im wissenschaftlichen Diskurs zu politischen Einstellungen und rechter Gewalt gibt es zudem Hinweise darauf, dass die qualitativen und quantitativen Maßstäbe der Messung von Ost-West-Unterschieden Verzerrungen liefern und unterkomplex sind, z. B. die unterschiedlichen Niveaus der Häufigkeitszahlen von Kriminalität in den alten und neuen Ländern oder die spezifischen Profile des Rechtsextremismus im „Osten“ und im „Westen“ (Kohlstruck 2018, S. 5; Schubarth und Ulbricht 2012, S. 36). Mehrfach lassen sich Hinweise finden, dass die Methoden, Herangehensweisen und Analysen zur Identifizierung von Ost-West-Differenzen kritisch zu beleuchten sind (Best 2016, S. 127 f.; Rainer et al. 2018, S. 185). Sie vermögen womöglich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung genau die Unterschiede zu reproduzieren, nach denen gesucht wird. Die raumbezogene Ost-Semantik, die mit einem Konglomerat aus Autoritarismus, Transformationsverletzungen und Heterogenitätsphobie die politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ zu erklären versucht, erweist sich auch 30 Jahre nach der Wende noch als stabil. Sie erfüllt ihre Funktion der Reduktion sozialer Komplexität, der räumlichen Konkretisierung sozialer Probleme, der Kommunikationsvereinfachung und der Grenzziehung zwischen Inkludierten und Exkludierten (Redepenning 2006, S. 131). Diese Phänomen- und Problemverortung stellt zudem einen praktikablen (raumbezogenen) Zugang für die politische Problembearbeitung dar. So ist es nachvollziehbar, dass die Strategie der Bundesregierung zur Stärkung der Demokratie vor allem auf die ländlichen und peripheren Räume im „Osten“ der Republik zielt (Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Länder 2018, S. 83). Der Raum dient als plausible Erklärungs- und Interventionsebene, als politische Handlungsbühne. Dem regionalen oder lokalen sozialen Milieu schreiben viele Autor*innen eine erhebliche Erklärungskraft für die politischen Einstellungen zu. Städte, Stadtteile und Gemeinden werden als lokale Settings verstanden, in denen sich raumzeitlich fixierte politische, ökonomische und soziale Gemeinschaften herausbilden (Glorius und Schondelmayer 2018, S. 77; Richter und Bötsch 2017, S. 41; Quent 2016; S. 111) und an denen eine Demokratiestärkung oder Rechtsextremismusprävention ansetzen sollte. Doch oft gerät dabei aus dem Blick, dass lokale Interventionen nur deren lokale Ursachen angehen können.
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Wie bereits zu erkennen ist, hat die hier ausgebreitete Ost-West-Raumbrille blinde Flecken. Auf zwei weitere Aspekte soll daher noch hingewiesen werden: • So kann selbst ein plausibles räumliches Beobachtungsschema den Blick darauf verstellen, dass die Variationen politischer Einstellungen in erster Linie aus den sozialen Differenzierungen innerhalb der Bevölkerung resultieren. Die Studie von Elsässer et al. hat gezeigt, „dass das Einkommen politische Meinungen beeinflusst. Einkommensarme Befragte wünschen sich in einer Vielzahl der Fälle andere Entscheidungen der Politik als ihre besser verdienenden Mitbürger_innen“ (2017, S. 177). Demzufolge dürften auch ihre Wahlentscheidungen anders ausfallen, oder „[s]ozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und wenden sich deshalb von der Politik ab, die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert“ (ebd., S. 178). Die Autor*innen weisen damit auf einen Mechanismus der Entstehung und Verfestigung von (De-)Privilegierungen und sozialer Ungleichheiten hin, der eigentlich eine politische Kurskorrektur in Richtung eines stärkeren sozialen Ausgleichs und einer gerechteren Teilhabe aller Gesellschaftsgruppen erfordert. Beobachtet man hingegen die mit dieser sozialen Differenzierung verbundenen politischen Einstellungsunterschiede nur im Ost-West-Schema, so erscheinen die Wahlentscheidungen in erster Linie als Ergebnis der oben beschriebenen räumlichen Erklärungsvariablen: Die Verursachung dieser politischen Abweichung der „Ostdeutschen“ kann problemlos auf die Folgen der SED-Diktatur, die sozioökonomische Schwäche der ehemaligen DDR und die schmerzhaften Transformationserfahrungen überantwortet werden (Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Länder 2018, S. 13 f.; Schubarth und Ulbricht 2012, S. 37 ff.). • Durch die explizite Verortung von Rassismus, rechtsextremen Einstellungen und Fremdenfeindlichkeit im „Osten“ werden auch die Ursachen dieser Einstellungen im „Osten“ gesucht. Der „Westen“ ist damit weitgehend entlastet (Schubarth und Ulbricht 2012, S. 36), erscheint als weniger rassistisch und in Bezug auf Zuwanderung toleranter. Der blinde Fleck dieser raumbezogenen Plausibilisierung ist allerdings, dass die Ursachen rechtsextremer und rechtspopulistischer Einstellungen im Zusammenhang stehen mit in einer seit 1990 in allen Landesteilen regelmäßig stattfindenden „gewaltgestützten staatlich-politischen Grenzziehung zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern (Grenzsicherung, Inhaftierung in Abschiebelager, Abschiebungen), der ethnisch-nationalistischen ‚Dominanzkultur‘ … sowie medialen Inszenierungen vermeintlich bedrohlicher Fremder“ (Scherr 2010, S. 178). Die Effekte dieser von politischer Seite inszenierten migrationsskeptischen Diskurse und die Überhöhung des Eigenen schlagen sich bundesweit bei den politischen Einstellungen der Bevölkerung nieder und kultivieren Abwehrreflexe gegen das Fremde, Andere und Äußere (Michelsen et al. 2017, S. 192).
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2.5 Fazit und Ausblick Ist der „Osten“ nun anders? Sind die politischen Einstellungen der „Ostdeutschen“ anders als die der „Westdeutschen“? Der Beitrag hat versucht, darauf einige Antworten zu liefern. Dabei sind zwei weitere Fragen aufgetaucht: Welchen Stellenwert hat das Räumliche bei der politischen Konfiguration des „Ostens“? Was gerät eigentlich aus dem Blick, wenn die Frage nach der Andersartigkeit des „Ostens“ und der politischen Einstellung seiner Bewohner*innen gestellt und beantwortet wird? Der Beitrag sollte Anregungen liefern, diese beiden Punkte zu diskutieren und damit den innerdeutschen Debatten um die Andersartigkeit des „Ostens“ und die politischen Einstellungen seiner Bevölkerung eine andere Richtung zu geben. Für die Praxis der Regionalentwicklung machen die diskutierten Erkenntnisse und Überlegungen darauf aufmerksam, dass in regionalpolitischen Handlungskontexten nicht vorschnell die Andersartigkeit des „Ostens“ oder die Besonderheiten der „Ostdeutschen“ verantwortlich gemacht werden sollten, falls Überraschendes passiert oder Hindernisse sichtbar werden. Solche räumlichen oder raumaffinen Plausibilisierungsversuche sind zwar bequem und erscheinen bisweilen naheliegend, sie erweisen sich aber immer wieder als unterkomplex und unangemessen. Sie verstellen – insbesondere wenn sie bewusst oder unbewusst postkolonial konnotiert sind – den Blick auf soziale, politische oder ökonomische Verursachungszusammenhänge. Die Hintergründe können, nur durch eine Raumbrille beobachtet, nicht in ihrer Komplexität erfasst und verstanden werden. Gerade weil Regionalentwicklung und Regionalpolitik professionsbedingt über einen räumlichen Zugriff operieren, ist hier besonders gefordert, mit raumbezogenen Ost-Semantiken und daran anschließende Kausalitäten zurückhaltend und (selbst)kritisch umzugehen.
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Eliten in Ostdeutschland. Repräsentationsdefizit und Entfremdung der Ostdeutschen? Raj Kollmorgen
Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Repräsentation von Ostdeutschen in den Eliten Gesamtdeutschlands und der neuen Länder. Ausgehend von einem funktionalen Begriff, der Eliten als Entscheidungsträger innerhalb von Institutionen und Organisationen versteht (Positionseliten), wird ein Überblick über den Anteil von Menschen mit ostdeutschem Hintergrund in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen (Sektoren) gegeben. Während innerhalb der politischen Mandatsträger*innen (politische Exekutivelite) eine relativ hohe Repräsentation beobachtet werden kann, ist diese etwa in den Elitesektoren Wirtschaft und Wissenschaft schwächer ausgeprägt. Die anhaltend ungleiche Verteilung wird mit spezifischen Rekrutierungslogiken in den Eliten erklärt; unter anderem sind weiterhin die Folgen der Vereinigung und der Zugang zu Netzwerken relevant.
3.1 Einleitung Zwar gilt das alte Bonmot, dass Elitenprobleme im Regelfall Probleme der Eliten sind, d. h. Probleme, die sie interessieren und sonst kaum jemanden, auch in Bezug auf die Region Ostdeutschland. Es lässt sich aber schwer leugnen, dass die ostdeutsche Elitenfrage in den letzten Jahren erneut an öffentlicher Brisanz gewonnen hat und die Dimension reiner Selbstbefassung überschreitet.
R. Kollmorgen (*) Fakultät Sozialwissenschaften, Hochschule Zittau/Görlitz, Görlitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_3
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Neben der aktuellen medialen und politischen Aufmerksamkeit plausibilisieren zwei Beobachtungen eine sozial- und raumwissenschaftliche Relevanz des Elitenproblems. Zum einen haben sich die in den 1990er Jahren dominierenden Annahmen in Politik und Wissenschaft, das Problem einer geringen Vertretung Ostdeutscher in den bundesdeutschen Eliten wachse sich in den kommenden zehn, fünfzehn Jahren von selbst aus, sobald die Jüngeren über entsprechende Sozialisationen, Qualifikationen und Laufbahnerfahrungen verfügten, offenkundig nicht bestätigt. Auch wenn es zurzeit keine umfassenden Erhebungen zur Vertretung Ostdeutscher in den bundesdeutschen Eliten gibt, die vorliegenden Teilergebnisse der letzten fünf Jahre sind eindeutig. Es gibt eine „Vertretungslücke“ (siehe Kap. 2). Wenn sich aber das Problem in fast dreißig Jahren nicht von selbst erledigt hat, was folgt daraus für die Gesellschaft der Bundesrepublik und die ostdeutsche Region? Resultieren aus dem personellen Repräsentationsdefizit Schwierigkeiten in der Wahrnehmung, Vermittlung und Durchsetzung von ostdeutschen Ideen und Interessen? Leiden die Regionalentwicklung und deren partizipative Steuerung möglicherweise an einem Mangel genuin ostdeutschen Führungspersonals? Führt dieser zu spezifisch ostdeutschen Problemen der Regionalentwicklung? Welche politischen Gestaltungsaufgaben stellen sich angesichts dessen und welche Zukünfte sind denkbar oder wahrscheinlich? Zum anderen haben die Erschütterungen der politischen Landschaft nach 2015 im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise, die Verbreitung von rechtspopulistischen Protestbewegungen sowie der rasante Aufstieg der AfD und deren Wahlerfolge gerade in den neuen Bundesländern dafür gesorgt, dass neu gefragt wird, woher die Distanz, ja das offenbar ubiquitäre Misstrauen der Ostdeutschen gegenüber den gegebenen repräsentativ-demokratischen Institutionen und ihren Eliten stammt, was die Gründe für die Wahlerfolge rechts- und linkspopulistischer Parteien sind – und ob auch der Mangel an Ostdeutschen in den Eliten eine Ursache dafür sein könnte. Der vorliegende Beitrag setzt an diesem Problemhorizont an und wird nach begrifflichen Vorklärungen (Abschn. 3.2) ausgewählte Erhebungsdaten zu den Rekrutierungsund Repräsentationsdefiziten Ostdeutscher in den Eliten vorlegen (Abschn. 3.3), dem ein pointierender Erklärungsversuch folgt (Abschn. 3.4). Ein Blick in mögliche Zukünfte und politische Gestaltungschancen (Abschn. 3.5) schließt den Beitrag ab.
3.2 Begriffliche Vorklärung Zunächst sind drei grundsätzliche Fragen zu klären: Wer zählt überhaupt zur Elite, was bezeichnet der Ausdruck „ostdeutsche Elite“ oder „Elite in Ostdeutschland“ und wer wird im vorliegenden Zusammenhang als Ostdeutsche/r begriffen?
3 Eliten in Ostdeutschland
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1. Unter Elite(angehörigen) werden Personen verstanden, die innerhalb von Institutionen und Organisationen mit mittel- oder unmittelbar gesamtgesellschaftlicher Wirkungsreichweite in je spezifischen sektoralen Handlungsarenen (von der Wirtschaft bis zur Kunst) über die (letzte) Entscheidungsmacht verfügen (Kaina 2009). Dabei werden Eliten im vorliegenden Kontext empirisch als Positionseliten begriffen (Hoffmann-Lange 1992, S. 39 ff., 85 ff.). Machtpositionen werden also an sozialstrukturelle und institutionelle Positionen, namentlich Ämter, gekoppelt, wie beispielsweise Minister*in, Polizeipräsident*in oder Vorstandsvorsitzende*r einer Aktiengesellschaft. Inhaber solcher Positionen zählen unter Absehung der konkreten Person, ihres Charakters und spezifischen Einflusshandelns zur Elite. Zwei Eliteebenen und zwei Elitebegriffe sind zu unterscheiden. Die sogenannte Top-Elite umfasst die Spitzenpositionen aller Sektoren auf nationaler Ebene (z. B. im staatspolitisch-exekutiven Sektor: Bundeskanzler*in, Bundespräsident*in oder die Ministerpräsident*innen der Länder; für den Sektor der Wirtschaft: Vorstände der umsatzstärksten Großunternehmen), wobei es sich hier insgesamt um etwa 1500 Positionen handelt. Zur erweiterten Elite zählen neben der Top-Elite auch die Positionen der zweiten Reihe, d. h. Mitglieder von Kollektivgremien (wie Vorstände) oder Abteilungsleiter*innen der Bundesministerien, Staatssekretär*innen auf Länderebene sowie Oberlandes- und Landesgerichtspräsident*innen. Insgesamt umschließt eine so gefasste bundesdeutsche Elite, abhängig von jeweils konkreten Sample, etwa 5000-10.000 Positionen (Kollmorgen 2015, S. 196 f.; Bunselmeyer et al. 2013, S. 7 ff.). 2. Der Terminus „ostdeutsche Eliten“ ist doppeldeutig, da hiermit sowohl Menschen ostdeutscher Herkunft wie auch alle Eliteangehörigen in den neuen Ländern unabhängig von ihrer Herkunft verstanden werden. Deshalb wird mit Blick auf die relevanten Problemdimensionen festgelegt: „Ostdeutsche Eliten“ bezeichnet wie „Eliten in Ostdeutschland“ die Angehörigen der Elite in den fünf neuen Bundesländern. Der Ausdruck „westdeutsche Eliten“ erfasst demzufolge die Eliten in den zehn alten Bundesländern. „Bundesdeutsche Eliten“ adressiert die Eliten auf nationalstaatlicher Ebene, die aufgrund der föderalen Konstitution auch Elitepositionen in den ost- wie westdeutschen Ländern (z. B. die Minister*innen der Länder) einbezieht. 3. Als „ostdeutsche Eliteangehörige“ werden alle Positionsinhaber*innen begriffen, die in der DDR geboren wurden und dort mindestens bis zum 14. Lebensjahr aufgewachsen sind, sowie alle nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern und Ostberlin geborenen und/oder im Wesentlichen dort aufgewachsenen Personen mit Eltern, die 1989 Bürger der DDR waren. Ostdeutsch kann auch strikt nach dem Wohnortprinzip definiert werden. Angesichts der massiven Binnenwanderungen zwischen Ost und West seit der Grenzöffnung im Herbst 1989 (Kap. 16) könnte damit aber empirisch nicht erfasst werden, ob und welche spezifischen Aufstiegschancen Menschen mit DDR-Her- oder doch familiärer Abkunft nach 1990 besaßen und besitzen. Das aber ist offenkundig eine der politisch virulenten Fragen.
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3.3 Rekrutierungs- und personelle Repräsentationsprobleme Blickt man von hier aus auf mögliche Rekrutierungs- und personelle Repräsentationsprobleme, d. h. auf die Frage, wer mit welcher regionalen oder ethnischen Herkunft in Elitepositionen berufen wird, kann die aktuelle empirische Forschungslage im Hinblick auf die Gruppe der Ostdeutschen in drei Punkten zusammengefasst werden (Kollmorgen 2015): 1. Die bundesdeutsche Top-Elite wird nach wie vor von Positionsinhabern westdeutscher Herkunft dominiert. Obwohl ca. 17 % aller Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind, stammen nur 2–3 % der Top-Elite aus den neuen Bundesländern. Dabei ist der Anteil von Ostdeutschen im staatspolitischen Sektor, d. h. in den legislativen und exekutiven politischen Repräsentationseliten (wie Bundes- und Landesregierungen, Bundestagselite, Parteiführungen), besonders hoch (15–20 %), wohingegen in wichtigen anderen Sektoren – Wirtschaft, Verwaltung, Judikative, Massenmedien – Ostdeutsche fast gar nicht anzutreffen sind. Der Anteil Ostdeutscher steigt signifikant, sofern alle Elitepositionen, d. h. auch jene der zweiten Reihe und auf Länderebene, einbezogen werden. Dabei finden sich neben fast proportionalen Vertretungen in wichtigen Feldern des staatspolitischen Sektors Werte von ca. 5 % bis 17 % im Bereich der Wissenschaft, Verwaltung sowie der Zivilgesellschaft (Verbände, Vereine, Kirchen) auch Sektoren extremer Unterrepräsentation (1–2 % in Justiz, Militär, Wirtschaft). Die sektorenübergreifende durchschnittliche Ost-West-Relation verharrt seit 1994/1995 auf einem Niveau von 6 % bis max. 15 %. Der 15 %ige Anteil ergibt sich aber nur dann, wenn die politischen Eliten im Erhebungssample – wie bei der Potsdamer Elitenstudie (Bürklin et al. 1997) – hoch gewichtet werden, d. h., wenn verhältnismäßig viele politische Positionen, dafür aber weniger in der Wissenschaft, Verwaltung oder Justiz einbezogen werden. Wählt man ein sektoral ausgewogeneres Sample, bewegt sich der Anteil Ostdeutscher für die Jahre zwischen 2007 und 2016 auf einem (teils geschätzten) Niveau von 6 % bis 8 % (Kollmorgen 2015, S. 208–211). 2. Schaut man auf die ostdeutschen Eliten oder Eliten in Ostdeutschland, einer Großregion, in der Menschen mit ostdeutscher Herkunft (im obigen Sinne) etwa 85 % aller Einwohner stellen, ist zunächst festzuhalten, dass der massive Elitentransfer aus dem Westen in die ostdeutsche Region in den frühen 1990er-Jahren deutlich reduziert, aber nicht gestoppt wurde.1 Das gilt für alle Sektoren, in besonderer Weise aber für die Verwaltung, die Judikative, die Massenmedien und die Wissenschaft (Derlien 2001). Zugleich kamen ostdeutsche Bewerber*innen aus den verschiedensten Gründen anfangs kaum zum Zuge. In fünf Schlüsselsektoren wird folgende Entwicklungsdynamik für die Vertretung Ostdeutscher erkennbar (Tab. 3.1).
1So
wurden zwischen 1990 und 1994 etwa 35.000 Beamt*innen und Angestellte des öffentlichen Dienstes zeitweise (manche dann dauerhaft) in die neuen Länder abgeordnet (Wollmann 2001, S. 38).
3 Eliten in Ostdeutschland
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Tab. 3.1 Anteile Ostdeutscher (in v. H.) an ausgewählten sektoralen Eliten in Ostdeutschland im Zeitverlauf (1990–2016) Jahr 1990/1991
1994/1995
2004
2015/2016
72
72
75
70
0
3–5 (geschätzt)
26
46
Elitec
–
1–3 (geschätzt)
3
6
Wirtschaftselite#
–
–
35
39
Wissenschaftselite##
–
15 (geschätzt)
15 (geschätzt)
19
–
20 (geschätzt)
31
28
Sektor Politische
Exekutivelitea
Verwaltungseliteb Judikative
Massenmediale
Elite###
aMinisterpräsident*innen
und Minister*innen in den neuen Ländern ohne Berlin (N = 50–53 Positionen); bStaatssekretär*innen in den Länderregierungen ohne Berlin (N = 49–62); cVorsitzende Richter*innen der Senate, Präsident*innen/Vizepräsident*innen der Obersten Gerichte in den neuen Ländern ohne Berlin (N = 147–187); #Leiter*innen und ihre Stellvertreter*innen der 100 umsatzstärksten ostdeutschen Unternehmen ohne Berlin (N = 188); ##Rektor*innen/Kanzler*innen der größten ostdeutschen Hochschulen/Universitäten sowie Direktor*innen, Vorstände und Abteilungsleiter*innen der großen außeruniversitären Forschungsinstitute in den neuen Ländern (N = 130–159); ###Verlagsleiter/Geschäftsführer*innen sowie Chefredakteure*innen der ostdeutschen Regionalzeitungen ohne Berlin, Leitungsebene der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mit ostdeutschem Teilsitz ohne Berlin (N = 39–47) (Quellen: Bluhm und Jacobs 2016; Derlien 2001; eigene Erhebungen und Schätzungen)
Bezieht man weitere Sektoren ein (wie Polizei oder Militär), ergibt sich zwar der übergreifende Befund eines steigenden Anteils von Eliteangehörigen ostdeutscher Herkunft in Ostdeutschland; dieser Anstieg verläuft aber – bis auf Ausnahmen – schleppend und resultiert heute (2015–2018) in einem Gesamtanteil von etwa 25 % bis 30 %. Bis auf wenige Bereiche – herausragend die Staatspolitik mit einem Anteil im Bereich von 70 % bis 85 % – sind damit Ostdeutsche in den Eliten ihrer eigenen Region in der deutlichen Minderheit. Zum Vergleich: In den westlichen Bundesländern dürfte der Anteil Ostdeutscher an den Eliten bei max. 2 % liegen, bei einem Bevölkerungsanteil von Menschen mit ostdeutscher Herkunft bei ca. 4 % bis 5 % (Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer 2019). 3. In der Reproduktion und Zirkulation der Eliten in der Bundesrepublik nach 1990 ist ein dreifaches Muster erkennbar. Erstens, je höher die Position klassifiziert ist, desto unwahrscheinlicher wird die Besetzung mit Ostdeutschen. Nur der staatspolitische Sektor weicht von dieser Regel ab. Zweitens steigen die Chancen Ostdeutscher in der Elitenrekrutierung und dem Aufstieg innerhalb der Elitenhierarchie in dem Maße, in dem demokratische Auswahlverfahren auf territorialer Grundlage dominieren und die Bedeutung von institutionalisierten Laufbahnordnungen – wie sie insbesondere in der Verwaltung, der Judikative, dem Militär oder der Wissenschaft zum Teil hoch
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formalisiert ausgebildet sind – sowie von wirtschaftlichem Besitz abnehmen. Drittens sind die Chancen Ostdeutscher in den zentralen Feldern staatlicher (Verwaltung, Judikative, Militär, Polizei), ökonomischer und massenmedialer Herrschaft systematisch geringer als im repräsentativ-demokratischen Politikfeld wie in allen anderen Elitesektoren. Blickt man von diesen Befunden zur Frage zurück, ob aus dem personellen Rekrutierungsund Repräsentationsdefizit unmittelbar gesellschaftliche Probleme wie Instabilität oder Krisen folgen, lässt sich das sowohl für die Bundesrepublik insgesamt als auch für die ostdeutsche Großregion und die Länderebene verneinen. Etwas anders stellt sich die Situation dar, wenn nach der angemessenen politischen und zivilgesellschaftlichen Repräsentation von Ideen und Interessen der ostdeutschen Bevölkerung(sgruppen) in den und durch die Eliten sowie Nachteilen für die ostdeutsche Regionalentwicklung gefragt wird. Zunächst ist eine hinreichende Interessenrepräsentation nicht zwingend an gleiche regionale oder soziale Herkünfte gebunden. Eine Wirtschaftsstaatssekretärin in Hannover, die aus dem hessischen Großbürgertum stammt, ist – nicht zuletzt wegen des komplexen intermediären politischen Systems – sehr wohl in der Lage, die Interessen niedersächsischer Bauern zu artikulieren und in politisch-administrativen Entscheidungsarenen durchzusetzen. Insofern bedeutet z. B. der überproportionale Anteil von ostdeutschen Verwaltungseliten mit westdeutscher Herkunft nicht per se repräsentative Probleme und Defizite. Dennoch besitzt die These, dass der Mangel an Ostdeutschen in den bundesdeutschen wie regionalen Eliten zu einer geringeren Aufmerksamkeit gegenüber sowie minderen Artikulationsfähigkeit und Durchsetzungskraft von ostdeutschen Interessen führt, einige Plausibilität. Dazu kann man nicht nur auf die frühen 1990er-Jahre zurückblicken (Kap. 8). Noch die Diskussion über die Schließung von ostdeutschen Standorten des Siemens-Konzerns in den Jahren 2017/2018 hat diesbezügliche Asymmetrien zwischen West und Ost erkennen lassen, die wahrscheinlich auch mit der geringen Präsenz Ostdeutscher in den Schaltzentralen der Großunternehmen zusammenhängen. Einige Forschungsergebnisse für die politischen Repräsentationseliten in den ostdeutschen Ländern weisen zudem darauf hin (Best und Vogel 2011; Vogel 2017), dass es dort besondere und in bestimmter Hinsicht größere Einstellungsdifferenzen zwischen Eliten und Bevölkerung gibt, die sich auch den unterschiedlichen Herkünften der Eliten, d. h. mit oder ohne DDR-Biographie, verdanken.2 Signifikante Einstellungsdifferenzen zwischen ost- und westdeutscher Bevölkerung sowie zwischen ostdeutscher Bevölkerung und Westdeutschen in den ostdeutschen Eliten gibt es etwa zur konkreten Gestaltung des demokratischen Prozesses, für den sich Ostdeutsche u. a. stärker direktdemokratische
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weiterer Grund liegt in den sozialisatorischen Wirkungen des täglichen Umgangs mit der Mehrheit westdeutscher Eliteangehörigen auf Bundes- wie regionaler Ebene. Ostdeutsche in den Eliten übernehmen in dieser Situation vielfach Orientierungen ihrer westdeutschen Kolleg*innen. Das gilt für die Wirtschaft wie für die Verwaltung oder Justiz. Selbst in der Politik ist das regelmäßig der Fall (Vogel 2017).
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Elemente wünschen, oder hinsichtlich der Rolle des Sozialstaates als Akteur der Herstellung sozialer Gerechtigkeit, wofür die Ostdeutschen stärker plädieren. Deutliche Unterschiede gibt es aber auch in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen oder zu Fragen der Europäisierung und Globalisierung, einschließlich der Migrationsproblematik, wobei hier Ostdeutsche deutlich skeptischer orientiert sind (ebd.; Rainer et al. 2018). Aus der personellen Vertretungslücke und den inhaltlichen Differenzen zwischen ostdeutscher Bevölkerung und den (politischen) Eliten in Ostdeutschland mit westdeutscher Herkunft lässt sich die Hypothese begründen, dass ein erheblicher Teil der ostdeutschen Bevölkerung nicht nur mit den Eliten in Ostdeutschland (und der Bundesrepublik insgesamt) fremdelt, also in ihnen gerade nicht ihre Vertreter*innen oder – jenseits des politisch-administrativen Systems – ihr Führungspersonal erkennt, die anerkannt werden und denen man vertraut. Vielmehr steigt mit dieser Konstellation die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung der Distanz auf die Basisinstitutionen der Bundesrepublik – vom politischen System über die Justiz bis zur sozialen Marktwirtschaft. Das wiederum erschwert nicht nur soziale Integrationsprozesse in Ostdeutschland und zwischen Ostund Westdeutschen, sondern kann damit zu funktionalen Integrationsproblemen beitragen, weil z. B. Eliten- und Institutionenmisstrauen mittel- und langfristig auch die Effektivität institutioneller Mechanismen untergräbt. Bisher liegen allerdings zu diesen (potenziellen) Zusammenhängen und Folgen keine validen sozialwissenschaftlichen Erhebungen und Forschungsresultate vor. Kann die Unterrepräsentation aus normativer Perspektive befriedigen? Das kommt auf den Standpunkt an. Für ein Lager in Politik und Wissenschaft erscheint der geringe Anteil Ostdeutscher in Ostdeutschland nicht nur angesichts des radikalen Umbruch- und Vereinigungsprozesses plausibel oder sogar unvermeidlich. Argumentiert wird auch, dass Ostdeutsche in den Rekrutierungsprozessen (formell) nicht diskriminiert werden und der Erwerb notwendiger Qualifikationen sowie die Ausbildung echter Rekrutierungschancen in bestimmten Sektoren deutlich über zehn, wenn nicht fünfzehn Jahre benötigt (z. B. für Bundesrichter*innen). Insofern wird – auch in zeitlicher Perspektive – auf die leichten Besserungen in den letzten Jahren (Tab. 3.1) und die weitere Zukunft mit höchstwahrscheinlich steigenden Anteilen Ostdeutscher verwiesen. Ein anderes Lager bewertet diese Analyse kritisch und behauptet, dass nach bald dreißig Jahren die Rekrutierungsdefizite und Repräsentationslücken in den Eliten einiger Sektoren nicht (mehr) legitimierbar sind (zur Debatte: Best und Holtmann 2012; Kollmorgen 2015).
3.4 Gründe für die Marginalisierung der Ostdeutschen in der Elitenrekrutierung Wie kann die Repräsentationslücke der Ostdeutschen in den Eliten auf Bundes- wie regionaler Ebene erklärt werden? Es handelt sich um einen Komplex an Ursachen, von denen sechs miteinander zusammenhängende, sich wechselseitig verstärkende soziale Mechanismen im Folgenden hervorgehoben werden sollen (Kollmorgen 2015, S. 211 ff.):
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1. Langzeitwirkung der Vereinigung: Zunächst handelt es sich bei der Marginalisierung ostdeutscher Kandidat*innen um eine Langzeitwirkung der Art und Weise der deutschen Vereinigung. Diese wurde als „Beitritt“ (nach Artikel 23 des alten GG) realisiert und hatte die Übernahme der Legalinstitutionen und organisierten Akteure der alten Bundesrepublik zur Folge. Für Führungspositionen kamen Ostdeutsche nur ausnahmsweise infrage. Sie verfügten weder über das notwendige Fachwissen noch über die formalen Berufsqualifikationen (Derlien 2001). Insofern war der massive Elitentransfer mit dem Modus des Beitritts gesetzt und pfadbegründend. 2. Strukturkonservative Grundorientierung: Insbesondere in den Sektoren Staatspolitik, Wirtschaft und Massenmedien strebten die alten bundesrepublikanischen Eliten 1989/1990 die Konservierung ihrer Machtpositionen an und zeigten kein Interesse an einer breiteren Machtteilung mit ostdeutschen Aspiranten. Zudem gab es zunächst systematische Zweifel an der Verfassungstreue, Zuverlässigkeit und Führungsfähigkeit ostdeutscher Kandidat*innen – auch bezogen auf Mitglieder der Bürgerbewegung. Eine massenhafte Kooptierung Ostdeutscher in die bundesdeutschen Eliten war angesichts dessen nicht attraktiv und gewollt. Zugleich war sie aufgrund eines Überschusses westdeutscher Kandidaten für die neuen, in Ostdeutschland angesiedelten Elitepositionen auch nicht notwendig. 3. Quantitativer Minderheitenstatus: Die Marginalisierung verdankt sich auch dem quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen. Der Mechanismus „strukturelle Majorisierung“ (Kreckel 2004, S. 292) führt in den Auswahlprozessen von Eliten unter Bedingungen von eigentums- und demokratiefundierter Konkurrenz sowie fehlender Schutz- oder Kompensationsregeln für die Minderheit zur strukturellen Bevorteilung der Majorität, ohne dass eine Kolonialisierungsstrategie gegenüber der Minderheit notwendig wäre. 4. Netzwerke der Macht: Eliten organisieren sich in Netzwerken der Macht, die auf wechselseitigem Kennen, Schätzen, Vertrauen, Geben und Nehmen basieren. Netzwerke gründen auf sozialisatorisch und sozialstrukturell bedingter Ähnlichkeit der Leidenschaften, Interessen, Ideologien und Laufbahnen sowie dem Vertrauen in die Stärke des anderen (potenziellen) Eliteangehörigen. Grundsätzlich positionierte der Netzwerkcharakter von Eliten Ostdeutsche aufgrund der Beitrittslogik zunächst außerhalb der etablierten Machtnetzwerke. Weder konnten sie – gerade in den ersten Jahren – herkunftsseitig oder bildungsbiographisch in die Netzwerke hineingewachsen sein, noch verfügten sie als markierte Außenseiter über jene Machtpotenziale, die es braucht, um angesprochen und auf Spitzenpositionen gehievt zu werden. Die Außenseiterposition zeigt dabei eine eigenlogische Tendenz der Verlängerung und Verstärkung.
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5. Soziale Über- und Unterschichtung: Die Wahrscheinlichkeit der Marginalisierung wird infolge der sozialstrukturellen Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch Westdeutsche und der Unterschichtung der bundesdeutschen Gesellschaft durch die Ostdeutschen systematisch erhöht. So wie ein überproportionaler Anteil der in Unterschichtenmilieus Lebenden in Ostdeutschland beheimatet ist (unter Absehung von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund), so stammen alle 500 reichsten deutschen Familien aus Westdeutschland. Circa 90 % der bundesdeutschen Oberschicht – von den höheren Beamten und Angestellten bis zu den Besitzern hoher Geldvermögen – sind westdeutscher Herkunft (Kollmorgen 2015, S. 214). Da sich die bundesdeutschen Eliten – abgesehen von den Sektoren der Kirchen, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und in bestimmten Feldern der Staatspolitik – überproportional aus Familien der oberen Mittel- und Oberschichten rekrutieren (vgl. Hartmann 2002), besitzen Ostdeutsche systematisch geringere Chancen, in die elitären Ränge der Gesellschaft aufzusteigen. 6. Kulturelle Fremd- und Selbstmarginalisierung: Die politisch und sozialstrukturell bedingte Selbstreproduktion der Eliten mit westdeutscher Herkunft wird durch zwei kulturelle Marginalisierungsmechanismen ergänzt. Eine soziokulturelle Fremdmarginalisierung sitzt nicht nur der arbeiterlichen Sozialstruktur und Kultur der DDR auf, sondern verdankt sich auch der übergreifenden soziokulturellen Abwertung Ostdeutscher in der Bundesrepublik nach 1990/1991, denen als quasi ethnische Gruppe ein Verliererstigma anhaftet (Kollmorgen 2011). Beides mindert die Chancen der Ausbildung eines elitären Habitus. Nicht nur mangelt es vielen Ostdeutschen mit primärer oder auch sekundärer, d. h. intergenerationaler, DDR-Sozialisation an distinguiertem Auftreten, machtvoller Sprache sowie elitären Umgangsformen und Geschmacksurteilen, sodass ihnen der „Stallgeruch der Macht“ fehlt. Dieses „Defizit“ findet sein erstaunliches Pendant in kulturellen Selbstmarginalisierungen Ostdeutscher. Jedenfalls legen bisherige Analysen nahe, dass der radikale Umbruch 1989–1991, der nicht nur zu sozialstrukturellen Abstiegen beachtlicher Teile der alten DDR-Nomenklatura führte, sondern soziale Verunsicherungen und Zukunftsängste für die damals mittleren Generationen verursachte, die ohnehin weniger ausgeprägten Aufsteiger- und Herrschaftsmentalitäten in den neuen Ländern zusätzlich schwächte. In der Mehrheit der sozialen Statusgruppen wurden stattdessen familienorientierte Lebensführungen, sichere Erwerbsbiographien und risikoarme Karrieren präferiert (Alheit 2005). Das scheint sich bis in die heutige Jugendgeneration fortzusetzen (Keller und Marten 2010; Leven et al. 2016, S. 75 ff.).
3.5 Das Rekrutierungsdefizit: Zukunftsperspektiven und Lösungsstrategien Mögliche Zukunftsperspektiven des ostdeutschen Elitenproblems können ohne Reflexion der skizzierten Marginalisierungsgründe und -mechanismen nicht sinnvoll entwickelt werden. Während sich daher strukturelle Majorisierung und die Reproduktion von
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sozialen Machtnetzwerken einem politischen Steuerungszugriff weitgehend entziehen und das strukturkonservative (Macht-)Kalkül sowie das Qualifikationsargument nach fast dreißig Jahren offensichtlich an Bedeutung verloren haben, entfalten die sozialstrukturelle Über- bzw. Unterschichtung wie auch die kulturelle Fremd- und Selbstmarginalisierung weiter ihre Wirkung, wenn auch vermutlich sich abschwächend. Allerdings ist die Gewichtung der Faktoren vom spezifischen Rekrutierungs- und Zirkulationstyp der sektoralen Eliten abhängig. Für die politische Repräsentationselite brauchen Ostdeutsche keine Nachhilfe; hier sind sie wegen des Zirkulationstyps einer demokratischen Delegationselite auf territorialer Basis proportional vertreten. Im administrativen und judikativen Sektor haben wir es mit Karriere- oder Ernennungseliten zu tun, bei denen sowohl Laufbahn wie informelle Netzwerke und Habitus eine zentrale Rolle spielen. Insofern wird der Anteil ostdeutscher Positionsinhaber hier auch in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich nicht der Bevölkerungsrelation entsprechen. Eine Politik, die das personelle Repräsentationsdefizit abbauen will, könnte hier – durchaus vergleichbar mit dem Problemfeld der Geschlechtergleichstellung – mit Quotierungen operieren oder mit Methoden der sogenannten positiven Diskriminierung. Ostdeutsche könnten also in der Aneignung von Bildung und Qualifikationen besonders unterstützt, ihre Karriereschritte oder Stellen für sie gefördert werden. Im Wirtschaftssektor finden sich ähnliche Bedingungen, wobei hier neben der Managementelite zusätzlich die Besitzelite, mithin die sozialstrukturelle Überschichtung der ostdeutschen Bevölkerung durch die westdeutsche Oberschicht der Vermögenden und Kapitaleigner, eine herausragende Rolle spielt. Hier empfiehlt sich daher eine länger anhaltende Förderung von Ostdeutschen, die Unternehmen gründen, modernisieren oder ausbauen wollen (z. B. über Qualifikationsprogramme, Kredit- und direkte Investitionsförderungen), wobei hier von Bund und Ländern seit Anfang der 1990er Jahre einiges geleistet wurde. Sowohl Quotierungen wie auch Förderprogramme haben allerdings mit drei systematischen Problemen zu kämpfen. Erstens erscheinen Quoten weniger denn je politisch durchsetzbar. Es gibt dafür gegenwärtig keine politischen Mehrheiten. Zweitens bedeuten Quotierungen, aber auch die meisten positiven Diskriminierungen nicht nur kollektive, sondern schlussendlich individuell einklagbare Anspruchsrechte. Das wirft die zu Beginn formulierte Frage auf, wer heute im juristischen Sinne Ostdeutsche*r ist. Wegen der massenhaften Binnenmigration seit 1989 sowie der vielen ost-westdeutschen Elternschaften und Biographien ist das bereits heute für Hunderttausende Bürger*innen schlicht nicht entscheidbar. Rechtlich ist daher wohl nur das Wohnort- bzw. Standortprinzip anwendbar, das aber rasch zu kontraintendierten Effekten führen kann, wenn dann überproportional westdeutsche Kapitaleigner und Unternehmer*innen profitieren, die nach 1990 in den neuen Bundesländern aktiv wurden. Drittens müssten sich auch in diesem Feld die Geförderten mit dem generellen Quotierungsmakel auseinandersetzen – es wären eben „Quoten-Ossis“. Die Förderung würde also eine (negative) Markierung der Ostdeutschen nicht aufheben, sondern könnte sie sogar erhalten oder verstärken. Das verweist auf eine weitere, alternative Strategie: Die geringeren Chancen Ostdeutscher verdanken sich auch der Stigmatisierung des „Ostens“ und der „Ostler“ in den
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Diskursen nach 1990/1991 als zurückgebliebene, verlorene und hilfebedürftige Gebiete und Bevölkerungsgruppe (Kollmorgen und Hans 2011). Auch wenn sich das seit etwa 2005 ändert: Die Deutung Ostdeutscher und Ostdeutschlands als gegenüber dem Westen inferior bleibt bis heute hegemonial – auch mit Folgen für die Elitenrekrutierung. Insofern brauchen wir (weiter) eine Transformation dieser Diskurse, eine Problematisierung des Problems Ostdeutschland und der Ostdeutschen, welche die regionale Selbstentwicklung ebenso stärkt wie das regionale und lokale Selbstbewusstsein – ohne die Vielfalt und also Differenzierung in Ost- und Westdeutschland zu ignorieren. Eine politische Reflexion der Probleme unter angemessener Beteiligung der Ostdeutschen ist bereits ein Moment ihrer Lösung.
Literatur Alheit, P. (2005). Modernisierungsblockaden in Ostdeutschland? Aus Politik und Zeitgeschichte, 40, 32–40. Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer. (2019). Demografische Situation in den ostdeutschen Ländern. https://www.beauftragter-neue-laender.de/BNL/Navigation/DE/ Themen/Gleichwertige_Lebensverhaeltnisse_schaffen/Demografie/Demografische_Situation/ demografische_situation.html. Zugegriffen: 17. Febr. 2019. Best, H., & Holtmann, E. (2012). Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt a. M.: Campus. Best, H., & Vogel, L. (2011). Politische Eliten im vereinten Deutschland. Strukturen, Einstellungen, Handlungsbedingungen. In A. Lorenz (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven nach der Wiedervereinigung (S. 120–152). Opladen: Budrich. Bluhm, M., & Jacobs, O. (2016). Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung. Leipzig: Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Bunselmeyer, E., Holland-Cunz, M., & Dribbisch, K. (2013). Projektbericht „Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen“. Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin. Bürklin, W., Rebenstorf, H., Kaina, V., Machatzke, J., Sauer, M., Schnapp, K.-U., & Welzel, C. (1997). Eliten in Deutschland: Rekrutierung und Integration. Opladen: Leske + Budrich. Derlien, H.-U. (2001). Elitezirkulation zwischen Implosion und Integration. In H. Bertram & R. Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands: Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesländern. Opladen: Leske + Budrich. Hartmann, M. (2002). Der Mythos von den Leistungseliten: Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt a. M./New York: Campus. Hoffmann-Lange, U. (1992). Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik. Opladen: Leske + Budrich. Kaina, V. (2009). Eliteforschung. In V. Kaina & A. Römmele (Hrsg.), Politische Soziologie: Ein Studienbuch (S. 385–419). Wiesbaden: VS. Keller, S., & Marten, C. (2010). (Wieder-)Vereinigung der Jugend? Lebensbedingungen und Zukunftserwartungen ost- und westdeutscher Jugendlicher nach der Wende. In P. Krause & I.
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Die Polizei in Sachsen. Umstrukturierungen und Veränderung polizeilicher Praxis Sophie Perthus
Zusammenfassung
Der Beitrag problematisiert die Polizei in Sachsen als Untersuchungsgegenstand einer kritischen Kriminalgeographie. Auf Grundlage einer empirischen Untersuchung wird die strukturelle Entwicklung der Polizei in Sachsen seit 1990 rekonstruiert. Anschließend wird argumentiert, dass in dieser Entwicklung die Befugnisse der Polizei, in soziale Konflikte im öffentlichen Raum einzugreifen, ausgebaut worden sind. Diese Verpolizeilichung sozialer Konflikte zeigt sich u. a. durch die Verstärkung der Präsenz der Polizei bei konkreten Gefahren und die Steigerung der Deutungshoheit der Polizei als politische Akteurin. Aus Sicht einer kritischen Kriminalgeographie gilt es, die damit einhergehende Verdinglichung der durch vielfältige Konflikte geprägten Stadträume als gefährliche Viertel als handlungsleitenden Aspekt regionaler Entwicklungspolitik zu kritisieren.
4.1 Einleitung Seit Beginn der 1970er-Jahre findet die Kriminalgeographie unter Kriminolog*innen und Kriminalist*innen der Bundesrepublik zunehmende Beachtung. Das vordergründige Ziel der Kriminalgeographie besteht in der Visualisierung von Kriminalität und Unsicherheit (Rolfes 2015, S. 35). Innerhalb der Humangeographie werden solche
S. Perthus (*) Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_4
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Kartenproduktionen als methodische Tools mitunter kritisch gesehen. So besteht die Gefahr, dass Kriminalität als Eigenschaft bestimmter Räume in der Kriminalprävention und Sicherheitspolitik essenzialisiert wird und ihre gesellschaftlichen Ursachen aus dem Blickfeld verschwinden. Mit dem Bedeutungsgewinn konstruktivistischer Ansätze in der Humangeographie verschiebt sich der Fokus auf die Frage nach der Art und Weise der Produktion von unsicheren, kriminellen Räumen. Die Polizei wird so aufgrund ihrer gesellschaftlichen Funktion, insbesondere als Inhaberin des Gewaltmonopols und der damit einhergehenden Wissensproduktion, selbst zum Analysegegenstand einer kritischen Kriminalgeographie. Das Thema Sicherheit (bzw. Unsicherheit) wird in Debatten der Regionalentwicklung immer wieder als Standortvor- bzw. -nachteil angeführt. Die Polizei wird für die geographische Forschung dann interessant, wenn auch der Produktionscharakter von räumlicher Sicherheit und der Umgang mit sozialen Konflikten in bestimmten Räumen von Interesse ist (s. auch Kap. 6). Die Aufgabe der Polizei als ein Teil des „(repressiven) Staatsapparates“ (Althusser 2010, S. 54) ist die Durchsetzung des Gewaltmonopols und die Bekämpfung von Kriminalität. Sie übt zur Durchsetzung des Rechts legal Gewalt aus. Sie führt jedoch Recht nicht nur aus, sondern muss jede konkrete Situation selbstständig interpretieren und kann verschiedene Maßnahmen ergreifen, z. B.: Wird die eine Person kontrolliert oder eine andere? Ihr obliegt immer auch ein Gestaltungspotenzial (vgl. Belina 2018). Raum ist darin immer die Voraussetzung und das Terrain polizeilicher Praxis und wird sogleich durch die Polizei als Mittel und Strategie eingesetzt (ebd., S. 125). Die Polizei agiert dabei immer in ungleichen Räumen, die durch gesellschaftliche Konflikte strukturiert sind. Durch ihre jeweiligen räumlichen Interventionen schafft sie jedoch auch Ungleichheiten: Sie produziert unsichere oder kriminelle Orte. Die Polizei in der Bundesrepublik ist föderal organisiert und regional sehr unterschiedlich aufgebaut. Für eine Betrachtung der Polizei in Ostdeutschland sind daher nicht nur die Unterschiede aufgrund der Neugründung der Polizeien Anfang der 1990er-Jahre, sondern auch die länderspezifischen Besonderheiten relevant. Der Beitrag rekonstruiert die strukturelle Entwicklung der Polizei in Sachsen seit 1990 (Abschn. 4.2). Anschließend wird argumentiert, dass in dieser Entwicklung die Befugnisse der Polizei, in soziale Konflikte im öffentlichen Raum einzugreifen, ausgebaut worden sind (Abschn. 4.3). Dieser als Verpolizeilichung sozialer Konflikte bezeichnete Prozess zeigt sich u. a. durch die Verstärkung der Präsenz der uniformierten Schutzpolizei im öffentlichen Raum, die stärkere Loslösung der Praxis der Polizei von konkreten Gefahren und die Steigerung der Deutungshoheit der Polizei als politische Akteurin. Entgegen der verbreiteten Erzählung, die die Herausbildung neoliberaler Staatlichkeit als Rückzug des Staates beschreibt, wird im Feld der Polizei damit eine Ausweitung staatlich-repressiver Praxen vor dem Hintergrund aufbrechender sozialer Konflikte deutlich.
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4.2 Die Entwicklung der Polizei in Sachsen 1990–2016 In der Entwicklung des Polizeivollzugsdienstes werden drei Phasen deutlich (vgl. Abb. 4.1): Auf eine Phase des konservativen Aufbaus von Personal folgt die Phase scheinbarer Stabilität, die jedoch durch neoliberale Umstrukturierungen geprägt ist und an die sich ein Abbau der Polizei im Zeichen austeritärer Sparpolitik anschließt.
4.2.1 Konservativer Aufbau Die Polizei Sachsen wurde am 1. August 1991 auf Grundlage der Strukturen der Volkspolizei durch die Einführung einer neuen Organisationsstruktur gegründet. Die heute verhältnismäßig hohe Polizeidichte in Ostdeutschland, d. h. Polizeivollzugsbeamt*innen (PVB) pro Einwohner*innen, ist auf die hohe Personaldecke der Volkspolizei zurückzuführen (Groß 2006, S. 194). Jedoch sind nach Überprüfungen von politischer
Abb. 4.1 Anzahl Polizeivollzugsbeamt*innen in Sachsen. (Quellen: SLT/2/DS/971; SLT/2/ PP/36/16, S. 2599; SLT/4/DS/11650; SLT/6/DS/858; SLT/6/DS/4404; SLT/6/DS/7691; SLT/6/ DS/11628; Staatsministerium des Innern 2017)
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orbelastung in Staatsapparaten der DDR im Dezember 1990 12,5 % der Beschäftigten V entlassen worden oder daraufhin freiwillig ausgeschieden (SLT/1/DS/2679, S. 1)1. Der Wiederaufbau der PVB wurde erst in den Folgejahren vollzogen (vgl. Abb. 4.1). Die PVB sind diejenigen Angehörigen der Polizei, die durch eine polizeiliche Ausbildung zum Einsatz von Gewalt auf Grundlage der Polizeigesetze berechtigt sind. Um den kurzfristigen und massiven Aufbau der PVB umzusetzen, wurde die Ausbildung vorübergehend durch die „Straffung der Ausbildungsinhalte“ (SLT/1/DS/1588, S. 3) auf zwei Jahre verkürzt. Die hohe Polizeidichte in Sachsen ist demnach nicht allein ein Ergebnis der DDR-Vergangenheit, sondern auch der politischen Entscheidungen in den 1990er Jahren. Birkel (2008, S. 105) arbeitet für die Länderpolizeien der BRD insgesamt „eine positive Assoziation zwischen Polizeistärke und Kabinettssitzanteil der Unionsparteien“ heraus. Dies gilt auch für Sachsen, wo die CDU bis zum Jahr 2004 eine Alleinregierung stellte und seither mit den kleinen Koalitionspartnern SPD und FDP regiert, aber stets das Ressort der Innenpolitik besetzte. Auch der personelle und strukturelle Aufbau der Verwaltung durch Verwaltungshilfeverträge mit den CDU/CSU-regierten Ländern Bayern und Baden-Württemberg verweist auf die Prägung hiesiger Vorstellungen durch eine parteipolitisch konservative Traditionslinie. Die anfängliche Struktur der Polizei orientierte sich an jenen der Partnerländer und wurde in den 1990er-Jahren durch Vorschläge einer Arbeitsgruppe zur Steigerung der Effizienz und Verbesserung der Polizei geprägt. Durch die Entlastung der PVB von sogenannten polizeifremden Aufgaben sollte die polizeiliche Präsenz ohne Personalaufbau um 9 % erhöht werden (SLT/2/DS/3043, S. 2). Diese polizeifremden Aufgaben wurden anschließend von im Vergleich zu Beamt*innen günstigerem Tarifpersonal übernommen oder privatisiert (ebd.). Durch Aspekte des Community Policing, sogenannter gemeinwesenorientierter Polizeiarbeit, wurde polizeiliche Praxis präsenter in der Fläche und auf der Straße. So wurden zwischen 1995 und 2000 23 weitere Polizeiposten, also den Revieren untergeordnete Standorte der Polizei, vor allem im ländlichen Raum gegründet (SLT/2/DS/9357, S. 2) und im Jahr 1995 die „Bürgerpolizei“ in den Revieren, „als unmittelbare Ansprechpartner für den Bürger auf der Straße“ (ebd., S. 2) eingerichtet. Außerdem wurde im Jahr 1997 die Sächsische Sicherheitswacht aufgebaut, in der Ehrenamtliche den Polizeivollzugsdienst bei bestimmten Aufgabenbereichen im Streifendienst unterstützen und auch zur Anwendung einfacher Gewalt berechtigt sind (Krahmer 2018, S. 84 f.).
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steht als Sigel für Sächsischer Landtag/Legislaturperiode/Drucksachennummer. Alle Dokumente sind in der Datenbank des sächsischen Landtages EDAS über die Drucksachennummer und Legislaturperiode eindeutig recherchierbar und nicht im Literaturverzeichnis aufgelistet (edas.landtag.sachsen.de).
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4.2.2 Neoliberaler Umbau Die politische Rationalität des Neoliberalismus ist geprägt vom Denken, „wonach das Soziale, die Subjekte und der Staat sich entlang der Maßgabe einer spezifischen Form der Marktrationalität zu organisieren haben“ (Virchow 2008, S. 224). In diesem Sinne ist die neoliberale Entwicklung bereits in der Phase des Aufbaus der sächsischen Polizei angelegt, bspw. durch die Privatisierung polizeifremder Aufgaben, verstärkte sich jedoch ab 2000 deutlich. Ab dem Jahr 2000 wurden wegen des prognostizierten Bevölkerungsrückgangs und der sinkenden staatlichen Einnahmen Strukturveränderungen der Polizei angestoßen, die 2005 umgesetzt wurden. Kern der Reform war die Reduktion der mit Verwaltungsaufgaben betrauten Organisationseinheiten von 64 auf 28 (vgl. SLT/4/DS/1089). So wurde die gesamte Verwaltungsebene der Polizeipräsidien, die als reine Führungsdienststellen ohne Vollzugsaufgaben zwischen dem Landespolizeipräsidium im Innenministerium und den Polizeidirektionen bestand, abgeschafft. Während im Landespolizeipräsidium die „strategische Aufgabenwahrnehmung“ (SLT/3/DS/8338, S. 3) zentralisiert wurde, wurden die Aufgaben der Steuerung der Dienststellen (Polizeireviere) in den personell aufgestockten und zu oberen Behörden aufgewerteten Polizeidirektionen dezentralisiert und deren Anzahl von 13 auf sieben reduziert. Obwohl die Anzahl der PVB annähernd gleich blieb, fanden personelle Verschiebungen statt: Rund 1000 vormals in den Polizeipräsidien Beschäftigte wurden auf die Polizeidirektionen und die jeweils angegliederten Reviere verteilt und somit von Führungs- in Vollzugsaufgaben überführt. Innerhalb der PVB existieren verschiedene Dienstgrade, deren Ausbildung und Bezahlung sich unterscheidet: der mittlere, gehobene und höhere Dienst. Bereits 1991 wurde herausgestellt, so Frevel und Groß (2016, S. 70), dass die Regeltätigkeit der Polizei mindestens den Kriterien des gehobenen Dienst entspricht. In der sächsischen Polizei ist der schlechter bezahlte und ausgebildete mittlere Dienst jedoch kaum reduziert worden. Wie in anderen unionsgeführten Polizeien wird bis heute an einem dreigeteilten Dienstmodell festgehalten. Sachsen hatte 1992 einen Anteil von 69 % des mittleren Dienstes (vgl. SLT/2/DS/9357, Anlage) und hat ihn bis 2018 nur auf 65 % reduziert (eigene Berechnungen nach SLT/6/DS/11628). Außerdem zeigt die im Jahr 2001 eingeführte Wachpolizei eine stärkere Deprofessionalisierung polizeilicher Regelaufgaben an. Infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 wurde sie für Aufgaben des Objektschutzes zunächst befristet bis 2006 einführt. Wachpolizist*innen sind zwar nicht verbeamtet, aber dennoch bewaffnet im Einsatz (SLT/6/DS/2570). Wachpolizist*innen wurden in Leipzig, Chemnitz und Dresden für gefährdete Objekte wie Synagogen, Konsulate und Moscheen eingesetzt, „um kostengünstig und flexibel Polizeipräsenz zu erhöhen und den Polizeivollzugsdienst von einfachen Tätigkeiten zu entlasten“ (Frevel und Groß 2016, S. 71). Die Personalpolitik orientierte sich damit einerseits an der neoliberalen Rationalität der Senkung von Staatsausgaben durch den Einsatz von „Just-in-time-SicherheitsdienstleisterInnen“ (Krahmer 2018, S. 88) und andererseits am Ziel der gesteigerten Präsenz von staatlichen Ordnungskräften.
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4.2.3 Austeritärer Abbau Ab dem Jahr 2007 erfolgte ein massiver Abbau von PVB. Dieser wurde von der sächsischen Landesregierung nicht angestrebt, weil man der Polizei weniger Relevanz oder Aufgaben zurechnete, sondern weil auf Landesebene weitere Einsparungen angestrebt wurden. Darin zeigt sich eine „finanzpolitische Strategie der Krisenbearbeitung, die durch die Herstellung eines fiskalisch schlanken Steuerstaates mit ausgeglichenem Staatshaushalt die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals in einem bestimmten Territorium zu sichern bzw. verbessern versucht“ (Petzold 2018, S. 60). Der Abbau der Polizei wurde nach einem Gutachten im Jahr 2004 vorangetrieben, das einen enormen Rückgang an Bevölkerung und Einnahmen prognostiziert hatte, der sich jedoch nie realisierte (SLT/6/DS/4630, S. 9). Zwischen 2007 und 2012 gingen die PVB entscheidend zurück (vgl. Abb. 4.1). Danach erfolgte ein geringerer Abbau, der im Jahr 2016 endete. Im Dezember 2009 wurde parallel zum Abbau das Regierungsprojekt Verbesserung der Effizienz und Qualität der polizeilichen Aufgabenwahrnehmung (kurz: Polizei. Sachsen.2020) von der CDU/FDP-Koalition gestartet. Dieses hatte eine zweite Phase organisatorischer Veränderungen zum Ziel, die bis 2022 einen weiteren Stellenabbau um 2441 Stellen ermöglichen sollte (Staatsministerium des Innern 2011). Demnach sind erneut Organisationseinheiten vergrößert worden, um Führungskräfte freizusetzen. So wurden erstens zum Januar 2009 Revierverbünde zwischen 39 der 79 bestehenden Reviere angelegt, die Leitungs- und Führungsaufgaben bündelten. Die freigewordenen Stellen wurden in den Streifen- und Kriminaldienst überführt (SLT/5/DS/2411, S. 12). Zweitens wurden zum Januar 2013 die Polizeidirektionen noch einmal von sieben auf fünf reduziert und auch die Anzahl der Reviere auf 41 verringert. Zum ersten Mal kam es zur Schließung von Revieren außerhalb von Großstädten. Damit ist die im Landtag bereits seit 2003 immer wieder aufgeworfene Kritik des Rückzugs der Polizei aus der Fläche weiter angeheizt worden. Die geschlossenen Reviere wurden jedoch als Polizeistandorte weitergeführt und erhalten dadurch ihre Funktion als Ansprechstelle, da sie zum Großteil durchgängig besetzt bleiben. Nach starker öffentlicher Kritik am Abbau der Polizei deutete sich 2014 nach der Landtagswahl die Abkehr von den bisherigen Plänen an. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD wurde ein Stellenaufbau festgehalten. Die Steigerung der Beamt*innenzahl ließ sich aufgrund der Ausbildungszeiten zwar erst über einen langen Zeitraum realisieren, jedoch ist seit 2016 bereits eine Steigerung der Beschäftigtenzahlen klar erkennbar. Zwischen 2016 und 2018 blieb die Anzahl der PVB annähernd gleich, daneben wurde die Anzahl der Tarifbeschäftigten um 24 % erhöht (vgl. SLT/6/3803; SLT/6/11628). In der Öffentlichkeit dominierte die Wahrnehmung, dass es durch den massiven Rückgang der PVB zwischen 2007 und 2016 auch zu einer eingeschränkten polizeilichen Präsenz gekommen sei. Die differenzierte Analyse der Polizeistrukturen zeigt jedoch, dass sich im Umbau wie im Abbau ein Ansatz erhält, der eine Stärkung der
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Interventionskapazität des repressiven Apparats zur Folge hat. Der im konservativen personellen Aufbau der Polizei durchgesetzte Leitsatz der Stärkung der Präsenz kann sich auch im neoliberalen Umbau behaupten. Dort werden nichtpolizeiliche Aufgaben ausgelagert und teure Führungspositionen abgebaut und günstigere Schutzpolizist*innen in den Revieren aufgestockt. Das Ziel des austeritären Abbaus besteht nicht darin, personelle Ressourcen des Gewaltmonopols auf der Straße auszudünnen, sondern in finanziellen Einsparungen.
4.3 Verpolizeilichung sozialer Konflikte Der Entwicklung der Polizei in Sachsen steht unter dem Fokus polizeilicher Intervention in den öffentlichen Raum. Dieser Fokus bildet den Rahmen für drei im Folgenden dargestellte zentrale Veränderungen polizeilicher Praxis, die eine Verpolizeilichung sozialer Konflikte durch den Ausbau von Interventionsmöglichkeiten auch abseits von kriminalisierten Handlungen, Subjekten und konkreten Gefahren begründen.
4.3.1 Verstärkung der uniformierten Präsenz Die Polizei in der BRD ist durch zwei relativ klar getrennte Organisationsbereiche strukturiert. Während sich die Kriminalpolizei in erster Linie mit der Verfolgung von Straftaten bzw. deren Verhütung in Zivilkleidung beschäftigt, ist die Gefahrenabwehr und die Beseitigung von Störungen Aufgabe der uniformierten Schutzpolizei. Auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten die Integration von Kriminal- und Schutzpolizei auf Führungsebene vorangetrieben wurde und in der öffentlichen Wahrnehmung die Unterschiede verschwinden, sind es zwei getrennte Aufgabenbereiche, die in ihrer gesellschaftlichen Wirkung unterschiedliche Stoßrichtungen verfolgen. Während die Schutzpolizei uniformiert vor allem im öffentlichen Raum auftritt, wirkt die Kriminalpolizei eher in den privaten Raum hinein. In Sachsen erkennt man in den vergangenen Jahren eine Stärkung der Schutzpolizei im Verhältnis zur Kriminalpolizei. Einrichtungen der Schutzpolizei (Streifendienst und Bürgerpolizei in den Revieren, Wachpolizei in den Polizeidirektionen) wurden in einem Vergleich zwischen 2006 und 2017 personell gestärkt (SLT/4/4911; SLT/6/10903; SLT/6/11205). Auch wenn der Streifendienst leicht abgebaut worden ist, wurde die Bürgerpolizei ebenso wie die Wachpolizei aufgestockt. Dadurch hat die Zahl der uniformierten Polizeibediensteten im öffentlichen Raum trotz des enormen Polizeiabbaus insgesamt zugenommen. Die Kriminalpolizei hingegen ist leicht geschwächt worden, durch einen in etwa gleichbleibenden Ermittlungsdienst in den Revieren und die personelle Schwächung von Kriminalpolizeiinspektionen in den Polizeidirektionen (ebd.).
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Dabei sind räumliche Zentralisierungsprozesse zu beobachten, wenn auch nicht in Form eines einheitlichen Rückzugs aus der Fläche. Vielmehr sind es viele, kleinteilige Konzentrationsprozesse, die aus den dargestellten Rationalisierungsmaßnahmen resultieren. Auch Mittelstädte im ländlichen Raum, wie Bautzen, Hoyerswerda oder die Kleinstadt Kamenz profitieren von Revierschließungen im Umland, sodass dort mehr Polizist*innen im Einsatz sind als vor dem Abbau. Hingegen sind es die umliegenden Kleinstädte, in denen die Reviere in Polizeistandorte umgewandelt wurden und wo deutlich weniger Polizist*innen ihren täglichen Dienst antreten. Die kleinräumige Zentralisierung der polizeilichen Präsenz zeigt den Bedeutungsgewinn der Schutzpolizei. Dieser geht einher mit der Bedeutungsverschiebung von Strafverfolgung hin zum präventiven Handeln der Polizei. Die Polizei ist dann präventiv an jenen Orten aktiv, die sie in ihren Lagebildern als Schwerpunkte ausweist. Dies sind Gebiete mit einer Häufung an präventablen Delikten (v. a. Sachbeschädigung, Diebstahl, Körperverletzung) (Busch 2004). Eine verstärkte polizeiliche Präsenz verhindert dort jedoch keine Kriminalität, sondern führt zur Verdrängung kriminalisierbaren Verhaltens und unerwünschter Gruppen (Belina 2011, S. 229).
4.3.2 Verlagerung der Praxis ins Vorfeld von Gefahren Seit den 1970er-Jahren wird der Polizei ermöglicht, „immer früher und immer breitflächiger in das Vorfeld [von] Gefahren, in ihre Entstehungs-Prozesse hineinzuwirken“ (Paeffgen 1997, S. 8 f.). Vorreiter dieser Entwicklungen waren zumeist CDU/CSUgeführte Länder. Im ersten sächsischen Polizeigesetz im Jahr 1991 beschränkte sich die Aufgabe der Polizei noch klar auf die Abwehr von Gefahren und die Beseitigung von Störungen. Erst 1994 wird der präventive Charakter stärker ausformuliert. Straftaten sollen auch verhindert und vorbeugend bekämpft werden, außerdem sind Vorbereitungen zu treffen, um künftige Gefahren abzuwehren (§ 1, Abs. 1, Nr. 2 und 3 SächsPolG 1994). Das Polizeigesetz von 1994 übernahm aus Bayern und Baden-Württemberg „die jeweils weitestgehenden Möglichkeiten dieser beiden Gesetze“ (Paeffgen 1997, S. 2). Die Folge ist die „Auflösung der konkreten Gefahr als tatbestandlicher Auslöser polizeilichen Einschreitens“ (Bizer 1999, S. 9). Die vorbeugende Tätigkeit macht Befugnisse im Vorfeld von konkreten Gefahren notwendig, weshalb sich polizeiliche Maßnahmen nun auf neue Adressat*innen richten, nicht mehr nur auf „Störer“ und „Tatverdächtige“, sondern auch auf „den unbeteiligten Dritten, teilweise als ‚andere Person‘ bzw. als ‚Kontakt- und Begleitperson‘“ (Rommelfanger und Rimmele 2000, S. 34) bezeichnet. In dieser Entwicklung von der Gefahrenabwehr zur Gefahrenvorsorge werden Befugnisse der Überwachung und Kontrolle des öffentlichen Raumes vorverlagert. Diese schränken zur Informationsgewinnung die Persönlichkeitsrechte von
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Unbeteiligten ein. Beispielsweise sind verdachtsunabhängige Kontrollen zur vorbeugenden Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität seit 1999 bis zu 30 km hinter der Staatsgrenze sowie davon losgelöst überall an „Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität“ (§ 19 Abs. 1, Nr. 5 SächsPolG) und damit auf mindestens 40 % der Fläche Sachsens möglich (Bizer 1999, S. 59). Dadurch erfolgt eine „vollständige Loslösung der Eingriffsmaßnahme von jedem Verdacht“ (ebd., S. 11) und „eine Auflösung des bislang örtlich definierten Begriffs der Grenze und die Einführung einer örtlich unbestimmten ‚Überallgrenze‘ im Hinterland“ (ebd., S. 44). Im Jahr 2004 wurde die Möglichkeit der verdachtsunabhängigen Kontrollen durch die Einrichtung von Kontrollbereichen erneut erweitert. Befristet können seitdem ganze Stadtviertel durch das Innenministerium als Kontrollbereiche ausgewiesen werden (§ 19 Abs. 1, Nr. 6 SächsPolG). Die Befugnisse der Polizei werden auch in der Art erweitert, dass sie präventiv das Freiheitsrecht und das Recht auf Freizügigkeit von einzelnen Personen beschränken. 1994 wird die Möglichkeit einer Gewahrsamnahme für bis zu zwei Wochen eingeführt, wenn „auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit nicht verhindert oder eine bereits eingetretene erhebliche Störung nicht beseitigt werden kann“ (§ 22 Abs. 1 SächsPolG). Eine Störung muss dabei keine Straftat, nicht mal eine Ordnungswidrigkeit sein: Als „erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit kann schon die Beeinträchtigung der Leichtigkeit des Straßenverkehrs in nennenswertem Ausmaß durch Demonstrationsteilnehmer … o. ä. angesehen werden“ (Denninger 1995, S. 16 f.). Während die Einschränkung der Wahl des Aufenthaltsortes zur Abwehr einer konkreten Gefahr bereits durch einen Platzverweis möglich ist, wird der Polizei im Jahr 1999 durch die Einführung des Aufenthaltsverbotes ermöglicht, das Recht auf Freizügigkeit einzuschränken, um strafbaren Handlungen vorzubeugen (Bizer 1999, S. 69). Die Polizei kann nun Personen präventiv ein bis zu dreimonatiges Aufenthaltsverbot für einzelne Plätze oder gar ganze Gemeinden aussprechen. Seit dem Sommer 2018 wird in Sachsen erneut über Befugniserweiterungen für die Polizei diskutiert, die die Überwachung des öffentlichen Raumes und präventive Telekommunikationsüberwachung ermöglichen sollen. Das neue Gesetz soll gezielt Eingriffe gegen sogenannte Gefährder und ihre Begleiter*innen legitimieren, bei denen die Polizei lediglich vermutet, dass diese eine Straftat begehen könnten (SLT/6/ DS/14791). Insgesamt drückt sich in den Modernisierungen des Polizeirechts eine Stärkung der Befugnisse einer präventiv operierenden Schutzpolizei aus. Die Abkehr von der Notwendigkeit einer konkreten Gefahr für den Eingriff gibt der Polizei einen immer größer werdenden Ermessensspielraum darüber, was sich in Zukunft zu einer konkreten Gefahr entwickeln könnte. Sichtbare Armut, Minderheiten und insbesondere abweichendes Verhalten im öffentlichen Raum werden so zum Gegenstand polizeilichen Handelns (Kant und Roggan 2005).
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4.3.3 Steigerung der Deutungshoheit als politische Akteurin Die Polizei in der Bundesrepublik ist zuvorderst für Gefahrenabwehr und die Verfolgung von Straftaten zuständig. Neben der Vorverlagerung der Praxis ins Vorfeld von Gefahren beobachtet Belina, dass in den vergangenen Jahrzehnten „aus der Polizei heraus versucht wird, auch die Definitionsmacht über öffentliche Debatten rund um das Thema Kriminalität zu erlangen und auf diesem Weg die Legislative und Exekutive zu beeinflussen“ (2018, S. 123). Ein wesentlicher Teil dieser Entwicklungen ist die verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, mit der aktiv in Kriminalitätswahrnehmung und Meinungsbildungsprozesse eingegriffen wird. Nicht nur in Bezug auf konkrete Vorfälle, sondern auch in Fragen sozialer Entwicklungen im Allgemeinen wird der Polizei eine Expert*innenrolle eingeräumt. Parallel zu dieser Entwicklung verstärkte sich die Bedeutung der Prävention innerhalb der Polizei und für die Kommunen. Seit den 1990er-Jahren wurden in der Bundesrepublik lokale Gremien zum Zweck der Kriminalprävention gegründet. Die Polizei ist in 90 % dieser Gremien vertreten und wird in die Bearbeitung verschiedener sozialer Konflikte in Städten einbezogen (Schreiber 2007, S. 40). In Sachsen sind bis zum Jahr 1998 55 „Kriminalpräventive Räte“ auf Gemeinde- oder Landkreisebene auf Anregung der Staatsregierung eingerichtet worden (SLT/2/DS/9357, S. 2, 22). Der Polizei wird dabei die Aufgabe der Lagedarstellung zugesprochen; sie soll „Impulse und Unterstützung zur Durchführung von fachübergreifenden Präventionsprojekten im örtlichen Bereich“ (ebd., S. 24) geben. Damit wird sie stärker als Expertin in Bezug auf städtische Problemlagen (u. a. Nutzungskonflikte, Wohnungslosigkeit, Armut) wahrgenommen. Während die Polizei Anfang der 1990er-Jahre im lokalen Kontext im Bereich der Gefahrenabwehr verortet war, wird sie immer mehr zur Akteurin einer sozialräumlichen Risikokalkulation, wie am Beispiel Leipzig-Connewitz gezeigt worden ist (Perthus 2016). In Bautzen zeigte sich, dass die Deutungshoheit der Polizei in Bezug auf soziale Konflikte im Einzelfall so durchschlagend sein kann, dass wesentliche Entwicklungen und Motive nicht mehr in der Öffentlichkeit abgebildet werden (Perthus und Belina 2017). Bei einer Hetzjagd von Neonazis und Anwohner*innen auf Geflüchtete und ihrer Begleiter*innen im September 2016 spielte die Polizei eine aktive Rolle bei der Umdeutung des Vorfalls als Auseinandersetzung zwischen kriminellen, jugendlichen Geflüchteten und Anwohner*innen. In der Ausblendung rassistischer Motive, des aktiven Handelns von Neonazis und der Stigmatisierung der Geflüchteten sind Züge einer Moralpanik deutlich geworden. Als eine Moralpanik verstehen Hall et al. (1978, S. 16) eine offizielle Reaktion auf eine Personengruppe oder Ereignisse, wenn diese vollkommen unverhältnismäßig zu der Gefahr ist, die von ihnen ausgeht. Der Polizei als „primärer Definierer“ (ebd., S. 57) dieser Ereignisse kommt eine aktive, gestaltende Rolle in der Bearbeitung von Konflikten zu, in der die Kriminalisierung von Flucht/Geflüchteten mit einer Entkriminalisierung von rassistischen Gewalttaten einhergeht.
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Die Polizei bekommt in den Gremien einerseits ein „Podium für polizeiliche Einschätzungen und Ratschläge“, und andererseits wird damit „Informationsfluss in Richtung Polizei“ (Pütter 2007, S. 49) erhöht. Die Mitarbeit der Polizei in den Gremien und deren aktive Öffentlichkeitsarbeit führt „zu einer weiteren ‚Verpolizeilichung‘ der Wahrnehmung von und der Reaktion auf gesellschaftliche Problemlagen“ (ebd., S. 43). Die Polizei wird somit immer stärker als Expertin für soziale Probleme wahrgenommen, und soziale Probleme werden auch im lokalen Kontext immer häufiger als Kriminalität und damit als Sicherheitsproblem verhandelt.
4.4 Fazit Der öffentliche Raum ist ein Terrain sozialer Konflikte, die in Krisen verstärkt hervorbrechen. Die Polizei in Sachsen ist trotz des durch Einsparung und Rationalisierung geprägten Umbaus in die Lage versetzt worden, stärker in solche sozialen Konflikte zu intervenieren. Sie wird präsenter sowohl als uniformierte Staatsmacht im öffentlichen Raum wie auch in den Diskursen und Diskursarenen um Sicherheit im öffentlichen Raum und damit auch interessanter für regionalwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Ihre Praxis zielt, aufgrund der Ausweitung der Eingriffsgrundlagen, zunehmend auf Unbeteiligte und Personen, von denen sie annimmt, dass von diesen in Zukunft eine Gefahr ausgehen könnte. Ihre Praxis ist daher stärker geprägt von Entscheidungen, in welchen Räumen die Polizei präventiv auftritt und kontrolliert. Die Tendenz der räumlichen Ungleichheit in der Praxis der Polizei wird damit verstärkt. Ihre gestiegene Relevanz als politische Akteurin zeigt sich in ihrer aktiven Rolle in den Aushandlungsprozessen, insbesondere in zivilgesellschaftlichen Gremien zu Konflikten im öffentlichen Raum. Die Verpolizeilichung des öffentlichen Raums ist weder ein spezifisch ostdeutscher noch ein spezifisch sächsischer Prozess. Dessen konkrete Formen sind es jedoch, und so kann deren Analyse für eine Annäherung an ostdeutsche bzw. sächsische Entwicklungen dienlich sein. Im Ost-West-Vergleich der Bundesländer ist auffällig, dass der Neoliberalisierungsprozess der Polizeien in den alten Bundesländern bereits 20 Jahre früher eingesetzt hat und dann Anfang der 1990er-Jahre innerhalb kurzer Zeit in den Polizeien der neugegründeten ostdeutschen Länder durchgesetzt wurde. Parteipolitische Färbungen zeigen sich im Vergleich zu anderen Bundesländern in der „Schnelligkeit … bei der Einführung von erweiterten oder neuen Gefahrenabwehr- oder Strafverfolgungsinstrumenten, bei der Laisierung der Polizeiarbeit oder bei Nuancen in der Gewichtung von Repressions- und Präventionstätigkeiten“ (Frevel und Groß 2016, S. 83). Sachsen ist seit 1991 durch eine „christdemokratische Hegemonie“ mit nahezu „informeller Einparteienregierung“ (Jesse et al. 2014, S. 115) geprägt. Unter anderem am hohen Anteil des mittleren Dienstes, der Einrichtung der Wachpolizei oder auch dem Fehlen demokratischer Kontrollinstrumente, wie einer unabhängigen Beschwerdestelle für polizeiliches Fehlverhalten, wird sichtbar, dass es den Koalitionspartnern SPD und FDP
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kaum gelang, eigene Forderungen durchzusetzen. Die spezifische Verbindung von neoliberalem Umbau und Ausbau polizeilicher Präsenz ist in erster Linie das Ergebnis einer christdemokratischen Regierungspraxis. Die Kritik an den vergangenen Reformen der Polizei in Sachsen in den öffentlichen Medien hat sich insbesondere auf quantitative Entwicklungen des Personals gestützt. An der Qualität der Ausbildung und Arbeitsverhältnisse innerhalb der Polizei wird sich so jedoch nichts ändern. Insofern wird an den vorherrschenden Prinzipien festgehalten und das gesellschaftliche Bild von Polizeiarbeit weiterhin vom „Schutzmann“ und seinem autoritären Eingriff geprägt sein. Die zunehmende Kontrolldichte in Schwerpunktbereichen wird mehr Anzeigen und statistisch messbare Kriminalität erzeugen. So drohen durch vielfältige soziale Konflikte geprägte Stadträume als gefährliche Viertel verdinglicht und nur noch durch polizeiliche Mittel regiert zu werden. Aus Sicht einer kritischen Kriminalgeographie gilt es, diese Verdinglichung als handlungsleitenden Aspekt regionaler Entwicklungspolitik zu kritisieren.
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Paeffgen, H.-U. (1997). Das sächsische Polizeigesetz vor dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen: Rechtliche Grenzen moderner Polizeiarbeit. Dresden: Parthenon. Perthus, S. (2016). Von der Gefahrenabwehr zur sozialräumlichen Risikokalkulation: Kommunale Kriminalprävention in Leipzig-Connewitz im Dienste der Inwertsetzung des Stadtteils, 1990– 2014. Münster: LIT. Perthus, S., & Belina, B. (2017). Policing the Crisis in Bautzen. Die Polizei in der Ethnisierung eines städtischen Konfliktes. Soziale Probleme, 28(2), 241–259. Petzold, T. (2018). Austerity Forever?! Die Normalisierung der Austerität in der BRD. Münster: Westfälisches Dampfboot. Pütter, N. (2007). Polizei und kommunale Prävention. Zwischen Legitimationspflege und vernetzter Repression. Cilip – Bürgerrechte & Polizei, 86, 41–54. Rolfes, M. (2015). Kriminalität, Sicherheit und Raum: Humangeographische Perspektiven der Sicherheits- und Kriminalitätsforschung. Stuttgart: Franz Steiner. Rommelfanger, U., & Rimmele, P. (2000). Polizeigesetz des Freistaates Sachsen: Mit Erläuterungen und ergänzenden Vorschriften. Stuttgart: Boorberg. Schreiber, V. (2007). Lokale Präventionsgremien in Deutschland (Bd. 2). Forum Humangeographie Frankfurt a. M.: Institut für Humangeographie. Staatsministerium des Innern. (2011). Projekt „Polizei.Sachsen.2020“. Feinkonzept zur künftigen Organisation der sächsischen Polizei. www.smi.sachsen.de/download/Polizei2020/110922_ Endfassung_Feinkonzept_Druckversion.pdf. Zugegriffen: 20. März 2019. Virchow, F. (2008). Der neoliberale Staat, die private Produktion von „Sicherheit“ und die Transformation der Bürgerrechte. In C. Butterwegge, B. Lösch, & R. Ptak (Hrsg.), Neoliberalismus: Analysen und Alternativen (S. 224–242). Wiesbaden: Springer VS.
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Ostdeutsche Grenzregionen. Zwischen Systemtransformation, EU-Osterweiterung und alltäglichem Bordering Hans-Joachim Bürkner
Zusammenfassung
Die ostdeutschen Grenzregionen sind zusätzlich zu den Anpassungsprozessen nach der Wiedervereinigung von weiteren Transformationsprozessen betroffen. Insbesondere die Öffnung der Europäischen Binnengrenze führt hier zu neuen Verknüpfungen, aber auch zu Abgrenzungen in grenznahen Regionen. Der Beitrag beschreibt die Veränderungen der Grenzregime an der deutschen Ostgrenze und deren Auswirkungen, sowohl auf politischer Ebene als auch hinsichtlich der alltagsweltlichen (Re-)Konstruktion von Grenzen.
5.1 Einleitung Die Grenzregionen Ostdeutschlands sind von der Überschneidung zweier grundlegender Entwicklungstrends geprägt worden: der postsozialistischen Transformation und der Osterweiterung der Europäischen Union. Beide Prozesse überführten die Ränder des Territoriums der DDR in eine neue ökonomische Peripherie. Diese Entwicklung stellte die lokalen Akteure vor besondere Herausforderungen. Hier wurden nicht nur die materiellen Folgen politischer Umwälzungen unmittelbar greifbar; auch die Diskrepanz zwischen den Entwicklungshoffnungen der Nachwendezeit und einem von zwischenzeitlichem Niedergang gekennzeichneten Alltag war in Ostdeutschland wohl kaum so stark ausgeprägt wie in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien (zum Alltagsbegriff s. Kap. 31). Dieser Beitrag schenkt daher den alltäglichen Entwicklungen „an der Grenze“ besondere Aufmerksamkeit. H.-J. Bürkner (*) Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_5
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Das Leben an der Grenze forderte von den Akteuren jeweils besondere Fähigkeiten und angepasste Handlungsweisen. Hierfür ist in der jüngeren Grenzraumforschung der Begriff „Bordering“ geprägt worden. „Bordering“ lässt sich ungefähr mit „Grenze(n) machen“ übersetzen und bezeichnet Prozesse der sozialen Konstruktion von Grenzen (van Houtum und van Naerssen 2002). Grenzen bestehen demnach nicht nur als politische Institutionen und materielle Abgrenzungen zwischen Territorien. Vielmehr werden sie im Alltag stets wahrgenommen, bewertet und in individuelle oder kollektive Praktiken einbezogen. Politische Grenzen bieten insbesondere Ansatzpunkte für soziale Abgrenzungen und Differenzmarkierungen (Yuval-Davis et al. 2019). Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die politischen, wirtschaftlichen und alltäglichen Entwicklungen an der deutschen Ostgrenze. Dabei bleibt die ehemalige innerdeutsche Grenze ausgeklammert, da sie eine eigene Entwicklungsdynamik aufweist und von der hier betrachteten Überschneidung von Transformation und sich änderndem EU-Grenzregime nur teilweise berührt wurde. Die folgenden Abschnitte stellen die Entwicklungsphasen und die wichtigsten Probleme der Grenzregionen Ostdeutschlands seit 1990 (Abschn. 5.1) dar. Jeder Abschnitt beginnt mit einer kritischen Bestandsaufnahme der ökonomischen, politischen und sozialen Umbrüche und ihrer regionalen Folgen. Anschließend werden die kleinen Grenzüberschreitungen und Bordering-Prozesse der lokalen Akteure betrachtet und in Beziehung zu den großen politischen Veränderungen der jeweiligen Perioden gesetzt. Dabei wird die Widersprüchlichkeit der sozialen Dynamiken aufgezeigt, die von mehrfachen Veränderungen der politischen Grenzdefinitionen ausgelöst werden.
5.2 Phasen der Entwicklung der ostdeutschen Grenzregionen seit 1990 Die einzelnen Entwicklungsphasen werden im Folgenden als ein Ergebnis relativ stabiler politischer Rahmenbedingungen und zurechenbarer sozialer Dynamiken begriffen. Wechsel zwischen den Phasen werden durch politische Umbrüche auf EU-Ebene (z. B. der EU-Osterweiterung), nationaler Ebene (z. B. der Fortschreibung ökonomischer Krisen) und jeweils besondere Entwicklungen innerhalb der Grenzregionen ausgelöst. Ihre Auswirkungen auf die konkrete Ausprägung der einzelnen Phasen werden jeweils nacheinander behandelt.
5.2.1 Phase 1: Von der Wendezeit zum regulierten Postsozialismus Ende der 1990er-Jahre Die Europäische Union als ein wichtiges Element der Frühphase der Entwicklung ostdeutscher Grenzregionen zu begreifen, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Postsozialistische Umgestaltung und deutsche Einheit, in deren Kontext die Grenzregionen restrukturiert wurden, sind in den öffentlichen Debatten hauptsächlich
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als nationale Phänomene begriffen worden. Dennoch muss beachtet werden, dass die EU nicht nur wichtige Hintergrundbedingungen der nationalen und regionalen Umbrüche nach dem Fall des Kommunismus geschaffen hat; mithilfe ihrer sektoralen Politiken hat sie auch direkt in das Geschehen an den Grenzen eingegriffen. Im Hintergrund wurde vor allem die Umsetzung des 1992 geschlossenen Maastrichter Vertrages zur europäischen Integration intensiv betrieben. Dabei wurden besondere Anstrengungen zum Abbau der Binnengrenzen unternommen. Dies sollte die Herstellung eines einheitlichen EU-Wirtschaftsraums und seine globale Vernetzung erleichtern (Anderheiden 2018). Ergänzend wurde die EU-Außengrenze auf der Grundlage des Schengener Abkommens von 1985 als Garant eines sich erweiternden Binnenmarktes und der sozialen Binnenintegration der EU verstanden. Diese ordnungs- und sicherheitspolitische Funktion der EU-Außengrenze wurde schließlich mit dem Vertrag von Amsterdam (1999) auf alle neuen Mitgliedsstaaten ausgedehnt und institutionalisiert. Als direkte Intervention wurde die Außengrenze daher mithilfe besonderer Sicherheitsmaßnahmen und einer rigiden Regulierung von Migrationsprozessen ausgestaltet (Zaiotti 2011). Die östliche und südliche Staatsgrenze der ehemaligen DDR wurde von entsprechenden Sicherungspraktiken bereits unmittelbar nach der Wende erfasst. Nach 40 Jahren der intensiven Grenzkontrolle wurde sie zwar in eine nationalstaatliche Grenze mit etwas schwächer reguliertem Waren- und Personenverkehr als zuvor überführt. Dennoch wurde sie wegen ihrer neuen Bedeutung als EU-Außengrenze nun weiter aufmerksam kontrolliert und mit besonderen Mobilitätsbeschränkungen versehen (Kap. 6). Im Widerspruch zur scharfen Abgrenzung der EU von ihrer Nachbarschaft – von Kritikern als Einhegung der „Festung Europa“ bezeichnet (Dietrich 1999) – stand die Einführung von Politiken der grenzüberschreitenden Kooperation in den frühen 1990er-Jahren. Das Modell der Förderung grenzüberschreitender kommunaler Zusammenarbeit mithilfe der sogenannten Euroregionen, das bereits in den 1950erJahren von der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entworfen und ab den 1970er-Jahren in mehreren westeuropäischen Grenzregionen installiert worden war, kam nun auch in der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzregion zur Anwendung. Die grenznahen Kommunen erhielten unter anderem Zugang zu speziellen EU-Fördermitteln, die ab Mitte der 1990er-Jahre bis 2007 im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative INTERREG und danach als Mittel der „Europäischen territorialen Zusammenarbeit“ zur Verfügung standen. Zur Jahrtausendwende wurde der gesamte Grenzverlauf lückenlos von insgesamt acht Euroregionen erfasst (Abb. 5.1; s. auch Jurczek 2006, S. 52). Die Grenzregion sollte territoriales Bollwerk und offener Kooperationsraum zugleich sein. Diese paradoxe Doppeldefinition der Ostgrenze, die top down von der Europäischen Union vorgenommen und von der Bundesrepublik Deutschland implementiert wurde, erzeugte eine widersprüchliche normative Rahmung der lokalen Entwicklungen. Dennoch entstand in der politischen Öffentlichkeit dieser Zeit zunächst der Eindruck, dass die Umgestaltung der Grenzregionen hauptsächlich ein problemarmer
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Abb. 5.1 Euroregionen entlang der ostdeutschen Staatsgrenzen (Stand: 1.1.2019). (Quelle: Eigene Recherche)
Nebenschauplatz der ostdeutschen Transformation vom Staat zum Markt sei. Dafür sprach zunächst, dass sich mit einem neuen grenzüberschreitenden Kleinhandel und dem aufblühenden Einkaufstourismus eine ökonomische Aufwärtsentwicklung ankündigte. In der Tat gehörte der lokale Einzelhandel in Grenznähe in der unmittelbaren Nachwendezeit zu den kurzfristigen Nutznießern der Grenzöffnung.
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Die Vorstellung einer problemlosen regionalen Transformation beruhte auch auf der Annahme, dass der Transfer von Institutionen und Infrastrukturen von West- nach Ostdeutschland überall zunächst gleiche Ausgangsbedingungen schaffen würde. Dennoch waren die Strukturen, auf die nun die flächendeckende Demontage und Privatisierung der ehemals staatlichen Produktionsbetriebe unter der Ägide der Treuhandanstalt einwirkte, bereits von älteren Zentren-Peripherie-Gegensätzen geprägt. Wenigen altindustriellen Zentren, die in der DDR mit erheblichem Ressourceneinsatz für die Planwirtschaft in Wert gesetzt wurden, standen agrarisch-monostrukturell geprägte Räume gegenüber, die zwar eine industrialisierte bzw. hoch technisierte Landwirtschaft beherbergten, aber nicht zu den Lebensverhältnissen der größeren Städte aufschließen konnten (Kap. 29). Beide Ausgangsstrukturen erwiesen sich nach der Wende als problematisch. Die Zentren konnten erst nach längerer Zeit und unter massiver externer Stützung einen partiellen Anschluss an die globalisierte Ökonomie finden. In den ländlichen Räumen befanden sich zwar noch vielfach eingekapselte Überreste ehemaliger D DR-Industriestandorte; jedoch wurden sie rasch mit dem fortschreitenden Abbau von Produktionsstrukturen, dem Wegfall vormals existierender Wirtschaftsbeziehungen, kleinteiligen Privatisierungsprozessen und Beschäftigungsverlust konfrontiert. Sie fielen nun weitgehend auf den Status von wachstumsschwachen Peripherien zurück, die auf lange Sicht von Transfereinkommen abhängig sein würden. Diesem neuen Peripherisierungsmuster lassen sich auch die ostdeutschen Grenzregionen zuordnen. Allerdings zeigen sich hier zwei wichtige Abweichungen, die die Grenzregionen keineswegs als nachrangige Schauplätze der Transformation erscheinen lassen. Zum einen waren in der DDR große Industriekombinate in der Grenzregion zu Polen aufgebaut worden. Diese Standorte zeigten nach der Wende zunächst eine krisenhafte Entwicklung, wurden später aber durch eine Kombination von Privatisierung, staatlich geförderter Neuansiedlung von Produktionsclustern, internationaler Vernetzung und Modernisierung der Infrastruktur auf niedrigem Niveau stabilisiert. Die Folgeunternehmen ehemaliger Staatsbetriebe – wie z. B. in Frankfurt (Oder) (Computerelektronik), Schwedt (Erdölverarbeitung, Petrochemie) und Eisenhüttenstadt (Stahlproduktion) – etablierten sich dabei als Ausgangspunkte neuer, wenn auch im interregionalen Vergleich krisenanfälliger Branchenentwicklungen (Nuhn 2001; Bürkner 2006). Ab Mitte der 1990er-Jahre wurde die Strategie der zentralisierten Privatisierung durch die Treuhand von stärker dezentralisierten Politiken der wettbewerbsorientierten Attraktivitätssteigerung der grenznahen Standorte abgelöst. So wurden außerhalb der Städte großflächige Gewerbeinfrastrukturen eingerichtet und vereinzelte Industrie- und Gründerzentren geschaffen. Doch die Klein- und Mittelstädte entlang der d eutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze profitierten davon bei Weitem nicht in dem Maße, wie dies die Politik vorgesehen hatte. Neu entstandene Kleinunternehmen mit wenig Kooperationserfahrung sorgten kaum für Beschäftigung oder gar eine Linderung der hohen regionalen Arbeitslosigkeit (Bürkner 2002). Entwicklungsstabilisierende grenzüberschreitende Produktionsnetzwerke und Lieferverflechtungen von kleinen und mittelgroßen Unternehmen mit polnischen Unternehmen
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stellten in dieser Phase noch eine Ausnahme dar (Krätke et al. 1997, S. 174 ff.). Erfolgreicher agierten hingegen solche mittelständischen Unternehmen, die mithilfe von Auslagerungen strategisch geplante Doppelstandorte (twin locations) entwickelten (Zschiedrich 2012, S. 211). Ihren Erfolg verdankten sie der Nutzung billiger, aber gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die hauptsächlich in Zweigbetrieben in Polen beschäftigt wurden. Größere Gewerbeansiedlungen und Unternehmensgründungen erfolgten vor allem durch regionsexterne Unternehmen der Textil- und Bekleidungsindustrie und der Möbelindustrie, die Produktionsstätten in Form sogenannter verlängerter Werkbänke in die Grenzregion verlagerten. Die starke Konjunkturabhängigkeit dieses Produktionsmodells (rapide Expansion im Aufschwung, frühzeitiger Beschäftigungsabbau im Abschwung) stand langfristigen regionalen Entwicklungsperspektiven allerdings erheblich entgegen. Erste Ansätze zur Bildung neuer grenzüberschreitender Unternehmensnetzwerke im verarbeitenden Gewerbe blieben noch ohne nennenswerte Auswirkung auf die Regionalentwicklung (Krätke et al. 1997). Einzelfälle, die erst über einen längeren Zeitraum hinweg als Erfolg verbucht werden konnten, verdankten sich zumeist der massiven Stützung durch EU-Mittel und nationalstaatliche Förderpolitiken. Zu nennen ist die Stadt Frankfurt (Oder), die als neu profilierte Universitäts-Doppelstadt (zusammen mit Słubice auf der polnischen Seite) auf eine Strategie der Integration der „grenzüberschreitenden“ Wissensproduktion in globale Netzwerke der Wissensproduktion setzte (Fichter-Wolf 2008). Der regionale Beschäftigungseffekt dieser Entwicklung blieb jedoch ebenfalls gering. Grenzöffnungen zu den ehemals sozialistischen Nachbarländern bekamen vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen für viele lokale Akteure eher einen bedrohlichen als einen ermunternden Charakter. Sie aktivierten in der Bevölkerung auf beiden Seiten alte Ängste vor dem Ausverkauf lokaler Ressourcen sowie neue Ängste vor Arbeitskräftekonkurrenz aus dem Osten. Für das alltägliche Bordering der Grenzbewohner*innen schufen sie eher Handlungsbarrieren, als dass sie zu neugierigen Erkundungen oder offenen Kommunikationsangeboten über die Grenze hinweg ermuntert hätten. Charakteristisch für diese Phase war eine relativ geringe Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, die Initiative zu ergreifen (Matthiesen und Bürkner 2001) – von Besuchen auf polnischen oder tschechischen Grenzbasaren und der Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen über die Grenze hinweg einmal abgesehen.
5.2.2 Phase 2: Ökonomische Dauerkrise, „demographischer Wandel“ und symbolische EU-Politik (2000–2004) Die anhaltende Deökonomisierung Ostdeutschlands (Hannemann 2003) nahm zur Jahrtausendwende besonders drastische Formen an. Als Folge kam es zur vermehrten Abwanderung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, mit hohen Anteilen jüngerer, qualifizierter und weiblicher Arbeitskräfte. Dieser ostdeutsche Braindrain war besonders
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an der deutsch-polnischen Grenze stark ausgeprägt (Matejskowa und Bergstrom 2005). Paradoxerweise trat er vor allem dort ein, wo noch lokale Ansätze für künftige wirtschaftliche Aufwärtsentwicklungen vermutet wurden (z. B. an jenen Orten, die von der regionalen Förderpolitik der 2000er-Jahre als „Wachstumskerne“ bezeichnet wurden; siehe Ribhegge 2006). Auch die zwischenzeitliche Förderung von Gründungsaktivitäten regional konzentrierter kleiner und mittelgroßer Unternehmen (Scheuplein 2007), wie sie z. B. durch die Clusterpolitik der brandenburgischen Landesregierung erfolgte, hinterließ nicht die gewünschten Stabilisierungseffekte für Regionalökonomie und Arbeitsmarkt. Ihr lokaler Beschäftigungseffekt blieb aufgrund fehlender Arbeitskraftangebote und der Notwendigkeit des „Imports“ einer begrenzten Anzahl hochqualifizierter externer Arbeitskräfte gering. Zeitgleich erfolgende Versuche, unter Einbezug der Überreste der ehemaligen DDR-Elektronikindustrie moderne High-Tech-Großunternehmen zu etablieren (Scheuplein 2002), erwiesen sich im Laufe des Jahrzehnts als eher problematische Einzelfälle, die undurchsichtigen Unternehmensstrategien und mehrfachen Übernahmen durch internationale Investoren zum Opfer fielen (so z. B. eine Mikrochipfabrik in Frankfurt (Oder) und später, an demselben Standort, eine Solarmodulfabrik). Dem drohenden Bevölkerungsschwund steuerten sowohl die Bundespolitik als auch Länder- und Kommunalpolitiken mit zwei Maßnahmen entgegen, einer symbolischen und einer förderpolitischen. Symbolbildend wirkte, dass die Bundespolitik die Abwanderung als Ausdruck eines umfassenden demographischen Wandels etikettierte. Sinkende Geburtenraten und Abwanderung wurden dabei eher als eine Folge der unangepassten Entscheidungen der „Modernisierungsverlierer“ im Osten dargestellt denn als Folge ökonomischer Abwärtszyklen (Kutzner 2009). Zugleich wurden die weithin sichtbaren Folgen der Abwanderung, nämlich städtische Schrumpfungsprozesse (Oswalt 2004) und zunehmende kommunale Wohnungsleerstände, zu den wichtigsten Ansatzpunkten für staatliche Förderungsmaßnahmen erklärt. Ende der 1990er-Jahre wurde das Bundesprogramm Stadtumbau-Ost aufgelegt, mit dem Ziel, durch Rückbau, Abriss und Aufwertung leerstehender DDR-Großwohnsiedlungen die ökonomischen Risiken für die kommunalen Wohnungsunternehmen zu reduzieren (Kap. 23). Diese politischen Reaktionen erwiesen sich als problematisch, da sie die Ursachen der Abwanderung nicht beeinflussen und lediglich ihre Folgen kaschieren konnten (Bernt 2009). Unter dem Eindruck der fortschreitenden Abwanderung forcierten die politischen Eliten der Kommunen an der Grenze symbolische Grenzüberschreitungen, die zumeist im Rahmen von Veranstaltungen der neuen Euroregionen inszeniert wurden. Diese Gesten eines basisnahen Debordering, d. h. einer Milderung der alltäglichen sozialen Trennwirkung der Grenze, sollten dem öffentlichen Bild des Niedergangs der grenznahen Kommunen entgegenwirken und in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Chancen grenzüberschreitender Kooperation wecken. Zudem sollten sie auch positive Erwartungen für die bevorstehende Aufnahme der EU-Beitrittskandidaten Polen und
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Tschechien im Jahr 2004 erzeugen. Dennoch behielten auf der Seite der deutschen Bevölkerung Skepsis und Abwanderungsbereitschaft die Oberhand, oftmals verbunden mit einer kollektiven Abwendung des alltäglichen Blicks von der Grenze und den dahinter lebenden Menschen (Matthiesen und Bürkner 2001).
5.2.3 Phase 3: Beitritt Polens und Tschechiens zur EU – Umpolung der Grenzen (2004–2010) Mit dem Beitritt Polens und Tschechiens zur EU erfuhr die deutsche Ostgrenze einen abrupten Wandel: Sie wurde zur EU-Binnengrenze und unterlag damit einem völlig veränderten Grenzregime. Dieses war nunmehr von der Deregulierung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, dem Abbau der physischen Grenzkontrollpunkte und der forcierten Einführung elektronischer Überwachungsmaßnahmen gekennzeichnet. Mit einer insgesamt siebenjährigen Übergangsfrist wurde im Jahr 2011 die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Polen und Tschechien sowie den sechs weiteren Beitrittsländern realisiert. Von dem mehrstufigen Abbau der mobilitätshemmenden Trennwirkung der Staatsgrenzen wurden in Politik und Medien eine wirtschaftliche Stimulierung der Grenzregion sowie eine erleichterte Beschäftigung polnischer und tschechischer Arbeitskräfte auf der deutschen Seite erwartet. Demgegenüber wurden in der Bevölkerung Ängste vor einem Strukturbruch, unkontrollierter Zuwanderung und erhöhter Arbeitslosigkeit artikuliert (Kaczmarczyk 2007). De facto wurden die neuen EU-Binnengrenzregionen allerdings kaum von ökonomisch motivierter Zuwanderung erfasst. Wirkungen auf den Arbeitsmarkt blieben weitgehend aus (Moritz 2007). Besonders für Arbeitnehmer*innen aus Polen besaß die deutsche Seite der Grenzregion nur eine geringe Attraktivität. Offene Stellen und hohe Löhne wurden hier kaum geboten. Die weiter im ostdeutschen Binnenland gelegenen Zentren (z. B. Berlin oder Leipzig) sowie die westdeutschen Großstädte erwiesen sich als wesentlich zugkräftiger, auch und vor allem für die wachsende Zahl von wochen- oder monatsweise Pendelnden. So hatten im Zeitraum von 2000 bis 2009 insgesamt 86 % der Zuwanderungen aus Polen nach Deutschland jeweils Westdeutschland zum Ziel; weitere 9 % wanderten nach Berlin. Auf den Rest Ostdeutschlands, d. h. nicht nur die Grenzregion, sondern auch das Binnenland, entfielen ganze 5 % (Kubis 2011, S. 150). Damit wurden zwar die Befürchtungen vieler Grenzbewohner*innen um neue lokale Konkurrenz und Verdrängung durch Arbeitskräfte aus den EU-Beitrittsländern entkräftet. Jedoch änderte sich durch das Ausbleiben erwarteter neuer Belastungen wenig an den bekannten Strukturproblemen. Bereits gegen Ende der 1990er-Jahre war von Regionalwissenschaftler*innen beobachtet worden, dass sich die ostdeutschen Grenzregionen von nationalstaatlichen Territorialräumen zu europäischen Transiträumen entwickelten, die von externen Entwicklungsimpulsen regelrecht übersprungen wurden (Krätke 2002, S. 125). Dieser Trend setzte sich auch nach der EU-Osterweiterung fort. Dagegen versuchten die Bundesländer, durch eine betont wirtschaftsfreundliche Politik lokale Wachstumspole
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zu schaffen, insbesondere unter Hinzuziehung von EU-Mitteln zur Förderung der lokalen Wettbewerbsfähigkeit. Diese Bemühungen blieben überwiegend im Stadium der Konzeptentwicklung stecken (vgl. Ujarra et al. 2014). Der zuvor eröffnete regionale Entwicklungspfad eines Durchgangsraums für Waren, Kapital und Arbeit wurde auf diese Weise eher noch verfestigt. Damit wuchs für die Grenzregion die Gefahr, von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung weiter abgekoppelt zu werden.
5.2.4 Phase 4: Normalisierung des Status „EU-Binnengrenze“ (seit 2010) Der Trend des politischen und ökonomischen Bedeutungsverlusts der ostdeutschen Grenzregionen setzte sich nach 2010 in leicht abgeschwächter Form fort. In dieser Phase der Posttransformation waren die großen gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesse abgeschlossen und die neuen Ungleichheiten zwischen West und Ost sowie zwischen ostdeutschen Peripherien und Zentren weitgehend normalisiert. An die Stelle kurzfristiger Anpassungen an die Herausforderungen des Systemwechsels traten nun vermehrt Probleme, die mit neuen grenzüberschreitenden Trends der Wohlstandsentwicklung zusammenhingen. Im grenznahen Bereich sorgten wechselnde soziale Disparitäten zwischen Ostdeutschland und den Nachbarländern für Aufsehen. Steigende Löhne sowie der allgemein gewachsene Lebensstandard in Westpolen und Tschechien trugen innerhalb weniger Jahre zu einer Reduzierung des ursprünglichen ökonomischen und sozialen Entwicklungsvorsprungs der deutschen Seite bei. Dem sozialen Aufstieg in den Nachbarländern standen auf der ostdeutschen Seite die Ausbreitung des Niedriglohnsektors, die Konservierung des niedrigen allgemeinen Lohnniveaus sowie eine durch Abwanderung geschwundene Humankapitalbasis gegenüber. Die damit verbundene Abschwächung der grenzüberschreitenden Disparitäten hatte zudem Auswirkungen auf die Muster der grenznahen Bevölkerungsmobilität. Die im Jahr 2011 eingetretene volle Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit äußerte sich im deutsch-polnischen Grenzraum in einer deutlichen Zunahme der Zahl der Grenzpendler*innen, allerdings bei niedrigem Ausgangsniveau. Die Mehrzahl der Grenzpendler*innen, darunter überwiegend qualifizierte Arbeitnehmer*innen, bevorzugten grenzferne Regionen mit höherer Wirtschaftskraft, so dass die unmittelbare Grenzregion von dem Arbeitskräftezuwachs aus Polen nur im Bereich unqualifizierter Tätigkeiten profitierten konnte (Wiethölter et al. 2015). Es zeigte sich auch rasch, dass die Aufnahmefähigkeit des grenznahen Arbeitsmarktes aufgrund der fortbestehenden regionalen Peripheriesituation schnell erschöpft war. Im Gefolge steigender Einkommen in Polen kam es außerdem zu einer Reduzierung, in einigen Teilregionen sogar zu einer Umkehr der wechselseitigen Attraktivität und Profiterwartungen. Hierdurch erfuhr die Grenze von allen Seiten Uminterpretationen; es entwickelten sich schließlich neue Praktiken des alltäglichen Bordering.
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Dies wurde besonders auf den grenznahen Wohnungsmärkten im Einzugsbereich der Agglomeration Szczecin/Stettin deutlich. Dort entdeckten Angehörige der polnischen Mittelschicht die deutschen Kommunen an der Grenze als geeigneten Lebensmittelpunkt und als Ventil für die chronische Wohnungsnot in Polen. Sie traten vermehrt als Nachfrager für preisgünstige Immobilien und Mietwohnungen in Grenzgemeinden auf, die bereits zu Beginn der 2000er-Jahre durch Abwanderung und Schrumpfung in die Krise geraten waren (Nienaber und Kriszan 2013). Neue Formen des grenzüberschreitenden Wohnens und Arbeitens sowie darauf abgestimmte Lebensstile wurden innerhalb weniger Jahre sichtbar (Bürkner 2015). Dieser Befund lässt sich als Ausdruck einer transnationalen Regionalentwicklung interpretieren, die mit überraschenden ökonomischen und sozialen Dynamiken aufwartete. Verlierer*innen der wohlfahrtsstaatlich abgefederten ostdeutschen Transformation wohnten nun Tür an Tür mit den Gewinner*innen des polnischen Transformationspfades, der auf privater Eigeninitiative beruhte. Auch in Frankfurt (Oder) stieg die Wohnungsnachfrage aus Polen, sodass sich kommunale Wohnungsunternehmen mit besonderen Mietangeboten auf die neue Kundschaft einrichten und damit verbliebene Leerstände teilweise erfolgreich bekämpfen konnten. Zu den jüngeren Entwicklungen zählen auch vermehrte politische und kulturelle Aktivitäten der neuen Mittelschichten in Deutschland und Polen, so wie sie z. B. in der Doppelstadt Frankfurt (Oder)/Słubice zu beobachten sind. Ihre Angehörigen haben damit begonnen, abseits öffentlicher Kooperationsprogramme jeweils private deutsch-polnische Schulen und Kindergärten zu gründen. Hier ist ein neuer Handlungsrahmen entstanden, in dessen Kontext die Grenze im Alltag umdefiniert wird – von einem passiv erduldeten zu einem aktiv gestalteten Phänomen. Derartige Prozesse der pragmatischen Selbstermächtigung enthalten trotz ihres vielfach artikulierten emanzipatorischen Anspruchs sichtbare Merkmale einer politischen und kommunikativen Hierarchisierung. Viele lokale Akteure sehen sich weiterhin als Repräsentanten eines „Unten“, das sich der Zumutungen durch „Oben“ (EU-Politik, Landes- und Bundespolitiken) erwehren muss. Besonders zur EU wird im Grenzalltag eine große politische und kulturelle Distanz signalisiert. Beispielsweise gehen lokale Diskussionen um die sogenannte Grenzkriminalität derzeit mit einer wachsenden EU-Skepsis in der Grenzbevölkerung einher (Beurskens et al. 2016). Es bleibt noch zu klären, ob es sich beim grenznahen Euroskeptizismus um ein spezifisch ostdeutsches Phänomen handelt oder ob ähnliche Trends auch in Polen und Tschechien auftreten.
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Fazit: Die Grenze fordert transnationale Perspektiven ein
Am Fall der ostdeutschen Grenzregionen ist deutlich geworden, dass politische Weichenstellungen, die sich abrupt veränderten und z. T. auf mehreren Ebenen überlagerten, zunächst eine eigensinnige Dynamik des Bordering „von oben“ bewirkten. Regionale Entwicklung, lokale Politiken und zivilgesellschaftliche Initiativen „antworteten“ darauf im Sinne eines Rebordering „von unten“ – teils mit nachvollziehender Anpassung, teils aber auch mit alltäglichen Taktiken des stillschweigenden Widerstands oder der Wahl von Exit-Optionen (z. B. Abwanderung). Dennoch blieben eigenständige Formen des praktischen Umgangs der lokalen Akteure mit der Grenze häufig unbemerkt, besonders dann, wenn sie ein alltägliches Anders- und Neudenken von Grenzen beinhalteten. Bundesdeutsche Öffentlichkeit und weite Teile der sozial- und regionalwissenschaftlichen Forschung hatten sich daran gewöhnt, Bordering als Top-down-Prozess mit lokalen Besonderheiten zu thematisieren. In der Tat hatten lange Jahre des ökonomischen Niedergangs, der bundespolitischen Vernachlässigung und der Fördermittelabhängigkeit jeweils soziale und kulturelle Spuren hinterlassen, die als externe Abhängigkeit und lokales „Durchreichen“ von übergreifenden Entwicklungen interpretiert werden konnten. Jedoch wurde häufig übersehen, dass die Akteure im Alltag, insbesondere in den letzten Jahren, viele kreative Ideen zur Bewältigung des strukturellen Wandels und originelle Handlungsansätze entwickelten, die die Grenze als Lebensinhalt und -kontext respektierten und ausgestalteten. Diese Eigenleistungen müssen als Faktoren künftiger Entwicklungen erkannt und gewürdigt werden. Genau hierfür kann eine erweiterte analytische Perspektive, mit deren Hilfe die jeweiligen akteurs- und kontextabhängigen Prozesse des Bordering „von unten“ erkundet werden, wichtige Erkenntnisse liefern. Gerade vor dem Hintergrund der widersprüchlichen EU-politischen Rahmung der Entwicklung der Grenzregionen sowie einer sich abzeichnenden Annäherung der Wohlstandsentwicklung in den „nationalen“ Teilregionen werden transnationale Perspektiven derzeit immer wichtiger. So ist anzunehmen, dass die von der EU initiierten Umpolungen der politischen Grenzen – von territorialen Außen- zu Binnengrenzen – sowie veränderliche Muster räumlich-sozialer Disparitäten die Akteure beiderseits der Grenze zu weiteren Neudefinitionen ihrer jeweiligen sozialen Positionen anregen werden. Ältere Überlegenheitsgefühle (Ostdeutschland) können sich leicht in Statusunsicherheit verkehren, während soziale Aufwärtsmobilität (Westpolen) zu neuem Selbstbewusstsein und weiteren Statusaspirationen Anlass geben kann. Dabei wird es für die lokalen Akteure künftig nicht lediglich darum gehen, ihre eigene Position zu verteidigen oder auszubauen. Es wird für sie auch immer mehr darum gehen, ihre eigenen Vorstellungen über ein scheinbar natürliches „Oben“ und „Unten“ kritisch zu reflektieren.
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Geographien der Unsicherheit. Bürgerwehren an der ostdeutschen EU-Binnengrenze Kristine Beurskens und Judith Miggelbrink
Zusammenfassung
Dieser Beitrag beschäftigt sich aus sozialgeographischer Sichtweise mit neuen Praktiken der Sicherheit an der ostdeutschen Grenze zu Polen, und zwar mit Bürgerwehren als Phänomen des Vigilantismus. Das Phänomen wird dabei eingeordnet in sich verändernde Grenzregime, die durch drei räumliche Transformationen geprägt werden: 1) Reskalierungen im Zuge der Europäischen Einigungsprozesse, 2) Versicherheitlichung als Ausdruck der fortwährenden Orientierung auf die Herstellung von Sicherheit und 3) Ent-Ortungen im Sinne der Verlagerung der räumlichen Praktiken der Überwachung in grenzferne Räume. Diese Kombination von Prozessen kann, oft auch im Zusammenspiel mit weiteren Unsicherheitsfaktoren, zu einem verringerten Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung führen, das sich in vigilantischen Praktiken entlädt. Der Beitrag ordnet diese Entwicklungen konzeptionell ein und plädiert auf Basis dieser Diskussion für eine sensible humangeographische Forschung in von Umbrüchen geprägten Regionen.
K. Beurskens Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Miggelbrink (*) Institut für Geographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_6
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6.1 Einleitung Kriminalität und Sicherheit – und mit ihnen Bürgerwehren – sind seit einiger Zeit ein regelmäßig wiederkehrendes Thema in der Presse, aber auch in den sozialen Medien und politischen Debatten. Auch an der ostdeutschen Grenze zu Polen und Tschechien sind Bürgerwehren ein vielfach beobachtbares Phänomen geworden. Dieser Beitrag diskutiert die Entwicklung von bürgerschaftlichem Engagement in der Sicherheitsherstellung am Beispiel der deutsch-polnischen Grenze. Bürgerwehren als Form des Vigilantismus, d. h. als – teils staatlich geduldete – Androhung von Strafen und Gewalt durch Privatpersonen gegenüber Menschen, die einer Straftat bezichtigt werden, sind kein neues Phänomen (im Kontext der Geschichte der inneren Sicherheit vgl. Knöbl 1998). Sie haben aber in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit einer zunehmend skeptischen Wahrnehmung der Geschehnisse an den Außenund Binnengrenzen des Schengen-Raums an Bedeutung gewonnen (Schmidt-Lux 2012; Fekete 2016). Grundsätzlich geht es dabei um eine zivilgesellschaftliche Beteiligung an der Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit an staatlichen Grenzen durch Einzelne oder organisierte Gruppen, die die Grenze1 selbst, den grenznahen Raum oder Ortschaften in Grenznähe kontrollieren und überwachen. Die wachsende Zahl von Bürgerwehren ist, so unsere These, mit der wir u. a. an Quent (2015) anschließen, als Reaktion auf einen wahrgenommenen Mangel an Sicherheitsherstellung an Deutschlands Grenzen zu verstehen, lässt sich aber nicht allein mit einer wahrgenommenen Schwäche staatlicher Organe erklären. Bürgerwehren sind nicht automatisch gegen den Staat gerichtet, sondern verstehen sich häufig als notwendiges privates Engagement in Situationen, in denen staatliche Organe „versagen“ oder „nicht präsent“ sind. Sie sind daher auch nicht notwendigerweise staatsfeindlich eingestellt, sondern bewegen sich gewissermaßen im Schatten des staatlichen Gewaltmonopols. Vigilantismus an der Grenze kann bewaffnet und paramilitärisch organisiert sein (Doty 2007), er ist in Gruppen organisiert und „(f)ast könnte man sie [die Bürgerwehren, d. V.] sich auch als eingetragenen Verein vorstellen“, wie Schmidt-Lux (2012, S. 123) betont. Eine offene Grenze wie die EU-Binnengrenzen zwischen Deutschland und Polen, so die zunächst plausible These, befördert Vigilantismus. Aber genügt dies als Erklärung? Als soziale und politische Praxis ist Vigilantismus eng mit konkreten sozialräumlichen Verhältnissen und insbesondere mit dem Verhältnis von Bürger*innen und Staat bzw. der Akzeptanz des Staates verbunden. Aus humangeographischer Sicht interessiert uns an dem bürgerschaftlichen Engagement an der ostdeutschen EU-Binnengrenze insbesondere das Verhältnis von Vigilantismus und Staatlichkeit sowie dessen Beziehungen zu skalaren Dimensionen sozialräumlicher Organisation. Machtkonstellationen, B efugnisse
1Meistens
die sogenannte „grüne Grenze“, d. h. die Abschnitte zwischen den offiziellen Grenzübergangsstellen.
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und Verantwortlichkeiten verschieben sich neu zwischen lokalen Motivationen und (supra)staatlichen Ansprüchen.2 Für Fragen der innerdeutschen und europäischen Integration sowie für die Entwicklung von raumbezogenen Identitäten und Zugehörigkeiten werden diese Prozesse nicht ohne Folgen bleiben. Während das europäische bzw. Schengener Grenzregime einen suprastaatlichen Anspruch erhebt und gerade deswegen seit 2015 massiv von rechten Positionen kritisiert und angegriffen wird (Zürn 2018, S. 6 f.), sind Bürgerwehren oftmals lokal und partikular motiviert, nicht selten zugleich auch nationalistisch und exkludierend. Der Beitrag nähert sich dem Thema zunächst mit einer Klärung der Begriffe Vigilantismus und Bürgerwehren, diskutiert deren Beziehung zu Wahrnehmungen von Kriminalität und führt in die spezifischen politisch-geographischen und emotional-geographischen Kontexte bürgerschaftlichen Engagements an der ost deutschen Binnengrenze der EU ein.
6.2 Vigilantismus und bürgerschaftliches Engagement Die Geschichte der inneren Sicherheit ist Teil der Geschichte des staatlichen Gewaltmonopols, seiner Entstehung und Durchsetzung. Die Herstellung innerer Sicherheit und ihre Aufrechterhaltung gelten als Kern staatlicher Aufgaben. Sicherheit wird oft als ein komplexes soziales Zusammenwirken verschiedener Handlungen und Akteure gesehen und kann sowohl staatliche als auch bürgerschaftliche Praktiken umfassen (Wurtzbacher 2003, S. 93). Grundsätzlich verfügen die Mitglieder von Bürgerwehren und ähnlichen Organisationen über Jedermannsrechte, haben aber keine erweiterten Befugnisse. Bestrafen Privatpersonen andere Menschen oder drohen ihnen mit Strafen für vermeintliche oder tatsächliche Straftaten, dann kollidiert dieser Anspruch mit dem staatlichen Gewaltmonopol (vgl. Schmidt-Lux 2013, S. 64 f.) – unabhängig von der organisatorischen Form, innerhalb derer sie agieren. Im modernen Rechtsstaat, so Schmidt-Lux, sei die Anwendung von Gewalt auf dreierlei Weise eingeschränkt: durch die staatliche Monopolisierung der Gewaltanwendung, durch eine Rechtsordnung, die die Strafjustiz ebenfalls dem Staat allein vorbehält, sowie durch eine generelle „Gewaltaversion“ (ebd., 2012, S. 119). Demzufolge müssen Formen des Vigilantismus als „vormoderne Reste bzw. Rückfälle in eine untergegangene Zeit“ erscheinen (ebd.). Vigilantismus ist folglich ein Phänomen, das – erstens – vor dem Hintergrund einer „durchgesetzten Staatlichkeit“ erklärungsbedürftig ist und das – zweitens – immer in Relation zu (einem) Staat und zu (dessen) Souveränität steht. So stellte Doty fest, Vigilantismus sei ein Phänomen, welches, obwohl es „in der
2Dies
ist Gegenstand des Projekts „(Un-)Sicherheit an der Schengen-Binnengrenze. Sicherheitsbezogene Praktiken staatlicher und nicht-staatlicher Akteure an der deutsch-polnischen Grenze“ (gefördert durch die DFG, MI725/4–1, 2018–2021).
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Literatur zur internationalen Politik selten angesprochen wird, […] aufs Engste mit der Frage der Souveränität des Volkes verbunden ist; und damit besteht mindestens indirekt ein Zusammenhang mit Fragen des Rechts und dem Staat [an sich]“ (2007, S. 117, Ü. d. A.). Im vigilantistischen Engagement kommt daher immer auch ein individuelles Verhältnis zum Staat und zum Recht zum Tragen. Die Spannweite des Vigilantismus ist in erster Linie danach zu charakterisieren, in welcher Beziehung er zum Recht und zum institutionell etablierten Gewaltmonopol steht. Unter diesem Gesichtspunkt befinden sich an einem Ende der Skala legale Formen der Nachbarschaftswache beispielsweise in städtischen Wohnvierteln und Dörfern, am anderen Ende dagegen illegale Formen der Straf- und Gewaltanwendung gegen Tatverdächtige bis hin zu Lynchmobs (Yoxall 2005). Zudem sind ideologische Momente zu berücksichtigen; insbesondere Einstellungen zum Staat als „starke Instanz“ der Organisation eines Gemeinwesens. Diese stehen in Abgrenzung zu Positionen, die das Recht zur Ausübung exekutiver und judikativer Gewalt beim Einzelnen oder bei einer (lokalen/partikularen) Gemeinschaft sehen (z. B. Gilchrist und Corsi 2006; kritisch hierzu Walsh 2008). Weitere typologische Differenzierungen können aus dem jeweiligen Interesse abgeleitet werden, mit dem Personen oder Gruppen ihre wachende Tätigkeit rechtfertigen (v. a. Schutz des Eigentums, der Familie, des Landes; suprematistische und rassistische Einstellungen), aber auch aus ihrer Beziehung zu staatlichen Apparaten der Sicherung des Gewaltmonopols. Im Wesentlichen konkurrieren zwei Erklärungsmodelle miteinander: Ein erster Ansatz zur Erklärung von Vigilantismus besteht darin, ihn auf die Abwesenheit einer funktionierenden Strafjustiz zurückzuführen, die die Menschen quasi dazu zwinge, das Recht in die eigene Hand zu nehmen bzw. selbst Recht zu setzen (vgl. zur Debatte Schmidt-Lux 2012, S. 121). Dieses Erklärungsmodell ist wesentlich aus historischen Beobachtungen zur nordamerikanischen frontier gewonnen (Brown 1975). Dagegen steht die von Schmidt-Lux auf Kowalewski zurückgeführte These, dass Vigilantismus nicht „automatisch“ als Reaktion auf die Abwesenheit oder Schwäche staatlicher Organe entstehe, sondern durchaus parallel zu ihnen auftrete. Er sei daher auch nicht auf staatliche Defizite zurückführbar, sondern anders, z. B. rassistisch und nationalistisch motiviert (Kowalewski 1996, 2003). Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die These der Kriminalitätsfurcht, der zufolge v. a. das subjektive Empfinden und insbesondere die Furcht davor, Opfer einer kriminellen Handlung zu werden, die eigene Einschätzung des lokalen sozialen Gefüges prägt und Unsicherheiten auslöst, die nicht selten durch Medienberichterstattungen zusätzlich geschürt werden (Boers 1994; Wurtzbacher 2003). Diese Überlegung lässt sich wiederum in einer kontroversen Debatte verorten, in der einerseits die These vertreten wird, dass ein enger Zusammenhang zwischen Kriminalitätsbelastung und Kriminalitätsfurcht bestünde (Bug et al. 2015), und andererseits angenommen wird, dass Kriminalitätsfurcht nicht unmittelbar mit einer objektiven Kriminalitätsbelastung korreliere, sondern Ausdruck einer allgemeinen, existenziellen Verunsicherung sei (Hirtenlehner 2009).
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Im deutschsprachigen Raum wurde die Frage bürgerschaftlichen Engagements für Sicherheit zunächst insbesondere im Anschluss an die in den USA in den 1980er-Jahren populär gewordene Broken-Windows-These und community policing (Ziegleder et al. 2011, S. 73 f.; Kelling und Coles 1997) diskutiert. Die Broken-Windows-These behauptet, dass Unordnung, Verschmutzung, Zerfall und Zerstörung, die geduldet und nicht behoben werden, als Zeichen fehlender sozialer Kontrolle weiteren Verfall nach sich zögen und zu wachsender Unsicherheit führten. Eine organisierte soziale Kontrolle könne dem entgegenwirken, die Wohnqualität in den betroffenen Nachbarschaften erhöhen und diese so vor weiterem Verfall bewahren (Wilson und Kelling 1989, S. 49). Allerdings ist nicht klar, welche Praktiken konkret gemeint sind (Wurtzbacher 2003). Für Deutschland wurden verschiedene Formen bürgerschaftlichen Engagements in der Sicherheitsherstellung beobachtet, die bürgernahe Streifen oder Bürgerwachten und Hilfspolizeien ebenso umfassten wie kriminalpräventive Räte (Posiege und Steinschulte-Leidig 1999). Bei der Einbindung von Bürger*innen in die Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit sind Zuständigkeiten, Aufgaben und Vertrauensfragen durchaus komplex. So geht die Polizei in ihrer strategischen Sicht auf das Engagement von zivilen Akteuren in Kontrollen und Beobachtungen auf lokaler Ebene im Allgemeinen davon aus, dass Bürger*innen lediglich Informationen überbringen sollten (Wurtzbacher 2003, S. 93), was zunächst als eine Erleichterung und ein Gewinn gesehen wird. Nicht selten besteht aber auch ein gewisses Misstrauen gegenüber zu großem freiwilligem Engagement für die Sicherheit (ebd., S. 92); ein überstarkes Ordnungs- und Kontrollbedürfnis werden vermutet und, insbesondere in Ostdeutschland, Vorbehalte durch Erfahrungen von Bespitzelungen in vergangenen Zeiten assoziiert. Gerade an internationalen Grenzen und in Interaktion mit Personen anderer nationaler Hintergründe wird außerdem die Frage relevant, inwiefern zivile Grenzschutzaktivitäten durch rassistische, fremdenfeindliche oder andere gruppenbezogene Abwertungshaltungen motiviert sind. Doty (2007, S. 121 f., S. 128) weist in Untersuchungen zur mexikanisch-US-amerikanischen Grenze zwar darauf hin, dass die Verbindung zwischen zivilem Grenzschutz und rassistischen Einstellungen nicht eindeutig sei, dass aber grenzbezogene „Feindkonstruktionen“ extremistischen und (weißen) Vorherrschaftseinstellungen Vorschub leisten; zudem bedienen sie oftmals „nostalgische Nationalismen“ (Conroy 2013, S. 132).
6.3 Vigilantismus und grenzbezogene Kriminalitätsfurcht: Erste Annäherungen Die (kurze) Geschichte der europäischen Binnengrenzen wird meist als Geschichte einer im Großen und Ganzen gelungenen europäischen Integration erzählt. In deren Verlauf haben die beteiligten Staaten die Ausübung ihres souveränen Rechts auf Kontrolle des Zugangs zu ihrem Territorium an ein transnationales Abkommen gebunden und so interne Freizügigkeiten für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Finanzen gewährt.
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Das Schengener Grenzregime entstand schrittweise seit den 1980er-Jahren. Mit der Verlagerung der sicherheitsrelevanten Grenzfunktionen an die Außengrenzen der Unterzeichnerstaaten des Schengener Abkommens und den damit einhergehenden Änderungen in den grenzsichernden Praktiken – so unsere These – ist an der deutsch-polnischen Grenze eine Situation entstanden, die Vigilantismus begünstigt und gefördert hat. Aufgrund ihrer inneren Lage zwischen den Schengener Mitgliedsstaaten wurden an dieser Grenze seit der Mitte der 1990er-Jahre die Grenzkontrollen sukzessive abgebaut. Drei Merkmale des Grenzregimes sind dabei für die Untersuchung von Unsicherheit und Vigilantismus an den Binnengrenzen von besonderer Relevanz, die als Re-Skalierung, Versicherheitlichung und Ent-Ortung bezeichnet werden können. • Re-Skalierung: Zu den markantesten Änderungen der geopolitischen Ordnung Europas seit Mitte der 1980er-Jahre gehört die schrittweise Etablierung eines gemeinsamen Außengrenzregimes der EU mit einheitlichen Standards der Überwachung und Kontrolle. Mit der politischen Wende von 1989/1990 sind sukzessive weitere Staaten in dieses komplementäre Verhältnis von interner Freizügigkeit und homogenisiertem Außengrenzregime einbezogen worden (Miggelbrink 2013). Dieser Prozess bedeutet eine Re-Skalierung von Souveränität, da Standards der Überwachung und Kontrolle nicht mehr allein durch die Nationalstaaten gesetzt, sondern transnational definiert werden, während den Staaten im Wesentlichen die Durchsetzung obliegt. Mit dieser Re-Skalierung wurde die deutsch-polnische Grenze ab Ende 2007 zu einer offenen Binnengrenze. • Versicherheitlichung: Die territorial-funktionalen Veränderungen europäischer Grenzen sind eingebettet in umkämpfte, d. h. immer wieder neu auszuhandelnde Ordnungen des Verhältnisses von Souveränität, Territorialität und Sicherheit (Belina 2014). „(Un-)Sicherheit“ ist in diesem Zusammenhang zu einem diskursiv etablierten Interpretations- und Deutungsraster geworden, mittels dessen Ereignisse, Personen, Handlungen, Entscheidungen usw. primär unter der Maßgabe der von ihnen ausgehenden möglichen Gefährdung von Sicherheit wahrgenommen und behandelt werden. Für diese diskursive (Ein-)Ordnung wird im Anschluss an die Arbeiten Foucaults zum Dispositiv der Sicherheit (Foucault 2004, S. 20 f.) der Begriff der Versicherheitlichung verwendet (s. auch Korf und Ossenbrügge 2010). • Ent-Ortung: Re-Skalierung und Versicherheitlichung gehen einher mit einem dritten Prozess, der als Ent-Ortung bezeichnet werden kann. Damit ist gemeint, dass grenzbezogene Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen nicht mehr exklusiv oder primär am territorialen Ort der Grenze stattfinden, sondern – beispielsweise mit der wachsenden Bedeutung von Datenbanken für die Erfassung von Menschen und Objekten – an verstreuten Orten situiert und mit unterschiedlichen Techniken verbunden sind. „Vorverlagerung von Grenzkontrollen“ und „nachgelagerte Grenzkontrollen“ sind die dafür von Laube (2010) verwendeten Begriffe, die zwar noch stark in einer territorial-räumlichen Logik operieren, aber doch deutlich machen, dass Grenzsicherung zunehmend mit a-räumlichen, ubiquitären Mechanismen operiert
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(Groenendijk 2003). Gleichzeitig durchdringen sich grenzbezogene Kontroll- und Überwachungsfunktionen zunehmend mit anderen polizeilichen Funktionen. Die Grenze, umgesetzt durch scattered security checks (Faure Atger 2008), ist überall. Dies ist verbunden mit dem scheinbar paradoxen Effekt, dass die Verstärkung sicherheitsherstellender Maßnahmen an den Außengrenzen des Schengen-Raums mit der Wahrnehmung einer Abnahme an Sicherheit in Teilen seines Inneren einhergehen kann. Tatsächlich können die offenen Binnengrenzen der EU, zu denen seit 2007 auch die deutsch-polnische Staatsgrenze gehört, die Vorstellung nähren, sie begünstigten Kriminalität. Infolge der Verlagerung und Ent-Ortung der sicherheitsrelevanten Funktionen haben die Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen vor Ort an unmittelbarer Präsenz und Sichtbarkeit verloren. Zahlreiche Zeitungsartikel, Fernsehberichte und Beiträge in Internetforen sprechen von Kriminalität und unzureichender Sicherheit in Grenzregionen und konnotieren die Offenheit der Grenzen negativ. Solche Re-Skalierungen können Vigilantismus dahingehend begünstigen, dass die Verlagerung von Souveränität als eine Schwäche oder Schwächung des Staates wahrgenommen und auf dieses Defizit komplementär reagiert wird, indem tatsächliche oder vermeintliche Aufgaben staatlicher Organe „in die eigene Hand genommen werden“. Dies wäre insbesondere dann plausibel, wenn die parallel zur Öffnung der Binnengrenze vorgenommene Abschottung der Außengrenze als unzureichende Kompensation von Kontrolle wahrgenommen wird und kein ausreichendes Vertrauen in die entsprechenden Instanzen besteht. Im Fall der deutsch-polnischen Grenze betrifft das primär die Grenzkontrollen, die durch die östlichen Anrainerstaaten gewährleistet werden. Das Vertrauen in staatliche Institutionen im Allgemeinen und die Polizei im Besonderen unterliegt in Deutschland jedoch keiner einheitlichen Bewertung (mehr): Während das Vertrauen in staatliche Institutionen im Allgemeinen in den letzten Jahren gesunken zu sein scheint, ist das Vertrauen in die Polizei nach wie vor vergleichsweise hoch und stabil (Reuband 2012). In eine ähnliche Richtung lässt sich die Ent-Ortung von Grenzregimen als Moment der Verunsicherung verstehen. Wenn Grenzfunktionen disperser werden und Kontrollen an physischen Ort der Grenze entfallen – nicht zuletzt um Abfertigungsroutinen zu beschleunigen –, kann das den staatlichen Grenzschutz als defizitär erscheinen lassen. Re-Skalierung und Ent-Ortung können aufbauend auf die o.g. These des „abwesenden Staates“ als Anlässe für Vigilantismus vermutet werden. In Bezug auf die Bedeutung von Staatsgrenzen im Kontext einer zunehmenden Versicherheitlichung scheint die Beziehung weniger deutlich zu sein. Wenn ein umfassendes Dispositiv der „Sicherheit“ dahingehend wirkt, Risiken als „von außen“ kommend zu verorten (so z. B. Belina und Miggelbrink 2010), kann dies im Sinne der These des abwesenden Staates wie auch im Sinne der These einer gruppenbezogenen Ablehnung als Anlass und Rechtfertigung für Vigilantismus verstanden werden, wenn Erwartungen an einen die Grenze sichernden Staat und die strikte Kontrolle und Überwachung fremder Menschen als nicht erfüllt wahrgenommen wird. Ebenso könnte unter dem Einfluss einer allgemeinen Tendenz der Versicherheitlichung Vigilantismus
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begünstigt werden, wenn damit einhergehende gruppenbezogene Vorurteile, ablehnende Haltungen gegenüber bestimmten Gruppen und ggf. latente Kriminalisierungen bestätigt und verstärkt werden. Versicherheitlichung könnte somit als Dispositiv jene legitimatorischen Möglichkeiten schaffen, mit denen Vigilantismus als gerechtfertigt und sogar notwendig erscheint.
6.4 Vigilantismus und Grenzkriminalität: Eine komplexe Beziehung Vigilantismus ist – ob auf der Ebene individueller Überzeugung oder auf der Ebene einer gesellschaftlich akzeptierten Legitimation – eng mit der Annahme einer Bedrohung durch kriminelle Taten und mithin mit einer Kriminalitätsfurcht verbunden. Eine mit der Grenze assoziierte Furcht vor Kriminalität wird mit dem Terminus „Grenzkriminalität“ artikuliert, durch den die Vorfälle, Ereignisse, Ängste und Bedrohungen einen Ausdruck bekommen. Hierhin bündeln sich Annahmen über die Ursachen und kausalen Zusammenhänge zwischen kriminellen Ereignissen und der Grenze. Das Sprechen über „Grenzkriminalität“ ist nicht vollkommen neu; in einer Arbeit von Schultz (2004) zu Zwillingsstädten an europäischen Grenzen werden „Schmuggel“, „Schwarzarbeit“, „Illegale Einwanderung“ und „Prostitution“ zur Kategorie „Grenzkriminalität“ zusammengefasst. Problematisch daran ist, dass damit ein kausaler Zusammenhang zwischen der Staatsgrenze und den auftretenden Tatbeständen suggeriert wird, wobei der Wirkungszusammenhang selbst nicht näher thematisiert wird. Zudem werden die in dieser Kategorie zusammengefassten Phänomene undifferenziert kriminalisiert. Hornung (2012, S. 102) dagegen konstatiert, dass „Grenzkriminalität“ in Politik, Medien und Wissenschaft „längst als etablierter“ Terminus gelte, der allerdings weder in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik verankert, noch klar definiert sei und sich vor allem aus Assoziationen speise. Umso relevanter erscheint es, den Begriff im Kontext gegenwärtiger alltagssprachlicher, (partei-)politischer und massenmedialer Praktiken der Konstitution von Grenze zu verstehen, durch die diese – in diesem Fall Binnengrenze – mit Unsicherheit, Bedrohung und Staatsversagen assoziiert wird (s. auch Kap. 5). „Grenzkriminalität“ stellt eine diskursive Markierung dar, mit der unerwünschte Ereignisse, Erscheinungen und Handlungen gekennzeichnet werden, und zwar in einer Weise, die politische und normative Positionen begründen, verfestigen und politisches Handeln initiieren soll. Dieser Diskurs stellt daher einen entscheidenden Bestandteil der gegenwärtigen Transformation der Binnengrenzen und Aushandlung ihrer Sicherheitsfunktionen dar. Eine für den Zeitraum 1992 bis 2014 durchgeführte lexikometrische Analyse eines Medienkorpus überregionaler Tages- und Wochenzeitungen (Beurskens et al. 2016) zeigte einen markanten Anstieg der Verwendung des Begriffs im Jahr 2012. Auffallend ist dabei, dass in 97 % der Artikel der Bundesausgabe der Bild mit der Nennung „Grenzkriminalität“ mit den Ländern Brandenburg und Sachsen sowie deren Grenzen zu Polen
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und Tschechien in Verbindung gebracht wird. Die damit vorangetriebene Lokalisierung von Straftaten in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Grenze wird nicht nur durch die überregionalen Zeitungen vorgenommen, sondern u. a. durch eine nur kurze Zeit aktive Website www.grenzkriminalitaet.de. Die mediale Präsenz des Begriffs „Grenzkriminalität“ sagt weder etwas aus über den tatsächlichen Umfang des Phänomens „kriminelle Akte an Grenze oder in Grenznähe“, noch über den kausalen Zusammenhang zwischen der „offenen Grenze“ und lokalisierten Ereignissen. Aber sie bietet eine Deutung an, die die Ursachen der „offenen Grenze“ zuschreibt und an die Handlungsappelle und Handeln ebenso wie Rechtfertigungen bürgerschaftlichen Engagements in der Grenzsicherung unmittelbar anschließen können. In dieser Situation wird „Wachsamkeit“ zu einer Haltung, die staatliche und zivile Instanzen miteinander verbindet: Bürgermeister*innen vermitteln und fördern private Schutzmethoden an die Einwohnerschaft, z. B. die Anbringung unsichtbarer, künstlicher DNA, und mit Initiativen unter dem Motto „Wir schützen uns selbst“ wird aktiv an eine eigene Verantwortungsübernahme im Bereich Schutz und Sicherheit appelliert. Mit der konstatierten „Grenzkriminalität“ wird eine (lokale) Gemeinschaft hergestellt und mobilisiert, die eine private Überwachung der Ortschaften organisiert und sich in der Verantwortung für eben diese Gemeinschaft sieht.
6.5 Folgerungen Veränderungen des Grenzregimes wie auch eine generelle Verschiebung im Sinne einer Versicherheitlichung können mithin durchaus als plausible Legitimation für Vigilantismus erscheinen. Sie erklären ihn aber nicht – zumindest nicht ausreichend. Wir vermuten, dass die Gründe dafür nicht ausschließlich im Grenzregime zu suchen sind. Vielmehr könnte hier Hirtenlehners These hilfreich sein, der zufolge Kriminalitätsfurcht als „Projektionsfläche und Bindemittel“ (Hirtenlehner 2009, S. 18) für (komplexe) Verunsicherungslagen ist. Demnach ist eine räumlich-soziale Ungleichverteilung von Kriminalitätsfurcht als Folge einer räumlich-sozialen Ungleichverteilung von Erfahrungen der Prekarisierung und existenzieller Verunsicherung zu erwarten. Führt man diese These weiter, lässt sich vermuten, dass der in Ostdeutschland beobachtete grenzbezogene Vigilantismus zumindest auch als eine Reaktion auf Kriminalitätsfurcht verstanden werden muss, die aus existenziellen Verunsicherungen und sozialen Ängsten aufgrund von Umbrüchen und Transformationen nach der Vereinigung resultiert (vgl. Kubiak 2018). Er wäre dann eine mittelbare Reaktion auf ein verändertes Grenzregime und müsste im größeren Kontext von Marginalisierungserfahrung(en) und potenzieller Viktimisierung diskutiert werden (zur Viktimierungsthematik vgl. Kury und Ferdinand 1998). Diese These wird nicht zuletzt aus den Befunden des Sachsen-Monitors (dimap 2018) gestützt, der nicht nur ein vergleichsweise geringes Vertrauen in staatliche Einrichtungen konstatiert, sondern auch eine eher pessimistische Sicht auf die eigene Zukunft.
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Das wachsende Engagement regionaler und lokaler Politiker*innen, die Bürgerwehren oder Sicherheitspartnerschaften wie auch z. B. Versuche der privaten Eigentumssicherung sind Hinweise darauf, wie sich Grenzsicherung – Ausdruck staatlicher Souveränität schlechthin – wandelt in Richtung eines komplexen Ensembles mit zunehmendem Einfluss privater Akteure. Angesichts wachsender xenophober und rechter Einstellungen sind mit diesen veränderten Geographien der Sicherheit dringende Fragen nach den gesellschaftlichen, individuellen und oft emotionalen Hintergründen und Wirkungsweisen dieser Entwicklungen verbunden, die eine kritische und sensible humangeographische Forschungspraxis für die kommenden Jahre unabdingbar machen. Das gilt insbesondere für das Beitrittsgebiet, wo sich die Folgen des politischen, ökonomischen und sozialen Umbruchs tief in die Lebenswirklichkeiten eingegraben haben.
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Teil II Wirtschaftlicher Strukturwandel und Politische Ökonomie
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Wirtschaftsräumliche Struktur und Entwicklung Ostdeutschlands. Ein Überblick Sebastian Henn und Susann Schäfer
Zusammenfassung
Der Beitrag gibt einen Überblick über die wirtschaftsräumliche Entwicklung Ostdeutschlands. Hierfür werden zunächst charakteristische Strukturmerkmale ostdeutscher Unternehmen betrachtet. Im Anschluss widmen sich die Autoren Fragen der regionalen Konvergenz und Differenzierung. Unter Rückgriff auf verschiedene Strukturindikatoren werden die ostdeutschen Landkreise in diesem Zusammenhang in drei Typen unterteilt. Die Analyse zeigt, dass ein Großteil der ostdeutschen Flächenkreise nur über geringere Entwicklungspotenziale verfügt, während wenige Landeshaupt- und kreisfreien Universitätsstädte als zukunftsträchtige Wachstums inseln hervortreten.
7.1 Einleitung Obwohl einige ostdeutsche Regionen, insbesondere Sachsen und Thüringen, vor dem Ersten Weltkrieg zu den wirtschaftsstärksten Räumen des Deutschen Reiches und Europas zählten (Martens 2010), ist Ostdeutschland infolge von 40 Jahren Planwirtschaft und der wirtschaftlichen Transformation in den 1990er-Jahren heute wirtschaftlich insgesamt deutlich schwächer entwickelt als Westdeutschland.
S. Henn (*) · S. Schäfer Institut für Geographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Schäfer E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_7
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Anfang der 1990er-Jahren befand sich die ostdeutsche Wirtschaft in einem regelrecht besorgniserregenden Zustand (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2015): Produkte und Dienstleistungen waren weltweit kaum konkurrenzfähig, der Kapitalstock überaltert bzw. weitgehend verschlissen, der Staats- und Verwaltungsapparat überdimensioniert; der Mittelstand war quasi nicht existent, die Arbeitslosigkeit war hoch und die Infrastruktur vernachlässigt. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung wurden die staatseigenen Betriebe durch die Treuhandanstalt privatisiert. Gleichzeitig mussten jedoch drei Viertel der industriellen Kapazitäten stillgelegt werden, was einen starken Rückgang der Industrieproduktion und der Beschäftigten im sekundären Sektor zur Folge hatte. Dass die ostdeutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit nach wie vor vergleichsweise strukturschwach ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass es 2016 lediglich vier kreisfreie Städte und Landkreise gab, deren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf höher war als das durchschnittliche gesamtdeutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. In der Hälfte der ostdeutschen Regionen belief sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sogar nur auf maximal 68 % des gesamtdeutschen Durchschnitts. Bei allen Unterschieden im wirtschaftlichen Niveau sollte aber nicht übersehen werden, dass sich einige ostdeutsche Regionen seit Beginn der 1990er-Jahre zu hochdynamischen, durch Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft gekennzeichneten „Leuchttürmen“ mit teils internationaler Strahlkraft entwickelt haben (so z. B. die Optikindustrie in Jena oder die Nano- und Mikroelektronik in Dresden). Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, diese räumlich sehr differenzierten Entwicklungen überblicksartig nachzuzeichnen. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit den allgemeinen Strukturmerkmalen ostdeutscher Unternehmen. Danach wird auf die makroökonomische Konvergenz eingegangen, die sich seit einigen Jahren sowohl zwischen den ostdeutschen Regionen als auch zwischen Ostund Westdeutschland abzeichnet. Im Anschluss wird gezeigt, dass sich im Hinblick auf die Entwicklungspotenziale drei Regionstypen unterscheiden lassen. Eine besondere Rolle spielen dabei einige wenige Städte (Dresden, Erfurt, Jena, Leipzig, Potsdam und Schwerin), auf die der anschließende Abschnitt kurz eingeht. Der Beitrag endet mit einem Fazit, das die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfasst.
7.2 Allgemeine Strukturmerkmale ostdeutscher Unternehmen Die ostdeutsche Wirtschaft ist auch mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung von der ehemaligen Planwirtschaft und der sich anschließenden Entindustrialisierung geprägt (Martens 2010). Insgesamt sind in den Neuen Bundesländern (ohne Berlin) laut amtlicher Statistik zurzeit (2016) 560.314 Betriebe ansässig. Dies entspricht einem Anteil von 14 % an allen Betrieben in Deutschland (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019b, c).
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Wenngleich die Zahl der Betriebe im primären Sektor an allen ostdeutschen Betrieben mit etwa 5 % vergleichsweise gering ausfällt, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der größte Anteil (55 %) der Fläche Ostdeutschlands zurzeit landwirtschaftlich genutzt wird (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019c; Statistisches Bundesamt 2017a, b). An der gesamten ostdeutschen Bruttowertschöpfung hat der primäre Sektor zurzeit (2016) einen Anteil von unter 1 % (so auch in Westdeutschland). Innerhalb des sekundären Sektors, auf den 23 % aller Unternehmen entfallen, dominieren klar Unternehmen des Baugewerbes mit einem Anteil von 64 %. Sie erzeugen einen Anteil von etwa 26 % der gesamten ostdeutschen Bruttowertschöpfung (Westdeutschland: 31 %). Die verbleibenden 72 % der Unternehmen sind dem tertiären Sektor zuzuordnen. Mit etwa 26 % haben den größten Anteil daran Unternehmen aus dem Bereich Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen. Der tertiäre Sektor generiert mit 73 % den größten Anteil der ostdeutschen Bruttowertschöpfung und damit einen deutlich höheren Anteil als in Westdeutschland (68 %) (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2019). Im Hinblick auf die Größe der Unternehmen ist die ostdeutsche Wirtschaft primär durch kleine (bis 49 Beschäftigte) und mittlere (bis 249 Beschäftigte) Unternehmen bzw. das weitgehende Fehlen von Großunternehmen (mehr als 250 Beschäftigte) gekennzeichnet (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018, S. 103). Die untergeordnete Rolle von Großunternehmen spiegelt sich auch darin wider, dass derzeit kein ostdeutsches Unternehmen im Börsenleitindex DAX-30 gelistet ist und nahezu kein Großunternehmen seine Zentrale in Ostdeutschland (ohne Berlin) hat. Da die Produktivität im Allgemeinen mit der Unternehmensgröße steigt, überrascht dann nicht weiter, dass die Produktivität der ostdeutschen Unternehmen noch im Jahr 2019 etwa 20 % unter derjenigen der westdeutschen Unternehmen lag (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle 2019, S. 8 ff.). Unter sonst gleichen Umständen können die Unternehmen daher auch nur geringere Löhne zahlen als in Westdeutschland, was sie wiederum weniger attraktiv für Fachkräfte macht (vgl. Kap. 11). Zahlreiche Unternehmen gehören zudem zu westdeutschen oder ausländischen Konzernen (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle 2019) und verfügen daher vielfach nur über begrenzte Entscheidungsspielräume. Die beschriebenen Strukturunterschiede stehen zugleich in engem Zusammenhang mit geringeren Forschungs- und Innovationsaktivitäten sowie einem vergleichsweise geringen Grad der Internationalisierung der ostdeutschen Unternehmen. Während in der Bundesrepublik der Anteil der privatwirtschaftlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung insgesamt bei rund 2 % des Bruttoinlandsprodukts liegt, machen diese Ausgaben in den neuen Ländern, insbesondere infolge der kleinteiligen Wirtschaftsstruktur, nur ca. 1 % des Bruttoinlandsprodukts aus (ebd., S. 11). Trotz der Förderung von Forschung und Innovationen in Ostdeutschland – mit 30 Universitäten, 55 Fachhochschulen und fast 200 außeruniversitären Forschungseinrichtungen verfügen die Neuen Bundesländer zweifellos über ein dichtes Netz von gut ausgestatteten Bildungsund Forschungseinrichtungen – zeigen sich gerade im Hinblick auf das Innovationspotenzial der Wirtschaft immer noch erhebliche Strukturunterschiede. So ist der Anteil der Beschäftigen in Forschung und Entwicklung in ostdeutschen Unternehmen geringer
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als in westdeutschen (ebd., S. 100). Wenig überraschen kann zudem, dass als Folge davon von den bundesdeutschen Patentanmeldungen im Jahr 2018 nur 4 % auf die ostdeutschen Bundesländer entfielen (DPMA 2019). Auch hinsichtlich der internationalen Orientierung besteht aufseiten der ostdeutschen Unternehmen erheblicher Aufholbedarf. Zwar hat sich die Exportquote der Gesamtwirtschaft in Ostdeutschland im Zeitraum von 1991 bis 2017 von 8 % auf 26 % erhöht. Dennoch lag sie 2017 immer noch 6,6 Prozentpunkte unter dem westdeutschen Niveau. Im verarbeitenden Gewerbe ist dieser Unterschied besonders augenfällig. Hier beläuft sich die Exportquote auf 36 % im Vergleich zu 50 % in Westdeutschland (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018, S. 96).
7.3 Regionale Konvergenz Allen Unterschieden in der Betriebsstruktur zum Trotz hat die ostdeutsche Wirtschaft seit Mitte der 1990er-Jahre ein durchaus beachtliches wirtschaftliches Wachstum erfahren, das sich auch in zentralen makroökonomischen Kenngrößen widerspiegelt. Die Arbeitslosenquote beispielsweise verzeichnete im Zeitraum von 1995 bis 2017 einen Rückgang von 14 % auf unter 8 % (ebd., S. 31). Zwar ist sie nach wie vor sehr viel höher als in Westdeutschland; der Abstand verringert sich jedoch von ehemals ca. 8 Prozentpunkten (2009) auf aktuell etwa 2 Prozentpunkte (ebd.). Auch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner (in laufenden Preisen) als ein gängiges Maß zur Erfassung der wirtschaftlichen Entwicklung hat sich in den neuen Ländern (ohne Berlin) von 9701 EUR (1991) auf 27.414 EUR (2016) erhöht (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018, S. 88). Während es im Jahr 1991 32 %1 des westdeutschen Niveaus ausmachte, entsprach es im Jahr 2016 immerhin rund 68 % des Bruttoinlandsprodukts aller „alten“ Bundesländer (ebd.). Betrachtet man die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro 1000 Einwohner im Zeitraum von 2005 bis 2015, so fällt auf, dass die ostdeutschen Landkreise und kreisfreien Städte in der Summe zwar klar erkennbar das geringste Ausgangsniveau aufweisen, zugleich aber auch ein deutlich größeres Wachstum verzeichneten als westdeutsche Regionen (vgl. Abb. 7.1). Sollte sich diese Entwicklung in der beschriebenen Weise auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten fortsetzen, würde dies folglich auf eine Konvergenz (hier: absolute Beta-Konvergenz2) der Teilräume schließen lassen.
1Die
Quantifizierung des ostdeutschen Bruttonationaleinkommen im Verhältnis zum westdeutschen Bruttonationaleinkommen in den Jahren nach der Wende ist nicht frei von Diskussion. Heske (2009) kommt in seinen Berechnungen auf einen höheren Wert (44 % für das Jahr 1988). Was unabhängig von den genauen Zahlen deutlich wird, ist, dass die wirtschaftliche Leistung in Ostdeutschland sehr viel geringer als diejenige Westdeutschlands war. 2Von (absoluter) Beta-Konvergenz wird dann gesprochen, wenn ärmere Regionen schneller wachsen als wohlhabendere. Sigma-Konvergenz liegt dagegen vor, wenn die Streuung der Einkommen insgesamt abnimmt.
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Abb. 7.1 Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro 1000 Einwohner im Jahr 2000 versus BIP-Wachstumsrate im Zeitraum 2000–2015. (Quelle: Eigene Darstellung) Hinweis: Die schwarzen Punkte markieren ostdeutsche Regionen. Klar zu erkennen sind das niedrige Niveau (der Großteil der Regionen weist auf der x-Achse Werte zwischen 1,0 und 1,2 auf) und das vergleichsweise starke Wachstum (die meisten Regionen weisen auf der y-Achse Werte größer 0,6 auf).
Betrachtet man als Maß der Streuung der regionalen Einkommen (auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte) die Entwicklung der Standardabweichung der logarithmierten Werte des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf für Ostdeutschland, so fällt auf, dass dieses im Zeitraum 2000 bis 2015 abgenommen hat. Dies lässt darauf schließen, dass es innerhalb Ostdeutschlands mit der Zeit zwischen den Regionen zu einer relativen Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Pro-Kopf-Einkommen kommt. Dieser auch als Sigma-Konvergenz bezeichnete Sachverhalt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor ganz erhebliche und sich zunehmend verfestigende regionale Unterschiede bestehen: Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 17 % aller kreisfreien Städte und Landkreise eine Bruttowertschöpfung von mehr als 35 TEUR pro Kopf bzw. knapp die Hälfte dieser Regionen eine Bruttowertschöpfung zwischen 25 TEUR und 30 TEUR pro Kopf verzeichnen, während 5 % ein Bruttoinlandsprodukt von weniger als 25 TEUR pro Kopf aufweisen. Gemessen an der Bruttowertschöpfung stechen insbesondere die kreisfreien Städte Potsdam, Dresden, Erfurt und Jena hervor (jeweils mehr als 35 TEUR Bruttoinlandsprodukt
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p. K.), gefolgt von Leipzig und Rostock (jeweils mehr als 34 TEUR Bruttoinlandsprodukt p. K.). Die Schlusslichter bilden die Landkreise Havelland, Mansfeld-Südharz und Märkisch Oderland (jeweils weniger als 20 TEUR Bruttoinlandsprodukt p. K.) (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019a). In der Summe lässt sich an dieser Stelle konstatieren, dass zwischen Ost- und Westdeutschland erhebliche Unterschiede mit Blick auf die ökonomische Struktur und Leistungsfähigkeit fortbestehen und die im Gefolge der Wiedervereinigung zunächst große Konvergenz zwischen Ost- und Westdeutschland mittlerweile nur noch in „Trippelschritten“ (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle 2019, S. 8) und zunehmend „mühsam und zögerlich“ (Hüther et al. 2019, S. 10) voranschreitet.
7.4 Regionale Differenzierungsprozesse Mit dem Ziel, die ostdeutschen Regionen nach ökonomischen Gesichtspunkten zu systematisieren, wurde eine Clusteranalyse (Anderberg 1973) durchgeführt (siehe Tab. 7.1), die sich auf die Betrachtung von drei Größen auf Ebene der kreisfreien Städte und Landkreise Ostdeutschlands (ohne Berlin) stützt: Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (aus dem Jahr 2013) einer Region wurde als Maß der Leistungsfähigkeit der Regionalwirtschaft herangezogen. Tab. 7.1 Ausgewählte Indikatorwerte der Cluster/Regionstypen (Mittelwerte) Cluster 1
2
34,7
29,6
22,1
5,7
0,7
-1,2
Pendlersaldo (2013) Sonstige Indikatoren (nicht in die Clusteranalyse eingeflossen)
22,3
7,9
-22,7
Arbeitslosenquote (2013)
14,7
17,6
17,3
4,5
3,2
1,6
Erwerbsquote (2013)
78,9
82,5
83,7
Gesamtwanderungssaldo (2013)
10,0
2,1
-0,3
Natürlicher Saldo (2013) Anteil Beschäftigte mit…
-0,1
-4,9
-6,0
…Abschluss Spezialist (2013)
14,2
12,6
10,0
…akademischem Abschluss (2013)
22,0
13,8
9,7
3
In die Clusteranalyse eingeflossene Indikatoren Bruttoinlandsprodukt in 1000 je Einwohner (2013) Bevölkerungsentwicklung (zensusbasiert) (2011–2014)
Ausländeranteil (2013)
(Quellen: Eigene Berechnungen auf Basis von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder für die Jahre 2011–2014)
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Die Bevölkerungsentwicklung (Zeitraum 2011–2014) diente der Erfassung der Attraktivität einer Region. Der gewählte Zeitraum schien passend, um Verzerrungen durch die vergleichsweise starke Binnenmigration der 1990er- und frühen 2000er-Jahre und des sogenannten „Langen Sommers der Migration“ im Jahr 2015 auszuschließen. Die Größe ist dabei sicherlich nicht völlig unabhängig vom ökonomischen Wachstum des betreffenden Raums, kann aber auch in anderen Faktoren begründet liegen (z. B. in einer aus der Altersstruktur resultierenden Fertilität). Die Berücksichtigung des Pendlersaldos (aus dem Jahr 2013) lässt Rückschlüsse auf die Vielfalt und Attraktivität des Arbeitsmarktes einer Region über die Grenzen der betreffenden Gebietseinheit hinaus zu. Im Ergebnis der Analyse lassen sich drei Regionstypen voneinander unterscheiden (Regionen mit großem, mittlerem und geringerem Entwicklungspotenzial). Ein Blick auf Abb. 7.2 zeigt, dass diese keiner systematischen räumlichen Verteilung folgen. Deutlich wird aber, dass es vor allem Großstädte und – bedingt durch intensive Verflechtungen – in einigen wenigen Fällen auch ihr unmittelbares Umland sind, die sich von einer ansonsten recht homogenen Fläche absetzen. Südöstlich von Berlin zeichnet sich zudem ein aus insgesamt drei Landkreisen und einer kreisfreien Stadt bestehender Korridor ab, der dem zweiten Cluster zugeordnet werden kann. Ebenfalls ersichtlich ist, dass der nördliche Teil Ostdeutschlands, d. h. weite Teile Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns, nur über zwei kleine Regionen verfügt, die nicht dem dritten Cluster zugeordnet wurden, während im südlichen Teil Ostdeutschlands der Anteil der Cluster-1- und Cluster-2-Regionen deutlich höher ist. Die zentralen Merkmale der ermittelten Cluster werden im Folgenden kurz vorgestellt.3
7.4.1 Regionen mit großem Entwicklungspotenzial Auf Basis der Analyse lassen sich mit Dresden, Erfurt, Jena, Leipzig, Potsdam und Schwerin sechs kreisfreie Städte identifizieren, die wir nachfolgend als „Wachstumsregionen“ bzw. als Regionen mit großem Entwicklungspotential bezeichnen. Vier von ihnen liegen in Sachsen und Thüringen, während das Bundesland Sachsen-Anhalt mit keiner Stadt und das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern lediglich mit seiner Hauptstadt Schwerin vertreten sind. Die Wachstumsregionen liegen damit räumlich vorrangig im mittleren und südlichen Ostdeutschland. Sie nehmen nur einen sehr geringen Anteil (0,4 %) an der Gesamtfläche Ostdeutschlands ein; der Anteil der Bevölkerung Ostdeutschlands, der in diesen Räumen lebt, beläuft sich allerdings auf 14 %. Obwohl in
3Barjak
et al. (2000) weisen auf Basis eines ähnlichen methodischen Vorgehens insgesamt folgende vier Cluster aus: 1) erhebliche Schwächen der wirtschaftlichen Situation, 2) hoher Humankapitalbestand und Suburbanisierungsverluste, 3) gutes wirtschaftliches Ergebnis sowie 4) Wachstumspotenziale durch mittelständische Unternehmen.
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Abb. 7.2 Räumliche Verteilung der drei Cluster/Regionstypen. (Quelle: Eigene Darstellung)
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den 1990er-Jahren viele ostdeutsche Städte von der Abwanderung der Bevölkerung ins ländliche Umland (Suburbanisierung, vgl. Kap. 22) und in westdeutsche Bundesländer gekennzeichnet waren (Kap. 16), zeichnen sich die sechs Städte durch eine positive demographische Entwicklung aus. Diese liegt einerseits im Zuzug von Personen, andererseits in hohen Fertilitätsraten begründet, die mitunter dem Bestandserhaltungsniveau entsprechen (z. B. in Jena). Die Wachstumsregionen sind wirtschaftlich durch ein im ostdeutschen Vergleich überdurchschnittliches Bruttoinlandsprodukt pro Kopf charakterisiert, was in erster Linie auf die hohe Unternehmensdichte, insbesondere im tertiären Sektor, zurückzuführen ist, die sich nicht zuletzt in einem hohen Anteil an Arbeitnehmern mit akademischem Abschluss niederschlägt. Fast alle sechs Städte sind dadurch gekennzeichnet, dass sie spezialisierte Unternehmenscluster vorweisen (z. B. Filmwirtschaft in Potsdam, Mikroelektronik in Dresden, Optikindustrie in Jena, Medienwirtschaft und Automobilherstellung in Leipzig). Auch die wenigen in Ostdeutschland ansässigen Großunternehmen haben sich in diesen Städten angesiedelt, bzw. kleinere ortansässige Unternehmen konnten sich im Zeitablauf zu solchen entwickeln. Die wirtschaftliche Prosperität dieser Städte artikuliert sich des Weiteren in einem stark positiven Pendlersaldo, wobei die Pendler vorwiegend aus den umgebenden ländlich geprägten Regionen stammen (Cluster 3). Darüber hinaus ist die Arbeitslosenquote in den Wachstumsregionen im Vergleich zu den anderen Kategorien am niedrigsten. Alle Städte verfügen über Hochschulen, einige gleich über mehrere. Insbesondere Dresden, Jena, Leipzig und Potsdam sind darüber hinaus durch eine hochdiversifizierte außeruniversitäre Forschungslandschaft gekennzeichnet. Mit Ausnahme von Jena und Leipzig handelt es sich bei ihnen zudem um Landeshauptstädte, die mit behördlichen Einrichtungen von landes- und teils bundesweiter Bedeutung (z. B. Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, Eisenbahn-Bundesamt in Dresden) ausgestattet sind. Einige Städte konnten in der Vergangenheit bedeutsame Großinvestitionen auf sich lenken (z. B. Leipzig: Amazon, BMW, DHL, Porsche; Dresden: AMD, Infineon; Schwerin: Nescafé Deutschland AG). Die genannten Punkte, aber auch das für alle sechs Städte ermittelte starke Kohortenwachstum der 15- bis 34-Jährigen, das sie zu einer sogenannten „Schwarmstadt“ (Simons et al. 2017, S. 25) (Dresden, Leipzig, Jena) oder einer „neuen Schwarmstadt“ (ebd.) (Schwerin, Potsdam, Erfurt) werden lässt, verdeutlichen die vielfältigen Entwicklungspotenziale, die auch für die Zukunft ein überdurchschnittliches Wachstum erwarten lassen.
7.4.2 Regionen mit mittlerem Entwicklungspotenzial Das zweite Cluster umfasst Regionen in Ostdeutschland, die in Bezug auf die zugrunde gelegten Indikatoren jeweils im Mittelfeld angesiedelt sind. Zu den 16 der insgesamt analysierten 76 Regionen zählen vier Landkreise (Dahme-Spreewald, Saalekreis, Spree-Neiße und Teltow-Fläming) sowie zwölf kreisfreie Städte: Brandenburg (an der Havel), Chemnitz, Cottbus, Dessau-Roßlau, Eisenach, Frankfurt (Oder), Gera, Halle
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(Saale), Magdeburg, Rostock, Suhl und Weimar. Insgesamt nehmen die Regionen dieser Kategorie 3 % der Fläche und 17 % der Bevölkerung Ostdeutschlands ein. Auffallend ist, dass es sich bei ihnen entweder um Großstädte mit im Vergleich zu den Wachstumsregionen geringerer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (z. B. Magdeburg) sowie um Mittelstädte (z. B. Weimar) oder Regionen im Umland von Wachstumsregionen handelt (z. B. Dahme-Spreewald). Gerade diese Landkreise haben von der Suburbanisierung der Bevölkerung und den sich dort angesiedelten Unternehmen wirtschaftlich stark profitiert. Hinsichtlich der demographischen Entwicklung sind diese Regionen insgesamt durch ein geringes Bevölkerungswachstum charakterisiert, wobei einzelne Regionen sogar von einem leichten Rückgang der Bevölkerung betroffen sind. Die weitgehend ausgeglichene Bevölkerungsentwicklung steht zumeist in Zusammenhang mit einem negativen natürlichen Bevölkerungssaldo und einem typischerweise positiven Wanderungssaldo. Die Regionen im Mittelfeld weisen im Vergleich mit den anderen beiden Regionstypen das zweithöchste Niveau des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf und mit etwa 14 % einen geringeren Anteil an Arbeitsplätzen mit akademischem Berufsabschluss auf. Der Pendlersaldo für die Regionen im Mittelfeld ist zwar auch noch leicht positiv ausgeprägt, deutlich weniger allerdings als im Falle der Wachstumsregionen. Im Vergleich zu den Regionen mit großem Entwicklungspotenzial ist es für die Unternehmen dieser Regionen im Durchschnitt schwieriger, offene Stellen für Fachkräfte zu besetzen. Hierin spiegelt sich ein charakteristisches Muster wider, nämlich dass es den Wachstumsregionen aufgrund attraktiverer Wohn- und Arbeitsbedingungen deutlich einfacher fällt, hochqualifizierte Fachkräfte zu attrahieren, als Regionen mit mittlerem oder nur geringem Entwicklungspotenzial.
7.4.3 Regionen mit geringem Entwicklungspotenzial Dem dritten Cluster gehören 54 Landkreise an, die mehrheitlich (50 von 54 Raumeinheiten) dem ländlichen Raum zuzurechnen sind. Mit 97 % der Fläche Ostdeutschlands handelt es sich flächenmäßig klar um den bedeutendsten Regionstyp. Auch die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung (69 %) lebt in den ihm zugeordneten Räumen. Lediglich 30 % der 54 Landkreise weisen Verstädterungsansätze auf; anders ausgedrückt handelt es sich bei den Regionen vornehmlich um ländliche und ländlich-periphere Räume. Sie weisen eine schrumpfende Bevölkerung auf, was primär sowohl auf einen stark negativen natürlichen Saldo als auch auf einen negativen Gesamtwanderungssaldo zurückzuführen ist. Wenngleich der Außenwanderungssaldo leicht positiv ist, reichen die Zuwanderungen nicht aus, den stark negativen Binnenwanderungssaldo zu kompensieren. Die nur geringe Wirtschaftskraft der Regionen wird in der Tatsache reflektiert, dass das Bruttoinlandsprodukt durchschnittlich nur etwa zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts der beiden anderen Regionstypen ausmacht. Die oftmals vergleichsweise einfach strukturierten Arbeitsmärkte spiegeln sich in einer nur
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95
geringen Dienstleistungsquote, einem geringen Ausländeranteil von im Durchschnitt 2 % sowie einem Anteil an Personen mit akademischem Berufsabschluss an allen Arbeitnehmern von im Durchschnitt unter 10 % wider. Angesichts einer vergleichsweise hohen Arbeitslosenquote von durchschnittlich mehr als 17 % überrascht auch nicht, dass die Regionen einen stark negativen Pendlersaldo aufweisen. Insgesamt deuten die fortgesetzte Abnahme der Bevölkerung, die einfachen Beschäftigungsmöglichkeiten und das geringe Niveau der beschriebenen makroökonomischen Größen darauf hin, dass dieser Regionstyp vergleichsweise hohe Entwicklungsrisiken aufweist, denen wohl auch in naher Zukunft nicht ohne Weiteres etwas entgegengesetzt werden kann.
7.5 Zur besonderen Rolle der Städte Infolge des fortgesetzten Ausdünnens der ländlichen Räume konzentriert sich die ostdeutsche Wirtschaft deutlich stärker noch als in Westdeutschland auf die städtischen Zentren und deren unmittelbares Umland. Es scheint daher angemessen, diese Räume abschließend einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. In den insgesamt 18 kreisfreien Städten Ostdeutschlands leben gegenwärtig (2016) etwa 3,2 Mio. Einwohner. Dies entspricht einem Anteil von knapp 25 % der ostdeutschen Bevölkerung. Die Wirtschaft in diesen Städten erzeugt einen Anteil von 32 % des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Zieht man die sie jeweils umgebenden Umlandkreise in die Betrachtungen ein, was angesichts der üblicherweise intensiven funktionalen Verflechtungen (z. B. Pendler- und Freizeitverkehr, Güterströme) zwischen Tab. 7.2 Die acht wirtschaftlich bedeutendsten ostdeutschen Stadtregionen (Kernstadt und Umlandkreise) Stadtregion
Bruttoinlandsprodukt (2016) der Stadtregion in EUR
Anteil Stadtregion am ostdt. Bruttoinlandsprodukt in Prozent (2016)
Anteil der Bevölkerung der Stadtregion an der ostdt. Bevölkerung in Prozent (2016)
Clusterzugehörigkeit (Kernstadt)
1
Dresden
40.370.367
11,7
10,7
1
2
Chemnitz
34.092.233
9,9
9,7
2
3
Leipzig
31.559.280
9,1
8,2
1
4
Magdeburg
19.520.457
5,6
5,5
2
5
Erfurt
13.357.392
3,9
3,3
2
6
Halle (Saale)
12.852.710
3,7
3,4
2
7
Rostock
12.151.123
3,5
3,3
2
8
Schwerin
11.748.570
3,4
3,7
1
(Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder für das Jahr 2016)
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Kernstadt und Umland sinnvoll erscheint, wird ihre zentrale Stellung noch sehr viel deutlicher. Solcherart definierte Stadtregionen machen einen Anteil von 69 % am ostdeutschen Bruttoinlandsprodukt bzw. 71 % der Bevölkerung aus. Allein acht Stadtregionen erzeugen knapp 51 % des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts (siehe Tab. 7.2). Zu ihnen rechnen die sieben größten Städte Ostdeutschlands (Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig, Magdeburg, Rostock) sowie das hinsichtlich der Bevölkerungszahl an der Grenze zur Großstadt befindliche Schwerin. Insbesondere die drei sächsischen Stadtregionen Dresden (12 % des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts), Chemnitz (10 %) und Leipzig (9 %) stechen mit zusammengenommen knapp einem Drittel des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts und einem nur knapp darunter liegenden Bevölkerungsanteil aus der Wirtschaftslandschaft hervor. Im öffentlichen Diskurs wird der besonderen Bedeutung derartiger Wachstumsinseln vielfach mit der Metapher des „Leuchtturms“ Rechnung getragen. Einen Leuchtturm mit besonders großer Strahlkraft stellt die sächsische Landeshauptstadt Dresden dar. Die hier nur angerissene Rolle der Städte für die Entwicklung Ostdeutschlands wird in diesem Sammelband in einer Vielzahl von Beiträgen (Kap. 21, 22, 25) vertiefend behandelt.
7.6 Fazit Die nach wie vor räumlich stark ungleich verlaufende wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands bleibt nicht ohne Folgen: Zahlreiche stadtferne Regionen verzeichnen fortgesetzte Abwanderungsprozesse und – damit einhergehend – deutliche demographische Veränderungen. Diese artikulieren sich ganz konkret u. a. in einer Überalterung sowie auch in einer Verschiebung der Sexualproportion, d. h. der Relation von männlichen zu weiblichen Personen. Die wenigen Wachstumsräume Ostdeutschlands hingegen (so z. B. Dresden, Leipzig) zeichnen sich durch eine starke Bevölkerungszunahme und eine vergleichsweise junge Bevölkerung aus. Die aktuelle wirtschaftsräumliche Entwicklung stellt eine am „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ (Hüther et al. 2019, S. 9) ausgerichtete Regionalpolitik vor ein Dilemma: Auf der einen Seite wird, nicht zuletzt aufgrund budgetärer Restriktionen der öffentliche Haushalte, die Notwendigkeit gesehen, staatlich gelenkte regionale Entwicklungsimpulse auf bestimmte Räume („Leuchttürme“) zu konzentrieren, von denen man sich erhofft, dass sie infolge von Agglomerationsvorteilen und Innovationspotenzialen in besonderer Weise zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum beitragen. Während einige Autoren in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, dass es angesichts voranschreitender Schrumpfungsprozesse ländlich-peripherer Räume künftig kaum mehr möglich sein wird, den Grundsatz gleichwertiger Lebensverhältnisse aufrechtzuerhalten, und daher vorschlagen, dort nur ein Mindestniveau öffentlicher Daseinsvorsorge vorzuhalten (so z. B. Aring 2010, S. 765 f.), sehen weniger extrem ausgerichtete Beiträge vor, die Infrastrukturen auf Großstädte zu fokussieren und die Anbindung an diese urbanen Räume
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zu stärken (Gropp 2019). Eine Entscheidung, inwieweit sich ein solches Vorgehen mit der grundgesetzlich verankerten Sicherstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den einzelnen Teilräumen Deutschlands in Einklang bringen lässt, steht derzeit noch aus (vgl. Ragnitz und Thum 2019; Kahl und Lorenzen 2019). Ein dritter Ansatz priorisiert Investitionen in ländliche Räume, um zu verhindern, dass diese den Anschluss an die gesamtdeutsche Wachstumsdynamik verlieren (so z. B. Bertelsmann Stiftung 2019). Nicht zuletzt die jüngere politische Polarisierung deutet darauf hin, dass sich die Bewohner vieler ländlicher Regionen in Ostdeutschland bereits heute schon „abgehängt“ fühlen (Deppisch 2019). Eine Politik, die in der Absicht, langfristig Sickereffekte für den ländlichen Raum induzieren zu können, zunächst auf eine bewusste Stärkung der großstädtischen Wachstumskerne hinausliefe, birgt daher zweifellos das große Risiko, langfristig eine zunehmende Radikalisierung politischer Kreise in den benachteiligten Regionen hervorzurufen und schlimmstenfalls großen gesamtwirtschaftlichen Schaden zu verursachen (Hüther et al. 2019, S. 13).
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Kapitalmangel und Transferabhängigkeit. Zur Politischen Ökonomie Ostdeutschlands Dominik Intelmann
Zusammenfassung
Die Politische Ökonomie Ostdeutschlands ist geprägt durch die strukturelle Abhängigkeit vom westdeutschen Landesteil. Dabei schlägt sich das Fehlen einer lokalen Eigentümerklasse in einer dauerhaften Transferabhängigkeit nieder. Der Beitrag rekonstruiert diese bis heute andauernde Situation anhand der politischen Richtungsentscheidungen im Wiedervereinigungsprozess, quantifiziert den Umfang der West-Ost-Transfers und entwickelt eine kritische Perspektive auf die ökonomischen Zukunftsaussichten Ostdeutschlands. Es wird gezeigt, dass um die Bedingungen der transfergestützten Ökonomie auf höchster politischer Leitungsebene immer wieder aufs Neue gerungen werden muss.
8.1 Einleitung Die Ökonomie Ostdeutschlands unterscheidet sich strukturell von der westdeutschen. In der medialen Öffentlichkeit wie auch im offiziellen „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“ wird kontinuierlich darauf verwiesen, dass die Arbeitslosenquote und das Armutsrisiko höher und die Durchschnittslöhne niedriger seien als in Westdeutschland (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018, S. 48 f., 104). Über diese Kennzahlen zur wirtschaftlichen Situation hinaus wird in Fachpublikationen der dauerhafte Transferbedarf Ostdeutschlands thematisiert (Ludwig 2017; Steinitz und Troost 2018), der seinen Ursprung in einer ungleichen E ntwicklung, D. Intelmann (*) Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_8
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spezifischen Eigentumsverhältnissen und in den politischen Entscheidungen des Wiedervereinigungsprozesses hat. Der letzte große „Streit um Kosten der Einheit“ (Eichler und Bath 2014), im Zuge dessen verschiedene Wirtschaftswissenschaftler*innen im Jahr 2014 Berechnungsmodelle für den Gesamtumfang der Transfers für die Neuen Bundesländer (im Folgenden abgekürzt mit NBL) veröffentlichten, verdeutlichte den eminent politischen Charakter der Debatte. Im Nachgang wurde in einem Bericht der Zeit darauf verwiesen, dass „[v]iele Ökonomen … zu dem Thema mittlerweile ungern“ publizieren würden. So schreibt die Wochenzeitung weiter: „Ulrich Blum von der Universität Halle-Wittenberg zum Beispiel hält sich … mit Veröffentlichungen zu dem Thema inzwischen zurück – zu oft hat er schon Prügel von der Politik bezogen. ‚Man kriegt nur Hass, das ist völlig unbefriedigend.‘ Keiner kommt mehr auf die Idee, sich mit neuen Zahlen aufzudrängen“ (Hansen 2014). Trotz des gestiegenen öffentlichen Interesses an der gesellschaftlichen Entwicklung in den NBL im Zuge des Aufkommens der PEGIDA-Bewegung und des starken Abschneidens der AfD bei Wahlen seit 2015 fällt auf, dass ökonomische Erklärungsversuche unterrepräsentiert sind, die auf mehr als Arbeitslosenquoten, Arbeitsproduktivitäten und Lohnhöhen verweisen. Dafür wird im Folgenden auf Wissensbestände zurückgegriffen, die im Rahmen der Wirtschaftsgeographie bisher seltener debattiert wurden.1 Neben den stark auf Ostdeutschland fokussierten Analysen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (vgl. z. B. Blum 2015; Blum et al. 2009; Ludwig 2017), sind es insbesondere volkswirtschaftliche Untersuchungen aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift Berliner Debatte Initial und der Memorandum Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (vgl. z. B. Busch 2002; Busch und Land 2012; Land 2003, 2010, 2015; Mai 2006, 2013; Steinitz und Troost 2018), die Aussagen über die ökonomischen Eigenschaften Ostdeutschlands ermöglichen. In einem ersten Schritt erfolgt eine Rekonstruktion der Richtungsentscheidungen der Wiedervereinigungspolitik. Treuhandprivatisierungen, schnelle Währungsunion, Altschuldenregelung und Restitution definieren die Bedingungen für die bis heute wirkmächtigen Eigentums- und Lohnarbeitsverhältnisse in den NBL. In Abschn. 8.2 wird ein Modell zur quantitativen Erfassung der Transferabhängigkeit vorgestellt. Dabei ist insbesondere das Missverhältnis von regionaler Produktion und Konsumtion – die sogenannte Produktionslücke – von Interesse, dessen abnehmende Tendenz der letzten Jahre keineswegs ein Ende des Transferbedarfs anzeigt. Vielmehr gehen die Transfers in einen stabilen Kreislaufprozess ein, innerhalb dessen sie regional unterschiedliche Lohn- und Rentabilitätsregimes regulieren. Im abschließenden Ausblick wird die zukünftige Entwicklung dieser disparaten ökonomischen Struktur vor dem Hintergrund eines reformierten Länderfinanzausgleichs, stark zurückgehender Subventionen aus dem EU-Struktur- und Investitionsfonds und des Wegfalls der Solidarpakt-II-Mittel erörtert.
1In
diesen Beitrag sind die Ergebnisse meiner 2017 vorgelegten Masterarbeit „Leipzig zwischen Kapitalverlassenheit und experimenteller politischer Ökonomie“ (Intelmann 2017) eingegangen.
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8.2 Die Rolle der Wiedervereinigungspolitik Eine rekonstruierte Berechnung im Sinne der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ergab für 1989, das letzte Jahr der DDR, dass die produzierte Wirtschaftsleistung den inländischen Konsum um 4 % überstieg: Die DDR erwirtschaftete einen Ausfuhrüberschuss, konnte sich demnach auf dem Landesgebiet rein rechnerisch „selbst“ reproduzieren (vgl. Heske 2005, S. 85). Nur zwei Jahre später betrug das regionale Leistungsbilanzdefizit der NBL (ohne Berlin) 50 %, was einen stark gestiegenen Konsum bei gleichzeitigem Kollaps der Produktion abbildete. Dies bedeutete, dass die Hälfte der Konsumausgaben in den NBL nicht aus der eigenen Wirtschaftsleistung generiert wurde, sondern anderen Quellen entstammen musste. Der Produktionseinbruch und die daraus erwachsene Wiedervereinigungskrise resultierte in Verbindung mit den Mängeln der Produktionsinfrastruktur der DDR (vgl. Busch und Land 2012, S. 182 f.) insbesondere aus vier politischen Richtungsentscheidungen der unmittelbaren Nachwendezeit, die sich als langfristig einschneidend erweisen sollten: 1. Die Unternehmensprivatisierungen durch die Treuhandanstalt (im Folgenden abgekürzt mit THA): Anstelle einer Umverteilung des Volkseigentums zugunsten der regional ansässigen Bevölkerung wurde eine Privatisierung forciert, bei der in erster Linie kapitalstarke Investor*innen zum Zuge kamen. 2. Die schnelle Durchsetzung der Währungsunion: Die 1:1-Regelung bei der Konvertierung zwischen Ostmark und D-Mark bewirkte einen „Aufwertungsschock“ (Rink 2010, S. 65) und den Zusammenbruch der äußeren Märkte. Obwohl nicht präzise quantifizierbar (vgl. Busch 2010, S. 5 ff.), bewegte sich die Aufwertung der DDR-Währung bei 300–400 % (Vilmar 1996, S. 115), weshalb Produkte sowohl im westlichen Ausland als auch in den sozialistischen Ländern schlagartig nicht mehr absetzbar waren. 3. Die Altschuldenregelung: Jene „neuen“ Altschulden erwuchsen aus der Verwandlung von Verrechnungsposten zwischen der Staatsbank der DDR und volkseigenen Betrieben – quasi sozialistischen Ausständen – in „kapitalistische“ Schulden. Betroffen waren insbesondere die ehemals volkseigenen Unternehmen, deren Schuldendienst entweder die THA übernahm oder die andernfalls aufgrund der eingetretenen Überschuldung kurzerhand liquidiert wurden. 4. Restitution: Bei „offenen Vermögensfragen“ galt das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“, sodass in der DDR enteignete ehemalige Eigentümer*innen von Grundstücken, Gebäuden oder Unternehmen zuerst ein Recht auf Rückgabe gegenüber den derzeitigen Nutzer*innen bzw. dann unrechtmäßigen Eigentümer*innen hätten. Das Gesetz führte zu einer „gravierenden Veränderung der Eigentumsstrukturen in den neuen Bundesländern und zu immensen Vermögenstransfers von Ost nach West“ (Rink 2010, S. 70).
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Der gewählte Transformationspfad hinterließ die ostdeutschen Regionen abandoned by capital (Bernt und Rink 2010, S. 684). Hauptverlierer waren dabei die ostdeutschen Unternehmen: Ihr „kapitallose[r] Eintritt … in den Kapitalismus“ (Kuhle 2005, S. 148) war verbunden mit dem Verlust aller äußeren und inneren Märkte, der Übernahme virtueller Schulden und der Privatisierung an kapitalstarke Investoren*innen. Für Letztere war damit die Perspektive eröffnet, potenzielle Konkurrenz aus dem Osten auszuschalten bzw. drohende Überkapazitäten nahezu verlustfrei zu vernichten. Die Privatisierungsbilanz der THA von 1994 bezeugt eindrucksvoll eine Entlokalisierung der Eigentumstitel: 10 % der DDR-Unternehmen wurden an Ostdeutsche, 5 % an ausländische und 85 % an westdeutsche Käufer*innen veräußert (vgl. Busch 2000, S. 187). Wird die Verteilung des Produktivvermögens, also des „Kapital[s] einer Volkswirtschaft, das im Produktionsprozess der Leistungserstellung zur Verfügung steht“ (Gerke 2002, S. 635), in den NBL analysiert, so fällt auf, dass Ostdeutsche lediglich 25 %, „westdeutsche und wenige ausländische Kapitaleigner die ‚restlichen‘ 75 %“ daran besitzen (Kollmorgen 2005, S. 196). Die Persistenz der Eigentümerstruktur seit der Beendigung der THA-Privatisierungen in den 1990er-Jahren spiegelt sich heute in der Fragmentierung der ostdeutschen Produktionsmittel wider (vgl. Busch und Land 2012, S. 182): Rein von der Anzahl ist ein Großteil der Betriebe den klein- und mittelständischen Unternehmen zuzuordnen. Diese Betriebe haben nur selten eine DDR-Vergangenheit, wurden größtenteils nach der Wiedervereinigung mit vergleichsweise geringem Eigenkapital gegründet und befinden sich überwiegend in lokalem Eigentum, was zusammengenommen deren Expansionsmöglichkeiten stark begrenzt. Die großen Unternehmen und Kombinate der DDR wurden zumeist abgewickelt oder in „[f]remdbestimmte großbetriebliche Werkbänke“ (Ludwig 2017, S. 597) unter westdeutschen Headquarters umgewandelt. Diese verbleibenden Produktionsbetriebe stellen heute zusammen mit den neu gegründeten Filialbetrieben der 1990er- und 2000er-Jahre (z. B. die Werke von BMW und Porsche in Leipzig) den wertmäßig größten Anteil am Produktivvermögen der NBL (vgl. ebd., S. 584 ff., 597). Gegenüber dem Stammsitz des Unternehmens, an dem meist Forschungs- und Entwicklungsabteilungen angesiedelt sind, besitzt die Filiale häufig nur ausführende Funktionen und ist in Zeiten hoher Kapitalmobilität von Standortverlagerungen bedroht. Da die Gewerbesteuern zudem am Stammsitz entrichtet werden, kann die in den NBL vielerorts akute kommunale Haushaltsklemme als Resultat einer „Filialökonomie“ (Dörre und Röttger 2006, S. 158) betrachtet werden. Die ostdeutsche Bevölkerung musste sich aufgrund der ausbleibenden Beteiligung am volkseigenen Vermögen und der lediglich passiven Teilnahme an den THA-Privatisierungen infolge Kapitalmangels mit einer Konsumentenrolle begnügen: Da die Ostdeutschen „qualitativ hochgradig und quantitativ hinreichend mit Liquidität ausgestattet“ wurden, ermöglichte dies ihnen einen „gegenüber den DDR-Verhältnissen gestiegenen Konsum- und Lebensstandard“ (vgl. Busch 2010, S. 8). Maßgeblich dabei war die Integration in die bundesdeutschen Sozialsysteme in Form des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und -hilfe, einer massiven Ausweitung von Weiterbildungs- und
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Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und nicht zuletzt des vorzeitigen, abschlagsfreien Renteneintritts. Somit waren am Ende des Jahres 1991 3,2 Mio. (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 1993, S. 929) ehemalige Arbeitnehmer*innen durch Transfers aus den sozialen Umverteilungssystemen versorgt, also abseits regulärer Lohnarbeit mit „Liquidität ausgestattet“. In Verbindung mit den ausgehandelten Tarifabschlüssen, die wiederum mit Lohnsubventionen unterfüttert waren, verdoppelten sich die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte zwischen 1990 und 1995 (vgl. Land 2003, S. 78).
8.3 Quantifizierung der Transferströme Um dem enormen Transferbedarf der NBL zu befriedigen, wurden bereits in den ersten Monaten nach der Wiedervereinigung verschiedene Sonderförderinstrumente und Investitionsprogramme aufgelegt. Von Anfang an handlungsleitend war dabei der Artikel 72 des Grundgesetzes, der die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (ab 1994: „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“) als Ziel erklärte. Der dafür aufgelegte „Fonds Deutsche Einheit“, aber auch der Etat der THA wurden als vorübergehende Finanzspritzen eines „Vereinigungskeynesianismus wider Willen“ (von Beyme 1994, S. 265) konzipiert, der den wirtschaftspolitischen Positionen der damaligen liberalkonservativen Regierung im Grunde entgegenstand. Die erzwungenen Staatsinterventionen sollten daher als einmalige Hilfeleistung der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen in einer Sondersituation aufgefasst werden. Mit dem Einbezug der NBL in den Länderfinanzausgleich (Lfa) im Jahr 1994 erfolgte die Inkorporierung in die regulären Umverteilungssysteme der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl zeigte sich, dass eine Sonderförderung für Ostdeutschland unumgehbar war. Diese hat in Form von Steuerabschreibungsmöglichkeiten, Investitionszulagen und des Solidarpakts I und II teils noch bis in die Gegenwart Bestand. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch auch, dass es nicht die Sonderfördermechanismen, sondern die nahezu unsichtbare, nicht regional spezifische Umverteilung der Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung ist, die den Hauptanteil der Transfers ausmacht (vgl. Land 2015, S. 385). Eine Möglichkeit, die Transferströme bzw. die wirtschaftliche Abhängigkeit der NBL zu ermitteln, besteht in der Quantifizierung des regionalen Leistungsbilanzsaldos, wobei Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Grundlage dienen. Die errechnete „Differenz zwischen den erzeugten und den verbrauchten Gütern und Dienstleistungen“ (Land 2003, S. 93) bzw. dem produzierten und dem verbrauchten Bruttoinlandsprodukt resultiert im Fall der NBL in einem über Jahre stabilen Defizit bzw. einer sogenannten Produktionslücke. Der Anteil des Verbrauchs, der über der eigenen Güterproduktion liegt, muss durch außerhalb produzierte Waren gedeckt werden. Damit in einer Region mehr konsumiert werden kann, als produziert wird, bedarf es bestimmter Finanzierungsquellen. Infrage kommen die Investitionstätigkeit auswärtiger Unternehmen, eine erhöhte Staatsverschuldung bzw. Verschuldung der privaten Haushalte, aber auch, wenn vorhanden, -ein interregionaler Umverteilungsmechanismus.
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Abb. 8.1 Güterverwendung und Güterproduktion in den NBL (ohne Berlin) 1991–2014. (Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder, eigene Berechnungen)
In Abb. 8.1 lässt sich der zeitliche Verlauf der Entwicklung der ostdeutschen Produktionslücke nachvollziehen: Bis Mitte der 1990er-Jahre lag der Verbrauch bis zu 75 % (bzw. 47 % bei Einbezug (Gesamt-)Berlins) über der Produktion. Später verringerte sich die Lücke bei stagnierendem Verbrauch und ansteigendem BIP allmählich, um 2014 ein Minimum von 13 % (bzw. 8 % mit Berlin) zu erreichen. Ulrich Blum et al. (2009) ermittelten aus den Salden der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungen auf dem Gebiet der NBL den Umfang öffentlicher Transferströme nach Ostdeutschland. Diese Transfers werden in einem nächsten Schritt zum BIP hinzugerechnet (Abb. 8.2), um zu erfassen, in welchem Umfang sie die Produktionslücke zu schließen vermögen. Bis zum Jahr 2001 lag die Summe aus Transfers und erwirtschaftetem BIP unter der des verbrauchten BIPs. Hinter dem fehlenden Differenzbetrag verbergen sich „im Wesentlichen … private Investitionen von Unternehmen und Haushalten und … Zahlungen für den Erwerb von Sachvermögen (z. B. Gebäude, Wohnungen, Windräder, Einlagen in Unternehmen …) durch Westdeutsche [bzw. im Ausland Ansässige, D.I.] in Ostdeutschland“ (Busch und Land 2012, S. 22), aber auch schuldenfinanzierte Investitionen. Nach 2001 hatte sich das Verhältnis zunächst umgekehrt: Während die Transfers bei durchschnittlich 70 Mrd. € pro Jahr verharrten, betrug die Produktionslücke im Schnitt jährlich nur 50 Mrd. €, was zunächst als eine Art Übersubventionierung erscheint. Tatsächlich zeigt dieser Wert an, dass neben dem West-Ost-Finanztransfer des Staates und der Sozialversicherungen ein „private[r] Finanztransfer in umgekehrter Richtung“ (ebd.), also ein Nettokapitalexport nach Westdeutschland oder ins Ausland
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Abb. 8.2 Güterverwendung, Güterproduktion und Transfers in den NBL 1991–2014. (Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder, eigene Berechnungen; Blum 2015, S. 9)
vonstattengeht. Es handelt sich dabei um abfließende Gewinne „aus alten Investitionen … privater Anleger“, die seit 2001 größer seien „als die Zuflüsse in neue Investitionen“ (Land 2010, S. 12) – Gewinne aus Mieten, Pachten und Anlageerlösen aus Unternehmen. In den ersten zehn Jahren nach der Jahrtausendwende sind demnach jeweils zwischen 10 und 30 % der Staatstransfers rein rechnerisch als privater Kapitalexport zurück in die alten Bundesländer geflossen.2 Mittlerweile hat sich diese Tendenz abgeschwächt, ohne dass sich der Zusammenhang grundsätzlich aufgelöst hat. Die Eigentumsverhältnisse bezüglich Produktionsmitteln und Grundbesitz in Ostdeutschland bilden sich in den Kapitalströmen und der Transferabhängigkeit beeindruckend ab: Die Gewinne fließen zu den Eigentümer*innen, die außerhalb Ostdeutschlands ansässig sind. Somit entsteht ein Kreislaufprozess, bei dem sich „westdeutsche Mehrproduktion und ostdeutscher Transferbedarf“, „Produktionslücke und Produktionsüberschuss“ wechselseitig bedingen (Busch und Land 2012, S. 26 f.). Grob skizziert verläuft der Kreislauf wie folgt: Die gesamtdeutsch erbrachten Abgaben der Unternehmen und Lohnabhängigen werden durch die Umverteilungsmechanismen an die Privathaushalte (in Form von Sozialtransfers, aber auch Lohn- und Pensionszahlungen an Bundesangestellte in den NBL) oder als Wirtschaftssubventionen in die NBL transferiert. Aufgrund der Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland fließen große Anteile
2Aufgrund
des geringen Anteils ausländischer Direktinvestitionen in den NBL können auch die Rückflüsse ins Ausland an dieser Stelle ausgeklammert werden. Eventuelle Abflüsse durch Sparen wurden ebenfalls ausgeklammert.
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Abb. 8.3 Schematische Darstellung des Transfermechanismus als Kreislaufprozess. (Quelle: Eigene Darstellung)
der Transfers „im Umfang der westdeutschen Lieferungen [in den] Westen als Erlöse zurück“ (Mai 2006, S. 8), ermöglichen dort Produktion, Arbeitsverhältnisse und damit die benötigten Lohn-, Unternehmens- und Sozialversicherungsabgaben, um den Kreislauf zu schließen. In Abb. 8.3 ist der Transferkreislauf vereinfacht dargestellt. Die West-Ost-Transfers bewirken außerdem eine Verbilligung der Arbeitskraft in den NBL und eine erhöhte Rentabilität von Produktivkapital mittels subventionierter Löhne und einer großzügigen Wirtschaftsförderung. Da Unternehmenseinkommen durch Steuerreformen in den letzten 25 Jahren tendenziell entlastet und im Gegenzug Lohneinkommen belastet wurden, resultiert der Transferkreislauf letztlich in einer Umverteilung von unten nach oben.3
3Die
staatliche Kreditaufnahme als gewichtige (externe) Geldquelle ist auf dem ersten Blick kein Teil des Transferkreislaufs. Ulrich Busch (2002, S. 255) ermittelte, dass knapp 50 % des bundesdeutschen Schuldenanstiegs zwischen 1990 und 1999 als einigungsbedingt einzuschätzen wären, gleichermaßen jedoch durch Steuerentlastungen für Unternehmer*innen und Kapitalbesitzer*innen verursacht wurden. Da die Tilgung der Staatsschulden mit Steuermitteln geschieht, ist auch diese Finanzierungsquelle in langfristiger Perspektive im Transferkreislauf enthalten.
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8.4 Ausblick Ostdeutschland wird auf nicht absehbare Zeit weiter von Transfers aus dem Umverteilungsmechanismus abhängig bleiben. Auch wenn sich die Produktionslücke in den nächsten Jahrzehnten schließen sollte, so bedingen die Eigentumsverhältnisse einen stetigen Kapitalabfluss nach Westdeutschland, der durch staatliche Transfers ausgeglichen werden muss. Der dargestellte Transferkreislauf weist zwar auf ein Ungleichgewicht zwischen den Landesteilen hin, hat jedoch mittlerweile eine erstaunliche ökonomische wie auch politische Stabilität erreicht. Diese Stabilität repräsentiert gleichermaßen die Persistenz von Eigentumsverhältnissen als auch die – wenngleich in den letzten Jahren eingeschränkte – Wirkungsmacht des Grundsatzes der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, welcher die Umverteilung politisch verankert. Gleichwohl stellt die Institutionalisierung der Transferbeziehungen das Ergebnis kontinuierlicher Anstrengungen einer ostdeutschen grant coalition (Cochrane et al. 1996, S. 1331) dar, die auf verschiedenen politischen Ebenen staatliche Mittel zur Deckung des Transferbedarfs der NBL zu akquirieren versucht. Dazu formierte sich bereits in den 1990er-Jahren die Ministerpräsidentenkonferenz Ost (MPK-Ost), in der die ostdeutschen Ministerpräsident*innen über Parteigrenzen hinweg für die spezifischen Interessen der NBL eintreten (vgl. Kropp 2010, S. 136). Eine besonders hohe Aktivität zeigte die MPK-Ost in den letzten Jahren in Bezug auf anstehende Verschiebungen bei drei der wichtigsten Fördermittelquellen: Zum Ende des Jahres 2019 werden gleichzeitig der Solidarpakt II und der Länderfinanzausgleich in seiner derzeitigen Form auslaufen sowie im Jahr 2020 die Förderperiode des EU-Struktur- und Investitionsfonds zu Ende gehen. Da die drei Transferquellen zusammengenommen unabdingbar sind, um die Reproduktion ostdeutscher Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse zumindest auf dem jetzigen Stand zu halten, würde der ersatzlose Wegfall eine ernsthafte Krise auslösen. Während die EU-Mittel nach 2020 auf nur noch ca. ein Siebtel der Mittel der jetzigen Förderperiode einbrechen und durchaus innerinstitutionelle Verteilungskämpfe nach sich ziehen könnten (vgl. Bauer und Ragnitz 2018, S. 15), gehen die Einschätzungen bei den anderen Transferquellen auseinander. In ihrer Evaluation der geplanten Lfa-Reform und des Auslaufens des Solidarpakts errechneten Thomas Lenk und Philipp Glinka (2017, S. 509), dass den NBL nach 2019 mehr Geld zur Verfügung stehen werden wird. In eine andere Richtung weisen hingegen die öffentlichen Bekundungen der MPK-Ost, die bei ihrem Treffen im November 2018 die Auflage eines Solidarpakts III forderten, da die „Rechnung [ansonsten] nicht aufgehen“ werde (Reiche 2018). Unerwartet konnte im Januar 2019 eine Kompensation für den drohenden Wegfall der Mittel auf einem anscheinend ganz anderen Feld erstritten werden: Der sogenannte „Kohlekompromiss“, der maßgeblich auf Druck der ostdeutschen „Kohleländer“ Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg zustande kam, soll angesichts seines finanziellen Umfangs (vgl. DLF 24 2019) offenkundig nicht nur das Thema Kohleausstieg bearbeiten, sondern weiterhin den Transferbedarf anderer gesellschaftlicher Teilbereiche decken helfen. Die Zukunftsaussichten der ostdeutschen Gesellschaft werden, wie sich daran beispielhaft zeigt, auch weiterhin von den windows of opportunity der wechselvollen Ausgestaltung staatlicher Fördermittel und Transferquellen geprägt sein.
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Vordergründig ist Ostdeutschland mit seinen sanierten Innenstädten, einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote und moderat gestiegenen Durchschnittslöhnen in den letzten Jahren nach einer langen Zeit der Krise in einer gewissen Normalität angekommen. Demgegenüber sollte im vorliegenden Beitrag gezeigt werden, dass die NBL sich weiterhin in der Sondersituation einer Transferökonomie befinden, deren Zuschussbedarf immer wieder aufs Neue politisch ausgehandelt werden muss. Dieses Ungleichgewicht macht den Landesteil gesamtwirtschaftlich und politisch zum Problemfall, während er für einzelne Investor*innen lohnenswerte Geschäfte bereithält. Sowohl spezifische Eigentumsverhältnisse als auch der korrespondierende Transferkreislauf sind stabile Elemente einer genuin ostdeutschen politischen Ökonomie. Nur in einer sehr weit gefassten zeitlichen Perspektive sind Verschiebungen der regionalen Eigentumsverteilung und damit die Möglichkeit einer „selbsttragenden Entwicklung“ (Steinitz und Troost 2018, S. 30) denkbar.
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8 Zur Politischen Ökonomie Ostdeutschlands
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9
Finanzialisierung in Ostdeutschland Christoph Scheuplein
Zusammenfassung
Die Finanzialisierung als Bedeutungsgewinn der finanzwirtschaftlichen Akteure gegenüber den realwirtschaftlichen Akteuren nimmt in Ostdeutschland einen speziellen Verlauf. Aufgrund der ökonomischen Schwäche zahlreicher ostdeutscher Regionen sind die dortigen öffentlichen und privaten Einnahmequellen leichter für eine Finanzialisierung zugänglich. Der kleinteilige, extern kontrollierte ostdeutsche Unternehmenssektor ist dagegen vor einem Zugriff von Finanzinvestoren stärker geschützt. Wenn Finanzinvestoren Unternehmen in Ostdeutschland übernehmen, dann fließen die dabei erzielten Gewinne überwiegend an regionsexterne Finanzzentren. Bei den Auswirkungen der Finanzialisierung auf die Regionalentwicklung ist demnach zwischen privatem und öffentlichem Sektor zu unterscheiden.
9.1 Einleitung Der finanzwirtschaftliche Sektor hat in den vergangenen dreißig Jahren in der globalen Ökonomie stark an Einfluss gewonnen und verändert auch soziale Beziehungen und politische Machstrukturen (Hudson 2016). Allerdings entwickelt er sich im Rahmen verschiedener ökonomischer Systeme unterschiedlich schnell, wie bereits in vergleichenden Länderstudien gezeigt werden konnte (Hein et al. 2016). Dies gilt in besonderer Weise für Ostdeutschland, das seit 1990 in die koordinierte Marktökonomie
C. Scheuplein (*) Institut Arbeit und Technik, Gelsenkirchen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_9
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112
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Westdeutschlands, in der die Finanzialisierung eher verzögert und selektiv voranschreitet (Deeg 2014), eingebunden ist. Gleichzeitig wurde Ostdeutschland sowohl durch das vorherige sozialistische Wirtschaftssystem als auch durch die anschließende Transformation mit ihrem einseitigen Transfer von westdeutschen Institutionen und Akteuren geprägt (Kollmorgen 2005; Kap. 3). Im Ergebnis handelt es sich um eine stark exogen gesteuerte Wirtschaft (Kap. 8). Ein gutes Beispiel für die Steuerungsbeziehungen ist der Bankensektor, bei dem die westdeutschen Bankstrukturen weitgehend übernommen wurden und dessen Entscheidungszentren regionsextern angesiedelt sind (Caragiuli 1998; Most 2009). Durch den Dependenzcharakter der Ökonomie hat Ostdeutschland einen geringeren Besatz an Großunternehmen, Headquartern und Forschungskapazitäten als Westdeutschland, ein niedrigeres Niveau der privaten Vermögen (Busch 2015) und einen höheren Druck auf die Arbeits- und Sozialverhältnisse (Bundesministerium für Wirtschaft 2018, S. 44 ff.). Daraus ergibt sich die zentrale These dieses Beitrages: Aufgrund der ökonomischen Schwäche Ostdeutschlands sind die dortigen öffentlichen und Privathaushalte leichter für eine Finanzialisierung zugänglich, während der Unternehmenssektor weniger attraktiv für eine Finanzialisierung ist. Im Weiteren wird zunächst das Konzept der Finanzialisierung näher erläutert, und es werden einige Aspekte zur Finanzialisierung in den postsozialistischen Transformationsländern beleuchtet (Abschn. 9.2). Danach wird die Verschuldung der öffentlichen Haushalte und der privaten Haushalte betrachtet (Abschn. 9.3). Schließlich wird die Übernahme von Unternehmen durch Finanzinvestoren thematisiert (Abschn. 9.4).1 Im letzten Abschnitt wird gezeigt, dass die Finanzzentren, von denen aus diese Übernahmen gesteuert werden, außerhalb von Ostdeutschland lokalisiert sind, sodass ein Werttransfer in externe Regionen stattfindet (Abschn. 9.5).
9.2 Finanzialisierung und postsozialistische Transformation Der Bedeutungsgewinn des Finanzsektors in den vergangenen Jahrzehnten wird allgemein anerkannt (Spremann und Gantenbein 2013, S. 69 ff.). Über die Gründe, Folgen und Wirkungsbereiche bestehen jedoch unterschiedliche Ansichten (vgl. Epstein 2005; French et al. 2011). Eine Gruppe von kulturalistischen und soziologischen Interpretationen lenkt den Blick vor allem auf die veränderten gesellschaftlichen Werte und Praktiken, die sie etwa an den Strategien von Managern (Froud et al. 2006) oder am Kreditverhalten von Konsument*innen festmachen (Martin 2002; Langley 2008). Faust und Kädtler (2018) haben für diese Gruppe von Ansätzen und vor allem bezogen auf den Unternehmenssektor den konzeptionellen Vorschlag gemacht, Finanzialisierung als dreifachen Prozess zu sehen. Demnach bedeutet er kontrollrechtlich eine Verschiebung
1Sofern
keine gendergerechte Sprache wie bei „Finanzinvestoren“ angewandt wird, sind vorrangig privatrechtliche Personenvereinigungen gemeint.
9 Finanzialisierung in Ostdeutschland
113
hin zu dem neuen Eigentümertyp der Finanzinvestoren, institutionell die Etablierung neuer Regeln in den Unternehmen zugunsten von aktivistischen Investoren und kognitiv-kulturell die Ausrichtung der Unternehmensführung allein auf die Interessen der Eigentümerseite. Eine zweite Gruppe an Ansätzen betrachtet die polit-ökonomische Verschiebung von Profiten und Einkommen im makroökonomischen System, wobei sich hier vor allem regulationstheoretische (Aglietta 2000) und post-keynesianische Ansätze (Palley 2014; Hein et al. 2015) engagiert haben. Die Finanzialisierung wird dann als Bedeutungsgewinn der finanzwirtschaftlichen Akteure gegenüber den realwirtschaftlichen Akteuren verstanden, wobei diese Verschiebung als temporäre, krisenhafte Lösung aus den Widersprüchen des ökonomischen Prozesses selbst erklärt wird. In diesem Beitrag wird an die zweite Gruppe von polit-ökonomischen Ansätzen angeknüpft und die neuartige Veränderung im ökonomischen System im Anschluss an Fine (2013, S. 55) vor allem im Anwachsen des „fiktiven Kapitals“ gesehen: Eine entwickelte Ökonomie ist essenziell auf ein funktionierendes Währungs- und Kreditsystem angewiesen, und die dort vergebene Kreditsumme bleibt immer in Beziehung zur Realwirtschaft. Erst wenn der Kredit als ein Anspruch auf künftige Zinszahlungen handelbar gemacht wird, tritt eine qualitative Veränderung auf. Es wird „fiktives Kapital“ gebildet, wobei der Wert der gehandelten Eigentumstitel sich von der realen Wertschöpfung ablösen kann. Mit dem fiktiven Kapital entstehen somit neue Möglichkeiten der Spekulation und damit der Bildung ökonomischer Blasen, die sich in großen Finanzkrisen entladen können. Die Entwertung der Subprime-Kredite in der großen Immobilienund Finanzkrise in den Vereinigten Staaten ab dem Jahr 2007 sind ein Beispiel, wie eine Spekulationswelle die realwirtschaftlichen Möglichkeiten zunächst quantitativ und zeitlich gedehnt und diese Grenzen sich schließlich umso drastischer geltend gemacht haben. Aus der Entstehung von fiktivem Kapital als einem systematischen Grundzug entwickelter Ökonomien ist in den vergangenen dreißig Jahren eine quantitativ bedeutsame Entwicklung geworden, die die Beziehungen zwischen real- und finanzwirtschaftlichen Sektoren massiv verändert hat (Hudson 2016). Dabei wurden unterschiedliche Vermögenswerte beliehen und die daraus entstehenden Ansprüche auf Zinszahlungen auf drei Ebenen handelbar gemacht: • Erstens werden die Anleihen z. B. der öffentlichen Körperschaften auf dem Rentenmarkt gehandelt und die Anteile von Unternehmen auf dem Aktienmarkt. • Zweitens werden Kredite für die individuelle Konsumtion oder Investition (z. B. Haus- oder Studienkredite) zu einem Finanzprodukt zusammengefasst und veräußert. • Drittens hat sich ein eigenes Geschäftsfeld des kreditfinanzierten Kaufs und Verkaufs von Unternehmen („Leveraged Buyouts“) durch Finanzinvestoren entwickelt, der sogenannte Private- Equity-Markt.
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C. Scheuplein
Empirisch wird in diesem Beitrag diese letztgenannte Form der Finanzialisierung direkt durch Daten zum Transaktionsmarkt in Ostdeutschland belegt. Die erste und zweite Form, d. h. der Handel mit Ansprüchen auf Zinszahlungen aus der Kreditvergabe an Kommunen und an Privathaushalte, wird dagegen nur indirekt durch Daten zur Verschuldung von Kommunen und Haushalten bzw. durch Angaben zur Privatisierung von kommunalen Einrichtungen erfasst. Die Finanzialisierung hat eine räumliche Dimension, schon weil die finanzialisierbaren Vermögenswerte sich räumlich ungleich verteilen und weil Währungs-, Zins- und Steuerstandorte zu unterscheiden sind, in denen die Verwaltung der Vermögen institutionell unterschiedlich geregelt ist. So haben sich die angesprochenen Formen der Finanzialisierung zuerst in den kapitalmarktbasierten Ökonomien der USA und Großbritanniens entwickelt und sich von hier aus in die koordinierten Marktökonomien wie z. B. Deutschland verbreitet (Deeg 2009). In den späten 1990er-Jahren schienen die kapitalmarktbasierten Ökonomien Innovationen, z. B. im IT-Sektor, schneller finanzieren zu können und damit die Finanzialisierung auch in Deutschland zu erzwingen (Streeck 1997; Höpner 2001). Aufgrund der institutionellen Ausstattung und der sektoralen Wirtschaftsstruktur hat sich die Finanzialisierung in Deutschland entsprechend komplex entwickelt, wurde durch die Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008 unterbrochen und hat seitdem nicht wieder das gleiche Tempo erreicht (Faust und Thamm 2016; Röper 2018). In Ostdeutschland wurden diese widersprüchlichen Prozesse zusätzlich durch die besonderen wirtschaftlichen und finanziellen Strukturen geprägt, die vor und durch die Wiedervereinigung entstanden sind. Allgemein wird für die Transformationsökonomien Osteuropas konstatiert, dass ein großer Teil der Banken in westliches Eigentum überführt wurde. Dies hat die Entwicklung des dortigen Finanzsektors verlangsamt, wobei Elemente der Finanzialisierung in Osteuropa erst schrittweise von diesen extern kontrollierten Banken eingeführt wurden, z. B. die Techniken der Verbriefung von Wertpapieren aus Eigentumsrechten (Gabor 2010). Eine ähnlich dependente Entwicklung des Bankensektors hat die Transformation in Ostdeutschland herbeigeführt (Most 2009; Klagge 2010). Deutlich wird diese Abhängigkeit von regionsexternen Entscheidungen z. B. bei dem stärker ausgedünnten Filialnetz der Banken in Ostdeutschland (Bernhardt und Schwartz 2015, S. 1). Gleichzeitig führte die wirtschaftliche Transformation zu einem finanziell schwächeren Unternehmenssektor in Ostdeutschland. Dies spiegelte sich in einer höheren Rate an Betriebsschließungen, die entgegen vielen Erwartungen im Verlauf der 1990er-Jahre nicht schrittweise sank, sondern mit dem Auslaufen des Fördergebietsgesetzes Ende 1998 ihren Höhepunkt fand. Erst danach verringerte sich der Abstand zu den Firmenschließungen in Westdeutschland auf einen Prozentpunkt (Fackler und Schnabel 2015, S. 144). Diese Differenz schlägt sich jedoch weiterhin bei der Kreditvergabe als Risikoaufschlag nieder, was die Kreditkosten in Ostdeutschland für kleinere und mittlere Unternehmen erhöht (Lehmann et al. 2004). Die beschriebenen Strukturen des Finanzsystems wirken auch auf die Prozesse der Finanzialisierung, die im Folgenden näher betrachtet werden.
9 Finanzialisierung in Ostdeutschland
115
9.3 Kommunale Privatisierung und private Verschuldung Die Wertschöpfung der ostdeutschen Ökonomie hat zwar in den 1990er-Jahren zugelegt, ein deutlicher Abstand zu den westdeutschen Bundesländern besteht jedoch weiterhin. Dies schlägt – auch weil die Headquarter vieler Unternehmen außerhalb von Ostdeutschland angesiedelt sind – auf die Steuereinnahmen der ostdeutschen Gemeinden durch, die bis zum Jahr 2017 erst rund 65 % der Steuerkraft der westdeutschen Gemeinden erreicht haben (Bundesministerium für Wirtschaft 2018, S. 47). Trotz der erheblichen finanziellen Transfers sind die ostdeutschen Gemeinden somit finanziell geschwächt (Eltges und Müller-Kleißler 2010). Aus diesem Grund gingen viele ostdeutsche Städte und Gemeinden etwa seit der Jahrtausendwende dazu über, kommunale Infrastrukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Kap. 29) zu privatisieren. Dies betraf beispielsweise die Wasserversorgung bzw. Abwasserentsorgung (Naumann 2008, S. 53) und die Wohnungswirtschaft (Held 2011, S. 679). Für das Bundesland Brandenburg wurde die materielle Privatisierung, d. h. die tatsächliche Veräußerung öffentlicher Unternehmen an private Dritte, für den Zeitraum von 1999 bis 2005 auf knapp ein Fünftel aller Unternehmen geschätzt (Richter und Edeling 2010, S. 139). Teilweise wurde auch der Weg einer Public-Private-Partnership gewählt, bei der private Investor*innen an dem Betrieb von Infrastrukturen beteiligt wurden (Engartner 2016, S. 203 ff.). Für ostdeutsche Mitglieder von Gemeinderäten hat Krapp (2013, S. 171) gezeigt, dass diese für derartige Geschäftsmodelle aufgeschlossener waren als westdeutsche Ratsmitglieder, worin sich die finanziell engen Spielräume der ostdeutschen Gemeinden ein weiteres Mal abbilden. Einen besonderen Problemkomplex der Privatisierung bildete das sogenannte CrossBorder-Leasing, bei dem Infrastruktureinrichtungen von Kommunen an U S-amerikanische Investor*innen mit dem Ziel einer Steuerersparnis verkauft und anschließend von den Kommunen zurückgeleast wurden. Auch wenn sich an diesen – im Jahr 2004 durch die US-Steuerbehörden beendeten – Aktivitäten überwiegend westdeutsche Kommunen beteiligten, gab es u.a. im Bundesland Sachsen einige herausragende Fälle (Hänsgen und Miggelbrink 2009). Nicht nur durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern auch durch die inzwischen vorhandenen Erfahrungswerte hat sich die „Privatisierungseuphorie“ in den Kommunen seitdem abgemildert. Es haben sich Ansätze einer Rekommunalisierung öffentlicher Einrichtungen etabliert, die sich nicht zufällig an einigen besonders markanten Beispielen in Ostdeutschland – wie etwa dem Verkauf der Dresdener Wohnungswirtschaft an einen Finanzinvestor – entzündet haben (Bauer 2012). Die Privatisierung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge in Ostdeutschland würde sicher noch erheblich stärker ausfallen, wenn die dortigen Kommunen allein auf ihre Wirtschafts- und Steuerkraft angewiesen wären. Vor allem durch die staatlichen Transferzahlungen wird dieser Druck gemildert (Vesper 2015, S. 41). Hilfreich sind auch die Umverteilungen durch die Sozialversicherungen, die die privaten Einkommen und
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somit auch die Spareinlagen der Sparkassen und Kreditgenossenschaften stabilisieren (Gärtner und Flögel 2017, S. 104). Dies trägt u. a. zur Kreditversorgung der öffentlichen Unternehmen in den strukturschwachen Regionen bei. Diese kommunale Schuldensituation in Ostdeutschland findet ihre Entsprechung auf der Seite der privaten Haushalte. Rösel (2016, S. 4) hat mit einem ökonomischen Modell gezeigt, dass die räumlichen Muster der kommunalen und privaten Verschuldung hochgradig korrelieren und dass sie beide auf die Strukturschwäche in Ostdeutschland zurückzuführen sind. Konkret korreliert die Höhe der kommunalen Verschuldung stark mit der Arbeitslosenquote; die Qualität des lokalen Arbeitsmarktes scheint somit sowohl die kommunale wie die private Verschuldung zu erklären (ebd., S. 6). Die privaten Haushalte in Ostdeutschland weisen im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt niedrigere Löhne und Einkommen auf, und das Armutsrisiko fällt entsprechend höher aus (Bundesministerium für Wirtschaft 2018, S. 46 ff.). Diese finanzielle Belastung der privaten Haushalte führt dann direkt zu einer höheren Verschuldung, die meist zur Finanzierung des privaten Konsums aufgenommen wird. Im Privatverschuldungsindex (PVI), der verschiedene kreditrelevante Informationen für die volljährigen Privatpersonen in Deutschland berücksichtigt, sind vier ostdeutsche Bundesländer unter den sechs schlechtesten Rängen platziert (SCHUFA 2018, S. 30). Im Kreisvergleich treten vor allem Landkreise aus Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern mit negativen Merkmalen hervor (ebd., S. 33). Eine höhere Überschuldung privater Haushalte in Ostdeutschland wird im „Schuldenatlas“ dokumentiert (Creditreform 2018). In der jüngsten Zeit seit dem Jahr 2015 lag die Überschuldungsquote etwa 0,4 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland (ebd., S. 24). Im Jahr 2018 zeigte sich hingegen ein positiverer Trend in Ostdeutschland. Dort ging die Zahl der Überschuldungsfälle zurück, während sie im Westen weiter zunahm. Vor allem die Bundesländer Sachsen und Thüringen haben sich seit einigen Jahren gegenüber verschiedenen West-Bundesländern deutlich verbessert, während das Bundesland Berlin weiterhin auf den hintersten Plätzen zu finden ist.
9.4 Unternehmen als Ware Das Geschäftsmodell von Private Equity besteht im Kaufen und Verkaufen von Unternehmen (Cumming 2012). Da die Käufe von Private-Equity-Gesellschaften überwiegend über einen Fonds finanziert werden, in den Investor*innen befristet Kapital einlegen, ist der Wiederverkauf nach einigen Jahren eine Notwendigkeit. Bei diesem Wiederverkauf wird in den meisten Fällen auch der größte Teil des Gewinns erzielt, was die Unternehmen von Anfang an zu einem Spekulationsobjekt der Finanzinvestoren werden lässt. Gleichzeitig können die Eigentumsrechte an den Unternehmen auf dem Sekundärmarkt für Fondsanteile – auf dem erworbene Anteile an neue Eigentümer*innen weitergegeben werden können – als fiktives Kapital weiter zirkulieren. Private-Equity-Gesellschaften haben sich etwa seit dem Jahr 2000 in Deutschland verbreitet (Jowett und Jowett 2011). Nachdem der Markt in der Finanzkrise der
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117
Tab. 9.1 Übernommene Unternehmen, Beschäftigte und Umsatz der Private-Equity-Übernahmen in Deutschland in den Jahren 2014 bis 2017 Unternehmen
Beschäftigte
Umsatz
abs.
in v.H.
in Tau- in v.H. send
Mrd. €
in v.H.
Pro 1 Million Einwohner*innen Unter- Beschäf- Umsatz nehmen tigte (in Mio. €)
Deutschland
920
100
410
100
85
100
11
4995
1035
Westdeutschland
807
88
367
90
77
91
12
5558
1164
Ostdeutschland
113
12
43
10
8
9
7
2688
504
Berlin
39
4
21
5
2
2
11
5854
479
Fünf neue Bundesländer
74
8
22
5
6
7
6
1795
512
Darunter:
(Quelle: Eigene Berechnungen im Rahmen des „Private Equity Monitors“; Scheuplein 2019)
Jahre 2008/2009 eingebrochen war, hat sich das Geschäft auf einem hohen Niveau wieder etabliert (Scheuplein und Teetz 2015). Die hier dargestellten Daten stellen eine Sonderauswertung des Projekts „Private Equity Monitor“ dar, das die Übernahmen von Unternehmen mit dem rechtlichen Hauptsitz in Deutschland durch Private-Equity-Gesellschaften erfasst hat (Scheuplein 2019). Dabei werden nur die Übernahmen erfasst, die etablierte Unternehmen mit einem Mindestalter von sechs Jahren betreffen, die mindestens einen Erwerb von 25 % der Eigentumsanteile beinhalten (meist sind es mehr als 75 %) und die von privaten Finanzinvestor*innen verantwortet werden (unter Ausschluss der öffentlich-rechtlichen Beteiligungsgesellschaften). Es konnten auf diese Weise 920 Übernahmen von Unternehmen im Zeitraum der Jahre 2014 bis 2017 identifiziert werden. Dabei erreichte die Übernahmetätigkeit im Jahr 2017 mit 291 Unternehmen die höchste Zahl, während die Zahl der Beschäftigten in den übernommenen Unternehmen über drei Jahre bei knapp über 100.000 Personen stagnierte, im Jahr 2017 jedoch auf 91.000 Beschäftigte sank. In Tab. 9.1 werden alle Übernahmen getrennt nach ihrem Hauptsitz in Ost- oder Westdeutschland aufgeführt. Demnach waren 113 Übernahmen von Unternehmen in Ostdeutschland zu verzeichnen, d. h., diese Übernahmen machten nur 12 % aller Übernahmen aus. Dabei fielen die Zahl der Beschäftigten (10 %) und der Umsatz (9 %) in den übernommenen Unternehmen noch geringer aus, d. h., es wurden in Ostdeutschland durchschnittlich kleinere Unternehmen verglichen mit den westdeutschen Unternehmen übernommen. Berlin nimmt mit gut
118
C. Scheuplein
einem Drittel aller Übernahmen und knapp der Hälfte aller Beschäftigten unter den ostdeutschen Bundesländern einen besonderen Rang ein. Dies ist sicherlich auch auf die gewachsene Funktion Berlins als Headquarterstandort zurückzuführen. An der zweiten Stelle bei der Anzahl der Übernahmen stand das Bundesland Sachsen mit einem Anteil von 29 % an den Übernahmen. Bezieht man die Übernahmen auf die Bevölkerungszahlen in den Raumeinheiten, dann kann die intensivere Übernahmetätigkeit in Westdeutschland klar belegt werden. Während dort etwa 12 Übernahmen mit rund 5500 Beschäftigen auf eine Million Einwohner*innen entfielen, waren es in Ostdeutschland auf eine Million Einwohner*innen etwa sieben Übernahmen mit 2700 Beschäftigten. Der ostdeutsche Unternehmenssektor ist somit in deutlich geringerem Maße von Übernahmen durch Private-Equity-Gesellschaften betroffen als der westdeutsche Unternehmenssektor. Vermutlich lassen die bekannten Defizite der ostdeutschen Ökonomie – die kleinere Betriebsstruktur, die geringe Forschungsintensität sowie der geringe Besatz mit Industrieunternehmen – die ostdeutschen Unternehmen zu weniger attraktiven Übernahmezielen werden. Der Dependenzcharakter der ostdeutschen Ökonomie wirkt somit als Schutz vor mehr Übernahmen durch Finanzinvestoren. Damit verbreiten sich bekannte Schwierigkeiten bei einer Private-Equity-Übernahme – wie z. B. eine Erhöhung des Verschuldungsgrades und eine erhöhte Insolvenzgefahr – in geringerem Maße im ostdeutschen Unternehmenssektor und erhöhen seine Resilienz im Falle einer künftigen Finanzkrise. An diesem speziellen Verhältnis von Finanzsektor und nichtfinanziellem Unternehmenssektor wird deutlich, dass die fundamentalen Ergebnisse der Transformation in Ostdeutschland zu weiteren und substanziellen Wirkungen führen und vermutlich weiterhin führen werden.
9.5 Wertextraktion und fehlende Finanzzentren Von den in Abschn. 9.4 dargestellten Unternehmensübernahmen profitieren in erster Linie die Vermögensbesitzer*innen, die in die Private-Equity-Fonds investieren. Da Ostdeutschland durch seine schwache Vermögensausstattung in geringerem Maße an diesen Einkommensgelegenheiten teilnehmen kann, wird die Ungleichheit der Vermögenslage durch die Finanzialisierung reproduziert und verstärkt. In zweiter Linie profitieren die Private-Equity-Gesellschaften (über die Fondsgebühren und Gewinnbeteiligungen), die beteiligten Banken und Investmentgesellschaften sowie die beratenden Dienstleister (Wirtschaftsprüfer, Rechts- und Wirtschaftsberater etc.), d. h. die vielfältigen Akteure des Finanzsektors. Ostdeutschland kann hieran kaum partizipieren, da seine beiden bis zum 2. Weltkrieg fungierenden Finanzzentren ihre Bedeutung nicht zurückerhalten haben: Leipzig kann kaum mehr als Finanzzentrum klassifiziert werden, und Berlin hat erst wieder in bescheidenem Maße solche Funktionen wiedererlangt (Scheuplein et al. 2014). Doch wohin fließen Finanzen und Werte bei einer Übernahme ostdeutscher U nternehmen? Diese These einer Wertextraktion von Ostdeutschland in regionsexterne Finanzzentren kann für die 113 Unternehmensübernahmen durch P rivate-Equity-Gesellschaften empirisch überprüft werden, die im Zeitraum 2014 bis 2017 in Ostdeutsch-
9 Finanzialisierung in Ostdeutschland
119
Tab. 9.2 Übernommene Unternehmen, Beschäftigte und Umsatz der Private-Equity-Übernahmen in Ostdeutschland 2014 bis 2017 nach dem rechtlichen Hauptsitz der Private-Equity-Gesellschaften in Prozent (n = 113 Übernahmen) Unternehmen
Übernommene Unternehmen nach … … den Beschäftigten … dem Umsatz
Ausland
44
67
78
Deutschland
56
33
22
21
9
10
Frankfurt am Main
13
13
6
Andere westdeutsche Orte
18
9
4
4
2
2
100
100
100
Darunter: München
Berlin Summe
(Quelle: Eigene Berechnungen im Rahmen des „Private Equity Monitors“; Scheuplein 2019)
land stattgefunden haben (Tab. 9.2). Demnach hatten rund 44 % der beteiligten Private-Equity-Gesellschaften ihren rechtlichen Hauptsitz im Ausland, vorrangig in den USA und in Großbritannien. Die Übernahmen dieser Gesellschaften betrafen insbesondere große Unternehmen, sodass zwei Drittel der Beschäftigten und mehr als drei Viertel des Umsatzes der übernommenen Unternehmen diesen ausländischen Finanzzentren zuzurechnen sind. Dies bestätigt das bekannte Standortbild der Private-EquityBranche, nach dem die größten Deals aus den Finanzzentren New York und London abgewickelt werden (Scheuplein 2013). Da das Fundraising dieser Gesellschaften sich auch im Wesentlichen an die institutionellen Investoren richtet, die in diesen Finanzzentren angesiedelt sind, kann zudem vermutet werden, dass ostdeutsche Vermögensbesitzer in keiner Weise von diesem größten Stück des Übernahmekuchens profitieren. Die in Deutschland angesiedelten Private-Equity-Gesellschaften, die immerhin die Mehrheit aller Übernahmen (56 %) verantworten konnten, haben ihren Hauptsitz wiederum überwiegend in den westdeutschen Finanzzentren. Dabei kommt den beiden Zentren München und Frankfurt am Main eine große Bedeutung zu.2 Das einzige ostdeutsche Finanzzentrum, das an den Übernahmen beteiligt war, ist Berlin. Von dort aus wurden jedoch nur 4 % aller Übernahmen gesteuert, die nur je 2 % der Beschäftigten bzw. des Umsatzes in den übernommenen Unternehmen repräsentierten. Auch auf der Seite der Finanzmarktakteure führt das Private-Equity-Geschäft somit zu einem Export von Werten aus Ostdeutschland in externe Finanzzentren.
2München
ist als Standort für Beteiligungskapital dem bekannten Bankenstandort Frankfurt am Main leicht überlegen, da sich hier historisch früh wichtige Private-Equity-Gesellschaften in der Nähe zu wichtigen Kapitalgebern wie der Versicherungsbranche niedergelassen haben.
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C. Scheuplein
9.6 Fazit Ostdeutschland ist ein „Nachzügler“ der Finanzialisierung in Bezug auf die Invention von Instrumenten und Mechanismen, mit denen Vermögenswerte finanzialisiert werden. Der im Vergleich zu Westdeutschland kleinteiligere ostdeutsche Unternehmenssektor ist stärker davor geschützt, dass die Unternehmen als Handelsgüter auf dem Markt für Unternehmenskontrolle zu Spekulationsobjekten werden. Geschieht dies dennoch, dann sind die Auswirkungen weniger gravierend, da die Unternehmen ohnehin in hohem Grad regionsextern gesteuert werden, d. h., es können nur geringere Kapazitäten für Verwaltung oder Forschung von möglichen Restrukturierungen betroffen sein. Langfristig wird die Regionalentwicklung in Ostdeutschland somit von den Gefahren der Finanzialisierung des Unternehmenssektors weniger tangiert werden, aber auch nicht von den Chancen, z. B. von den Gewinnflüssen, profitieren können. Die einzige Ausnahme stellt hier Berlin dar, dessen Unternehmenssektor sich in den vergangenen zehn Jahren sehr dynamisch entwickelt hat, womit neue Übernahmemöglichkeiten entstehen werden. Zudem hat sich Berlin seit einigen Jahren als Standort für Wagniskapital etabliert (Scheuplein et al. 2014), womit sich auch einige klassische Private-Equity-Gesellschaften in der Stadt niedergelassen haben und es – auf niedrigem Niveau – zu dem einzigen regionalen Zentrum für Beteiligungskapital in Ostdeutschland haben werden lassen. Die prekäre wirtschaftliche und finanzielle Ausstattung Ostdeutschlands zwingt dagegen einen höheren Teil von Kommunen und Haushalten als in Westdeutschland, sich den Mechanismen der Finanzialisierung zu öffnen. Insbesondere die Städte und Gemeinden könnten sich im Zuge einer neuen konjunkturellen Krise in stärkerem Maße zu einer „kreativen“ Verleihung oder Veräußerung von öffentlichem Eigentum an Akteure des Finanzmarktes gezwungen sehen.
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Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland. Fiskalische Herausforderungen für Mittelzentren durch den demographischen Wandel und eine ländlich-periphere Lage
10
Frauke Richter und Daniel Schiller
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die spezifischen fiskalischen Herausforderungen ostdeutscher Mittelzentren bei der Erbringung zentralörtlicher Leistungen heraus. Besondere Herausforderungen ergeben sich durch den demographischen Wandel, die ökonomische Transformation und die ländlich-periphere Lage. Konzeptionell beruht der Beitrag auf der Debatte um finanzielle Asymmetrien in Zentrum-Peripherie-Strukturen. Diese werden anhand ausgewählter Beispiele empirisch illustriert. Der kommunale Finanzausgleich ist für die Finanzausstattung ostdeutscher Kommunen von besonderer Bedeutung. Daher diskutiert der Beitrag abschließend Handlungsoptionen zur Berücksichtigung zentralörtlicher Aufgaben bei der Bestimmung kommunaler Finanzbedarfe.
10.1 Mittelzentren und ihr Beitrag zur Daseinsvorsorge Das Zentrale-Orte–Konzept gilt als raumordnerisches Schlüsselinstrument zur Sicherung der Daseinsvorsorge. Die Ministerkonferenz für Raumordnung (2016) stellt in der Entschließung von 2016 die Bedeutung von Zentralen Orten für infrastrukturelle Standortentscheidungen insbesondere in demographisch schrumpfenden Regionen heraus.
F. Richter (*) · D. Schiller Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Schiller E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_10
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F. Richter und D. Schiller
Besonders Mittelzentren inklusive ihrer Verflechtungsbereiche bieten „eine geeignete und für die Akteure überschaubare räumliche Kulisse, um die Angebote der Daseinsvorsorge, die über die Grundversorgung hinausgehen, flächendeckend zu gewährleisten“ (Ministerkonferenz für Raumordnung 2016, S. 5). Ebenso hebt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2018, S. 67) im Jahresbericht zur deutschen Einheit hervor, dass das Zentrale-Orte-Konzept ein wichtiger Baustein für die Daseinsvorsorge ist: „Mittelzentren sollen in dünn besiedelten Gebieten als ‚stabilisierende Anker‘ fungieren“ (ebd.). Daseinsvorsorge ist die Voraussetzung für die Schaffung von gleichwertigen Lebensverhältnissen im gesamten Bundesgebiet. Laut der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (2016, S. 15 f.) gehen gleichwertige Lebensverhältnisse mit einer Mindestausstattung an Infrastrukturen zur Daseinsvorsorge einher. Eine flächendeckende Daseinsvorsorge hat nach Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes in Deutschland Verfassungsrang. Das Raumordnungsgesetz legt die Schaffung von gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen als Aufgabe und Leitvorstellung der Raumordnung fest (§ 1 Abs. 2 ROG). Die Entfernung zu Infrastrukturen der Daseinsvorsorge variiert nach strukturräumlichen Unterschieden. Genaue Festlegungen zu Mindeststandards oder maximalen Entfernungen zu Zentralen Orten macht das Raumordnungsgesetz jedoch nicht. Je nach landesspezifischen Vorgaben und den räumlichen Gegebenheiten sind die Zentren unterschiedlich einwohnerstark. Konkretere Festlegungen finden sich in den Entwicklungsplänen beziehungsweise Raumordnungsprogrammen der Länder. Bei konkurrierender Nutzung von Flächen sind die jeweiligen Landespläne gegenüber dem rahmengebenden Raumordnungsgesetz für die gesamte Bundesrepublik im Vorrecht (Art. 74 GG). Zur Finanzierung von Leistungen zur Daseinsvorsorge gibt es bisher relativ wenig Forschung auf kommunaler Ebene. Die Kommune ist jedoch der zentrale Akteur. Städte und Gemeinden haben in Deutschland ein großes Aufgabenspektrum zu erfüllen. Dazu gehören neben Pflichtaufgaben (wie z. B. Brandschutz) auch freiwillige Aufgaben (wie z. B. Sport- und Erholungseinrichtungen), die der Kommunalpolitik und -verwaltung die Möglichkeit geben, ihren Ort über das Pflichtmaß hinaus mit öffentlichen Leistungen auszustatten. Zentrale Orte stellen diese Leistungen zusätzlich zu den Einwohner*innen ihrer Kommune auch für ihr Umland bereit. Um die Gestaltungsmöglichkeiten und damit die kommunale Selbstverwaltung gewährleisten zu können, ist eine ausreichende Finanzausstattung notwendig. Vor diesem Hintergrund ist es Ziel des Beitrags, die fiskalischen Herausforderungen für ostdeutsche Mittelzentren bei der Erbringung zentralörtlicher Leistungen darzustellen. Dafür wird zunächst die spezifische Situation in Ostdeutschland erläutert und die besondere Bedeutung der Mittelzentren für die Daseinsvorsorge in Ostdeutschland hergeleitet. Es folgt eine Darstellung der besonderen Finanzbedarfe der Mittelzentren. Darauffolgend wird herausgearbeitet, wie finanzielle Asymmetrien durch Zentrum-Peripherie-Strukturen entstehen. Abschließend wird die besondere Bedeutung des kommunalen Finanzausgleichs als fiskalisches Steuerungsinstrument für ostdeutsche Mittelzentren aufgezeigt und die Frage diskutiert, inwiefern die Mittelzentren zukünftig bei der Finanzverteilung besser berücksichtigt werden können.
10 Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland
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10.2 Ursachen der besonderen Finanzbedarfe in Ostdeutschland In der Einnahmestruktur der ost- und westdeutschen kommunalen Haushalte gibt es große Unterschiede. In Ostdeutschland ist eine deutlich größere Abhängigkeit vom kommunalen Finanzausgleich festzustellen, da im Durchschnitt weniger Steuern und Gebühren erwirtschaftet werden. Während die Zuweisungen vom Land in den Flächenländern Westdeutschlands im Durchschnitt 36 % der kommunalen Einnahmen ausmachen, sind es beispielsweise im Freistaat Sachsen 49 % (Sächsisches Staatministerium der Finanzen 2017, S. 11 f.). Die Disparitäten zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern lassen sich auf verschiedene Ursachen zurückführen. Für die Einnahme- und Ausgabestrukturen sind unter anderem demographische und raumstrukturelle Herausforderungen entscheidend. Diese Aspekte werden im Folgenden kurz vorgestellt.
10.2.1 Demographische Herausforderungen in Ostdeutschland In den ostdeutschen Bundesländern sind Prozesse der Alterung und Abwanderung in ihrer Gesamtheit deutlich stärker ausgeprägt als in den westdeutschen Bundesländern. Durch den beschleunigten demographischen Wandel seit der Wiedervereinigung werden sowohl die Einnahme- als auch die Ausgabeseite der kommunalen Haushalte beeinflusst. Die ostdeutschen Bundesländer haben seit der Wiedervereinigung viele Einwohner*innen verloren, vor allem jüngere, erwerbstätige Bevölkerung. Bis 2012 gab es teilweise einen stark negativen Wanderungssaldo. Seit 2012 verzeichnet Ostdeutschland jedoch insgesamt wieder leichte Wanderungsgewinne, vor allem getrieben durch die internationale Migration (Kap. 16, 18). Die Sterberate übersteigt aber weiterhin deutlich die Geburtenrate. Zudem profitieren nur wenige Kommunen von der Zuwanderung. Einige Großstädte wie Dresden, Leipzig und Erfurt verzeichnen stark steigende Bevölkerungszahlen. Dabei handelt es sich vor allem um Bildungs- und Berufswanderer*innen (Slupina et al. 2016, S. 7). Auch einige Mittelzentren sind Gewinner von Migrationsprozessen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung identifiziert sogenannte „Ruhestandsund Empty-Nest-Wanderer“ als wichtige Zuwanderungsgruppe für mittelgroße Städte. Personen, deren Kinder erwachsen sind, und diejenigen, die sich kurz vor oder bereits im Ruhestand befinden, bevorzugen oftmals Städte mit guter Versorgungsinfrastruktur in der Nähe ihres ehemaligen Wohnumfeldes als Wanderungsziel. Die ländlich-peripheren Regionen profitieren hingegen weiterhin wenig von Zuwanderung (ebd.; Kap. 30).
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10.2.2 Ländliche Räume in Ostdeutschland Die beschriebenen demographischen Prozesse im Zusammenhang mit einer schwächeren wirtschaftlichen Entwicklung führen zu einer insgesamt ländlicheren Prägung Ostdeutschlands im Vergleich zu Westdeutschland. Bis auf wenige städtische Ballungsräume werden alle ostdeutschen Regionen vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) als „ländlich“ eingestuft (vgl. Abb. 10.1). Die ökonomische Transformation nach der Wiedervereinigung führte vielfach zu einem Rückgang des Arbeitsplatzangebots in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands (Niebuhr 2019, S. 31 ff.). Wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, führte dies zu einer massiven Abwanderung. Insbesondere in den ländlichen Räumen sowie in den kleinen und mittleren Städten gab es kaum noch Arbeitsplätze. Küpper und Peters (2019, S. 18 ff.) stellen heraus, dass die ländlichen Räume besonders von einer Zunahme der Arbeitslosenquote betroffen sind. Die regionalen Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland haben diesbezüglich zwischen 2001 und 2015 zugenommen (ebd.). Für die Mittelzentren in ländlichen Räumen bedeutet das einen starken Verlust an Wirtschaftsund Steuerkraft mit einhergehendem Bevölkerungsrückgang. Somit ist in diesen Mittelzentren eine stärkere finanzielle Belastung insbesondere durch zentralörtliche Funktionen zu erwarten. Die Anzahl und die räumliche Verteilung der Ober- und Mittelzentren sind in den einzelnen Bundesländern Ostdeutschlands sehr unterschiedlich. In M ecklenburg-Vorpommern gibt es insgesamt 23 Zentrale Orte. Die 18 Mittelzentren sind recht homogen über das Gebiet des Bundeslandes verteilt. In Brandenburg hingegen befinden sich viele der 34 Mittelzentren und acht der mittelzentralen Verbünde im direkten Umland von Berlin. In Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen konzentrieren sich ebenfalls viele Mittelzentren in der Nähe der Oberzentren beziehungsweise der urbanen Gebiete. Aus der Vielzahl an Effekten aus wirtschaftlicher Transformation und demographischen Veränderungen resultiert ein höheres Ausmaß an Steuerschwäche in Ostdeutschland. Im deutschlandweiten Vergleich ist die kommunale Steuerkraft Ostdeutschlands insbesondere bei der Einkommens- und Gewerbesteuer unterdurchschnittlich (Küpper und Peters 2019, S. 79 ff.). In Verbindung mit der ländlichen Struktur führt dies zu einer stärkeren Abhängigkeit von staatlichen Transfersystemen wie dem kommunalen Finanzausgleich (Vesper 2015, S. 16 f.; vgl. auch Kap. 8). Darüber hinaus steigen durch die ländliche Prägung die Anforderungen an die Versorgungsleistung durch Mittelzentren. Je geringer die Bevölkerungsdichte in einer Region ist, desto länger werden die Wege zum nächsten Zentralen Ort. Mittelzentren haben in ländlichen Regionen daher flächenmäßig ein größeres Umland und einen größeren Verflechtungsbereich zu versorgen als in städtischen Regionen.
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Abb. 10.1 Ober- und Mittelzentren in Ostdeutschland nach strukturräumlicher Lage. (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2015, 2018)
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10.3 Fiskalische Asymmetrie in Zentrum-Peripherie-Strukturen Viele wirtschaftsgeographische Theorien beschäftigen sich mit Polarisationsprozessen (vgl. z. B. Liefner und Schätzl 2017, S. 90 ff.). Dabei bleibt die fiskalische Perspektive meist unberücksichtigt. Die Effekte, die in Polarisationstheorien beschrieben werden, haben jedoch einen direkten oder indirekten Einfluss auf den kommunalen Haushalt. Bei der Betrachtung der aus Zentrum-Peripherie-Strukturen resultierenden fiskalischen Effekte spielen die Einwohner*innen eine wichtige Rolle. Der kommunale Haushalt füllt sich direkt oder indirekt durch Abgaben in Form von Steuern, Gebühren und Beiträgen. Im Gegenzug muss die Kommune mit diesen Geldern Leistungen erbringen. Die Einwohner*innen einer Kommune nehmen dabei verschiedene Rollen ein. Als Bewohner*innen zahlen sie Gebühren an die Kommune beispielsweise für die Instandhaltung der Straßeninfrastruktur vor ihrer Haustür, und Steueranteile (z. B. Grundsteuern) fließen direkt an die jeweilige Kommune. Befindet sich der Arbeitsplatz der Einwohner*innen im Ort, leisten sie einen Beitrag zur regionalen Wertschöpfung; über den Arbeitgeber fließt in Abhängigkeit von den Erträgen des Unternehmens Gewerbesteuer in den öffentlichen Haushalt. Auf der anderen Seite fragen die Einwohner*innen öffentliche Güter und Dienstleistungen nach. Teilweise sind für diese ebenfalls nutzungsspezifische Gebühren und Abgaben fällig, z. B. der Eintritt in ein Schwimmbad. Teilweise werden diese über die Steuereinnahmen des kommunalen Haushalts finanziert. Dabei handelt es sich zu einem großen Teil um Leistungen der Daseinsvorsorge und nicht zuletzt um zentralörtliche Aufgaben, welche im Folgenden im Fokus stehen. Als zentralörtliche Leistungen werden all jene öffentlichen Leistungen und Infrastrukturen definiert, die primär in Zentralen Orten vorgehalten werden und deren Nutzung neben der eigenen Bevölkerung auch durch die Einwohner*innen des Umlandes, also externe Nutzer*innen erfolgt. Für eine optimale Allokation von ökonomisch tragfähigen, öffentlichen Gütern sollte fiskalische Äquivalenz bestehen, das heißt, die Zahl der Nutzer*innen und Zahler*innen sollte übereinstimmen. Die Zahler*innen sind in diesem Fall die steuerzahlenden Einwohner*innen der Kommune, die die Leistung bereitstellt. Nutzer*innen sind alle diejenigen, die Leistung in Anspruch nehmen. Diese entrichten gegebenenfalls am Ort der Bereitstellung keine Steuern. Werden Steuern direkt in einer Kommune von den eigenen Einwohnern*innen erhoben und vor Ort investiert, spricht man von örtlicher Radizierbarkeit. Dies ist zum Beispiel bei den Grundsteuern der Fall. Zur Sicherstellung der örtlichen Radizierbarkeit müssten die Grenzen der Zentralen Orte alle Nutzer der öffentlichen Leistungen umfassen. Die tatsächliche Kostenverursachung lässt sich jedoch nicht an administrativen Grenzen festmachen. Zudem variiert der Versorgungsraum nach Art der Leistung, wodurch eine genaue räumliche Abgrenzung unmöglich wird. Administrative Grenzen dienen zur Ermittlung der Finanzbedarfe. Folglich muss immer mit dem Auftreten externer Effekte durch Nutzer aus umliegenden Kommunen gerechnet werden. Im hierarchischen System der Zentralen Orte ist dies sogar explizit angelegt.
10 Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland
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Ein fiskalisches Ungleichgewicht entsteht folglich, wenn der/die Einwohner*in in seiner/ihrer Kommune nicht wie beschrieben Bewohner*in, Arbeitskraft und Nachfrager*in in einem ist. Viele Kommunen, besonders in peripheren Gebieten, sind zu sogenannten Schlafstädten geworden, die Einwohner*innen arbeiten also außerhalb der Jurisdiktion und fragen meist auch in anderen Orten Güter nach, das heißt, den Kommunen fehlen Steuereinnahmen. Für die Kommune, in der konsumiert wird, ergibt sich mehr Nachfrage von Personen, die außerhalb der Stadt- bzw. Gemeindegrenzen wohnen. Für Güter, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien gehandelt werden, ergeben sich durch diese externe Nachfrage Skaleneffekte. Öffentliche Leistungen hingegen werden von Personen nachgefragt, die in der bereitstellenden Kommune keine Abgaben leisten. Ein Ziel der Bedarfsbestimmung der Kommune muss deshalb eine Annäherung an eine Internalisierung oder Neutralisierung externer Effekte sein. Dies könnte zum Beispiel durch eine Berücksichtigung der externen Nutzer*innen bei der Bedarfsbestimmung im Finanzausgleich erfolgen (Hardt und Schiller 2006, S. 12). Eine solche fiskalische Asymmetrie kann durch vielfältige Mobilitätsprozesse entstehen. Häufig kommt es durch Stadt-Umland-Wanderungen dazu, dass Steuerzahler*innen aus dem Zentrum in eine Umlandgemeinde ziehen. Durch die bestehenden Verflechtungen und das bessere Angebot im Zentrum nehmen sie weiterhin öffentliche Leistungen dort wahr. Das Zentrum muss also den gleichen Umfang an zentralörtlichen Leistungen bereitstellen, erhält aber weniger Steuereinnahmen und Gebühren von Einwohner*innen. Bei gebührenfreien bzw. nichtkostendeckend bereitgestellten Leistungen entstehen finanzielle Mehrbedarfe des Zentrums. Kommunen in der Nachbarschaft können zu sogenannten Trittbrettfahrern werden (Free-Riding-Problem) (Werck et al. 2008, S. 37 ff.). Eine der wichtigsten Einnahmequellen für Kommunen sind die Gewerbesteuern. Während die beschriebenen einwohnerbasierten Einnahmen und Ausgaben der Kommune direkt vom demographischen Wandel betroffen sind, hängen die Gewerbesteuern vorwiegend mit der Strukturschwäche in Ostdeutschland zusammen. Durch die ökonomische Transformation und die ländliche Prägung der ostdeutschen Bundesländer ist der Anteil der Gewerbesteuern an den Gesamtsteuern jedoch besonders gering. Wie im aktuellen kommunalen Finanzreport der Bertelsmann Stiftung (2019, S. 10 ff.) dargestellt, liegen 90 % der steuerschwächsten Kreise in den ostdeutschen Bundesländern. Sind Regionen erst einmal von Prozessen wie einer Abwanderung betroffen, kommt es häufig zu einer zirkulären Verstärkung der kumulierten Effekte (Mäding 2006, S. 346). Die fehlende Bevölkerung verursacht Leerstände, die dann zu einer Attraktivitätsminderung der Stadt führen, wodurch wenig Zuzug und damit eine weitere Abnahme der Bevölkerungszahl zu erwarten ist. Die vorwiegend einwohnerbasierten Einnahmen der Stadt sinken, wodurch ein Gegensteuern zunehmend schwierig wird. Aus den Polarisationstheorien und der New Economic Geography lässt sich ableiten, dass durch die beschriebenen Wanderungen, vor allem von Arbeitskräften, aber auch von Kapital, eine zumindest mittelfristig persistente Zentrum-Peripherie-Struktur entsteht. Wie bereits von Myrdal (1959, S. 21) beschrieben, sind diese Auswirkungen negativ für die Region, die verlassen wird, und positiv für die Zielregion. Prosperierende
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Zentren können mehr öffentliche Güter zur Verfügung stellen und locken so mehr Bewohner*innen beziehungsweise Nutzer*innen an. Bei sehr starker Konzentration wirken allerdings langfristig auch wieder zentrifugale Kräfte, die Unternehmen und letztendlich wieder Einwohner*innen in die Peripherie treiben (Andrew und Feiock 2010, S. 495). In der Mehrzahl der ländlich geprägten Räume Ostdeutschlands ist jedoch nicht von großflächig wirksamen zentrifugalen Kräften auszugehen. Daher basiert das Modell in Abb. 10.2 auf der Annahme einer mittelfristigen Persistenz der Zentrum-Peripherie-Struktur. Die Persistenz von regionalen Disparitäten wird auch in einer Studie der OECD empirisch nachgewiesen (Blöchliger und Charbit 2008). Auf der Ausgabenseite kommen vor allem resultierende Effekte durch die Altersstrukturveränderung zum Tragen. Mäding (2006) weist darauf hin, dass nicht allein die Bevölkerungsabnahme die Finanzkraft der Kommune schmälert, sondern auch die Abnahme der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.
Abb. 10.2 Modellhafte Darstellung der Finanzbedarfe in Zentrum und Peripherie. (Quelle: Eigene Darstellung)
10 Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland
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Ausgehend von den theoretischen Überlegungen ergeben sich unterschiedliche Einnahme- und Ausgabepotenziale von Kommunen je nach ihrer Lage im Raum. Die modellhafte Darstellung in Abb. 10.2 verdeutlicht die beschriebenen möglichen fiskalischen Asymmetrien zwischen Kommunen mit zentralörtlicher Einstufung und deren Umland. Es zeigt sich vor allem für Mittelzentren eine Diskrepanz zwischen Einnahmepotenzial und Versorgungsleistung. Ausgehend von der Annahme, dass Zentren durch die Bereitstellung von öffentlicher Infrastruktur eine Versorgungsleistung für die Peripherie, also für ihr Umland, übernehmen, lässt sich vermuten: Je peripherer das Umland ist, desto größer ist die Versorgungsleistung des nächstgelegenen Zentrums im Vergleich zur eigenen Einwohnerzahl. Das Umland von wirtschaftlich leistungsstarken Zentren hat dabei hohe Steuereinnahmen bei relativ niedrigen Ausgaben für zentralörtliche Leistungen. Bezogen auf Mittelzentren (außerhalb von Agglomerationsräumen) ist eine besonders hohe Versorgungsleistung für externe Nutzer zu erwarten. Insbesondere Mittelzentren im strukturschwachen Raum, ohne Oberzentrum in der näheren Umgebung, nehmen auch höherrangige zentralörtliche Aufgaben wahr. Diese Mittelzentren haben insgesamt die höchste Diskrepanz zwischen Einnahmepotenzial und Finanzbedarf für zentralörtliche Aufgaben. Die Auswirkungen der fiskalischen Asymmetrie können empirisch am Beispiel der Freistaaten Sachsen und Thüringen gezeigt werden (Schiller und Cordes 2016; Schiller et al. 2017). In beiden Untersuchungen wurden die nichtzweckgebundenen allgemeinen Deckungsmittel der Kommunen (insbesondere Steuern und Zuweisungen vom Land abzüglich der Kreisumlage) mit den durch diese Mittel zu deckenden aufgabenspezifischen Zuschussbedarfen verglichen. Bei der Differenzierung nach zentralörtlichen Einstufungen weisen die Mittelzentren jeweils die niedrigsten Deckungsquoten auf (vgl. Tab. 10.1). Während die Mittelzentren im Vergleich mit allen kreisangehörigen Gemeinden nur durchschnittlich hohe allgemeine Deckungsmittel erzielen, sind ihre Zuschussbedarfe, insbesondere getrieben durch zentralörtliche Aufgaben, überdurchschnittlich hoch.
10.4 Demographische Struktur und Dynamik in Zentralen Orten und ihren Verflechtungsbereichen Innerhalb der Mittelzentren gibt es lagebedingte Unterschiede in der demographischen Ausgangsposition. Mittelzentren in ländlich-peripherer Lage sind häufig kleiner als in städtisch geprägten Gebieten. Im Verhältnis zur eigenen Einwohnerzahl versorgen ländliche Mittelzentren daher mehr externe Nutzer*innen in ihrem Verflechtungsbereich als größere Städte in zentraler Lage. Die beschriebene Problematik der externen Nutzer*innen wird bei einem Vergleich der Einwohner*innen in den Zentren und deren Verflechtungsbereichen sichtbar. Am Beispiel der Mittelzentren in Ostdeutschland lässt sich diese Abhängigkeit von der Lage sehr deutlich zeigen. Während die Ein-
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Tab. 10.1 Deckungsquoten der kreisangehörigen Gemeinden in Sachsen und Thüringen nach zentralörtlicher Einstufung (Index kreisangehörige Gemeinden = 100) Sachsen (2010–2013)
Oberzentren
Mittelzentren
Grundzentren
Keine zentralörtliche Einstufung
Allgemeine Deckungsmittel
134
100
86
76
Zuschussbedarfe insgesamt
124
103
87
78
Deckungsquote
103
98
99
98
Thüringen (2012–2014)
Mittelzentren mit Mittelzentren oberzentralen Teilfunktionen
Keine Einstufung als Mittel- oder Oberzentrum
Allgemeine Deckungsmittel
111
104
85
Zuschussbedarfe insgesamt
114
110
82
Deckungsquote
97
95
104
(Quelle: Eigene Darstellung nach Schiller und Cordes 2016 sowie Schiller et al. 2017)
wohner*innen im Verflechtungsbereich bei den Mittelzentren in sehr zentraler Lage weniger als 30 % der eigenen Einwohner*innen ausmachen, sind es in peripheren Lagen bereits knapp 110 % und in sehr peripheren Lagen mehr als 130 % (vgl. Tab. 10.2). Der Anteil der zu versorgenden Einwohner*innen im Verflechtungsbereich übersteigt in peripher gelegenen Mittelzentren die eigene Einwohnerzahl um mehr als das Doppelte.
Tab. 10.2 Einwohnerzahlen in den Mittelzentren und Verflechtungsbereichen Ostdeutschlands nach Lagetypen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung BBSR-Lagetyp
Entwicklung der Einwohnerzahl 2011 bis 2016 Zentrale Orte (%) Verflechtungsbereiche (%)
Einwohner*innen im Verflechtungsbereich in Prozent des Zentralen Ortes 2016 (%)
Sehr zentrale Lage
7,1
2,3
26
Zentrale Lage
2,0
0,9
73
Periphere Lage
−0,2
−1,9
108
Sehr periphere Lage Insgesamt
−1,7
2,2
−2,4
−0,8
131 77
(Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2015 und regionalstatistik.de; eigene Darstellung)
10 Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland
133
Das ungünstigere Verhältnis zwischen eigenen Einwohner*innen und Einwohner*innen im Verflechtungsbereich in peripher gelegenen Mittelzentren wird durch die demographische Entwicklung zusätzlich verschärft. In Tab. 10.2 ist dargestellt, wie sich die Einwohnerzahl in den Zentralen Orten selbst und in den ihnen durch die Raumplanung zugeordneten Verflechtungsbereichen zwischen 2011 und 2016 entwickelt hat. Die unterschiedliche Entwicklungsdynamik hat zwei Konsequenzen für die kommunalen Haushalte. Zum einen führt die Schrumpfung der peripher gelegenen Mittelzentren in Ostdeutschland dazu, dass Remanenzkosten auftreten können. Damit sind zusätzliche Kosten gemeint, die entstehen, wenn öffentliche Infrastrukturen nicht proportional zum Rückgang der Einwohnerzahl abgebaut werden können. Dies ist häufig dann der Fall, wenn hohe Fixkosten (z. B. bei leitungsgebundener Infrastruktur) oder sprungfixe Kostenverläufe vorherrschen (z. B. bei öffentlichen Gebäuden, deren Unterhaltskosten nicht flexibel an die jeweilige Zahl der Nutzer*innen angepasst werden, sondern nur komplett zurückgebaut werden können, wenn keine Nutzung mehr stattfindet). Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine mit dem demographischen Wandel einhergehende Verschiebung der Altersstruktur auch positive Auswirkungen auf die kommunalen Haushalte mit sich bringen kann. Seitz et al. (2007) haben anhand sogenannter Altersstrukturkosten gezeigt, dass insbesondere eine junge Bevölkerung für die kommunalen Haushalte hohe Kosten verursacht (z. B. durch Kindertagesstätten, Schulen sowie die Kinder- und Jugendhilfe), während die spezifischen Kosten für ältere Menschen im Bereich Gesundheit, Pflege und Rente auf Ebene des Bundes oder in den Sozialversicherungssystemen anfallen. Zum anderen haben schrumpfende Einwohnerzahlen einer Kommune Auswirkungen auf die Zuweisungen im kommunalen Finanzausgleich. Bei der Mittelverteilung wird der Finanzbedarf ganz wesentlich durch die Einwohnerzahl der Kommune bestimmt, die in einigen Finanzausgleichssystemen sogar mit steigender Gemeindegröße zunehmend höher gewichtet wird. Dadurch geht der Einwohnerverlust mit einem Rückgang der Zuweisungen vom Land einher. Eine besonders problematische Situation ergibt sich, wenn die Einwohnerzahl der Kommune sich schlechter oder kaum besser entwickelt als die Einwohnerzahl im jeweiligen Verflechtungsbereich. In diesem Fall sinkt die Zahl der Nutzer zentralörtlicher Leistungen ggf. langsamer als die für die Bestimmung des Finanzbedarfs herangezogene Bevölkerungszahl. Dies führt zu einer weiteren Verstärkung der oben beschriebenen fiskalischen Asymmetrie.
10.5 Handlungsoptionen und Forschungsbedarf Aus den in diesem Beitrag beschriebenen konzeptionellen Zugängen und empirischen Ergebnissen zu den Finanzbedarfen von Mittelzentren lassen sich Handlungsoptionen für die Politik ableiten, die jedoch durch vertiefende Forschung weiter substantiiert werden sollten.
134
F. Richter und D. Schiller
Eine wesentliche Stellschraube für die Finanzierung zentralörtlicher Leistungen ist der kommunale Finanzausgleich. Hier stellt sich die Frage, wie zentralörtliche Leistungen bei der Bedarfsbestimmung berücksichtigt werden können. Eine Finanzierung in Form von Umlagen der Gemeinden im Verflechtungsbereich an den zugeordneten Zentralen Ort entsprechend der Kreisumlage hat sich als nicht praktikabel und in hohem Maße konfliktträchtig erwiesen. Die empirische Ermittlung der Intensität der Verflechtungen ist kaum verlässlich möglich, und entsprechende Ansätze in der Praxis wurden durch Landesverfassungsgerichte verworfen (zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern). Stattdessen nutzen einige Bundesländer das zentralörtliche System für die Bedarfsbestimmung insofern, als dass Zentrale Orte entsprechend ihrer Einstufung explizit einen bestimmten Festbetrag zusätzlich zu den Schlüsselzuweisungen im Rahmen eines Sonderlastenausgleichs erhalten (z. B. Schleswig-Holstein und M ecklenburg-Vorpommern) (Schiller et al. 2017). Dabei wird in Mecklenburg-Vorpommern neben der Einstufung auch die Einwohnerzahl des Verflechtungsbereichs berücksichtigt, in Schleswig-Holstein hingegen nicht. In der Mehrzahl der Bundesländer werden zentralörtliche Leistungen jedoch nur indirekt im Rahmen des Hauptansatzes bei der Bedarfsbestimmung berücksichtigt (z. B. Thüringen, Sachsen). Hier wird die Einwohnerzahl der Kommune in Abhängigkeit von der Gemeindegröße höher gewichtet. Diese Ansätze haben im Ergebnis oft eine ähnliche Wirkung wie Zentrale-Orte-Ansätze, da die Einwohnerzahl stark mit der zentralörtlichen Einstufung korreliert. Allerdings werden durch dieses Vorgehen kleinere Zentrale Orte mit größeren Verflechtungsbereichen gegenüber anderen zentralen Orten der gleichen Stufe schlechter gestellt. Vor dieser Problematik stehen besonders die beschriebenen Mittelzentren in ländlich-peripheren Räumen. Probleme ergeben sich auch, wenn die Einwohnerzahlen im Zentralen Ort und im Verflechtungsbereich unterschiedliche Dynamiken aufweisen. Die Ergebnisse zur demographischen Entwicklung in diesem Beitrag haben gezeigt, dass dadurch ebenfalls Mittelzentren in peripherer Lage benachteiligt werden. Für zukünftige Anpassungen des kommunalen Finanzausgleichs wäre daher zu prüfen, ob eine Berücksichtigung der zentralörtlichen Einstufungen und insbesondere auch der Einwohnerzahl des Verflechtungsbereichs in weiteren Bundesländern umgesetzt werden kann. Dadurch könnte ein Beitrag zur Stabilisierung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge insbesondere in ländlich-peripheren Regionen geleistet werden. Bei diesen Überlegungen ist aber auch zu berücksichtigen, dass es einige wesentliche Nachteile eines solchen Vorgehens gibt. Die zentralörtlichen Systeme der Bundesländer sind in unterschiedlicher Form geeignet, um für die Finanzverteilung genutzt zu werden. Häufig lagen ihrer Entwicklung andere Kriterien zugrunde. Die Verknüpfung mit dem Finanzausgleich wird darüber hinaus Auseinandersetzungen um die Anpassung des zentralörtlichen Systems in der Zukunft deutlich erschweren. Insgesamt machen zentralörtliche Kriterien den Finanzausgleich komplizierter und konfliktträchtiger als der Rückgriff auf die Einwohner*innenzahl.
10 Finanzbedarfe der Mittelzentren in Ostdeutschland
135
Vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag erfolgten Analyse stellt sich die Frage, ob es nicht einer grundsätzlicheren Anpassung der Finanzierung der Daseinsvorsorge bedarf, die in besonders betroffenen ländlich-peripheren Regionen zusätzliche finanzielle Mittel für die kommunalen Haushalte bereitstellt. Im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020 gewinnt die beim Finanzkraftausgleich einzubeziehende kommunale Finanzkraft an Bedeutung. Sie wird künftig mit 75 % statt 64 % berücksichtigt. Dies wirkt sich vor allem auf die ostdeutschen Bundesländer mit ihren finanzschwachen Kommunen positiv aus. Wenn nun allerdings die Zuweisungen des Bundes an die Länder in stärkerem Maße von der kommunalen Finanzschwäche beeinflusst werden, könnte daraus das Argument abgeleitet werden, diese Mittel im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs auch verstärkt an die finanzschwächsten Kommunen weiterzugeben. Dies wäre ein Ansatzpunkt für eine Stärkung der Finanzausstattung in den Mittelzentren des ländlichen-peripheren Raumes. Darüber hinaus wird die gesamtstaatliche Verantwortung für die Daseinsvorsorge auch in der politischen Debatte zunehmend eine Rolle spielen. So wurde im Zusammenhang mit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eine Gemeinschaftsaufgabe „Daseinsvorsorge“ in die Debatte eingebracht, mit der den in diesem Beitrag angesprochenen Herausforderungen begegnet werden könnte. Zusammenfassend besteht weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der vertiefenden empirischen Analyse zur Identifizierung fiskalischer Asymmetrien in Zentrum-Peripherie-Strukturen und zur Quantifizierung von Einflussfaktoren auf die Finanzbedarfe Zentraler Orte. Dabei sind das Verhältnis von eigenen Einwohner*innen zu Einwohner*innen im Verflechtungsbereich zu berücksichtigen und demographische Veränderungen in Bezug auf Altersstrukturkosten und Remanenzkosten einzubeziehen. Die in diesem Beitrag dargestellten Ergebnisse zeigen, dass die existierenden Zentrum-Peripherie-Strukturen mittelfristig persistent sein werden und politische Eingriffe zur Abmilderung der Auswirkungen auf die Daseinsvorsorge notwendig sind.
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136
F. Richter und D. Schiller
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Internationale Fachkräfte auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Ein Beitrag zur Minderung des Fachkräftemangels?
11
Susann Schäfer und Sebastian Henn
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Fachkräftemangels in ostdeutschen Unternehmen diskutiert dieser Beitrag den aktuellen Einbezug von Ausländern in den ostdeutschen Arbeitsmarkt und damit in Zusammenhang stehende Herausforderungen. Zunächst gehen die Autoren auf den Begriff und mögliche Ursachen des Fachkräftemangels ein, bevor sie einen Überblick zur historischen wie aktuellen Einbindung ausländischer Fachkräfte in den ostdeutschen Arbeitsmarkt geben. Abschließend werden die Perspektiven von Unternehmen in Bezug auf die Anwerbung und Integration von ausländischen Fachkräften am Beispiel hochqualifizierter Migranten im Freistaat Thüringen thematisiert.
11.1 Einleitung „Fachkräfte gesucht wie nie!“, titelte 2018 der Arbeitsmarktreport des Deutschen Industrieund Handelskammertages (Deutscher Industrie- und Handelskammertag 2018). Mit dieser Überschrift fügt sich die Veröffentlichung in die mediale Berichterstattung der vergangenen Jahre ein, die hervorhebt, dass sich eine steigende Zahl von Unternehmen mit dem Problem konfrontiert sieht, ausscheidende Mitarbeiter ersetzen bzw. die Belegschaft
S. Schäfer (*) · S. Henn Institut für Geographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Henn E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_11
137
138
S. Schäfer und S. Henn
wachstumsbedingt erweitern zu müssen. Wenngleich derartige Fachkräfteengpässe vor allem in den stark industrialisierten Regionen Süddeutschlands anzutreffen sind, deutet sich seit einigen Jahren eine zunehmende Verknappung geeigneter Fachkräfte auch in weiten Teilen Ostdeutschlands an. Der Fachkräftemangel stellt nicht nur einzelne Unternehmen vor große Herausforderungen; vielmehr besteht das Risiko, dass das Wirtschaftswachstum ganzer Regionen auf lange Sicht erheblich beeinträchtigt wird. Lange Zeit wurde versucht, dem Fachkräftemangel mit Instrumenten zu begegnen, die auf eine Aktivierung endogener Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt abstellen (z. B. Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung bzw. zur Erhöhung des Qualifikationsniveaus der Bevölkerung). Doch in letzter Zeit stehen angesichts der weitgehenden Ausschöpfung dieser Maßnahmen verstärkt Bemühungen um die Akquise exogener Potenziale, also Maßnahmen zur Förderung der Zuwanderung und verstärkten Integration qualifizierter Ausländer in den Arbeitsmarkt, im Vordergrund. Der vorliegende Beitrag nimmt sich letzteren Sachverhalts näher an und diskutiert den aktuellen Einbezug von Ausländern in den ostdeutschen Arbeitsmarkt und die damit in Zusammenhang stehenden Herausforderungen. Dazu wird im Folgenden zunächst erläutert, welche Ursachen dem aktuellen Fachkräftemangel zugrunde liegen, mit welchen Wirkungen er verbunden ist und welches Ausmaß er in Ostdeutschland aktuell angenommen hat. Die nachfolgenden Abschnitte widmen sich der Entwicklung und räumlichen Verteilung der ausländischen Bevölkerung in Ostdeutschland sowie ihrer Integration in den Arbeitsmarkt. Im Anschluss wird auf die besondere Situation hochqualifizierter Migranten am Beispiel Thüringens eingegangen. Der Beitrag endet mit einem kurzen Fazit, das den aktuellen Zusammenhang zwischen Fachkräftemangel und der Integration ausländischer Arbeitnehmer problematisiert.
11.2 Fachkräftemangel: Ursachen und Herausforderungen Von „Fachkräftemangel“ wird im Allgemeinen gesprochen, wenn die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften bzw. Fachkräften über einen längeren Zeitraum nicht gedeckt werden kann, wenn also die Arbeitsnachfrage das Arbeitsangebot übersteigt (Arnold et al. 2017). Die Ursachen für eine solche Situation sind im Einzelfall sehr unterschiedlich (Kettner 2012). Aufseiten der Nachfrager nach Arbeit, den Unternehmen, spielen 1) unternehmerische Anpassungsprozesse, die mit konjunkturellen Entwicklungen in Zusammenhang stehen, 2) die bewusste Weigerung, Neueinstellungen vorzunehmen, 3) Erscheinungen eines langfristigen Strukturwandels (z. B. technologische und/oder sektorale Veränderungen) sowie 4) kurzfristige Personalpolitik eine zentrale Rolle. Ursachen auf der Angebotsseite umfassen den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials infolge 5) von demographischen Veränderungen, 6) von Wanderungen, 7) von Unvereinbarkeiten von Erwerbs- und Familienarbeit, 8) hoher Reservationslöhne (d. h. derjenige Lohn, zu dem ein Arbeitnehmer gerade noch bereit ist, seine Arbeitskraft anzubieten) oder 9) unzureichender Bildungsinvestitionen der
11 Internationale Fachkräfte in Ostdeutschland
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öffentlichen Hand bzw. von Individuen. Ein Mangel an Fachkräften stellt nicht nur Unternehmen, sondern auch ganze Regional- und Volkswirtschaften vor große Herausforderungen, impliziert er doch direkte (bei den vom Fachkräftemangel betroffenen Unternehmen) und indirekte (bei verbundenen Unternehmen) Wertschöpfungsausfälle und damit ein reduziertes gesamtwirtschaftliches Wachstum (Welsch 2001, S. 9). Angesichts dieser unerwünschten Effekte liegt es auf der Hand, dass die Regionalpolitik darum bemüht ist, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um dem Fachkräftemangel in den betreffenden Regionen entgegenzuwirken. Diese zielen dabei grundsätzlich auf eine Stärkung der endogenen oder/und der exogenen Arbeitsmarktpotenziale (Brenning et al. 2018). Maßnahmen, die sich um die Stärkung endogener Potenziale bemühen, stellen auf eine effizientere Ausschöpfung der aus der Region stammenden Erwerbspersonen ab. Sie umfassen beispielsweise die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und/oder Arbeitsorten, die Einführung familienfreundlicher Arrangements oder streben an, ältere Arbeitnehmer zu motivieren, länger zu arbeiten. Maßnahmen zur Stärkung exogener Potenziale stellen im Gegensatz dazu auf die Anwerbung geeigneter Arbeitskräfte von außerhalb der Region ab (z. B. durch die Anerkennung von Abschlüssen, Blue-Card-Regelungen etc.) (Gerlach 2012; Müller 2011).
11.3 Fachkräftemangel in den neuen Bundesländern Infolge der Ost-West-Flucht war bereits in der DDR ein Mangel an Arbeitskräften entstanden, der über den Einbezug von Vertragsarbeitern, vor allem aus Vietnam und Mosambik, gedeckt wurde (Kap. 17). Diese Migranten arbeiteten unter sehr harten, familienfeindlichen Bedingungen in der Textil-, Bau- und Metallindustrie. Wenngleich die DDR den höchsten Ausländeranteil aller damaligen RGW-Staaten (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) aufwies, lag dieser nur bei ca. 1 % der erwerbstätigen Bevölkerung (Bade und Oltmer 2004). Mit dem politischen Umbruch 1989/1990 traten wesentliche Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ein: Erstens kehrten viele der Vertragsarbeiter in ihr Herkunftsland zurück; zweitens setzte eine Abwanderung jüngerer, mobiler Bevölkerungsgruppen in die alten Bundesländer ein, die bis heute vielerorts eine Überalterung der Bevölkerung, insbesondere in ländlich-peripheren Räumen, zur Folge hat (Bade und Oltmer 2004; Kap. 30). Zwar verzeichneten alle ostdeutschen Bundesländer in den 1990er Jahren, und vor allem seit ca. 2008, die die gesamte Bundesrepublik betreffende Zuwanderung aus EU-Mitgliedsstaaten sowie einen Zuzug von Geflüchteten (Bundesagentur für Arbeit 2018b, S. 4; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2018, S. 8; Brücker 2018, o. S.; Statistisches Bundesamt 2019; Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen 2017, S. 30 f.). Allerdings vermochten es weder die daraus resultierenden leichten Außenwanderungsgewinne noch die Aufnahme
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S. Schäfer und S. Henn
von Spätaussiedlern, den durch die Abwanderung nach Westdeutschland hervorgerufenen negativen Wanderungssaldo auszugleichen (Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen 2017, S. 27 f.). Auch von der um die Jahrtausendwende erfolgten Einführung der sogenannten Greencard, die hochqualifizierten Ausländern die Einreise und Aufnahme einer Beschäftigung in der IT-Branche erleichterte, profitierten die ostdeutschen Regionen nur wenig: Circa 95 % der Arbeitserlaubnisse wurden in den alten Bundesländern erteilt (Butterwegge und Schneider 2007). Insgesamt kam es infolge dieser Entwicklungen zu einer deutlichen Abnahme des ostdeutschen Erwerbspersonenpotenzials, die sich seitdem unternehmensseitig in zunehmenden Herausforderungen bei der Besetzung von Stellen artikuliert (Bucher und Schlömer 2004). Das aktuelle Ausmaß des Fachkräftemangels in Ostdeutschland ist durchaus beträchtlich: Etwa 40 % aller Betriebe Ostdeutschlands suchten im ersten Halbjahr 2017 nach Fachkräften; mehr als jede dritte Fachkräftestelle konnte nicht besetzt werden. Insbesondere Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten sehen sich mit großen Herausforderungen konfrontiert, konnten sie doch etwa die Hälfte ihrer Fachkräftestellen nicht besetzen (Frei et al. 2018). Aktuellen Prognosen zufolge besteht allein in Thüringen bis zum Jahr 2030 ein Bedarf an etwa 345.000 Arbeitskräften (Heyme et al. 2018), der Engpass in Sachsen wird für 2025 mit 83.000 Arbeitskräften, der in Sachsen-Anhalt bis 2020 auf 77.000 bis 116.000 Arbeitskräfte beziffert (Bundesagentur für Arbeit o. J.). Grundsätzlich sind Engpässe in allen Wirtschaftszweigen gegeben; besondere Schwerpunkte zeichnen sich aber für die Bereiche Unternehmensnahe Dienstleistungen und Gesundheits- und Sozialwesen ab. Allein auf diese beiden Branchen entfielen 2017 etwa 40 % des gesamten ostdeutschen Fachkräftebedarfs. Daneben bestehen erhebliche Engpässe auch in den Bereichen Baugewerbe, Verkehr, Information und Kommunikation sowie in den übrigen Dienstleistungen (Frei et al. 2018). Die Integration von Arbeitslosen und der sogenannten stillen Reserve in den Beschäftigungsprozess hat in der Vergangenheit zur Befriedigung der Arbeitskräftenachfrage eine wichtige Rolle gespielt, verliert als Instrument zur Minderung des Fachkräftemangels angesichts der weitgehenden Erschöpfung dieses endogenen Potenzials jedoch an Relevanz (so z. B. Heyme et al. 2018, S. V). Es wird folglich in Zukunft immer wichtiger werden, Arbeitskräfteengpässen über die Erschließung exogener Potenziale zu begegnen. In Anbetracht des nach wie vor bestehenden Einkommensgefälles zwischen West- und Ostdeutschland impliziert dies zuerst die Notwendigkeit, verstärkt Maßnahmen zu ergreifen, die auf die Verhinderung von Abwanderung bzw. die Gewinnung von Rückkehrern abstellen. Die Aktivierung exogener Potenziale schließt aber auch die Förderung der Zuwanderung aus dem EU-Ausland bzw. aus Drittstaaten sowie die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt ein (Behr 2017). Die nachfolgenden Ausführungen setzen sich vor diesem Hintergrund primär mit der Frage auseinander, welches Ausmaß die Integration von Ausländern in den ostdeutschen Arbeitsmarkt bislang erreicht hat und mit welchen Herausforderungen die oben skizzierten Instrumente verbunden sind.
11 Internationale Fachkräfte in Ostdeutschland
141
11.4 Ausländer in den neuen Bundesländern: Arbeitsmarktintegration und Erwerbsbeteiligung Das im Grundsatz hohe arbeitsmarktpolitische Potenzial der ausländischen Bevölkerung Ostdeutschlands spiegelt sich in der hohen Erwerbsquote (Summe aus Erwerbstätigen und Erwerbslosen in Relation zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) von 58 % wider (die durchschnittliche Erwerbsquote Deutschlands belief sich im gleichen Jahr auf 52 %). Gleichwohl liegt die Arbeitslosenquote für Ausländer in Ostdeutschland 2017 bei 20 % und damit ungleich höher in der gesamten Bundesrepublik (7 %), was auf diskriminierende Arbeitsmärkte einerseits und Herausforderungen bei der Integration andererseits hindeutet. Knapp drei Viertel aller sozialversicherungspflichtig (SVP) beschäftigten Ausländer in Ostdeutschland stammen aus Europa, mehr als die Hälfte von ihnen aus der Europäischen Union (vgl. Kap. 18). Der größte Anteil von ihnen besitzt die polnische (ca. 21 %), türkische (8 %) oder rumänische Staatsbürgerschaft (6 %). Aktuell (2018) beläuft sich der Anteil an allen SVP-Beschäftigten in Ostdeutschland auf 7 % (inklusive Berlin). Dass dieser Wert deutlich niedriger als in Deutschland insgesamt ausfällt (11 %), ist vornehmlich dem niedrigeren Ausgangsniveau der ausländischen Bevölkerung in ostdeutschen Regionen zu Beginn der 1990er Jahre geschuldet (Bundesagentur für Arbeit 2018a, S. 17, 26; Bundesagentur für Arbeit 2018b, S. 4). Den mit 5,7 % höchsten Anteil von ausländischen Beschäftigten an allen SVP-Beschäftigten unter allen neuen Bundesländern (mit Ausnahmen von Berlin) weist Brandenburg auf, was primär auf den sogenannten Speckgürtel zu Berlin zurückzuführen sein dürfte; die übrigen neuen Bundesländer weisen Quoten zwischen 3 % (Sachsen-Anhalt) und 4 % (Thüringen) auf. Mit 80 % fällt eine deutliche Mehrheit der SVP-beschäftigten Ausländer in Ostdeutschland in die Alterskohorte der 25–55-Jährigen; nur 8 % sind älter als 55 Jahre. Die bereits heute hohe Relevanz ausländischer Beschäftigter für den ostdeutschen Mittelstand belegt die Tatsache, dass etwa jeder zweite SVP-beschäftigte Ausländer dort in mittelgroßen Betrieben (10–249 Beschäftigte) beschäftigt ist. Weitere 27 % arbeiten in Großunternehmen (mehr als 250 Beschäftigte). Im Hinblick auf die Tätigkeitsfelder lässt sich feststellen, dass 80 % der SVP-Beschäftigten im Dienstleistungsbereich beschäftigt waren, insbesondere in der Gastronomie. Im gewerblichen Bereich spielt insbesondere das verarbeitende Gewerbe und das Baugewerbe eine wichtige Rolle bei der Beschäftigung von Ausländern. Hinsichtlich ihrer Qualifikation ist hier etwa ein Drittel als Helfer (ohne formalen Bildungsabschluss) einzustufen (Bundesagentur für Arbeit 2018c). Dass SVP-beschäftigte Ausländer bereits heute einen wichtigen Beitrag zur Minderung des Fachkräftemangels in Ostdeutschland leisten, zeigt auch die Tatsache, dass 45 % von ihnen als Fachkraft (zwei- bis dreijährige Berufsausbildung) zu klassifizieren sind. 8 % fungieren auf dem Arbeitsmarkt als Spezialisten (Bachelorabschluss und/oder mehrjährige Berufserfahrung), weitere 14 % als Experten (mindestens vierjährige Hochschulausbildung und/oder entsprechende Berufserfahrung) (ebd.). Hinsichtlich der regionalen Verteilung der SVP-beschäftigten Ausländer fällt auf, dass
142
S. Schäfer und S. Henn
etwa 85.000 (d. h. 37 %) in den 18 kreisfreien Städten beschäftigt sind (die für Ostdeutschland ohne Berlin vorliegenden Daten auf Kreisebene geben eine mittlere Korrelation zwischen Ausländeranteil und der SVP-Beschäftigungsquote von Ausländern zu erkennen (r2 = ,39**; N = 75). Die höchsten Beschäftigungsquoten (Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe) von Ausländern weisen dabei die beiden sächsischen Städte Leipzig und Dresden (jeweils 41 %), die niedrigsten die Städte Suhl und Brandenburg an der Havel (jeweils 2 %) auf (Bundesagentur für Arbeit 2018c). Ein Zusammenhang besteht eigenen Berechnungen zufolge zudem zwischen dem siedlungsstrukturellen Kreistypus und der SVP-Beschäftigtenquote von Ausländern in dem Sinne, dass mit zunehmender „Ländlichkeit“ einer Region der Anteil der SVP-beschäftigten Ausländer abnimmt (r2 = −,403**; N=75).
11.5 Hochqualifizierte Migranten: Das Fallbeispiel Thüringen Aktuell verfügen etwa 83 % der ausländischen Beschäftigten in Ostdeutschland über eine berufliche oder akademische Qualifikation. 15 % der Beschäftigten haben Stellen, die einen (Fach-)Hochschulabschluss voraussetzen (Bundesagentur für Arbeit 2018c). Nicht zuletzt deshalb scheint es sinnvoll, an dieser Stelle den Blick auf die Gewinnung hochqualifizierter Migranten zu richten. Im Einzelnen stützen sich die nachfolgenden Aussagen auf die Ergebnisse des Forschungsprojektes „HiTh-Hochqualifiziert. International. Thüringen“, das durch den Freistaat Thüringen mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfond (ESF) finanziert und im Zeitraum von 2016 bis 2019 am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt wurde. Ausgangspunkt des Projekts ist die Tatsache, dass thüringische Unternehmen zunehmend Probleme bei der Besetzung von Positionen mit Hochschulabschluss verzeichnen. In der Tat erwarten 45 % der Unternehmen, dass sie diesbezüglich in fünf Jahren vor großen Herausforderungen stehen werden. Obgleich die Anstellung internationaler Hochqualifizierter sicherlich nicht die einzige Lösung für die beschriebenen Probleme darstellt, würden thüringische Unternehmen über die Anstellung von hochqualifizierten Migranten den Fachkräftemangel zweifellos mindern können. Trotz des Projektfokus auf Thüringen dürfen für andere ostdeutsche Regionen aufgrund vergleichbarer raumstruktureller Prägungen und Entwicklungen in der Vergangenheit ähnliche Ergebnisse erwartet werden, weshalb im Folgenden auf einige zentrale Erkenntnisse des Projekts eingegangen wird.
11 Internationale Fachkräfte in Ostdeutschland
143
11.5.1 Räumliche Verteilung und Rolle für den Arbeitsmarkt In Thüringen beschäftigen ungefähr 20 % der Unternehmen mit mindestens fünf sozialversicherungspflichtig Beschäftigen internationale Fachkräfte mit Hochschulabschluss (im Folgenden: ausländische Hochqualifizierte). Räumlich sind sie vor allem in den vier größten Städten, d. h. in Erfurt, Jena, Gera, und Weimar, angesiedelt. Eine deutlich geringere Zahl von Unternehmen mit ausländischen Hochqualifizierten findet sich im (sehr) peripheren Raum (s. Abb. 11.1). Die Gründe für diese Ungleichverteilung lassen sich einerseits auf die für Migranten attraktiveren Lebensbedingungen an den urbanen Standorten (z. B. akademische Einrichtungen, englischsprachige Bildungseinrichtungen für Kinder, Offenheit gegenüber internationalen Fachkräften) zurückführen; andererseits gibt es in peripheren und sehr peripheren Lagen weniger Unternehmen, die gezielt die Kompetenzprofile ausländischer Hochqualifizierter nachfragen. Die in der Untersuchung erfassten ausländischen hochqualifizierten Angestellten stammen insgesamt aus 77 Ländern, insbesondere aus Russland, Spanien, Bulgarien, Polen und der Ukraine, wobei die Herkunft je nach Branche und Unternehmensstand-
Abb. 11.1 Unternehmen mit hochqualifizierten ausländischen Mitarbeitenden in Thüringen. (Quelle: Eigene Darstellung)
144
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ort variiert. Erwähnenswert ist, dass nur ein geringer Teil dieser Hochqualifizierten in Deutschland oder sogar in Thüringen das Studium bzw. einen Teil dessen abgeschlossen hat und die große Mehrheit von ihnen im Ausland ausgebildet wurde. Obwohl es an den Universitäten und Fachhochschulen in Thüringen eine nicht geringe Anzahl ausländischer Absolventen gibt – der Anteil ausländischer Studierender in Thüringen liegt bei etwa 17 % (Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2014) –, spielen diese für den thüringischen Arbeitsmarkt aktuell nur eine untergeordnete Rolle. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Eine mögliche Erklärung ist, dass die von internationalen Studierenden belegten Studiengänge nicht denjenigen Branchen entsprechen, in denen vor Ort ein besonderer Fachkräftebedarf besteht. Darüber hinaus wurde in der Erhebung deutlich, dass internationale Absolventen bislang weniger stark im Fokus der Personalverantwortlichen in den thüringischen Unternehmen stehen und gezielt auf internationale Hochqualifizierte ausgerichtete Anwerbestrategien (z. B. englischsprachige Jobanzeigen, Headhunter mit internationalem Suchradius) nur von einer geringen Anzahl der Unternehmen realisiert werden. Erschwerend kommt hinzu, dass internationale Studierende oft nur über geringe Erfahrungen in den Bewerbungsprozessen und Arbeitsabläufen verfügen und im Zusammenhang mit diesen Prozessen häufig Diskriminierungen erfahren.
11.5.2 Perspektive der thüringischen Unternehmen Über 80 % der befragten thüringischen Unternehmen zeigen sich eigenen Angaben zufolge offen für die Einstellung internationaler Hochqualifizierter. Zahlreiche Unternehmen, die internationale hochqualifizierte Kräfte bereits angestellt haben, bieten diesen vielseitige Unterstützungsangebote (z. B. bei Behördengängen, Finanzierung von Sprachkursen oder bei der Einarbeitung im Unternehmen). Dass Unternehmen speziell nach hochqualifizierten, internationalen Fachkräften suchen, ist eher eine Ausnahme; die Mehrheit der thüringischen Unternehmen mit internationaler Belegschaft erhielt Bewerbungsangebote von internationalen Fachkräften auf nicht speziell für Ausländer ausgeschriebene Stellen (z. B. deutschsprachige Anzeigen). Doch vor allem Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen im peripheren Raum sind davon betroffen, dass sich nicht ausreichend Bewerber aus Deutschland auf offene Stellen bewerben. Daher werden von den Einrichtungen bei der Besetzung von Stellen zunehmend, d. h. seit ungefähr fünf Jahren, Bewerber aus dem Ausland aktiv rekrutiert (Kap. 18). Diese internationalen Ärzte bilden sich in den peripher gelegenen Krankenhäusern häufig als Assistenzärzte weiter. Sie haben jedoch eine geringere Bleibedauer als Arbeitnehmer, die über familiäre Verbindungen und/oder persönliche Netzwerke in der Region verankert sind. Der Mangel an qualifiziertem Personal ist für die Unternehmen oft so groß, dass der erhöhte Verwaltungsaufwand bei der Einstellung hochqualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland in Kauf genommen wird. So müssen laut den interviewten Personalleitern beispielsweise Ärzte aus dem Ausland eine Prüfung ihrer Bewerbungs-
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unterlagen und einen Patientenkommunikationstest durchlaufen, selbst dann, wenn sie bereits vorher in einem anderen deutschen Bundesland gearbeitet haben. Dies kann in ungünstigen Fällen zu einer Verzögerung der Einstellung führen. Insgesamt führt die Untersuchung vor Augen, dass Unternehmen in Thüringen internationale Fachkräfte mit Hochschulabschluss zwar anstellen, um ihren kurzund mittelfristigen Fachkräftebedarf zu decken. Die speziellen Fähigkeiten und Ressourcen der internationalen Hochqualifizierten, wie beispielsweise Sprach- und interkulturelle Kompetenzen, die Kenntnis ausländischer Märkte sowie internationale Alumni-Netzwerke oder Geschäftsbeziehungen, werden indes häufig nicht systematisch ausgeschöpft. Angesichts des infolge demographischer Veränderungen kontinuierlich steigenden Fachkräftebedarfs in den kommenden Jahren, aber auch des vergleichsweise geringen Internationalisierungsgrades thüringischer Unternehmen – 2016 belief sich der Anteil Thüringens an allen deutschen Exporten auf nur 1,2 % (Thüringer Landesamt für Statistik 2018) – wäre eine stärkere Ausrichtung auf internationale hochqualifizierte Fachkräfte sinnvoll und auch notwendig. Dafür müsste jedoch auch in den Unternehmen sowie in der Zivilgesellschaft eine Willkommenskultur für ausländische Mitbürger stärker gelebt werden. In der Vergangenheit kam es in Thüringen immer wieder zu fremdenfeindlichen Übergriffen, ablehnende Einstellungen gegenüber Asylsuchenden, Migranten und ethnischer Diversität sind verbreitet (Reiser et al. 2018) . Eine wichtige Aufgabe der Landespolitik, aber auch der Unternehmen vor Ort ist es daher, stärker noch als bislang auf die wirtschaftliche Notwendigkeit und Bedeutung internationaler Arbeitsmigration hinzuweisen und diese aktiv zu fördern.
11.6 Fazit Der Beitrag verdeutlicht, dass Ostdeutschland derzeit vor einem Dilemma steht: Auf der einen Seite sieht sich eine steigende Zahl von Unternehmen in verschiedenen Branchen, insbesondere in ländlich-peripheren Räumen, mit den Konsequenzen eines massiven demographischen Strukturwandels konfrontiert, der angesichts von Abwanderung und Überalterung die Besetzung von Stellen mit passendem Personal und das damit verbundene Wachstum von Unternehmen langfristig zu einer großen betrieblichen und regionalpolitischen Herausforderung werden lässt. Auf der anderen Seite gibt es aus historischen Gründen nur einen geringen Anteil internationaler Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern, die bislang auch nur bedingt zur Minderung des Fachkräftemangels beigetragen haben. In praxi erweist es sich nicht zuletzt aufgrund der dort anzutreffenden Ressentiments als äußerst schwierig, diese oder erst noch zu gewinnende Ausländer davon zu überzeugen, langfristig einer Beschäftigung in den peripheren Regionen Ostdeutschlands nachzugehen. Im Interesse der Entwicklung von Unternehmen und Regionen Ostdeutschlands wird es in Zukunft verstärkt darum gehen müssen, Unternehmensführungen, Belegschaften und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sich
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eine verstärkte Integration ausländischer Fachkräfte langfristig positiv auf die Unternehmen und den Standort Ostdeutschland auswirken wird. Ob dies am Ende tatsächlich gelingt, bleibt angesichts zahlreicher Herausforderungen noch abzuwarten.
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Kreative Ökonomien in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg
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Zusammenfassung
Die Kreativwirtschaft bietet vielfältige Entwicklungspotenziale in ostdeutschen Städten und Regionen. Am Beispiel der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg diskutiert der Artikel die Abgrenzung, Entwicklung und den Beitrag der kreativen Wirtschaftszweige für die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands. Berlin kann dabei als Hauptstadt der Open Creative Labs (Orte für Innovation und Experimente) gekennzeichnet werden, eine Entwicklung, die mittlerweile auch auf Brandenburg ausstrahlt.
12.1 Einleitung Einige bedeutende konzeptionelle Beiträge zur regionalen Entwicklung, beispielsweise zu regionalen Innovationssystemen oder regionalen Clustern, sehen Kreativität und Innovationen als Triebkräfte für regionale Dynamiken an (Cooke 2001; Boschma und Fritsch 2009). Mit seinen Arbeiten zur „Kreativen Klasse“ hat Richard Florida (2002, 2011) entscheidend dazu beigetragen, dass sogenannte „Kreative“ und ihre bevorzugten Lebens- und Arbeitsweisen – und die dazugehörigen Standorte – besondere
S. Schmidt (*) Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] Geographisches Institut, RWTH Aachen, Aachen, Deutschland Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_12
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Aufmerksamkeit von regionalen Wirtschaftsentwickler*innen, Stadtentwickler*innen oder Stadtplaner*innen erfahren. Auch wenn Florida die kreative Klasse recht breit definiert, so wird deutlich, dass regionale Entwicklungen zunehmend von Individuen, Selbstständigen, Unternehmer*innen und Erwerbstätigen in wissensintensiven und wissensgenerierenden Tätigkeitsfeldern gestaltet werden. Er lenkt das Augenmerk der Regionalentwicklung somit nicht auf international verflochtene Konzerne und multinationale Unternehmen, sondern auf kleine Organisationsstrukturen und die kleinste ökonomische Einheit: den Menschen. Ausgehend von Floridas Ausführungen wird die regionalwirtschaftliche Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft zunehmend geschätzt. Dabei wird sie als jener Teilbereich der Wirtschaft definiert, der sich mit dem Erschaffen, dem Produzieren und dem Verteilen von kulturellen und kreativen Gütern und Dienstleistungen befasst (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2011). Dieser hat sich zunehmend zu einem eigenständigen Wirtschaftssektor entwickelt, trägt in einigen Regionen – vor allem in städtischen Agglomerationen – bedeutend zur Bruttowertschöpfung bei und schafft gesellschaftlichen Mehrwert jenseits monetärer Werte. Wirtschaftliche Aktivitäten der Kultur- und Kreativwirtschaft werden überwiegend mit urbanen Räumen verbunden (Helbrecht 1998; Pratt 2010), weniger mit ländlich geprägten, dünn besiedelten Regionen. Daher stellt sich mit Blick auf die neuen Bundesländer, insbesondere für Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, die Frage, welche Rolle die Kultur- und Kreativwirtschaft für die wirtschaftliche Dynamik in diesen Regionen spielt bzw. spielen kann (Wolter et al. 2018). Der vorliegende Beitrag greift diese Frage auf und reflektiert, wie sich kreative Ökonomien in den neuen Bundesländern, mit einem Fokus auf die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg, in den letzten Jahren entwickelt haben. Die Hauptstadtregion stellt insofern eine Besonderheit dar, als dass sie zwei Bundesländer (Berlin und Brandenburg) vollständig umfasst. Während Berlin und das engere Umland von Berlin eine Metropolregion darstellen, sind weite Teile Brandenburgs als ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen beziehungsweise als dünn besiedelter ländlicher Raum zu bezeichnen (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2019). Der Beitrag greift auf vorliegende Analysen zurück und stützt sich zudem auf die verfügbaren Kultur- und Kreativwirtschaftsindexe der vergangenen Jahre. Dabei fällt auf, dass nach einer anfänglichen hohen Aufmerksamkeit für die Entwicklung von kreativen Ökonomien, die sich zum Beispiel in entsprechenden Berichten und Primärdatenerhebungen zwischen etwa 2007 und 2015 niederschlagen, die Fokussierung auf das Thema wieder etwas zurückgeht. So liegt der aktuelle Kreativwirtschaftsbericht für Berlin nur in einer Fassung von 2014 vor, für Brandenburg in einer von 2009. Auch der Kultur- und Kreativwirtschaftsindex, der beide Bundesländer umfasst, wurde nur in einem jährlichen Rhythmus zwischen 2011 und 2015 erhoben. Trotz dieser anscheinend rückläufigen Aufmerksamkeit für die Entwicklungen kreativwirtschaftlicher Tätigkeiten erkennen beide Länder deren Bedeutung an, indem weite Bereiche der Kreativwirtschaft im Rahmen von Clusterstrategien und der gemeinsamen Innovationsstrategie berücksichtigt werden.
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Nach einer kurzen Begriffsbestimmung von kreativen Ökonomien geht der Beitrag auf die Entwicklungsdynamiken in der Kultur- und Kreativwirtschaft der Hauptstadtregion ein und fragt schließlich nach den Potenzialen für einen kreativen Umgang mit den anhaltenden Transformationsprozessen, mit einem besonderen Blick auf die Rolle einzelner Orte wie Open Creative Labs in ländlichen Regionen.
12.2 Ausgangslage: Transformation und wirtschaftliche Entwicklung in Berlin-Brandenburg Technologische Wandlungsprozesse, vor allem in westlichen Industrieländern, werden spätestens seit den 1970er-Jahren mit einer zunehmenden Bedeutung von translokalen und internationalen Wissens- und Innovationsdynamiken erklärt. Demzufolge wird Wissen zu einem Produktionsfaktor, einem prozessbegleitenden Faktor sowie auch zu einer Handlungs- und Entscheidungskompetenz, die sich in technologischen, aber auch anderen ökonomischen wie auch sozialen Innovationsprozessen einbetten und die Entwicklung von Regionen beeinflussen, sich aber auf nationalstaatlicher und regionaler Ebene deutlich voneinander unterscheiden können. Dies zeigt sich insbesondere mit Blick auf die neuen Bundesländer. Hier sind auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall deutliche Auswirkungen der politischen Wende und der Wiedervereinigung erkennbar. Damit einher geht eine zeitliche Synchronität von abrupten Veränderungen in der Wirtschaft (Fritsch et al. 2015): Mit dem Umbruch des politischen Systems veränderten sich die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln grundlegend. Die Einführung eines neuen Systems (der koordinierten Marktwirtschaft) führte zu einem Zusammenbruch von Organisationsstrukturen, zur vollständigen Aufgabe von Betrieben, zur Übernahme bestehender Betriebsstätten durch Investoren und zur Gründung neuer Betriebe. Gleichzeitig waren wirtschaftliche Akteure nach der Wiedervereinigung unmittelbar mit der Einführung neuer Rahmenbedingungen (z. B. Rechtsbestimmungen) und mit einem verschärften und internationalisierten Wettbewerb konfrontiert. Produktionsprozesse und Wertschöpfungsketten mussten folglich grundlegend neu strukturiert werden. Die damit verknüpften Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit der Akteure in den neuen Bundesländern, nicht nur im Hinblick auf neue Regelsysteme, sondern auch auf die Notwendigkeit von Eigeninitiative und Eigenverantwortung, gingen einher mit mentalen Herausforderungen (ebd.). Im Gegensatz zu den alten Bundesländern war eine wirtschaftsstrukturelle Transformation viel stärker mit disruptiven Ereignissen und Umbrüchen verbunden, die alle Ebenen des gesellschaftlichen Systems betrafen. Insgesamt zeichnete sich v. a. im ersten Jahrzehnt der Wiedervereinigung eine starke regionale, sektorale und unternehmensspezifische Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern ab (Postlep 2004; Kubis et al. 2008). Dies zeigt sich in einem deutlichen Süd-Nord-Gefälle wirtschaftlicher Entwicklungen sowie einem Gefälle zwischen einigen wenigen urbanen Wirtschaftszentren und peripheren Gebieten. Die wirtschaftlichen Transformationsprozesse sind besonders
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problematisch für ehemalige sozialistische Großbetriebe (Fritsch et al. 2015). Verallgemeinernd kann beobachtet werden, dass industriellen Problembereichen tertiäre Wachstumsbranchen, die sich in wenigen Zentren der Wissensproduktion konzentrieren, gegenüberstehen (Postlep 2004, S. 129). Vor allem in den Bereichen Handel, Verkehr und Gastgewerbe sowie bei den unternehmensnahen Dienstleistungen ließen sich positive Entwicklungen feststellen (Kubis et al. 2008, S. 151). In diesen Zentren regionalen Wachstums besteht das größte Potenzial für kreative Ökonomien, denn gerade an den Schnittstellen zwischen einzelnen Wirtschaftsbereichen der Wissensökonomie lassen sich Anknüpfungspunkte für neuartige kreative Güter und Leistungen erwarten. So stieg der Anteil der Erwerbstätigen in unternehmensnahen Dienstleistungen in Ostdeutschland (ohne Berlin) von 9,7 % im Jahr 1996 auf etwa 14 % aller Erwerbstätigen in 2005 (ebd.). Laut aktuellem Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) setzt sich dieser Trend fort, und so liegt der Anteil der Beschäftigten in unternehmensnahen Dienstleistungen bei aktuell 17 % in den neuen Bundesländern (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018). Trotz der anhaltend verhaltenen Wachstumsdynamiken bleiben die neuen Bundesländer dabei jedoch deutlich hinter dem Niveau vieler westdeutscher Regionen zurück (Fritsch et al. 2015), weil das Wachstum in diesen Wirtschaftsbereichen hier zumeist durch kleinere Unternehmen getragen wird (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018) – von denen einige jedoch hochinnovativ und auf ihrem Gebiet marktführend sind. Inzwischen ist aber die sektorale Struktur der Selbstständigen in den neuen Bundesländern vergleichbar mit der in den alten Bundesländern. So sind etwa 50 % der Selbstständigen mittlerweile im Dienstleistungssektor tätig und mit ihren Neugründungen vergleichsweise wettbewerbsfähig (Fritsch et al. 2015, S. 236). Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg ein anhaltender Strukturwandel konstatieren. Besonders in der Metropole Berlin trägt der Dienstleistungssektor seit 2016 entscheidend zur Bruttowertschöpfung bei, sodass Berlin diesbezüglich inzwischen bundesweit führend ist. Hierbei sind es vor allem die Wirtschaftsbereiche Information und Kommunikation, Gesundheitswirtschaft, Handel und Gastgewerbe, die das Wachstum vorantreiben. Im Vergleich dazu ist der Dienstleistungssektor im Land Brandenburg wesentlich schwächer ausgeprägt, entspricht dabei aber dem bundesweiten Durchschnitt.
12.3 Abgrenzung kreativer Ökonomien Die Abgrenzung der Kultur- und Kreativwirtschaft ist methodisch schwierig und unterscheidet sich in der Praxis deutlich von der Definition der kreativen Klasse nach Florida (2002). So betont Kunzmann (2009) daher, dass alle Versuche, Kreativwirtschaft umfassend und solide zu definieren, scheitern müssen, weil deren Ränder zwangsläufig unscharf sind. Um privatwirtschaftliche Bereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft
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Buchmarkt Sonsge
Kunstmarkt Darstellende Künste
Musikwirtscha
Kultur- und Kreavwirtscha
Filmwirtscha Soware / Games-Industrie
Pressemarkt Rundfunkwirtscha
Werbemarkt Designwirtscha
Architekturmarkt
Abb. 12.1 Die elf Teilmärkte der Kultur- und Kreativwirtschaft. (Quelle: Nach Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2009; Glückler et al. 2010)
abzugrenzen, wird in Deutschland zwischen drei Sektoren differenziert: einem öffentlichen (z. B. in Form des öffentlich geförderten Kulturbetriebes), einem gemeinnützigen (z. B. in Form gemeinnütziger Vereine, Stiftungen und Organisationen) sowie einem privaten Sektor (Unternehmen, Selbstständige und Künstler*innen) (Reich 2013, S. 18). Die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder hat sich für eine Differenzierung von elf Teilmärkten der Kreativwirtschaft ausgesprochen, die heute die Grundlage für zahlreiche Kultur- und Kreativwirtschaftsberichte und -indizes der Bundesländer bilden (Glückler et al. 2010; vgl. Abb. 12.1). Deutlich wird dabei, dass diese Teilmärkte Querschnittskategorien abbilden, die sich sowohl den produzierenden Bereichen der Wirtschaft als auch dem Dienstleistungssektor zuordnen lassen. Die Kultur- und Kreativwirtschaft hebt sich von anderen Wirtschaftszweigen durch ihre Arbeitsstrukturen ab, insbesondere durch zunehmend entgrenzte Formen des Arbeitens (territoriale und organisationale Grenzen überschreitend), die Organisation von Arbeit in temporären Strukturen, wie zum Beispiel Projektverbünde, Netzwerke, Events (Grabher und Ibert 2011) oder in temporären Arbeitsorten, wie Open Creative Labs und Coworking Spaces (Schmidt et al. 2014). Zudem sind Unternehmen und Tätigkeiten in diesen Wirtschaftsbereichen überwiegend kleinteilig organisiert, wie zum Beispiel in Form von Soloselbstständigkeit oder selbstständigen Büros, Ateliers und Künstleragenturen, die die Prototypen der Kultur- und Kreativproduktion generieren. Einige wenige Großkonzerne treten in Erscheinung, die aber die Leistungen von kleinund mittelständischen Unternehmen sowie Selbstständigen aufnehmen, verwerten und vermarkten (Söndermann und Strittmatter 2007, S. 8).
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In der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg wird die Bedeutung kreativer Ökonomien durch deren explizite Berücksichtigung in den gemeinsamen Innovationsstrategien (innoBB und innoBB25) der beiden Länder anerkannt. Hierbei wird auf das Potenzial kreativer Tätigkeitsbereiche für sektorenübergreifende Innovationen gesetzt, sowohl in technischen wie auch in nichttechnischen Wirtschaftsbereichen. Dazu zählen zum Beispiel Designentwürfe, Drehbuchskripte, Werbekonzepte, Prototypen von Modekollektionen usw., aber auch neuartige Governance-Strukturen (Lange et al. 2009), Geschäftsmodelle, neue Verbindungen zwischen bestehenden Technologien und Prozessen sowie bisher nicht eingesetzte Formen von Problemlösungen, die heterogene Beteiligte und soziale Gruppen einbeziehen (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2016).
12.4 Kreative Ökonomien in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg Eine gesonderte Erfassung kreativer Ökonomien erfolgt in Berlin und Brandenburg erst seit den 2000er-Jahren, während sie zuvor als Bestandteil unternehmensnaher Dienstleistungen oder als Teilbereiche im Tourismus, Gastgewerbe oder Medien erfasst wurden. Besonders wertvoll ist eine gesonderte Erfassung aber, weil dadurch der Bias zugunsten von städtischen Räumen für kreative Wirtschaftsbereiche hinterfragt werden kann. So zeigen neuere Forschungen, dass periphere Regionen Anziehungskräfte für Kreative entwickeln können, die dann über verschiedene Mobilitätsformen die Anbindung an für sie und ihre Tätigkeiten wichtige Zentren aufrechterhalten (Hautala und Ibert 2018). So ist im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel Frankreich, Großbritannien oder Österreich, die Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland weniger stark auf ausgewählte Metropolregionen konzentriert (Söndermann und Strittmatter 2007). Während über 50 % der in der französischen Kultur- und Kreativwirtschaft tätigen Personen im Großraum Paris lokalisiert sind, ist die Verteilung in Deutschland wesentlich ausgeglichener. So lässt sich für 2016 feststellen, dass Berlin (8,1 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland), München (6,7 %) und Hamburg (6,5 %) zwar in Deutschland die stärksten Konzentrationen aufweisen, auf nationaler Ebene sich die Kultur- und Kreativwirtschaft jedoch auch auf weitere Agglomerationen verteilt, beispielsweise auf Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig oder Dresden (ebd.). Mit Blick auf die neuen Bundesländer insgesamt lässt sich feststellen, dass zwischen 2007 und 2016 die Beschäftigtenzahlen in kreativen Ökonomien deutlich stiegen, insbesondere in den Teilmärkten Software- und Games-Industrien (+48 %), Architekturbüros (+47 %), sowie Design und Fotografie (+35 %) (Müller und Mossig 2018, S. 10). Dieser Anstieg bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten deutet zunächst auf ein Wachstum bestehender Unternehmen hin, handelt es sich doch bei kreativen Ökonomien um eher kleinteilig strukturierte Wirtschaftseinheiten mit einem hohen Anteil an Selbstständigen und Kleinstunternehmen.
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Müller und Mossig (2018) differenzieren diese Entwicklungen nach siedlungsstrukturellen Kreistypen und bestätigen eine Konzentration der Kultur- und Kreativwirtschaft in den ostdeutschen Bundesländern auf kreisfreie Großstädte. Im Vergleich dazu können sie keine räumlichen Schwerpunkte in ländlichen Regionen identifizieren, obwohl sich vereinzelt positive Entwicklungen nachweisen lassen. Diese resultieren allerdings aus einem generellen Wachstum der absoluten Beschäftigtenzahlen. Verglichen mit dem Anteil der Beschäftigten in kreativen Ökonomien zu anderen, produzierenden Wirtschaftsbereichen in ländlichen Regionen entwickelte sich die Kultur- und Kreativwirtschaft langsamer als letztere, was sich in einem leicht rückgängigen Standortquotienten zwischen 2007 und 2016 ausdrückt. In der Hauptstadtregion dagegen ist die Kultur- und Kreativwirtschaft in den vergangenen zehn Jahren überdurchschnittlich gewachsen, insbesondere im metropolitanen Kern Berlin. Dieser Trend wird durch ein überdurchschnittliches Wachstum der Dienstleistungswirtschaft insgesamt getragen. Der hohe Anteil der Hochqualifizierten in der Region trägt zu einer hohen Gründungsintensität und Start-up-Dynamik in der Kultur- und Kreativwirtschaft bei, durch die sich Berlin zunehmend als Medienstadt mit den Schwerpunkten audiovisuelle Medien, Verlagswesen, Telekommunikation und Informationsdienstleister profiliert (Arndt 2015, S. 58). Der letzte Kreativwirtschaftsindex der Länder Berlin und Brandenburg (The German Capital Region et al. 2015) stellt für die Gesamtregion fest, dass im Jahr 2013 knapp 6 % (das entspricht einem Umsatz von 15,6 Mrd. EUR) aller umsatzsteuerpflichtigen Einnahmen der Hauptstadtregion von Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft erzielt wurden. Seit 2009 steigt demzufolge der Umsatz in diesen Wirtschaftsbereichen kontinuierlich, vor allem in der Musikwirtschaft sowie der Software- und Games-Industrie, während sich Rundfunk, Film und Presse leicht rückläufig entwickeln. In Brandenburg wurden zudem im Jahr 2013 4822 umsatzsteuerpflichtige Unternehmen in der Kreativwirtschaft gezählt, was einer Steigerung von über 25 % im Vergleich zu 2005 entspricht. In Bezug auf die Verteilung der Unternehmen auf die elf Teilmärkte sind beide Regionen vergleichbar gewichtet (ebd., S. 9). Ein genauerer Blick auf die Hauptstadtregion unterstreicht deren besondere Dynamik, von der auch Erwerbstätige und Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft in Brandenburg profitieren. Dabei strahlen nicht nur die Entwicklungen der Hauptstadt in brandenburgische Regionen aus, sondern es können auch eigenständige Schwerpunkte, beispielsweise im Umfeld von Potsdam sowie den Hochschulstandorten der Region, ausgebildet werden. Zwischen 2000 und 2005 stieg der Anteil der kreativwirtschaftlichen Unternehmen und selbstständigen Künstler und Kreativen in Brandenburg um knapp 16 % (Söndermann und Strittmatter 2007, S. 11), mit Schwerpunkten in den Teilmärkten Software- und Games-Industrien, bei darstellenden Künstlern sowie Journalisten und Designern, während sich die Teilmärkte Buch, Architekturbüros und Werbewirtschaft leicht negativ entwickelten. Allerdings muss dabei festgehalten werden, dass sich das Wachstum überwiegend in Erwerbstätigenzahlen niederschlägt, weniger aber in
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Umsatzzahlen, die nur langsam wachsen – auch hier mit Ausnahme der Software- und Games-Industrien sowie der Designwirtschaft, die durchgängig ein starkes Umsatz wachstum verzeichneten. Mit einer im Bundesvergleich starken Kultur- und Kreativwirtschaft in der Hauptstadtregion geht eine räumliche Konzentration der mit diesem Wirtschaftsbereich verbundenen Organisations- und Governance-Strukturen einher (vgl. oben). Kleinstunternehmen, Selbstständige, projektbasiertes Arbeiten erfordern Orte, die diese Formen flexiblen Wirtschaftens ermöglichen. Dies zeigt sich im besonderen Maße am Beispiel von Open Creative Labs in Berlin und Brandenburg. Diese bieten temporären Gemeinschaften, Erwerbstätigen mit und ohne organisatorischer Anbindung, Arbeitsgruppen und temporären, organisationsübergreifenden Teams, aber auch Bastler*innen, Tüftler*innen, Erwerbstätigen, die im Nebenerwerb kreative Projekte umsetzen oder anstoßen, einen Raum für ihre kreativen Aktivitäten (siehe z. B. Abb. 12.2). Seit etwa 2005 wächst die Anzahl von Open Creative Labs in der Region (Schmidt et al. 2016). Open Creative Labs beschreibt als Dachbegriff die Heterogenität von lokalen Ausprägungen dieser Orte, die von Hacker- und Makerspaces, Fab Labs, Coworking Spaces bis zu Start-up-Acceleratoren und Inkubatoren reichen. Während Hacker- und Makerspaces sowie Fab Labs zum Tüfteln, Experimentieren, kreativen Ausprobieren einladen, stellen Coworking Spaces, Acceleratoren und Inkubatoren Arbeitsumgebungen, soziale und materielle Infrastrukturen für Erwerbstätige der Kreativ- und Digitalwirtschaft bereit. Trotz ihrer Heterogenität ist diesen Open Creative Labs gemein, dass sie zumindest mittelfristige organisatorische (in Form von Regelsystemen) und materielle Strukturen (z. B. Internetzugang, Schreibtische, Stühle, Gruppenarbeitsplätze, kleinere Werkstätten, Materialien) sowie teilweise einige Bürodienstleistungen wie Post- oder Telefondienste, für temporäre Nutzungen zur Verfügung stellen. Open Creative Labs sind Orte, die analoge und digitale Räumlichkeiten verbinden (beispielsweise über gemeinsame Blogs oder Wikis) bzw. deren Nutzer*innen digitale Technologie für kreative Projekte nutzen oder digitale Geschäftsfelder erschließen, was sich unter anderem in der dynamischen Start-up-Szene der Hauptstadt zeigt.
Abb. 12.2 Open Creative Labs als kreative Arbeitsorte. (© IRS, Foto: Suntje Schmidt)
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Zunächst konzentrierten sich Open Creative Labs in Berlin. Hier bildete sich im Vergleich zu anderen deutschen Metropolregionen die größte Bandbreite an Open Creative Labs aus. Auch die beobachtete Dichte an Open Creative Labs ist in Berlin am höchsten (Schmidt et al. 2016, 2018). Gemessen am Quotienten von Labs pro 100.000 Erwerbstätige beträgt der Wert für die Haupstadtregion Berlin-Brandenburg 3,5 Labs pro 100.000 Erwerbstätige, während sich dieser Wert für die Metropolregion Rhein-Neckar auf 0,7 beläuft (Schmidt et al. 2016, S. 30). Allerdings muss festgehalten werden, dass von den derzeit 100 Labs in der Hauptstadtregion 90 ihren Sitz in Berlin gewählt hatten. Aktuell ist jedoch zu beobachten, dass zunehmend auch Lab-Formate in Brandenburg entstehen. Erste Gründungen gingen in Form von Fab Labs von den Hochschulen aus. So wurde das Fab Lab an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg von Studierenden der Universität eingerichtet, während das Fab Lab in Wildau über die Forschungsgruppe für Innovations- und Regionalforschung an der dortigen Technischen Hochschule aufgebaut worden ist. Weitere Lab-Initiativen konzentrierten sich bis 2016 vor allem auf Potsdam und Eberswalde. Inzwischen ist in Brandenburg ein Netzwerk von „modernen Arbeits- und Wohnprojekten“1 entstanden, das sich über das gesamte Bundesland Brandenburg erstreckt und sowohl ländliche Regionen wie auch Mittel- und Kleinstädte einbezieht. Ohne dass bereits eine systematische Erhebung vorliegt, zeigen erste Beobachtungen, dass sich die Ansätze dieser Orte von denen in metropolitanen Räumen unterscheiden. So lassen sich einige Kreativorte identifizieren, die eine deutliche Bindung zur Metropole Berlin aufzeigen, weil die Gründungsinitiative aus Berlin heraus erfolgte. Dies trifft z. B. auf das Coworking-/„Workation“-Projekt „Coconat“ in der Nähe von Bad Belzig zu. Hier werden Berliner*innen, Kreativschaffende aus anderen Regionen sowie lokale Initiativen adressiert. Weitere Projekte, wie der Coworking Space „Alte Schule“ in Letschin (Landkreis Märkisch-Oderland), sprechen vorwiegend lokale Freischaffende und Kreative, aber auch „Durchreisende“ und Unternehmen an, den Ort für individuelle und kollektive Projekte zu nutzen. Hierbei handelt es sich um eine Initiative der STIC Wirtschaftsfördergesellschaft Märkisch-Oderland mbH. Eine solche direkte Form der Unterstützung durch öffentliche Träger ist so in Berlin nicht zu finden. Darüber hinaus spielen auch weitere öffentliche Einrichtungen wie Hochschulen und Stadtverwaltungen eine wichtige Rolle in der Einrichtung von Open Creative Labs in Brandenburg. Die Universität Potsdam plant beispielsweise, im Rahmen der Initiative „Innovative Hochschule“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mehrere Labs aufzubauen. Über das gleiche Programm gefördert, plant der Verbund der BTU C ottbus-Senftenberg und der TH Wildau den Aufbau von Experimentierorten in Form von Innovation Labs. Schließlich entsteht zurzeit eine Hochschulpräsenzstelle in Luckenwalde, die Coworking-Möglichkeiten und Werkstatträume für Gründer*innen, Kreative, Selbstständige und Freischaffende bereithält (Hahn 2019).
1https://www.kreativorte-brandenburg.de/.
Zugegriffen: 2. Juni 2019.
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S. Schmidt
12.5 Fazit und aktuelle Herausforderungen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kreativwirtschaft zwar als urbaner Wirtschaftszweig bezeichnet werden kann, aber auch ländlich geprägte Regionen Entwicklungen kreativer Ökonomien deutlich erkennen lassen. Dabei spiegelt sich zum einen die besondere Konstellation der Hauptstadtregion wider, durch die Brandenburger Regionen an Wachstums- und Spezialisierungsprozessen der Hauptstadt partizipieren können. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Entwicklungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft ausschließlich in Abhängigkeit von Berlin zu interpretieren, denn parallel dazu lassen sich eigenständige Dynamiken und eine zunehmende Anzahl von Kreativorten in Brandenburg beobachten. Hier werden neue Formen des Wirtschaftens und Arbeitens – oft in kreativwirtschaftlich geprägten Bereichen oder digitalen Ökonomien – und Wohnens erprobt. Gerade solche Orte verdeutlichen zudem, dass die Kreativwirtschaft stärker als andere Wirtschaftsbereiche durch Temporalitäten und räumliche Mobilität gekennzeichnet ist. Das bedeutet, dass kreative Prozesse und Praktiken sich selten permanent an einem Ort manifestieren, sondern Akteure der Kreativwirtschaft vielmehr multilokale Gelegenheiten und Ressourcen suchen und nutzen. Temporäre Distanz von Ablenkungen, Informationsflut, zufälligen Begegnungen und unerwarteten Entdeckungen, Geschwindigkeit, Vielfältigkeit und anderen Urbanisationseffekten kann in ländlich geprägten Regionen einen Vorteil für einzelne Phasen in Kreativprozessen darstellen. Gleichermaßen bieten ländliche Regionen Abstand von dominierenden Praktiken und Paradigmen und somit Schutzräume, in denen sich neuartige Ideen und Praktiken entfalten können (Grabher 2018). Auf politisch-administrativer Ebene wird das Potenzial kreativer Ökonomien in der Hauptstadtregion sowohl im Rahmen der gemeinsamen Innovationsstrategie wie auch in der Wirtschaftspolitik aufgegriffen. So hebt bereits 2011 die gemeinsame Innovationsstrategie (Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung et al. 2011) hervor, dass das Potenzial der Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Medienwirtschaft sich an den Schnittfeldern zu anderen Clustern und Zukunftsfeldern der Hauptstadtregion entfalten könne. Die aktuelle Fassung innoBB25 (Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe et al. 2019) fokussiert diese Strategie auf Wachstumsfelder wie künstliche Intelligenz, Internet of Things, Finanz- und Blockchain-Technologien, IT-Sicherheit sowie komplexe Systeme (ebd., S. 17). Gleichzeitig betont die innoBB25 Handlungsschwerpunkte für die länderübergreifenden Cluster (Gesundheitswirtschaft, Energietechnik, Verkehr, Mobilität und Logistik, IKT, Medien und Kreativwirtschaft sowie Optik und Photonik) und verbindet sie mit Schnittfeldern der Kreativwirtschaft. Hierzu zählen neue Möglichkeiten durch Digitalisierung, die Einrichtung von Reallaboren und Testfeldern sowie die Förderung von Start-ups in ländlichen Regionen (ebd.). Nach wie vor besteht eine Herausforderung darin, kleinere Initiativen und Projekte der Kreativwirtschaft in einem Flächenland wie Brandenburg zu erkennen und zu fördern – insbesondere wenn dieser Wirtschaftsbereich wie kein anderer durch temporäre
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Organisationsformen wie Projektverbünde, Netzwerke, organisationsübergreifende Teams, soziale Gemeinschaften, situatives Handeln (Lange 2009) oder atypische Beschäftigungsverhältnisse und individualisierte Berufsbiographien gekennzeichnet ist. Erste Ansätze lassen sich beispielsweise in Finanzierungsmöglichkeiten über Mikrokredite in Brandenburg erkennen. Darüber hinaus würde ein dauerhaftes Monitoring über aktuelle Entwicklungen in kreativen Ökonomien dazu beitragen, Gelegenheiten zu identifizieren sowie die Akteure der Kreativwirtschaft in eine aktive Gestaltung von anhaltenden Transformationsprozessen einzubeziehen. Es wäre jedoch ein Trugschluss anzunehmen, dass die Kreativwirtschaft im Zuge von Transformationen Arbeitsplätze in schrumpfenden Wirtschaftsbereichen ersetzen könne. Vielmehr liegt das Potenzial der Kreativwirtschaft darin, Neues an den Schnittstellen von wirtschaftlichen Handlungsfeldern und Praktiken zu entwickeln. Deshalb unterstreicht Kunzmann (2009), dass eine genaue Abgrenzung und Definition von Kreativwirtschaft weniger relevant sei, aber die endogenen Potenziale der Kreativwirtschaft den Ausgangspunkt für Fördermaßnahmen bilden sollten. Hierfür bedarf es nicht nur eines quantitativen Beobachtens über Kreativwirtschaftsberichte, sondern auch aktiv bespielter problemzentrierter Dialogplattformen, die Akteure der Kreativwirtschaft in regionale Prozesse einbeziehen. Aus der Perspektive der neuen Bundesländer eröffnet dies die Möglichkeit, Wandlungsprozesse regionsspezifisch und ausgehend von vorhandenen Potenzialen und zu lösenden Problemstellungen zu gestalten.
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S. Schmidt
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Zentralisierung, Suburbanisierung und Filialisierung. Zur Entwicklung des Einzelhandels in Ostdeutschland
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Elmar Kulke
Zusammenfassung
Standorte des Einzelhandels besitzen prägende Bedeutung für Versorgungs- und Zentrensysteme sowie für alltägliche Mobilität und Verkehrsmengen. Entsprechend stellt die geographische Einzelhandelsforschung ein wesentliches Element der Wirtschaftsgeographie dar und ist gleichermaßen von großer Wichtigkeit für die kommunale Politik. Der Einzelhandel war unmittelbar nach der Wiedervereinigung einer der Wirtschaftsbereiche Ostdeutschlands, welcher den rasantesten Wandel und die schnellste Expansion verzeichnete. Die sehr spezielle Ausgangslage, die rasche Markterschließung durch westdeutsche Filialisten mit modernen Betriebsformen und die unterschiedlichen Phasen der Standortentwicklung führten dazu, dass sich die Einzelhandelslandschaft Ostdeutschlands noch heute von jener Westdeutschlands unterscheidet. Den Entwicklungspfad, die gegenwärtigen Merkmale der Einzelhandelslandschaft und zukünftige Herausforderungen charakterisiert der folgende Beitrag. Betrachtet wird insbesondere das Zusammenspiel zwischen dem Wandel von Standorten, Betriebsformen und Sortimenten des Angebots mit dem Käuferverhalten und der planerischen Steuerung der räumlichen Entwicklungen im Einzelhandel.
E. Kulke (*) Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_13
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E. Kulke
13.1 Ausgangslage und Entwicklungen seit der Wiedervereinigung Das Einzelhandelssystem der DDR unterschied sich deutlich von jenem Westdeutschlands (Illgen1990; Kulke 1998, S. 175 f.; Schmidt 1982). Zwar war die Ladendichte mit 4,5 Geschäften pro 1000 Einwohner*innen (DDR-Daten jeweils aus 1988) vergleichbar groß (BRD 5,4, Daten jeweils aus 1985), aber die Angebotsvielfalt war deutlich geringer. Dies drückt sich beispielsweise in der erheblich niedrigeren Versorgungsdichte mit 0,31 m2 Verkaufsfläche pro Einwohner*in (BRD 1,07 m2) aus. Es dominierten kleine Ladengeschäfte (DDR 68 m2 je Ladengeschäft, BRD 200 m2 je Ladengeschäft) mit einer begrenzten Sortimentsvielfalt. Die Grundversorgung mit Lebensmitteln war durch die kleinen HO-Läden und die größeren Kaufhallen gesichert, aber bei mittel- und langfristigen Bedarfsstufen (z. B. Bekleidung, Schuhe, Elektroartikel) traten ständig Versorgungslücken auf (Kap. 29). So betrug der Anteil von Ladengeschäften mit Non-Food-Artikeln in der DDR nur 37 % im Vergleich zu 80 % in der BRD. Es dominierten klassische Betriebsformen wie Bedienungs- und SB-Lebensmittelgeschäfte sowie Warenhäuser und Fachgeschäfte für Non-Food-Artikel. Die Ladengeschäfte gehörten zu über 90 % drei sozialistischen Unternehmensformen, dem volkseigenen Einzelhandel HO, dem staatlichen System der Konsumgenossenschaften und dem übrigen sozialistischen Einzelhandel (z. B. Verkaufsniederlassungen der Kombinate). Neuere Betriebsformen (z. B. große Supermärkte, Discounter, Fachmärkte) fehlten, und privatwirtschaftliche Einheiten beschränkten sich im Wesentlichen auf das Ladenhandwerk. Das Standortsystem (Abb. 13.1) bestand aus einem dichten Netz von kleinen Lebensmittelläden und einem streng hierarchischen geplanten System von Non-Food-Geschäften: In den Kleinstädten gab es Fachgeschäfte, in den Bezirksstädten Kaufhaus und Fachgeschäfte und in den Großstädten mehrere Waren-/Kaufhäuser und Fachgeschäfte; alle Non-Food-Ladengeschäfte befanden sich in den Stadtzentren, Einkaufsstandorte am Stadtrand waren nicht vorhanden. Mit der Wiedervereinigung erfolgten in der ersten Transformationsphase in den 1990er-Jahren einerseits eine Privatisierung der Einheiten der DDR-Unternehmen und andererseits eine rasche Expansion von Filialisten, überwiegend aus Westdeutschland (Heckl 1995; Meyer 1992). Bei der „kleinen“ Privatisierung übernahmen meist ehemalige Angestellte die eher kleinflächigen Geschäfte. Da ihnen oft betriebswirtschaftliche Erfahrungen, Beziehungen zu Lieferanten oder Marketingkenntnisse fehlten und häufig die kleinen Einheiten nicht die erforderliche Umsatzuntergrenze erreichten, wurden sehr viele von diesen rasch wieder geschlossen. Bei der „großen“ Privatisierung übernahmen westliche Ketten zahlreiche Einheiten. Die größeren Geschäfte (z. B. Waren-/Kaufhäuser, Kaufhallen) modernisierten sie, während sie die kleinen Einheiten meist bald wieder schlossen. Zugleich errichteten westdeutsche Filialisten sehr schnell, teilweise in Traglufthallen oder leeren Gewerbegebäuden, moderne Super-, Fach- und Verbrauchermärkte. Die Neuansiedlungen erfolgten dabei überwiegend am
13 Entwicklung des Einzelhandels in Ostdeutschland
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DDR Mie der 1980er Jahre Agglomeraonsraum
ländlicher Raum
Ostdeutschland gegenwärg Agglomeraonsraum
Einzelhandelsstandort
ländlicher Raum
Siedlungstyp
City/Stadtzentrum
Oberzentrum
größeres Zentrum mit Teilfunkonen der City
Mielzentrum
kleineres Zentrum Ladengruppe/ einzelnes Ladengeschä nichntegrierter Standort großflächiger Betriebe Shopping Center
Grundzentrum Siedlung ohne zentrale Funkon Siedlungsfläche
Abb. 13.1 Modell der Standortstruktur des Einzelhandels in der DDR und in Ostdeutschland. (Quelle: Kulke 2010)
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E. Kulke
Stadtrand und im Großstadtumland, da einerseits aufgrund unklarer Eigentumslagen (Vorrang der Rückerstattung von Flächen an ehemalige Eigentümer) in den bebauten Gebieten keine Flächen verfügbar waren und anderseits im Umland bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre eine baurechtliche Lücke bestand, die Ansiedlungen ermöglichte. Denn mit dem Beitritt zum Grundgesetz konnten Gemeinden nach den Bundesgesetzen (BauGB und BauNVO) Sondergebiete für Einzelhandel darstellen. Die übliche Abstimmung mit der Raumordnung und die Anpassung an das zentralörtliche System waren dabei nicht erforderlich, denn die Gesetzgebung der Länder dazu war noch nicht erfolgt. Die geschilderten Prozesse führten in standörtlicher Hinsicht dazu, dass einerseits eine erhebliche Ausdünnung des Versorgungsnetzes erfolgte und andererseits zugleich ein massiver Suburbanisierungsprozess neuer Einzelhandelsstandorte stattfand. So erhöhte sich beispielsweise im Berliner Umland die Verkaufsfläche von 234.000 m2 im Jahr 1989 auf 1.172.000 m2 im Jahr 1997 (Kulke 2002); dieser Zuwachs entsprach etwa dem 2.5-Fachen der Verkaufsfläche von Ost-Berlin im Jahr 1989. Vor allem entstanden auf der „grünen Wiese“ Einzelhandelsagglomerationen mit mehreren Fachund Verbrauchermärkten und Shopping-Center mit einem Mix von Betriebsformen und Branchen. In der zweiten Phase der Einzelhandelsentwicklungen, ab Ende der 1990er-Jahre, kam es zu einer Reorientierung auf innerstädtische Lagen (Kulke 2002; Meyer 2001). Die Klärung der Eigentumsverhältnisse in den Städten eröffnete die Möglichkeit, eine wohnstandortnahe Einzelhandelsversorgung zu etablieren. Zugleich wurden die Ansiedlungsmöglichkeiten im Umland durch die nun vorhandenen raumplanerischen gesetzlichen Rahmenbedingungen der Bundesländer eingeschränkt. An Einzelstandorten innerhalb der bebauten Gebiete errichteten Filialisten moderne Betriebsformen des Lebensmitteleinzelhandels wie Discounter, Supermärkte und Verbrauchermärkte sowie Fachmärkte des Non-Food-Bereichs (z. B. Bau-, Heimwerker-, Möbelmärkte). Auffälligstes Merkmal der Reorientierung war die Errichtung von Shoppingcentern durch Trägergesellschaften (Kulke 2013). Die Shoppingcenter mit einem mittel- und langfristigen Angebot ergänzten vorhandene Stadtkerne oder Citybereiche, und kleinere Shoppingcenter mit kurz- und mittelfristigem Angebot erfüllten in den Großstädten (z. B. Ost-Berlin, Dresden, Leipzig) auch die Funktion von innerstädtischen Subzentren für die umgebenden Wohngebiete. Innerstädtische Subzentren mit einem kurz- und mittelfristigen Warenangebot (z. B. Lebensmittel, Haushaltsartikel, Bekleidung, Schuhe, Elektrogeräte) existierten in der DDR-Zeit fast gar nicht; die in der Umgangssprache meist als „Versorgungswürfel“ bezeichneten Einzelhandelsstandorte in den Großwohngebieten wiesen überwiegend nur ein kurzfristiges Angebot auf. Diese neuen Subzentren unterscheiden sich in ihren Merkmalen deutlich von den gewachsenen Subzentren westdeutscher Städte. So befinden sich die Ladengeschäfte in einer geschlossenen baulichen Anlage, die kein öffentlicher, sondern privater Raum ist. Entsprechend bieten sie einerseits eine gute Aufenthaltsqualität (Witterung, Sauberkeit, Gestaltung, Wachschutz), schließen aber andererseits
13 Entwicklung des Einzelhandels in Ostdeutschland
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utzergruppen (z. B. Straßenmusikanten, Bettler) aus. Ihr Angebot besteht aus einem N immer wieder verwendeten Mix aus größeren Magnetbetrieben (z. B. Verbrauchermarkt, Unterhaltungselektronikfachmarkt) und kleineren Fachgeschäften mit einer Sortimentsmischung aus kurz- und mittelfristigen Waren. In baulicher Hinsicht und im Warenangebot weisen diese Shoppingcenter eine große Uniformität auf. Weiterhin besteht eine extreme Dominanz von Filialisten (meist 95 % Flächenanteil), während inhabergeführte Geschäfte weitgehend fehlen. Diese innerstädtischen Entwicklungen führten zu einer deutlichen Verbesserung der wohnstandortnahen Versorgung und erweiterten die Funktionen innerstädtischer Zentren, zugleich verstärkten sie auch das Überangebot im suburbanen Raum (Overstoring = mehr Flächen und Angebot als der Nachfrage entspricht). Entsprechend mussten dort in einzelnen Fällen kleinere, weniger attraktive oder ungünstig gelegene Einheiten aufgegeben werden (Demalling = Schließung von Einzelhandelsbetrieben und Aufgabe von Standorten), und größere Einheiten versuchten durch qualitative Aufwertungen (Trading-up = Verbesserung von Sortimenten und baulicher Gestaltung) ihre Wettbewerbsposition zu sichern. Die jüngste Phase der Einzelhandelsentwicklungen, seit Ende der 2010er-Jahre, ist durch Ausdifferenzierungen der Einzelhandelslandschaften gekennzeichnet. Innerstädtische Standorte erfahren Aufwertungen, während es in gering verdichteten Gebieten zu einer weiteren Ausdünnung des Versorgungsnetzes kommt. Vons Seiten der Planung und Stadtentwicklung wurde versucht, innerstädtische Standorte zu stärken und suburbane Entwicklungen auf nicht-innenstadtrelevante Sortimente (z. B. Bau-, Möbelmärkte) zu begrenzen. Dies soll Verkehrsmengen und Flächenverbrauch reduzieren und entspricht den Leitbildern der „Stadt der kurzen Wege“ bzw. der „kompakten und durchmischten Stadt“ (Wiegandt 2009). Maßnahmen sind Verkehrsberuhigungen, Straßenraumgestaltung, bauliche Aufwertungen oder gemeinsame Marketingmaßnahmen in integrierten Einzelhandelsstandorten. Aufs Seiten der Konsumenten erfolgten durch den Einkommensanstieg eine verstärkte Nachfrage nach höherwertigen Waren und zugleich eine Diversifikation der Einkaufsmotivationen. Der Erlebniseinkauf gewann an Bedeutung; Einkaufen erfolgt dabei in Kombination mit Freizeitaktivitäten (z. B. Kinobesuch, Gastronomiebesuch), was Standorte mit Kopplungspotenzial (z. B. in Zentren und Shoppingcentern) stärkte. Zugleich wurden der Preiskauf in Ladengeschäften mit günstigem Angebot (z. B. Discounter) und der Kauf von ökologisch erzeugten Produkten (z. B. in Bioläden) wichtiger. Die Anbieter differenzierten ihre Sortimente entsprechend und suchten häufiger Standortgemeinschaften mit anderen Ladengeschäften (z. B. Vollsortimenter wie Edeka/Rewe mit Discountern wie Aldi/Lidl). Gleichzeitig kam es aber zu einem weiteren Ausdünnungsprozess des Einzelhandels in Streulagen und kleineren Siedlungen, da dort die Umsatzpotenziale für den Erhalt kleinerer Läden zu gering wurden; Bevölkerungsrückgang und die Umorientierung der Kunden auf Standorte mit Kopplungspotenzial trugen ebenfalls dazu bei.
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E. Kulke
13.2 Aktuelle Merkmale der Einzelhandelslandschaft Der erläuterte Entwicklungspfad und auch die aktuellen Rahmenbedingungen führten dazu, dass heute die Einzelhandelslandschaften in Ostdeutschland teilweise andere Merkmale aufweisen als jene Westdeutschlands. Aufgrund der niedrigeren Einkommen stellen sich die Nachfragebedingungen in Ostdeutschland anders dar. So liegt die Kaufkraft in allen ostdeutschen Bundesländern einschließlich Berlins deutlich unter dem Durchschnittswert Deutschlands (Tab. 13.1). Dies führt insgesamt zu einer stärkeren Orientierung auf preisgünstige Waren und zu geringeren Sortimentsanteilen von hochwertigen Markenprodukten. Ausdruck dieser anderen Nachfragebedingungen und des Anteils preisgünstiger Artikel ist die geringere Flächenproduktivität im Einzelhandel; so beträgt der Umsatz je Quadratmeter Verkaufsfläche in den ostdeutschen Bundesländern nur zwischen 74,3 % (Thüringen) und 83,6 % (Brandenburg) des Durchschnittswertes Deutschlands (Tab. 13.1). Auch bei den Anteilen verschiedener Betriebsformen zeigt sich die Preisorientierung. Während beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel Westdeutschlands der Flächenanteil von Discountern bei etwa 35,5 % liegt, beträgt dieser in Ostdeutschland (einschließlich Berlins) 45,2 %; demgegenüber gibt es deutlich weniger Vollsortimenter-Supermärkte (Westdeutschland etwa 36,2 %, Ostdeutschland 26,7 %) (Bulwiengesa 2017). Der Entwicklungspfad mit der raschen Errichtung von neuen Betriebsformen durch westdeutsche Filialisten und dem weitgehenden Fehlen von inhabergeführten Ladengeschäften ergab andere Angebotsformen und Besitzstrukturen. Wenig ausgeprägt ist der Anteil von Ladengeschäften des inhabergeführten nichtfilialisierten Fachhandels
Tab. 13.1 Merkmale des Einzelhandels in Ostdeutschland Kaufkraft je Einwohner*in 2017 in % a)
Umsatz je Einwohner*in 2014 in Euro b)
Verkaufsfläche je Einwohner*in 2014 in m2 b)
Einwohner*in je Shopping-Center 2017 c)
Berlin
91,5
6.316
1,54
90.325
Brandenburg
91,1
5.423
1,82
90.325
Mecklenburg-Vorpommern
84,2
4.821
1,7
94.429
Sachsen
85,8
5.125
1,7
99.537
Sachsen-Anhalt
84,6
4.818
1,72
92.625
Thüringen
85,5
4.814
1,68
153.642
6.483
1,83
172.839
Deutschland
100
(Quellen: a) Handelsverband Deutschland Zahlenspiegel 2018, basierend auf GfK b) Statistisches Bundesamt 2019 c) IHK Chemnitz 2017, basierend auf Daten des EHI Retail Institute)
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vor allem im Non-Food-Bereich (Fachgeschäfte z. B. aus den Bereichen Bekleidung, Unterhaltungselektronik, Haushaltsausstattung). Diese traditionellen Formen gab es in der DDR nicht, und nach der Wiedervereinigung entstanden nur wenige Einheiten, da diese Angebotsform allgemein unter starkem Konkurrenzdruck der Filialisten steht und im Wettbewerb meist nur noch in Marktnischen erhalten bleibt. Demgegenüber liegen sowohl im Non-Food-Bereich als auch im Lebensmittelbereich deutlich höhere Anteile von zu Filialisten gehörenden Discountern vor. Discounter sprechen die Preiskäufer (Orientierung der Kunden auf preisgünstige Artikel) an und stellen für die Filialisten eine kosteneffiziente Angebotsform dar. Generell dominieren in Ostdeutschland von großen Unternehmen geplante Einheiten gegenüber den über Jahrzehnte gewachsenen Einheiten. Dies drückt sich beispielsweise in der Shoppingcenterdichte aus. So liegt die Zahl der Einwohner*innen pro Shoppingcenter in Ostdeutschland sehr deutlich unter dem Durchschnittswert Deutschlands (Tab. 13.1). In den meisten ostdeutschen Ländern ist pro etwa 90.000 Einwohner*innen ein Shoppingcenter vorhanden (Durchschnittswert Deutschlands 172.839 Einwohner*innen), in welchem Filialen nationaler und internationaler Ketten dominieren. Hinsichtlich des Standortsystems bestehen in den ostdeutschen Bundesländern weitere Unterschiede (Abb. 13.1). Generell ist die Versorgungsdichte, gemessen an der Verkaufsfläche pro Einwohner*in (Tab. 13.1), etwas geringer als in Westdeutschland. Dies hängt einerseits mit der niedrigeren Kaufkraft zusammen, ist aber auch ein Indikator für das weniger dichte Versorgungsnetz mit kleinen Einheiten. In der Transformationsphase kam es durch die Aufgabe der kleinen Lebensmittelgeschäfte in den Wohngebieten der Städte und in den kleineren Siedlungen zu einer massiven Ausdünnung des Versorgungsnetzes, und es wurden dort aufgrund des begrenzten Nachfragevolumens später keine neuen SB-Läden errichtet. Zwar erfolgte in den letzten Jahrzehnten auch in Westdeutschland eine ausgeprägte Netzausdünnung, aber es blieben (noch) mehr kleine inhabergeführte oder durch Dorfgemeinschaften getragene Lebensmittelläden in den Streulagen erhalten. Deutlich höher ist in den ostdeutschen Bundesländern der Flächenanteil von nichtintegrierten Standorten am Stadtrand und in verkehrsgünstigen Lagen außerhalb der Bebauung. Eine aktuelle Untersuchung der CIMA (2017) für das Land Brandenburg ermittelte einen Flächenanteil von 44 % für die städtebaulich nichtintegrierten und auf Pkw-Kunden orientierten Lagen. Vergleichbare Werte in Westdeutschland liegen bei etwa 30 % (Kulke 2010, S. 229). Dieser hohe Anteil erklärt sich durch die in den 1990er-Jahren erfolgten Neuansiedlungen großflächiger Fach- und Verbrauchermärkte sowie Shoppingcenter außerhalb der geschlossenen Bebauung. Diese Standorte blieben nicht nur erhalten, sondern wurden später häufig durch weitere Einheiten ergänzt. Die frühe baurechtliche Darstellung als Sondergebiet für Einzelhandel, bevor diese Möglichkeiten durch die Raumplanung eingeschränkt wurden, blieb gültig und erlaubte auch später weitere Ansiedlungen. Einzelhandelsagglomerationen in nichtintegrierter Lage bieten für Kunden die immer wichtigeren Kopplungsmöglichkeiten. Entsprechend besitzen diese Standorte auch in der Gegenwart wichtige Versorgungsfunktionen.
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Innerhalb der Bebauung ist das Versorgungsnetz für Lebensmittel durch hohe Anteile von Discountern gekennzeichnet. Im Non-Food-Bereich prägen in starkem Maße die in einem Guss errichteten Shoppingcenter die Zentren von Städten und die Citybereiche sowie Subzentren der Großstädte (Abb. 13.1). Dabei lassen sich drei verschiedene Typen identifizieren (Kulke 2014). Erstens erfüllen regionale Shoppingcenter die Funktion von innerstädtischen Subzentren und orientieren sich auf die Nachfrager aus den umgebenden Wohngebieten. Sie weisen ein eher preisgünstiges Angebot an kurz- und mittelfristigen Gütern auf. Meist dient ein großflächiger Verbrauchermarkt (mit breitem und tiefem Lebensmittelsortiment und ergänzenden Non-Food-Artikeln) als Magnetgeschäft. Die übrigen Ladengeschäfte bieten vor allem Drogerieartikel, Bekleidung, Schuhe, Sportartikel und Unterhaltungselektronik; sie gehören ganz überwiegend zu nationalen Filialisten. Ergänzt wird das Warenangebot durch Gastronomiebetriebe, wobei auch hier Systemgastronomie (z. B. McDonalds, Subways, Starbucks) dominiert, und durch Freizeiteinrichtungen (z. B. Fitnessstudio, Kino, Bowlingbahn). Zweitens befinden sich in den Stadtzentren/Citybereichen Shoppingcenter, die Waren des mittel- und langfristigen Bedarfs mit mittlerem und höherem Preisniveau anbieten. Sie orientieren sich auf Kunden aus dem gesamten Stadtgebiet und der Umgebung. Sie besitzen meist größere Magnetbetriebe, häufig Fachmärkte und teilweise Kauf-/Warenhäuser, aus den Bereichen Bekleidung und Unterhaltungselektronik. Auf mehreren Etagen befinden sich daneben zahlreiche kleinere Ladengeschäfte mit vielfältigem Non-Food-Angebot (z. B. hat das ALEXA am Alexanderplatz in Berlin 170 Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von insgesamt 54.000 m2). Gastronomie- und Freizeiteinrichtungen sowie kundenorientierte Dienstleistungen ergänzen das Angebot. Drittens gibt es daneben in den Stadtzentren/Citygebieten teilweise auch kleinere, auf bestimmte Artikel spezialisierte Shoppingcenter – meist mit einer Orientierung auf höherwertige Warengruppen –, die deren zentrale Funktionen ergänzen.
13.3 Zukünftige Herausforderungen Der Einzelhandel in Ostdeutschland muss sich den allgemeinen Herausforderungen des Wandels stellen, weist aber auch spezielle räumliche und strukturelle Ausprägung auf, die spezifische Anforderungen ergeben. Eine allgemeine Herausforderung ist die weitere Verbreitung des Online-Einzelhandels (Franz und Gersch 2016). In einigen Non-Food-Warengruppen mit standardisierten Artikeln (z. B. Bücher, CDs/DVDs, Elektronikgeräte und teilweise Sportartikel, Bekleidung) ist er bereits etabliert und erweist sich als Konkurrent des stationären Einzelhandels. Dadurch sinken dort die Umsätze, und es kommt zu Betriebsaufgaben von kleineren nichtspezialisierten Einheiten. So ist beispielsweise bereits eine deutliche Ausdünnung bei kleineren Buchläden oder Geschäften mit Unterhaltungselektronik erfolgt. Dies kann sich in den ostdeutschen Ländern bei allgemein geringerer Verkaufsflächenproduktivität besonders auswirken.
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Ebenso ist in ganz Deutschland der Einzelhandel in den kleineren und mittelgroßen Zentren der ländlichen Räume unter Druck (Rauh und Eberle 2017). Hier bestehen bei abnehmenden Einwohner*innenzahlen im Einzugsbereich Konkurrenzen zwischen den großflächigen Ansiedlungen im Außenbereich und dem Stadtkern, bei gegebener Mobilität der Kunden Wettbewerb mit dem diversifizierten Angebot in den größeren Zentren und bei weiter wachsendem Online-Handel die Wahrscheinlichkeit von Umsatzrückgängen im stationären Einzelhandel. In den ostdeutschen Bundesländern, mit zahlreichen kleineren Städten in ländlichen Räumen, ist es eine große Herausforderung, den innerstädtischen Einzelhandel zu sichern. Die demographische Situation in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands stellt eine spezielle Herausforderung für die Sicherung der Einzelhandelsversorgung dar (Kap. 30). So weisen alle ostdeutschen Bundesländer, mit Ausnahme von Sachsen (221 Einwohner*innen je km2), Bevölkerungsdichten auf, die weit unter dem Durchschnitt Deutschlands liegen (Deutschland: 230 Einwohner je km2; Brandenburg: 84, Mecklenburg-Vorpommern: 69, Sachsen-Anhalt 110, Thüringen 134 Statistisches Bundesamt 2019). Zugleich ist dort die Altersgruppe der über 65-Jährigen besonders stark vertreten. Das bedeutet, dass die lokale Einzelhandelsnachfrage für den Erhalt von Geschäften in Streulagen schon jetzt zu gering ist und noch weiter sinken wird. Damit ist eine weitere Ausdünnung des Versorgungsnetzes im Lebensmittelbereich und auch eine Gefährdung des Erhalts des Einzelhandels in kleineren Zentren zu erwarten, und es können sogenannte food deserts auftreten (Jürgens 2018); das sind räumliche Versorgungslücken genereller (d. h. für alle Güter) und spezieller Art (d. h. beispielsweise für Frischeprodukte), von denen insbesondere die Gruppe der älteren Personen ohne Individualverkehrsmittel betroffen ist. Mobile Versorgungssysteme (z. B. Verkaufswagen) oder Liefersysteme (mit z. B. Telefon- oder Online-Bestellungen) können hier Lücken schließen, wobei allerdings im Lebensmittelbereich noch Limitationen in der Umsetzung bestehen (Dederichs und Dannenberg 2017). Ein deutlicher Hinweis für die jetzt schon erfolgte Netzausdünnung ist die Leerstandsquote, welche für das Land Brandenburg von der CIMA für das Jahr 2016 ermittelt wurde; demnach sind dort 23 % der Einzelhandelsflächen des Landes ungenutzt (CIMA 2017).
13.4 Fazit Der Einzelhandel in den ostdeutschen Bundesländern hat in den Jahren seit der Wiedervereinigung einen tiefgreifenden Wandel vollzogen. Es erfolgten deutliche Verbesserungen der Versorgungssituation und der Vielfalt des Angebots zuerst in den nichtintegrierten Lagen und später in den Stadtkernen. Die Einzelhandelslandschaft mit hohen Anteilen von Filialisten, großer Bedeutung nichtintegrierter Standorte und hohen Marktanteile geplanter Standorte wie Shoppingcenter unterscheidet sich von jener Westdeutschlands. Gegenwärtig besteht die Gefahr von Ausdünnungen in dem Versorgungs-
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netz. Der Erhalt einer Mindestversorgung in den ländlichen Räumen mit abnehmender Einwohner*innenzahl wird immer schwieriger. Ebenso tritt ein verschärfter Wettbewerb, vor allem in den kleineren und mittelgroßen Städten, zum Online-Handel mit Lieferverkehr sowie zwischen dem Einzelhandel in den Stadtkernen und in den nichtintegrierten Standorten auf. Einzelhandelsunternehmen, kommunale und regionale Planung und Verbraucher stehen hier vor großen Aufgaben zur Sicherung einer wohnstandortnahen und ausreichend vielfältigen Versorgung.
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Teil III Sozialer Wandel in Ostdeutschland
„Mitteldeutschland“. Regionalentwicklung und regionale Identität aus konstruktivistischer Perspektive
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Tilo Felgenhauer
Zusammenfassung
Wie wurden nach der Wiedervereinigung und damit nach dem Ende der Bezirke in der DDR Regionen neu geschaffen oder historische Regionen wiederbelebt? Aus der Perspektive einer konstruktivistischen Regionalforschung diskutiert der Beitrag die Neuerfindung bzw. Wiederentdeckung „Mitteldeutschlands“ durch Medien, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Die Befunde werden in eine konzeptionelle Diskussion über die Konstruktionsprozesse von Regionen als Ausdruck gesellschaftlicher Beziehungen eingeordnet. Regionskonstruktionen stehen dabei vor der Herausforderung, technisch-funktionale Praktiken (Logik des Tauschens) mit kulturellen, identitätsstiftenden Angeboten (Logik des Teilens) zu verzahnen.
14.1 Einleitung Die Regionalentwicklung in Ostdeutschland wurde von vielen Akteuren und vor allem Eliten in den ersten Jahren ab 1990 zunächst als materieller Aufbau verstanden. Der „Aufbau Ost“ bedeutete primär einen Auf- und Umbau der Wirtschaft, die Bereitstellung von Versorgungsleistungen für die Bewohner, die Transformation von Verwaltung und die Modernisierung der technischen Infrastruktur Ostdeutschlands. Doch auch das Thema „regionale Identität“ wurde mit der Schaffung der neuen Bundesländer (samt Landesverfassungen, Hymnen, manchmal deren Umbenennung in sogenannte „Freistaaten“)
T. Felgenhauer (*) Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_14
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früh adressiert (Luutz 2002). Dabei wurde zwar die grundsätzliche Relevanz und Orientierungsleistung kollektiver Sinnressourcen, wie raumbezogene Identitäten sie darstellen, in der Phase des postsozialistischen Umbruchs von vielen erkannt. Aber praktisch wurde regionale Identität eher als Organisationsaufgabe bewältigt, denn als kultureller Prozess eröffnet. Überspitzt gesagt, wurde „Identität“ oft als Versorgungsgut analog zum Aufbau des Telefonnetzes gedacht – mit der entsprechenden Diagnose von Defizit oder Versorgungslücke und vermeintlich dazu passenden „Maßnahmen“ als Teil eines Aufholprozesses. Andererseits hat sich – vielleicht als Gegenbewegung – eine kollektive Emotionalität entfaltet, die Fragen von Identität als ohnehin uneinholbar ansieht, im Sinne der Haltung: „Nur die Ostdeutschen selbst verstehen die Ostdeutschen“. Man sprach und spricht (auch „im Westen“) viel eher von „Befindlichkeit“ und „Mentalität“ als von „Aushandlung“ und „Konstruktion“. Es geht, so wird oft suggeriert, um etwas Feststehendes, Unhintergehbares – um eine Essenz, ein „Wesen des Ostens“ – je nach Diskursposition einsortiert als Wert oder Problem (Kap. 2). In diesem Spannungsfeld zwischen strategischer, politischer Planbarkeit und dem Beharren auf einem ostdeutschen Wesenskern bewegen sich die Diskussionen um die regionalen Identitäten Ostdeutschlands (vgl. Kap. 15). Dies galt für die neuen Bundesländer als feste territoriale Einheiten wie auch für vermeintlich vagere Regionskonstruktionen wie „Mitteldeutschland“. Gerade dieses Beispiel erscheint sozialgeographisch interessant, weil „Mitteldeutschland“ in den 1990er-Jahren gleichermaßen erfunden wie auch wiederentdeckt wurde. Die aufkommenden medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskurse um die Bestimmung und den Charakter der Region „Mitteldeutschland“ boten damit eine besondere Laborsituation. Auf den Prozess der Schaffung einer Region, vor allem über ihre Landschaft und Geschichte, zielten die Fragen eines DFG-Forschungsprojektes (Felgenhauer et al. 2005; Schlottmann et al. 2007): Wie wird Region unter den globalisierten und mediatisierten Bedingungen der Spätmoderne gemacht? Welche Akteure, Praktiken und Diskurse verfestigen bestimmte Vorstellungen von „Mitteldeutschland“? An welche historischen Bedeutungen der Region schließen die aktuellen Diskurse dabei an? Damit wurde eine konstruktivistische Regionalforschung (Werlen 1997; Paasi 2003) begonnen, die Regionen weder als materielle Naturgegenstände noch als lebendige Wesenheiten ansieht, die einen mythischen Weg durch die Geschichte beschreiten. Dagegen sollte eine Beobachtung und Analyse der Praktiken des Regionalisierens aufzeigen, wie die Stabilität und auch die Wandelbarkeit regionaler Bezugseinheiten im Alltag entstehen. Qualitative Methoden der Beobachtung, der Medieninhalts- und der Sprachanalyse halfen dabei, die Herstellung „Mitteldeutschlands“ zu rekonstruieren. Im Folgenden soll eine knappe Einführung zum Begriff „Mitteldeutschland“ und zur Bedeutung „Mitteldeutschlands“ für verschiedene Handlungskontexte gegeben werden. Im Anschluss daran werden einige Spannungslinien in der sozialen Konstruktion „Mitteldeutschlands“ aufgezeigt und diskutiert.
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14.2 Deutungen und Konstruktionen von „Mitteldeutschland“ 14.2.1 Zur Geschichte des Begriffes „Mitteldeutschland“ Der Diskurs um „Mitteldeutschland“ begann im frühen 19. Jahrhundert in den Sprachwissenschaften. Das Mitteldeutsche wurde als Dialektgruppe identifiziert, die in ihrer räumlichen Verbreitung vom Rheinland bis nach Ostsachsen und in das südliche Brandenburg reicht (Rother 1995, S. 9). Aber auch in der Geographie des 19. Jahrhunderts wurde „Mitteldeutschland“ diskutiert im Zuge der Probleme, die sich aus einer natürlichen Begrenzung und Definition Deutschlands insgesamt ergaben. Die innere Heterogenität des deutschen Territoriums, die eine äußere natürliche Begrenzung erschwerte und kein eindeutiges geographisches Zentrum erkennen ließ, wurde nach und nach umgedeutet in einen harmonischen Dreiklang aus Norden, Mitte und Süden (Schultz 1998, S. 101 f.). „Mitteldeutschland“ – verortet als breiter Streifen zwischen Nord- und Süddeutschland (Schönfelder 2001, S. 161) – wurde dabei vom zersplitterten, uneinheitlichen Raum des Übergangs (Riehl 1835, 135; zit. v. Schultz 1998, S. 99) zum verbindenden Glied. Mitteldeutschland wandelte sich im geographischen Diskurs von einer einheitsverhindernden Barriere hin zur vermittelnden Schwelle zwischen Nord und Süd. Damit war der Begriff ins Spiel gebracht – wenn auch die genaue räumliche Gestalt der so bezeichneten Region changierte. In den 1920er-Jahren rückte dann in der Geographie analog zur zentralen Lage und Rolle Deutschlands in Europa ein konzentrisch bestimmtes „Zentrum-Peripherie-Mitteldeutschland“ (Schultz 2005, S. 43 f.) sprichwörtlich in den Mittelpunkt (Gibas und Haufe 2005). Als vermeintlich „deutscheste“ der deutschen Regionen steht diese für den Menschenschlag der „Mitteldeutschen“ – für deren Fleiß und ihre kreative Verarbeitung äußerer Einflüsse (Schultz 2005, S. 45 ff.). Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurde allerdings diese Einengung Mitteldeutschlands durchaus auch kritisiert (ebd.), in Politik und Planung wurde sie dankbar rezipiert, wie durchaus ernsthafte Überlegungen einer frühen Länderfusion zeigen (John 2001b; Richter et al. 2007). Außerhalb der Geographie wurde in den 1920er-Jahren „Mitteldeutschland“ in Wirtschaft und Alltag der Weimarer Republik häufig noch enger gefasst. Hier bezeichnete das „mitteldeutsche Industriegebiet“ einen Raum um Leipzig, Merseburg und Halle. Entsprechende Marken und Institutionen (z. B. Mitteldeutsche Zeitung, Mitteldeutsche Fahrradwerke, Mitteldeutscher Rundfunk) wurden zu dieser Zeit bekannt. Ab etwa 1950 (teilweise auch wieder ab 1990) gab es in der Bundesrepublik eine rechtsnationale Vereinnahmung des Begriffes, indem „Mitteldeutschland“ als ein Stellvertreterbegriff für „DDR“ gebraucht wurde (Schönfelder 2001, S. 165), mit dem man die Bezeichnung „DDR“ meiden und mit dem sich gleichzeitig aufrechterhaltene Ostgebietsansprüche implizit ausdrücken ließen. „Ostdeutschland“ liegt demnach östlich der DDR, so der Subtext dieser Mitteldeutschland-Variante (Schultz 2005, S. 49).
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Die Wiederbelebung des Begriffes in den 1990er-Jahren wurde unter anderem durch den neu gegründeten Mitteldeutschen Rundfunk als gemeinsame Sendeanstalt der drei Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und durch Beiträge zur Debatte um die administrative Neugliederung des Beitrittsgebietes getragen (Rutz 2001). Regionale Medien sollten die regionale Identität der Ostdeutschen stärken. Der MDR als Regionsund „Identitätskonstrukteur“ hatte dabei mit dem Übergang von „Ostdeutschland“ zu „Mitteldeutschland“ einen Diskurswechsel vorgenommen, um die üblichen, meist negativen Konnotationen des Begriffes „Ostdeutschland“ abzustreifen und gleichzeitig ein Einrücken vom Rand ins Zentrum zu befördern. Darüber hinaus wurde „Mitteldeutschland“ auch in anderen Kontexten aufgegriffen. So ergibt sich ab Ende der 1990er-Jahre ein Bild der breiteren Rezeption und Ausdeutung des Begriffes „Mitteldeutschland“.
14.2.2 Aktuelle Bedeutungsdimensionen Mitteldeutschlands Aktuell wird der Begriff „Mitteldeutschland“ in verschiedenen Kontexten benutzt. Diese unterscheiden sich weniger durch die räumliche Definition der Region – hier hat sich die Definition als Drei-Länder-Einheit Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen weitgehend durchgesetzt – als vielmehr in den Eigenschaften, die man dem Regionskonstrukt zuweist. So wird „Mitteldeutschland“ inhaltlich je nach Handlungskontext unterschiedlich bestimmt. In technisch-pragmatischer Form gilt es für den MDR, ein aus den drei Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bestehendes Gebiet mit einem gemeinsamen Rundfunkprogramm1 zu versorgen. Diesen Auftrag erfüllt der Mitteldeutsche Rundfunk in gewisser Weise vor jeder Diskussion um Wesen und Grenzen eines gedachten oder realen „Mitteldeutschlands“. Was den rechtlichen Rahmen und institutionellen Auftrag angeht, ist „Mitteldeutschland“ zunächst einmal ganz einfach das „Sendegebiet“ des MDR. In Zeiten von Kabel- und Satellitenfernsehen ist dieses Sendegebiet allerdings zunehmend eher ein institutionell vorgeschriebenes denn ein technisch real konstruiertes. Das Senden endet nicht wie im alten terrestrischen Verfahren mit dem Schwinden der Sendeleistung hinter den Rändern des Gebietes, sondern ist nunmehr rein durch die institutionellen Vorgaben innerhalb der ARD definiert. In politisch-planerischer Hinsicht gab es 1990 Überlegungen, weniger als fünf neue Bundesländer und entsprechend ein der Einheit Sachsen/Sachsen-Anhalt/Thüringen ähnliches, großes Bundesland zu gründen (Rutz 2001). Später gab es immer wieder Stimmen, die eine Fusion der drei Bundesländer zu „Mitteldeutschland“ forderten oder mindestens erwogen (Old und Rössel 2018, S. 12). Kommunalpolitiker*innen aus dem
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davon waren und sind feste Slots im TV-Programm, die von den drei Landesfunkhäusern mit länderspezifischen Inhalten gefüllt werden, sowie teilweise länderspezifische Radioprogramme.
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Raum Halle/Leipzig und Landespolitiker*innen aus Sachsen-Anhalt regten mehrfach eine Diskussion um effizientere Verwaltungen und die Abschaffung hinderlicher Landesgrenzen an. Gerade vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und eines verschärften interregionalen Wettbewerbs könnte ein solches „Mitteldeutschland“ mit dem Agglomerationsraum Halle-Leipzig im Zentrum für einige Akteure als gangbare Zukunftsvision erscheinen. Erwartbar waren und sind die Widerstände gegen diese Neugliederung in Dresden am größten, das nicht nur traditionell Hauptstadt Sachsens ist und bleiben will, sondern in einem geeinten „Mitteldeutschland“ eine geographische Randlage einnehmen würde. Wie viele Fusionsprojekte wird dieses Vorhaben auch durch die Beharrungskräfte bestehender Strukturen gebremst. Gleichwohl wurde mit der „Initiative Mitteldeutschland“ eine vertiefte Länderkooperation begonnen. Historisch wurde „Mitteldeutschland“ in den Geschichtswissenschaften als mehr oder weniger einheitliche, vor- und frühneuzeitliche Geschichtslandschaft (kritisch: John 2001a, S. 22 ff., S. 30) und von der evangelischen Kirche vor allem als Ursprungsund Kernland der Reformation bestimmt. Zu Luthers Leben und Wirken finden sich im mitteldeutschen Raum zahlreiche Zeugnisse, und hier wird auch am intensivsten an ihn erinnert (besonders im Jubiläumsjahr 2017 in „Luthers Land“, wie auch der Titel eines Themenheftes der Geographischen Rundschau lautete; Schönfelder 2017). Aber auch Bach, Goethe und die frühe Industrialisierung bilden historische Kernbestände einer retrospektiv konstruierten Geschichtsregion „Mitteldeutschland“. Der Mitteldeutsche Rundfunk hat diese Kernbestände in seinem langjährigen Multimediaprojekt „Geschichte Mitteldeutschlands“ mit großem Einsatz herausgestellt (Schrade 2000; Schreiner und Wildermuth 2013). Ein reiches historisches Erbe der Region wurde mit weiten historischen Rückgriffen lebendig vorgeführt, auch um den tiefen Spuren des Totalitarismus im 20. Jahrhundert im Selbstverständnis der Region und im Bewusstsein der „Mitteldeutschen“ eine ältere und positivere Narration zur Seite zu stellen. Geschichte wurde auf den regionalen Rahmen bezogen und so zur Kollektivleistung der „Mitteldeutschen“ stilisiert. Dieses Projekt einer Identitätsbildung durch die Vermittlung von Regionalgeschichte wurde begleitet durch wissenschaftliche Reflexion, Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen und im Rahmen des gesellschaftlich breit aufgestellten Kuratoriums „Geschichte Mitteldeutschlands“. Die traditionell-geographische Bestimmung „Mitteldeutschlands“ als Landschaftsraum (Rother 1995; Schönfelder 2001; kritisch: Schultz 2005; Kap. 35) wurde nach 1990 auch im klassisch länder- und landschaftskundlichen Sinne fortgeführt. Spezifischer als im 19. Jahrhundert – als ein breiter Streifen zwischen Nord- und Süddeutschland als „Mitteldeutschland“ definiert wurde – wurde die Region nun als Raum zwischen den Mittelgebirgen Harz, Thüringer Wald und Erzgebirge bestimmt und in Verbindung mit dem historischen „Mitteldeutschland“ als eine schlüssig abzugrenzende Natur-Kultur-Einheit aufgefasst. Auch wenn solche Entwürfe mit der jüngeren Humangeographie und deren konstruktivistischer Perspektive schlecht vereinbar waren, haben sie doch eine gewisse diskursive Wirkung entfalten können. In der Vielfalt der Mitteldeutschland-Bestimmungen waren und sind sie jedenfalls ebenso vertreten.
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Die Region „Mitteldeutschland“ wird zudem in ökonomischen Zusammenhängen konstruiert. Die Sichtweise, dass es sich bei „Mitteldeutschland“ um einen Funktionsraum handelt, der nach innen stärker vernetzt ist als nach außen, bildet ein zentrales Argument für die zunehmende, Ländergrenzen übergreifende Wirtschaftskooperation, u. a. im Rahmen der „Metropolregion Mitteldeutschland“ (Federwisch 2012). Nicht zwingend durch die Transformation bestehender Verwaltungsgrenzen, sondern durch Maßnahmen und Programme, die deren behindernde Wirkung abmildern (Ringel et al. 2007), sollen Verflechtungen innerhalb Mitteldeutschlands als eine wichtige Wachstumsressource gefördert werden. Dabei stehen, wie schon im industriellen „Mitteldeutschland“ der Zwischenkriegszeit, aus ökonomischer Sicht Halle, Leipzig und die umgebenden Chemiestandorte als mitteldeutscher Kernraum – gewissermaßen „die Mitte der Mitte“ – im Vordergrund (Tzschaschel und Hanewinkel 2007). All diese unterschiedlichen Bedeutungen „Mitteldeutschlands“ greifen zwar nicht widerspruchsfrei ineinander, haben aber letztlich alle in den letzten Jahrzehnten zur erneuten Etablierung der Bezugskategorie „Mitteldeutschland“ beigetragen.
14.3 Spannungsfelder der Konstruktion „Mitteldeutschlands“ Eine konstruktivistische Sicht schafft Sensibilität für die Gemachtheit und Kontingenz von Regionen, für die vielfältigen Kontexte, Praktiken und Diskurse, welche die Region alltäglich (re)produzieren (Werlen 1997; Paasi 2003; Schlottmann 2005). Die skizzierten Handlungskontexte und Diskurse zeigen, dass „Mitteldeutschland“ als Handlungsresultat zu betrachten ist und dass es gleichzeitig als Rahmen für Folgehandlungen fungiert. Vor allem Routinen des Bezeichnens und Benennens erzeugen nach und nach die Vorstellung eines realen und stabilen „Mitteldeutschlands“. Um nun die Vielfalt dieser Praktiken und Diskurse zu ordnen, aber auch, um die praktischen Probleme und Konflikte alltäglicher Regionalisierung zu beleuchten, sollen im Folgenden einige Spannungsfelder des „Region-Machens“ vorgestellt und diskutiert werden.
14.3.1 Künstliche vs. natürliche/echte Regionen? In geographischen und historischen Diskussionen wurde in den 1990er-Jahren kontrovers über die Frage gestritten, ob es sich im Falle „Mitteldeutschlands“ um eine „echte“, „gewachsene“ oder um eine „künstliche“ Region handelt. Die Frage stand vor allem im Mittelpunkt der geographischen und historischen Diskussionen um „Mitteldeutschland“ (John 2001a; Schultz 2005; Felgenhauer 2007, S. 179 ff.). Mit dem Ausweisen von vermeintlich natürlichen oder mindestens historisch gewachsenen Grenzen sollte aus Sicht einiger Diskursteilnehmer der „Makel der Künstlichkeit“ abgelegt werden. Aus Sicht der aktuellen handlungszentrierten Sozialgeographie erscheint die Frage nach der „Künstlichkeit“ vs. „Echtheit“ einer Region jedoch obsolet, weil sie impliziert,
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dass es natürliche, „echte“, gewachsene und handlungsunabhängig bestehende Regionen geben kann, die sich vorteilhaft von vermeintlich künstlichen, erfundenen Regionen abheben würden. Das Nachzeichnen der Konstruiertheit von Regionen ist aber nicht als das Aufweisen eines Makels zu verstehen – Regionen sind letztlich immer das Ergebnis menschlicher Praktiken und nicht Naturgebilde. Was sich aber sehr wohl diskutieren lässt, ist die Frage, inwiefern die Konstruktion der Region „Mitteldeutschland“ mithilfe von Figuren des Natürlichen betrieben wird; wie also von den Akteuren selbst mit der Strategie der Naturalisierung gearbeitet wird (Felgenhauer 2013).
14.3.2 Top-down oder Bottom-up? Das Beispiel „Mitteldeutschland“, seine vielfältigen Konstruktionszusammenhänge und seine sehr verschiedenen Bedeutungen werfen die Grundfrage auf, ob sich Regionen oder regionale Identitäten strategisch erzeugen lassen und damit planbar sind. Bei der Analyse der Konstruktion von Regionen wird häufig zwischen „Top-down-“ und „Bottom-up“-Prozessen unterschieden (John 2001c). Damit wird die Gemachtheit und Konstruiertheit von Region anerkannt. Gleichwohl wird hiermit aber gleichzeitig eine Hierarchie vorgestellt, die Regionalisierungsprozesse implizit normativ bewertet. Betont man etwa, dass die Region „Mitteldeutschland“ vor allem strategischen, politischen und medialen Konzepten entstammt (und weniger ein bereits bestehender räumlicher Bezugsrahmen der breiten Öffentlichkeit ist), liegt eine Kritik an „Mitteldeutschland“ als „Top-down-Projekt“ nahe. „Mitteldeutschland“ mangelte es in dieser Wahrnehmung dann an breiter Legitimation – es bliebe ein Elitenkonstrukt. Strategische Konzepte, wie sie im Zusammenhang mit „Mitteldeutschland“ entworfen wurden (s.oben; z. B. von MDR, Landesregierungen, Planungsinstitutionen etc.), wissenschaftliche Studien (z. B. aus der länderkundlichen Geographie) und sonstige Expertendiskurse würden als „top“ bzw. „up“ gekennzeichnet, während die breite Öffentlichkeit (als „bottom“ bzw. „down“) lediglich als Empfänger bzw. Resonanzboden dieses „Mitteldeutschlands“ erschiene. Diese eindimensionale Vorstellung von Gesellschaft und Region als ein Oben und Unten suggeriert außerdem, dass diese beiden Seiten auch systematisch im Gegensatz zueinander stünden. Die qualitative Forschung zu „Mitteldeutschland“ und dem MDR (Felgenhauer und Schlottmann 2007) hat aber gezeigt, dass diese Zweiteilung die hierarchische Komponente überbetont und viele horizontale und alltägliche Aspekte des Handelns mit Bezug auf die Region nicht berücksichtigt.
14.3.3 Territorial oder relational? In der theoretischen Diskussion um Regionen dominiert aktuell die Grundunterscheidung zwischen territorialen und relationalen Regionsbegriffen (Jones 2009). Im ersten Fall, der territorialen Perspektive, betont man die statische, stabilisierende
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und begrenzende Dimension von Region als Rahmen des Handelns. Der relationale Regionsbegriff dagegen denkt Region in veränderlichen, flüchtigen Bezügen und Netzwerken (Bathelt und Glückler 2003). Beide Dimensionen sind jedoch nicht getrennt, sondern schaffen in ihrem Zusammenspiel das, was als sich verändernde Räumlichkeit wahrgenommen wird (Amin 2007, S. 103). Neue, veränderliche Bezüge arbeiten sich gewissermaßen an vorgefundenen Territorialitäten ab, die ihre grundsätzliche Relevanz behalten (Jones 2009, S. 493). Mit der Unterscheidung territorial/relational lassen sich mit Bezug auf „Mitteldeutschland“ die räumlichen Grenzziehungen, die sich an den Außengrenzen der drei Bundesländer orientieren, als offensichtlich territorial fassen, während die Diskurse und Praktiken, welche diese territoriale Einheit letztlich hervorbringen und stabilisieren, zum großen Teil relational in Netzwerkform organisiert sind. Das relationale Element kann so Erklärungen für die Wandelbarkeit scheinbar fest gefügter Territorialisierungen liefern. Baars und Schlottmann (2015) haben mit Bezug auf „Mitteldeutschland“ den Begriff der „Phantomregion“ geprägt, mit der solche Formen der wiederkehrenden, gleichwohl wandelbaren Regionskonstruktion gemeint sind.
14.3.4 Gesellschaftlich tauschen oder kulturell teilen? Die Unterscheidung gesellschaftlicher von kulturellen Praktiken bildet eine weitere Möglichkeit, die Prozesse der Regionskonstruktion zu rahmen. Während klassische gesellschaftstheoretische Modelle eine steigende funktionale Differenzierung der Gesellschaftsglieder bei gleichzeitigem Anwachsen der gegenseitigen Abhängigkeit der Glieder untereinander annehmen (stellv. Spencer 1898 [1864]; siehe Abb. 14.1,
Abb. 14.1 Gesellschaftliche Beziehungen integrierter Differenz (Modus des Tauschens; links) und Beziehungen kultureller Identität als Bindungen, die aus einem Aspekt der Gleichheit heraus entstehen (Modus des Teilens, Mitte). Kulturelle Bindung durch Gleichheit wiederum konstituiert sich durch eine Differenz nach außen, d. h. in Abgrenzung zu anderen kulturellen Identitäten (ganz rechts). (Quelle: Eigene Darstellung)
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linke Seite), stellen viele kulturtheoretische Ansätze kollektiv geteilte Bedeutungen, z. B. von Normen, Gütern und Gemeinschaft, in den Vordergrund (Tylor 1903 [1871]; Eagleton 2009). Der grundlegende Unterschied zwischen diesen Zugangsweisen spiegelt sich im Unterschied zwischen den Verben tauschen und teilen. Beim Tauschen treten Akteur*innen miteinander in Beziehung, weil sie Güter oder Fähigkeiten des anderen nutzen möchten, die sie selbst nicht besitzen, und dafür im Gegenzug ein eigenes Gut oder eine eigene Leistung anbieten. Das Tauschen beruht damit notwendig auf Verschiedenheit. Praktiken des Teilens beruhen dagegen auf einer Gemeinsamkeit (Gemeingüter, gemeinsame Wissensressourcen, normative Erwartungen, geteilte kulturelle Identitäten etc.) oder stellen diese her. Teilen enthält somit immer auch ein Moment der Gleichheit. Daraus resultieren grundlegend verschiedene Vorstellungen von Regionen. Beispielsweise spiegeln sich Tauschbeziehungen in Darstellungen von spezialisierten, aber verflochtenen Teilräumen einer Region. Praktiken des Teilens sind dagegen konstitutiv für die unter den Akteuren geteilte Überzeugung, in einer gemeinsamen Region zu leben und zu arbeiten. Das beinhaltet notwendig auch die Abgrenzung der regionalen kulturellen Identität nach außen (siehe Abb. 14.1, rechts). Mit dem Begriff des Tauschens können im Falle „Mitteldeutschlands“ z. B. alle arbeitsteiligen Praktiken der regionalen Wirtschaft erfasst werden. Auch Bestrebungen in der Regionalplanung, funktionale Spezialisierung bei gleichzeitiger Vernetzung von Teilräumen anzuregen, passen zu dieser Logik. Beispiele für Praktiken des Teilens sind im Falle „Mitteldeutschlands“ dagegen die vielfältigen Identitätsangebote, z. B. die mediale Darstellung des Gemeinsamen der Region für die Öffentlichkeit (Geographie und Geschichte „Mitteldeutschlands“), oder auch die programmatische Ausrichtung der Metropolregion, eine gemeinsame Klammer der Identität für vielfältige Akteure und Interessen anzubieten. Daraus, dass Wirtschaft notwendig im Modus des Tauschens funktioniert und raum- und regionsbezogene Identitätsbildung ebenso notwendig der Logik des Teilens folgt, entsteht ein Grundproblem. Beide Praxisformen sind wichtig, aber grundverschieden. Die große Herausforderung der „mitteldeutschen“ regionalen Entwicklung besteht darin, sie dennoch miteinander nachhaltig zu verzahnen.
14.4 Fazit: „Mitteldeutschland“ zwischen Pragmatismus und Identifikation Lässt man die Konstruktion „Mitteldeutschlands“ seit 1990 Revue passieren, ergibt sich ein heterogenes Bild, welches sich über drei Felder des Regionalisierens grob erschließen lässt. Zum einen lassen sich die Bezugnahmen auf „Mitteldeutschland“ als pragmatische Regionalisierung verstehen. So hat die „Mitteldeutschland“-Renaissance zu Beginn der 1990er-Jahre ihren Ursprung in den Diskussionen um den territorialen Zuschnitt der neuen Bundesländer. Auch tauchen praktische Argumente, v. a. Effizienzsteigerung und
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Kostenreduktion, im Zuge jüngerer Länderfusionsvorschläge wieder auf. So wurde die Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks als Drei-Länder-Anstalt zunächst als Ausdruck praktischer Vernunft und Notwendigkeit vollzogen. Zum Zweiten ließ sich vor allem im Verlaufe der 1990er-Jahre die Entwicklung eines umfangreicheren inhaltlichen Identitätsangebotes für die „Mitteldeutschen“ beobachten. Dabei ging es um die Aufgabe, ein möglichst breites Spektrum an Akteuren, Sprechweisen, Agenden und Weltbildern für ein mehr oder weniger kohärentes „Kommunikationsprogramm“ regionaler Identität zu gewinnen. In diesem Prozess hat sich die hauptsächliche Deutung „Mitteldeutschlands“ als Drei-Länder-Einheit S achsen/ Sachsen-Anhalt/Thüringen herausgeschält. „Mitteldeutschland“ wurde dabei zum Teil als ein strategisches Konzept entwickelt, bot aber auch ein offenes Podium für die allgemeine Wiederentdeckung lokaler und regionaler Sinnbezüge (der Wiederbelebung von Heimat, Tradition, Geschichte) im postsozialistischen Kontext. Gleichwohl erlangte es kaum den Status einer breit etablierten Selbstbeschreibungsformel der Bewohner der so bezeichneten Region (Schlottmann et al. 2007). Drittens bildet „Mitteldeutschland“ auch ein offenes, heterogenes Diskurs- und Handlungsfeld in Wissenschaft, Politik, Kultur und Ökonomie, in dem verschiedene Akteure und Netzwerke „Mitteldeutschland“ als mehr oder weniger fest definierten räumlichen Bezugsrahmen aufgreifen. Hierbei werden mit „Mitteldeutschland“ spezialisierte Handlungskontexte mit wechselndem räumlichem Zuschnitt adressiert, und weniger die breite Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich das Gesamtbild eines Nebeneinanders regionaler Bezüge und Identitäten, und weniger die wissenschaftliche Aufgabe, die „richtige“, „gewachsene“ oder „echte“ regionale Identität hervorzuheben. Stattdessen sollte der Anspruch an eine zeitgemäße Regionalforschung sein, die Vielfalt der regionalen Bezüge zu erfassen und deren gedankliche, räumliche Ordnung zu rekonstruieren. Insbesondere die Passungen und Bruchlinien zwischen verschiedenen Ebenen der raumbezogenen Identität sind dabei in den Blick zu nehmen. Erweisen sich verschiedene Ebenen raumbezogener Identität als kompatibel (z. B. Sachsen in Mitteldeutschland in Ostdeutschland in Deutschland) oder wird z. B. „Mitteldeutschland“ als Konkurrenz zu anderen räumlichen Bezügen wahrgenommen? Wendet man sich dieser und ähnlichen Fragen zu, dann lassen sich auch Konflikte und Herausforderungen der Schaffung und Entwicklung von Regionen wenn nicht lösen, so doch klarer erkennen.
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Ostdeutsche Identität im Wandel der Zeiten. 30 Jahre und noch kein Ende
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Daniel Kubiak
Zusammenfassung
Dieser Beitrag zeigt auf, dass „ostdeutsche Identität“ kein starres und homogenes Gebilde ist, welches mit einem bestimmten Inhalt an Eigenschaften und Einstellungen gefüllt werden kann. Die Fremd- und Selbstidentifikationen haben sich seit der Existenz der DDR, während des Prozesses der Wiedervereinigung und mit Blick auf verschiedene Generationen stetig gewandelt. Die ostdeutsche Identität wird auch in der Altersgruppe der „Nachwendekinder“ fortgeschrieben. Durch die Sozialisation über die Eltern, Schule und Medien, die Erfahrung symbolischer Abwertung als Ostdeutsche und die Ausgrenzung aus dem Normalitätsparadigma einer deutschen Identität, die oft mit westdeutschen Erfahrungen gleichgesetzt wird, schreibt sich Identifikation mit Ostdeutschland auch bei dieser Nachwendegeneration fest.
15.1 Einleitung Eine Diskussion über kollektive Identität und Identitätspolitik wird derzeit medial und politisch geführt. Diese Debatte wird durch verschiedene gesellschaftliche Ereignisse stark vorangetrieben. Dazu zählen der erste Austritt eines Landes aus der Europäischen Union, das Aufkommen und Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien, der „Sommer der Migration“ im Jahr 2015, die Wahl Donald Trumps in den USA und die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Identitätspolitik wurde D. Kubiak (*) Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_15
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ursprünglich eingesetzt, um marginalisierte Gruppen sichtbar zu machen.1 Neuerdings dient sie auch der Legitimierung von nationalistischen, rassistischen und sexistischen Konzepten, indem beispielsweise der „alte weiße Mann“ als Opfer von Globalisierung und Gender-Mainstreaming inszeniert wird. Auf eine vermeintliche Gefahr einer durch Identitätspolitik verstärkten Polarisierung der Gesellschaft wird derzeit durch mehrere Autor*innen aus unterschiedlichen Perspektiven hingewiesen (Lilla 2017; Appiah 2018; Fukuyama 2018). In diesen aufgeregten Debatten um Identität(en) wurde auch die Diskussion um ostdeutsche Identität 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wieder bedeutsam. Durch die höheren Wahlergebnisse der in Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD), einem Tabubruch im thüringischen Landtag bei der Wahl des Ministerpräsidenten durch die Stimmen der AfD-Fraktion und die verstärkten Angriffe auf Asylbewerber*innenheime in den neuen Bundesländern ist der „Osten“ wieder präsent in den deutschen Debatten geworden. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hat mit Martin Dulig gar einen eigenen Ostbeauftragten parallel zu den obligatorischen Beauftragen für die neuen Bundesländer der Bundesregierung eingesetzt, um den „Osten“ ganz besonders auf die politische Agenda zu setzen. Auch in kulturellen und wissenschaftlichen Debatten hat der „Osten“ neues Interesse generiert. Man erinnere beispielsweise an das Buch der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping, die mit dem Titel Integriert doch erstmal uns provozierte (2018), an diverse Sonderforschungsprogramme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Bundesstiftung Aufarbeitung oder den viel beachteten Film Gundermann von Andreas Dresen. Die Diskussion, die von der Integrationsforscherin Naika Foroutan in die Öffentlichkeit gebracht wurde, ob ostdeutsche Erfahrungen Analogien mit der Erfahrung symbolischer Abwertung von migrantisierten Personen aufzeigen, bringt ebenfalls neue Perspektiven in die Debatte (Foroutan und Kubiak 2018). Zur symbolischen Abwertung von Ostdeutschen und den Potenzialen postkolonialer Perspektiven diese auch beschreiben zu können, haben u.a. Sandra Matthäus (2017) und Kathleen Heft (2020) eine Position entworfen. Die diskursive Aushandlung von Identität und Differenz ist ein wichtiger Aspekt dabei. Identität ist ein Begriff, der in den Sozialwissenschaften stark umstritten ist (Brubaker und Cooper 2000). Es wird zwischen individueller und sozialer Identität unterschieden. Neben den eher individuell orientierten Identitätstheorien der Sozialpsychologie (Erikson 1973) ist für diesen Beitrag vor allem die Theorie der sozialen Identität als Wechselspiel des Selbst mit den „Anderen“ relevant (Mead 2015 [1934]; Tajfel 1974; Jenkins 2008 [1996]).
1Identitätspolitik
stammt ursprünglich aus dem linksliberalen, feministisch geprägten politischen Spektrum der 1960/1970er-Jahre vor allem in den USA. Frauen und ganz besonders schwarze Frauen forderten beispielsweise als solche wahrgenommen zu werden, um auf die Unterdrückung durch patriarchale, sexistische und rassistische Strukturen aufzeigen zu können (Collins 1989).
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Kurzum: Die Existenz, Ablehnung, politische Sprengkraft und Vergleichbarkeit ostdeutscher Identität wurde im 2019/2020 so stark diskutiert, wie schon lange nicht mehr. In diesem Beitrag soll erstens die Frage beantwortet werden, wie sich diese Debatte seit 1989 gewandelt oder verstetigt hat. Dazu werden einige Diskursstränge der vergangenen 30 Jahre vorgestellt, um anschließend auf eine zweite Frage eingehen zu können. Diese lautet: Ist ostdeutsche Identität auch bei den Nachgeborenen (den „Nachwendekindern“) noch wirkmächtig?
15.2 Nationale Identität in der DDR? Ostdeutsche Identität wird zumeist historisch begründet und auf die DDR bezogen. Das scheint zunächst nicht ganz abwegig, so hat doch knapp 40 Jahre lang die Existenz zweier teilweise vollkommen gegensätzlicher politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Systeme Strukturen geschaffen, die davon ausgehen lassen, dass es zu einer nationalen Identität in der DDR hätte kommen können. Während allerdings im westlichen Teil Nachkriegsdeutschlands lange Zeit sehr zurückhaltend nationale Symbole genutzt wurden, um eine nationale Identität zu begründen (Schneider 2001), gab es in der DDR durchaus frühe Versuche der Staatsführung, eine nationale Identität als sozialistischer überlegener Staat zu begründen. Dies war verbunden mit Herausbildung einer sozialistischen Persönlichkeit, die immer eingebunden in die Internationalisierung aller sozialistischen Staaten gedacht wurde. National und international wurden demnach als kompatibel angesehen. Die DDR-Führung hat durch Kulturpolitik und durch ein staatliches Erziehungssystem versucht, die Menschen an ihren Staat zu binden. Eine DDR-Identität hatte sich, auch wenn von der Partei- und Staatsführung gewünscht, trotzdem nie wirklich ausgebildet (Orlow 2006). Thomas Ahbe (2004) hat sehr prominent beschrieben, wie „Ostdeutsche“ überhaupt erst nach der Wiedervereinigung durch das Aufeinandertreffen von Ost- und Westdeutschen sozial konstruiert wurden. So haben sich Ostdeutsche, die sich selbst noch gar nicht so nannten, kurz nach der Wende vor allem als „Deutsche“ und nicht als DDR-Bürger*innen oder als Ostdeutsche gesehen. Bei einer Befragung von 1992 gaben 62 % der Ostdeutschen an, „eher Deutsche“ zu sein. Nur 31 % sahen sich „eher als Ostdeutsche“ (Ahbe 2013). Die Diskussion über ostdeutsche Identität und die Konstruktion von Ostdeutschen beginnt also überhaupt erst mit dem Mauerfall (vgl. Kap. 2).
15.3 Die neu konstruierte Differenz nach der Wiedervereinigung Fast zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist dieser Wert stärker in Richtung „Ostdeutsche“ ausgeschlagen. Im Jahr 2009 empfand sich eine Mehrheit von 53 % „eher als ostdeutsch“ (Ahbe 2013, S. 27). Der Sachsen-Monitor (Sächsische Staatskanzlei 2018) zeigte noch dazu, dass Menschen in Sachsen mehrheitlich (52 %, in Chemnitz
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sogar 65 %) der Aussage zustimmen, dass Ostdeutsche „Bürger zweiter Klasse“ seien. Das hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass sie sich als sogenannte „Wendeverlierer“ sehen, denn eine große Mehrheit der Teilnehmenden (63 %) sieht für ihr eigenes Leben durch die Wiedervereinigung eher Vorteile denn Nachteile (ebd., S. 16 f.), ein Ergebnis, welches sich auch in der Untersuchung „Ost-Migrantische Analogien“ des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung wiederfindet. Hier stimmen 70 % der Ostdeutschen der Aussage zu, dass die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte war (Beigang et al. 2019, S. 3). Es ist nicht überraschend, dass eine vorher nicht weiter relevante regional und historisch begründete Identität über die Jahre immer stärker von einer Fremd- auch zu einer Selbstidentifikation wurde. Die Frage der ostdeutschen Identität wurde vor allem erst nach der Wiedervereinigung relevant. Kersten Sven Roth zeigt auf, wie durch die Normalisierung der Westdeutschen, dem „Normalnull“, viele deutsch-deutsche Diskurse durch das hegemoniale Ungleichgewicht so geführt wurden, dass der „Westen“ so bleiben konnte, wie er war und Probleme auf den „Osten“ projiziert wurden (2008). Während beispielsweise im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit geforscht wird, wann endlich auch die „innere Einheit“ erreicht sei (Der Beauftragte der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer 2018), ist in dem Bericht der „Westen“ die Referenz. So zeigt sich, dass Ostdeutschland nur knapp 75 % der Wirtschaftskraft des „Westens“ hat, dass im „Osten“ die Ablehnung von Demokratie als Staatsform höher ist als im „Westen“ oder dass es weniger zivilgesellschaftliche Organisationen im „Osten“ gibt – immer gemessen am „Normalnull“ des „Westens“. Es wird davon ausgegangen, dass die Ostdeutschen sich an den „Westen“ angleichen müssen. So bekommen die Ostdeutschen seit 1990 in jährlichen Abständen vorgerechnet, wie weit sie noch nicht angepasst sind – an das ökonomische, politische, administrative, zivilgesellschaftliche, juristische, demokratische und eben auch identifikative „Normalnull“ der alten Bundesländer. Die wachsende Identifikation mit Ostdeutschland hat zu zwei Richtungen innerhalb der ostdeutschen Identitätsforschung geführt. Erstens wird ostdeutsche Identität anhand von quantitativen Kennzahlen und Statistiken zu ökonomischer Deprivation erklärt. Ostdeutsche sind abgehängt und nicht gleichauf mit den Westdeutschen und haben deswegen noch eine eigene Identität. Zur Prüfung dieses Zusammenhangs verglichen Detlef Pollack und Gert Pickel (1998) die Aussagekraft der Sozialisationshypothese und der Situationshypothese. Die Sozialisationshypothese besagt, dass die Einstellungen der Ostdeutschen so stark durch ihr Aufwachsen in der DDR geprägt sind, dass sie dadurch eine eigene Mentalität aufbauen. Die Situationshypothese fragt eher, ob Ostdeutsche ökonomisch benachteiligt sind, und erklärt mit dieser sozialen Ungleichheit die Herausbildung ostdeutscher Identität. Als Fazit stellen Pollack und Pickel heraus, dass man zwar in ihrem Untersuchungszeitraum noch Unterschiede in den Einstellungen und der ökonomischen Position finden kann, diese Unterschiede aber in beiden Dimensionen nachließen und nicht allein Grund für die Ausbildung einer ostdeutschen Identität sein könnten. Vielmehr sind es auch gefühlte und symbolische Abwertungen, die eine Abgrenzung scheinbar notwendig machen (ebd.). Zweitens wurde ostdeutsche Identität über Diskursforschungen analysiert. Der Soziologe Wolfgang Engler bezeichnete die ostdeutsche Gesellschaft als eine „arbeiterliche
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Gesellschaft“ (Engler 1999). Für Ostdeutsche war die Sozialintegration über Arbeit ein ganz wesentlicher Aspekt. Der Wegfall dieses Aspektes nach der Wiedervereinigung hat für viele Ostdeutsche einen starken Identitätsbruch bedeutet. Engler führt diesen Gedanken noch weiter und versucht, die eher negativ konnotierte ostdeutsche Identität in eine positive Betrachtung zu lenken. Er bezeichnete die Ostdeutschen als „Avantgarde“ (Engler 2002). Seine These lautet, dass die Erfahrungen eines gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wandels für die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung in ihrer Form radikal waren. In der Qualität ist der Wandel in den gesamten neuen Bundesländern beispielsweise vergleichbar mit dem Wandel im Ruhrgebiet. Der Unterschied besteht darin, dass der Wandel im Ruhrgebiet in den 1970er-Jahren begann und heute langsam zum Ende gelangt. Die neuen Bundesländer haben die gleiche Qualität eines Wandels (Herauslösung aus Industrieberufen, schrumpfende Städte, sinkende öffentliche Mittel, Abbau der Institutionen der Daseinsfürsorge, neue Anforderungen an Bildungsqualifikationen etc.) in nur wenigen Jahren erlebt. Diese radikale Erfahrung will Engler positiv neu schreiben und eine neue emanzipierte ostdeutsche Identität ermöglichen. Elena Buck und Jana Hönke (2013) widersprechen der Avantgarde-These. Die Idee, dass Ostdeutsche eine neue Avantgarde sein könnten, fand sich noch einmal wieder, als durch die sogenannten „Hartz-Reformen“ das Sozialversicherungssystem in der Bundesrepublik neoliberal umgebaut wurde. Hier konnten Ostdeutsche als die „Pioniere der Prekarität“ betrachtet werden, weil sie einen radikalen Umbau des Sozialsystems schon einmal erlebt haben. Der These der Avantgarde widerspricht aber zum einem, dass es sich keineswegs um eine (selbst) gewählte Avantgarde handelt, und zum zweiten, dass die Handlungsmöglichkeiten, aus der Situation herauszukommen, beschränkt sind (ebd.). Es zeigt sich, dass ostdeutsche Identität immer problematisiert wird. Entweder entsteht sie aus ökonomischer Deprivation oder symbolischer Abwertung, oder sie soll als Ressource dienen, um bestimmte Entwicklungen in der Gesellschaft wie die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer, der neoliberale Umbau des Sozialstaates, die Zentralisierung der kommunalen Verwaltung sowie der Abbau der sozialen Infrastruktur und Daseinsvorsorge in peripheren Regionen unproblematischer markieren zu können, als sie es objektiv sind.
15.4 Ostdeutsche Identität in verschiedenen Generationen Auf diese Wahrnehmung, dass ostdeutsche Identität häufig problematisiert wird, haben in regelmäßigen Abständen verschiedene Generationen unterschiedlich geantwortet. So finden sich beispielsweise Sammelbände oder Monografien, die eine bestimmte Alterskohorte betrachten. Dazu gehört das Buch Generation Mauer von Ines Geipel (2014), in der die Generation derjenigen beschrieben wird, die in den 1960er-Jahren in der DDR geboren wurden. Ihre These lautet, dass diese Generation noch stark genug die DDR miterlebt hat, um als ostdeutsche Generation wahrgenommen werden zu können, aber eben auch, dass diese Generation noch in einem Alter war, das ermöglichte, alle Chancen der Wiedervereinigung zu nutzen.
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Das Buch Zonenkinder von Jana Hensel (2002) und die Aktivitäten der „Dritten Generation Ost“ (Hacker et al. 2012; Lettrari et al. 2016) haben eine Generation in den Blick rücken lassen, die anfangs noch von einem ihrer Vertreter als „stumme Generation“ betitelt wurde (Staemmler 2011). Hier ging es um diejenigen, die zwar noch in der DDR geboren wurden, aber während ihrer Kindheit die Wiedervereinigung miterlebt haben. Hier lauten die Thesen erstens, dass diese Generation gute Ost-West-Vermittler*innen sein könnten, weil sie die Ostdeutschen gut verstehen würden, aber zu wenig im System der DDR gelebt haben, um sich selbst mit Fragen von Schuld und Opfer auseinandersetzen zu müssen. Zweitens wollte das Netzwerk der „Dritten Generation Ost“ das Potenzial der sogenannten „Transformationskompetenz“ der jungen Ostdeutschen sichtbar machen. In einem Beitrag zu einem wissenschaftlichen Sammelband des Netzwerkes haben Daniel Kubiak und Martin Weinel (2016) hingegen argumentiert, dass die hier postulierte Generationeneinheit empirisch nicht zu belegen ist. Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen innerhalb der DDR-Institutionen verunmöglichen solche Einheitlichkeit in den ostdeutschen Erfahrungen. Trotz allem hat besonders diese sogenannte „Dritte Generation Ost“ es geschafft, dass über Ostdeutschland sehr viel gesprochen wurde und neue Perspektiven im öffentlichen Diskurs, aber auch in der Beforschung ostdeutscher Identität eingenommen wurden.
15.5 Die Post-Wende-Generationen: Identitätskonstruktionen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Nun könnte man glauben, dass sich ostdeutsche Identität spätestens bei den Nachwendegeborenen zurückbildet. Im Promotionsprojekt des Autors wurde die Alterskohorte derjenigen beforscht, die zwischen 1990 und 1995 in Ost- oder Westdeutschland geboren wurden und dort jeweils aufgewachsen sind. Anhand von Imitation Games (Collins et al. 2015) und Gruppendiskussionen (Lamnek 2005) wurde analysiert, wie sich eine Identitätsbildung in Bezug auf die Differenzlinie Ost- und Westdeutschland bei dieser Alterskohorte auswirkt. Dabei konnten drei Befunde der ostwestdeutschen Identitätskonstruktionen herausgearbeitet werden, die sich teilweise aufeinander beziehen: Der erste Befund behandelt den Sozialisationseffekt. Ostdeutsche junge Erwachsene sind eben auch die Kinder ihrer Eltern. Es zeigt sich in den Imitation Games und Gruppendiskussionen, dass die Erfahrungen der Eltern in der Transformationsphase und auch der Bezug der Eltern zu Ostdeutschland maßgeblich die eigene Position der jungen Ostdeutschen beeinflussten. Hinzu kommen Sozialisationserfahrungen zur Darstellung der DDR im Schulunterricht. Die Teilnehmenden kritisieren eine einseitige Darstellung, die sich vor allem auf den Diktaturcharakter der DDR bezieht, aber die Heterogenität von DDR-Biografien sowie auch der Nachwendeerfahrungen vernachlässigt. Dies führt zum Paradox der Annahme
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einer ostdeutschen Identität, aber auch zur gleichzeitigen Ablehnung dieser. So hatte ein Teilnehmer einen relativ starken Bezug zu seiner ostdeutschen Herkunft und begründete dies mit den sehr negativen Erwerbsarbeitserfahrungen seines Vaters nach der Wiedervereinigung. Es ist also davon auszugehen, dass die Differenzlinie Ost/West zumindest für die Nachwendegeneration in Ostdeutschland weiterhin wirkmächtig bleibt. Das muss aber nicht bedeuten, dass es eine Abhängigkeit gibt zwischen einer „ostalgischen“ (Neller 2006) Elternposition und deren Kindern, die es dann wichtig finden, als Ostdeutsche gesehen zu werden. In den Gruppendiskussionen zeigen sich auch starke Ablehnungshaltungen gegenüber einer ostdeutschen Identität, die u. a. damit begründet werden, dass die eigenen Eltern noch zu sehr in der Vergangenheit leben würden. Die Sozialisationserfahrung zwingt die jungen Erwachsenen somit, eine Position zu ihrer eigenen Herkunft einzunehmen. Der zweite Befund zeigt, dass die ostdeutsche Selbstwahrnehmung nicht nur mit den Erfahrungen der Eltern zusammenhängt, sondern auch mit einer eigenen Erfahrung der symbolischen Abwertung. Junge Ostdeutsche nehmen vor allem über Medien wahr, dass Ostdeutschland maßgeblich als Problem dargestellt wird (MDR 2018). Daraufhin reagieren die ostdeutschen Teilnehmer*innen mit einer eigenen Form der Identitätspolitik. Sie betonen immer wieder, dass sie sich selbst eigentlich gar nicht mehr so sehr als Ostdeutsche sehen. Nur für die Generation ihrer Eltern und Großeltern sei das noch relevant. Aber wenn der „Osten“ in den öffentlichen Diskursen durch Witze oder ausgewählte Themen abgewertet wird, dann fühlen sich die Teilnehmer*innen doch als „ostdeutsch“. Eine Teilnehmerin macht diese Wahrnehmung in einer Gruppendiskussion in einer ostdeutschen Stadt sehr deutlich: „Also, ich sag nicht aktiv, hej, ich bin aus dem Osten, aber quasi wenn es woanders kommt und wenn wer anderes sagt, das ist total scheiße. Dann denke ich mir schon, na, ich bin ja schon von hier und ich weiß, es ist anders. Und es hat vielleicht auch irgendwie mit diesem Grundgedanken zu tun, dass es ja auch schon irgendwie eine Form. Ja doch, eigentlich ist es schon eine Form von Diskriminierung und Rassismus.“ (HRO1 2015)
Hier zeigt sich besonders deutlich, dass der Aushandlungsprozess über ostdeutsche Identität für die einzelnen Teilnehmer*innen nicht nur mit sich selbst ausgemacht wird, sondern auch mit der Frage, wie die eigene Wahrnehmung auf dem bundesdeutschen Markt der Identitäten bewertet wird. Ostdeutsche Identität wird von außen abgewertet, und die innere Reaktion ist eine Verbundenheit zur eigenen Herkunft. Der dritte Befund, der in starker Wechselwirkung mit Befund zwei steht, zeigt auf, dass in der Differenzlinie Ost/West auch ein „Othering“ entsteht. Der Begriff „Othering“ stammt aus den postkolonialen Theorien und wurde vor allem durch Begriffe wie „Orientalismus“ und „Subalterne“ eingeführt (Said 2012 [1978]; Spivak 1988). Er beschreibt eine Machtposition in Diskursen. Es gibt eine Seite, die aus einer normalisierten Position heraus spricht. Sie wird dadurch in dem Diskurs unsichtbar, bestimmt aber, wie über die „andere“ Seite gesprochen wird. So werden bestimmte soziale Gruppen als die „Anderen“ markiert und dabei sichtbar gemacht. Während in den
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ostdeutschen Gruppen sehr lange über den Bezug zur ostdeutschen Identität gesprochen und ausgehandelt wurde, wie relevant diese für die Teilnehmenden selbst ist, bleibt westdeutsche Identität in den Gruppen in den alten Bundesländern unsichtbar. Auf direkte Nachfrage nach einer Selbstwahrnehmung als westdeutsch haben die Teilnehmenden mehrfach die ostdeutsche Andersheit ins Spiel gebracht, um überhaupt über das eigene Westdeutschsein sprechen zu können. Einer der Teilnehmenden in einer westdeutschen Stadt hat dies bemerkt und auch thematisiert: „Hmm, also, ich finde gerade zwei Dinge sehr spannend, also ich glaube, dass wir total ratlos sind gerade, gerade alle so, was die sogenannte westdeutsche Identität ist, weil wir überhaupt keinen Bezug dazu haben und jeder so denkt: hmm. Und dass wir uns das versuchen, jetzt irgendwie vielleicht zu konstruieren, indem wir halt so davon ausgehen, als ob es ‚ne ostdeutsche Identität ist‘.“ (KÖ5 2015)
Durch die drei Befunde zeigt sich, dass ostdeutsche Identität weiterhin in der gesellschaftlichen Diskussion bedeutsam bleiben wird. Die Sozialisationserfahrung durch die Eltern ist für junge Ostdeutsche eine maßgebliche Informationsquelle für ihre ostdeutsche Identität. Sie nehmen diese vor allem als Reaktion auf symbolische Abwertung wahr, und sie wird auch durch westdeutsches „Othering“ weiterhin sichtbar gemacht. Westdeutsche sehen zwar Unterschiede, diese beziehen sie nicht auf ihre eigene normalisierte Position, sondern nehmen sie eher im Vergleich mit den „Anderen“ wahr. Es zeigt sich somit, dass ostdeutsche Identität nie allein besteht, sondern immer auch in Aushandlung mit der sozialen Umwelt konstituiert wird.
15.6 Fazit In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass „ostdeutsche Identität“ kein starres und homogenes Gebilde ist, das mit einem bestimmten Inhalt an Eigenschaften und Einstellungen gefüllt werden kann. Die Fremd- und Selbstidentifikationen haben sich seit der Zeit der DDR, der Zeit der Wiedervereinigung und in verschiedenen Generationen stetig gewandelt und schreiben sich in der Alterskohorte derjenigen fort, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden. Die ostdeutsche Identität der Nachwendekinder macht sich an der sozialen Aushandlung von internen und externen Faktoren fest. Es zeigt sich, dass der Bezug zur Region Ostdeutschland weiterhin prägend für die jungen Ostdeutschen bleibt. Dieser Bezug und die Verarbeitung Ostdeutschlands unterscheidet sie von ihren westdeutschen Altersgenoss*innen, die keine westdeutschen Identifikationserfahrungen haben, sondern andere regionale Aspekte wie norddeutsch oder bayerisch hervorheben. Ostdeutsche Identität wird permanent neu ausgehandelt. Sie unterscheidet sich einerseits zwischen den ostdeutschen Generationen. Die DDR-Erfahrung der älteren Ostdeutschen, die noch in den staatlichen Institutionen des SED-Staates ausgebildet wurden und später gearbeitet haben, ist eine andere Erfahrung als die der jüngeren Ostdeutschen, die die DDR entweder nur noch als Kinder erlebt haben oder nicht mehr in
15 Ostdeutsche Identität im Wandel der Zeiten
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der DDR geboren wurden. Durch die Sozialisation über die Eltern, Schule und Medien, die Erfahrung symbolischer Abwertung als Ostdeutsche und die Ausgrenzung aus dem Normalitätsparadigma einer deutschen Identität, die oft mit westdeutschen Erfahrungen gleichgesetzt wird, schreibt sich Identifikation mit Ostdeutschland auch bei dieser Nachwendegeneration fest. Neben vielen weiteren Faktoren der Regionalentwicklung Ostdeutschlands sollte diesem Aspekt der sozialen Konstruktion von ostdeutscher Identität weiterhin Aufmerksamkeit gewidmet werden, da die politische Vereinnahmung von Identitätsprozessen durch Identitätspolitik in der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Diskussion Risiken birgt. Gerade der Aushandlungsprozess zwischen Ablehnung des Ostdeutschseins einerseits und explizite Benennung andererseits zeigt die Fragilität und Fluidität dieser Identitätsbildung. Sie ist auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen. Nicht die fast schon 30 Jahre alte Frage, wann denn endlich auch die identifikative Einheit hergestellt ist, sollte den politischen Diskurs bestimmen, sondern die Frage sollte hervorgehoben werden, wie die vielfältigen Erfahrungen aller Deutschen in einen gemeinsamen Diskurs einfließen können. Sonst birgt die Identifikation mit Ostdeutschland das Potenzial, von reaktionären politischen Kräften missbraucht zu werden.
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Wanderungen und Regionalentwicklung. Ostdeutschland vor der Trendwende?
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Tim Leibert
Zusammenfassung
Ostdeutschland gilt als ein internationales Musterbeispiel für eine stark schrumpfende und alternde Gesellschaft. Hauptursache für die ungünstige Bevölkerungsentwicklung sind alters- und geschlechtsselektive Einwohnerverluste durch die Abwanderung junger Erwachsener, namentlich junger Frauen, Richtung Westdeutschland. Zwischen 1991 und 2017 wurden 3,7 Millionen Fortzüge aus Ostdeutschland ins frühere Bundesgebiet registriert (jeweils ohne Berlin). In die Gegenrichtung verzeichnet die Statistik 2,5 Millionen Wanderungsereignisse. Im Saldo haben die ostdeutschen Bundesländer 1,2 Millionen Einwohner*innen durch Abwanderung nach Westdeutschland verloren. Die aktuellen Wanderungsstatistiken zeigen jedoch eine markante Trendwende: Im Jahr 2017 war der Wanderungssaldo der ostdeutschen Länder gegenüber dem früheren Bundesgebiet erstmals positiv. Der Beitrag diskutiert diese empirischen Entwicklungen und ordnet sie in allgemeine Tendenzen der ostdeutschen Regionalentwicklung ein.
16.1 Von der Abwanderungsregion zum Zuzugsgebiet? In den sechs Jahren zwischen dem Zensus 2011 und 2017 hat sich Ostdeutschland von einer Abwanderungsregion zu einem Zuzugsgebiet entwickelt (Leibert 2019). Zwischen 2011 und 2013 war die Bevölkerungsentwicklung in den meisten ostdeutschen Landkreisen negativ: Sterbeüberschüsse und Wanderungsverluste verstärkten T. Leibert (*) Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_16
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T. Leibert
sich wechselseitig und führten zu einem deutlichen Rückgang der Einwohnerzahl. Von diesem Trend konnten sich lediglich einige Groß- und Universitätsstädte abkoppeln. Im Zeitraum 2014 bis 2016 verzeichneten dagegen alle Landkreise und kreisfreien Städte in Ost und West zum Teil erhebliche Wanderungsgewinne. Aufgrund der ungünstigen Bevölkerungsstruktur mit einem hohen Bevölkerungsanteil im Seniorenalter wurden diese Wanderungsgewinne jedoch in weiten Teilen Ostdeutschlands (und den besonders strukturschwachen ländlichen Räumen der alten Bundesländer) von Sterbeüberschüssen aufgezehrt, sodass die Wanderungsgewinne nur zu einer Abschwächung der Bevölkerungsverluste führten (ebd.). Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass hinter der Trendwende eine externe Ursache steckt: die Zuwanderung von Schutzsuchenden. Asylsuchende und Geflüchtete können während der Dauer des Asylverfahrens ihren Wohnort nicht frei wählen und werden über einen festgelegten Schlüssel auf Bundesländer, Kreise und Gemeinden verteilt (Glorius 2017, S. 120 f.). Dadurch ergibt sich zumindest auf der Kreisebene eine praktisch flächendeckende Verteilung der Schutzsuchenden, die im Zeitraum 2014 bis 2016 zahlenmäßig groß genug war, dass 399 der 401 Landkreise und kreisfreien Städte Wanderungsgewinne verbuchen konnten – die beiden Ausnahmen sind der Erzgebirgskreis und der Landkreis Greiz (Leibert 2019). Betrachtet man dagegen nur die Wanderungsmuster der deutschen Staatsbürger*innen, bietet sich ein ganz anderes Bild: Weite Teile der ländlichen Räume Ostdeutschlands sind noch immer Abwanderungsregionen. Zuzugsinseln sind – neben einigen Groß- und Universitätsstädten – die Ostseeküste und die Umlandkreise von Berlin, Dresden, Leipzig, Rostock und Weimar (ebd.).
16.2 Wanderungen und Regionalentwicklung: It’s the economy, stupid?!? Wanderungen und Regionalentwicklung sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Für Bernt und Liebmann (2013, S. 219 f.) ist Abwanderung eine „Abstimmung mit den Füßen“, also eine statistisch messbare Evaluation der wahrgenommenen Zukunftsfähigkeit einer Region durch die lokale Bevölkerung. Geringe Zuwanderung kann nach der gleichen Logik dahingehend interpretiert werden, dass der entsprechenden Region auch in der Außenwahrnehmung wenig Potenzial attestiert wird. Abwanderung gilt in Modellen der Regionalentwicklung als eine unmittelbare Konsequenz des Mangels an Arbeitsplätzen. Ökonomische Restrukturierungsprozesse und selektive Wanderungen werden als Auslöser einer sich selbst verstärkenden sozioökonomischen und demographischen Abwärtsspirale verstanden, die auch infrastrukturelle Desinvestitionen und einen schwindenden politischen Einfluss der schrumpfenden Regionen umfasst (Weber und Fischer 2010, S. 91; Kap. 29, 3 und 8). Abwanderung ist gleichzeitig ein Teilprozess der sozioökonomischen Peripherisierung, die eine Abkopplung von den Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht, ein Zurückfallen gegenüber den
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201
Innovationszentren sowie ein negatives Fremd- und Selbstbild umfasst (Kühn und Weck 2013, S. 29 ff.). Abwanderung wird auch im Hinblick auf die soziale Kohäsion ländlicher Räume als eine zentrale Problemlage eingestuft (Kap. 30). „Abwärtsdriftende“ ländliche Räume mit erheblichen sozialen Desintegrationsproblemen (z. B. Angst vor Arbeitslosigkeit, Zukunftspessimismus) und ausgeprägter alters- und geschlechtsselektiver Abwanderung zeichnen sich durch ein überdurchschnittliches Niveau der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aus: „Je größer die Abwanderung, desto feindseliger wird das Klima“ (Heitmeyer 2014, S. 138 ff.). Stockdale (2006, S. 355) zufolge ist jedoch weniger die Abwanderung das zentrale Problem für die Regionalentwicklung, sondern vielmehr eine zahlenmäßig zu geringe Zu- und Rückwanderung . Dass es problematisch ist, nur Wanderungsbilanzen zu analysieren, weil dadurch aus dem Blick gerät, ob die räumliche Bevölkerungsbewegung in einer Region aufgrund überdurchschnittlicher Fortzugs- oder unterdurchschnittlicher Zuzugsraten negativ ist, wurde auch für die Wanderungsbeziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland festgestellt (Stauder 2018, S. 76). Für eine strategische Regionalentwicklungspolitik ist es jedoch von großer Bedeutung zu wissen, ob eher Maßnahmen zur Förderung der Zu- und Rückwanderung angezeigt sind, oder ob es zielführender ist, auf Bleibestrategien zur Verringerung der Abwanderung zu setzen. Stockdale (2006, S. 355) fordert eine Politik, die Zu- und Rückwanderung fördert, Bleibeanreize schafft und eng mit einer Regionalpolitik verknüpft ist, die darauf abzielt, die Kenntnisse und Fähigkeiten der Zu- und Rückwanderer vor Ort in Wert zu setzen. Die Abwanderung junger Erwachsener zum Qualifikationserwerb ist in diesem Zusammenhang eine Voraussetzung für die ökonomische Regeneration ländlicher Räume (ebd., S. 364). Zentrale Herausforderung für die Regionalentwicklungspolitik ist mithin die Schaffung wirtschaftlicher Perspektiven, die Zu- und Rückwanderer anlocken (ebd.). Man kann diese Sichtweise als zu einseitig ökonomisch kritisieren. Sie spiegelt wider, dass in der Forschung zu Binnenwanderungen eine funktionalistische Sichtweise dominiert. Umzüge werden als Mittel zum Zweck und als Materialisierung sozioökonomischer Prozesse verstanden (Halfacree und Merriman 2015, S. 152). Nichtökonomische Motive – z. B. Ortsbindungen, familien- oder partnerschaftsbezogene Umzugsmotive – werden dabei ignoriert. Eine funktionalistische Perspektive dominiert auch bei den Wanderungsmotiven. Halfacree (2004) kritisiert in diesem Zusammenhang die „Ökonomisierung“ der Binnenwanderungsforschung und die Annahme, dass ökonomische Faktoren als „objektive Fakten“ in individuelle Wanderungsentscheidungen eingehen. Eine konzeptionelle Abkehr vom Primat des Ökonomischen würde den Blick dafür öffnen, dass Wanderungsgründe, -motive und -praktiken äußerst komplex und mehrdimensional sind (ebd., S. 243). Meyer und Miggelbrink (2015) und Wiest (2016) weisen in diesem Zusammenhang auf die Rolle von Kommunikation (z. B. Ratschläge, Gerüchte) bei Entscheidungsprozessen hin und verdeutlichen auch, dass das Eingebundensein in soziale Netzwerke und das Sprechen über Wanderungspläne und -absichten den Entscheidungsprozess beeinflussen, indem geschärft, überdacht oder revidiert wird. Meyer et al. (2016) betonen dabei die Bedeutung von eigenen und von
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Dritten (z. B. Eltern, Medien) vermittelten Wahrnehmungen und Erfahrungen auf (die Begründung und Rationalisierung von) Wanderungsentscheidungen. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden: Die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, ist komplex, aufs Engste mit individuellen Ängsten, Präferenzen, Wünschen und Vorlieben verbunden und umfasst verschiedene Themenfelder, die unterschiedlich gewichtet werden, etwa die Komplexe Familie/Freunde, Arbeitsplatzangebot/ Gehaltsstrukturen/Karrieremöglichkeiten, Bewertung der Heimatregion und Bewertung potenzieller Zielgebiete (ebd.). Bei Jugendlichen spielen die Einschätzungen und Empfehlungen der Eltern eine bedeutende Rolle (Leibert 2015, S. 38 f.), die damit häufig ihre eigenen Erfahrungen auf den lokalen bzw. regionalen Arbeitsmärkten reflektieren. Wie die oben genannten Kriterien gewichtet werden, ist eine hochgradig subjektive Angelegenheit. Bleibeorientierte Personen messen den Attraktivitätsfaktoren ihrer Heimatregion einen besonderen Stellenwert zu und ordnen Nachteile im Themenkomplex „Arbeit“ diesen Vorteilen unter. In diesem Beitrag sollen zwei Bevölkerungsgruppen im Mittelpunkt stehen, deren Wanderungsverhalten für die Regionalentwicklung von besonderer Bedeutung ist: junge Erwachsene und Rückwanderer. Junge Erwachsene gelten gerade in strukturschwachen Regionen als die wichtigste Gruppe für eine nachhaltige Regionalentwicklung. Dabei gehen die Einschätzungen der lokalen Politiker*innen, die die Jugend gerne in ihrer Region halten möchten, und der jungen Erwachsenen (und ihrer Eltern) selbst weit auseinander (Meyer 2018, S. 1032). Auch Rückwanderung wird als ein positives Phänomen für die Regionalentwicklung eingeschätzt. Die Rückkehrer*innen sind im Idealfall Träger*innen „neuer Wissensbestände, befördern institutionelle Erneuerung und bringen Fähigkeiten und Kenntnisse aus anderen Regionen mit“ (Nadler 2017, S. 30). Da Rückwanderer*innen oft mit Partner*in und/oder Kindern zuziehen, tragen sie zur Stabilisierung der demographischen Lage bei. Vom mitgebrachten Humankapital und der oft vorhandenen Engagementbereitschaft profitiert die Heimatregion auch wirtschaftlich und gesellschaftlich (von Reichert et al. 2014).
16.3 Selektive Wanderungen: Der Exodus der jungen Frauen? Insbesondere in den 2000er-Jahren war Ostdeutschland durch eine hochgradig altersund geschlechtsselektive Abwanderung geprägt, die in ländlichen Räumen zu einem ausgeprägten „Männerüberschuss“ in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen geführt hat (Leibert 2016, S. 268). In Abb. 16.1 ist die Entwicklung des Wanderungssaldos der 18- bis unter 25-Jährigen pro 1000 Einwohner*innen der Altersgruppe nach Geschlecht in den Landkreisen mit einer Bevölkerungsdichte von weniger als 150 Personen pro Quadratkilometer (Stand 31.12.2017) zwischen 2002 und 2016 dargestellt. Dabei fällt auf, dass die Abwanderungsraten der jungen Frauen in den dünn besiedelten Landkreisen Nordost- und Mitteldeutschlands in den 2000er-Jahren deutlich über denen der ländlichen Räume im früheren Bundesgebiet lagen. Seit 2008 ist dagegen eine Tendenz
16 Wanderungen und Regionalentwicklung
203
Abb. 16.1 Wanderungsbilanz der 18- bis 25-Jährigen in dünn besiedelten Landkreisen 2002– 2016 nach Geschlecht und Makroregionen. (Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis 2019)
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erkennbar, wonach sich die Abwanderung junger Frauen aus dünn besiedelten ländlichen Räumen Ostdeutschlands abschwächt. Im Westen hat sich die Abwanderungsneigung junger Frauen bis 2011 verstärkt. Die Zuwanderung von Geflüchteten und Asylsuchenden spiegelt sich auch in Abb. 16.1 wider. Der Peak 2015 ist durch die Zuweisung in Erstaufnahmeeinrichtungen, etwa in den Landkreisen Harz, Oder-Spree und Saale-Holzland, zu erklären. Die Trends bei den jungen Männern sind tendenziell ähnlich, aber schwächer ausgeprägt. Welchen Anteil internationale Wanderungen an der Abschwächung der Abwanderung aus den dünn besiedelten ländlichen Räumen haben, kann an dieser Stelle aufgrund fehlender Daten nicht beziffert werden. Im Laufe der Zeit hat sich die politische Bewertung der Abwanderung junger Menschen aus ländlichen Räumen Ostdeutschlands deutlich verschoben. Vor etwa 2005 wurde die Ost-West-Wanderung junger Erwachsener vielerorts nicht als Problem gesehen, da das lokale Angebot an Nachwuchskräften für die Bedürfnisse der ortsansässigen Unternehmen ausreichend war (Meyer 2018, S. 1038). Seit etwa 15 Jahren haben die negativen Folgen der altersselektiven Abwanderung auf der politischen Agenda massiv an Bedeutung gewonnen – das „Halten“ der Jugendlichen ist in vielen schrumpfenden Landkreisen zu einem zentralen Ziel geworden (ebd., S. 1039). Vor dem Hintergrund der ungünstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands haben Leibert (2015), Wiest (2016) und Meyer (2018) Anzeichen für eine Abwanderungskultur ausgemacht, die sich daraus ergibt, dass junge Menschen in der Gewissheit aufwachsen, dass sie ihre Heimatregion verlassen müssen, um (beruflich) erfolgreich zu sein. Die Fundamente für eine spätere Abwanderung werden schon früh im Lebenslauf gelegt – eine zentrale Rolle spielen dabei die Eltern, die ihren Kindern einen Wegzug nahelegen (Meyer 2018, S. 1042 f.). Bezeichnend ist die negative Wahrnehmung der Heimat als Region ohne Zukunft, die man verlassen muss, wenn man aus seinem Leben etwas machen will (Leibert 2015, S. 38 ff.). Auch die Stigmatisierung der Bleibenden als diejenigen, die „zu dumm sind, den Bahnhof zu finden“ (Meyer 2018, S. 1041), hat viel dazu beigetragen, dass die Abwanderung zum Normalfall und das Bleiben zur Ausnahme wurde (ebd., S. 1044). Wie hat sich die Einschätzung der (wirtschaftlichen) Zukunftsfähigkeit der Heimatregion durch die Jugendlichen in Ostdeutschland seither verändert? Eine 2017 durchgeführte Schülerbefragung im Landkreis Nordsachsen zeigt, dass die Heimat nicht länger von einer großen Mehrheit als Region ohne Zukunft angesehen wird, in der man keine Chance hat, erfolgreich zu sein. Dabei fällt auf, dass im Leipziger Umland lebende Schüler*innen die Zukunftsperspektiven ihrer Heimatregion deutlich positiver bewerten als die Jugendlichen in ländlich-peripheren Teilräumen des Kreises (Leibert et al. 2018, S. 76 f.). Ob die Abwanderungskultur im ländlichen Ostdeutschland inzwischen der Vergangenheit angehört, müsste allerdings breiter untersucht werden.
16 Wanderungen und Regionalentwicklung
205
16.4 Rückwanderung: Chance oder Chimäre? Die Rückwanderung nach Ostdeutschland ist ein viel beachtetes, bisweilen emotional diskutiertes Thema in den Medien, aber auch bei Landes- und Kommunalpolitiker*innen. Dabei ist die Rede von einem „großen Rückkehrbedürfnis nach Ostdeutschland“, und es wird postuliert, dass „tatsächlich … immer mehr Menschen zurück in die Regionen ihrer Kindheit“ zögen (Budde und Gerlach 2018). Problematisch ist, dass sich diese Berichte nicht auf belastbare Daten stützen, sondern auf Einschätzungen von Politiker*innen und Arbeitsmarktakteuren sowie auf Interviews mit den Zurückgekehrten selbst. Ist die Diskussion um die „zunehmende“ Rückwanderung nach Ostdeutschland also ein Beispiel für die diskursive Konstruktion eines Trends, der sich nur bei einer kleinen Bevölkerungsgruppe feststellen lässt, aber auf die Gesamtbevölkerung „hochskaliert“ wird? Von besonderer Bedeutung für die Beantwortung der Frage, welche Regionalentwicklungspotenziale durch Rückwanderung aktiviert werden können, ist zunächst, Klarheit darüber zu schaffen, welche Personengruppen als „Rückwanderer*innen“ definiert werden können. Angesichts der hohen Bedeutung, die soziale Netzwerke für die Rückwanderung haben (Lang und Hämmerling 2013), ist es sinnvoll, Rückwanderer*innen als Personen zu definieren, die ihren Wohnsitz wieder in ihre alte Heimat zurückverlegen. Üblicherweise wird „alte Heimat“ als der Herkunftslandkreis operationalisiert (z. B. Fuchs et al. 2017). Dass Rückwanderung ein Thema mit vielen Wissenslücken ist, liegt an fehlenden Statistiken zur Rückwanderung. In der Bundesrepublik ist die Beschäftigtenhistorik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) die einzige Datenquelle, die kleinräumige Analysen der Rückwanderung ermöglicht (Fuchs und Weyh 2016). Leider ist die Aussagekraft dieser Daten dadurch eingeschränkt, dass nur die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erfasst werden. Die Rückwanderung von Personen mit anderem Erwerbsstatus, etwa Selbstständige, Beamt*innen oder Nichterwerbstätige (z. B. schulpflichtige Kinder, Hausfrauen/-männer) ist nicht möglich. In den IAB-Daten sind folglich nur etwa 56 % der Personen im erwerbsfähigen Alter erfasst (Nadler 2017, S. 33). Aus der Regionalentwicklungsperspektive ist daran insbesondere problematisch, dass die Rückwanderung von Universitätsabsolvent*innen, die noch nie sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, nicht abgebildet werden kann. Der Frage, ob „zunehmend“ Ostdeutsche aus dem Westen in ihre alte Heimat zurückkehren, kann man sich über die Statistik der Ost-West-Wanderungen zumindest annähern. Die Entwicklung der ostdeutschen Wanderungsbilanz zwischen 1991 und 2017 (Tab. 16.1) zeigt, dass der Wanderungsverlust gegenüber dem früheren Bundesgebiet (jeweils ohne Berlin) seit dem Höchststand 2001 massiv zurückgegangen ist. Hauptgrund ist das Nachlassen der Abwanderung nach Westdeutschland. Die Zahl der West-Ost-Wanderer*innen war dagegen im Betrachtungszeitraum – mit Ausnahme
206
T. Leibert
Tab. 16.1 Entwicklung der Ost-West-Wanderungen 1991 bis 2017 Jahr
Wanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland (ohne Berlin) Fortzüge Zuzüge Saldo
1991
229.210
63.820
1992
175.868
85.531
1993
142.952
87.373
1994
129.935
95.441
1995
129.948
98.056
1996
125.546
100.617
1997
124.885
96.683
1998
136.067
89.802
1999
148.648
90.514
2000
168.167
92.216
2001
191.979
94.414
2002
176.703
95.876
2003
155.387
97.035
2004
146.352
94.677
2005
137.188
88.212
2006
135.979
81.835
2007
138.133
83.328
2008
136.544
85.536
2009
120.461
88.142
2010
110.956
87.377
2011
113.465
91.379
2012
105.633
90.731
2013
101.506
91.009
2014
97.045
93.719
2015
99.660
94.856
2016
114.019
99.082
−165.390
−90.337
−55.579
−34.494
−31.892
−24.929
−28.202
−46.265
−58.134
−75.951
−97.565
−80.827
−58.352
−51.675
−48.976
−54.144
−54.805
−51.008
−32.319
−23.579
−22.086
−14.902
−10.497
−3.326
−4.804
−14.937
(Quelle: Destatis 2006, 2019, jeweils Tab. 2.4)
einzelner Jahre – mit einem Zuwanderungsvolumen zwischen 85.000 und 95.000 Personen pro Jahr relativ stabil. Der deutliche Rückgang der Abwanderung nach Westdeutschland ist im Wesentlichen auf bessere Bleibeperspektiven im Osten zurückzuführen, insbesondere auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit und die deutlich verbesserte Lage auf dem Ausbildungsmarkt.
16 Wanderungen und Regionalentwicklung
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Die Daten der aktuellen Wanderungsstatistik (Destatis 2019, Tab. 2.1.1 bis 2.1.3) legen nahe, dass der Anstieg der Zahl der Zuzüge aus und der Fortzüge nach Westdeutschland in den Jahren 2015 und 2016 insbesondere von ausländischen Staatsbürger*innen getragen wurde. Die Wanderungsdaten für 2017 zeigen, dass sich der oben skizzierte Trend einer stabilen West-Ost- und einer rückläufigen O st-West-Wanderung verfestigt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die insbesondere von den Medien verbreitete Einschätzung eines „zunehmenden Trends“ zur Rückwanderung in den Westen abgewanderter Ostdeutscher angesichts der relativ stabilen Zuzugszahlen nur unter der Voraussetzung haltbar ist, dass im Gegenzug die Zahl der westdeutschen Zuwanderer*innen ohne biographische Verbindungen in die neuen Länder rückläufig wäre. Eine wichtige Voraussetzung für einen Zuzug oder eine Rückkehr nach Ostdeutschland ist, dass dort eine langfristige Perspektive gesehen wird, dass es einen Grund gibt, wieder in die Heimat zu kommen. Schreiter und Sternberg (2016, S. 154 ff.) nennen drei Hauptmotive: Heimat und Familie, Lebensqualität – insbesondere mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und Arbeit. Der Faktor Arbeit wird dabei als „auschlaggebend“ für die Rückkehrentscheidung benannt: „Ein angemessener Job ist … die Eintrittskarte für die Rückkehr in die Heimat und für eine langfristige Ansiedlung“ (ebd., S. 157). Als besondere Herausforderungen bei der Rückkehr ins ländliche Ostdeutschland nennen Schreiter und Sternberg die Faktoren Arbeit, Infrastruktur und Bevölkerungsentwicklung (ebd., S. 158 ff.). Eine aktuelle Untersuchung zur Rückwanderung von Erwerbspersonen in ganz Deutschland auf Landkreisebene (Fuchs et al. 2017) zeigt, dass es sich bei der Rückwanderung von Erwerbspersonen um kein spezifisch ostdeutsches Phänomen handelt. Signifikante Unterschiede zwischen den alten und neuen Ländern sind nicht festzustellen, dafür aber einige übergeordnete Grundstrukturen, die das Rückwanderungsverhalten in der Bundesrepublik kennzeichnen: Rückwanderung ist ein „Männerphänomen“ – deutschlandweit kommen 82 Rückwanderungen von Frauen auf 100 Rückwanderungen von Männern. Dabei sind keine systematischen Ost-West-Unterschiede erkennbar (Fuchs et al. 2017). Da bis dato noch keine detaillierte systematische wissenschaftliche Untersuchung des Rückwanderungsverhaltens in der Bundesrepublik vorliegt, kann über die Hintergründe dieses speziellen „Männerüberschusses“ nur spekuliert werden. Neben geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Berufswahl kommen auch Erklärungen, die Ungleichgewichte auf dem Partnermarkt in den Vordergrund rücken, sowie das Bestreben vieler Frauen, von einem männlichen „Ernährer“ unabhängig zu sein, in Betracht (ebd.). Von Rückwanderung profitieren insbesondere ländliche Räume, die Rückwanderungsraten in die kreisfreien Städte sind dagegen eher unterdurchschnittlich (Fuchs et al. 2017). Ländliche Regionen sind zudem eher für jüngere Arbeitnehmer*innen attraktiv (ebd.). Deutschlandweit zieht es vor allem Geringqualifizierte zurück aufs Land – in Ostdeutschland, namentlich in Sachsen und Thüringen, gibt es jedoch eine Reihe von Landkreisen, in die mehr Hoch- als Geringqualifizierte zurückkehren (ebd.). Trotz größerer regionaler Unterschiede ist die Rückwanderung in ländliche Räume in Ostdeutschland im Vergleich zur westdeutschen „Fläche“ tendenziell mit einem „Brain Gain“, also
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einer selektiven Zuwanderung Höherqualifizierter, sowie einer Verjüngung der Erwerbsbevölkerung verbunden. Ein bedeutender Teil der Rückwanderer*innen hat nur den Wohnort, aber nicht den Arbeitsplatz nach Ostdeutschland verlegt. Rückgewanderte Beschäftigte zeigen eine stärkere Neigung, in die westdeutschen Bundesländer zu pendeln, als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ohne Wanderungserfahrung (Nadler 2017, S. 37). Fachkräfteengpässe lassen sich vor diesem Hintergrund durch Rückwanderung vermutlich nicht maßgeblich verringern (ebd., S. 40). Bei aller Euphorie über einen angeblichen Zuwanderungstrend sollte nicht übersehen werden, dass die Rückkehrquoten recht bescheiden sind: Von den „in den Westen“ abgewanderten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kehrt nicht einmal jede*r Sechste nach Ostdeutschland zurück (Fuchs und Weyh 2016, S. 21). Aus Sicht der Regionalentwicklung und Fachkräftesicherung kann die Förderung der Rückwanderung daher nur eine von mehreren Strategien sein: „Zur Lösung des drohenden Arbeitskräfteproblems in Ostdeutschland wird man kaum auf [Pendler*innen und Rückwanderer*innen] zurückgreifen können; vielmehr ist es erforderlich, auch auf Zuwanderung aus dem Ausland zu setzen. … Anderenfalls wird es in weiten Teilen Ostdeutschlands schwerfallen, das erreichte Wohlstandsniveau auch längerfristig aufrechtzuhalten“ (Ragnitz 2018, S. 27 f.).
16.5 Ausblick Menschen wandern – sie wandern aus den unterschiedlichsten Motiven, ihnen stehen unterschiedlichen Ressourcen und unterschiedliche Wissensbestände zur Verfügung, sie sind in soziale Netzwerke eingebunden, die Ab- oder Rückwanderung erleichtern oder hemmen können. Wanderungen sind in spezifische räumliche und zeitliche Kontexte eingebunden, die sich durch spezifische sozioökonomische Rahmenbedingungen auszeichnen. Wichtig ist, dass sich diese Kontexte und Rahmenbedingungen wandeln – bisweilen unbemerkt und schleichend, manchmal drastisch. Die sich abzeichnenden Trendwenden der ostdeutschen Wanderungsmuster sind vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel sowie der Wandel von Wanderungsmustern und -verhalten gehen Hand in Hand. Für die Humangeographie in Ostdeutschland besteht umfangreicher Forschungsbedarf, um abschätzen zu können, wie nachhaltig und belastbar diese Entwicklungen sind. Wenn die problematische Altersstruktur (Leibert 2019) nicht wäre, könnte man von der günstigsten demographischen Situation in Ostdeutschland seit 1989 sprechen. Unter Berücksichtigung von Überalterung, hohen Sterberaten und dem Mangel an potenziellen Müttern bleibt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zumindest die Hoffnung auf eine demographische Stabilisierung und bessere Rahmenbedingungen für die Regionalentwicklung. Eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung setzt voraus, dass auch internationale Zuwanderer*innen willkommen sind und dauerhaft in Ostdeutschland leben möchten. Dies ist derzeit sicherlich die größte politische und gesellschaftliche Herausforderung im Themenfeld Wanderungen.
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Migrationsgeschichte Ostdeutschlands I. Von der Zeit der DDR bis in die 1990er-Jahre
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Birgit Glorius
Zusammenfassung
Ausgehend von der Beobachtung, dass das Wissen über die Geschichte der Migration in der DDR bis heute marginal ist, zielt dieser Beitrag darauf ab, Informationslücken in Bezug auf die Migrationsgeschichte Ostdeutschlands zu schließen, die Spezifik von internationaler Migration in die DDR und während der 1990er-Jahre nachzuzeichnen und vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung Ostdeutschlands während dieser Zeit zu reflektieren. Damit wird eine Basis geschaffen für die Untersuchung und Einordnung jüngerer Diskurse um Migration in Ostdeutschland.
17.1 Einleitung Betrachtet man die Verteilung internationaler Migrant*innen in der Bundesrepublik Deutschland, bildet sich nach wie vor die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ab. Im Osten Deutschlands leben signifikant weniger Menschen mit Migrationsbiographie als im Westen (2017: 6,8 % gegenüber 26,5 %; Statistisches Bundesamt 2018). Diese Differenz ist überwiegend eine Folge der divergierenden Migrationsgeschichte beider deutscher Staaten vor 1989. Doch auch die Migrationsprozesse seit der politischen Wende sind trotz identischer regulativer Grundlagen unterschiedlich verlaufen. Bis heute werden diese Unterschiede kaum thematisiert, und es fehlt differenziertes Wissen über die Migrationsgeschichte der DDR. Stattdessen werden aus dem westdeutschen Kontext
B. Glorius (*) Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_17
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entlehnte Wissensordnungen zu Migration, Integration und Diversität oft unreflektiert auf den Osten Deutschlands übertragen und (ostdeutsche) Diskurse und Konflikte um Zuwanderung und Integration vor dem Hintergrund der westdeutschen Erfahrungen eingeordnet. Ziel dieses Beitrags ist es daher, Informationslücken in Bezug auf die Migrationsgeschichte Ostdeutschlands zu schließen, die Spezifik von internationaler Migration in die DDR und während der 1990er-Jahre nachzuzeichnen und vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Entwicklung Ostdeutschlands während dieser Zeit zu reflektieren.
17.2 Migration und Integration in der DDR Die DDR war vor allem ein Auswanderungsland, geprägt von deutsch-deutschen Binnenmigrationsprozessen. Seit ihrer Gründung 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer und der Schließung der deutsch-deutschen Grenze 1961 verließen über drei Millionen Menschen die DDR (Oltmer 2018). Seit der Grenzschließung bis zur Wende konnten weitere 625.000 Personen im Rahmen von Ausreiseanträgen die DDR verlassen, rund 880.000 Menschen flohen zudem in den Jahren des beginnenden Umbruchs 1988/1989 (Martens 2010). Diesem massiven Bevölkerungsverlust standen nur geringfügige Zuzugszahlen gegenüber, z. B. von Übersiedler*innen aus der Bundesrepublik.
17.2.1 Internationale Zuwanderung in die DDR Internationale Migration in die DDR war streng reguliert und vorwiegend zu Studienoder Arbeitszwecken möglich. Das letzte Statistische Jahrbuch der DDR dokumentierte rund 190.000 Ausländer*innen, von denen rund 107.000 berufstätig waren. Die Zahl der ausländischen Studierenden betrug 1989 rund 10.000; bis 1988 schlossen rund 42.000 Ausländer*innen ein Studium in der DDR ab (Elsner und Elsner 1994, S. 23). Weitere, zahlenmäßig weniger bedeutende Formen der Migration waren Zuwanderungen zum Zweck der Eheschließung sowie die Aufnahme von Asylsuchenden. Konkrete Zahlen zu Eheschließungen zwischen DDR-Bürger*innen und Ausländer*innen liegen nicht vor, jedoch hatten 43.100 Ausländer*innen im Jahr 1989 eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für die DDR, die vor allem ausländischen Ehepartner*innen erteilt wurde, darunter 11.000 Bürger*innen der Sowjetunion, 11.000 Pol*innen sowie 9000 Ungar*innen (Stach und Hussain 1993, S. 9). Flüchtlingsschutz wurde überwiegend Personen gewährt, die aufgrund ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden, z. B. rund 2000 Sozialist*innen aus Chile, Argentinien oder Griechenland. Zum Ende der DDR wurden zudem jüdische Kontingentflüchtlinge aus der zusammenbrechenden Sowjetunion aufgenommen (Weiss 2009, S. 132). Einen Sonderfall internationaler Migration stellte die Stationierung sowjetischer Streitkräfte dar, die zusammen mit Zivilpersonal über 500.000 Menschen umfasste und damit die größte Gruppe von Ausländer*innen in der DDR bildete (Müller 2005, S. 17).
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Abgesehen von den sowjetischen Streitkräften bildeten Arbeitsmigrant*innen die weitaus größte Gruppe der Ausländer*innen in der DDR. Sie kamen im Kontext von staatlichen Vertragsarbeiterabkommen zunächst aus Ungarn (1967) und Polen (1971) – mit Polen gab es zusätzlich ein Abkommen für grenzüberschreitende Arbeitspendler*innen, die von ihrem polnischen Wohnsitz aus in der DDR arbeiteten –, später aus entfernteren sozialistischen Ländern wie Algerien (ab 1974), Kuba (ab 1978), Mosambik (ab 1979), Vietnam (ab 1980) und Angola (ab 1985). Die größte Gruppe unter ihnen waren vietnamesische Vertragsarbeiter*innen, die vor allem gegen Ende der 1980er-Jahre in großer Zahl angeworben worden waren und 1990 rund 60.000 Personen umfassten (Abb. 17.1). Die Arbeitskräfte wurden vor allem in der industriellen Produktion beschäftigt. Zudem gab es noch Werkvertragsarbeiter*innen, die als Angestellte ausländischer Außenhandelsfirmen (meist im Bauwesen) in der DDR eingesetzt wurden, sowie Saisonkräfte für Erntearbeiten (vgl. Jasper 1991; Helias 1992). Die angeworbenen Vertragsarbeitskräfte waren meist jung und männlich (85 %), wobei der Frauenanteil in einzelnen Herkunftsgruppen überdurchschnittlich war, so z. B. bei den vietnamesischen Arbeitskräften mit 37 % (Dennis 2005, S. 15).
Abb. 17.1 Vertragsarbeiter*innen und Pendler*innen* in der DDR 1966–1989. (Quelle: Mac Con Uladh 2005, S. 52) Vereinbarungen zur Pendelmigration gab es nur mit Polen, die Daten der Vertragsarbeitskräfte und Pendelarbeitnehmer*innen sind hier in einer Rubrik zusammengefasst. Die Daten stellen jeweils den Bestand der Vertragsarbeitskräfte im jeweiligen Jahr dar. Für Polen und Ungarn existieren Datenlücken in den Jahren 1968, 1971 sowie 1977 und 1978
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B. Glorius
17.2.2 Lebensbedingungen internationaler Migrant*innen in der DDR Die Anwerbeaktivitäten können unter anderem als eine Folge der massiven „Republikflucht“ interpretiert werden, was zu einer Arbeitskräfteverknappung führte. Seitens der DDR-Regierung wurde die Anwerbemaßnahme vorwiegend mit der „Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit“ begründet (Dennis 2005, S. 17). Eine entsprechende „Verbrüderung“ auf privater Ebene oder ein längerfristiger Aufenthalt, verbunden mit Integrationsangeboten, war jedoch nicht beabsichtigt. Die Vertragsarbeitskräfte wurden mit jeweils auf vier Jahre befristeten Verträgen für konkrete Betriebe angeworben und in betriebseigenen Wohnheimen untergebracht, meist in Mehrbettzimmern und unter äußert rigiden Regularien hinsichtlich Besuchen, Nachtruhe oder Nutzung der Gemeinschaftseinrichtungen. Sie standen unter Kontrolle von Gruppenleiter*innen, Wohnheimleiter*innen und Dolmetscher*innen, die unter anderem die Arbeitsdisziplin und ideologische Linientreue der Vertragsarbeiter*innen sicherstellen sollten (ebd., S. 22; Elsner und Elsner 1994, S. 28). Kontakte zu Deutschen außerhalb des Arbeitsplatzes waren genehmigungspflichtig, ein Fehlverhalten konnte zur Ausweisung führen (Bade und Oltmer 2004, S. 95). Besonders restriktiv wurde mit Schwangerschaften umgegangen. Betroffene Vertragsarbeiterinnen wurden bis 1989 vor die Wahl gestellt, eine Abtreibung vornehmen zu lassen oder in ihr Herkunftsland zurückzukehren, was häufig mit einer Strafe verbunden war, weil sie durch die Rückkehr die ursprünglich vereinbarte Vertragslaufzeit nicht mehr erfüllen konnten (Mac Con Uladh 2005, S. 65). Die Vertragsarbeitskräfte wurden hinsichtlich der Entlohnung in vielen Bereichen DDR-Bürger*innen gleichgestellt. Allerdings wurde auf Grundlage der jeweiligen Abkommen ein Teil des Einkommens nicht ausgezahlt, sondern direkt an das Entsendeland abgeführt. Die Möglichkeit von Geld- oder Warenrücksendungen in das Herkunftsland waren streng reglementiert, wobei auch hier die Regelungen je nach Vertragsstaat variierten. Insgesamt wurden außereuropäische Vertragsarbeiter*innen restriktiver behandelt als innereuropäische, und sie waren stärkeren kulturalisierenden Stereotypisierungen ausgesetzt (vgl. Dennis 2005, S. 42; Mac Con Uladh 2005, S. 65). Auch die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte lebten in der Regel stark segregiert an den Truppenstandorten und hatten wenig ungesteuerte Kontakte zur deutschen Bevölkerung. Während die offiziellen Begegnungen in der Regel stark formalisiert unter dem ideologisch überhöhten Paradigma der deutsch-sowjetischen Freundschaft abliefen, wurden im privaten Rahmen eher abwertende Stereotype vom „Sowjetmenschen“ gepflegt (vgl. Müller 2005). Im Umfeld der Truppenstandorte gab es zudem Konflikte durch die zahlenmäßig starke Präsenz der sowjetischen Truppenangehörigen sowie ihre teils devianten sozialen Praktiken, die jedoch im Rahmen des Machtungleichgewichts zwischen Besatzungsmacht und Besetzten weder
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gelöst noch geahndet wurden.1 Im Vergleich zur Situation der Vertragsarbeiter*innen lebten ausländische Studierende und Ausländer*innen, die mit DDR-Bürger*innen verheiratet waren, weniger segregiert. Doch auch sie waren starken Reglementierungen, Überwachungen und teils willkürlichen Entscheidungen sowie institutionalisiertem Rassismus ausgeliefert. So wurden Eheschließungen zwischen DDR-Bürger*innen und Ausländer*innen teils behördlich verhindert, um die DDR Bürger*innen von der Ausreise abzuhalten (vgl. Glorius 2007, S. 141 f.). Teilweise wurde seitens des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gezielt versucht, die deutschen Partner*innen, insbesondere die Frauen, durch üble Nachrede von der binationalen Beziehung abzubringen („unordentlich, nachlässig, zweifelhafter Lebenswandel“ etc., vgl. Dennis 2005, S. 38). Sowohl ausländische Studierende als auch ausländische Ehepartner*innen wurden häufig von der Staatssicherheit überwacht (Glorius 2007, S. 252). Staatlicherseits bestand stets die Befürchtung, Ausländer*innen aus liberaleren sozialistischen Ländern könnten reaktionäres Gedankengut in die DDR-Gesellschaft einbringen. Daher standen seit dem Erstarken der Gewerkschaft Solidarność Anfang der 1980er-Jahre vor allem Pol*innen in der DDR unter verschärfter Beobachtung (Mrowka 1994, S. 68). Dennoch gab es Aktivitäten seitens der Migrant*innen, sich der staatlichen Ordnungsmacht zu entziehen. Vertragsarbeiter*innen eigneten sich öffentliche Räume an und kreierten Treffpunkte an zentralen urbanen Orten, wie etwa am Leipziger Hauptbahnhof in den 1970er-Jahren (Mac Con Uladh 2005, S. 59 f.). Ebenso partizipierten sie an öffentlichen Tanzveranstaltungen und besuchten Lokale, wobei sich auch private Kontakte zu DDR-Bürger*innen ergaben. Freilich waren diese selbstständigen Vorstöße in die DDR-Ordnung seitens des Regimes nicht gern gesehen, und man unternahm in verschiedenen Städten der DDR Versuche, durch die Einrichtung von „Ausländerclubs“ segregierte Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, ohne dass es dabei zu interkulturellen Kontakten kommen konnte (ebd., S. 58). Für polnische Migrant*innen in der DDR boten die Polnischen Kulturzentren in Berlin und Leipzig sowie die Einrichtungen der polnischen katholischen Mission wichtige Anlaufpunkte. Auch für andere kirchlich gebundene Ausländer*innen waren Kirchengemeinden ein wichtiger Kontaktpunkt (Glorius 2007). Doch die Vernetzungen der Ausländer*innen reichten über die DDR hinaus. So hielten sie nicht nur Kontakt zu den Angehörigen daheim, sondern ebenso zu Landsleuten in anderen Ländern Europas und in der Bundesrepublik (Riedel 1994). Auch das wurde vom DDR-Regime und der Bevölkerung mit Argwohn beobachtet.
1Müller
(2005) berichtet von illegaler Landnahme und Flurschäden durch den Übungsbetrieb, Hausfriedensbruch, Einbruchdiebstahl, Verletzungen und Tötungen durch den unachtsamen Gebrauch von Schusswaffen sowie Vergewaltigungen. Kapitaldelikte waren zwar selten, erzeugten jedoch große Aufmerksamkeit und Verunsicherung in der Bevölkerung.
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17.2.3 Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in der DDR Nach einer Befragung aus dem Jahr 1990 hatten 60 % der Ostdeutschen keinen persönlichen Kontakt zu Ausländer*innen, und zwei Drittel der Ausländer*innen in Ostdeutschland verkehrten in ihrer Freizeit nicht mit Deutschen (Müggenberg 1996, S. 24). Personen, die z. B. im Hochschulbereich mit Ausländer*innen in Berührung kommen konnten, wurde dies von den staatlichen Behörden teilweise untersagt. So berichtet eine Zeitzeugin, die eine Hochschulausbildung zur Dolmetscherin und Übersetzerin absolvierte, dass im Falle eines Ausländerkontaktes die Exmatrikulation drohte. Ihre Beziehung zu ihrem späteren polnischen Ehemann musste sie deshalb zunächst geheim halten: „Ich durfte ja gar keine Ausländerkontakte haben, das war ja ganz schlimm. Wir haben ja auch alles geheim gehalten, die ersten drei Jahre überhaupt, wo wir uns kennen. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich hab’ zwei Westsprachen studiert, wir mussten da schwören, dass wir keine Ausländer kennenlernten, im ganzen Studium, sonst werden wir exmatrikuliert“ (Glorius 2007, S. 141). In der Abwesenheit von persönlichen Kontakten außerhalb der Arbeit blieben nur Gerüchte und Stereotype, um sich ein Bild von den Ausländer*innen zu machen. Vielfach waren dies zunächst kulturalisierende Stereotype, wie etwa dass die Vietnames*innen fleißig seien und die Kubaner*innen gesellig und musikalisch (Gruner-Domić 2017, S. 1080). Die Zuschreibungen konnten jedoch schnell in Ablehnung umschlagen, was z. B. in der Kritik eines Gruppenleiters in einem Berliner Betrieb zum Ausdruck kommt, die ihm unterstellten kubanischen Arbeiter würden „lauter auftreten, was von den Kollegen als störend empfunden wird“ und dass sie in ihrer Pause „singen und trommeln“ würden (Mac Con Uladh 2005, S. 56). Im Laufe der zunehmenden Mangelwirtschaft der 1980er-Jahre wurde den Ausländer*innen pauschal eine „extreme materielle Interessiertheit“ unterstellt, die sich laut einer MfS-Aufzeichnung in „Massenabkäufen von Konsumgütern und Spekulationshandlungen“ zeigte (Dennis 2005, S. 42). Im letzten Jahr der DDR wurde daher ein Gesetz erlassen, das nur Personen mit festem Wohnsitz in der DDR zum Erwerb von Waren berechtigte. Daraufhin wurden auch langjährig ansässige Migrant*innen bei ihren täglichen Einkäufen dazu genötigt, den Ausweis zu zeigen – eine Prozedur, die eine polnische Zeitzeugin als sehr erniedrigend empfand, die aber ihrer Beobachtung nach die Einheimischen mit großer Genugtuung erfüllte: „Das war äußerst unangenehm … und muss ich aber sagen, manche haben sich gefreut, die hatten endlich mal das, die hatten das Bedürfnis sogar gehabt und die haben das mit Absicht auch gemacht“ (Glorius 2007, S. 250 f.). Es blieb jedoch nicht bei derlei Ressentiments. In den letzten Jahren der DDR brachen sich zunehmend Aggressionen Bahn, die rechtsradikale, antisemitische und ausländerfeindliche Merkmale trugen. Bereits während der 1970er-Jahre mehrten sich Hakenkreuz-Schmierereien im öffentlichen Raum. Gewaltvolle Übergriffe auf algerische Arbeitsmigrant*innen in den 1970er-Jahren führten gar dazu, dass die algerische Regierung ihre Landsleute zurückholte (Stach und Hussain 1993, S. 18). Während der
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1980er-Jahre kam es zu einer Radikalisierung von Jugendlichen mit den dazugehörigen politischen, vielfach rechtsextremistischen Einstellungsmustern (Spülbeck 1997, S. 169). Stach und Hussain (1993) weisen in diesem Zusammenhang auf den Einfluss der rechtsradikalen Szene aus der Bundesrepublik hin, deren Verhaltensweisen und Einstellungsmuster teilweise unreflektiert von Jugendlichen in der DDR übernommen wurden und „Züge einer ‚Mode‘“ trugen (ebd., S. 18 f.). Die immer aggressiver werdende Stimmung gegenüber Ausländer*innen in der DDR kulminierten in Beschimpfungen, Drohungen und tätlichen Übergriffen, die jedoch vielfach von der Volkspolizei nicht aufgenommen wurden (ebd., S. 20). Krüger-Potratz (1991, S. 56 ff.) berichtet von verschiedenen extrem gewalttätigen Angriffen, die in den Jahren 1987 und 1988 vorwiegend auf Mosambikaner*innen verübt wurden und teilweise tödlich endeten. Doch trotz dieser massiven Übergriffe „blieb es in der öffentlichen Sphäre bei einer Selbstdarstellung der DDR, die gewalttätige, rassistische und antisemitische Ausschreitungen ausblendete“ (Spülbeck 1997, S. 170). Im Juli 1990 resümiert die Ausländerbeauftragte des Ost-Berliner Magistrats zu dieser Situation: „Ausländerfeindlichkeit und Rassismus haben verschiedene Gesichter. Eines davon ist, daß die zuständigen Leute einfach wegschauen“ (Stach und Hussain 1993, S. 18).
17.3 Internationale Migrant*innen in Ostdeutschland während der 1990er-Jahre Die Umbrüche von 1989/1990 hatten starke Auswirkungen auf alle Lebensbereiche in Ostdeutschland und führten, verbunden mit der Wiedervereinigung und der Übernahme der westdeutschen Migrationsregularien, zu massiven Veränderungen im Wanderungsgeschehen. Während auf der einen Seite die Freisetzung der im Land befindlichen ausländischen Vertragsarbeiter*innen viele Fragen bezüglich Aufenthaltstiteln und sozialer Unterstützung aufwarf, galt es auf der anderen Seite, die im Rahmen von Kontingenten und Proporzverteilungen zugeteilten Asylsuchenden und Spätaussiedler*innen in den ostdeutschen Bundesländern aufzunehmen. Hinzu kamen neue Formen der gesteuerten Arbeitsmigration.
17.3.1 Situation der Vertragsarbeiter*innen Bedingt durch den Zusammenbruch der Wirtschaft und die Auflösung der Industriekombinate wurden die meisten ausländischen Vertragsarbeiter*innen nach 1989 sehr schnell beschäftigungslos. Allerdings waren die Regierungsabkommen zur Vertragsarbeit noch bis 31.12.1990 in Kraft und durften nicht einseitig gekündigt werden. Die mehrjährigen Arbeitsverträge der erst kurz vor der Wende eingereisten Vertragsarbeiter*innen konnten von den Betrieben nicht so einfach gekündigt werden, und jene mussten auch die Wohnheime weiter betreiben. Dennoch waren bis Mai 1990 rund 60 % der in der
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DDR lebenden Vertragsarbeiter*innen von Kündigung betroffen (Berger 2005, S. 71). Im Juni 1990 wurden Änderungsverträge mit den Entsendestaaten ausgehandelt, die vor allem die Möglichkeit der Vertragskündigung sowie Rückkehrförderung vorsahen. Später griff die Bundesregierung stärker ein und versuchte Rückübernahmeabkommen auszuhandeln, von denen jedoch nur rund zwei Drittel von den Herkunftsstaaten anerkannt wurden. Da manche Betroffene befürchteten, nach der Rückkehr privaten und staatlichen Repressalien ausgesetzt zu sein, stellten viele einen Asylantrag, der meist in einer Duldung mündete (Weiss 2005, S. 80 f.). Mit der Harmonisierung des Ausländerrechts 1992 erhielten die meisten Vertragsarbeiter*innen nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Die Aufenthaltszeiten auf DDR-Gebiet wurden für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis zunächst nicht anerkannt. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch rund 19.000 Vertragsarbeiter*innen in den neuen Bundesländern, davon 16.000 Vietnames*innen. Erst 1997 wurde diese Regelung aufgehoben und auch die Aufenthaltszeit in der DDR anerkannt (ebd., S. 74 f.). Bedingt durch die lange Zeit der Ungewissheit und die vorherige segregierte Lebenssituation verblieben viele Vietnames*innen in ihrer eigenen ethnic community, mit ihren eigenen Werten und sozialen Mustern. Angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs war die Suche nach einer Erwerbsarbeit oft aussichtslos, sodass nur der Weg in die Selbstständigkeit mit kleinen Geschäften, einer Imbissbude oder im Straßenverkauf blieb (Berger 2005, S. 73). Der Rückzug in die Eigengruppe war auch durch die aggressive Ausländerfeindlichkeit unmittelbar nach der Wende bedingt, mit dem Höhepunkt der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Viele Vietnames*innen gewöhnten sich laut Eigenaussagen daran, nur in Gruppen und im eigenen Pkw unterwegs zu sein und bestimmte Gebiete ganz zu meiden. Im Nachgang der Ausschreitungen von Rostock kam es zu einer Solidarisierung innerhalb der ethnischen Gruppe und zu ersten Selbstorganisationen, wie z. B. die Gründung des ersten vietnamesischen Vereins Dien Hong in Rostock (Weiss 2005, S. 90).
17.3.2 Aufnahme von Asylsuchenden und Spätaussiedler*innen Nach der Wiedervereinigung wurde das Asylrecht der alten BRD auf Ostdeutschland übertragen. Die damals rasch ansteigenden Zahlen von Kriegsflüchtlingen und Spätaussiedler*innen wurden nach dem Königsteiner Schlüssel2 proportional auch auf die ostdeutschen Bundesländer verteilt. Insgesamt kam zwischen 1991 und 1993 rund eine
2Der
Königsteiner Schlüssel basiert auf einem Staatsabkommen aus dem Jahr 1949 zur Verteilung der Kosten für überregional bedeutende Forschungseinrichtungen zwischen den Bundesländern. Er wird in modifizierter Form inzwischen für viele föderale Aufgaben angewandt. Hinsichtlich der Aufnahme von Asylsuchenden wird die Quote jährlich neu berechnet, wobei zu zwei Dritteln die Relation des Steueraufkommens und zu einem Drittel die Relation der Bevölkerungszahl einfließen (GWK 2019).
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Million Asylsuchende nach Deutschland – darunter rund 290.000 Kriegsflüchtlinge der Balkankriege. Hinzu kam die Ansiedlung von rund 850.000 Spätaussiedler*innen aus Osteuropa, deren Anzahl sich bis Ende der 1990er-Jahre auf rund zwei Millionen belief, sowie die Aufnahme von rund 28.500 jüdischen Kontingentflüchtlingen in den Jahren 1991/1992 (Haug und Schimany 2005; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014). Berechnet auf ihren Anteil gemäß Königsteiner Schlüssel von rund 15,5 % wurden somit binnen weniger Jahre annähernd 300.000 Menschen in den ostdeutschen Bundesländern aufgenommen. Die Unterbringung erfolgte überwiegend in Gruppenunterkünften. Vielfach waren es Wohngebäude, die zuvor zur Unterbringung von Vertragsarbeiter*innen genutzt wurden. Doch auch stillgelegte Kasernen oder Ferienobjekte wurden herangezogen. Die Integrationsbedingungen vor Ort waren schwierig. Viele Spätaussiedler*innen und jüdische Kontingentflüchtlinge verfügten über qualifizierte Bildungsabschlüsse, die jedoch kaum anerkannt wurden (vgl. Weiss 2013, S. 388). Hinzu kamen fehlende Deutschkenntnisse. Einer Integration in den Arbeitsmarkt standen zudem die rapide wachsenden Arbeitslosenzahlen im Wege. Eine Zeitzeugin, die zu dieser Zeit Deutsch als Zweitsprache unterrichtete, erinnert sich: „Also, die aus Russland gekommen sind, die waren 100 % sicher, dass sie hier bleiben. Die haben versucht, das in Angriff zu nehmen. Meine Feststellung ist, es hat im Durchschnitt zehn Jahre gedauert, bis die richtig Fuß gefasst haben“ (Glorius et al. 2016, S. 36). Die segregierte Wohnsituation vieler Migrant*innen verstärkte die soziale Exklusion, und die rechtsextremen und rassistischen Ausschreitungen, die gerade zu Beginn der 1990er-Jahre ein Klima der Angst unter Migrant*innen in Ostdeutschland entstehen ließen, taten ihr Übriges. Aufgrund dieser ungünstigen Rahmenbedingungen sind über die Jahre nach Schätzungen ein Drittel bis die Hälfte aller Spätaussiedler*innen und Geflüchteten in die westdeutschen Bundesländer weitergewandert (vgl. Holzmann und Kliemann 2007, S. 99).
17.3.3 Neue Formen der gesteuerten Arbeitsmigration Eine weitere Migrationsform, die während der 1990er-Jahre in Ostdeutschland signifikant war, war die Rekrutierung von temporären Arbeitskräften auf Grundlage von bilateralen Verträgen mit den Transformationsstaaten Ostmitteleuropas. Insbesondere Beschäftigte aus Polen nahmen diese Verträge in Anspruch, um im Rahmen eines Werkvertrags im Bereich Bau und Sanierung oder als Saisonarbeitskraft in der Landwirtschaft zu arbeiten. Ähnlich wie bei den Vertragsarbeitskräften zu DDR-Zeiten lebten diese Arbeitskräfte stark segregiert, z. B. direkt auf den Baustellen bzw. in Baracken auf dem Gelände der landwirtschaftlichen Betriebe. Kontakte zur deutschen Bevölkerung waren zwar nicht mehr staatlicherseits sanktioniert, doch meist ergab sich aufgrund der hohen Arbeitsbelastung, mangelnder Deutschkenntnisse und fehlender Freizeitmöglichkeiten schlicht nicht die Gelegenheit (vgl. Glorius 2004, S. 37).
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So kann resümierend zu den 1990er-Jahren gesagt werden, dass auch während dieser Zeit in Ostdeutschland temporäre und institutionell gesteuerte Migrationsformen vorherrschten, während individuelle Zuwanderung aufgrund von Arbeit, Studium oder Partnerschaft nur in geringem Ausmaß stattfand. Eine Einwanderungsgesellschaft, in der Diversität akzeptiert wird, konnte sich unter den ungünstigen ökonomischen Rahmenbedingungen dieser Zeit nicht etablieren.
17.4 Zusammenfassung Die Betrachtung der ostdeutschen Migrationsgeschichte während der Zeit der DDR und der 1990er-Jahre verdeutlicht das stetige Vorherrschen von gelenkter Migration, die von der Rekrutierung von Vertragsarbeiter*innen in der DDR zu der staatlich gelenkten Aufnahme von Asylsuchenden, Kontingentflüchtlingen und Spätaussiedler*innen der 1990er-Jahre reicht. Diese Kontinuität setzt sich auch räumlich fort, indem eine Persistenz von kollektiven Unterbringungsformen zu verzeichnen ist, die eine Verstetigung sozial(räumlich)er Exklusionsprozesse und Stereotypisierungen nach sich zieht. Eine Rückschau auf die Migrationsgeschichte der DDR verdeutlicht den Totalitätsanspruch des DDR-Staates, der alle Lebensbereiche umfasste. „Anderssein gab es nicht“ (Krüger-Potratz 1991) – das galt insbesondere für internationale Migrant*innen und unterwarf diese trotz hoher Segregation einem starken Assimilationsdruck. Das Nebeneinander der offiziellen Doktrin der sozialistischen Brüderschaft und der institutionellen Exklusion und Vorverurteilung der „Anderen“ ordnete sich ein in eine Serie von Widersprüchen, die ein Leben im sozialistischen System mit sich brachte. Viele dieser Widersprüche kamen in der Nachwendezeit gewaltvoll zum Vorschein und bilden damit einen wichtigen Erklärungszusammenhang für die Entwicklung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit im posttransformativen Ostdeutschland.
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Migrationsgeschichte Ostdeutschlands II. Internationale Migration in Ostdeutschland und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung seit der Jahrtausendwende
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Birgit Glorius
Zusammenfassung
Seit der Jahrtausendwende hat sich die ostdeutsche Gesellschaft durch Migration merklich verändert, wenngleich nicht überall im gleichen Maße. Während es internationale Arbeitsmigrant*innen, Studierende und Wissenschaftler*innen vor allem in die großen Städte zieht, tragen Geflüchtete durch die regionale Weiterverteilung auch in kleineren Städten und ländlichen Gemeinden zu einer sichtbaren Diversifizierung der Gesellschaft bei. Dennoch zeigen sich in Ostdeutschland signifikante Unterschiede zum bundesweiten Diskurs, wie die Wahrnehmungs- und Aushandlungsprozesse hinsichtlich Zuwanderung, Fremdheit und Zugehörigkeit sehr deutlich zeigen.
18.1 Einleitung Als Fortsetzung des ersten Beitrags zur Migrationsgeschichte Ostdeutschlands (Kap. 17), der vor allem die Entwicklungen zu DDR-Zeiten und in den 1990er-Jahren in den Blick nimmt, wird in diesem Beitrag eine Bestandsaufnahme der internationalen Migration nach der Jahrtausendwende vorgenommen. Dabei wird zunächst die Struktur und Entwicklung der ausländischen Bevölkerung Ostdeutschlands geschildert (Abschn. 18.2), anschließend werden zwei markante Migrationsprozesse der vergangenen Jahre thematisiert, nämlich die Arbeitsmigration (Abschn. 18.3) und die Aufnahme von Geflüchteten (Abschn. 18.4). Abschn. 18.5 widmet sich dann der gesellschaftlichen
B. Glorius (*) Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_18
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Wahrnehmung von Migration in Ostdeutschland, die Zusammenfassung (Abschn. 18.6) schlägt einen Bogen über den gesamten Betrachtungszeitraum und ordnet die Entwicklungen in den Gesamtzusammenhang der ostdeutschen Transformationsgesellschaft ein.
18.2 Struktur und Entwicklung der ausländischen Bevölkerung Ostdeutschlands Die unterschiedliche Migrationsgeschichte Ost- und Westdeutschlands zeigt sich bis heute in den geringeren Anteilen und der kürzeren Aufenthaltsdauer von Ausländer*innen in Ostdeutschland. Zur Jahrtausendwende lag der Ausländer*innenanteil in allen ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) bei 2 %. Dieser Wert verdoppelte sich bis 2017 auf 4,7 % und eine Gesamtzahl von 593.685 Ausländer*innen (Statistisches Bundesamt 2018a). Wie stark diese Entwicklung von der Zuweisung Geflüchteter beeinflusst wurde, zeigt ein Blick auf die wichtigsten Nationalitätengruppen: Waren dies vor 2015 in allen ostdeutschen Bundesländern EU-Bürger*innen – mit polnischen Bürger*innen als zahlenmäßig stärkster Gruppe –, bilden im Jahr 2017 syrische Staatsangehörige die stärkste Gruppe, gefolgt von polnischen Bürger*innen (mit Ausnahme von Brandenburg, wo die Reihenfolge umgedreht ist) (ebd.) (Abb. 18.1). Eine Betrachtung nach Aufenthaltsstatus und Anwesenheitsdauer für das Jahr 2017 macht die zentralen Merkmale der ausländischen Bevölkerung Ostdeutschlands nochmals deutlicher: Mehr als ein Drittel (35,8 %) hält sich im Rahmen der EU-Freizügigkeitsregelung in Ostdeutschland auf. Dabei dominieren Personen aus Ostmitteleuropa, insbesondere aus Polen, Tschechien und Rumänien. Knapp die Hälfte der Ausländer*innen (46,3 %) verfügt über einen unbefristeten oder befristeten Aufenthaltstitel. Ihre Hauptherkunftsländer sind Syrien, Russland, Vietnam, die Ukraine und Afghanistan. 17,9 % der Ausländer*innen in Ostdeutschland verfügen über keinen Aufenthaltstitel. Dies sind überwiegend Personen aus Russland, Afghanistan, Syrien, dem Irak oder Indien, die sich im Asylverfahren befinden oder für die das Asylverfahren ohne Aufenthaltstitel endete (Statistisches Bundesamt 2018a). Während die mittlere Aufenthaltsdauer der ausländischen Bevölkerung Deutschlands im Durchschnitt 15 Jahre beträgt, liegt sie in den ostdeutschen Bundesländern bei durchschnittlich sieben Jahren. Auch die nachfolgenden Generationen von Migrant*innen sind im Osten Deutschlands weniger verbreitet: Nur rund 6 % der ausländischen Bevölkerung Ostdeutschlands wurden in Deutschland geboren, gegenüber 12,6 % in Gesamtdeutschland (ebd.). Während die aus humanitären Gründen aufgenommenen Ausländer*innen relativ gleich verteilt in den Landkreisen und kreisfreien Städten leben, konzentrieren sich die Ausländer*innen ohne Aufenthaltsrestriktionen vor allem in den größeren Städten. Dies lässt sich durch die beiden Hauptmotive der (ungesteuerten) Zuzüge erklären, nämlich Arbeit und Bildung. Gerade die Universitätsstädte Ostdeutschlands verfügen über größere Anteile ausländischer Bevölkerung, die im Wesentlichen durch die
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Abb. 18.1 Ausländer*innenanteile nach Kreisen sowie zahlenmäßig größte Nationalitätengruppen in Ostdeutschland 2017. (Quelle: Statistisches Bundesamt 2018a)
ochschulbevölkerung sowie durch die vielfältigeren Beschäftigungsmöglichkeiten H zu erklären sind. Die Ausländeranteile in den größeren Städten Ostdeutschlands liegen daher zwischen 7 % (Dresden) und 9,1 % (Halle/Saale), während die meisten übrigen Regionen Ostdeutschlands Anteile unter 4 % aufweisen (Abb. 18.1). Eine Ausnahme stellen die Grenzregionen dar, wo die Anwesenheit von Bürger*innen des Nachbarlandes deutlich erhöht ist und sich teils transnationale Aktionsräume entwickelt haben (vgl. Beitrag Bürkner in diesem Band, Kap. 5). In Nordostdeutschland beispielsweise sind grenzüberschreitende Suburbanisierungseffekte zu erkennen, wo nicht wenige polnische Bürger*innen, die im polnischen Szczecin arbeiten, auf den entspannteren Wohnungsmarkt der deutschen Seite ausweichen. So hat z. B. im Amt Löcknitz-Penkun (Landkreis Vorpommern-Greifswald) der Zuzug aus Polen zur Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung beigetragen, nachdem die Region viele Jahre von Abwanderung, Leerstand und Verfall geprägt war (Krajewski 2018, S. 322; Kap. 5). Seit dem Beitritt Polens zum Schengener Abkommen 2007 und der damit verbundenen Erleichterung der grenzüberschreitenden Mobilität bis 2018 hat sich die polnische Einwohner*innenzahl mit 1550 mehr als verdoppelt (ebd.). Die Präsenz polnischer Bevölkerung ist in allen grenznahen Landkreisen stark ausgeprägt: So beträgt der Anteil von Pol*innen an der ausländischen Wohnbevölkerung im Kreis Görlitz 43 %, in Frankfurt (Oder) 22,1 % und im Kreis Vorpommern-Greifswald 34,4 % (Stand 31.12.2017, Statistisches Bundesamt 2018a).
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18.3 Arbeitsmigration Im Laufe der 2010er-Jahre stabilisierten sich die ostdeutschen Arbeitsmärkte. Während im Jahr 2005 die Arbeitslosenquote (in Ostdeutschland und Berlin) noch bei 19 % und die Erwerbstätigenquote lediglich bei 47,8 % lag, sank die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2017 auf 5,4 %, und die Beschäftigungsquote stieg auf 60,7 % (Statistisches Bundesamt 2018b, S. 364 f.). Durch die wirtschaftliche Stabilisierung und die nun verstärkt auftretenden Effekte des demographischen Wandels stieg der Bedarf nach Fachkräften in verschiedenen Branchen, was ein günstiges ökonomisches Klima für internationale Zuwanderung schuf. So weist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit für die ostdeutschen Bundesländer vor allem Fachkräfteengpässe in den Bereichen Mechatronik/ Automatisierung, Energietechnik, Tiefbau, Klempnerei sowie für Pflegeberufe und Physiotherapie aus (Bundesagentur für Arbeit 2019; Kap. 11). Im September 2018 waren 450.673 ausländische Erwerbstätige in Ostdeutschland beschäftigt, das entsprach 7,3 % aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (Bundesagentur für Arbeit 2018). EU-Bürger*innen machen rund die Hälfte (54,6 %) der ausländischen Beschäftigten aus. Insbesondere die Anzahl von Beschäftigten aus ostmitteleuropäischen EU-Staaten ist seit der Ermöglichung der Freizügigkeit für diese Länder stark angestiegen. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen stellen sie über die Hälfte aller ausländischen Beschäftigten. Die Nähe zum Herkunftsland dürfte dabei eine wesentliche Rolle spielen, ebenso wie institutionelle Beziehungen zwischen Bildungseinrichtungen dies- und jenseits der Grenze. So sind im Bereich Gesundheitsversorgung und Pflege insbesondere in Sachsen viele Fachkräfte aus Tschechien tätig. Kliniken und Pflegeeinrichtungen der Region haben teils direkte Kontakte zu Pflegefachschulen in Tschechien und werben regelmäßig für Praktikumsund Arbeitsplätze in Sachsen. Auch für Ärzt*innen bietet der grenznahe Raum Ostdeutschlands die Option, gute Verdienst- und Fortbildungsmöglichkeiten in Deutschland mit der Beibehaltung eines Wohnsitzes in Tschechien zu verknüpfen (Glorius 2015). „In meiner Region an der Grenze sind die Arbeitsbedingungen schlecht. Deswegen gehen viele Leute nach Prag, in andere Städte oder die, die gut Deutsch sprechen können oder einfach Mut haben, die kommen nach Deutschland. Ich kenne viele Ärzte und Schwestern, die zum Beispiel jeden Tag über die Grenze fahren und in Deutschland arbeiten oder auch wie ich in Deutschland bleiben“ (Interview tschechische Ärztin, Quelle: eigene Datensammlung). Im Jahr 2014 stellten tschechische Ärzt*innen die größte Gruppe unter den ausländischen Ärzt*innen in Sachsen, gefolgt von slowakischen und rumänischen Ärzt*innen (Glorius 2015, S. 30). Doch auch viele andere Branchen suchen aktiv nach Fachkräften und Auszubildenden und entwickeln internationale Rekrutierungskampagnen. So versuchten während der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, die vor allem im Süden Europas für hohe Arbeitslosenquoten gesorgt hatte, verschiedene Branchen und Arbeitgebervereinigungen,
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uszubildende aus Südeuropa mithilfe des MobiPro-EU-Programms anzuwerben A (Montero Lange 2014). Seit mehreren Jahren rekrutiert die DEHOGA Thüringen aktiv Auszubildende in Vietnam. Im Jahr 2017 lernten insgesamt 123 vietnamesische Auszubildende an der thüringischen DEHOGA-Berufsschule. Einheimische Auszubildende seien, so die Pressemeldung der DEHOGA, aufgrund des demographischen Wandels nicht mehr in ausreichender Zahl zu finden (DEHOGA 2017).
18.4 Aufnahme von Geflüchteten Der Zuzug Schutzsuchender hatte in Ostdeutschland starke Auswirkungen auf kommunaler Ebene, was im Folgenden am Beispiel laufender Forschungen im Freistaat Sachsen erläutert wird.1 Asylsuchende werden in Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt, der Freistaat Sachsen hat nach diesem Schlüssel rund 5 % aller Asylsuchenden aufzunehmen. Nach der Registrierung in der Erstaufnahmeeinrichtung und dem Start des Asylprozesses werden die Geflüchteten auf Kreise und kreisfreie Städte weiterverteilt, wo sie während der Dauer des Asylverfahrens – und teilweise auch danach – beherbergt werden. Die nach der Logik der Lastenteilung durchgeführte Zuweisung von Asylsuchenden sowie die während und nach dem Asylverfahren geltenden Aufenthaltsrestriktionen führen dazu, dass Geflüchtete zunächst Siedlungsmuster ausbilden, die von jenen anderer Migrant*innen deutlich abweichen. Daraus resultiert eine sichtbare Diversifizierung gerade in den kleineren, ländlichen Kommunen, die vormals kaum migrantische Bevölkerung aufwiesen. Das Sächsische Flüchtlingsaufnahmegesetz regelt die Mitwirkungspflicht der kreisangehörigen Gemeinden bei der Unterbringung der Geflüchteten: „Bei der Schaffung der Unterbringungseinrichtungen haben die Gemeinden mitzuwirken und insbesondere geeignete Grundstücke und Gebäude zur Nutzung zur Verfügung zu stellen oder zu benennen. Soweit erforderlich, haben sie die Einrichtung von Notquartieren zu dulden“ (§ 3 III SächsFlüAG). Seit 2013 wird in den meisten Landkreisen Sachsens ein Konzept der dezentralen Unterbringung umgesetzt, das vorsieht, zwischen 50 und 60 % aller Asylsuchenden in eigenen Wohnungen unterzubringen. Dies war einerseits möglich aufgrund des nach wie vor signifikanten Wohnungsleerstands, andererseits erhoffte man sich dadurch eine schnellere und leichtere Integration der Asylsuchenden und eine bessere Akzeptanz seitens der lokalen Bevölkerung. Der rasche Anstieg der zugewiesenen Geflüchteten (allein zwischen 2014 und dem zweiten Quartal 2015 stieg die Zahl der untergebrachten Asylsuchenden in Sachsen von 8789 auf 16.249, im Januar 2017 waren es 29.883) stellte diese Praxis auf die Probe,
1Seit
2015 forscht die Autorin zu diesem Thema mit einem regionalen Fokus auf Sachsen. Ein aktuell laufendes Forschungsprojekt untersucht die Integration von Geflüchteten in ländlichen Räumen Deutschlands, u. a. im Freistaat Sachsen. Näheres unter https://www.gefluechtete-inlaendlichen-raeumen.de/.
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denn – wie ein Gesprächspartner auf Landkreisebene im Mai 2015 erläutert, „(…) es braucht Vorlaufzeit dazu. Und weil die Erstaufnahme faktisch den Zustrom nicht absenkt, sondern innerhalb von wenigen Tagen die Leute an uns weitergegeben werden, führt es bei uns dazu, dass wir dieses Konzept schwer halten können, weil uns einfach die Vorlaufzeit fehlt“ (Interview Landkreis Leipzig Mai 2015). Folglich wurden größere Gebäude angemietet, teilweise in Form einer Notunterkunft, was mit einfacheren rechtlichen Verfahren einhergeht: „Wir haben auch eine ehemalige Berufsschule, in der sofort die Heizung angestellt werden konnte, die konnten wir nur so schnell nutzen, weil es eine Notunterkunft werden sollte“ (Interview Landkreis Leipzig Mai 2015). Infrage kamen dabei Liegenschaften, die – auch infolge der Transformation seit den 1990er-Jahren – leer standen, z. B. ungenutzte Kasernengebäude, ehemalige Pionierlager, betriebliche Ferienheime oder Arbeiterwohnheime. Viele dieser Gebäude befinden sich in peripherer Lage zu den Ortskernen und tragen damit die sozialräumliche Exklusion ihrer Bewohner*innen bereits in sich. Die Ertüchtigung dieser Gebäude für die Aufnahme von Asylsuchenden weckte aufseiten der lokalen Bevölkerung Argwohn und vielfach auch Sozialneid (Glorius 2017, S. 51 f.). Wie in den übrigen Teilen Deutschlands konzentrierten sich die institutionellen Akteur*innen zunächst auf den Aspekt der Unterbringung, Ehrenamtliche übernahmen parallel dazu wesentliche Bereiche der Integrationsarbeit. Anders als im Westen Deutschlands konnte dabei weniger auf bereits existierende interkulturelle Vereine, Migrantenselbstorganisationen oder kirchliche Gruppen zurückgegriffen werden (Glorius und Schondelmayer 2018; Schiffauer et al. 2017). Vielmehr erweiterten örtliche Netzwerke gegen Rassismus und Rechtsradikalismus ihre Aktivitäten auf die Integrationsarbeit. Auch viele neu gegründete lokale Initiativen einte das Motiv, etwas gegen die asylfeindliche Stimmung vor Ort tun zu wollen; dieses Phänomen ist allerdings nicht spezifisch für den Osten Deutschlands (vgl. z. B. Stärck et al. 2016, S. 11; Schiffauer et al. 2017). Wie Karakayalı und Kleist in ihrer Ehrenamtsstudie zeigen, wollen über 90 % der befragten Ehrenamtlichen mit ihrem Engagement für Geflüchtete ein Zeichen gegen Rassismus setzen (2016, S. 33). Eine Institutionalisierung der Integrationsarbeit von behördlicher Seite, etwa durch die Erarbeitung von Integrationskonzepten, die Einrichtung von entsprechenden Koordinationsstellen oder die Förderung der Vernetzung von Initiativen, geschieht dagegen erst im Rahmen einer nachholenden Entwicklung. Während also staatliche Stellen überwiegend den gesetzlichen Mindestauftrag erfüllten, waren und sind es zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Großteil der Integrationsarbeit leisten. So hat sich z. B. in der Stadt Hoyerswerda, die 1991 Schauplatz rassistischer Ausschreitungen war, als bewusste Reaktion auf diese Ereignisse ein breites zivilgesellschaftliches Willkommensbündnis gebildet, das aktive Integrationsarbeit mit Antirassismus-Arbeit verbindet (Aumüller et al. 2015, S. 143). Seit dem Frühjahr 2019 unterstützen zivilgesellschaftliche Akteur*innen vor Ort die Gründung einer Migrantenselbstorganisation von Geflüchteten, und auf Landkreisebene gibt es eine Initiative, die Migrantenselbstorganisationen und „Organisationen ohne Migrationshintergrund“ vernetzen möchte, um den gemeinsamen Anliegen eine starke Stimme zu
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geben (Feldnotiz, 11.03.2019). Kritisch zu konstatieren ist, dass viele Planstellen und Projektmittel der zivilgesellschaftlichen Organisationen von Fördergeldern abhängig und somit nicht nachhaltig stabil sind. In der begleitenden Forschung zur Aufnahme von Geflüchteten in ländlichen Gemeinden Sachsens divergieren die Einschätzungen zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Einheimischen und Geflüchteten. Nach Aussagen der Geflüchteten stehen positiven zwischenmenschlichen Annäherungsprozessen, die vielfach über die Integration der Kinder in Schulen und Kindertagesstätten zustande kommen, Erfahrungen von Einsamkeit, Ausgrenzung und rassistischen Übergriffen gegenüber. Eine Repräsentativbefragung der ansässigen Bevölkerung ergibt im Vergleich zu den westdeutschen Befragten deutlich stärkere ablehnende Antworttendenzen, insbesondere zur Akzeptanz des Islam. Zugleich zeigen die Daten, dass die meisten Befragten von keinerlei positiven Kontakterfahrungen zu Ausländer*innen berichten können (eigene Befragung). Für den weiteren Integrationsprozess der Geflüchteten wird von allen Befragten die Etablierung einer eigenen wirtschaftlichen Existenz jenseits von Transferleistungen als wesentlich angesehen. Der Übergang in den Arbeitsmarkt wird durch den flächendeckenden Fachkräftebedarf zwar begünstigt, im Wege stehen jedoch rechtliche Restriktionen hinsichtlich des Arbeitsmarktzugangs sowie die bereits angedeutete geringe Akzeptanz von kultureller Vielfalt seitens der Aufnahmegesellschaft. Langfristig ist nun vor allem von Interesse, ob ein signifikanter Anteil der Geflüchteten an den ihnen zugewiesenen Orten verbleiben oder weiterwandern wird. Erste Beobachtungen belegen Prozesse der Weiterwanderung, insbesondere in die großen Städte des jeweiligen Bundeslandes, in Richtung Berlin sowie in westdeutsche Ballungsräume, doch eine systematische Erfassung dieser Prozesse steht bislang noch aus.
18.5 Gesellschaftliche Wahrnehmung internationaler Migration Die Auseinandersetzung um die Aufnahme von Geflüchteten hat ein Schlaglicht auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von internationaler Migration in Ostdeutschland geworfen. Deutschlandweite Erhebungen zu menschenfeindlichen Einstellungen ergeben regelmäßig eine stärkere Ablehnung von Ausländer*innen in Ostdeutschland, verbunden mit der stärkeren Verbreitung von Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Decker et al. 2016; Decker und Brähler 2018). Auf der Grundlage der Kontakthypothese (Allport 1954) lässt sich dies mit der mangelnden Einübung in interkulturelle Begegnung begründen. Daneben gibt es jedoch auch komplexere Erklärungsansätze, die Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland und anderen postsozialistischen Ländern mit transformationsbedingten Faktoren wie relativer Deprivation, fehlendem institutionellem Vertrauen und einem schwächeren Demokratieverständnis verbinden (Heitmeyer 2010; Küpper und Zick 2010; Messing und Ságvári 2018). Während eine hinreichende
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Erklärung bislang noch aussteht, ermöglicht es die Reflexion der Flüchtlingsaufnahme seit 2015, die komplexen Ursachenbündel für aggressives Verhalten gegenüber Ausländer*innen differenzierter in den Blick zu nehmen. Viele kommunalpolitische und zivilgesellschaftliche Akteur*innen kritisieren die verfehlte Kommunikationspolitik im Kontext der Flüchtlingsaufnahme seit 2015. Gerade in den Monaten der stetig steigenden Ankunftszahlen wurden Kommunen und deren Bevölkerung vielfach „vor vollendete Tatsachen“ gestellt; es mangelte an vorbereitender Kommunikation. Die mangelnde Transparenz und fehlende Kommunikationsstrategien gegenüber der lokalen Bevölkerung erleichterten die Mobilisierung von fremdenfeindlichen Protesten, wobei in vielen Regionen Ostdeutschlands lokale Neonazigruppen die Hauptakteure waren. Ihnen gelang es, Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, insbesondere dort, wo eine starke Affinität zu rechtem Gedankengut existiert, was wiederum unter Anhänger*innen extrem rechter Parteien wie der AfD besonders ausgeprägt ist (Aumüller et al. 2015, S. 142; Holtmann et al. 2018, S. 103). Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt stellte in diesem Zusammenhang ab 2015 eine deutliche Fokussierung des organisierten Rechtsextremismus auf Flucht und Asyl fest, während zuvor die Verherrlichung des Nationalsozialismus dominierte (Holtmann et al. 2018, S. 100). In der Rückschau korrelieren die besonders erbitterten und gewalttätigen Proteste gegen Asylunterkünfte mit hohen Wahlergebnissen für rechtsextreme Parteien (z. B. im Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit einem Drittel der Stimmen für AfD, NPD, III. Weg im Rahmen der Europa- und Landtagswahlen 2019). Dies bestätigt Befunde der Einstellungsforschung, die einen Zusammenhang zwischen extremistischen Einstellungen und rechtsextremistisch motivierter politischer Delinquenz konstatieren (ebd., S. 98). Die Kaperung des Asyldiskurses durch die extreme Rechte leistete der öffentlichen Artikulation von latent vorhandenen fremdenfeindlichen und rassistischen Einstellungen Vorschub, die in weiten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung existieren und oft für normal und unveränderlich gehalten werden (vgl. Decker und Brähler 2016, S. 133). So berichtete eine Lehrerin für „Deutsch als Zweitsprache“, die eine Integrationsklasse an einem Berufsschulzentrum unterrichtet, in einem Interview 2016 von ihren Erfahrungen im ländlichen Erzgebirgskreis: „Ich gehe auch mit großen Gruppen raus, mache Exkursionen, auch wenn man mal im Bus oder im Zug und überall auffällt, auch manchmal aneckt, die Schüler tun ja nichts, aber wenn ich eben mit einer Gruppe komme, und da sind zehn von schwarz, die total auffallen, dann trifft man eben auf das normale Leben hier und wird eben auch manchmal beleidigt oder beschimpft“ (Interview DaZ-Lehrerin, Erzgebirgskreis, März 2016). Die Lehrkraft, die sich grundsätzlich sehr wertschätzend über ihre ausländischen Schüler*innen äußert, schreitet in der konkreten Situation nicht ein, um rassistische Beleidigungen zurückzuweisen. Auch im Nachgang relativiert sie das Erlebte durch den Verweis auf die Alltäglichkeit der Vorfälle, das „normale Leben hier“, das scheinbar nicht veränderlich ist und lediglich hingenommen werden kann.
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In vielen Kommunen und Kreisen, in denen seit den 1990er-Jahren eine aktive rechtsextremistische Szene existiert, herrscht heute ein Klima des Negierens, als ob das Öffentlich-Machen von ausländerfeindlichen und rassistischen Praktiken Gegenaktivitäten der rechten Szene provozieren und damit das Image der Ortschaft beschädigen könnte. In diesem Zusammenhang werden Aktivist*innen aus dem Bereich der Antirassismus-Arbeit sehr schnell in eine linksextremistische Ecke gestellt und als „Nestbeschmutzer“ diffamiert (Stärck et al. 2016, S. 35). Diese gesellschaftliche Grundhaltung, die sich seit 2015 deutlich verstärkt und sichtbar im öffentlichen Diskurs etabliert hat, konterkariert Bemühungen um Internationalität und interkulturelle Öffnung, die gerade von ostdeutschen Wirtschafts- und Wissenschaftsinstitutionen angestrengt werden. Zugleich leisten politische und öffentliche Akteur*innen und Institutionen der Ausländerfeindlichkeit Vorschub, indem sie mit Blick auf westdeutsche postmigrantische Gesellschaften altbekannte rassistische Stereotype reproduzieren. So wird z. B. der Verweis auf „Ghettos in westdeutschen Großstädten“, wie sich die frühere sächsische Landtagsabgeordnete Antje Hermenau in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung ausdrückt, inzwischen von verschiedenen politischen Akteur*innen auf den unterschiedlichsten Ebenen aufgegriffen, und damit das Idealbild einer homogenen Gesellschaft verstärkt, die sich aus sich selbst heraus erhält und in der Heimatverbundenheit groß geschrieben wird. „Viele Ostdeutschen waren ja längst im Westen und haben sich dort die Städte angesehen, auch die Viertel, in denen Mitbürger anderer Herkunft ghettoisiert leben. Das wollen sie hier so nicht. Das überzeugt keinen“ (Antje Hermenau in Kecke 2018). In der Gesamtschau ausländerfeindlicher Haltungen in Ostdeutschland scheint nicht nur der Mangel an Heterogenitätserfahrungen ursächlich zu sein, sondern ebenso eine fehlende Reflexion des antirassistischen Selbstverständnisses der DDR, das Rassismus vorwiegend als Teil kapitalistischer, imperialistischer Unterdrückung und damit als gesellschaftspolitisches Phänomen betrachtete (Glorius, Kap. 17; Griese und Marburger 1995, S. 175 f.; Mende 2013, S. 162). Indem Rassismus als Ideologie und Praxis des feindlichen „Anderen“ markiert wurde, wurde er gleichsam abgekoppelt von eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen. Eine Auseinandersetzung mit individuellen Formen des Alltagsrassismus oder die Entwicklung einer differenzierten Haltung gegenüber Zuwanderung und Diversität konnte so nicht stattfinden.
18.6 Zusammenfassung und Ausblick Dieser Beitrag zeichnet die jüngere ostdeutsche Migrationsgeschichte seit der Jahrtausendwende und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung nach. In dem Wechselspiel zwischen staatlicher Regulierung, sozioökonomischen Rahmenbedingungen und individuellen Praktiken zeigen sich eine Reihe von Kontinuitäten, aber auch Brüchen im Umgang mit internationaler Migration. Als eine Kontinuität sticht die stets vorherrschende staatliche Regulation von Migration ins Auge, die von der Rekrutierung
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von Vertragsarbeiter*innen in der DDR zu der staatlich gelenkten Aufnahme von Asylsuchenden, Kontingentflüchtlingen und Spätaussiedler*innen der 1990er-Jahre bis zur heutigen regionalen Verteilung von Asylsuchenden reicht. Diese Kontinuität setzt sich räumlich fort, indem eine Persistenz von kollektiven Unterbringungsformen zu verzeichnen ist, die eine Verstetigung sozial(räumlich)er Exklusionsprozesse und Stereotypisierungen nach sich zieht. Dennoch existieren eine Vielzahl individueller, autonomer Migrationsentscheidungen und nachfolgender Annäherungs- und Aneignungsprozesse (vgl. Kap. 19 in diesem Band), die oft gar nicht wahrgenommen werden und damit auch keine positive Würdigung erfahren. Demgegenüber dominiert in Ostdeutschland ein Ausgrenzungsdiskurs, der aus gesamtdeutscher Sicht als Folge der Transformation interpretiert wird. Dieser kann jedoch, wie hier und in Kap. 17 gezeigt, aus einer raumzeitlich sensiblen Perspektive als Kontinuität betrachtet werden, freilich auf Grundlage sich wandelnder staatlicher Doktrinen. Während der 2000er-Jahre entwickelte sich auf bundesdeutscher Ebene ein durch utilitaristische Motive geprägter Migrationsdiskurs. Im Jahr 2004 wurde das Zuwanderungsgesetz beschlossen, in den Folgejahren mehrfach die Zugangsmöglichkeiten von Ausländer*innen in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtert. Dies erschwerte eine adäquate Auseinandersetzung mit dem weiter existierenden Rassismus, wie Espahangizi et al. (2016, S. 17) in Bezug auf die postmigrantische und postrassistische Gesellschaft ausführen: „Je mehr die offizielle diskursive Legitimität von explizitem Rassismus schwindet, desto relevanter und zugleich schwieriger greifbar werden die komplexen, häufig indirekten Formen von institutionellem und Alltagsrassismus, die gesellschaftliche Systeme bis heute prägen und an die rechte Bewegungen und rassistische Gewalt nach wie vor andocken können.“ Es ergibt sich eine Ungleichzeitigkeit bzw. ein Widerspruch zwischen dem postmigrantisch geprägten bundesrepublikanischen Diskurs und den posttransformativen Lebensrealitäten und gesellschaftlichen Diskursen in Ostdeutschland (zur Diskussion um die postmigrantische Gesellschaft s. Kap. 19). Nicht zuletzt reproduzieren staatliche Institutionen fortlaufend rassistische Stereotypisierungen und tragen damit wesentlich zu einer Normalisierung von Rassismus und ausländerfeindlichen Praktiken bei. Doch Migration und Rassismus scheinen nur ein Teilbereich eines in Ostdeutschland besonders starken Gegendiskurses zu sein, der sich im Sinne einer „antimodernen Rebellion“ auch gegen politische Eliten, gegen die Medien, gegen Gendersensibilität oder den Klimawandeldiskurs richtet (Glorius et al. 2018, S. 135). Die weitere Entwicklung der internationalen Migration nach Ostdeutschland und einer Diversität akzeptierenden Gesellschaft wird auch wesentlich davon abhängen, ob eine Auflösung der genannten diskursiven Widersprüche gelingt. Dabei muss die öffentliche Auseinandersetzung mit individuellem und institutionellem Rassismus und seinen Ursachen ein wesentlicher Baustein sein.
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Ostdeutschland multikulturell und postmigrantisch
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Jonathan Everts, Kim Anna Juraschek, Larissa Fleischmann und Florian Ringel
Zusammenfassung
Die fünf ostdeutschen Bundesländer sind in der Migrations- und Integrationsforschung aufgrund des bislang geringen Migrant*innenanteils ein vernachlässigtes Feld. Seit 2014 hat sich die Situation in Ostdeutschland durch neuen Zuzug jedoch sehr dynamisch entwickelt. Der Beitrag schlägt vor, diese neue Situation mit den Konzepten der Multikulturalität und des Postmigrantischen zu fassen. Die neue Vielfalt in Ostdeutschland setzt Anpassungs- und Lernprozesse im multikulturellen Alltag in Gang. Gleichzeitig entstehen Konflikte um Anerkennung und Teilhabe, wie sie für postmigrantische Gesellschaften typisch sind. Der Beitrag leitet daraus Impulse für eine zukünftige ostdeutsche Forschung zu postmigrantischer Multikulturalität ab und zeigt deren Relevanz für die politische sowie wissenschaftliche Debatte auf.
J. Everts (*) · K. A. Juraschek · L. Fleischmann · F. Ringel Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] K. A. Juraschek E-Mail: [email protected] L. Fleischmann E-Mail: [email protected] F. Ringel E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_19
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19.1 Ostdeutschland als vernachlässigtes Forschungsfeld in der Integrations- und Migrationsforschung Innerhalb Deutschlands konzentriert sich die Migrations- und Integrationsforschung schon seit Jahrzehnten auf Großstädte mit absolut (Berlin) oder relativ (Frankfurt am Main, Köln, Stuttgart) besonders hohen Migrant*innenanteilen. Ein Argument dafür ist, dass sich das Phänomen der durch Migration entstandenen Vielfalt besonders gut dort untersuchen lässt, wo es eine zahlenmäßig absolute und relative Häufung gibt – wo also die forschende Person gar nicht umhinkommt, Vielfalt in den Blick nehmen zu müssen. Die Kehrseite dieses Bias der Migrations- und Integrationsforschung sind die relativ großen blinden Flecken auf der Forschungslandkarte. So drohen interessante, aber weniger sichtbare Orte, aber auch ganze Regionen wie Ostdeutschland vom Radar der Migrations- und Integrationsforschung zu verschwinden. Die Zahl einflussreicher Studien in ostdeutschen Städten ist daher bisher recht überschaubar geblieben (z. B. Glick-Schiller 2005 oder Glick-Schiller et al. 2006 mit Fallbeispiel Halle/Saale). Vor dem Hintergrund einer verstärkten Zuwanderung seit dem sogenannten „langen Sommer der Migration“ (Hess et al. 2016) im Jahr 2015 und den sehr ambivalenten gesellschaftlichen Reaktionen darauf in Ostdeutschland (einschließlich fremdenfeindlicher Demonstrationen und gewaltsamer Ausschreitungen) fließen aktuell von politischer Seite Fördergelder in die Migrations- und Integrationsforschung mit spezifisch ostdeutscher Ausrichtung. Dies zeigt sich z. B. in der Einrichtung des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten „Instituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt“, das dezentral angelegt und auch an drei ostdeutschen Standorten (Halle, Jena und Leipzig) angesiedelt ist. Zusätzlich zu den daraus neu entstehenden Forschungsprojekten in Ostdeutschland plädieren wir für eine Ergänzung dieser Arbeiten im Sinne einer kritischen Migrations- und Integrationsforschung. Eine solche kritische Perspektive richtet a) den Fokus auf asymmetrische Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen, indem sie institutionalisierte und alltägliche Formen der Exklusion, Ungleichheit und Unterdrückung problematisiert; die Perspektive berücksichtigt b) die marginalisierten Subjektpositionen der Migrant*innen und zeigt c) inklusivere Möglichkeiten des Zusammenlebens in Migrationsgesellschaften auf (Mecheril et al. 2013). In diesem Kapitel gehen wir der Frage nach, welchen Beitrag eine spezifisch ostdeutsche bzw. auf Ostdeutschland bezogene Migrations- und Integrationsforschung leisten kann. Unser empirisches Interesse besteht darin, was passiert, wenn Menschen mit unterschiedlichen (Migrations-)Biographien in ostdeutschen Kontexten zusammenkommen und wie die so entstehenden Formen von Vielfalt gelebt werden. Der Fokus liegt damit auf der jüngeren Geschichte bis in die Gegenwart, also einem Zeitraum, in dem Migration und damit verbundene Phänomene normaler Bestandteil des „postmigrantischen“ Alltags geworden sind. Das durch Migration entstandene Zusammenleben in Vielfalt bezeichnen wir als „multikulturell“.
19 Ostdeutschland multikulturell und postmigrantisch
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Im Folgenden werden wir in Abschn. 19.2 zunächst einige begriffliche Bestimmungen vornehmen und daran anschließend in Abschn. 19.3 die Inhalte relevanter Forschungsarbeiten seit der Wiedervereinigung skizzieren. Schließlich machen wir in Abschn. 19.4 einen Vorschlag für zukünftige Forschung und diskutieren deren Relevanz für konzeptionelle Debatten in der Migrations- und Integrationsforschung.
19.2 Multikulturalität und postmigrantisch Die Sozialwissenschaften stellen eine Reihe von Begriffen bereit, die dabei helfen, Gesellschaften und Orte zu analysieren, die durch Migration geprägt sind. Je nach Perspektive und Kontext wird von ethnischer oder kultureller Vielfalt, von Diversität, Multikultur, Transnationalismus und vielem mehr gesprochen. Eine Besonderheit der Migrations- und Integrationsforschung ist dabei ihre enge Wechselbeziehung zum gesellschaftlichen und politischen Diskurs. So werden häufig Begriffe aus dem fachlichen Kontext herausgelöst und in die öffentliche Debatte übertragen, nicht selten unter Deformierung des ursprünglichen Bedeutungsgehaltes (z. B. „Leitkultur“, Tibi 2001). Dabei werden Begriffe, die zunächst analytisch gedacht waren, mit politischen und normativen Bedeutungen neu aufgeladen. Es gilt daher, bei der Auswahl und der Definition der Begriffe besondere Vorsicht walten zu lassen. Zentrale Begriffe der Migrations- und Integrationsforschung sollten in der Lage sein, Vielfalt und Dynamik zu beschreiben. Berücksichtigt werden müssen unterschiedlichste Lebenserfahrungen und Anknüpfungspunkte sowie sich wandelnde Umgangsweisen, Praktiken und Aushandlungsprozesse. Unseres Erachtens nach eignen sich dafür die Konzepte „Multikulturalität“ und „postmigrantisch“, da diese sowohl gesellschaftliche Vielfalt als auch die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse in den Mittelpunkt stellen. Eine erste Annäherung an diese Konzepte muss zwei begrifflichen Missverständnissen vorbeugen. Erstens bedeuten Multikulturalismus und Multikulturalität nicht das Gleiche. Multikulturalismus bezeichnet eine bestimmte Form der politischen Anerkennung von kulturellen Differenzen innerhalb eines Staates (Neubert et al. 2008). Multikulturalität ist ein Begriff, der kulturelle Vielfalt in Form von heterogenen Deutungsmustern und Praktiken an einem Ort beschreibt. Multikulturalität hat damit keinen normativen oder politischen Gehalt, sondern wird rein analytisch verstanden und gebraucht (s. unten). Zweitens meint „postmigrantisch“ nicht eine Gesellschaft „nach der Migration“, in die keine Zuwanderung mehr stattfinden würde (s. z. B. die Kritik von Mecheril 2014), sondern der Begriff versucht dafür zu sensibilisieren, dass eine Gesellschaft in eine Phase eingetreten ist, in der das Erleben von und der Umgang mit Migration sowie die daraus folgenden Lern- und Aushandlungsprozesse alltäglich geworden sind (Römhild 2015). In Anlehnung an Reckwitz verstehen wir Multikulturalität als eine Konstellation, „in der Akteure gleichzeitig an mehreren Wissensordnungen teilnehmen, die sie zu unterschiedlichen Interpretationen ihrer Lebensführung anleiten“ (2001, S. 188). Räumlich gesehen bezeichnet Multikulturalität die „relative räumliche Enge des Zusammenlebens von Individuen, deren Deutungsmuster, Praktiken und Erklärungen
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von Welt, B iographien, Muttersprachen und Identitätskonstruktionen eine relativ höhere Heterogenität aufweisen, als dies von anderen Orten oder Zeiten behauptet werden kann“ (Everts 2008, S. 16). Dabei ist zu betonen, dass kulturelle Vielfalt nicht als das Vorhandensein verschiedener, anhand spezifischer Merkmale abgrenzbarer kultureller oder ethnischer Gruppen definiert werden kann. Gerade im Mulitkulturalismus-Diskurs ist die Vorstellung verbreitet, es gebe in sich abgeschlossene homogene Kulturen, zu denen sich jeder Mensch eindeutig zuordnen ließe (vgl. kritisch dazu Bukow 2012; Profanter und Lintner 2013). Kultur sollte aber nicht als Wesensmerkmal verstanden werden, sondern als Wissensordnungen, Deutungsmuster und alltägliche Praktiken, die stetigen Wandlungs- und Transformationsprozessen unterworfen sind und deren Träger*in man durch unterschiedlichste Sozialisationsprozesse werden kann. Dabei sind Mehrfachträgerschaften, Neuhervorbringungen, Hybridisierungen und kreative Umdeutungen eher die Regel als die Ausnahme. Multikulturalität beschreibt eine Situation, in der sich Menschen zwischen verschiedenen Deutungsmustern, Sprachen und Praktiken bewegen müssen und können und dabei eine Form von Gesellschaft hervorbringen, in der genau diese Beweglichkeit eine grundlegende Fähigkeit ist. Wir stellen dem Begriff der Multikulturalität das Konzept des Postmigrantischen zur Seite, da dieses neben den Instanzen gelingenden Alltags auch Situationen des Scheiterns berücksichtigt. Als postmigrantisch werden Gesellschaften bezeichnet, für die Ein- und Auswanderung ein konstituierendes Element sind und in denen diese Tatsache politische Anerkennung findet (Yildiz 2015, S. 21; Foroutan 2016; Canan et al. 2018, S. 10 f.). Deutschland wurde 2001 durch die Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ offiziell als Einwanderungsland anerkannt. Ein daraus folgendes Merkmal postmigrantischer Gesellschaften sind öffentliche, politische und juristische Aushandlungsprozesse um Kategorisierungen, Teilhabe und Zugehörigkeit (Spielhaus 2016). Neben politischen und rechtlichen Anerkennungspraktiken sind auch öffentliche Debatten rund um das Thema Migration typisch für eine postmigrantische Gesellschaft. Die Aushandlungsprozesse und Debatten sind dabei von großen Ambivalenzen geprägt. Neue „Allianzen außerhalb kultureller, ethnischer, religiöser und nationaler Herkünfte“ (Canan et al. 2018, S. 11), die Vielfalt gegenüber aufgeschlossen sind, sind ebenso Teil des Postmigrantischen wie ablehnende oder feindliche Haltungen.
19.3 Bisherige Forschungsarbeiten im ostdeutschen Kontext Die Migrations- und Integrationsforschung mit dezidiert regionaler Ausrichtung auf Ostdeutschland ist bisher im gesamtdeutschen Vergleich sowie im Hinblick auf „die Besonderheiten von Zuwanderung und Zusammenleben in den ostdeutschen Bundesländern“ (Münch 2013, S. 262) vernachlässigt worden. Nichtsdestotrotz gibt es relevante Forschungsarbeiten aus den letzten Jahrzehnten, die wir im Folgenden exemplarisch vorstellen. Diese Studien wollen wir insbesondere auch in den wechselvollen historischen Kontext seit der Wiedervereinigung einbetten, indem wir grob drei Phasen abgrenzen (s. auch Kap. 17 und 18).
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Die erste Phase begann Anfang der 1990er-Jahre mit der deutschen Wiedervereinigung. Diese Phase ist gekennzeichnet durch den Zuzug von sogenannten Spätaussiedler*innen und deutschstämmigen Bewohner*innen der ehemaligen Sowjetstaaten sowie vornehmlich aus (Süd-)Osteuropa stammenden Asylsuchenden (Weiss 2007, S. 4). Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lebten rund 190.000 Menschen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland, von denen viele erst im Laufe der 1980er-Jahre einwanderten und die einen zeitlich befristeten Aufenthaltsstatus besaßen (Bröskamp 1993). Es ist anzunehmen, dass ein Großteil der bis dahin Zugezogenen aus sogenannten sozialistischen Bruderländern der DDR wie Vietnam, Kuba, Algerien, Angola oder Mosambik einwanderten (Münch 2013, S. 263; für eine ausführlichere Diskussion der Situation in der DDR s. Poutrus 2015). Eine aufschlussreiche Forschungsarbeit, die die konkrete Lebenssituation von Migrant*innen im Ostdeutschland der 1990er-Jahre in den Blick nimmt, kommt von Müller (1996). Aufbauend auf qualitativen Interviews in Rostock untersuchte sie, wie sich die gesellschaftlichen Umwälzungen im wiedervereinigten Deutschland auf dort ansässige Menschen mit Migrationshintergrund auswirkten. Dabei thematisierte sie vor allem die sprunghafte Verschlechterung der Situation der Zugezogenen, unter anderem aufgrund erheblicher Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt (zur aktuellen Diskussion um internationale Fachkräfte s. Kap. 11). Im Zuge des Einbruchs der Beschäftigungssituation wurden Menschen mit Migrationshintergrund meist zuerst entlassen, während Menschen ohne Migrationshintergrund bevorzugt wieder eingestellt wurden (ebd., S. 76). Die Autorin zeigt zudem, wie sich das verschärfte fremdenfeindliche Klima direkt und einschränkend auf die alltäglichen Lebensrealitäten von Migrant*innen auswirkten, z. B. durch einen begrenzteren Bewegungsradius in der Stadt (ebd., S. 92). Bröskamp (1993) beschäftigte sich mit dem Anstieg fremdenfeindlicher Haltungen Anfang der 1990er-Jahre. Dabei kommt sie bereits zu diesem Zeitpunkt zu dem Schluss, dass abwertende Einstellungen einen selektiven Charakter besitzen und sich oft gegen bestimmte, besonders diskriminierte Gruppen von Migrant*innen richten, also „vor allem gegen diejenigen, die als Arbeitsmigranten aus armen Ländern und Herkunftsregionen hierhergekommen sind oder die als Verfolgte in Deutschland um Asyl bitten“ (ebd., S. 29). Die Zunahme feindlicher Haltungen gipfelte 1992 in den gewaltsamen Ausschreitungen gegen Asylsuchende und ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in Rostock-Lichtenhagen – den bis dahin extremsten Fällen fremdenfeindlich motivierter Gewalt nach Ende des Zweiten Weltkriegs (Althoetmar und Jäger 1993). Die Zunahme von abwertenden Einstellungen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund war jedoch kein spezifisch ostdeutsches Phänomen. In den frühen 1990er-Jahren konnte man in ganz Deutschland ein fremdenfeindliches Klima wahrnehmen, das zur „Asyldebatte“ und der daran anschließenden Aushebelung des Asylrechts führte (Münch 2014).
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Die zweite historische Phase beginnt Ende der 1990er-Jahre. Auf bundespolitischer Ebene begann eine schrittweise Anerkennung von Migration und multikulturellem Zusammenleben als gesellschaftliche Tatsache. Auch in den ostdeutschen Bundesländern bewegte sich der politische Diskurs zunehmend auf das Thema der „Integration“ zu, was sich u. a. in der Publikation von Integrationskonzepten auf Länderebene niederschlug: Brandenburg legte im Jahr 2002 ein entsprechendes Dokument vor, Sachsen-Anhalt folgte 2005, Mecklenburg-Vorpommern 2006, Thüringen 2009 und Sachsen schließlich 2012 (Canan et al. 2018, S. 63). Studien zum multikulturellen Zusammenleben in Ostdeutschland konzentrierten sich in diesem Zeitraum insbesondere auf den Vergleich zwischen der Situation in Ostdeutschland und dem restlichen Deutschland, wobei bereits hier deutliche Unterschiede festgestellt wurden (Weiss 2007). So stellt Münch (2013) fest, dass sich in den 2000er-Jahren neue Zentren der internationalen Zuwanderung in ostdeutschen Bundesländern herausbildeten, auch wenn diese im Vergleich zu „traditionellen Zielregionen vergleichsweise klein ausfallen“ und durch „qualitative Verschiedenheiten hinsichtlich Migration und Inklusion“ gekennzeichnet sind (ebd., S. 261 f.). Einige Publikationen beschäftigten sich in diesem Zeitraum zudem mit ethnischer Segregation in ostdeutschen Städten, auch wenn nicht im gleichen Umfang und Maße, wie dies für westdeutsche Städte der Fall war (Janßen und Schroedter 2007). Becker (1998) stellte eine deutliche Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Wohnungsmarkt fest. Diese kamen überdurchschnittlich oft in Wohnungen mit vergleichsweise schlechterer Bausubstanz unter. Gleichzeitig wiesen Viertel mit höherem Migrant*innenanteil auch eine hohe Zahl an Leerständen auf (ebd., S. 94). Friedrichs und Triemer (2009) berechneten Segregationsindizes für zahlreiche deutsche Großstädte und untersuchten deren Veränderung im Zeitverlauf. Zwei der untersuchten Städte (Dresden und Leipzig) waren im ostdeutschen Raum angesiedelt (siehe Tab. 19.1). Die beiden ostdeutschen Städte wiesen einen höheren ethnischen Segregationsindex auf als z. B. München, Stuttgart, Düsseldorf und Bremen. Während die Segregation in Dresden und Leipzig parallel zum steigenden Migrant*innenanteil im Zeitverlauf stieg, sank dieser Wert für einige Städte in den alten Bundesländern. Im Zusammenhang mit der starken Segregation in Dresden problematisierte schon Becker (1998) die
Tab. 19.1 Segregationsindizes für Dresden und Leipzig im Zeitverlauf Dresden
1990
1995
2000
2005
Segregationsindex (ethnisch)
27,1
28,8
31,5
30,3
Migrant*innenanteil
1,6 %
2,6 %
2,8 %
3,9 %
Leipzig
1992
1996
2001
2005
Segregationsindex (ethnisch)
22,5
19,5
25,1
27,2
Migrant*innenanteil
2,1 %
3,8 %
4,6 %
5,1 %
Quelle: Eigene Darstellung nach Friedrichs und Triemer (2009, S. 129, 153)
19 Ostdeutschland multikulturell und postmigrantisch
241
kommunale Unterbringungspolitik von Zugezogenen in peripheren Sammelunterkünften: „[E]ine Ausgrenzung und Stigmatisierung der Ausländer findet hier alleine schon durch die Standortwahl der Wohnheime statt“ (ebd., S. 89). Die dritte Phase begann etwa 2014/2015. Ab 2014 stieg die Zahl der ankommenden Asylsuchenden stark an und gipfelte im sogenannten „langen Sommer der Migration“ 2015. Dies schlug sich auch in einem Anstieg des (nach wie vor aber relativ niedrigen) Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland nieder. Wie in Abb. 19.1 erkennbar, führte dies auch zum ersten Mal zu einem quantitativ nennenswerten Zuzug muslimischer Migrant*innen aus dem Nahen Osten, vornehmlich aus Syrien. Diese Veränderungen im Migrationsgeschehen seit 2014/2015 gingen mit einer Zunahme der öffentlich zur Schau gestellten fremdenfeindlichen und insbesondere islamfeindlichen Einstellungen in Ostdeutschland einher. Im Besonderen sei hier auf die PEGIDA-Demonstrationen in Dresden und deren regionale Ableger verwiesen (Geiges et al. 2015; Vorländer et al. 2016). Diese Entwicklungen haben zu einem stark gestiegenen Interesse an einer Migrations- und Integrationsforschung in und über Ostdeutschland geführt. Dabei werden neben Arbeiten, welche die Erfahrungen der Zugewanderten analysieren (für Asylsuchende in Leipzig z. B. Schäfer 2015) zunehmend auch Untersuchungen zu den Einstellungen und Aushandlungsprozessen in der Gesamtbevölkerung ausgeführt. Canan et al. (2018) beispielsweise untersuchen die Einstellung der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern in Bezug auf religiöse Vielfalt und Diversität und insbesondere im Hinblick auf Muslim*innen. Die zentralen
600.000
Summe Ausländer (1991-1997)
500.000
Ehemalige Ostblockstaaten inkl. Jugoslawien ohne UdSSR
400.000 300.000
Naher Osten Ehemalige UdSSR Süd-, Ost- und Südostasien
200.000 Restliches Europa 100.000 0
Afrika Sonstige
Abb. 19.1 Herkunftsregionen von Menschen ohne deutschen Pass in den neuen Bundesländern (ohne Berlin). (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage des Ausländerzentralregisters; Statistisches Bundesamt 2019; Grafik: Paul Schneider)
242
J. Everts et al.
Ergebnisse der Studie zeigen, dass der unmittelbare Kontakt zu Muslim*innen in Ostdeutschland deutlich geringer ausfällt als vergleichsweise in Westdeutschland und zugleich der Anteil der Muslim*innen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland überschätzt wird (ebd., S. 6). Insgesamt verdeutlicht die Studie die ambivalenten Haltungen in der Bevölkerung, die auf dynamisch verlaufende Aushandlungsprozesse schließen lassen. So greift ein nicht unerheblicher Teil der in Ostdeutschland wohnenden Menschen auf Stereotype zurück, dennoch sind große Bevölkerungsteile Ostdeutschlands aber Muslim*innen gegenüber eher offen eingestellt (ebd., S. 7).
19.4 Neue Impulse für eine ostdeutsche Forschung zu postmigrantischer Multikulturalität Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Ostdeutschland aktuell besonders interessant, da Prozesse der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung hier in Echtzeit beobachtet werden können. In Westdeutschland etablierte sich die Migrationsforschung erst in den 1990er-Jahren (Mecheril et al. 2013, S. 12), mehr als 30 Jahre nach den ersten Anwerbeabkommen und den großen Zuzügen von sogenannten Gastarbeitern v. a. in den 1960er-Jahren. Viele auf die Anwerbephase folgende gesellschaftliche Prozesse, deren Ergebnis das multikulturelle und postmigrantische Zusammenleben in Westdeutschland ist, konnten so nur noch ex post analysiert werden. Natürlich kann eine ostdeutsche Forschung nicht nachholen, was in Westdeutschland verpasst wurde, dafür sind sowohl die strukturellen Bedingungen als auch der historische Kontext zu unterschiedlich. Aber in Ostdeutschland war die absolute wie relative Zahl an Zugezogenen oder Menschen mit Migrationshintergrund lange Zeit sehr niedrig. Erst in den letzten Jahren hat sich die Zahl der Menschen ohne deutschen Pass mehr als verdoppelt (vgl. Abb. 19.1). Die aktuelle Entwicklung gibt damit Gelegenheit, den Umgang mit neu erlebter Diversität direkt zu untersuchen und live mitzuverfolgen, welche Gestalt das Ankommen, Sich-Einrichten, Miteinander-in-Beziehung-Treten und Lernen-miteinander-Umzugehen annimmt. Dabei sollte eine ostdeutsche Forschung sensibel für den regionalen Kontext sein, ohne selbst bestimmte Stereotype zu reproduzieren. Weder ist es hilfreich, Ostdeutschland als das fremdenfeindliche „andere“ Deutschland zu reifizieren (Kubiak 2018), noch ist Fremdenfeindlichkeit ein spezifisch ostdeutsches Phänomen (Decker und Brähler 2018). Die Entwicklung hin zu einer postmigrantischen Gesellschaft läuft hier im Alltag vielfach genauso undramatisch ab wie von Bukow (2010) paradigmatisch für Köln beschrieben. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die postmigrantischen Anerkennungs- und Verteilungskämpfe in Ostdeutschland sichtbarer und gelegentlich auch pointierter sind, unter anderem vielleicht, weil sich hier häufiger strukturell benachteiligte Gruppen gegenüberstehen, die gleichermaßen auf die Verbesserung ihrer Lebensumstände hoffen (Groh-Samberg 2019).
19 Ostdeutschland multikulturell und postmigrantisch
243
Warum die daraus entstehenden Konflikte derzeit überwiegend kulturrassistisch konnotiert sind – sich insbesondere an religiösen (vornehmlich muslimischen) Symbolen und Praktiken entzünden und sehr viel weniger an „Zugezogenen“ allgemein –, stellt eine empirisch zu klärende Frage dar (Zick et al. 2016). Nach Espahangizi et al. (2016, S. 17) stellen postmigrantische Gesellschaften „Spannungsräume dar, in denen rassistische Ein- und Ausschlüsse neu formiert werden“. Gerade zur Frage, wie solche Ein- und Ausschlüsse in alltäglichen Praktiken des multikulturellen Zusammenlebens ausgehandelt werden, könnte eine ostdeutsche Migrations- und Integrationsforschung in Zukunft einen Beitrag liefern. Im Sinne der eingangs skizzierten kritischen Forschungsperspektive stellt sich zudem die Frage nach den alltäglichen Praktiken und Handlungsstrategien der Migrant*innen selbst. Von Interesse ist dabei nicht nur, welche Anpassungsstrategien Migrant*innen im ostdeutschen Kontext entwickeln, sondern auch, wie sie bestehende Ein- und Ausschlüsse herausfordern und das postmigrantische Zusammenleben neu austarieren. Die Relevanz einer solchen Forschungsausrichtung möchten wir abschließend am Beispiel von Halle (Saale) knapp skizzieren. In der Stadt Halle ist die Anzahl von Menschen ohne deutschen Pass seit dem Jahr 2000 von 7672 auf 23.225 in 2018 gestiegen (Stadt Halle (Saale) 2019). Menschen, die jüngst aus dem Ausland zugezogen sind, stammen insbesondere aus den Ländern Syrien, Rumänien, Kroatien und Türkei (Stadt Halle (Saale) 2018, S. 10 f.). Der Migrant*innenanteil ist von 3,1 % auf 9,6 % angestiegen, der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund lag 2010 bei 6,4 % und 2017 bei 12,3 % (ebd., S. 7). Im Vergleich zu Berlin oder westdeutschen Städten vergleichbarer Größe klingen diese Zahlen nach wie vor eher niedrig, allerdings ist die Dynamik des Prozesses bemerkenswert. Hinzu kommt, dass sich der Zuzug auf Stadtteilebene sehr ungleich verteilt. Insgesamt hat die sozialräumliche Segregation in Halle stark zugenommen (Kühn et al. 2016, S. 5 ff.). Laut einer aktuellen Studie zählt Halle gar zu den am stärksten segregierten Städten Deutschlands (Helbig und Jähnen 2018). In den sozialräumlich benachteiligten Stadtvierteln sind Migrant*innen deutlich überrepräsentiert. Die bereits vorhandene Wohnbevölkerung steht dem Prozess der multikulturellen Ausdifferenzierung ambivalent gegenüber, und es gibt deutliche lokalräumliche Unterschiede hinsichtlich der Zustimmung oder Ablehnung gegenüber Zugezogenen. Ein möglicher Gradmesser ist der Anteil der AfD-Wählerstimmen bei der Bundestagswahl 2017 (im Wahlkampf hatte die AfD als einzige größere Partei offen migrationskritische bis fremdenfeindliche Positionen bezogen). Das höchste Wahlergebnis für die AfD hatte der Stadtteil Südliche Neustadt mit 30,3 % der Zweitstimmen (Stadt Halle 2017a, S. 19 f.). Gleichzeitig hat dieser Stadtteil mit 28,3 % (2017) den höchsten Anteil an Menschen ohne deutschen Pass (Stadt Halle 2017b, S. 53). Der Stadtteil hat außerdem eine sehr starke Zuzugsdynamik. Im Jahr 2010 lag der Anteil von Menschen ohne deutschen Pass erst bei 9,4 %, in absoluten Zahlen gab es einen
244
J. Everts et al.
Anstieg von 1435 (2010) auf 4458 (2017) Personen (ebd.; Stadt Halle 2010, S. 50). Der vergleichsweise hohe Anteil an Migrant*innen und die dynamische Entwicklung sowie der hohe Anteil an AfD-Wählerstimmen legt die Vermutung nahe, dass es im Stadtviertel Konflikte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gibt oder dass zumindest der Kontakt mit dem jeweils „Anderen“ (bisher) eher zur Ablehnung führt. Vor dieser Ausgangssituation erscheinen vertiefende qualitative Studien notwendig, um die aktuelle multikulturelle Situation und Dynamik besser verstehen zu können, den möglichen Status von Halle-Neustadt (wie auch von anderen ostdeutschen Städten und Stadtvierteln) als Arrival City (Saunders 2011) zu diskutieren und Strategien für eine Begleitung der nun ablaufenden postmigrantischen Aushandlungsprozesse zu entwickeln.
19.5 Fazit In diesem Beitrag haben wir die besondere Relevanz Ostdeutschlands als interessantes, dynamisches, aber bisher marginalisiertes Forschungsfeld für die Migrations- und Integrationsforschung hervorgehoben. Wir plädieren dafür, die alltäglichen Praktiken des multikulturellen und postmigrantischen Zusammenlebens in ostdeutschen Orten verstärkt in den Blick zu rücken und gleichzeitig gegenüber Konflikten aufmerksam zu sein. Die Perspektiven der Multikulturalität und des Postmigrantischen sind unserer Meinung nach geeignet, den Blick sowohl auf die teils undramatische Realität des gelebten multikulturellen Alltags in vielen ostdeutschen Orten als auch auf sich zuspitzende Aushandlungsprozesse um Teilhabe und Anerkennung zu lenken. Vor dem Hintergrund fremdenfeindlicher Agitation und gewaltsamer Auseinandersetzungen ist jüngst nicht nur das politische, sondern auch das wissenschaftliche Interesse am multikulturellen Zusammenleben in Ostdeutschland gestiegen. Wir plädieren für eine kritische Ausrichtung der Migrationsund Integrationsforschung im ostdeutschen Raum, deren Relevanz wir abschließend am Beispiel der Stadt Halle (Saale) skizziert haben. Ein Hauptaugenmerk sollte auf konkreten Praktiken des Zusammenlebens und den Aushandlungsprozessen vor Ort liegen, ohne dabei strukturelle Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse auszublenden. Vor dem Hintergrund der hochdynamischen Zuwanderungsprozesse der letzten Jahre, die zum ersten Mal auch zu einem nennenswerten Zuzug muslimischer Mitbürger*innen führten, stellt sich auch die Frage nach den Handlungs- und Anpassungsstrategien der Migrant*innen selbst. Statt Ostdeutschland als das fremdenfeindliche „andere“ Deutschland zu reifizieren, sollten auch Möglichkeiten eines inklusiveren Zusammenlebens vor Ort in das Blickfeld der ostdeutschen Migrationsund Integrationsforschung gerückt werden.
19 Ostdeutschland multikulturell und postmigrantisch
245
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„Aus der eigenen Sozialisierung kann man so einfach nicht heraus“. Geographische Lehre und Forschung in und zu „Ostdeutschland“
20
Anne Köllner, Lea Bauer, Alejandro Armas-Díaz und Vera Denzer
Zusammenfassung
Welche Rolle spielen geographische Institute bei der (Re)Produktion räumlichen Wissens zu „Ostdeutschland“? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag am Beispiel des Instituts für Geographie der Universität Leipzig nach. Anliegen des Textes ist es, die humangeographische Lehre und Forschung im Zeitraum 1996 bis 2019 aus der Perspektive des situierten Wissens zu reflektieren, nach der jedes Wissen begrenzt, partiell und lokal verortet ist. Der Text zeichnet diese Situiertheiten mittels verschiedener empirischer Zugänge, wie Interviews und Analysen von Lehr- und Forschungsthemen, nach. Dabei werden drei sich theoretisch und empirisch überschneidende analytische Kategorien von Situiertheit untersucht und ihre Implikationen für das Vermitteln geographischen Wissens zu „Ostdeutschland“ abgeleitet: Ortsbezogenheit, Wissenskollektive und wissenschaftliche Paradigmen. Mit ihrer Hilfe werden die Partialität und Verortetheit der (Re)Produktion von Wissensformationen konkret gemacht: Sie zeigen sich im Fokus auf „nahe liegende“ Städte und Regionen, im Aufgreifen spezifischer Methoden für Forschung und Lehre, im Aufbau von lokalen und nationalen akademischen Netzwerken sowie im Umgang mit fachinternen Diskussionen. A. Köllner (*) · L. Bauer · A. Armas-Díaz · V. Denzer Institut für Geographie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Bauer E-Mail: [email protected] A. Armas-Díaz E-Mail: [email protected] V. Denzer E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_20
249
250
A. Köllner et al.
20.1 Geographische Institute als Orte der Wissens(re)produktion zu „Ostdeutschland“ Vor gut 30 Jahren wurde eine neue Raumeinheit benannt: die neuen Bundesländer bzw. „Ostdeutschland“. Dieser Begriff ist zu einem zentralen Schlagwort in journalistischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Debatten geworden. Auch die Humangeographie spielt und spielte bei der (Re)Produktion von Raumeinheiten wie „Ostdeutschland“ eine wesentliche Rolle: Versteht man Räume als „Medi[en] und Instrument[e] der Herstellung sozialer Wirklichkeit“ (Miggelbrink 2009, S. 94), wird mit jeder Benennung, wie z. B. in Forschung oder Lehre, die Raumeinheit „Ostdeutschland“ sprachlich naturalisiert als eine räumlich abgrenzbare, mit spezifischer Bedeutung aufgeladene Einheit. Als Beispiel wäre hier die Zuschreibungen von raumbezogenen Eigenschaften zu demographischen Prozessen zu nennen, wie Schrumpfung („Ostdeutschland“ = „Schrumpfungslandschaft“) und Alterung („Ostdeutschland“ = „vergreisende Regionen“), die potenziell spezifisch konnotiertes Wissen zu „Ostdeutschland“ vermitteln (Wintzer 2017, S. 102, 106 f.). Bei der Wissensvermittlung zu „Ostdeutschland“ innerhalb geographischer Institute kommt es also fundamental darauf an, wie raumbezogene Zuschreibungen thematisiert und welche Fragestellungen mit ihnen verknüpft werden. Aus diesem Grund ist zu betrachten, durch welche sozial und raum-zeitlich spezifischen Wissensformationen (Raju 2009, S. 265; Katz 2001, S. 1230) bzw. durch welche Situierung von Wissen (Kobayashi 2009, S. 139; Rose 1997, S. 305) ein geographisches Institut – hier: das Institut für Geographie in Leipzig (IfG) – geprägt ist. Das IfG ist mit seiner Lokalisierung im Osten von Deutschland und den dazugehörigen regionalen Vernetzungen, mit seinen Forschungsschwerpunkten und seiner universitären Lehre ein Ort der Wissens(re)produktion zu – und Teil von „Ostdeutschland“. Dabei ist der „Ostdeutschland“-Bezug am IfG in Leipzig aus Sicht der Autor*innen nicht durch eine spezifisch konnotierte Verwendung des Begriffs „Ostdeutschland“ gekennzeichnet und zielt auch nicht auf die diskursive Aushandlung dessen, was unter „Ostdeutschland“ verstanden wird. Vielmehr wird der Bezug vor dem Hintergrund der gebrochenen Geschichte des IfG (durch die Institutsgründung im Jahre 1883, Schließung 1969 und Wiedergründung 1996) auf vielfältige Weise hergestellt durch personenspezifisch wissenschaftliche Sozialisierungen und Auseinandersetzungen mit lokal beobachtbaren Herausforderungen. Für eine Aufarbeitung dieser Hintergründe in der Bezugnahme auf „Ostdeutschland“ ist das Anliegen dieses Textes, die Lehre und Forschung am IfG im Zeitraum 1996 bis 2019 aus der Perspektive des situierten Wissens zu reflektieren und zu fragen, welche Implikationen diese Situiertheit der Lehrenden und Forschenden für die Vermittlung geographischen Wissens hat und wie dabei möglicherweise Bedeutungen von „Ostdeutschland“ (re)produziert wurden.1 1Im
Rahmen der Planung des Sammelbandes wurde die Frage an uns herangetragen, was eine „Ostdeutschland“-spezifische geographische Lehre möglicherweise ausmacht. Das war der Anlass, um uns ausführlicher mit den Zusammenhängen zwischen Lehre und Lehrort zu befassen.
20 Geographische Lehre und Forschung in und zu Ostdeutschland
251
Der Text beginnt mit einer Konzeptualisierung von situiertem Wissen. Zur Analyse der Situierungen werden dann mehrere empirische Zugänge genutzt: Experteninterviews mit ehemaligen Professor*innen, Analyse von Stundenplänen sowie Themen von Abschlussarbeiten, außerdem eine unveröffentlichte Alumni-Befragung. Im Fazit wird auf die hier erarbeiteten Dimensionen von Situiertheit eingegangen und Schlüsse zu möglichen Implikationen für die Vermittlung geographischen Wissens zu „Ostdeutschland“ am IfG gezogen. Die Ergebnisse dieser Erarbeitung bleiben aufgrund der hier vorgestellten punktuellen empirischen Basis und der Involviertheit der Autor*innen am IfG unvollständig.
20.2 Wissen im Kontext betrachten und situieren Was bedeutet das Situieren von Wissen? Es heißt, Wissen grundsätzlich als begrenzt, partiell und lokal verortet zu betrachten (Parr 2006, S. 430). Das Konzept löst sich also von der Vorstellung, Wissenschaft und Wissens(re)produktion seien universalistisch, unabhängig und objektiv (Haraway 1988, S. 581; Kobayashi 2009, S. 138). Das Konzept des situated knowledge entstand Ende der 1980er-Jahre im Rahmen feministischer Kritik an der Wissens(re)produktion und der Vorstellung von Objektivität als „gottähnlicher Blick aus dem Nirgendwo“. Dies verschleiere die machtvolle Position derjenigen – meist weißen Männern –, die das vermeintlich neutrale Wissen (re)produzieren (Haraway 1988, S. 581). Es ist daher notwendig, die Situierung von Wissen und Wissens(re)produktion zu analysieren, da die Art des Wissens entscheidend davon abhängt, wer es wie und zu welchem Zweck (re)produziert. Situiertheit ist dabei nicht gegeben, sie muss zwischen Wissen und Identität ausgehandelt werden (Rose 1997). Eine Strategie für das Offenlegen von Situiertheit kann das Reflektieren der eigenen Forschung und Lehre sein. Eine solche Reflektion muss als unvollständiger, mit Lücken behafteter, dabei aber selbstverständlicher und unvermeidlicher Bestandteil der (Re)Produktion von Wissen betrachtet werden (Lynch 2000, S. 26 f.) – Unterschiede, Spannungen und Konflikte gilt es zu explorieren. Beim Situieren von Wissen geht es darum, Unsicherheiten aufzuzeigen und nicht, die eigene Situiertheit zu verschleiern oder gegen Einwände zu verteidigen (Rose 1997, S. 315).
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A. Köllner et al.
Wichtigste Grundlage für die Analyse von situiertem Wissen ist mit Katz (2001) das Bewusstsein, dass „alles Sehen und alles Wissen irgendwoher (from somewhere) stammt und sich dieses „irgendwo“ sozial konstituiert …“ (S. 1230, Übers. d. Autor*innen). Unter „irgendwoher“ kann sowohl die Verortung der Wissenschaftler*innen an einem Lehr- und Forschungsstandort verstanden werden, als auch deren Verbindungen zu Kolleg*innen und die paradigmatischen und begrifflichen Vorstellungen, die mit ihnen geteilt oder kritisch diskutiert werden (Peake 2016). Entsprechend werden im Folgenden drei sich theoretisch und empirisch überschneidende analytische Kategorien von Situiertheit untersucht: erstens Ortsbezogenheit, zweitens Wissenskollektive und drittens wissenschaftliche Paradigmen (in der Humangeographie). Unter Ortsbezogenheit werden Orte, hier der akademischen, Wissens(re)produktion in den Fokus genommen. Kroll et al. führen dazu aus: „Während es allgemein anerkannt ist, dass Akademiker*innen zu den am wenigsten ortsgebundenen Akteuren der Gesellschaft gehören …, wäre es ein Fehler, anzunehmen, ihr Handeln wäre a priori losgelöst von Orten“ (2015, S. 2, Übers. d. Autor*innen). Mit unserem Verständnis von Orten gehen wir jedoch über eine bloße Verortung hinaus. Denn wirft man den analytischen Blick nur auf die Position eines Ortes in Lagerelation zu anderen Orten, werden viele weitere Bedeutungen von Raum ausgeblendet (Katz 2001, S. 1230). Unter „Ortsbezogenheit“ geht daher auch das historisch spezifische Gewordensein von Raum in die Situiertheit mit ein. Dieses war und ist bei der (Re)Produktion gegenwärtiger sozialer Verbindungen und Machtverhältnisse an einem Ort bzw. in einer Region wirksam (Berg 2004, S. 554). Denn die Bedeutungen von Orten, Regionen und Maßstäben sind eben nicht feststehend, sondern historisch (re)produziert. „Ortsbezogenheit“ führt konkret zum Blick darauf, welche lokalen und regionalen Themen für das IfG seit der Wiedergründung in Lehre und Forschung relevant waren und sind. Darüber hinaus sind auch Verbindungen zu Orten, die Studierende und Lehrende aufweisen, eingeschlossen, wie beispielsweise die Orte des Aufwachsens etc. Eng verbunden mit der ortsbezogenen Wissens(re)produktion ist zweitens eine Auseinandersetzung mit Wissenskollektiven, dem Blick auf den sozialen Bezugsrahmen von Wissens(re)produktion sowie die zugehörigen Praktiken, die auf geteilten Interessen und kollaborativem Dialog beruhen (Jöns und Freytag 2016, S. 6; Peake 2016, S. 834). Darunter verstehen wir Netzwerke unter Wissenschaftler*innen, die in informellen Austausch und gemeinsame Projekte münden. Auch die Orientierung von Lehrenden an Forschungsprofilen und Lehrkonzepten von Lehrstühlen sind Ergebnis von situiertem Wissen. So argumentiert Aalbers: „Die eigene Positionalität mag einzigartig sein, aber man teilt viele Bestandteile dieser Einzigartigkeit mit anderen auf der Welt“ (2013, S. 210, Übers. d. Autor*innen). Konkret führt dieser Aspekt zur Frage, wie sich Lehrende am IfG auf ihre vorausgegangene akademische Sozialisierung und auf ihre wissenschaftlichen Netzwerke bezogen haben und beziehen. Drittens ist jenseits ortsbezogener und kollektiver Einflüsse auf die Wissens(re)produktion auch die Rolle der, im jeweiligen Zeitraum geführten, Fachdebatten über Denkweisen oder vorherrschende wissenschaftliche Paradigmen (in der
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Humangeographie) zu betrachten. Unter Paradigmen werden dabei die Leitbilder und Konventionen verstanden, welche Begriffsformationen, Theoriebildung, empirische Forschung, angewendete Methoden und somit die Denk- und Arbeitsweise einer Disziplin bestimmen (Reuber und Gebhardt 2011, S. 90). In der deutschsprachigen Humangeographie hat sich seit Ende der 1990er-Jahre eine paradigmatische Neuausrichtung vollzogen: War die Disziplin bis in die 1980er- und 1990er-Jahre noch eher regional orientiert (Belina et al. 2009, S. 50 ff.) und oftmals mit der politischen Planungspraxis verbunden (Jöns und Freytag 2016, S. 14) bildete sich in der Folgezeit u. a. eine konstruktivistisch informierte, poststrukturalistische Sozialgeographie aus. Mit dieser theoretischen Neuausrichtung ging auch eine stärkere Hinwendung zu qualitativen Methoden einher (Rothfuß und Dörfler 2013, S. 8 f.). Dieser dritte Aspekt fokussiert also darauf, wie sich die Lehrenden am IfG – auf Basis ortsbezogener Fragestellungen und des eigenen wissenschaftlichen Netzwerks – zu den übergreifenden Fachdebatten positioniert haben.
20.3 In Leipzig zu „Ostdeutschland“ lehren Da es im Folgenden um eine exemplarische Aufarbeitung der situierten geographischen Wissens(re)produktion am IfG geht, greifen wir auf leitfadengestützte Experteninterviews mit zwei für die Humangeographie in Leipzig prägenden Professor*innen zurück, die 2004 bzw. 2017 in Ruhestand gingen.2 Dabei spielen insbesondere Erzählungen zu Themen und Methoden der Lehrveranstaltungen, persönlichen Netzwerken, zum Werdegang, Forschungsschwerpunkten sowie Veränderungen in Fachdebatten und prägenden Denkweisen des Fachs eine Rolle. Ergänzt werden die getroffenen Einordnungen durch eine Analyse von Stundenplänen der verschiedenen Geographie-Studiengänge von 1996 bis 2019. Hierbei liegt das Augenmerk auf Orten und Regionen, die sich besonders häufig in den Lehrveranstaltungen wiederfinden lassen. Weiterhin betrachten wir auch die Themen der Abschlussarbeiten von 2000 bis 2018. Zusätzlich greifen wir auf die Daten einer 2016 durchgeführten, unveröffentlichten Befragung unter Absolvent*innen des IfG zurück, die uns einen Einblick in die Herkunftsorte der Studierenden erlaubt.
20.3.1 Aspekte von Ortsbezogenheit im Fokus Ortsbezogenheit lässt sich auf zweierlei Weise verstehen: zum einen als Herkunftsund wissenschaftliche Wirkungsorte der Lehrenden am IfG, zum anderen als regionale Schwerpunkte in Lehre und Forschung. Beide Perspektiven sind untrennbar verbunden.
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dieser Stelle sei angemerkt, dass auf die Forschungs- und Lehraktivitäten weiterer Professor*innen, die ebenfalls Teil der Wissensformationen sind, hier nicht weiter eingegangen wird.
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Ausgangspunkt der Überlegung bildet der personelle Neustart der Leipziger Geographie mit der Erstbesetzung der Professuren bei der Wiedergründung des Instituts. Aus humangeographischer Sicht wurde er gestaltet von Helga Schmidt, zuvor Professorin für Geographie in Halle (Saale), und Reinhard Wießner aus Nürnberg, der sich zuvor in München habilitierte. Bei beiden lassen sich Aspekte der Ortsbezogenheit in den Begründungen für den Wechsel nach Leipzig finden. „… [F]ür mich [war es] erst einmal die wichtigste Aufgabe, dieses Institut wieder zu gründen, um diese jahrzehntelange Tradition wieder zum Leben zu bringen … [u]nd der zweite Grund war: Es war nicht nur mein Studienort, Leipzig, sondern es ist meine Heimatstadt, mit der ich sehr eng verbunden bin“ (HS 2019)3. Reinhard Wießner beruft sich auf die Vergangenheit Leipzigs als eine der „der größten und bedeutendsten deutschen Städte“ (RW 2019)4. Weiterhin sieht er Leipzig als „wichtige[n] Kristallisationspunkt für die Geographie. Also man fand Geographen an allen Ecken und Enden …. [D]ieses Umfeld des Instituts mit dem IfL, mit dem UFZ, auch mit vielen Geographen, die in der Praxis damals tätig waren. Das war dann wirklich … etwas Einmaliges, wo man auch davon ausgehen konnte, dass der Geographiestandort Leipzig eine große Bedeutung hatte und auch wieder haben wird“ (RW 2019). Die unterschiedlichen Herkünfte aus Ost- und Westdeutschland lassen sich nicht nur in den Bezügen zu Leipzig sehen, sondern auch im wissenschaftlichen Schaffen. So betont Helga Schmidt den unmittelbar regionalen Fokus der Forschung am IfG, u. a. am Beispiel der Diplomarbeiten: „… [U]nsere Untersuchungsbeispiele waren hier der mitteldeutsche Raum. Das waren die Agglomerationskerne, das war Leipzig, das war Halle, das war auch Chemnitz – teilweise“ (HS 2019). Bei Reinhard Wießner dagegen gab es einen Wandel: Er legte „regionale Schwerpunkte in Bayern im Laufe der Zeit ad acta“ (RW 2019). Gefüllt wurde diese Lücke durch Forschung zu Ostdeutschland und Leipzig. Weiterhin behielt er eine räumliche Orientierung bei, die er gewissermaßen an das IfG brachte: Ungarn sowie weitere Länder in Mittel- und Osteuropa (RW 2019). Gleichzeitig verdeutlicht die Betrachtung der in Abschlussarbeiten behandelten Themen, dass sich eine unmittelbare Ortsbezogenheit im Sinne einer Fokussierung der Themen auf Leipzig und die Region Mittel- bzw. „Ostdeutschland“ deutlich bemerkbar macht: Von 2002 bis 2018 bewegt sich der Anteil dieser Themen zwischen maximal 95 % (2005) und minimal 63 % (2018). Allerdings tragen nur drei Arbeiten „Ostdeutschland“ im Titel. Gegenwärtig scheinen lokale und regionale Bezüge der Abschlussarbeitsthemen an Relevanz zu verlieren. Die ehemals mehrheitlich regionale Verankerung von Abschlussarbeiten kann u. a. auf die Verortung der Forschungsschwerpunkte am IfG und auf die Lokalisierung der Lehrveranstaltungen zurückgeführt werden. In diesem Zusammenhang muss besonders die Lehre beachtet werden, die thematisch von Jahr zu Jahr variiert. Daher
3Interview 4Interview
mit Helga Schmidt, vom 21.06.2019 (Leipzig). mit Reinhard Wießner, vom 21.06.2019 (Leipzig).
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konzentrierte sich die Analyse der Stundenpläne von 1996‒2019 auf Vorlesungen mit wechselnden Themen, Ober- und Projektseminare, anthropogeographische Praktika sowie Exkursionen. Bei den Stundenplänen fällt auf, dass sich die Veranstaltungen mehrheitlich in und um Leipzig fokussieren. In jedem Semester seit der Wiedergründung des Instituts liegt der regionale Schwerpunkt auf „Ostdeutschland“. Allerdings: In den 288 betrachteten Lehrveranstaltungen spielt die explizite Bezeichnung „Ostdeutschland“ nur eine unwesentliche Rolle. Lediglich in drei Fällen wird die Raumeinheit im Titel genannt. 28-mal lässt sich die Bezeichnung „Mitteldeutschland“ finden, alle anderen Bezeichnungen verteilen sich auf Ortsnamen (bspw. Leipzig, Halle, Dresden) sowie regionale Nennungen (bspw. Südraum Leipzig, Thüringen-Sachsen, Westerzgebirge). Die deutliche regionale Prägung der Forschung und Lehre am IfG scheint ausschlaggebend zu sein für die thematische Ausrichtung der studentischen Abschlussarbeiten. Als maßgeblicher Faktor weitgehend ausgeschlossen werden kann dagegen der Einfluss der Herkunftsorte der Studierenden. Denn es fand ein starker Wandel statt: Kamen im ersten Jahrgang des Diplomstudiums 1996 alle bis auf eine Studierende aus „Ostdeutschland“, zeigt sich im gegenwärtigen Lehralltag, dass die Zahl der aus Westdeutschland Zugezogenen weiter steigt. Diese Beobachtung deckt sich mit der Tendenz, die bei einer hausinternen Alumni-Befragung von 2016 (n = 275) ermittelt wurde: Während von den Studierenden der Jahrgänge 1995‒2000 nur knapp 5 % der Befragten angaben, vorrangig in Westdeutschland aufgewachsen zu sein, erhöhte sich der Anteil im Zeitraum von 2010‒2014 auf mehr als 30 %. Insgesamt zeigt sich im Hinblick auf die Ortsbezogenheit ein seit der Wiedergründung des Instituts bestehender Fokus auf die Region Leipzig sowie „Ostdeutschland“ hinsichtlich Forschung und Lehre. Hervorzuheben ist allerdings, dass die Benennung der Raumeinheit eine untergeordnete Rolle spielt. Die individuelle Herkunft scheint sich nicht maßgeblich auf die regionale Fokussierung der Studienarbeiten auszuwirken, da trotz der zunehmenden Anzahl westdeutscher Lehrender und Studierender die bisherige regionale Schwerpunktsetzung bestehen bleibt.
20.3.2 Anknüpfung an und Entwicklung von Wissenskollektiven Als weiterer Aspekt von Situiertheit spielen persönliche Kontakte und akademische Netzwerke eine Rolle für die Wissens(re)produktion. Diese werden bspw. durch Orientierungsgrößen in Lehre und Forschung („Lehrmeister*innen“) ausgefüllt oder lassen sich bei Kooperationen mit Kolleg*innen finden. Ausgehend von einem neuen Umfeld im Sinne eines neuen Standortes und durch sich ändernde persönliche Netzwerke werden Wissensbestände und Praktiken einzelner Personen neu „konfiguriert“, was sich u. a. in modifizierten theoretischen Ansätzen und Forschungsprofilen niederschlagen kann.
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Weiterhin ist anzunehmen, dass auch der Blick auf „Raum“ in Abhängigkeit des jeweiligen akademischen Sozialisierungskontextes der beiden Professor*innen (z. B. durch die Herkunft aus Ost- bzw. Westdeutschland, durch individuelle internationale Bezüge) sehr unterschiedlich geprägt wurde. Aus diesen Kontexten erwachsen thematische Fokussierungen und Arbeitsweisen, die dann über Netzwerke im Zuge wissenschaftlicher Mobilität transferiert werden (Jöns und Freytag 2016, S. 5). Ohne an dieser Stelle nun weiter auf Netzwerkansätze eingehen zu wollen, soll hier die Bedeutung von physischer Nähe für die Ausbildung von Netzwerken betont werden (Stopczynski et al. 2018). Dies wurde auch in den Interviews thematisiert: Ein intensiver Wissensaustausch spielte auf lokaler Ebene eine sehr große Rolle: Die „Vernetzung in der Stadt war eigentlich ein Glücksfall. Das Institut für Länderkunde muss ich da nicht explizit nennen. Also das war von Anfang an der wichtigste Standortfaktor, dass man dann also auch die Lehre hier an der Universität mit unterstützt und fördert“ (HS 2019). Neben den außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie dem Leibniz-Institut für Länderkunde und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung wurde auch mit dem universitären Institut für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft eng kooperiert. Zum anderen „hatten [wir] von Anfang an die Partner in der Stadt“ (HS 2019). Auch Reinhard Wießner betont: „Also man fand Geographen an allen Ecken und Enden, die man mal im Lauf der Zeit kennengelernt hat“ (RW 2019). Hierfür sprechen auch Daten der oben erwähnten Alumni-Umfrage: Knapp 32 % der Befragten nannten für das Jahr 2016 Leipzig als Arbeitsort. Doch die Netzwerke spannten sich auch weit über die Region hinaus, so nennt Helga Schmidt Heinz Fassmann (München und Wien) und Elisabeth Lichtenberger (Wien) als ihre „wichtigsten Lehrmeister“ (HS 2019). Für die Frage der akademischen Netzwerke kommt den Arbeitskreisen des Verbandes für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH) eine besondere Bedeutung zu. Sie boten eine Plattform, zusammen zu sein und sich fachlich auszutauschen (HS 2019). Über die aktive Verbandsarbeit (RW 2019) hinaus wurden die Netzwerke durch Studienaufenthalte noch intensiviert, konkret zu Themen wie Einzelhandel oder Regionalentwicklung (HS 2019) sowie Wohnungsmarktforschung: „Ich war damals auch im Arbeitskreis Wohnungsmarktforschung aktiv und die Kontakte aus diesen Feldern konnten auch intensiv in Wert gesetzt werden. Sei es auf Exkursionen, sei es, dass wir mal eine Tagung hier veranstaltet haben. [D]as Thema Wohnen, das war in der damaligen Zeit eigentlich ein Thema, womit man sich … zu einem großen Schwerpunkt … in Ostdeutschland beschäftigt hat“ (RW 2019). Die Bedeutung von Wissenskollektiven für die Situiertheit spiegelt sich nicht nur in der Wahl von Forschungsthemen wider, sondern auch in Lehrformen. So beruht die Entwicklung des Lehrkonzeptes in Leipzig auch auf Aushandlungsprozessen. Konkret wurde bei der Implementierung von Projektseminaren auf die Erfahrungen aus München zurückgegriffen: „[S]o ein Konzept, wie wir das in München durchgeführt haben, [wurde] dann auch in Leipzig durchgeführt“ (RW 2019). Hingegen konnte man bei empirischen Erhebungen „ja nicht mit Methoden aus den alten Bundesländern … vorgehen, sondern es traten ja Prozesse ein, die für Mitteldeutschland völlig neu waren …. Also das waren
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so Aspekte, wo ich mir gesagt habe: Hier können wir mit unseren quantitativen und qualitativen Verfahren und Methoden, mit unserer Arbeit etwas in Bewegung bringen“ (HS 2019). Hier flossen also spezifische Praktiken und Erfahrungen beider Kolleg*innen in den neu zu konstituierenden Studiengang ein, unter Berücksichtigung der übergeordneten bundesweiten Rahmenprüfungsordnung für den Diplomstudiengang Geographie. Die wissenschaftlichen Netzwerke beider Professor*innen stützten sich sehr stark auf Kolleg*innen aus Westdeutschland und Österreich: „Partner, die man aus der Literatur kannte, mit denen man zusammen in den Arbeitskreisen war“ (HS 2019), bzw. zu neuberufenden Kolleg*innen aus Westdeutschland in Halle und Dresden. Darüber hinaus wurden Netzwerke, die in früheren Arbeitskontexten aufgebaut wurden, weitergeführt: „[D]ie polnischen Kollegen hatten ja diese Agglomerationsforschung auch zu ihrem Hauptforschungsthema in Warschau, in Poznań, in Danzig, in Krakau, überall und wir standen da im intensiven Austausch mit Studienaufenthalten, mit regelmäßigen Konferenzen“ (HS 2019). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Forschenden und Lehrenden am IfG auf eine starke akademische Vernetzung vor Ort zurückgreifen konnten, mit deren Hilfe sie bspw. die Lehrveranstaltungen mit regionalem Fokus stemmten. Gleichzeitig muss beachtet werden, dass diese und weitere prägende Wissenskollektive zum Teil aus „Westdeutschen“ bestanden – die u. a. an „ostdeutschen“ Universitäten oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen wirkten. In dem Sinne ist auch die physische Nähe der Netzwerke differenziert zu betrachten. Die Nennung weiterer Partner*innen für den fachlichen Austausch reichen weit über die lokalen Netzwerke hinaus und sind deutlich prägend, wie bspw. am Begriff „Lehrmeister“ zu sehen ist. Blickt man auf Orientierungen für die Lehre, scheinen die Vorbilder ebenfalls außerhalb von „Ostdeutschland“ zu liegen.
20.3.3 Wiedergründung und paradigmatische Umbrüche Maßgeblich für die Situierung der Wissensformationen am IfG sind neben Ortsbezogenheit und Wissenskollektiven die wissenschaftlichen Traditionen und Gepflogenheiten, die zur Wiedergründung an das Institut gebracht wurden, sowie die theoretischen und arbeitspraktischen Veränderungen, die sich in der Humangeographie insgesamt vollzogen. Bestehende fachliche Schwerpunkte sowie Erfahrungen in Forschung und Lehre der beiden Professor*innen der Humangeographie wurden durch die besondere Situation der Wiedergründung des IfG sehr wichtig. So beschreibt Reinhard Wießner: „[I]ch konnte eigentlich vieles von dem, was ich vorher gemacht habe, mitnehmen und hier unmittelbar im Bereich der Forschung weiterführen oder auch im Bereich der Lehre anwenden“ (RW 2019). Hier nennt Wießner die Transformations- und Restrukturierungsforschung sowie für die Lehre „viele kleine Entscheidungen, die mit einem Erfahrungshintergrund aus einem anderen Institut eben leichter zu bewerkstelligen waren“ (RW 2019).
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Helga Schmidt berichtet ebenfalls vom Weiterführen der Themen, die bereits in Halle bestimmend waren: „[W]ir haben eigentlich diese Arbeiten zur Theorie der Agglomerationsforschung, zu Leitbildern der Agglomerationsgebiete … weiterführen können“ (HS 2019). Dabei betont sie den Einfluss ihrer außeruniversitären Arbeit in der Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung, bei der sie mehr gelernt habe als im Studium (HS 2019). Eine Erkenntnis, die Helga Schmidt bewusst in die Lehre einband. So wurden die Forschungsseminare für eine integrativ orientierte Ausbildung gemeinsam mit den Planungseinrichtungen vor Ort durchgeführt und flossen im Idealfall in aktuelle Planungsaufgaben und -ergebnisse ein (Schmidt 1998, S. 54; HS 2019). Diese Bestimmungsfaktoren der humangeographischen Ausrichtung des IfG nach der Wiedergründung bedeuteten keinen Bruch, sondern vielmehr eine Fortführung zuvor bestehender Ansätze. Entsprechend unterschied sich das IfG hinsichtlich der inhaltlichen Orientierung nicht sonderlich von anderen deutschen geographischen Instituten der 1980er- und 1990er-Jahre – mit Ausnahme der regionalen Fokussierung auf Mitteldeutschland, Sachsen und Leipzig sowie Mittel- und Osteuropa. Dies zeigt auch folgende Aussage von Helga Schmidt: „Obwohl ich sagen muss, und das hatte uns auch der Professor Wirth und der Professor Heinritz gesagt, die kannten ja unsere Arbeiten aus Halle zur Agglomerationsforschung: Im Prinzip ist das nicht viel anders als das, was wir gemacht haben. Es war eine andere Terminologie, die wir verwendet haben, ja“ (HS 2019). Eine enge Verbindung zu Planungseinrichtungen, eine hohe Anwendungs- und Datenorientierung waren typisch für die Humangeographie dieser Zeit (Jöns und Freytag 2016, S. 14 ff.). Ebenso üblich war seinerzeit auch an anderen geographischen Instituten eine leichte Reserviertheit gegenüber den neuen Perspektiven und Möglichkeiten, die durch die cultural turns in die deutschsprachige Geographie Einzug hielt (Berndt und Pütz 2007, S. 8). Diese lässt sich auch an den Aussagen von Helga Schmidt ablesen: „Natürlich haben wir das mit aufgenommen. … Also die Studenten wurden damit konfrontiert“ (HS 2019). Reinhard Wießner führt zur Frage der Bedeutung der cultural turns aus: „Sowohl Helga Schmidt als auch ich stammen aus einer Zeit, wo wir den cultural turn zwar zur Kenntnis nahmen, aber es war nicht unsere Sozialisierung in der Geographie und auch nicht unser Schwerpunkt in der Lehre. … Und aus der eigenen Sozialisierung kann man so einfach nicht heraus“ (RW 2019). Dass die Grenzen der eigenen Sozialisierung nicht so absolut sind, zeigt sich darin, dass die Neuausrichtungen in der Humangeographie dennoch rezipiert wurden, was sich beispielsweise auch in den Lehrveranstaltungen niederschlug. So lassen sich ca. ab dem Jahr 2000 vermehrt auch Lehrveranstaltungen zu den cultural turns sowie zur Politischen Geographie finden, und qualitative Methoden finden stärkere Beachtung. Auch die Stellenneubesetzungen am IfG führten zu einer Weitung der Schwerpunkte in Forschung und Lehre um Themen der Neuen Kulturgeographien sowie Aspekte der kritischen Stadt- und Globalisierungsforschung.
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Resümierend lässt sich feststellen, dass die Paradigmen ihrer Zeit das IfG auf ähnliche Weise geprägt haben wie andere Institute in Deutschland. Die Spezifik stellte allerdings der weiter bestehende regionale Fokus auf Mittel- und Ostdeutschland sowie auf Mittel- und Osteuropa dar.
20.4 Fazit „Wissensformationen sind sozial und raum-zeitlich spezifisch“, und „Geographische Institute bilden wichtige Institutionen der (Re)Produktion räumlichen Wissens“, – diese beiden Feststellungen bilden den Ausgangspunkt des vorliegenden Textes. Darauf aufbauend wurde am Beispiel der Humangeographie des IfG schlaglichtartig untersucht, unter welchen Bedingungen in der Vergangenheit und Gegenwart Wissen (re)produziert wurde. Hintergrund dafür war die Frage, ob die Raumeinheit „Ostdeutschland“ möglicherweise eine besondere Rolle bei der Wissens(re)produktion gespielt hat. Eingebunden in das Konzept des situierten Wissens wurden drei in der Praxis einander überlappende Kategorien von Situiertheit untersucht: Ortsbezogenheit, Wissenskollektive und wissenschaftliche Paradigmen. Um die Wissens(re)produktion in der Humangeographie am IfG zu situieren, ist der Umstand der Wiedergründung nach der politischen Wende zu beachten, der die Themensetzungen und -bearbeitung durch Einzelpersonen vor dem Hintergrund ihrer Wissenskollektive sowie der Wahrnehmung disziplinärer paradigmatischer Neuausrichtungen in den Vordergrund treten ließen. Zusammengefasst konnte zwar eine Ortsbezogenheit im Sinne einer regionalen Verankerung der Forschungs- und Lehrthemen am IfG festgestellt werden, allerdings nicht unter dem Begriff „Ostdeutschland“, sondern im Sinne eines präsenten, implizit wirksamen Kontextwissens. Die sozialen Bezugsrahmen, hier verstanden als akademische Netzwerke, und die zugehörigen Praktiken orientierten sich sowohl an Partner*innen vor Ort – wobei diese lokalen Verbindungen durch in „Ostdeutschland“ wirkende Westdeutsche geprägt waren und sind – als auch an Kolleg*innen deutschlandweit und im Ausland. Insgesamt bestimmen Vorbilder aus Westdeutschland sowie Erfahrungen, die außerhalb „Ostdeutschlands“ gemacht wurden, die Lehre und Forschung am IfG. Bezüglich der Entwicklung wissenschaftlicher Paradigmen, hier thematisiert anhand der beiden Aspekte wissenschaftliche Traditionen und Gepflogenheiten, lässt sich kein spezifisch „ostdeutscher“ Sonderweg am IfG beobachten. Es wurde an die damals gängigen, fachübergreifenden Zielsetzungen mit stark regionaler und planungspraktischer Ausrichtung angeknüpft, denen man über viele Jahre folgte. Mithilfe des Konzeptes der Situiertheit von Wissens(re)produktion wurde insgesamt – bezogen auf geographische Lehre und Forschung – die Partialität und Verortetheit der (Re)Produktion von Wissensformationen exemplarisch deutlich. Sie zeigt
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sich hier im Fokus auf „nahe liegende“ Städte und Regionen, im Aufgreifen spezifischer Methoden für Forschung und Lehre, im Aufbau von Netzwerken sowie in der Aufnahme fachinterner Diskussionen. Die Partialität führte jedoch nicht zu einer spezifisch „ostdeutschen“ Forschung oder Lehre. In jedem Fall lässt sich keine übergeordnete Bedeutung der Raumeinheit erkennen – auch wenn das IfG durchaus in Leipzig und der Region forschte und forscht. Wir danken Helga Schmidt und Reinhard Wießner für die Möglichkeit eines Einblicks in die Wissensformationen im Laufe der Jahre am IfG. Unser Dank gilt weiterhin Christel Eißner und Lisa Quiring für ihre Analysen zu Abschlussarbeiten und Stundenplänen.
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Teil IV Ostdeutsche Städte im Umbruch
Wohnungsmärkte in ostdeutschen Großstädten. Zwischen Schrumpfung und Vermarktlichung
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Karin Wiest
Zusammenfassung
Der Zugang zu Wohnraum und die Art der Wohnversorgung sind zentrale Faktoren regionaler Lebensbedingungen. Gleichzeitig sind Angebots- und Nachfragestrukturen auf den Immobilienmärkten ein Spiegelbild der ökonomischen und demographischen Entwicklung von Regionen. Dieser Beitrag gibt einen empirischen Überblick über die wechselhafte und differenzierte Entwicklung der Wohnungsmärkte in ostdeutschen Großstädten. Dabei werden drei Phasen voneinander abgegrenzt: die Überführung der Wohnbestände der DDR in die Marktwirtschaft, das Nebeneinander zwischen großflächiger Schrumpfung und kleinräumigen Wachstumsinseln um die Jahrtausendwende sowie erste Verknappungstendenzen seit 2010 in den größten Städten der neuen Bundesländer. Trotz dieser dynamischen Entwicklungen sind weiterhin strukturelle Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Wohnungsmärkten prägend, die in den jeweiligen Eigentümerstrukturen mitbegründet liegen. Darüber hinaus haben in ostdeutschen Städten und Regionen die Disparitäten zwischen einerseits Nachfrager- und andererseits Anbieterbedingungen deutlich zugenommen.
21.1 Einleitung Der Zugang zu Wohnraum und die Art der Wohnversorgung sind zentrale Faktoren regionaler Lebensbedingungen. Gleichzeitig sind Angebots- und Nachfragestrukturen auf den Immobilienmärkten ein Spiegelbild der ökonomischen und demographischen K. Wiest (*) Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_21
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K. Wiest
Entwicklung von Regionen. Die Situation auf den ostdeutschen Wohnungsmärkten ist daher sowohl ein wichtiger Indikator der Regionalentwicklung als auch ein zentraler Faktor der Lebensqualität. Diesbezüglich haben die eher ländlich geprägten und die städtischen Räume in den neuen Ländern zum Teil gegensätzliche Entwicklungen eingeschlagen. Im Rahmen dieses Beitrags stehen die Entwicklungen in den Großstädten im Mittelpunkt. Da sich die besonderen Extreme der ostdeutschen Wohnungsmärkte in den größten Städten am prägnantesten zeigen, wird ein Fokus auf den beiden sächsischen Metropolen Leipzig und Dresden liegen.1 Ziel ist es, einige zentrale Prozesse und Strukturen aufzuzeigen, die für die Städte im Transformationsprozess nach der deutschen Wiedervereinigung charakteristisch waren und deren Effekte die Lage auf den ostdeutschen Wohnungsmärkten bis heute bestimmen. Dazu wird in Abschn. 21.2 zunächst ein Überblick über wichtige Phasen der Stadtentwicklung gegeben, die sich innerhalb von nur 30 Jahren in rasanten Sub-, Dis- und Reurbanisierungsprozessen niederschlugen. Sie sind Spiegelbild der Ausdifferenzierung innerstädtischer, aber auch regionaler Angebots- und Nachfragestrukturen auf einzelnen Teilwohnungsmärkten. Abschn. 21.3 thematisiert mit den Eigentümerstrukturen die Bedeutung unterschiedlicher Marktakteur*innen in ostdeutschen Städten. Mit kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbeständen sowie dem Stellenwert selbstgenutzten Wohneigentums werden dabei Teilmärkte in den Blick genommen, die ein Gegengewicht zur allgemeinen Ökonomisierung städtischer Immobilienmärkte bilden können. Abschn. 21.4 gibt einen Ausblick auf wohnungsmarktbedingte Segregationstendenzen. Diese sind ein Gradmesser gesellschaftlicher Ungleichheiten sowie Spiegelbild historischer und gegenwärtiger Wohnungsmarktpolitiken in Ostdeutschland.
21.2 Achterbahnfahrten auf städtischen Wohnungsmärkten und Phasen sozialräumlicher Differenzierung 21.2.1 Große Erwartungen, große Enttäuschungen: Die 1990er-Jahre Nach deutlich überhöhten Miet- und Kaufpreisen unmittelbar nach der Wende, die durch ein kaum vorhandenes Angebot aufgrund des sich erst entwickelnden freien Wohnungsmarkts bedingt waren, hatte sich das Wohnangebot in den 1990er-Jahren mit der wachsenden Zahl abgeschlossener Restitutionsverfahren sowie staatlich subventionierter Neubau- und Sanierungsprojekte rasch ausgeweitet. Die damit einhergehende Senkung von Kaufpreisen und Mieten vor allem im Neubaubestand erschien zunächst als ein positives
1Da
Berlin als geteilter Stadt im Transformationsprozess eine Art Sonderstatus zukam, wird die Bundeshauptstadt trotz bewegter Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt nicht im Zentrum der Darstellung stehen.
21 Wohnungsmärkte in ostdeutschen Großstädten
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Abb. 21.1 Einwohnerentwicklung in ostdeutschen Großstädten 1990–2017. (Quelle: Statistische Landesämter)
Signal für die Versorgung mit modernem Wohnraum. Diese Entspannung vollzog sich in den Großstädten allerdings zunehmend unter dem Eindruck eines drastischen Rückgangs der Einwohner*innenzahlen (Abb. 21.1). Dieser wurde zum einen durch Abwanderung in die westlichen Bundesländer, zum anderen durch eine 1992/1993 einsetzende, k urzzeitig
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boomende und sich bereits 1998 nach dem Wegfall der hohen Steuerabschreibungen wieder deutlich abschwächende Suburbanisierung ausgelöst (Herfert und Schulz 2002). Für die drängenden Instandsetzungen im Altbau waren durch wachsende Konkurrenzangebote und starke Bevölkerungsrückgänge erhebliche Probleme entstanden. Unter den Bedingungen des fehlenden Nachfragedrucks gerieten Gebäudesanierungen zunehmend an den Rand der Rentabilität. Aufgrund der Selektivität der Abwanderungsprozesse fehlten auf den städtischen Wohnungsmärkten zunehmend Nachfrager, die die Instandsetzung des Altbaus hätten rentabel erscheinen lassen können – denn an der Suburbanisierung und der Abwanderung in westdeutsche Regionen waren ökonomisch gesicherte Haushalte überdurchschnittlich beteiligt (Friedrichs und Häußermann 2001, S. 324 f.). Die skizzierten Tendenzen auf dem Wohnungsmarkt wurden von differenzierteren Entwicklungen auf regionaler und lokaler Ebene überlagert. Die unterschiedliche Verfügbarkeit von Wohnungen auf einzelnen regionalen Teilmärkten war dabei ein wichtiger Faktor. So zeichneten sich zum Beispiel in den Altbaugebieten in Dresden und Chemnitz tendenziell früher Stabilisierungen ab, da gründerzeitliche Wohnungen in diesen beiden Städten nur im begrenzten Umfang zur Auswahl stehen. Das Ausmaß und die Qualität der Suburbanisierung variierten in ostdeutschen Stadtregionen je nach Art und Intensität der Bautätigkeiten. So verlief die Suburbanisierungswelle der 1990er-Jahre in der Region Leipzig nicht zuletzt vor dem Hintergrund besonders hoher Wachstumserwartungen und der damit verbundenen Investitionen in den Wohnungsneubau besonders dynamisch. Hier führte sie zu einer besonders ausgeprägten Schwächung der innerstädtischen Quartiere. Zusammengenommen hatte Leipzig im Zeitraum zwischen 1988 und 1999 mehr als 100.000 Einwohner*innen durch Suburbanisierung und Abwanderung in andere Regionen verloren (Brogiato 2015). Eine Entwicklung, die prototypisch für die Städte in den neuen Bundesländern war, wie ein Blick auf die demographischen Entwicklungen in den 1990er-Jahren zeigt (Abb. 21.1).
21.2.2 Mietermärkte zwischen Reurbanisierung und Schrumpfung: Die späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre Gegen Ende der 1990er-Jahre führten die Angebotsüberhänge, die sinkenden Mietpreise und die großen Wahlmöglichkeiten auf den Wohnungsmärkten zu einer innerstädtischen Umzugsintensität, die in westdeutschen Städten in diesem Ausmaß unbekannt war. Unter dem Eindruck der starken gesamtregionalen Bevölkerungsverluste wurde häufig übersehen, dass es zu ausgeprägten Differenzierungen innerhalb von Städten und Stadtregionen gekommen war. Stark vereinfacht war die Lage auf den städtischen Wohnungsmärkten Ende der 1990er-Jahre durch eine ausgeprägte Konkurrenz zwischen dem Teilmarkt modernisierter innerstädtischer Altbauwohnungen, Wohnungen in DDR-Plattenbauweise der 1970er- und 1980er-Jahre sowie den nach 1991 besonders im Umland entstandenen Eigenheimen und Neubauwohnungen gekennzeichnet. Hier verliefen
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Konzentrations- und Dekonzentrationsprozesse, also Schrumpfung und Wachstum in der Regel parallel (Wiest 2005). Da lokale Einwohnerzuwächse in dieser Phase in stärkerem Maß an innerregionale Wanderungsprozesse gebunden waren, zogen sie in der Regel an anderer Stelle innerhalb des Stadtraumes Abwanderung, Entleerung und Funktionsverluste nach sich. So konnten bis zur Jahrtausendwende einige innerstädtische Bereiche wieder Zuwanderungen verzeichnen. Diese positive Entwicklung beruhte vor allem auf regionalen Wanderungsgewinnen bei den jungen Bevölkerungsgruppen und der rückläufigen Stadt-Umland-Wanderung, die die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung zunehmend ausgleichen konnte (Herfert 2007). Waren die citynahen Altbaugebiete bis etwa 1997 die großen Verlierer der dynamischen Bevölkerungsumverteilungen mit erheblichen Einwohnerverlusten und wachsenden Leerstandsquoten gewesen, konnten einige von ihnen wieder Zuwächse verzeichnen. Somit zeichnete sich Anfang der 2000er-Jahre ein Trend zur Reurbanisierung ab (Wiest 2005). Sogar in kleineren Großstädten wie Halle, Chemnitz und Magdeburg war trotz anhaltender gesamtstädtischer Einwohnerverluste in diesem Zeitraum die Herausbildung kleinräumiger Wachstumsinseln identifizierbar, allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau als in Leipzig und Dresden. Diese Wachstumsinseln konzentrierten sich auf die zentrumsnahen Altbauquartiere, vor allem, wenn sie durch hochwertige bauliche Strukturen gekennzeichnet waren, sowie auf Stadtteile, in denen sich Hochschuleinrichtungen befinden.2 In Quartieren mit einfacherer Altbausubstanz, in ungünstigeren Lagen, mit einem hohen Anteil an altindustriellen Anlagen bzw. fehlender Nähe zu Grünflächen war in dieser Phase weiterhin eine stagnierende bzw. negative Bevölkerungsentwicklung prägend. In den Großwohnsiedlungen aus den 1970er- und 1980er-Jahren dominierten Bevölkerungsverluste, die mit massiven Leerständen einhergingen, auch wenn sich verschiedene Entwicklungstypen differenzieren lassen (Kap. 23; Grunze 2016, S. 67 f.). Im Zuge der skizzierten dramatischen Entwicklungen hat letztendlich ein stadtentwicklungspolitischer Paradigmenwechsel stattgefunden, der sich im Bundesprogramm „Stadtumbau Ost“ niederschlug (u. a. Göschel 2003). Unter den Schlagworten „schrumpfende“ und „perforierte“ Stadt wurden Strategien der Mittelbündelung entwickelt, um die durch Überangebote und Mietpreisverfall auf den Wohnungsmärkten entstandenen Probleme zu lösen. Diese hatten sich in Unternutzung und Rentabilitätsverlusten niedergeschlagen sowie in der Auflösung jener urbanen Dichtestrukturen, die erforderlich sind, um eine infrastrukturelle Mindestauslastung in Stadträumen sicherzustellen. Konzepte im Umgang mit Einwohnerverlusten waren besonders im Fall der Großwohnsiedlungen mit Rückbau- und Abrissnahmen gleichzusetzen, die gemeinsam mit kommunalen Wohnungsmarktakteuren und den großen Genossenschaften ausgehandelt wurden.
2In
Halle waren dies beispielsweise Giebichenstein, das Paulusviertel sowie die Innenstadt, in Chemnitz allen voran die Stadtteile am Kaßberg und Schloßchemnitz.
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Im Altbaubestand wurden neben Abrissmaßnahmen kleinteiligere und unkonventionellere Strategien realisiert, insbesondere um denkmalgeschützte Gebäude zu erhalten. Mit neuen Nutzungskonzepten wie Selbstnutzer- und Kollektivhausprojekten, Ausbauhäusern und sogenannten Wächterhäusern3 entwickelte sich die Stadt Leipzig zu einem Vorreiter im kreativen Umgang mit Schrumpfungsprozessen. Über Gestattungsvereinbarungen geregelte Zwischennutzungen zielten darauf ab, städtebauliche Strukturen zu erhalten und das Überangebot im Sinn positiver Freiräume zu nutzen und zu bespielen. Der Stadt gelang es letztendlich sogar, die Situation positiv im Sinn des Mottos „Leipziger Freiheit“ zu vermarkten (kritisch hierzu Kap. 27). Die sich ab etwa 2010 jährlich verstärkende Zuwanderung in die Stadt, die nicht zuletzt von jungen Alternativen und Kreativen auf der Suche nach Freiräumen getragen wurde, lässt sich auch als Ergebnis einer positiven Reinterpretation von Schrumpfungsprozessen durch Stadtpolitik und -marketing deuten. Abb. 21.1 lässt erkennen, dass es ab 2010 für alle ostdeutschen Großstädte zu einer Stabilisierung bzw. leichten Zuwächsen in den Einwohnerentwicklungen gekommen ist. Eine Trendumkehr hin zum Zuwanderungsmagneten ist allerdings abgesehen von Berlin nur Leipzig und Dresden sowie Jena und Potsdam gelungen. Die beiden sächsischen Metropolen lassen diesbezüglich auch die meisten westdeutschen Großstädte ähnlicher Größe hinter sich.
21.2.3 Angebotsverknappung, Segregation, Gentrifizierung? Diskursverschiebungen in den 2010er-Jahren Vor dem Hintergrund der skizzierten Wohnungsüberangebote, niedrigen Miet- und Kaufpreise sowie Leerstände erschien es lange Zeit fragwürdig, den Begriff Gentrification auf die Situation in den ostdeutschen Kommunen zu übertragen (Bernt und Holm 2002). Eine nachfragebedingte Verdrängung eingesessener Bewohner*innen durch Haushalte mit höheren Einkommen und unter dem Druck von Investoren erschien hinsichtlich der vorherrschenden Arbeitsmarkt- und Beschäftigtenstrukturen lange eher unwahrscheinlich. Die umfangreichen indirekten und direkten staatlichen Subventionen zur Ankurbelung der Modernisierungs- und Sanierungstätigkeit in den 1990er-Jahren hatten dazu geführt, dass sich Investitionen zunächst dekonzentriert über die Stadtgebiete verteilten – dies widersprach dem klassischen Bild einer Gentrifizierung im Sinn eines auf spezifische Nachbarschaften konzentrierten Prozesses (ebd., S. 195).
3Die
Idee der Wächterhäuser und -läden zielt darauf ab, funktional und demographisch geschwächte Gebiete niedrigschwellig zu beleben. Eigentümer*innen überlassen ihre Objekte für wenig Geld an sogenannte „Wächter“, die sie durch niedrigschwellige Eigenleistung in einen nutzbaren Zustand versetzen. Für Eigentümer*innen entfallen die laufenden Kosten. Die Projekte werden durch die Stadt Leipzig unterstützt (Haushalten e. V. 2007).
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Dennoch ließen sich bereits relativ früh, auch unter Schrumpfungsbedingungen, qualitative Umwälzungen in den bevorzugteren innerstädtischen Wohnlagen erkennen. Diese spiegelten sich wider in der sozialen Zusammensetzung der ansässigen und zuziehenden Bevölkerung, dem vorhandenen kulturellen und infrastrukturellen Angebot und dem Image, das einzelnen Quartieren zugeschrieben wurde (Wiest und Hill 2004). Um diese Aufwertungstendenzen in den Städten der neuen Bundesländer, bei denen Verdrängungsaspekte in der Regel zunächst völlig fehlten, zu analysieren und zu beschreiben, wurde auf Umschreibungen oder einschränkende Begriffszusätze zurückgegriffen wie „sanfte“, „gebremste“ oder „gespaltene“ Gentrifizierung (Harth et al. 1996; Wiest und Hill 2004; Wiest und Zischner 2006; Kap. 24). Darüber hinaus wurde der Einfluss der Stadtentwicklungspolitik auf die Inwertsetzung von innenstadtnahen Stadträumen thematisiert. Denn die wechselseitigen Effekte zwischen einer neuen Nachfrage nach innerstädtischem Wohnraum und kommunalen Reurbanisierungsstrategien im Rahmen des Stadtumbaus Ost konzentrierten sich zunächst auf kleinere Wachstumsinseln (Wiest 2005; s. auch Kap. 25). Spätestens mit dem ab 2010 erkennbaren Richtungswechsel hin zu Stabilisierung bzw. gesamtstädtischem demografischem Wachstum ist eine Verschiebung sowohl im planungspolitischen als auch im medialen Diskurs erkennbar. Die Auseinandersetzung mit Niedergang und Funktionsverlusten ist – vor allem in den größeren Städten Leipzig und Dresden – zunehmend der Sorge um den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum und den Verlust von Freiräumen gewichen. So wird das langersehnte Stadtwachstum auch kritisch gesehen. Die Auseinandersetzung mit der preistreibenden Ökonomisierung des Wohnens (Abschn. 21.3) hat dementsprechend besonders in den Städten mit enger werdenden Wohnungsmärkten sowie einem hohen Anteil an studentischer Wohnbevölkerung wie Leipzig, Jena und Dresden an Brisanz gewonnen (Schmitt 2014; Netzwerk Leipzig – Stadt für Alle 2012). Nicht zuletzt entstehen mit den zum Teil drastischen Änderungen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage völlig neue Anforderungen an die wohnungsmarktpolitische Steuerung. So haben die jahrelangen Wohnungsüberangebote unter anderem die Neuausweisungen von Wohnbauland zum Erliegen gebracht. Fehlender Baugrund gilt allgemein als eine der Hauptursachen für steigende Mieten. Da Genehmigungsverfahren und die Aufstellung von Bebauungsplänen als stark regulierte Verfahren sehr zeitaufwendig sind, zeichnet sich in den wachsenden Großstädten derzeit eine mangelnde Verfügbarkeit von Wohnbauland ab (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017). Dementsprechend ungünstig stellt sich das Verhältnis von Baufertigstellungen und Einwohnerwachstum insbesondere in Dresden und Leipzig dar (Fritzsche und Vandrei 2018; Kap. 28). Perspektivverschiebungen in den kommunalen Wohnungspolitiken zeigen sich außerdem in einem neuen Interesse an wohnungspolitischen Regulierungsstrategien wie Milieuschutzsatzungen, Kappungsgrenzen für Mieterhöhungen nach Modernisierungsmaßnahmen oder Ausweitung der öffentlichen Wohnungsbauförderung. So plant die Leipziger Stadtverwaltung unter dem Eindruck des Bevölkerungsbooms und wachsender Spekulationsinteressen für jene Stadträume, die unter besonderem
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Verwertungsdruck stehen, Voruntersuchungen zum Einsatz von Sozialen Erhaltungssatzungen (Stadt Leipzig 2018). Neben dem Einfluss auf bauliche Maßnahmen zur Verhinderung von modernisierungsbedingten Verdrängungen, kommt im Geltungsbereich der sozialen Erhaltungssatzung dem Vorkaufsrecht der Kommune eine zentrale Bedeutung zu. Dieser Aspekt verweist nicht zuletzt auf aktuelle Debatten darüber, wem Grund, Boden und Immobilien in ostdeutschen Städten gehören und welche Auswirkungen sich daraus auf Zugänge zu Wohnungsteilmärkten und auf die Stadtentwicklung ergeben.
21.3 Wem gehören die ostdeutschen Städte? Persistente Strukturunterschiede zwischen Ost und West Insbesondere seit den 1990er-Jahren haben Globalisierungsprozesse einer allgemeinen Ökonomisierung und Vermarktlichung der Wohnversorgung Vorschub geleistet. Diese Prozesse sind, stark verkürzt, auf den enormen Bedeutungszuwachs im renditeorientierten Handel mit Wohnraum als Kapitalanlage zurückzuführen (Heeg 2017). Verschiebungen in den Eigentümerstrukturen in Richtung Internationalisierung und Professionalisierung steht der relative Bedeutungsverlust der kommunalen Wohnungsbestände gegenüber. In den ostdeutschen Städten wurden diese Tendenzen durch die spezifischen Transformationsbedingungen der Wiedervereinigung sowie die allgemeinen Deregulierungstendenzen der bundesdeutschen Wohnungspolitik überlagert und verstärkt. So veräußerten im Laufe der 1990er-Jahre viele Alteigentümer*innen ihre Immobilien an auswärtige Immobilienverwerter*innen. Mit der Zahl der Besitzerwechsel nimmt der ökomische Verwertungsdruck zu und begünstigt eine stärker renditeorientierte Entwicklung auf den Wohnungsmärkten ostdeutscher Städte (Glatter und Killisch 2004, S. 46). Da Wohnungsbestände in kommunalem bzw. genossenschaftlichem Besitz sowie selbstgenutztes Wohneigentum einer Renditeorientierung weniger direkt unterliegen, können diese Teilmärkte eine wichtige stabilisierende Funktion auf die lokale Wohnungsmarktsituation ausüben. Sie sollen daher im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen.
21.3.1 Selbstgenutztes Wohneigentum Die Wohneigentumsquote in den neuen Bundesländern liegt mit 31,4 % im Jahr 2018 nach wie vor deutlich unter dem westdeutschen Niveau (44,9 %). Bei den Kommunen über 100.000 Einwohner*innen zeigen sich diese Unterschiede noch deutlicher (Abb. 21.2). Der Anteil an Wohnungen bzw. Gebäuden, die von den Eigentümer*innen selbst bewohnt werden, liegt in ostdeutschen Großstädten kaum über 20 %. Das Schlusslicht bildet dabei die Stadt Leipzig. Die Ursachen für diese niedrigen Wohneigentümerquoten liegen zu einem Teil in den Transformationen auf dem Immobilienmarkt nach
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Abb. 21.2 Kommunale Wohnungsbestände und selbstgenutztes Wohneigentum. (Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014)
der deutschen Einheit begründet. Diese Prozesse haben Strukturen begünstigt, in denen Haus- und Grundbesitzer*innen weniger vor Ort verankert sind. Zugleich haben sie Vermögensungleichheiten zwischen West- und Ostdeutschland langfristig festgeschrieben (Häußermann 1996, S. 40). So gründete die Neuordnung der städtischen Besitzverhältnisse auf einem umfangreichen Vermögenstransfer, in dem Anlegergesellschaften und Privatpersonen aus den westlichen Bundesländern eine zentrale Rolle spielten (ebd.). Beim Altbau vollzog sich dieser Prozess durch Rückübertragungen an Alteigentümer (Restitutionen)
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und Aufkäufe durch Investor*innen und private Einzelpersonen. Die Suburbanisierung wurde im Unterschied zur westdeutschen Stadt-Umland-Entwicklung nicht von selbstnutzenden Eigentümer*innen, sondern vorrangig von institutionellen Anleger*innen, von Wohnungsbauunternehmen und Immobiliengesellschaften vorangetrieben (ebd.). Die zum Zweck der Kapitalverwertung und Steuereinsparung zahlreich errichteten „Wohnparks“ waren zum einen überwiegend zur Vermietung vorgesehen (Hinrichs 1999, S. 17). Zum anderen waren die Angebote nur für einen kleinen Teil der „ostdeutschen“ Haushalte erschwinglich (ebd.). Hervorzuheben ist, dass die Disparitäten in den Eigentümerstrukturen innerhalb Deutschlands nicht zuletzt in Kombination mit dem Erbschaftsgeschehen in besonderer Weise zu einer Verfestigung und Persistenz sozialräumlicher Ungleichheitsstrukturen beitragen. Diese gewinnen noch an Brisanz, wenn man die ausgeprägten regionalen Preisunterschiede auf dem Immobilienmarkt berücksichtigt (Kolb 2013). So sind die Boden- und Immobilienpreise innerhalb Deutschlands nach wie vor durch ein starkes Ungleichgewicht geprägt, mit höchsten Preisen in den südlichen Bundesländern und niedrigsten Preisen in den östlichen Bundesländern (AOG ZGG 2017). Das bedeutet, dass der Wert des privaten Immobilienvermögens in Ostdeutschland deutlich unter westdeutschem Niveau liegt. In der urbanen Schrumpfungsphase standen oft ausgeprägte sozioökonomische Unsicherheiten sowie der erhebliche Sanierungsbedarf in Verbindung mit niedrigen Mietpreisen der individuellen Entscheidung für den Erwerb der eigenen Wohnung oder eines Eigenheims entgegen. Denn während Wohnraumknappheit und hohe Immobilienpreise in Großstädten wie München und Frankfurt am Main für mittlere Einkommensgruppen unüberwindbare Hürden für den Erwerb von Wohneigentum darstellen können, ließ der Verfall der Immobilienpreise unter Abwanderungsbedingungen den Immobilienerwerb in ostdeutschen Städten häufig als eine riskante Strategie erscheinen. Gleichzeitig gilt selbstgenutztes Wohneigentum – gerade unter den Bedingungen schwacher Nachfrage – als ein wichtiges Potenzial für die Stadtentwicklung und für die Stabilisierung von Quartieren (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V. 2013). Vor diesem Hintergrund wurden in einigen Kommunen Initiativen gegründet, die die Bildung von selbstgenutztem Wohneigentum unterstützen. Gegenstand war hier nicht nur die Sicherung der Altbausubstanz, sondern die Bereitstellung von Neubauprojekten auf innerstädtischen Brachflächen. Mit der Schaffung von Einfamilienhaus- bzw. Reihenhausqualitäten in innerstädtischen Lagen sollten insbesondere einkommensstärkere Familien in der Stadt gehalten werden.
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21.3.2 Kommunale und genossenschaftliche Wohnungsbestände In dem Maß, in dem die für die Wohnungsmärkte der neuen Bundesländer charakteristischen Mietermarktbedingungen in den größeren ostdeutschen Städten an Gültigkeit verlieren, wird das Thema Wohnen für eine zunehmende Anzahl an Haushalten zu einer existenziellen Frage. In diesem Zusammenhang rücken die kommunalen Wohnungsbestände sowie der lange vernachlässigte soziale Wohnungsbau erneut in den Fokus (Kitzmann 2018). Abb. 21.2 zeigt, dass die Großstädte in Deutschland, die über die höchsten Anteile an kommunalen Wohnungen verfügen, in den neuen Ländern liegen. Spitzenreiter ist mit etwa einem Drittel des Bestandes Rostock, gefolgt von Halle und Potsdam. Aber auch am Ende der Skala sind Städte aus den neuen Bundesländern zu finden: In Berlin, Dresden und Jena wurden kommunale Bestände zu einem erheblichen Teil verkauft oder ausgegliedert. Diese Situation spiegelt sich umgekehrt in hohen Anteilen an Wohnungen im Besitz privatwirtschaftlicher Unternehmen wider (Abb. 21.3). Im Fall der Stadt Jena wurde der kommunale Wohnungsbestand in ein Tochterunternehmen der Stadtwerke ausgegliedert, auf das die Kommune als größte Anteilseignerin allerdings weiterhin Zugriff hat. Die Stadt Dresden hat sich noch unter dem Eindruck von Überangeboten und aufgrund der hohen Verschuldung im Jahr 2006 für die Veräußerung ihres gesamten Wohnungsbestandes entschieden (Held 2011). Etwa zehn Jahre später, im Jahr 2017, wurde in Dresden unter deutlich veränderten Marktbedingungen eine neue kommunale Wohnungsbaugesellschaft gegründet. Zielsetzung ist unter anderem die Schaffung von 800 belegungsgebundenen Wohnungen, verteilt auf verschiedene Stadtteile. Mit diesem skizzierten Bedeutungsverlust des kommunalen Wohnsektors gewinnt das genossenschaftliche Wohnmodell als ein mögliches Gegengewicht zur allgemeinen Renditeorientierung auf den städtischen Immobilienmärkten an Bedeutung. In ostdeutschen Städten repräsentieren die großen Bestandsgenossenschaften, die aus den Arbeiterwohngenossenschaften (AWG) sowie den gemeinnützigen sozialistischen Wohnungsbaugenossenschaften (GWG) der DDR hervorgegangen sind, wichtige Akteure. Im Vergleich mit den westlichen Bundesländern kommt ihnen quantitativ eine bedeutendere Rolle hinsichtlich der Wohnungsversorgung zu. So befinden sich in den größeren ostdeutschen Städten bis zu einem Viertel der Wohnungen in genossenschaftlichem Eigentum (Abb. 21.3). Nachdem die Genossenschaften nach der Wiedervereinigung erhebliche Sanierungsaufgaben, die Rückzahlung staatlicher Subventionen sowie die Privatisierung eines Teils ihres Wohnungsbestandes zu bewältigen hatten, waren sie in Folge unter den sich entwickelnden Mietermarktbedingungen besonders schwer von Wohnungsleerständen, Rückbau und Mitgliederschwund betroffen (Wiest et al. 2017). Die aktuelle Verengung auf den großstädtischen Wohnungsmärkten kann für die nach der Wende krisenerprobten Genossenschaften durchaus als eine Chance für eine erneute Stärkung der besonderen Potenziale des kooperativen Wohnens begriffen werden. Hier werden die Genossenschaften als vormals wichtige Partner*innen im Stadtumbauprozess Ost unter den veränderten Rahmenbedingungen zu Partner*innen im sozialen Wohnungsbau.
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Abb. 21.3 Städte mit den höchsten Anteilen genossenschaftlicher Wohnungen in Deutschland (Quelle: Zensus 2011)
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21.4 Fazit: Wohnungsmärkte und sozialräumliche Differenzierung Die Wohnungsmärkte in den neuen und alten Bundesländern haben sich 30 Jahre nach der Wiedervereinigung vor allem in dem Sinn angenähert, dass die regionalen Disparitäten zwischen größeren, prosperierenden Zentren und mittleren und kleineren Kommunen in schrumpfenden Räumen deutlich zugenommen haben (Henger und Voigtländer 2015). Diese regionalen Unterschiede finden ihr Pendant auf der innerregionalen und innerstädtischen Ebene. So haben die extrem schwankenden Entwicklungen der Wohnungsnachfrage auf einzelnen Teilmärkten sozialräumliche Polarisierungsprozesse innerhalb der größeren ostdeutschen Stadtregionen begünstigt. Helbig und Jähnen konnten in diesem Zusammenhang nachweisen, dass die Armutssegregation in ostdeutschen Städten zwischen 2005 und 2014 stärker zugenommen hat als in westdeutschen Städten (2018, S. 3). Diese Befunde werden auf das zunehmende Ungleichgewicht zwischen randstädtischen Großwohnsiedlungen und den sanierten Altbaubeständen in den Innenstädten zurückgeführt, wobei die Konzentration von sozialgebundenen Wohnungen in den Großwohnsiedlungen als ein zentraler Faktor zu betrachten ist (zu Großwohnsiedlungen s. Kap. 23). Befördert wurden die unterschiedlichen Entwicklungspfade der einzelnen städtischen Teilmärkte nicht zuletzt durch die extremen Phasen der Stadtentwicklung zwischen Schrumpfung und Wachstum: So hatte die durch die Abwanderung der Bevölkerung bedingte Entspannung der Wohnungsmärkte sozialräumliche Entmischungsprozesse beschleunigt. Diese Tendenzen verstärken sich unter den aktuellen Wachstumsbedingungen durch zunehmende Unterschiede in den Miet- und Kaufpreisen auf einzelnen Teilmärkten. So differenzieren sich die Preisstrukturen zwischen sanierten Altbauwohnungen in günstigen Lagen, den Wohnungen in Großsiedlungen der 1970er- und 1980er-Jahre sowie den derzeit deutlich zunehmenden hochpreisigen Neubauprojekten in den wachsenden ostdeutschen Kommunen zunehmend aus. Insgesamt zeigt sich, dass in den Regionen und Städten der neuen Bundesländer die Disparitäten zwischen Nachfragerund Anbieterbedingungen auf unterschiedlichen Teilmärkten deutlich zugenommen haben. Diese, durch gegenläufige demographische und ökonomische Entwicklungen bedingten Polarisierungen, machen differenzierte und flexible Strategien erforderlich. Eine sozial ausgerichtete wohnungspolitische Steuerung muss dabei nicht zuletzt auch die regional unterschiedlichen Einkommens- und Vermögensstrukturen der Haushalte in den Blick nehmen.
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Vorzeichenwechsel der Stadtentwicklung in Ostdeutschland nach 1989. Sub-/Des-/Reurbanisierung
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Mathias Siedhoff
Zusammenfassung
Die Einwohnerentwicklung ostdeutscher Städte ist komplexer als pauschale Charakterisierungen Ostdeutschlands als Abwanderungsregion nahelegen. Dieser Beitrag verwendet das Konzept der „Migration Turnarounds“, die Veränderung der siedlungsstrukturellen Ausrichtung von Wanderungsströmen, um die demographischen Entwicklungen von ostdeutschen Groß- und Mittelstädten zu erfassen. Es wird gezeigt, wie Wachstum und Schrumpfung von Städten zeitgleich oder in kurzer Zeitfolge aufgetreten sind. Diese Befunde werden in die stadtgeographische Diskussion um Suburbanisierung, Desurbanisierung und Reurbanisierung eingeordnet. Schließlich sollten diese Prozesse wegen der differenzierten Entwicklung ostdeutscher Städte nicht als allgemeine Trends verstanden werden.
22.1 Einleitung Die Transformationsprozesse und Strukturbrüche nach dem Mauerfall bedeuteten für die Entwicklungen von ostdeutschen Städten, Siedlungen und Siedlungsstrukturen neue Rahmenbedingungen vor allem in politischer, ökonomischer, rechtlicher und demographischer Hinsicht (vgl. Hannemann et al. 2002, S. 7). Wanderungsbewegungen – insbesondere Binnenwanderungen – können dabei gleichermaßen als Komponente, als Bedingung, als Ergebnis und als Indikator regionaler und städtischer Entwicklungen gesehen werden. Die siedlungsstrukturelle Charakteristik ostdeutscher Binnenwanderungsmuster hat M. Siedhoff (*) Institut für Geographie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Becker und M. Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60901-9_22
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sich in den 30 Jahren seit der Öffnung der Mauer bereits dreimal grundlegend geändert: einmal in den frühen 1990er-Jahren, einmal um die Jahrtausendwende und ein drittes Mal in den 2010er-Jahren. Diese Migration Turnarounds1 – Umkehrungen der siedlungsstrukturellen Ausrichtung der Wanderungen – bedeute(te)n für die Entwicklung von Städten und Stadtregionen wiederholte Vorzeichenwechsel. Mit Bezug zu den Wanderungsmustern und ihren Änderungen werden im Folgenden unterschiedliche Linien der Entwicklung von Städten und Stadtregionen in Ostdeutschland skizziert, die teilweise einander im Zeitverlauf abgelöst haben, teilweise auch zeitgleich Hand in Hand gingen bzw. gehen: Suburbanisierung in den 1990er-Jahren, Reurbanisierung ab den frühen 2000er-Jahren und jüngst Anzeichen von erneuter Suburbanisierung; alle drei Entwicklungslinien sind gerahmt von Prozessen der Stadtschrumpfung.
22.2 Erster Migration Turnaround: Suburbanisierung und Desurbanisierung Vor der Wende war ein Großteil der Wohnortwechsel in der DDR auf größere Städte ausgerichtet. Hierfür können ein vielfältigeres Arbeitsplatzangebot sowie bessere Wohnund Versorgungsbedingungen in den Städten als entscheidend angesehen werden. Staatliche Investitionen in Wohnungsbau und Versorgungsinfrastruktur wurden vorzugsweise räumlich konzentriert und in Städte und größere Gemeinden gelenkt. Bei insgesamt niedriger Umzugsmobilität waren in erster Linie große Städte Wanderungsgewinner, kleine Landgemeinden und Kleinstädte – in den 1980er-Jahren auch zunehmend Mittelstädte – Wanderungsverlierer. Prozesse der Suburbanisierung, wie sie in Westdeutschland bereits seit Jahrzehnten abliefen, gab es in der DDR kaum (Wendt 1993, S. 529 ff.; Abb. 22.1). Nach der Wende erfolgte ein erster Migration Turnaround, der ein bis dahin vorwiegend zentripetales Wanderungsmuster durch ein zentrifugales ablöste: Die siedlungsstrukturelle Kategorie „Kernstädte“ erfuhr zunehmende Wanderungsverluste, während die (hoch)verdichteten und ländlichen Kreise insbesondere in verdichteten Regionen im Gegensatz zu zuvor steigende Wanderungsgewinne erlebten (Abb. 22.2). Diese Neuausrichtung der Wanderungen war der Beginn einer zeitweilig geradezu stürmischen Wohnsuburbanisierung. Sie stellte einen maßgeblichen stadtregionalen Entwicklungsstrang in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren dar, schwächte sich aber bereits
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Begriff „Migration Turnaround“ tauchte in wissenschaftlichen Diskussionen der späten 1970er-Jahren in den USA auf. Er diente zur Bezeichnung einer Umkehr der siedlungsstrukturellen Ausrichtung von Binnenwanderungsströmen ab den späten 1960erJahren, in deren Folge statt der „metropolitan areas“ nun zunehmend „nonmetropolitan areas“ Wanderungsgewinne erfuhren (s. z. B. Chalmers und Greenwood 1977).
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Abb. 22.1 Summe der Wanderungssalden nach Gemeindegrößengruppen in der ehemaligen DDR, 1971 bis 1989. (Quelle: Wendt 1993, S. 533)
Abb. 22.2 Erster Migration Turnaround: Binnenwanderungssalden je 1000 Einwohner*innen in Kreistypengruppen Ostdeutschlands 1991 bis 1997. (Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten des Bundesinstituts für Bau-, Städt- und Raumforschung BBSR). Anmerkung: Die Kategorisierung der Kreistypen in dieser Abb. entstammt einer nicht mehr aktuellen Typisierung des BBSR. Sie ist nicht identisch mit der aktuellen Kreistypisierung (Abb. 22.4), spiegelt aber wie jene auch das siedlungsstrukturelle Gefälle zwischen (Groß-)Städten an einem und (gering besiedelten) ländlichen Räumen am anderen Ende der Skala wider
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in der zweiten Hälfte jenes Jahrzehnts wieder ab. Die Suburbanisierung erfolgte nicht nur im Umland von Großstädten, sondern auch von Mittel- und teilweise sogar von Kleinstädten (Aring und Herfert 2001, S. 48). Ein Teil dieses Prozesses wird – nachfragebezogen – als nachholende Suburbanisierung interpretiert. Damit ist nicht das Nachzeichnen von westdeutschen Verlaufsmustern der Suburbanisierung gemeint, sondern eine Entwicklung, bei der in „Folge des Nachfragestaus der ostdeutschen Bevölkerung nach besseren Wohnbedingungen“ (Herfert 2001, S. 116) ein „bedeutendes Suburbanisierungspotenzial“ (Herfert 1994, S. 12) in der Bevölkerung entstanden war, das nach der Wende – teilweise mit dem Ziel der Wohneigentumsbildung – ins Stadtumland zog. Ein bedeutender Teil der Suburbanisierung der 1990er-Jahre wird allerdings – angebotsbezogen – als „künstlich induzierte Sonderform der Suburbanisierung“ (Aring und Herfert 2001, S. 48; eig. Hervorhebung) dem Umstand zugeschrieben, dass nach der Wende durch politische Förderung ein Überangebot an neuem Wohnraum im Umland der Städte entstand (Wießner 2002, S. 42 ff.). Nach anfänglicher Wohnungsknappheit bei vorerst zögerlicher Neubau- und Sanierungstätigkeit führten finanzielle Anreize, insbesondere hohe steuerliche Sonderabschreibungsmöglichkeiten für Mietwohnungsinvestitionen, zu einem regelrechten Neubauboom im zweiten Drittel der 1990er-Jahre (1997 wurden rund zehnmal so viele Wohnungen fertiggestellt wie 1991; Henger und Voigtländer 2015, S. 5 f.). Ein großer Teil der (vorwiegend von westdeutschen Investor*innen geleisteten) Bautätigkeit wurde vorzugsweise im Stadtumland „auf der grünen Wiese“ verwirklicht. Hinsichtlich der Verfügbarkeit von Bauland und des Genehmigungs- und Kostenaufwands waren die Bedingungen für Investor*innen hier in der Regel günstiger als in den Innenstädten, in denen nicht zuletzt zu klärende Restitutionsansprüche Investitionstätigkeiten behinderten (Reimann 2000, S. 40 ff.). Suburbane Räume eilten somit gewissermaßen den (Innen-)Städten in der Bereitstellung von Wohnraum mit zeitgemäßer Qualität voraus. Sie zogen verstärkt Stadtbewohner*innen an, denen adäquate innerstädtische Alternativen an Wohnungen mit moderner Ausstattung fehlten. Erst mit dem Auslaufen der Abschreibungsvergünstigungen in den späteren 1990er-Jahren erfolgte eine stärkere Ausrichtung der Wohnungspolitik auf die Innenentwicklung der Städte, die sich vor allem in verstärkter Sanierungstätigkeit im dortigen Wohnungsbestand niederschlug. Die starke Konzentration des Wohnungsneubaus auf Mietwohnungen hatte eine dichotome Struktur der Suburbanisierung zur Folge (Aring und Herfert 2001, S. 52 f.): Einerseits entstanden im suburbanen Raum „klassische“ Eigenheim-Einfamilienhaussiedlungen mit soziodemographisch relativ homogenen Bewohner*innenstrukturen (überwiegend Familien mit Kindern und höherem sozialem Status). Andererseits wurden – insbesondere im Umland höher verdichteter Stadtregionen – mehrgeschossige Mietwohnsiedlungen errichtet, oft eintönig gestaltet und teilweise mit ungünstigen Anschlüssen an Versorgungsinfrastrukturen, mit alters- und Lebensform-heterogenen Bewohner*innenschaften. Bei insgesamt abnehmender Bevölkerungszahl in Ostdeutschland und mit zunehmender Innenentwicklung der Städte geriet dieses Wohnungsmarktsegment, das Ausdruck einer „überdimensionierten Neubauförderung“ (Wießner 2004, S. 13) war, teilweise bereits nach kurzer Zeit wegen abnehmender Nachfrage unter Druck.
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Neben der Suburbanisierung wurde in den 1990er-Jahren die Schrumpfung zum zweiten Trend der Entwicklung ostdeutscher Städte und Stadtregionen. Der Begriff „Stadtschrumpfung“ bezieht sich meist auf abnehmende Bevölkerungszahlen, teilweise zusätzlich auch auf Aspekte wirtschaftlicher Entwicklung (z. B. die Abnahme von Arbeitsplätzen). In einem umfassenderen Sinne kann darunter ein mehrdimensionaler Prozess verstanden werden, der durch die wechselseitige Beeinflussung von demographischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und physisch-materiellen Gegebenheiten hervorgerufen wird (Killisch und Siedhoff 2005, S. 60). Stadtschrumpfung in Ostdeutschland unterscheidet sich in qualitativer und in quantitativer Hinsicht von dem auch in Westdeutschland bekannten Schrumpfungsphänomen (Glock 2002, S. 4): Während in Westdeutschland deutliche Schrumpfungen vielfach mit einem wirtschaftlichen Strukturwandel verknüpft waren, waren sie in Ostdeutschland Ausdruck eines fundamentalen Strukturbruchs (s. unten übernächster Absatz); und im Gegensatz zu Westdeutschland war Stadtschrumpfung in Ostdeutschland nach der Wende ein fast „flächendeckendes“ Phänomen (siehe Abb. 22.3). Sämtliche kreisfreien Städte Ostdeutschlands verloren in den 1990er-Jahren Einwohner*innen; vier Fünftel der Mittel- und Großstädte ab 20.000 Einwohner*innen hatten in diesem Zeitraum Verluste (teilweise trotz z. T. umfassender Eingemeindungen; auch die Zuwächse im letzten Fünftel sind vielfach im Zusammenhang mit Eingemeindungen zu sehen). Die meisten Städte verzeichneten Rückgänge um mehr als 10 %, mit Spitzenwerten deutlich über 20 %, wie etwa Weißwasser und Hoyerswerda (Daten des Statistischen Bundesamtes; vgl. Köppen 2005, S. 32). Diese Bevölkerungsabnahmen in vielen Städten sind das Ergebnis von den umfangreichen Stadt-Umland-Wanderungen in den 1990er-Jahren, die im Zusammenhang mit den bereits angesprochenen, in hohem Maße politisch beeinflussten, disparaten Entwicklungen der Wohnraumversorgung zu sehen sind; von der starken Abwanderung vornehmlich junger Menschen nach Westdeutschland: Zwischen 1989 und 2000 wanderten per Saldo über 1,3 Mio. Menschen von Ost- nach Westdeutschland (Daten des Statistischen Bundesamtes); und von einem vorübergehenden, aber massiven Geburtenrückgang in Ostdeutschland nach der Wende (Kap. 16). Hintergrund dieser demographischen Entwicklungen waren tiefgreifende, strukturbruchartige Veränderungen wie starker Arbeitsplatzabbau in Landwirtschaft und Industrie sowie Funktionsverluste von Städten durch den Abbau administrativer Funktionen. Diese Änderungen können als Deökonomisierung, als Erosion, nicht nur als Transformation der ökonomischen Basis aufgefasst werden (Hannemann 2003, S. 19). Das Zusammengehen von Deökonomisierung mit umfangreichen Verlagerungen von Bevölkerung und auch von tertiären Funktionen (wie Einzelhandel) in das Umland bei gleichzeitiger Schrumpfung der Stadtregionen insgesamt kann als Desurbanisierung interpretiert werden (ebd., S. 21). Sie ging aufgrund selektiv wirkender Wanderungen auch mit erheblichen sozialräumlichen Neustrukturierungen der Bevölkerung einher (ebd.).
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Abb. 22.3 Bevölkerungsentwicklung 1990–2017 in ostdeutschen Städten mit mehr als 40.000 Einwohner*innen im Jahr 1990 (ohne Bereinigung von Gebietsstandänderungen). (Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten des Statistischen Bundesamtes). Anmerkung: Die Informationen für das Jahr 2012 sind geprägt von Statistikbereinigungen infolge der Ergebnisse des Zensus von 2011; die Städte sind sortiert nach der Bevölkerungszahl 1990
Für die betroffenen Städte, deren Bevölkerung und die relevanten Akteure stellen Stadtschrumpfungen ernsthafte Herausforderungen dar (Killisch und Siedhoff 2005). Neben den Auswirkungen auf Stadtstruktur, Stadtökonomie und kommunale Finanzen sowie
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sozialräumlichen Implikationen werden vielfach die Konsequenzen für Wohnungsmärkte thematisiert. Bevölkerungsrückgänge ziehen Wohnungsleerstände und damit wachsende Wohnungsmarktungleichgewichte nach sich. Sie führen zur materiellen Abwertung von Wohnungsbeständen, bei räumlich konzentriertem Auftreten zu symbolischer Abwertung: zu verminderter Bereitschaft zu Investitionen in Gebäude, Wohnumfeld und haushaltsbezogene Dienstleistungen und damit zur Minderung der Wohnumfeldqualität sowie des Images eines Stadtgebiets; dadurch können weitere Fortzüge sowie sinkende Zuzugsbereitschaft induziert werden (vgl. Kraut (1999, S. 1143 ff.); Kap. 21). In Ostdeutschland nahm die Zahl der Wohnungsleerstände bis nach der Jahrtausendwende zu – obwohl infolge sinkender Haushaltsgrößen die Zahl der privaten Haushalte um rd. 300.000 anstieg (Daten des Statistischen Bundesamtes). Um das Jahr 2003 standen in Ostdeutschland laut dem GdW Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen (2003, S. 102 f.) rd. 1,3 Mio. Wohnungen bzw. rd. 18 % des Wohnungsbestandes leer, wobei die Leerstandsquoten im Vergleich von Städten, Stadtteilen und Quartieren erheblich variierten. Ein nicht unerheblicher Teil des Leerstands wurde in Form vernachlässigter oder unbewohnbarer (meist gründerzeitlicher) Wohnungen aus der DDR-Zeit übernommen (Reichart 2001, S. 44 ff.); den Leerstand mehrend kamen der umfangreiche Wohnungsneubau insbesondere im suburbanen Raum sowie – ab den späten 1990er-Jahren – eine zunehmende Sanierungstätigkeit in innerstädtischen Lagen hinzu. Der im Zuge des 2002 gestarteten Programms „Stadtumbau Ost“ geförderte Rückbau (d. h. Abriss) von weit über 300.000 Wohnungen (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung und Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, S. 111) lässt entsprechend bedeutende Fehlallokationen bei der Förderung der Schaffung von Wohnraum in den 1990er-Jahren vermuten. Dies betrifft vor allem das Segment mehrgeschossiger Mietwohnungsgebäude und -siedlungen: Auf der einen Seite wurden entsprechende Wohngebäude im suburbanen Raum neu geschaffen, auf der anderen Seite wurden wenige Jahre später in Städten – teilweise sanierte – Wohngebäude wegen mangelnder Nachfrage abgerissen (Kap. 23).
22.3 Zweiter Migration Turnaround: Reurbanisierung im Schrumpfungskontext Um die Jahrtausendwende fand ein zweiter Migration Turnaround statt: Stadt-UmlandWanderungen ließen deutlich nach, die Wanderungsgewinne der Umlandkreise nahmen ab und gingen in Wanderungsverluste über. Die kreisfreien Städte hingegen erlebten zunehmende Zuzüge, in deren Folge bisherige Wanderungsverluste von Wanderungsgewinnen abgelöst wurden (siehe Abb. 22.4). Damit nahm die zuvor von Suburbanisierung und Stadtschrumpfung geprägte Stadtentwicklung eine neue, meist positiv konnotierte Richtung, die vielfach als Reurbanisierung thematisiert wird. Dieses Phänomen ist nicht auf Ostdeutschland beschränkt; vergleichbare Entwicklungen gibt es
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Abb. 22.4 Zweiter und dritter Migration Turnaround: Binnenwanderungssalden je 1000 Einwohner*innen in den Kreistypen Ostdeutschlands 1995 bis 2015. (Quelle: Eigene Abbildung; Datenquelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung)
in Westdeutschland ebenso wie in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern (z. B. Siedentop 2018, S. 196 f.; Haase 2008). Unter dem Begriff Reurbanisierung werden verschiedene Aspekte und Facetten von Stadtentwicklung diskutiert (Siedentop 2018, S. 383 ff.; Glatter und Siedhoff 2008). Als deren gemeinsamer Nenner kann eine wachsende Bedeutung von „Stadt“ und/ oder „Urbanität“ gesehen werden, die nicht nur demographischer Natur sein muss. In quantitativer Begriffsfassung kann Reurbanisierung als Wiederanwachsen von Städten nach längerer Zeit der Schrumpfung konzeptualisiert werden (Siedentop 2018, S. 385 ff.); andere Autor*innen heben Bevölkerungsveränderungen relativ zum Umland hervor (van den Berg et al. 1982, S. 37). Ein Teil der Großstädte und einige Mittelstädte Ostdeutschlands erlebten in den späten 1990er-Jahren oder im ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre einen Umschwung von Bevölkerungsabnahme zu längerdauernder Bevölkerungszunahme (Abb. 22.3), sodass – bei zumindest relativ abnehmender Bedeutung des jeweiligen Stadtumlandes – von Reurbanisierung im quantitativen Sinne gesprochen werden kann. Reurbanisierungsprozesse können allerdings kaum als ein neuer Leittrend der ostdeutschen Stadtentwicklung konstatiert werden, sondern waren ein eher inselhaftes Phänomen, das „eher kleinräumig wirksam, in einen spezifischen lokalen Kontext eingebettet [ist]“ (Köppen et al. 2007, S. 228); ein großer Teil der ostdeutschen Städte, vor allem Klein- und Mittelstädte, blieb und bleibt davon unberührt.
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Insofern ist Reurbanisierung in Ostdeutschland ein Prozess, der parallel zu weiterhin stattfindenden Schrumpfungs- bzw. Desurbanisierungsprozessen abläuft. In qualitativ orientierten Konzepten von Reurbanisierung stehen Aspekte soziodemographischer Änderungen infolge von Aufwertungsprozessen in der Stadt im Vordergrund. Reurbanisierung wird z. B. verstanden als „ein mehrdimensionaler Prozess der Rekonfiguration baulicher und sozialräumlicher Strukturen …, der mit steigenden Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahlen einhergehen kann, aber nicht muss“ (Siedentop 2018, S. 384), „Prozess der Stabilisierung der inneren Stadt als Wohnstandort unter den Bedingungen des demographischen Wandels, unter ausdrücklicher Berücksichtigung … von qualitativen Veränderungen, die insbesondere auf die Haushaltsstrukturen der neuen Bewohner der inneren Stadt rekurrieren“ (Haase et al. 2006, S. 168), „Entwicklungsprozess …, der mit dauerhafter Wirkung zu einer neuerlichen Bedeutungszunahme von Städten durch eine belebende Nutzung ihrer zentralen Gebiete beiträgt“ (Brake und Herfert 2012, S. 14). Der Blick wird dabei nicht (nur) auf die Stadt als Ganzes gelenkt, sondern auch auf innerstädtische Quartiere, wodurch eine Nähe zu Gentrifizierungsdebatten gegeben ist (z. B. Haase 2008). Studien zu Berlin (Beran et al. 2015), Leipzig (Heinig und Herfert 2012) und Dresden (Haase et al. 2017) liefern empirische Befunde, die die Vermutung vom Bedeutungsgewinn des Städtischen in verschiedenen Quartieren ostdeutscher Großstädte stützen. Als wichtige Aspekte werden zum einen signifikante Änderungen von Bewohner*innen- und Haushaltsstrukturen in untersuchten Quartieren herausgestellt. Sie sind auf den Zuzug vergleichsweise junger Personen zurückzuführen, die in hohem Maße „neuen“, nicht nur gentrifizierungsaffinen Haushaltstypen zuzurechnen sind (z. B. kinderlose Paare, Singles, Wohngemeinschaften, Alleinerziehende). Gleichzeitig wurden bisherige Sozialstrukturen diversifizierend überprägt durch den Zuzug sowohl einkommensstärkerer Personen und Haushalte als auch solcher mit geringeren Einkommen, insbesondere Studierender. Zum anderen wird wiederholt die Favorisierung innenstadtnaher Quartiere durch Zuziehende betont, die „Orientierung auf Zentralität und Urbanität“ (Haase et al. 2010, S. 33), die zu neuer Belebung, Inwertsetzung und Attraktivitätssteigerung entsprechender Quartiere führt – „als begehrter Wohnstandort, als Arena der Kreativwirtschaft und als stadträumliches Milieu für Konsum im weiteren Sinne“ (Brake 2012, S. 282, mit Bezug auf Berlin). Vordergründig können städtische Pull-Faktoren (wie Zentralitätsvorteile, urbane Qualitäten und zunächst relativ günstige Wohnungsmarktbedingungen) im Zusammenspiel mit Push-Faktoren im städtischen Umland und in den Peripherien (wie Versorgungs- und Mobilitätsnachteile) als begünstigend für Reurbanisierungstendenzen angesehen werden (Köppen et al. 2007, S. 225). Die Wiederzunahme städtischer Bevölkerungen oder des Interesses am „Städtischen“ ist gleichwohl schwieriger zu begründen; hier stehen verschiedene Erklärungsansätze teilweise konträr zueinander, die je unterschiedliche potenzielle Einflussfaktoren herausstellen (Siedentop 2018, S. 389 ff.): Orts-/kontextspezifische Einflussfaktoren
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Ortsunspezifische Einflussfaktoren
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Angebotsseitige Gegebenheiten, die attraktive Wohn-, Kultur-, Konsumangebote bedingen
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(veränderte) Standortpräferenzen von (potenziellen) Stadtbewohnern
Bedeutung (veränderter) Beschäftigungsmöglichkeiten in Städten für (potenziell) Zuziehende
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Bedeutung von Konsum- und Kulturangeboten als Standortfaktoren für (potenziell) Zuziehende
Änderungen relevanter Wanderungsmotive
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Kohorten- und Altersstruktureffekte bei relativ unveränderten Wanderungsmotiven
Im Zusammenhang mit den Kohorten- und Altersstruktureffekten kann neben der Änderung der Stärke von Geburtskohorten auch die der Studienanfänger*innen bedeutsam sein: In den vergangenen 20 Jahren ist im Zuge der Bildungsexpansion die Zahl der Studienanfänger*innen stark gestiegen, was zu erhöhten Bildungszuwanderungen an Hochschuldstandorten führte. Ab etwa 2010 führten hingegen die infolge des Geburteneinbruchs nach der Wende schwach besetzten Geburtsjahrgänge zeitweilig zu abnehmenden Studienanfänger*innenzahlen in Ostdeutschland. Angesichts der sich schon kurz nach 2010 erneut abzeichnenden Änderung von Binnenwanderungsmustern (Abschn. 22.4) kommt der Frage nach solchen Struktureffekten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu (Köppen 2005, S. 33 f.). Auch wenn das erneute Wachstum von Städten meist positiv bewertet wird, ist es nicht frei von problematischen Implikationen (Fricke 2015). Die bis in die 2000er-Jahre z. T. ausgesprochen hohen Wohnungsleerstände wurden durch steigende Zuzüge sowie durch Rückbau zunehmend verringert. Zudem konzentrierte sich das Interesse von Zuziehenden vielfach auf bestimmte innenstadtnahe Quartiere, sodass innerhalb einund derselben Stadt zeitweilig Schrumpfung und Wachstum – und damit unterschiedliche Wohnungsmarktkonstellationen – nebeneinander existierten (Haase et al. 2017, S. 374). Vor dem Hintergrund von sich aktuell herausbildenden Wohnungsengpässen und steigenden Mieten ist die Bereitstellung von Wohnraum und Bauland eine der vordringlichen Aufgaben. Zusätzlich nehmen aufwertungsbedingt Gefahren der sozialen Entmischung und der Verdrängung sozial Schwächerer aus besonders favorisierten Quartieren zu und machen Konzepte einer sozialverträglichen Wohnungspolitik und Stadtentwicklung dringlich.
22.4 Dritter Migration Turnaround: Das Ende der Reurbanisierung? Neue Suburbanisierung? Der dritte Migration Turnaround nach der Wende zeichnete sich seit Beginn der 2010erJahre ab (Abb. 22.4): Die Binnenwanderungsgewinne der meisten (kreisfreien) Großstädte gingen nun zurück (Busch 2016, S. 92 f.), entsprechend verringerten sich die Binnenwanderungsverluste der anderen siedlungsstrukturellen Kategorien, teilweise verzeichneten diese sogar positive Salden. Dabei handelt es sich nicht um einen Sekundäreffekt der bis
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2015 angestiegenen Außenzuwanderungen, denn diese Änderung des Binnenwanderungsmusters zeigt sich auch, wenn nur die Binnenwanderungen von Deutschen betrachtet werden. Die meisten, aber nicht alle Großstädte in Ostdeutschland sind von diesem Migration Turnaround betroffen. Eine bedeutende Ausnahme ist Leipzig mit Binnenwanderungsgewinnen auf weiterhin hohem Niveau (absolut wie auch je 1000 der Einwohner*innen), die zunächst sogar weiter anstiegen; in Potsdam, Rostock, Halle (Saale) und Schwerin stagnierten nach kurzem Rückgang die Binnenwanderungsgewinne oder stiegen wieder leicht an.2 Dieser neue Turnaround ist in Ostdeutschland vor allem darauf zurückzuführen, dass die Binnenzuzüge in die Großstädte, die im ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zugenommen haben, seit Beginn des zweiten Jahrzehnts stagnieren, während die Binnenfortzüge aus den Großstädten, die zuvor leicht rückläufig waren, zugenommen haben. Bei den Binnenwanderungen der Deutschen allerdings zeigen sich annähernd stagnierende Fortzüge aus den Großstädten, aber deutlich gesunkene Zuzüge – vor allem von sogenannten Bildungswanderern (18-