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German Pages 430 Year 2014
Stefanie Kreuzer (Hg.) Experimente in den Künsten
Stefanie Kreuzer (Hg.)
Experimente in den Künsten Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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Inhalt Einleitung
Stefanie Kreuzer | 7
I. EXPERIMENTE IN DER LITERATUR »Experimentierkunst« – Geschichte, Themen, Methoden, Theorien
Michael Gamper | 19
»Eine ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung« – Essayismus und Experimentalismus bei Robert Musil
Birgit Nübel | 49
II. EXPERIMENTE IM THEATER Bertolt Brechts Theaterexperimente. Galilei versus Lehrstück
Florian Vaßen | 91
Theater als Labor und Experiment
Patrick Primavesi | 131
Kalkulierte Spielräume. Experimente im universitären Theaterlabor
Ole Hruschka | 163
III. EXPERIMENTE IM FILM Walter Benjamins Begriff des ›Optisch-Unbewussten‹ und die Experimente mit der filmischen Zeitdehnung
Andreas Becker | 187
Christopher Nolans MEMENTO (USA 2000). Erzählexperiment zwischen filmischer Darstellung und pathologischem Befund
Stefanie Kreuzer | 215
Im Steinbruch der Nachgeschichte. Zur experimentellen Filmästhetik von Hans Jürgen Syberberg
Bernd Kiefer | 253
IV. EXPERIMENTE IN DER MUSIK Filmmusikalische Experimente zwischen Bild und Ton oder: Der betrunkene Klavierspieler
Nina Noeske | 287
Musik als Experiment. Transmediale Verhandlungen in Amy Lowells imagistischer Lyrik
Regina Schober | 305
V. EXPERIMENTE IN DER BILDENDEN KUNST Das Experiment des Findens als Verfahrensweise der Kunst. Gemeinsamkeiten mit – und Differenzen zur – Wissenschaft
Eva Koethen | 337
Experimente auf der weißen Wand oder des Kaisers neue Kleider
Christian Spies | 367
Vom Sinn der Sinnlichkeit. Multimediale Sprachkunstexperimente
Christiane Heibach | 397
Die Autorinnen und Autoren | 423
Einleitung S TEFANIE K REUZER
Der Begriff des ›Experiments‹ steht in engem Zusammenhang mit methodisch angelegten wissenschaftlichen Untersuchungsanordnungen, wie sie insbesondere in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Psychologie und Soziologie betrieben werden. Das Spannungsfeld der verschiedenen Experimentpraktiken reicht dabei von Laborexperimenten bis zu Simulationen und Gedankenexperimenten. Doch auch in den Künsten wird experimentiert. Künstlerische Experimente in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst basieren allerdings weniger auf Reproduzierbarkeit, Kontrolle und Messbarkeit, sondern zeichnen sich vielmehr durch Novität, Erprobung und Überraschungsmomente sowie mitunter eine intendierte Ungewissheit in werkimmanenter, produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht aus. Der Akzent des künstlerischen Experimentierens ist oftmals auf Veränderung und Abgrenzung von bestehenden Traditionen gerichtet, und Ergebnisoffenheit kann ein spezielles Charakteristikum sein. Die spezifischen Experimentierpraktiken innerhalb der einzelnen Künste sind jedoch sehr verschieden: Sie können von akribischen Versuchsreihen, Sammlungen oder spezifischen Materialqualitäten ausgehen, konzeptionell angelegt sein, einen ideellen, materiellen, klanglichen oder audiovisuellen Niederschlag finden, auf eine veränderte, vielleicht provokative Publikumswirkung oder auf künstlerische Selbsterfahrung abzielen. In der Literatur kann das Experiment etwa mit Genreparodie, Dadaismus, konkreter Poesie sowie computerbasierten oder -generierten literarischen (Hyper-)Textformen oder auch experimentellen Schreibweisen, wie dem Stream of Consciousness zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Verbin-
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dung gebracht werden. Die bildende Kunst kennt das Experimentieren mit der Wahrnehmung – sei es mit Farben und Formen oder mit künstlerischen Traditionen und Konventionen. Performance und Happenings bilden schließlich einen fließenden Übergang zum Experiment im Theater, wo Ausdrucks- und Bühnenformen wie Darstellungstraditionen im sogenannten performative turn, etwa des postdramatischen Theaters, verändert werden. Experimente im Film und in der Musik sind den Genres von Experimentalfilm und -musik zuzuordnen, umfassen gleichzeitig aber auch das Erpoben medialer Möglichkeiten und Grenzen sowie den reflektierten Umgang mit den jeweils spezifischen visuellen und auditiven, kompositorischen, technischen und materialen Mitteln. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich Experimente in den verschiedenen Künsten durch analoge Verfahren und Strukturen auszeichnen. Darüber hinaus ist vielfach ein Experimentieren über die Gattungsgrenzen hinaus festzustellen, wodurch es zu einer Vermischung oder auch Hybridisierung der Kunstformen kommt. In diesem Kontext ist auffällig, dass sich die Aktualität des geisteswissenschaftlichen Diskurses über das Experiment in zahlreichen Forschungsprojekten der vergangenen Jahre widerspiegelt, ohne dass aber die Gemeinsamkeiten der Experimente in den Künsten bisher interdisziplinär untersucht worden wären. Stattdessen liegt eine Vielfalt an unterschiedlichen Studien zum Experiment in den einzelnen Künsten sowie allgemein zum Experimentieren aus geisteswissenschaftlichen Perspektiven vor. Ein umfangreiches kulturwissenschaftliches Forschungsprojekt zum Experimentieren geht auf Michael Gamper zurück. Er hat zwischen 2007 und 2009 im Rahmen seines Forschungsprojektes »Experimentierkunst. Poetologie und Ästhetik des Versuchs in Neuzeit und Moderne« an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich eine dreiteilige literaturhistorisch und wissensgeschichtlich angelegte Tagungsreihe zum Experiment in der Literatur veranstaltet. Im Anschluss sind drei chronologisch gegliederte Sammelpublikationen zu Literatur und Experiment I bis III entstanden. Der erste Tagungsband ist unter dem modifizierten Titel Es ist nun einmal zum Versuch gekommen (2009)1 erschienen und untersucht Experi-
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»Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2009 (= Experiment und Literatur 1).
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mentierkunst zwischen 1580 und 1790 im Kontext neuzeitlicher Wissensproduktion im Hinblick auf (natur)wissenschaftliche und literarische Verfahren des Experimentierens. In Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein! (2010)2 liegt der Schwerpunkt innerhalb des Untersuchungszeitraums von 1790 bis 1890 auf der Eigenständigkeit der Profilierung des Experimentellen in den Naturwissenschaften und der Literatur. Beleuchtet wird der Beitrag literarischer Experimentalkulturen an epistemologischen und poetologischen Diskursen. Im dritten Tagungsband Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Wort (2011)3 zum Zeitraum von 1890 bis 2010 stehen schließlich die Spezialisierung der Experimentalkulturen im Zentrum, und es werden die Wechselwirkungen mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen unter den Einflüssen etwa von Technik, Naturwissenschaften und Neuen Medien betrachtet. Auch im Hinblick auf einen gattungstheoretischen Kontext ist das Experiment in den vergangenen Jahren thematisiert worden. So fand das 6. Hörspielsymposion an der Eider 2008 zum Thema »›Schriften, Dinge, Datenspuren‹ – Experimentelle Verfahren in Hörspiel, Feature und Radiokunst« statt.4 Im Berliner Workshop »Experimentalisierung des Politischen« wurde das Experiment im Kontext einer gesellschaftswissenschaftlichen und kulturellen Dimension diskutiert.5 Unter dem Titel Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert6 ist aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive 2004 eine Sammelpublikation unter einem ähnlichen Fokus erschienen. Das HumboldtKolleg an der Vanderbilt University in Nashville Tennessee hat 2010 eine
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»Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. Experiment und Literatur II: 1790–1890. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2010 (= Experiment und Literatur 2). »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III: 1890–2010. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2011 (= Experiment und Literatur 3). O. A.: »Schriften, Dinge, Datenspuren« – Experimentelle Verfahren in Hörspiel, Feature und Radiokunst. In: Germanistik im Netz. http://www.germanistik-imnetz.de/wer-was-wo/4112 (8. Mai 2008). O. A.: Experimentalisierung des Politischen. In: Germanistik im Netz. http:// www.germanistik-im-netz.de/wer-was-wo/6331 (11. Nov. 2008). Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Daniela Münkel u. Jutta Schwarzkopf. Frankfurt am Main: Campus 2004.
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Konferenz zum Thema »Literarische Experimente: Medien | Kunst | Texte 1950–2010« durchgeführt.7 Abgesehen von dieser offenkundigen Aktualität des Experimentierens in literatur-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskussionen ist auf die Bedeutung des Experiments in früheren Kunstdiskursen des 20. Jahrhunderts hinzuweisen. Angeführt seien exemplarisch Bertolt Brechts theatertheoretischer Vortrag Über experimentelles Theater (1939)8 und Siegfried J. Schmidts Monografie Das Experiment in Literatur und Kunst (1978)9, die im Rahmen der Karlsruher Tage für experimentelle Kunst und Kunstwissenschaft entstanden ist und der ein komparatistischer Ansatz im Sinne des Vergleichs der Künste zugrunde liegt. Überdies können auch Einzeluntersuchungen zum Aspekt des Experimentellen in der Arbeitsweise verschiedener Künstler angeführt werden wie beispielsweise Theo Steiners Arbeit zur Konzeptkunst Marcel Duchamps, die unter dem Titel Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst (2006)10 erschienen ist. Stellvertretend für die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit experimentellen Verfahrensweisen in Film und Musik seien ferner zwei Sammelbände genannt: das von Ingo Petzke herausgegebene ExperimentalfilmHandbuch (1989)11 sowie der von Fritz Winckel herausgegebene Band Experimentelle Musik. Raum Musik, Visuelle Musik, Medien Musik, Wort Musik, Elektronik Musik, Computer Musik (1970).12
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O. A.: Literarische Experimente. In: Germanistik im Netz. http://www.germa nistik-im-netz.de/wer-was-wo/9295 (22. Juni 2009). 8 Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater [1939], mit einer Reihe weiterer theatertheoretischer Texte. Hrsg. von Werner Hecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 9 Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. von Siegfried J. Schmidt. München: Fink 1978 (= Beiträge und Diskussionen der Karlsruher Tage für experimentelle Kunst und Kunstwissenschaft 5). 10 Theo Steiner: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst. München: Fink 2006. 11 Das Experimentalfilm-Handbuch. Hrsg. von Ingo Petzke. Frankfurt am Main: Dt. Filmmuseum 1989 (= Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt am Main). 12 Experimentelle Musik. Raum Musik, Visuelle Musik, Medien Musik, Wort Musik, Elektronik Musik, Computer Musik. Hrsg. von Fritz Winckel. Berlin: Mann 1970 (= Schriftenreihe der Akademie der Künste 7).
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Der kursorische Überblick zeigt, dass Experimente in den Künsten bisher überwiegend unter wissensgeschichtlicher und historischer Perspektive, bezogen auf spezielle Epochen, Gattungen und Genres, innerhalb einzelner Künste oder im Rahmen von Einzelstudien thematisiert worden sind. Mit Ausnahme von Schmidts komparatistischem Ansatz, der auf Literatur und bildende Kunst bezogen ist, fehlt bislang ein interdisziplinärer Vergleich zum Experiment in den Künsten. Die im Wintersemester 2009/2010 an der Leibniz Universität Hannover veranstaltete Ringvorlesung »Experimente in den Künsten. Literatur, Film, Theater, Bildende Kunst, Musik« hat genau auf dieses Desiderat reagiert und das Experimentieren im medialen Vergleich der Künste in den Mittelpunkt gestellt.13 Die einzelnen Vorlesungen bilden entscheidende Grundlagen für diesen Sammelband. Die Publikation versammelt indes nicht alle Vorträge, sondern ist thematisch einerseits zugespitzt und andererseits erweitert, wobei einzelne Beiträge auch explizit aufeinander bezogen sind. Die Konzeption des vorliegenden Sammelbandes geht vom Fehlen einer transmedialen Studie zum künstlerischen Experiment aus und versucht, durch einen interdisziplinären Ansatz eine Basis für den Vergleich des Experimentierens innerhalb sowie zwischen den Künsten zu schaffen. Experimentelle Phänomene in den Künsten – Literatur, Theater, Film, Musik und bildende Kunst – werden aus literatur-, theater-, film-, und medienwissenschaftlicher, aus kunst- und musikwissenschaftlicher ebenso wie aus (kunst)philosophischer Perspektive untersucht. Das Untersuchungsinteresse ist konzeptionell ebenso auf Einzelanalysen innerhalb der jeweiligen Künste gerichtet (vgl. Hruschka, Primavesi), wie Experimente in intermedialen Konstellationen einbezogen werden. Exemplarisch seien das Verhältnis von Literatur und bildender Kunst (vgl. Heibach, Spies) sowie Musik und Literatur (Schober), Film und Musik (vgl. Kiefer, Noeske) oder Relationen zwischen literarischen und filmischen Erzählweisen (vgl. Becker, Kreuzer) angeführt. Gleichzeitig wird das künstlerische Experiment aber auch an die
13 Christoph Eyring, Katharina Heinrichs-Pamin, Corinna Kaesler u. Steffen Röhrs: TAGB: Experimente in den Künsten – Literatur, Film, Theater, bildende Kunst, Musik (WS 2009/10). In: H-net. http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse. pl?trx=vx&list=H-Germanistik&month=1010&week=a&msg=v6Lyu7BatGWT 1agYvfX6ng&user=&pw= (5. Okt. 2010).
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naturwissenschaftliche Tradition zurückgebunden (vgl. Gamper, Koethen, Nübel, Vaßen). Die einzelnen Kapitel und Beiträge des vorliegenden Bandes seien im Folgenden kursorisch skizziert: Ad I.) Ausgehend von Experimenten im Bereich der Literatur liefert Michael Gamper einen transdisziplinären wissensgeschichtlichen Überblick über Experimentalkulturen in Literatur und Wissenschaften von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Birgit Nübel thematisiert Essayismus als experimentelles Vertextungsverfahren respektive ›Experimentalismus‹ in Robert Musils Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) sowie seinen Essays. Ad II.) Im Kontext von Theater stellt Florian Vaßen mit Bezug auf den historischen Astronom und ›Künstler-Wissenschaftler‹ Galileo Galilei die Theater-Experimente Bertolt Brechts vor und kontrastiert das problematische epische Theaterstück Leben des Galilei (1955/56) mit dem Konzept der Lehrstücke respektive der learning plays. Ausgehend von Brechts Lehrstücken entwickelt Patrick Primavesi die maßgebliche Bedeutung des Experiments für neuere, postdramatische und an der Performance-Kunst orientierte Theaterformen an einigen aktuellen Beispielen, Tendenzen und Fragestellungen. Ole Hruschka setzt sich aus produktionsästhetischer Perspektive der (universitären) Theaterpraxis und -pädagogik mit dem Experimentieren im Rahmen von Proben- und Inszenierungsprozessen auseinander. Ad III.) Experimente im Film werden von Andreas Becker im Rückgriff auf Walter Benjamins Begriff des ›Optisch-Unbewussten‹ untersucht und auf filmische Experimente mit Zeitdehnung in Michelangelo Antonionis ZABRISKIE POINT (USA 1970), Gus Van Sants ELEPHANT (USA 2003), Joe Jones SMOKING (USA 1966) und Ridley Scotts BODY OF LIES (USA 2008) übertragen. Stefanie Kreuzer analysiert Christopher Nolans MEMENTO (USA 2000) im Rekurs auf literarische und filmische Traditionen von ›Rückwärtserzählungen‹ als filmisches Erzählexperiment, das den Gedächtnisdefekt des Protagonisten unter anderem durch unzuverlässige Erzählstrategien inszeniert. Bernd Kiefer stellt in seinem Beitrag zur experimentellen Filmästhetik Hans Jürgen Syberbergs zum einen intertextuell und geschichtlich aufgeladene filmische Arbeiten des Posthistoire-Regisseurs vor – insbesondere HITLER (BRD/F/UK 1977) – und geht zum anderen auf dessen biographisch motiviertes »Nossendorf-Projekt« ein.
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Ad IV.) Die Filmexperimente sind mit den Experimenten in der Musik durch einen intermedialen Brückenschlag thematisch verbunden. So untersucht Nina Noeske ausgehend von Siegfried Kracauers Filmtheorie Wahrnehmungsexperimente zwischen Musik und filmischen Bildern im Umfeld von ›Filmmusik‹ – etwa am Beispiel der Kopplung von Pink Floyds Dark Side of the Moon (1973) mit THE WIZARD OF OZ (USA 1939) oder Philip Glass’ Filmmusik zu KOYAANISQATSI (USA 1982). Auch Regina Schober beschäftigt sich in ihrem Beitrag zu der imagistischen amerikanischen Lyrikerin Amy Lowell mit musikalischen Experimenten unter einer intermedialen Perspektive, indem sie Analogien, Übertragungen und Transkription musikalischer Strukturen in Lowells Lyrik herausarbeitet. Ad IV.) Im Kontext von bildender Kunst und Experiment reflektiert Eva Koethen – vor dem (kunst-)philosophischen und erkenntnistheoretischen Hintergrund der Theorien Paul Valérys, Hans-Jörg Rheinbergers und Bernhard Waldenfels’ – Gemeinsamkeiten und Unterschiede von experimentellen Verfahrensweisen in der bildenden Kunst und den (Natur-)Wissenschaften. Christian Spies untersucht vergleichend die kunstgeschichtliche Tradition monochromer Gemälde – insbesondere der Moderne des 20. Jahrhunderts – als Experimente mit Darstellung und Illusion auf der leeren Bildfläche. Den Abschluss bildet Christiane Heibachs Beitrag zu multimedialen Sprachkunstexperimenten, in dem eine Verbindung nicht nur zwischen Literatur und bildender Kunst hergestellt wird, sondern ebenso theatrale Performance-Aspekte wie filmische und musikalische Elemente aufgegriffen werden. Auf diese Weise schließt sich konzeptionell der Bogen der Experimente in den Künsten von der bildenden Kunst über Theater, Film und Musik zurück zur Literatur. Die interdisziplinäre Untersuchungsreihe ist als ein exemplarischer Querschnitt experimenteller Verfahren in den Künsten zu verstehen. Als verbindende Aspekte zwischen den Künsten, die eine produktive Vergleichbarkeit ermöglichen, sind ein intermedial erweitertes Erzählverständnis sowie plurimediale Aspekte der Künste zu nennen – verwiesen sei in dieser Hinsicht neben Film, Theater und bildender Kunst ebenso auf Literatur im visuell poetischen Sinne oder etwa Filmmusik. In der Gesamtkonzeption des Sammelbandes ist das erkenntnisleitende Interesse auf die Verschiedenheit der Phänomene gerichtet. Die Annäherung an die Erscheinungsweisen und Variationen des Experiments in den Künsten erfolgt dementsprechend nicht über eine normative Grundlegung. Stattdessen wird von
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einer künstlerischen und geisteswissenschaftlichen Grundhaltung mit der Fokussierung des Einzelnen und Besonderen ausgegangen. Dieser methodischen Ausrichtung zufolge ergibt sich die Konkretion künstlerischen Experimentierens über die Analyse von Experimentbeispielen, die transmedial reflektiert und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der Sammelband zeugt von der Vielfältigkeit und Disparität künstlerischer Experimente und stellt die Schwierigkeit der Findung eines einheitlichen, umfassenden und übergreifenden definitorischen Ansatzes heraus. Grundsätzlich hat sich zudem gezeigt, dass experimentelle künstlerische Verfahren prinzipiell auf drei Ebenen angesiedelt sein können: (a) Zum einen wird auf der Ebene des Textes, der theatralen Inszenierung, der filmischen Darstellung, des musikalischen Ausdrucks sowie der bildkünstlerischen Arbeiten experimentiert, indem etwa Texte, Materialen, Medien oder Klänge neu erprobt und kombiniert oder kontextualisiert werden. Aus dem Theaterbereich sei als Beispiel die Uraufführung von Peter Handkes Sprechstück Publikumsbeschimpfung im Jahr 1966 im Theater am Turm (TAT) in Frankfurt am Main angeführt. Der Regisseur Claus Peymann experimentierte in dieser Inszenierung mit dem Einsatz theatraler Mittel und Zeichen, indem er diese auf ein Minimum reduziert hat. (b) Zum anderen kann das Experimentieren auch aus produktionsästhetischer Perspektive im Zentrum stehen, wenn etwa Zufallstechniken genutzt werden oder mit bestimmten Regeln, Zeiten und Bewusstseinsprozessen experimentiert wird. Ein prominentes Beispiel ist die ästhetische Methode der Écriture automatique, mit der die Surrealisten die »Kontrolle durch die Vernunft« ausschalten wollten, um auf diese Weise den »[r]eine[n] psychische[n] Automatismus«14 in ihren Arbeiten hervortreten zu lassen. (c) Schließlich können auch rezeptionsästhetische Zusammenhänge von entscheidender Bedeutung für künstlerische Experimente sein. So hat Marcel Duchamp mit seinem Ready-Made Fountain mit der Erwartungshaltung der Kunstbetrachter experimentiert. Als er 1917 ein handelsübliches Pissoir signiert mit dem Pseudonym R. Mutt auf der Jahresausstellung der »Society of Independent Artists« in New York ausgestellt hat, lief diese konzeptionelle Arbeit dem zeitgenössischen Kunstverständnis zuwider.
14 André Breton: Die Manifeste des Surrealismus [franz.: Manifestes du surréalisme (1962)]. Übers. von Ruth Henry. 11. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004. S. 26.
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L ITERATURVERZEICHNIS (A USWAHL ) Brecht, Bertolt: Über experimentelles Theater [1939], mit einer Reihe weiterer theatertheoretischer Texte. Hrsg. von Werner Hecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus [franz.: Manifestes du surréalisme (1962)]. Übers. von Ruth Henry. 11. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004. »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III: 1890–2010. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2011 (= Experiment und Literatur 3). »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580– 1790. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2009 (= Experiment und Literatur 1). Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. von Siegfried J. Schmidt. München: Fink 1978 (= Beiträge und Diskussionen der Karlsruher Tage für experimentelle Kunst und Kunstwissenschaft 5). Das Experimentalfilm-Handbuch. Hrsg. von Ingo Petzke. Frankfurt am Main: Dt. Filmmuseum 1989 (= Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt am Main). Experimentelle Musik. Raum Musik, Visuelle Musik, Medien Musik, Wort Musik, Elektronik Musik, Computer Musik. Hrsg. von Fritz Winckel. Berlin: Mann 1970 (= Schriftenreihe der Akademie der Künste 7). Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Daniela Münkel u. Jutta Schwarzkopf. Frankfurt am Main: Campus 2004. Steiner, Theo: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst. München: Fink 2006. »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. Experiment und Literatur II: 1790–1890. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2010 (= Experiment und Literatur 2).
I. Experimente in der Literatur
»Experimentierkunst« – Geschichte, Themen, Methoden, Theorien
M ICHAEL G AMPER
ABSTRACT: Das hier dargestellte Konzept der ›Experimentierkunst‹ umfasst gleichermaßen Wissenschaft wie Literatur und nimmt dabei poetologische und epistemologische, ästhetische und wissenstheoretische Implikationen in beiden Bereichen in den Blick. Im Folgenden werden historische und systematische Überlegungen angestellt, die auf eine transdisziplinär angelegte Literaturgeschichte des Experiments zielen. Dieses Ansinnen wird, mittels paradigmatischer Beispiele, in seinen historischen Dimensionen vom späten 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart präsentiert.
Ende Januar 1800 schreibt Friedrich von Hardenberg aus Weißenfels an den Geheimen Finanzrat von Oppel in Dresden und berichtet ihm von Projekten, in denen er nach neuen Materialien für die Behältnisse in »Sonnensalzanstalten« suche und dabei »Steingutsmasse« und »Dachschiefer« in Betracht ziehe; zur Bedeckung der Gefäße erwäge er schwedisches »Steinpapier«. Diese Überlegungen des Salinenassessors standen im Zusammenhang eines großangelegten Versuchs in der Saline Artern, wo man wegen Holzmangels versuchte, das Salz durch Sonnenwärme vom Wasser zu befreien. Hardenberg beklagte dabei die mangelnde wissenschaftliche Fundierung des Unternehmens, konkret die fehlende statistische Auswertung der Witterungsbeobachtungen der letzten zwanzig Jahre, aber auch die nicht vorhandenen Kenntnisse über die ›Verdampfbarkeit‹ von Flüssigkeiten. Im
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letzteren Zusammenhang fällt schließlich auch der Begriff der »Experimentirkunst«, der hier die Fertigkeit im Labor, also die Geschicktheit des Experimentators im Umgang mit Instrumenten, Materialien und Substanzen meint und damit eine Fähigkeit bezeichnet, die eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg in den empirischen Erfahrungswissenschaften bildete.1 Rund ein Jahr früher hatte Hardenberg den gleichen Begriff in den Notaten des Allgemeinen Brouillons, seiner auf die Erneuerung aller Wissenschaften und Ausdrucksformen angelegten Enzyklopädistik, verwendet, dort aber in einem anderen Sinn. Er sprach damals von einer »ächte[n] Experimentirkunst«, die er als »freye Generationsmethode d[er] Wahrheit« verstand, die er im Kontext des Notats Nr. 924 durch eine methodische Verbesserung von Fichte’scher und Kant’scher Philosophie gewinnen wollte. Denn diese hätten es noch nicht verstanden, »mit Leichtigkeit und Mannichfaltigkeit zu experimentiren«, und seien »überhaupt nicht poëtisch«.2 Diese durch ihre Indizierung als »ächte« gegenüber den empirischmanuellen Fertigkeiten spezifizierte »Experimentirkunst« stand für explorative und intervenierende Techniken des Denkens und Imaginierens sowie deren mündliche, schriftliche und bildliche Repräsentation. Es ging Hardenberg dabei, in immer wieder neu ansetzenden, zugleich metaphorisch und praktisch-konkret gemeinten Umschreibungen, um ein »Experimentiren mit Bildern und Begriffen im Vorstell[ungs] V[ermögen] ganz auf eine dem phys[ikalischen] Experim[entiren] analoge Weise«,3 wobei diese Tätigkeiten auf eine »Experimentalphysik des Geistes« hinauslaufen sollten, die als »eine Erfindungskunst der wichtigsten Wort und Zeichen Instrumente« eine Schlüsselfunktion innerhalb des enzyklopädistischen Projekts besetzte.4 Diese doppelte Perspektive auf das Phänomen ›Experiment‹ soll im Folgenden beibehalten werden, wenn es darum geht, das Feld der ›Experimentierkunst‹ als eines zu verstehen, das Wissenschaft und Literatur um-
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Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. 2., nach den Handschriften erg., erw. u. verb. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1960–2006. Bd. IV. S. 304–306. Novalis: Schriften. Bd. III. S. 445. Novalis: Schriften. Bd. III. S. 443. Novalis: Schriften. Bd. III. S. 387. Siehe dazu: Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.
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fasst und dabei poetologische und epistemologische, ästhetische und wissenstheoretische Implikationen in beiden Bereichen in den Blick nimmt. Dabei werden historische und systematische Bestimmungen getroffen, die es erlauben sollen, eine transdisziplinär angelegte Literaturgeschichte des Experiments zu entwerfen und zu schreiben – eine Literaturgeschichte, die 1.) den wechselseitigen Austausch zwischen den Wissensformen jenseits etablierter Disziplinen und Diskursformen beachtet und sich mit den so konstituierten experimentellen Zwischenräumen des Wissens befasst, die 2.) die Weisen der Reflexion von wissenschaftlichen Wissensbeständen durch die Literatur und die Künste in den Blick nimmt und die 3.) eine spezifisch literarische Traditionsbildung des ›Versuchs‹ nachzeichnet, die experimentelle Strukturen als Gegenstand der Darstellung und als Produktionsbedingung von Texten umfasst. Dieses Anliegen soll, anhand von paradigmatischen Beispielen, in seinen historischen Dimensionen, die vom späten 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen, dargestellt und durch einige grundsätzliche Überlegungen methodisch-theoretischer Art umrissen werden.
S ACH - UND W ISSENSGEHALT Diese interreferentiellen Aspekte einer zugleich wissenshistorisch und ästhetikgeschichtlich orientierten ›Experimentierkunst‹ lassen sich exemplarisch an einem bekannten Text eines prominenten Exponenten der hier zur Debatte stehenden Literaturgeschichte des Experiments veranschaulichen. Es gibt Stimmungen und Erkenntnisse, die kann man in Worten ausdrücken, die es schon gibt. Es gibt Stimmungen und Erkenntnisse, die kann man nur in Worten ausdrücken, die es noch nicht gibt.5
Diese Feststellung Gottfried Benns in seinem Prosastück Lyrik ist der Ausgangspunkt für poetologische Erwägungen, die in einer programmatisch anmutenden Formulierung ihre Klimax finden: »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte, in dem der Lyriker sich bewegt.« Was aber tut
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Gottfried Benn: Lyrik [1949]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hrsg. von Gerhard Schuster. Stuttgart: Klett-Cotta 1986–2003. Bd. 3. S. 355 f. S. 355.
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der Lyriker in diesem »Laboratorium«? Benn präzisiert diesbezüglich: »Hier modelliert, fabriziert er Worte, öffnet sie, sprengt, zertrümmert sie, um sie mit Spannungen zu laden, deren Wesen dann durch einige Jahrzehnte geht.« In diesem »Laboratorium« wird also handwerklich gearbeitet. Es wird modelliert, fabriziert, geöffnet, gesprengt, zertrümmert, aber es kommen, so lässt sich erschließen, auch experimentell erzeugte Gegenstände der klassischen Physik zum Zuge: nämlich die Elektrizität, die den Worten – dem materiellen Substrat dieser Versuche – die notwendige und lang anhaltende Wirkung garantierende »Spannung« verleihen. Das Ergebnis dieses Tuns ist, dass dem »Lyriker« so »alles, was geschieht, […] Wort« wird, dass er also mit »Wortwurzel, Wortfolge, Verbindung von Worten« hantiert und dass die »Silben […] psychoanalysiert, Diphthonge umgeschult, Konsonanten transplantiert« werden und dass das Wort auf diese Weise »real und magisch« wird. Der Lyriker beschreibt deshalb nicht, wie der Romancier, »mit dem Wort«. Für den Lyriker vertritt das Wort »keine Idee«, »keinen Gedanken und kein Ideal«. Das Wort ist vielmehr »Existenz an sich, Ausdruck, Miene, Hauch«.6 Das »Laboratorium der Worte« wird so zum Inbegriff eines zentralen Moments avantgardistischer Lyrik-Theorie und -Praxis: nämlich von deren Tendenz, die Sprache als ›Material‹ diesseits ihres semantischen Gehalts zu verwenden. Experimentieren in diesem Sinne bedeutet: explorativ und innovativ auf die syntaktischen, grammatischen, orthographischen und phonologischen Strukturen der Sprache zuzugreifen und mit neuen Verknüpfungsregeln und alternativen Kombinationskriterien etablierte Ordnungen der langage, der Sprache in ihrer tatsächlichen Verwendungsweise, zu potentialisieren und zugleich unrealisierte Möglichkeiten der langue, der Sprache als System, zu aktualisieren. Damit ist ein poetologischer Zugang zur literarischen ›Experimentierkunst‹ bezeichnet, der neben einer konzeptuellen Spezifik auch eigene historische Konjunkturen besitzt. Diese liegen, gerade in der expliziten Verbindung mit Experimentalverfahren, in der Frühromantik und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von dort aus lassen sich dann freilich Traditionsbildungen herstellen, die auch Verbindungen zu ähnlichen Vorgehensweisen ohne kenntlich gemachte Versuchspoetik offenlegen – etwa bei Laurence Sterne, Henry Fielding und Jean Paul oder den klassischen Avantgarden des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts.
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Benn: Lyrik. Bd. 3. S. 355 f.
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Vermag der Titelbegriff somit ein zentrales Moment neuzeitlicher Wissenspoetik zu fassen, so wirft er gleichzeitig eine grundsätzliche methodische Frage auf, die sich bei der Beschäftigung mit der Thematik von ›Experiment und Literatur‹ stellt. Es ist die Frage nach dem Sach- und Wissensgehalt, den die verwendeten Begriffe aus dem Vokabular der Experimentalkultur im poetologischen Zusammenhang zu entfalten vermögen. Denn es ist die zentrale Crux des Forschungsfeldes von ›Experiment und Literatur‹, dass es sich leicht mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, dass das Experimental-Vokabular der Dichtung ›nur‹ metaphorisch zu verstehen sei. Moniert wird dann oft, dass ›Experiment‹ dann gerade im 20. Jahrhundert einfach ein neuartiges, innovatives, originelles, nonkonformistisches, nichtnormiertes, provokatives, ungewöhnliches, unkonventionelles oder antitraditionelles Dichtungskonzept bezeichne, das sich aber nicht signifikant von anderen, ähnlich orientierten Produktionsästhetiken unterscheide. Diesem Vorwurf lässt sich entgehen, indem ein wissensgeschichtlicher Zugang zum Thema gewählt wird, der in einer Kombination von Begriffs- und Konzeptgeschichte die Bezüge von ›Literatur‹ und ›Experiment‹ auf verschiedenen Ebenen möglichst eng knüpft. Die erwähnte Literaturgeschichte des Experiments wird dementsprechend vor allem Beispiele und Konstellationen aufnehmen, in denen sich erstens die Verwendung von experimentellem Vokabular mit spezifischen, zugehörigen Verfahren verbindet. Zweitens sollen sich in den Beispielen und Konstellationen konzeptuell stabilisierte Verfahren eruieren lassen, die insofern als ›experimentell‹ ausgewiesen werden können, weil sie sich von anderen literarischen Ästhetiken signifikant unterscheiden lassen. Und drittens werden die literarischen Experimentalkulturen exemplarisch, ob in affirmativer oder negierender Weise, in einen Zusammenhang zu anderen, etwa zu wissenschaftlichen Experimentalkulturen treten. Dies bedeutet aber auch: Obwohl das ›Experimentelle‹ durchaus in den objektiv feststellbaren Eigenschaften der Gegenstände aufgesucht wird, sind diese Attribute untrennbar mit historischen Zuschreibungen verbunden. Auf diese Weise ist eine ›experimentelle Literatur‹ nicht an sich ›experimentell‹, sondern dieser Charakter kommt ihr auf Grund von historisch spezifizierten Beobachtungen zu, die Texten aus bestimmten Gründen, in konkreten Hinsichten und in spezifischen Kontexten ›experimentellen‹
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Charakter zugestehen.7 Und zu diesen Beobachtungen gehört natürlich auch die eigene Analyse-Perspektive, die dadurch in einen kontingenten Status gerät und die sich deshalb durch ihre funktionalen Leistungen für die Erschließung und Bearbeitung des Sachgebiets zu legitimieren hat.
A NFÄNGE UND S TRUKTUREN Der historische Anfang einer in dieser Art konstituierten Literaturgeschichte des Experiments ist um 1600 anzusetzen. Um die Jahrhundertwende nimmt das Experiment ungefähr zeitgleich seinen Beginn in Wissenschaft und Literatur. In dieser Zeit trat der ›Versuch‹ in der Essayistik Michel de Montaignes und in der Wissenschaftstheorie Francis Bacons als ein Mittel zur Hervorbringung von empirischen und methodischen Kenntnissen an unterschiedlichen Orten und mit verschiedenen Mitteln hervor und etablierte sich im Kreuzungsfeld von innovativer Schreibweise, nova scientia und geselligem Spiel – etwa in den Handlungen und Verhandlungen der Florentiner ›Accademia del Cimento‹, der Londoner ›Royal Society‹ oder der ›Académie des sciences‹ in Paris, in den Gesprächsspielen der Barockliteratur oder in den Praktiken der Naturlehre.8 Das Experiment trat dabei auf als eine ›bestimmte provozierte Erfahrung‹, als ein Zusammenspiel von definierten Voraussetzungen, von künstlichem Eingriff und empirischperformativem Ablauf, an das sich Verfahren der Erfindung, der Aufzeichnung, der interpretativen Ausdeutung und der kommunikativen Distribution anschlossen – womit auch ein Vorschlag einer allgemein und funktionalistisch gehaltenen Definition des ›Experiments‹ gemacht ist. Der ›Versuch‹ war somit ein in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedensten Techniken handhabbares Verfahren, das auf etwas Neues aus war, prinzipiell zukunftsoffen angelegt war und oft in seinen Ausgangsbedingungen und
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So argumentiert aus systemtheoretischer Sicht auch Mario Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. Eine Systemtheorie experimenteller Prosa. Würzburg: Ergon 2008. S. 296. Siehe dazu die Beiträge von Hans-Christian von Herrmann, Richard Nate, Misia Sophia Doms, Maximilian Bergengruen und Sebastian Kühn in: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2009. S. 53–68, 90–111, 169–195, 196–221 u. 255–276.
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seinen Ergebnissen provokant, innovativ und – gemessen an der herrschenden Paradigmatik der eigenen Zeit – epistemologisch ›unsicher‹ war.9 Diese Bestimmungen von ›Experiment‹ zielen allerdings nicht auf einen theoretisch-methodischen Zuschnitt in allgemeinen Begriffen und Konzepten, denen dann die konkreten Phänomene zu subsumieren wären. Diese Annäherung an das ›Experiment‹ ist vielmehr als ein Aggregat von Parametern zu verstehen, die in verschiedener Zusammensetzung und Dichte in Beispielen und (Text-)Konstellationen auftreten. Es ist die Sache der jeweiligen Analyse, in einer Form der ›dichten Beschreibung‹ diese Aspekte an den Phänomenen aufzuzeigen und ihre Relevanz für deren Erklärung zu diskutieren. Dabei wird den Beispielen und ihren Eigenheiten die Kraft zugestanden, modifizierend auf die allgemeinen Charakterisierungen zurückzuwirken. In dieser Weise bestimmt sich die Zugehörigkeit von Autoren und Texten zu einer Literaturgeschichte des Experiments nicht über eine Subsumtionslogik, sondern eher durch eine Grenzwertbestimmung. Dies impliziert auch, dass die vorgeschlagene Literaturgeschichte des Experiments an eine Literaturwissenschaft angebunden ist, die in ihrer Arbeit an Texten immer wieder auf ihre methodischen und theoretischen Voraussetzungen zurückkommt und diese zu revidieren bereit ist. Was ›Literatur‹, ›Wissenschaft‹, ›Wissen‹, ›Experiment‹ und ›Versuch‹ sind, was als ihre bestimmenden Eigenschaften und Möglichkeiten festgesetzt werden kann, ist in dieser Vorgehensweise nicht als Ausgangsbedingung der Untersuchung abschließend gesetzt, sondern selbst Gegenstand begründeter und begründender Reflexion. ›Literatur‹ als ›Experiment‹ zu untersuchen bedeutet deshalb immer auch, darauf vorbereitet zu sein, dass die untersuchte ›Literatur‹ nach der Analyse des Materials nicht mehr die gleiche ist wie vorher, dass dabei also auch neue Qualitäten des Literarischen hervortreten – sei es aufgrund neuer Perspektiven auf bisher unbeachtete Aspekte von Dichtung, sei es wegen neuer Kontexte, in welche die literarischen Texte gestellt werden. Bereits im 17. Jahrhundert und verstärkt im 18. Jahrhundert bildete sich eine allgemeine Disposition zum ›Experimentieren‹ und zum ›Experimentellen‹ heraus, die sich mit dem Begriff der ›Experimentalität‹ fassen
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Siehe dazu Michael Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments – eine Einleitung. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. S. 9–30.
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lässt.10 ›Experimentalität‹ meint dann zweierlei: Sie bezeichnet zum einen eine psychische Disposition von Subjekten, also eine ›Mentalität‹, die auf Herausforderungen durch innere oder äußere Zwänge mit der Anwendung von experimentellen Verfahren reagiert; zum andern steht sie für eine strukturelle Ausrichtung von Diskursen und Institutionen ein, die experimentelle Handlungsräume und -optionen zur Verfügung stellen, insofern ein experimentelles Dispositiv ausbilden und ›Experimentalität‹ als strategische Funktion in von Machtverhältnissen durchzogenen sozialen, epistemologischen und poetologischen Konstellationen bestimmen. Über die Etablierung einer disziplinen- und diskursübergreifenden ›Experimentalität‹ setzte sich das Experiment als Interventionsverfahren von lose gekoppelten Elementen seit dem 17. Jahrhundert als bestimmendes Moment der neuzeitlichen Moderne zunächst in den westlichen Kulturen, später global durch – zumal gerade das Unternehmen der kolonisatorischen europäischen Expansion selbst in besonderer Weise von Strategemen der ›Experimentalität‹ durchzogen war.11 Die Etablierung von ›Experimentalität‹ in ihrer grundlegenden und umfassenden Bedeutung verbindet sich mit dem Werk von Francis Bacon.12 An dessen Arbeiten kann deshalb auch dargestellt werden, wie eng die Relevanz von ›Experiment‹ als wissenschaftliche Methodik und Praxis, die Bedeutung als gesellschaftliches Interventionswissen und die Geltung als literarische Technik ineinander verschränkt sind. Der englische Großsiegelbewahrer und Lordkanzler veröffentlichte 1620 das Novum Organum, das bis heute als das Gründungsdokument empirischer Erfahrungswissenschaft gilt. Das Novum Organum ist aber nicht einfach eine Methodenlehre des Experiments, vielmehr ist es der theoretische Entwurf eines neuen Verhält-
10 Siehe dazu Michael Gamper: Experimentelle Differenzierungen im 19. Jahrhundert – eine Einleitung. In: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. Experiment und Literatur II: 1790–1890. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2010. S. 9–23. 11 Siehe Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. S. 127–198. Vgl. auch Dirk van Laak: Kolonien als »Laboratorien der Moderne«? In: Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914. Hrsg. von Sebastian Conrad u. Jürgen Osterhammel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. S. 257–269. 12 Vgl. auch die Bezugnahmen auf Bacon in den Beiträgen von Birgit Nübel und Florian Vaßen in diesem Band.
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nisses von Erkennen und Handeln, das Theorie und Forschung ebenso verbindet wie Macht und Wissen und dabei Darstellungsaspekte stets in die Überlegungen einbezieht.13 Bacon hat das Novum Organum 1620 als zweiten Teil der auf sechs Teile angelegten Instauratio magna publiziert, die eine völlige Neuordnung des Wissens, seiner Produktion und seiner Verknüpfung mit der Politik anstrebte. Gerichtet ist es gegen das aus ebenfalls sechs Schriften bestehende Organon von Aristoteles, das Wissenschaftslehre als philosophische Logik beschreibt und auf der strikten Trennung von wissenschaftlicher Erkenntnis und eingreifender bzw. anwendender Handlung besteht. Wissen bei Bacon ist dagegen stets mit Fragen der Macht, der Politik und der gesellschaftlichen Einrichtung verbunden. Ohne in der nützlichen Anwendung aufzugehen, soll wissenschaftliche Tätigkeit auf »novae creationes«, auf »Erfindungen« als »Nachahmungen der göttlichen Werke« gerichtet sein, die sich in praktischer Umsetzung zum Wohl der Gemeinschaft auswirken.14 Die neue Wissenschaft konzipierte Bacon damit als scientia activa, als eine eingreifende Tätigkeit, die auf verschiedenen Ebenen intervenierte: zum einen auf der Ebene der wissenschaftlichen Erkenntnispraktiken selbst, zum anderen auf der Ebene der gesellschaftlichen Funktionalisierung, in ihrer Zurichtung im Hinblick auf eine weitere Anwendung in sozialen Kontexten. Diesen Imperativ des Handelns formulierte Bacon programmatisch in Aphorismus 114 des ersten Buchs: Schließlich aber müsste man […] sich dennoch zum Versuch entschließen, wenn wir nicht ganz verzagten Sinnes dastehen wollen. Es ist nämlich beim Unterlassen und beim augenblicklichen Nichtglücken der Sache nicht gleichviel zu be-
13 Wolfgang Krohn hat darauf mehrfach hingewiesen; vgl etwa Wolfgang Krohn: Francis Bacon. 2., überarb. Aufl. München: Beck 2006. Krohn betont auch die Bedeutung des Bacon’schen Projekts für die Durchsetzung von sozialer Experimentalisierung; vgl. hierzu Wolfgang Krohn: Realexperimente – Die Modernisierung der ›offenen Gesellschaft‹ durch experimentelle Forschung. In: Erwägen, Wissen, Ethik 18 (2007). S. 343–356, mit ausführlichen Stellungnahmen anderer Autoren und einer Replik von Krohn ebd., S. 357–442. 14 Francis Bacon: Neues Organon [1620]. Lateinisch-deutsch. 2 Bde. Hrsg. von Wolfgang Krohn. 2. Aufl. Hamburg: Meiner 1999. S. 268 f. (Aph. I, 129). Bacon hat aber stets betont, dass ihm neben der praktischen Anwendung auch die Prinzipien des Wissens und deren Erkundung wesentlich sind und dass gute Forschung stets beides zu sein habe: »lichtbringend« und »fruchtbringend« (vgl. etwa S. 251 [Aph. I, 121]).
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fürchten, denn beim Unterlassen steht ein unermeßliches Gut, beim Mißlingen ein geringer Aufwand menschlicher Arbeit auf dem Spiele.15
Unter den wissenschaftlichen Erkenntnispraktiken ist vor allem das Experiment, das Bacon damit in die Wissenschaftsphilosophie einführt, von fundamentaler Wichtigkeit.16 Das Experiment soll »kunstvoll ausgedacht und angewendet« werden und so als »Hilfe für die Sinne« und als »Heilmittel gegen [deren] Irrtümer« dienen, indem es Naturverhältnisse neu arrangiert.17 Das Ziel dieser spezifischen induktiven Methode ist es, »aus den Werken und Experimenten die Ursachen und Grundsätze, und aus diesen beiden wieder neue Werke und Experimente« abzuleiten, das heißt: Erkenntnisgewinn ist für Bacon ein zeitlich ausgedehnter Prozess, in dessen Verlauf Theorie und Forschungshandeln sich wechselseitig vorantreiben.18 Eine gesellschaftliche Relevanz und Anwendung ergibt sich bei Bacon freilich nicht unmittelbar aus dem Forschungshandeln. Denn die experimentelle Wissenschaft, so wird in Nova Atlantis, einem posthum 1627 als Anhang zu Sylva Sylvarum publizierten Fragment deutlich, bedarf der Isolation von den gewöhnlichen Geschäften des Lebens, um produktiv zu sein. Die utopische Gesellschaft von Nova Atlantis hat die Tätigkeit des experimentierenden Wissensgewinns an das »Haus Salomon« delegiert, eine Organisation von Wissenschaftlern, die fernab von der Gemeinschaft lebt und arbeitet und nur rund alle zehn Jahre Kontakt mit der Außenwelt aufnimmt. Das Haus Salomon hat den »Zweck, die Ursachen des Naturgeschehens zu ergründen, die geheimen Bewegungen in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur zu erforschen« und dadurch »die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken«.19 Was aber in die Gesellschaft an neuen Kenntnissen eingespeist wird, ist höchst restringiert und bedarf längeren Nachdenkens und Beratens, wie der »Vater des Hauses Salomon« Auskunft gibt:
15 Bacon: Neues Organon. S. 237 f. 16 Vgl. James Edward Tiles: Experiment as Intervention. In: British Journal for the Philosophy of Science 44 (1993). S. 463–475. 17 Bacon: Neues Organon. S. 47, 49; vgl. auch die entsprechenden Ausführungen S. 113. 18 Bacon: Neues Organon. S. 243 (Aph. I, 117). 19 Francis Bacon: Neu-Atlantis [1627]. Hrsg. von Jürgen Klein. Stuttgart: Reclam 1982. S. 43.
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Wir haben die Gewohnheit, uns genau zu überlegen, ob sich ein von uns angestellter Versuch oder eine von uns herausgebrachte Entdeckung zur allgemeinen Bekanntgabe eignet oder nicht.20
Dies bedeutet: Experimentelles Wissen bedarf der sozialen Wirklichkeit des Labors, also der Separierung von gesellschaftlichem Handeln, um das risikoreiche Geschäft des zukunftsoffenen Agierens mit vorläufigen, hypothetischen Kenntnissen ohne gravierenden Schaden vornehmen zu können. Um ein Experiment wirkungsvoll zu machen, muss dessen Scheitern in Kauf genommen werden; Experimentieren bedeutet deshalb auch immer, den Irrtum als produktiven Anteil am Wissensprozess zuzulassen. Die Einrichtung des Hauses Salomon in Nova Atlantis schützt somit – bei allem Impetus zur Verschränkung von ›Experimentalität‹ und Sozialordnung – ebenso die Gesellschaft vor der Wissenschaft wie die Wissenschaft vor der Gesellschaft. Die Verbindung von Experiment und Gesellschaftspolitik ist damit nicht eine nachträgliche Übertragung aus den Naturwissenschaften, sondern ist von allem Anfang an, wenn auch flankiert von Sicherungsmaßnahmen, Teil des historischen Experiment-Projekts gewesen. Ebenso wenig nachträglich ist aber auch die Beziehung von Experiment und einer Darstellungspraxis, die lange im Indifferenzbereich der Disziplinen und Diskurse sich verortete, später, in den Ausdifferenzierungsprozessen des 18. und 19. Jahrhunderts, aber der schönen Literatur, also der Dichtung, zugeschlagen wurde. Denn in Bacons Experimentalprogramm sind nicht nur die inhaltlichen Bestimmungen von Bedeutung, sondern auch deren Darbietungsform. So rekapituliert Bacon das Programm einer Forschung, die sich in besonderer Weise weder mit vergangenen noch gegenwärtigen, sondern »möglichen« und damit immer auch fiktionalen und zukünftigen Dingen beschäftigt, auch im Medium der Fiktion, eben in einem erfundenen Reisebericht in der Nachfolge von Thomas Morus’ Utopia (1516–1518). Die Inanspruchnahme der facultas fingendi, der mit der phantasia kooperierenden erfindenden Dichtungskraft, verbindet damit drei zentrale Komponenten von Bacons Text, die auf drei verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, sich aber wechselseitig bedingen und deshalb ineinander verzahnt sind: nämlich erstens die konstitutive fiktionale Komponente des Experimentalwissens, das durch die hypothetische Erfindung anderer Zu-
20 Bacon: Neu-Atlantis. S. 56.
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stände als der bestehenden und deren empirischer Überprüfung in »Versuchen« zu neuem Wissen gelangen will; zweitens die Imagination einer erst noch zu realisierenden fortschrittsorientierten Wissenschaft, die vom Hypothesenwissen hervorgebracht wird und dessen Fortbestand garantieren soll; und drittens eine mit Fiktionen arbeitende literarische Gattung, die eine auf eine offene Zukunft orientierte bessere Gesellschaft entwirft, in der Wissenschaft und Experiment ihren festen Ort haben.21 Die literarische Erfindung der möglichen Welt von Nova Atlantis, die der Propagierung des Experiments in der wirklichen Welt des Francis Bacon diente, war in dieser Weise zugleich ein soziales Experiment, das freilich bloß in Gedanken und auf dem Papier stattfand, mithin ein Gedanken- und Schreib-Experiment war, das gleichwohl aber handfeste politische Ziele verfolgte. Diese poetologische, in die Darstellungsform eingesenkte Dynamik literarischer Repräsentation prägt auch das Novum Organon. Denn auch für seine Methodenlehre wählte Bacon eine Form, die gerade das Unabgeschlossene des Gesagten betonte: den Aphorismus. ›Aphorismus‹ bezeichnete dabei noch nicht eine Textgattung, die sich durch Kürze, innere Abgeschlossenheit und semantische Pointierung auszeichnete,22 sondern der Aphorismus stand hier noch in der Tradition der Hippokratischen Aphorismoi, als thesenartig vorgetragene Lehrsätze, denen die Erfindungskraft und epistemologische Unsicherheit jeder Hypothesenbildung eingeschrieben war. Das in Aphorismen vorgetragene Wissen verwahrte sich deswegen qua gattungstypologischer Eigenschaften gegen die Fehler einer systematischen Wissenschaft, die voreilig den Eindruck der Vollendung erweckte und von der zu befürchten war, dass sie weiteres Erkenntnisstreben unterband.23 Dagegen forderten die Aphorismen des Novum Organon die Lesenden auf, sich nicht mit dem Vorgetragenen zu begnügen, sondern selbstständig weiter zu arbeiten und das Vorhandene zu ergänzen. In De dignitate et augmentis scientiarum (engl. 1605/lat. 1623) hat Bacon diesen Gebrauch der Gattung ausführlich reflektiert. Dort unterschied er ein Vorgehen »per Aphorismos aut Methodice« und betonte für ersteres,
21 Vgl. Bacon: Neu-Atlantis. S. 55. 22 Siehe Harald Fricke: Art. ›Aphorismus‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar u. a. Berlin: De Gruyter 1997–2003, Bd. I. S. 104–106. S. 104. 23 Vgl. Bacon: Neues Organon. S. 187 f. (Aph. I, 85).
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dass dieses eine bloß oberflächliche Beschäftigung verbiete und sein Wissen »aus dem Mark und dem Inneren der Wissenschaften« gewinne (»necesse est ut ex medullis et interioribus scientiarum conficiantur«).24 Vor allem aber fordere die aphoristische Darstellungsweise die Leser dazu auf, selbst tätig zu werden: Da schließlich die Aphorismen Teile von Wissenschaften, gleichsam nur Brocken darbieten, laden sie dazu ein, daß andere etwas hinzufügen und es darstellen. Die systematische Unterweisung, die mit einer vollständigen Wissenschaft prahlt, macht die Menschen sogleich sicher, als wenn sie schon das Höchste erreicht hätten.25
Dem entsprach auf der Ebene der wissenschaftlichen Praxis die Differenz von »methodus magistralis« und »methodus initiativa«; denn während »die dogmatische Methode fordert, daß man dem Glauben schenkt, was gesagt wird«, verlange »die einführende Methode vielmehr, daß man es der Prüfung unterwirft«, weshalb die erstere sich an die Menge der Lernenden, letztere sich aber an die »filiis scientiarum«, die »Söhne der Wissenschaften«, richte.26 Damit spiegelt sich Bacons inhaltliches Anliegen, die Begründung einer experimentierenden Naturwissenschaft bzw. die Installation einer »Idolenlehre«, also die im Novum Organon entwickelte wissenschaftliche Ideologiekritik,27 auch in der Repräsentationsweise seiner eigenen Schrift. So wie es das Ziel seiner spezifischen induktiven Methode war, »aus den Werken und Experimenten die Ursachen und Grundsätze, und aus
24 Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. In: Ders: The Works. Hrsg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis u. Douglas Denon Heath. 14 Bde. London: Longman 1857–1874. Bd. I. S. 431–837. S. 665. Bei den Übersetzungen stütze ich mich auf: Paul Requadt: Das aphoristische Denken. In: Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Hrsg. von Gerhard Neumann. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1976. S. 331–377. S. 341–343. 25 Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. S. 665 f.: »Postremo Aphorismi, cum scientiarum portiones quasdam et quasi frusta tantum exhibeant, invitant, ut alii etiam aliquid adjiciant et erogent; Traditio vero Methodica, dum scientiam integram ostentat, secures illico homines reddit, quasi iam summa adeptos.« 26 Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. S. 663: »Magistralis poscit, ut fides habeatur iis quae dicuntur, Initiativa vero potius, ut examen subeant.« 27 Vgl. Bacon: Neues Organon. S. 99–147 (Aph. I, 38–69).
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diesen beiden wieder neue Werke und Experimente« abzuleiten,28 so bestand auch sein methodisches Werk aus einer Vielzahl von sprachlichen Versuchen, sich einem methodischen Erkenntnisziel anzunähern, wodurch es sich im Status der ständigen Revidierbarkeit durch andere befand.
E XPERIMENTELLES D ICHTUNGSPROGRAMM Was in diesem Fall als akzidentielle Konstellation einer publizistischen Strategie erscheinen mag, wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum konstituierenden Faktor eines neuen Dichtungs-Programms. Denn im Zug der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche in weitgehend autonome Teilsysteme etablierte sich die Literatur als ein Medium, das sich nicht mehr vorrangig um die Nachahmung des Bestehenden, sondern programmatisch um die Erfindung eines Möglichen kümmerte. Johann Jakob Bodmer wies 1741 in seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, gegen die Vorbehalte der deutschen Schulphilosophie, der produktiven Einbildungskraft und dem Dichtungsvermögen »ein eigenes Gebiethe« zu, »welches sich unendlich weiter erstrecket, als die Herrschaft der Sinnen«. Diese seien »in dem Umfange der gegenwärtigen sichtbaren Welt eingeschlossen«, sie seien »alleine mit der Beschauung würcklicher Dinge beschäftigt«. »Alleine«, so fuhr Bodmer fort, da diese gegenwärtige Welt nicht nothwendig so ist, wie sie jetzo eingerichtet ist, […] so sind eben so viele andre Welten möglich, als vielmahl die Beschaffenheit, und Ordnung des gegenwärtigen Zusammenhanges kan geändert werden. Nun stehen alle diese unzehligen möglichen Welt=Systemata unter der Bothmässigkeit der Einbildungskraft. Diese übertrifft alle Zauberer der Welt, sie stellet uns nicht alleine das Würckliche in einem lebhaften Gemählde vor Augen, und machet die entferntesten Sachen gegenwärtig, sondern sie zieht auch mit einer mehr als zauberischen Kraft das, so nicht ist, aus dem Stande der Möglichkeit hervor, theilet ihm dem Scheine nach eine Würcklichkeit mit, und machet, daß wir diese neuen Geschöpfe gleichsam sehen, hören, und empfinden […].29
28 Bacon: Neues Organon. S. 243 (Aph. I, 117). 29 Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter. Zürich: Orell 1741. S. 13 f.
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Innerhalb einer prinzipiell ergebnisoffenen Weltordnung, die nicht mehr auf Providenz, sondern auf Kontingenz ausgerichtet war, wurden der Dichtung freiere inhaltliche und formale Gestaltungsmöglichkeiten sowie damit einhergehend ein auf Innovation angelegter epistemologischer Status zugestanden. Literatur sollte nicht mehr eine gesicherte Weltordnung veranschaulichen und bestätigen, sondern einzelne Begebenheiten in Beziehung setzen und auf diese Weise ein Ganzes formen, das durch das poetologische Gebot der Wahrscheinlichkeit auf gewisse Darstellungskonventionen verpflichtet wurde, aber prinzipiell in einem offenen Verhältnis zur Wirklichkeit stand und damit sowohl Kontingenz mindernde als auch Kontingenz befördernde Effekte erzielen konnte. Daraus lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten: erstens, dass der Dichtung insofern prinzipiell experimentelle Züge zugesprochen werden konnten, als sie, wie Lessing im Lehrgedicht Aus einem Gedichte an den Herrn M*** von 1748 festhielt, mit der Experimental-Physik die Erfindung möglicher Zustände und Vorgänge gemeinsam hatte. Bei Lessing heißt es diesbezüglich: Der Dichtern nötge Geist, der Möglichkeiten dichtet, Und sie durch feinen Schwung der Wahrheit gleich entrichtet, Der schöpferische Geist, der sie beseelen muß, Sprich M***, du weißts, braucht den kein Physicus? 30
Zweitens bedeutete dies, dass die Dichtung und mit ihr verwandte fiktionale Szenarien zum prädestinierten Medium wurden, um die Möglichkeit alternativer sozialer und politischer Welten zu erproben. Weite Teile der Romanproduktion nach 1760, etwa Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (1766/67),31 Johann Karl Wezels Robinson Krusoe (1779/80) oder Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/29),32
30 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert u. a. 9 Bde. München: Hanser 1970–1979. Bd. I. S. 162. 31 Vgl. Andreas Seidler: Die experimentelle Struktur von Ch. M. Wielands Geschichte des Agathon. Zur Koevolution von Naturwissenschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. S. 438–453. 32 Vgl. Torsten Hahn u. Nicolas Pethes: Das zweifache Ende der Utopie. Literatur als Gesellschaftsexperiment in Wezels Robinson und Goethes Wanderjahren. In: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im
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können so gelesen werden – und sind insofern wichtige Zeugnisse in einer Geschichte der Experimentalisierung des Politischen. Und es bedeutete drittens auch, dass Dichtung aus dem Experimentalparadigma Vokabular und Verfahren beziehen konnte und dass sich so auch eine spezifische Traditionsbildung des literarischen Experiments im oben angedeuteten Sinn etablieren konnte. Es waren besonders die Übergänge zwischen den sich trennenden, aber teilweise gerade deswegen neu zusammenfindenden Schreib- und Wissensformen, an denen sich die Experimentalverfahren wechselseitig durch Austausch von Motiven, Figuren, Vorgehensweisen und Schreibpraktiken befruchteten und an denen sich beispielsweise das Œuvre Lichtenbergs und das wissenschaftliche und literarische Werk Karl Philipp Moritz’ verorteten.33 Es waren aber auch solche Übertragungsvorgänge, die etwa den Zusammenhang zwischen der Hallenser Popularphilosophie und der Göttinger Physiologie förderten und ein reiches Schrifttum der literarisch-philosophischen »Versuche« und »Gedancken« hervorgebracht haben. Aus diesen ›Übertragungsversuchen‹ zwischen unterschiedlichen Diskursen und Dispositiven gingen dann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts spezifisch literarische Experimentalsysteme hervor. Märchen und Traum-Erzählungen bewährten sich als experimentelle Genres, und Autoren wie Johann Gottlob Benjamin Pfeil, Christoph Martin Wieland und Jakob Michael Reinhold Lenz gestalteten Erzählungen, Romane und Schauspiele nach dem Modell des Versuchs.34 Gerade bei Lenz zeigte sich dabei die Tendenz, im Medium der sich autonomisierenden Dichtung Bereiche zu erforschen, die den Wissenschaften nur bedingt zugänglich waren. Im Wesentlichen handelte sich sich dabei um diejenigen Bereiche des Menschen und seines physischen und psychischen Verhaltens.35 Es war ei-
19. Jahrhundert. Hrsg. von Marcus Krause u. Nicolas Pethes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. S. 123–146. 33 Siehe Michael Gamper: Fiktionen und Experimente. Lichtenberg und die Elektrizität. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. S. 359–389, und Alexander Košenina: Karl Philipp Moritz. Literarische Experimente auf dem Weg zum psychologischen Roman. Göttingen: Wallstein 2006. 34 Siehe dazu die Beiträge von Yvonne Wübben, Benjamin Specht, Gunhild Berg, Andreas Seidler, Christine Weder und Marie-Christin Wilm in: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. S. 279–292, 393–414, 415–437, 438–453, 454– 471 u. 472–492. 35 Siehe Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. Hrsg. von Nicolas Pethes u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008; Kulturgeschichte des Menschen-
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ne Vorgehensweise, die sich in der Romantik intensivierte und dann auch stark selbstreflexive Dimensionen anzunehmen begann. ›Experimentalität‹ wurde auf den Autor wie auf den Text angewendet und Literatur mithin als Medium von Selbst- und Schreibversuchen erschlossen. In der Literatur ist dabei keine bestimmende Tendenz zu Allgemeinverbindlichkeit und definitorischer Schließung der Experimentierpraxis zu beobachten; es sind eher zeitlich und räumlich konkretisierte, also lokale und regionale Verfahrensweisen unterschiedlicher Prägung zu erkennen. Im Bereich der Dichtung blieb eine allgemeine Qualität von ›Experimentalität‹ erhalten, nämlich diejenige, sich in immer wieder neue Kontexte einzusenken und sich in diesen zu verstreuen. ›Experimentalität‹ und ›Experiment‹ waren somit zunächst keine Konzepte und Verfahren der Eingrenzung und der Konzentration, sondern eher auf Zerstreuung angelegte adaptive Technologien. Dies zeigt sich auch an der breit angelegten Semantik von ›Experiment‹ bis ins späte 18. Jahrhundert hinein.36 Eine Re-Territorialisierung des ›Experimentellen‹ vollzieht sich dann aber freilich im Zuge der funktionalen Differenzierung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert – vor allem durch die Bildung von wissenschaftlichen Disziplinen und durch die Autonomisierung literarischer Schreibweisen. In diesen auf Spezialisierung und Abgrenzung gegenüber ähnlichen Praktiken angelegten Bereichen erhielt ›experimentelles‹Vorgehen, insbesondere in den Wissenschaften, nun eine enge definitorische Bestimmung. Man könnte gar behaupten, dass die Anwendbarkeit eines in Physik und Chemie ausgearbeiteten und standardisierten Experimentalverfahrens im 19. Jahrhundert zum zentralen Kriterium der Bestimmung von Wissenschaftlichkeit wurde. Ein solches ›Experiment‹ sah dann Parameter vor wie: Isolierbarkeit des aufzuklärenden Vorgangs, Begrenzung der auftretenden Variablen, Definition der Ausgangsbedingungen, kontrollierter Ablauf des Verfahrens, Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, Auswertbarkeit hinsichtlich allgemeiner
versuchs im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Birgit Griesecke u. a.. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. 36 Vgl. Gunhild Berg: Zur Konjunktur des Begriffs ›Experiment‹ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. In: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Hrsg. von Michael Eggers u. Matthias Rothe. Bielefeld: Transcript 2009. S. 51–82.
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gesetzesmäßiger Vorgänge.37 Literarische ›Experimentalität‹ hingegen zeichnete sich weiterhin eher durch eine Heterogenität der Konzepte und Verfahren aus – eine Literaturgeschichte des Experiments muss deswegen auch ihre Elemente eher locker koppeln.
V IELFALT UND F LEXIBILITÄT Die Frage, was denn geschehe, wenn die Literatur experimentiere, kann und muss deshalb flexibel beantwortet werden – wobei auf die Analogie zu einer Wissenschaftsgeschichtsschreibung verwiesen werden kann, die nach ihrer praxiologischen Wende ebenfalls die irreduzible Spezifik aller wissenschaftlicher Experimentalkulturen und Experimentalsysteme betont hat.38 Wenn Literatur also ›experimentell‹ ist, dann kann das verschiedene Erscheinungsformen hervorbringen. Experimentelle Literatur kann etwa Szenarien entwickelt und ablaufen lassen, die aus definierten Bedingungen in kontrolliertem Vorgehen neues Wissen ästhetischer oder epistemologischer, propositionaler oder formaler Art entwickelt, so in Émile Zolas Le roman expérimentale (1879/80).39 Oder sie kann wirklich stattgefundene oder erfundene Versuche aufzeichnen, erzählen und reflektieren wie in Mary Shelleys Frankenstein (1818) und Mario Giordanos Roman Black Box
37 So eine rationalistische Theorie des Experiments, die sich bei d’Alembert finden lässt (Vgl. d’Alembert, Jean Le Rond: Einleitung zur Enzyklopädie [1751]. Hrsg. von Günther Mensching. Hamburg: Meiner 1997. S. 22 f.) und Liebig (Liebig, Justus: Chemische Briefe [1844]. 6. Aufl, neuer unveränd. Abdruck der Ausgabe letzter Hand. Leipzig, Heidelberg: Winter 1878. S. 16–25). Für eine heute gängige wissenschaftstheoretische Definition von ›Experiment‹ siehe Ulrich Röseberg: Art. ›Experiment‹. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. 4 Bde. Hamburg: Meiner 1990. Bd. I. S. 977–980. Insbes. S. 979. 38 Siehe Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980; Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen: Wallstein 2001. 39 Vgl. Michael Gamper: Normalisierung/Denormalisierung, experimentell. Literarische Bevölkerungsregulierung bei Emile Zola. In: Literarische Experimentalkulturen. S. 149–168.
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(1999), der unter dem Titel DAS EXPERIMENT (D 2001) von Oliver Hirschbiegel verfilmt worden ist.40 Oder sie kann das Medium sein, in dem Selbstversuche protokolliert und ausgewertet werden, so bei Ritters galvanischen Selbstversuchen oder Drogenversuchen von Théophile Gaultier und William James.41 Oder sie kann methodisch ihr eigenes Material und ihre Verfahren variieren und Erzählexperimente, Gattungsexperimente und lyrische Versuche anstellen, wie das Gottfried Benn oder August Strindberg in den Vivisektionen getan haben.42 Oder sie bedient sich mathematischer maschineller Techniken, um aus Algorithmen neue Texte hervorgehen zu lassen, wofür Max Bense, Theo Lutz, Rul Gunzenhäuser und Vertreter der Computerdichtung Beispiele liefern.43 Oder sie schafft Situationen, in denen die Rezipienten gerichteten Veränderungsversuchen ausgesetzt sind
40 Vgl. Iwan Rhys Morus: Frankenstein’s Children. Electricity, Exhibition, and Experiment in Early-Nineteenth-Century London. Princeton, Chicester: Princeton Press 1998; Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen. Hrsg. von Rudolf Drux. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Nicolas Pethes: Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2004. S. 83–116. 41 Vgl. Gerhard Wiesenfeldt: Eigenrezeption und Fremdrezeption. Die galvanischen Selbstexperimente Johann Wilhelm Ritters (1776–1810). In: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 1 (2005). S. 207–232; Katrin Solhdju: Reisen in den Wahnsinn. Ein Pariser Experimentalsystem um 1850. In: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« S. 178–206; Ekkehard Knörer: »That sounds like nonsense, but it is pure onsense!« William James’ Selbstversuche mit der Anästhesie. In: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« S. 207–219. 42 Vgl. Marcus Krause: Mit Dr. Benn im »Laboratorium der Worte«. Zur Experimentalität moderner Subjekte. In: Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert. S. 78–109; Nicolas Pethes: Literarische Vivisektionen. Das Experiment als Gattungsstruktur bei August Strindbergs. In: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. S. 351–366. 43 Vgl. Ästhetik als Programm. Max Bense/Daten und Streuungen. Hrsg. von Barbara Büscher, Hans-Christian von Herrmann u. Christoph Hoffmann. Berlin: Vice Versa 2004 (= Kaleidoskopien 5); p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie/The Aesthetics of Digital Poetry. Hrsg. von Friedrich W. Block, Christiane Heibach u. Karin Wenz. Ostfildern/Ruit: Hatje Cantz 2004. Zu Computerdichtung und -experimenten vgl. auch den Beitrag von Christiane Heibach in diesem Band.
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wie in Bertolt Brechts »experimentellem Theater«.44 ›Experimentalität‹ in der Dichtung folgt also auch innerhalb des strukturell autonomisierten Dichtungssystems der Tendenz zur ›Verstreuung‹ und wendet sich, bei durchaus vorhandener Eigenlogik, auch insofern gegen ›Schließung‹, als sie sich immer wieder bereitwillig auf andere Experimentalkulturen hin öffnet und sich so vor allem von den Verfahren der Wissenschaften inspirieren lässt. Dies bedeutet aber auch, dass die kritischen Einwände gegen die Rede von der ›experimentellen Literatur‹, die im Namen des Experimentbegriffs des kritischen Rationalismus – also etwa demjenigen Karl Poppers aus der Logik der Forschung,45 unter anderen von Hans Magnus Enzensberger und Alfred Andersch – erfolgten,46 gegenüber dem hier entworfenen Konzept nicht greifen. Und zwar greifen sie nicht, weil sie eine reduktionistisch orientierte, wissenschaftstheoretische Position verabsolutieren, die zudem mit der tatsächlichen, wissenschaftlichen Forschungsarbeit nicht viel zu tun hat
44 Waltraud Wende Hohenberger: Über experimentelles Theater – Bertolt Brechts Konzept eines ›neuen‹ Theaters der Zukunft. In: Diagonal. Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule-Siegen (1992) H. 1: Experimente. S. 239–254. Zu Brechts epischem Theater vgl. auch den Beitrag von Florian Vaßen in diesem Band. 45 Karl Popper: Logik der Forschung [1934]. 10., verb. und verm. Aufl. Tübingen: Mohr 1994. S. 71–76. 46 Vgl. Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: Hanser 1962. S. 119 (Andersch: »Ich lehne den Begriff des Experiments im Bereich der Kunst rundweg ab. […] Die Wissenschaft kann Versuchsreihen veröffentlichen, der Künstler niemals. Selbstverständlich wird er experimentieren. Aber was er vorzulegen hat, sind Ergebnisse, nicht Experimente.«); Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde. In: Ders.: Einzelheiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962. S. 310 (»Das Experiment als Bluff kokettiert zwar mit der wissenschaftlichen Methode und ihren Ansprüchen, denkt aber nicht daran, sich ernstlich mit ihr einzulassen.«). Auf den diesen Aussagen zugrunde liegenden verengten ›Experiment‹-Begriff haben schon früh hingewiesen: Hans Schwerte [d.i. Hans-Ernst Schneider]: Der Begriff des Experiments in der Dichtung. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hrsg. von Reinhold Grimm u. Conrad Wiedemann. Berlin: Erich Schmidt 1968. S. 387–405. S. 387 f.; Helmut Heißenbüttel: Keine Experimente? Anmerkungen zu einem Schlagwort. In: Ders.: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971. Neuwied: Luchterhand 1972. S. 126–135. S. 132 f.; Harald Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. S. 11–13.
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und deshalb auch die Praxis einer ›experimentellen Literatur‹ nicht anleiten kann. Die hier in Vorschlag gebrachte Literaturgeschichte des Experiments schreibt sich demnach in vielen historisch differenzierten, sich überlagernden Konstellationen. Dies gilt auch – und vielleicht sogar besonders – für die Zeit nach 1890, in der zum einen die ästhetische und epistemologische Revolution der Neuen Medien Wirkungen zeitigte und den Druck auf den mediologischen Status von Literatur erhöhte und in der zum andern bereits eine weit verzweigte Traditionsbildung ›experimenteller Literatur‹ bestand, die alle Konzeptbildungen zusätzlich intertextuell verkomplizierte. Dabei waren die Romantik und der Naturalismus die prägnantesten literaturhistorischen Stationen, auf die Bezug genommen wurde. Am nachhaltigsten mag aber das Werk Friedrich Nietzsches gewirkt haben, welches das Paradigma der ›Experimentalität‹ am konsequentesten und weitesten ausdehnte und damit der kommenden Zeit die Aufgaben stellte.47 Nietzsche etablierte eine »Experimental-Philosophie«48 in einer Zeit, in der »der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben« sei und in der der »gute[ ] Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert« werden könne.49 In diesem Zustand des »[m]oralische[n] Interregnum[s]«, in dem die sich auflösenden »moralischen Gefühle und Urtheile« noch nicht ersetzt seien,50 forderte er eine »Lust am Versuchen«,51 die sich als philosophischer Imperativ formulieren ließ: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«52 Ein solches »mit uns selber experimentiren«53 entlehnte seine Verfahren aber nicht der Praxis der Wissenschaften; seine »ExperimentalPhilosophie« war vielmehr auf radikal zukunftsoffene Forschungsversuche angelegt, denen sichernde theoretische Vorgaben und Kontrollparameter fehlten. Das Instrumentarium zu Nietzsches Versuchen spendete denn auch
47 Siehe die Beiträge von Jörg Zimmer und Christine Blättler in: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« S. 397–413 u. 414–431. 48 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: De Gruyter 1980. Bd. XIII. S. 492 (Nachlass 1888). 49 Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd. III. S. 294 (Morgenröthe, 501). 50 Nietzsche: Sämtliche Werke. S. 274 (Morgenröthe, 453). 51 Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd. V. S. 142 (Jenseits von Gut und Böse, 210). 52 Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd. III. S. 274 (Morgenröthe, 453). 53 Nietzsche: Sämtliche Werke. S. 294 (Morgenröthe, 501).
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die Philosophie, deren Interventionsfeld das ›Leben‹ war. Nietzsche zielte dabei auf die denormalisierende Kraft des Experiments, auf eine Über- oder Unterbietung von Mittelmaß und auf ein versuchsweises Vorstoßen zu den Extremen. Das »Leben« sollte »ein Experiment des Erkennenden« sein.54 Es war also als philosophisches Selbstexperiment gedacht, das freilich immer ins Kollektive tendierte, zur Anlage »kleine[r] Versuchsstaaten«, oder dazu, gleich die ganze »Menschheit« in die Subjektposition der Experimentatorin zu bringen.55 Alle diese Aussagen betrafen freilich im Falle Nietzsches Experimente auf dem Papier. Sein »Zeitalter der Experimente« war zunächst eines der explorativen Freisetzung der Ideen und Schreibweisen, der radikalen Gedankenexperimente, die eine andere Welt entwarfen, als sie in den dominanten Diskursen der Zeit vorgesehen war. Es war aber auch ein Zeitalter, in dem mit sprachlichen Mitteln die sprachlichen Versuche durch ihre Diktion größtmögliche Effekte erzielen sollten, um dadurch auf die Haltung der Rezipienten einzuwirken. Der Aphorismus Nietzsche’scher Prägung steht – ebenso wie die Novelle Wilhelm Heyses und Leopold Sacher-Masochs, die Romantheorie Zolas und Wilhelm Bölsches oder die Romanform George Eliots – für ein innovatives Schreiben mit Erkenntnisanspruch und einen variierenden Gattungsgebrauch mit je unterschiedlicher, ästhetischer Textkonstitution. Diese wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von ihren Autoren und sicherlich auch zu einem guten Teil von ihren Rezipienten als ›experimentell‹ verstanden.
G ESTALTEN UND V ARIANTEN DES M ÖGLICHKEITSSINNS Charakteristisch für das 20. Jahrhundert sind aufgrund dieses vielfältigen Traditionsbestandes gerade die vielen verschiedenen Ansätze ›experimenteller Literatur‹. Festzustellen ist dabei generell eine unterschiedliche Dichte der experimentellen Bezüge, die in mannigfacher Art auf das Experimentalvokabular zugreifen, differente Aspekte der ›bestimmten provozierten Erfahrung‹ jeweils aktualisieren und daraus sehr verschiedene poetologische Konsequenzen ziehen – und dabei je andere Oppositionen und Allian-
54 Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd. III. S. 552 (Die fröhliche Wissenschaft, 324). 55 Nietzsche: Sämtliche Werke. S. 274, 294 (Morgenröthe, 453, 501).
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zen zu und mit unterschiedlichen produktionsästhetischen und wissenspoetologischen Konzepten bilden. Fixpunkte ›experimenteller Literatur‹ im 20. Jahrhundert sind etwa: die enge Verflechtung von künstlerischen und wissenschaftlichen Experimentalsystemen in der jungen Sowjetunion;56 ferner Konstellationen eines Möglichkeitsdenkens bei Robert Musil,57 Ludwik Fleck, Edmund Husserl und Ludwig Wittgenstein, die unter anderem die Grundlagenkrise der Mathematik, die psychologische Feldtheorie und die physikalischen Paradigmenwechsel hin zu Relativitätstheorie und Quantenmechanik reflektieren;58 dann Brechts Medienästhetik, die den performativen Ereignischarakter und die umformende Wirkung experimenteller Prozeduren für sich beanspruchte;59 außerdem Max Bense, die Stuttgarter Schule und ihre Beziehungen zu Gruppierungen der Konkreten Poesie, die den ›Experiment‹-Begriff konsequent mit dem Selbstverständnis der Neoavantgarde verbunden haben;60 überdies eine Praxis experimenteller Prosa, die sich vor allem durch die Auflösung narrativer Strukturen auszeichnet;61 und schließlich die Projekte von Netzliteratur und digitaler Poesie, die sowohl an streng methodische als auch an spielerische Experimentkonzepte anschließen.62 Am Beispiel der drei zuletzt genannten Konstellationen lässt sich dann auch die bereits erwähnte, bestimmende Tendenz festmachen, das ›Experimentelle‹ von Literatur nach 1950 in der Anwendung des ›Möglichkeits-
56 Vgl. Margarethe Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion. Göttingen: Wallstein 2007. 57 Zum Möglichkeitssinn Musils vgl. auch den Beitrag von Birgit Nübel in diesem Band. 58 Vgl. Werkstätten des Möglichen 1930–1936. L. Fleck. E-Husserl, R. Musil, L. Wittgenstein. Hrsg. von Birgit Griesecke. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. 59 Vgl. Hans-Christian von Herrmann: Sang der Maschinen. Brechts Medienästhetik. München: Fink 1996. 60 Vgl. Michael Gamper: Poesie konkret. Literatur als Experiment. In: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3 (2007). S. 129–152. 61 Vgl. Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. S. 298–468. 62 Vgl. Brian Hayes: Computer-Dichtkunst. In: Spektrum der Wissenschaft (1988). Sonderheft: Computer-Kurzweil II. S. 100–106; Peter Gendolla u. Jörgen Schäfer: The Aesthetics of Net Literature. Writing, Reading, and Playing in Programmable Media. Bielefeld: Transcript 2007.
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sinns‹ auf Sprache zu erkennen. Siegfried J. Schmidt hat das von ihm postulierte »Konkretismusprogramm« als Applizierung eines »erkenntnistheoretischen operativen Konstruktivismus« in künstlerischer Form verstanden, der darauf zielt, »Kontingenzbewusstsein wachzuhalten« und »das Beobachten zu beobachten«.63 ›Experimentalisierung‹ versteht sich dann als Neuorganisation konventionalisierter Verhältnisse, die nicht nur die Beziehungen innerhalb grammatikalischer Strukturen betreffen, sondern auch allgemeiner die Relationen von Sprache, Wirklichkeit, Kommunikation, Subjektivität und Wahrnehmung betreffen.64 Dieser Ansatz greift allerdings, angesichts der Schwierigkeiten, die sich einer experimentierenden Literatur in den letzten Jahrzehnten stellten, in seiner Allgemeinheit zu kurz. Denn eine auf Erzeugung von Kontingenzbewusstsein zielende Kunst ist in Differenzierungsprobleme geraten, seitdem sich nach 1960 ›Flexibilisierung‹, ›Zukunftsoffenheit‹ und ›Möglichkeitssinn‹ zunehmend als allgemeine gesellschaftliche Dispositionen und Subjektivierungsmuster durchgesetzt haben. Das Medium dieser »generalisierten Neugierde« war, wie Michael Makropoulos argumentiert, die ›Massenkultur‹,65 die sich in den 1970er Jahren in den westlichen Gesellschaften als ›Basiskultur‹ durchgesetzt habe.66 Massenkultur etablierte sich als Mittel der Einübung eines populären ›Möglichkeitssinns‹, das seinen Teilhabern etwa durch Warenvielfalt, Tourismus, ausländische Gastronomie und die tele-technischen Massenmedien Erlebnisse des Pluralen und des positiv erfahrenen Andersseins ermöglichte – eines ›Andersseins‹ freilich, das in seiner Potentialität innerhalb normalisierter Grenzbereiche gehalten wurde. Massenkultur positivierte und integrierte damit ›Möglichkeitssinn‹ und machte auf diese Weise Kontingenz zu einer Selbstentfaltung ermöglichenden Struktur der Lebenswelt, band diese aber auch an eine bestimmte und beschränkte Struktur kommunikativer Anschlussfähigkeit zurück.67 Provokativ und zugespitzt formuliert könnte man deshalb sagen, dass »jenes un-
63 Siegfried J. Schmidt: Experimentelle Literatur? Der Fall ›konkrete Dichtung‹. In: Diagonal. Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule-Siegen (1992) H. 1: Experimente. S. 211–235. S. 232–234. 64 Vgl. Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. S. 290 f. 65 Michael Makropoulos: Theorie der Massenkultur. München: Fink 2008. S. 129. 66 Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970. Frankfurt am Main: Fischer 1997. S. 265. 67 Vgl. Makropoulos: Theorie der Massenkultur. S. 15, 142.
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vergleichliche Vorrecht« des Dichters, wie Baudelaire in Le Spleen de Paris (posthum 1868) formulierte, »nach Belieben er selbst und ein anderer zu sein« (»à sa guise être lui-même et autrui«), unter den Bedingungen der Massenkultur allgemein geworden sei.68 Diese Konstellation konfiguriert die Situation experimenteller Dichtung bzw. Kunst nach 1960 in neuer Weise. Sie führte zum einen dazu, dass die Rede vom ›Experimentellen‹ in den Medien fast omnipräsent wurde und dass in der Folge der Terminus in abgeschliffener und unspezifischer Weise inflationär zur Bezeichnung von sich als neu und ungewöhnlich verstehenden poetischen und ästhetischen Konzepten verwendet wurde und noch immer wird. Zum andern bewirkte diese neue Konstellation aber auch, dass die avantgardistischen Experimentalpoetiken sich nun neu ausrichteten. Es genügte nun, wie Adorno in der Ästhetischen Theorie meinte, nicht mehr, dass »der seiner selbst bewußte Wille unbekannte oder nicht sanktionierte Verfahrungsarten erprobt«, sondern nun war gefordert, dass »das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann«.69 Dichter und Theoretiker setzten sich strengen methodischen Versuchsanordnungen aus oder machten sich gar – wie im Fall von Bense und der Stuttgarter Schule – neueste technische Errungenschaften, wie die frühen Computer-Anlagen, zu eigen. Dabei griffen sie mit neuen Verknüpfungsregeln und alternativen Kombinationskriterien auf die fundamentale Ordnung der Sprache zu und brachten mit einem »poetische[n] Algorithmus« bzw. »methodische[m] Schreiben« »bewußte[ ] Poesie in einer gewissen Feindschaft zur Außenwelt des Worts« hervor, wie es Max Bense einmal ausdrückte.70 Die anhaltende Insistenz der Neoavantgarden, den ›Möglichkeitssinn‹ an und in der Sprache zu erproben, ist deshalb nicht mehr als eine Reaktion auf festgefahrene Sprachkonventionen zu verstehen, sondern muss als Ver-
68 Charles Baudelaire: Le Spleen de Paris [posthum 1868]. Gedichte in Prosa. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München: Hanser 1975–1992. Bd. 8. S. 113–307. S. 149. 69 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. 9. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. S. 42 f. 70 Max Bense: Über experimentelle Schreibweisen. In: Ders.: Theorie der Texte. Eine Einführung in neuere Auffassungen und Methoden. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1962. S. 148 f. S. 148.
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such betrachtet werden, ein allgemein entstehendes Kontingenzbewusstsein neuerlich kontingent zu setzen. Dies bedeutet, dass kulturelle Bestände in den Blick genommen werden, denen die Charakteristik des potentiellen Andersseins programmatisch eingeschrieben ist, und dass diese Bestände nun mit strenger Methodik neuerdings variiert werden. Damit stellt die Massenkultur einer Kunst, die in einem emphatischen Sinne ›experimentieren‹ will, die Aufgabe, methodisch sehr streng und reflektiert zu verfahren, um Versuchsanordnungen zu finden, die wiederum die massenkulturelle Flexibilisierung im Laboratorium der Bilder und Worte untersuchen können.
L ITERATURVERZEICHNIS Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. 9. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. S. 127–198. Ästhetik als Programm. Max Bense/Daten und Streuungen. Hrsg. von Barbara Büscher, Hans-Christian von Herrmann u. Christoph Hoffmann. Berlin: Vice Versa 2004 (= Kaleidoskopien 5). Bacon, Francis: De dignitate et augmentis scientiarum [engl. 1605/lat. 1623]. In: Ders: The Works. Hrsg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis u. Douglas Denon Heath. 14 Bde. London: Longman 1857–1874. Bd. I. S. 431–837. –––: Neues Organon [1620]. Lateinisch-deutsch. 2 Bde. Hrsg. von Wolfgang Krohn. 2. Aufl. Hamburg: Meiner 1999. –––: Neu-Atlantis [1627]. Hrsg. von Jürgen Klein. Stuttgart: Reclam 1982. Baudelaire, Charles: Le Spleen de Paris [posthum 1868]. Gedichte in Prosa. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München: Hanser 1975–1992. Benn, Gottfried: Lyrik [1949]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hrsg. von Gerhard Schuster. Stuttgart: Klett-Cotta 1986–2003. Bd. 3. S. 355 f. Bense, Max: Über experimentelle Schreibweisen. In: Ders.: Theorie der Texte. Eine Einführung in neuere Auffassungen und Methoden. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1962. S. 148 f.
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»Eine ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung«1 – Essayismus und Experimentalismus bei Robert Musil
B IRGIT N ÜBEL
ABSTRACT: Die Kategorie des Möglichkeitssinns, wie sie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) entwickelt wird, leitet sich aus der Übertragung der Experimentalphysik auf die moderne Literatur ab. In seinen Essays versucht Musil, das Konzept des modernen Dichters dem des wissenschaftlichen Experimentators anzunähern und konstruiert das Ideal eines Dichter-Ingenieurs, der mit (natur)wissenschaftlichen Experimentier- und Messungsmethoden im Bereich der Literatur einen ›neuen Menschen‹ konstruiert, also Bedingungen für Konfigurationen schafft, unter denen dieser sichtbar bzw. möglich wird.
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Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman I. Erstes und Zweites Buch (1930/32). Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994. S. 365; im Folgenden zitiert als (MoE I, 365). – Abweichend von den anderen Beiträgen in diesem Band werden in den biographischen Angaben zu Texten Robert Musils ausgehend von der von Adolf Frisé besorgen Ausgabe der Gesammelten Werke, nach der ich der besseren Verfügbarkeit und Überprüfbarkeit wegen im Folgenden überwiegend zitiere, die jeweils angegebene Jahreszahl der zu Lebzeiten Musils unveröffentlichten Texte (sowie die von Musil selbst nicht autorisierten Titel) in eckige Klammern gesetzt, während die Datierungen der veröffentlichten Texte in runden Klammern stehen.
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E SSAYISTISCHER E XPERIMENTALISMUS Immer: ein geistiges Abenteuer, eine geistige Expedition u[nd] Forschungsfahrt. Partiallösungen nur ein Ausdruck dafür.2
Die beiden »Wörter aus der Fremde«,3 Essay und Experiment, verbindet im Deutschen der Bedeutungskomplex ›Versuch‹. Dies deutet auf einen gemeinsamen ›Ursprung‹ bzw. eine Überschneidung in der »Experimentalkonstellation[ ] der Neuzeit«,4 also im epochalen Umbruch zur Moderne im weiteren Verständnis hin. Dabei erhält ›Versuch‹ (im Hinblick auf die Erforschung der Wirklichkeit) nicht nur eine experimental-wissenschaftliche, sondern (in Bezug auf die Kategorie des Möglichen) auch eine abenteuerlich-explorative und erotisch-sinnliche Komponente. ›Experiment‹ als »Leitbegriff der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaft«5 kommt von lat. experiri ›versuchen‹6 bzw. lat. experimentum, also ›Versuch‹, ›Erprobung‹.7 Dagegen ist ›Essay‹ etymologisch aus dem nachklassischen exagium herzuleiten und bedeutet ›Gewicht‹, ›Gewichtmaß‹ sowie im übertragenen Sinne ›wägen‹, ›erwägen‹, ›überlegen‹.
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Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman II. Aus dem Nachlaß hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994. S. 1940; im Folgenden zitiert als (MoE II, 1940). Vgl. Theodor W. Adorno: Wörter aus der Fremde. In: Noten zur Literatur II. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1961. S. 110–130. Michael Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments – eine Einleitung. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2009. S. 9–30. S. 9. Hans Otto Horch: Experiment. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. von Dieter Borchmeyer u. Viktor Žmegač. 2., neu bearb. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1994. S. 139–141. S. 139. Vgl. Georg Jäger: Experimentell. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar u. a. Bd. 1. Berlin: de Gruyter 1997. S. 546– 548. S. 546 und Gerhard Frey: Experiment. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter u. a. Basel: Schwabe 1972. Bd. 2. S. 868– 870. S. 867. Waltraud Wende: Experimentelle Literatur. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhardt Moennighoff. Stuttgart: Metzler 2007. S. 221 f. S. 221.
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Im Französischen des 16. Jahrhunderts wird die Verbform essaier verwendet für »betasten, prüfen, schmecken, erfahren, in Versuchung führen, unternehmen, sich in Gefahr begeben, ein Risiko eingehen, wägen, abwägen, einen Anlauf nehmen.« Das Substantiv essai bedeutet ›Kostprobe‹, also das ›Vorkosten von Getränken und Speisen‹ sowie die ›Übung‹, das ›Vorspiel‹, die ›Probe‹, den ›Versuch‹ und die ›Versuchung‹.8 Mit Francis Bacon (1561–1626), dem »wahre[n] Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft«,9 lässt sich literatur- wie wissenschaftsgeschichtlich eine Gleichzeitigkeit, wenn nicht gar Korrelation zwischen der literarischen Form des Essays und dem neuzeitlichen Prinzip forschend-entdeckenden Experimentierens herstellen. Fand in der mittelalterlichen Scholastik bis hin zur Renaissance experimentum (›Experiment‹) meist gleichbedeutend mit experientia (›Erfahrung‹) Verwendung,10 führt Bacon, der zwischen beiden streng unterscheidet,11 das Experiment in die Wissenschaftsphilosophie ein, um »aus den Werken und Experimenten die Ursachen und Grundsätze, und aus diesen beiden wieder neue Werke und Experimente« abzuleiten.12 Wissenschaft im Sinne einer experientia quaesita (›gesuchten Erfahrung‹) beruht auf methodisch reflektierten Versuchsreihen, die auf induktivem Wege (neue) Erfahrungen generieren.13 Experimentelle Wissenschaft wird zur scientia activa (›aktiven Wissenschaft‹). Dabei ist Experimentieren nicht nur passives Erfahren, bloße Beobachtung (observatio), die sich auf ein ohne menschliches Zutun stattfindendes Naturgeschehen richtet, sondern stellt als experimentum immer auch einen Eingriff in den Versuchsablauf und mithin die Wirklichkeit dar.
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Gerhard Haas: Essay. Stuttgart: Metzler 1969. S. 1. Friedrich Engels u. Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten [1845]. In: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke. Berlin: Dietz 1972. Bd. 2. S. 3–224. S. 135. Vgl. Frey: Experiment. S. 868. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin: Akademie 1995. S. 97. Francis Bacon: Neues Organon [1620]. Lateinisch-deutsch. 2 Bde. Hrsg. von Wolfgang Krohn. 2. Aufl. Hamburg: Meiner 1999. Bd. 1. S. 243. Vgl. Horch: Experiment. S. 139. Vgl. Bacon: Neues Organon. S. 177: »So bleibt die bloße Erfahrung übrig; begegnet man ihr so obenhin, so heißt sie Zufall, sucht man sie, so nennt man sie Experiment.«
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Seit Michel de Montaignes Essais (1580–95),14 in welchen das Wort ›essai‹ noch nicht in gattungstypologischem, sondern denkmethodischem Sinn, als Prinzip der Erkenntnissuche wie des Schreibprozesses, Anwendung findet, wird das Substantiv ›Essay‹ zunehmend auch für ›Abhandlung‹ gebraucht. Bis Hermann Grimm Mitte des 19. Jahrhunderts den Begriff explizit als Textklassifikation einführte,15 kursierten die deutschsprachigen Essays avant la lettre vielfach unter der Bezeichnung ›Versuch‹, um das Vorläufige, Versuchsweise, Unbestimmte, Unabgeschlossene und Unsystematische dieser Textsorte im Unterschied zur deduktiv und logisch widerspruchsfreien wissenschaftlichen Abhandlung zu kennzeichnen. Am Ende des 18. Jahrhunderts stehen Georg Christoph Lichtenberg, der die erste deutsche Professur für Experimentalphysik (Physik, Mathematik und Astronomie) in Göttingen innehatte, und Friedrich Schlegel für einen naturwissenschaftlich-induktiven wie kritisch-reflexiven experimentellen Modus: eine Denk- wie Textbewegung, die sich nicht (nur) als gegenständlich-instrumentelles Erforschen der (äußeren) Wirklichkeit (›Experimentalphysik‹), sondern auch als Gedankenexperiment und Selbstversuch (›Experimentalphilosophie‹) versteht. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme Kunst/Literatur und Wissenschaft während der sogenannten ›Sattelzeit‹ (Reinhart Koselleck) am Ende des 18. Jahrhunderts versucht das frühromantische Projekt der progressiven Universalpoesie auf der Basis einer naturphilosophischen Enzyklopädie in Form des essayistischen Fragments die Gattungen Lyrik, Dramatik und Epik wie Philosophie, Kunst und Wissenschaft noch einmal zu verbinden. Der fortdauernde Prozess der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme Literatur/Kunst und (Natur-)Wissenschaft führt im Verlauf des
14 Michel Eyquem Seigneur de Montaignes (1533–1592) Essais erschienen 1580 in zwei Büchern und wurden 1588 um ein drittes Buch ergänzt; eine dritte Fassung, welche die von Montaigne selbst bis zu seinem Tod vorgenommenen Korrekturen, Anmerkungen und Fortschreibungen enthält, erschien posthum 1595. 15 Hermann Grimm: Aus den letzten fünf Jahren. Fünfzehn Essays. Vierte Folge. Gütersloh 1890. S. V–VIII. Abgedr. in: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten. 6 Bde. Hrsg. von Ludwig Rohner. Bd. 1: Essays avant la lettre. München: dtv 1972. S. 25–27.
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19. Jahrhunderts zu zwei differenten ›Kulturen‹16 bzw. »Geistesverfassungen«, die bis heute für unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit konstitutiv sind. Auch im ersten Band von Robert Musils fragmentarischem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930) wird das Verhältnis der beiden naturund geisteswissenschaftlichen Kulturen im Hinblick auf ihr jeweiliges Tatsachen- bzw. Wirklichkeits- und Wahrheitskonzept dichotomisch konzipiert: Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her.17
In Frankreich Mitte und in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts hat bereits der Naturalismus den Anspruch erhoben, die fortgeschrittene Theorie und Methodik der Natur- und Technikwissenschaften in künstlerische Darstellungsinhalte und -techniken umzusetzen.18 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird mit den historischen Avantgarden das Experiment zu einer Leitkategorie der künstlerischen wie gesellschaftlichen Innovation. Dabei handelt es sich um Experimente mit dem Material (der Sprache, den Farben, Formen) wie um Experimente mit den Wahrnehmungsstrukturen und -bedingungen. Der Bruch mit dem ›Alten‹, den herkömmlichen literarischen Mustern und Traditionen, vollzieht sich unter dem Aspekt des ›Neuen‹ und Überraschenden, des Schocks. Die ästhetischen Material- und Wahrnehmungsexperimente genügen dabei keineswegs den strengen Be-
16 Charles Percy Snow: Die zwei Kulturen [1959]. In: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Hrsg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart: Klett 1969. S. 11–25. S. 11. 17 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 248); Hervorh. von B. N. 18 Vgl. Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik [1887]. Hrsg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen: Niemeyer 1976. S. 7 f.: »Der Dichter […] ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet.« Im »poetischen Experiment[ ]«, so Bölsche weiter, »verknoten sich Naturwissenschaft und Poesie.«
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dingungen (natur- und technik-)wissenschaftlicher Experimentatorik: Quantifizierbarkeit, Nachvollziehbarkeit, das heißt Reproduzierbarkeit der experimentellen Anordnungen und Ergebnisse sowie intersubjektive Überprüfbarkeit und Dokumentierbarkeit (Versuchsprotokolle, Laborjournale etc.). Gleichwohl ist die Verwendung des Experimentbegriffs nicht ausschließlich metaphorisch zu sehen.19 Diejenige moderne Kunst, die den Anspruch auf Referenzialisierbarkeit zunehmend aufgegeben hat, kann als Versuch gedeutet werden, das Verhältnis von Kunst und Leben, Möglichkeit und Wirklichkeit neu zu bestimmen. Die Kategorie des Möglichkeitssinns, wie sie im 4. Kapitel »Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben« von Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften entwickelt wird, leitet sich aus der Übertragung der Experimentalphysik auf die moderne Literatur ab. Die unbestrittene gesellschaftliche Relevanz des naturwissenschaftlich-technischen (Kultur-)Bereiches korreliert, so die Analyse, mit der relativen Funktionslosigkeit des anderen. In einer ironischen Brechung, welche die traditionelle Kultursymbolik der Geschlechter gleichzeitig bestätigt wie infrage stellt, wird der Bereich des Ratioïden ›männlich‹, der des Nicht-Ratioïden ›weiblich‹ konnotiert.20 Die »Menschen des Lebens« überlassen, so ist den sich überlagernden Reflexionen von Erzähler und Protagonist zu entnehmen, die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens, kurz alle Fragen der Humanität, soweit sie nicht geschäftliche Beteiligung daran haben, am liebsten ihren Frauen, und solange diese noch nicht ganz dazu genügen, einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, daß man es auch anders machen könnte.21
19 Vgl. Jäger: Experimentell. S. 547. 20 Zur Unterscheidung zwischen dem Ratioïden und dem Nicht-Ratioïden vgl. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918). In: Ders.: Gesammelte Werke II: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. S. 1025–1030 (im Folgenden GW II) sowie Birgit Nübel: Robert Musil: Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin: de Gruyter 2006. S. 170–182. 21 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 248); Hervorh. von B. N.
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Das Verhältnis von Kunst, welche nicht mehr das Wahre und Gute, sondern allein noch das (gesellschaftlich irrelevante) Schöne vertritt, und Wissenschaft als institutionalisierter Ort der Wahrheit, wie es im 61. Kapitel »Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens« ironisch konterkariert wird, hatte sich jedoch bereits mit der Jahrhundertwende um 1900 grundlegend gewandelt. Bediente sich noch die klassische Physik des Experiments zur Nachprüfung von weitgehend klar umschriebenen, zielgerichteten Hypothesen, so richtet die Naturwissenschaft seit Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg ihre »kontrollierte Frage ins noch nicht Gewußte«,22 das heißt, sie entwickelt Experimentalsysteme, »um Antworten auf Fragen zu geben, die wir noch nicht klar zu stellen in der Lage sind.«23 Das Konzept von Möglichkeit bzw. Potenzialität, also das Bewusstsein, dass die Welt auch anders beschrieben werden könnte, beschäftigt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts moderne Philosophie, Wissenssoziologie,24 Literatur wie (Natur-)Wissenschaft gleichermaßen. Das Experiment im modernen Verständnis als ergebnisoffenes, zu differentieller Reproduktion fähiges Versuchssystem eröffnet Möglichkeitsräume,25 welche den empirisch-exakt agierenden ›Wirklichkeitssinn‹ um die Dimension des ›Möglichkeitssinns‹ erweitern. Der Versuch einer Anwendung des experimentellen Möglichkeitssinns auf die Kategorie des Tatsächlichen, Wirklichen soll im Folgenden am Beispiel Robert Musils im Spannungsfeld von Technik- und Naturwissenschaft auf der einen Seite und Literatur auf der anderen Seite untersucht werden. Als Schnittfläche beider Bereiche wird von einem essayistischen Experimentalismus bzw. experimentellen Essayismus ausgegangen. Dieser ver-
22 Hans Schwerte [d.i. Hans-Ernst Schneider]: Der Begriff des Experiments in der Dichtung. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hrsg. von Reinhold Grimm u. Conrad Wiedemann. Berlin: Erich Schmidt 1968. S. 387–405. S. 401; vgl. Horch: Experiment. S. 139. 23 Hans Jörg Rheinberger: Experiment. Differenz. Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg an der Lahn: Basilisken Presse im Verlag Natur u. Text 1992. S. 25. 24 Vgl. Birgit Nübel: Relationismus und Perspektivismus. Karl Mannheim und Robert Musil. In: »Alle Welt ist medial geworden.« Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Tübingen: Francke 2005. S. 141–161. 25 Vgl. Marcus Krause u. Nicolas Pethes: Einleitung. In: Literarische Experimentalkulturen. S. 7–18. S. 14.
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sucht – im Kontext des zeitgenössischen Avantgardismus – weniger, die traditionellen literarischen Formen zu sprengen, sondern vielmehr die Grenzen zwischen Wissenschaft und Leben (Essayismus I)26 auf der einen Seite und Kunst und Leben (Essayismus II)27 auf der anderen Seite in einem Konzept phantastischer Genauigkeit aufzuheben. Dabei werden, wie an der poetologischen Programmatik Musils zu zeigen sein wird, die zeitgenössische Erkenntnistheorie und Methodik aus den Experimentalwissenschaften auf den Bereich des Nicht-Ratioïden übertragen. In der Einbeziehung des sich den exakten Methoden der Naturwissenschaft Entziehenden in den Bereich des zu Erkennenden kommt es zu einer Erweiterung der naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisgrenzen sowie zu einer Kritik des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses.
E SSAYISMUS ALS E XPERIMENT MIT DER W IRKLICHKEIT Die alten Tragödien sterben ab und wir wissen nicht, ob es neue noch geben wird, wenn man heute schon im Tierexperiment durch einige Injektionen Männchen die Seelen von Weibchen einflößen kann und umgekehrt. Wer kein Integral auflösen kann oder keine Experimentaltechnik beherrscht, sollte heute überhaupt nicht über seelische Fragen reden dürfen.28
Experimente erkunden »durch Erprobung des Möglichen Strukturen des Faktischen«.29 Im 4. Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften »Wenn es
26 Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1877). 27 Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1880). 28 Musil: Die Schwärmer (1921). In: (GW II, 309–407, hier 392). In der Figur des Detektivs Stader, dem Leiter des »größte[n] und neuzeitlichste[n] Ausforschungsinstitut[s] der Gegenwart: Newton, Galilei & Stader« (GW II, 338) erfährt die Übertragung der wissenschaftlich-experimentellen Haltung auf das ›Leben‹ die stärkste Ironisierung. Vgl. ebd. S. 339: »STADER: […] Mein Institut arbeitet mit den neuzeitlichen Mitteln der Wissenschaft. Mit Graphologik, Pathographik, hereditärer Belastung, Wahrscheinlichkeitslehre, Statistik, Psychoanalyse, Experimentalpsychologik und so weiter. […] Die moderne Wissenschaft und Detektivik engt den Bereich des Zufälligen, Ordnungslosen, angeblich Persönlichen immer mehr ein. Es gibt keinen Zufall! Es gibt keine Tatsachen! Jawohl! Es gibt nur – wissenschaftliche Zusammenhänge.« 29 Birgit Griesecke u. Werner Kogge: Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment? Mach, Wittgenstein und der neue Experimentalismus. In: Literarische Experi-
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Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben«, wird ein »bewußte[r] Utopismus« entworfen, »der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.« 30 Der experimentelle Eingriff in die Wirklichkeit verkehrt das Verhältnis von Wirklichkeit (Handlung) und mimetischer Abbildung zu einer Konstruktion (»Erfindung«) von Wirklichkeit. Im 61. Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften wird die »Utopie der Exaktheit«31 als literarisches Experiment mit der Wirklichkeit bestimmt: Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammengesetzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Folgerungen zieht; Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen.32
Die Betonung des Experimental- bzw. Versuchscharakters des Essays gehört zu den traditionellen Topoi der Essayforschung, wobei vielfach zwischen dem Essay als literarischer Form und dem Essayismus als Erkenntnismethode unterschieden wird, wie auch eine Typologisierung essayistischer Formen nach den beiden ›Urahnen‹ Montaigne und Bacon im Sinne einer ›doppelten Vaterschaft‹ üblich ist.33 Die drei Meta-Essays über den
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mentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Marcus Krause u. Nicolas Pethes. Würzburg: Könighausen & Neumann 2005. S. 40–72. S. 44. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 16). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 247). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I 246), Hervorh. von B. N.; vgl. in den Entwürfen zu Der Mann ohne Eigenschaften: »Im Zusammenhang damit wird das Wesen der Utopie beschrieben als Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Lebenselements u. deren Wirkungen beobachtet werden. Eine aus ihrer hemmenden Wirklichkeitsbindung gelöste u. entwickelte Möglichkeit.« (MoE II, 1878) Vgl. Nübel: Der Essay – eine Gattung ohne Eigenschaften? In: Dies.: Robert Musil. S. 13–29. S. 22.
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Essay/ismus von Georg Lukács, Theodor W. Adorno und Max Bense34 lassen sich auf das zentrale 62. Kapitel aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften »Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus« zurückführen. So bestimmt auch der Max Bense, »Grenzgänger zwischen Mathematik, Physik, Philosophie«,35 Literatur und Ästhetik, in Über den Essay und seine Prosa (1952) den Essay als »Ausdruck experimentierender Methode des Denkens«:36 Der Essay bedeutet […] eine Form experimenteller Literatur, und man hat in demselben Sinne davon zu sprechen, wie man von experimenteller Physik spricht, die sich sehr scharf von der theoretischen Physik unterscheiden läßt. […] Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer seinen Gegenstand nicht nur hin und her wendet, sondern diesen Gegenstand während des Schreibens, während der Bildung und während der Mitteilung seiner Gedanken findet oder erfindet, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert […].37
Bense verortet dabei das »essayistische Experiment« als »im Prinzip unabhängig von der Substanz, vom Gegenstand.«38 Der Gegenstand ist demnach nicht das Vorausliegende, also das bereits Vorhandene, Vorgeformte bzw.
34 Vgl. Georg Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: Ders.: Die Seele und die Formen. Essays [1911]. Neuwied: Luchterhand 1971. S. 7–32. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form [1958]. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 9–34. Max Bense: Über den Essay und seine Prosa. In: Ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart: Dt. Verl.-Anstalt 1952. S. 9–37. 35 Birgit Griesecke: Essayismus als versuchendes Schreiben. Musil, Emerson und Wittgenstein. In: Essayismus um 1900. Hrsg. von Wolfgang Braungart u. Kai Kauffmann. Heidelberg: Winter 2006. S. 157–175. S. 160. Bense gilt als der erste Theoretiker der Konkreten Poesie; er studierte nach 1930 an der Universität Bonn Physik, Chemie, Mathematik und Geologie, daneben Philosophie; er promovierte über Quantenmechanik und Daseinsrelativität und hatte eine Professur für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen Universität Stuttgart inne. 36 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 27. 37 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 28; vgl. Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg: Winter 2009. S. 59. 38 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 32; vgl. auch Adorno (Der Essay als Form. S. 30), der von der »Idee des Glücks einer Freiheit dem Gegenstande gegenüber« spricht.
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Gefundene,39 Tatsächliche. Der Gegenstand ist vielmehr das, was das essayistische Experiment erst konstruiert (»findet oder erfindet«). Hier verfertigt sich nicht (nur) der Gedanke beim Reden bzw. Schreiben,40 sondern der Gegenstand selbst wird zum Effekt des experimentellen Schreibaktes. Das Experiment konstituiert Wirklichkeit qua Möglichkeitsdenken. Der Essay erfinde, so Bense, zwar keine neuen Welten, aber er schaffe selbst Realitäten,41 das heißt neue Konfigurationen von Gegenständen als Resultat nicht nur eines neuen Sehens, sondern einer permanenten perspektivischen Verschiebung, welche den Gegenstand in seiner Bedingtheit erst konstituiert. Auf diese Weise schaffe der Essayist, der von Bense als Prototyp des modernen experimentierenden Künstlers gesetzt wird, nach dem »Gesetz der Erhaltung minimaler Variation des Gegenstandes« bzw. nach dem »Gesetz der minimalen Veränderung (Verrückung)«42 Bedingungen, unter denen der Gegenstand erneut sichtbar werde. Für das experimentelle Moment des Essays, also für das Prinzip der methodischen Variation oder auch Verrückung des Gegenstandes, welche das Problem der Relativität der Beobachterposition wie der Perspektivität des Gegenstandes impliziert, verwendet Bense auch das Bild einer »Konfiguration im Kaleidoskop«: Der Essayist ist ein Kombinatoriker, ein unermüdlicher Erzeuger von Konfigurationen um einen bestimmten Gegenstand. […] Die Verwandlung der Konfiguration, der jener Gegenstand innewohnt, ist der Sinn des Experiments […].43
Der Essayismus als modernes Vertextungsverfahren ›offenbart‹ somit nicht den Gegenstand selbst, sondern »die Summe der Umstände, die Summe der
39 Vgl. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. S. 20: »[…] der Essay spricht immer von etwas bereits Geformten, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem; es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet.« 40 Vgl. Heinrich von Kleist: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hrsg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt am Main: Dt. Klassiker Verl. 2005. S. 534– 540. 41 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 27: »Der Essay ist ein selbständiges Stück Realität in Prosa […].« 42 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 32. 43 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 36.
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Konfigurationen, in denen er möglich wird.« An die Stelle der dichterischen Schöpfung (›Fiktion‹) wie der »reinen Erkenntnis« (›Wahrheit‹) tritt bei Bense – wie schon bei Musil – die erkenntnistheoretische Kategorie der Möglichkeit. Diese erzeugt »nicht neue Gegenstände […], sondern Konfigurationen für Gegenstände«,44 also die experimentellen Rahmenbedingungen für das Mögliche. Die literarischen Experimente mit der Wahrnehmung entwerfen, so Bense, »kleine Modelle einer anderen Art und Weise, die Dinge zu sehen«,45 und bewirkten durch eine Verrückung der gewohnten und alltäglichen Sehweise eine Fiktivierung46 sowohl des Gegenstandes wie der Perspektive und somit der gesamten experimentell-kommunikativen Konfiguration. Die essayistischen Gestaltungsprinzipien der »perspektivische[n] Optik und montierende[n] Mechanik«47 heben damit die »zum Leben selbst« gehörende »›perspektivische Verkürzung des Verstandes‹«48 wieder auf. Perspektivität der Erkenntnis des Lebens sowie die Frage nach dem rechten Leben – und dies macht den Essay zu dem Experimentalmodus der literarischen Moderne – schließen sich nicht aus; sie verbinden und bedingen sich vielmehr wechselseitig. Das essayistische Experiment ist dabei weder nur Selbstzweck (›künstlerisches Autonomiepostulat‹), noch dient es ausschließlich dem Erkenntnisinteresse (›Wissenschaft‹). Der essayistische Versuch hat einen ethischen, auf Mitteilung wie auf Gestaltung des Lebens drängenden, also textübergreifenden Impuls, einen »Drang zum Angriff auf das Leben«.49 Im 116. Kapitel »Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele«50 aus Der
44 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 34; Hervorh. von B. N. 45 So Bense (Über den Essay und seine Prosa. S. 35) in Referenz auf Ernst Jünger: Das abenteuerliche Herz. Berlin: Fundsberg 1929; 2. Fassung mit dem Untertitel »Figuren und Capriccios«. Hamburg 1938 (neu hrsg. mit einem Vorw. von Michael Klett. Stuttgart: Klett-Cotta 1987). 46 Vgl. Birgit Nübel: Fiktionalität. In: Dies.: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen: Niemeyer 1994 (= Studien zur deutschen Literatur 136). S. 58–81, insbes. S. 78. 47 Bense: Über den Essay und seine Prosa. S. 29. 48 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 650). 49 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 592). 50 Vgl. Cornelia Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Stuttgart:
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Mann ohne Eigenschaften wird die Veränderung der Wirklichkeit als Movens und Ziel der lebensexperimentellen Programmatik genannt: Und alles, was Ulrich im Lauf der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, […] – alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten.51
Besteht der Unterschied zwischen der (passiven) Beobachtung und dem (aktiven) Experiment darin, dass letzteres in die experimentale Konfiguration eingreift, so handelt es sich bei einem Untersuchungsgegenstand wie dem ›Leben‹ um einen Eingriff in dasselbe, also um eine über das Ziel der Erkenntnisgewinnung hinausgehende Möglichkeit der aktiven Umgestaltung von Wirklichkeit.52 Denn der Essayismus als Medium bzw. als Mittleres, zwischen Literatur und Wissenschaft Experimentierendes, bewegt sich zwischen den ›zwei Kulturen‹, indem er den neuzeitlichen Modus eines entdeckenden, experimentierenden Forschens in den Bereich des Literarischen transformiert. Dabei wird zugleich eine Transgression zwischen Wissenschaft, Kunst und Leben einerseits, Fiktionalität und Wirklichkeit andererseits vollzogen. Im Folgenden sollen die Aspekte Experiment in der Literatur sowie Essay/ismus zwischen Literatur und Wissenschaft, also das Verhältnis von
Akad. Verl. Hans-Dieter Heinz 1984. S. 251: »Dem ›Verfahren einer bewußten Induktion‹ (MoE 636) entspricht die Utopie des ›Generalsekretariats‹ im Sinne einer Sammelstelle für Methodenkritik, für experimentelle Verfahren.« Für Christoph Hoffmann (»Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München: Fink 1997. S. 260) verbirgt sich hinter dem »Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele« »nichts anderes als der Nachfolger des […] ›Staatsinstitutes für Psychotechnik‹.« 51 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 592). 52 Vgl. Georg Klaus u. Manfred Buhr: Experiment. In: Philosophisches Wörterbuch. 2 Bde. Hrsg. von Georg Klaus u. Manfred Buhr. 8., berichtigte Aufl. Berlin: das europäische buch 1972. Bd. 1. S. 353–356. S. 353 sowie Michael Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment. In: Experimental Essays – Versuche zum Experiment. Hrsg. von Michael Heidelberger u. Friedrich Steinle. Baden-Baden: Nomos 1998. S. 71–93.
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Essay/ismus und (wissenschaftlich-künstlerischem) Experimental/alismus, für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts exemplarisch am Beispiel Robert Musils untersucht werden.
E XPERIMENTE ZWISCHEN W ISSENSCHAFT UND L ITERATUR : »I DEE DES L ABORATORIUMS « Idee […] des Laboratoriums […] Die besten Arten, Mensch zu sein, sollen durchgeprobt u. neu entdeckt werden.53
1902/03 nimmt der Maschinenbauingenieur Robert Musil als Volontärassistent im »Ingenieur-Laboratorium« Professor Carl Bachs an der Technischen Hochschule Stuttgart an Experimenten mit Dampfmaschinen teil.54 Im Rahmen seines Studiums der Philosophie und (Experimental-)Psychologie bei Prof. Carl Stumpf an der Berliner Universität lernt Musil nicht nur experimental-psychologische Versuchsreihen aus eigener Anschauung und aus verschiedenen Perspektiven kennen, er bewegt sich auch im Umfeld der Gestalttheorie, die von den Stumpf-Schülern Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler ausgehend von Christian von Ehrenfels’ Studie Über Gestaltqualitäten (1890) (weiter)entwickelt wurde.55 Die Berliner Universität hatte sich »seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer Hochburg positivistischer, experimenteller Wissenschaft entwickelt«.56 Nachdem Wilhelm Wundt 1879 an der Universität Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie gegründet hatte,57 wurde auch Stumpf, bei dem Musil 1908 mit einem Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs promoviert wurde, mit einem Institut für Experimentalphysik ausgestattet. Noch 1922 sieht der Landsturmhauptmann Ing. Dr.
53 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II 1882). 54 Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. S. 200. 55 Vgl. Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. S. 143 f. u. 165 u. Corino: Robert Musil. S. 227 f. 56 Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen. S. 127. 57 Vgl. Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. S. 39 u. Andrea Pelmter: »Experimentierfeld des Seinkönnens« – Dichtung als »Versuchsstätte«. Zur Rolle des Experiments im Werk Robert Musils. Würzburg: Könighausen & Neumann 2008. S. 73.
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phil. Robert Musil, Fachbeirat im Bundesministerium für Heerwesen, in seinen Empfehlungen zur Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere »[d]ie Bedeutung der Psychologie als einer selbständigen Wissenschaft und die große Tragweite ihrer Ergebnisse« darin, daß bereits vor 1914 an sämtlichen deutschen Universitäten nicht nur Lehrkanzeln für Psychologie, sondern auch große, gut eingerichtete Laboratorien für deren experimentelle Untersuchungen bestanden haben. Das gleiche gilt für England und in erhöhtem Maße für die Vereinigten Staaten, welche die größten Geldmittel der experimentellen Forschung zur Verfügung stellten. Oesterreich besitzt leider kein einziges auf der Höhe stehendes Institut […]. In seinem Aussehen ist ein solches Institut nicht unähnlich einem physikalischen; um ein Bild von der Präzision der Arbeitsweise zu geben, sei bloß angeführt, daß als Maßeinheiten häufig die Tausendstelsekunde und der Millionstelmillimeter zur Anwendung gelangen.58
Im essayistischen Fragment Form und Inhalt (um 1910) konstatiert der ›Dichter‹59 Musil mit dem Blick des Experimentators eine Diskrepanz zwischen den literarischen Darstellungsmitteln – »das abc unseres Innenlebens ist begrenzt« – gegenüber der unerschöpflichen »Kombinatorik« des darzustellenden modernen Lebens: Der Dichter »drückt Farben nicht in den Mikromillimetern der Wellenlänge aus, obgleich das viel genauer ist.«60 Die durch die technische Präzision mögliche Genauigkeit der naturwissenschaftlichen Messergebnisse gegenüber den zur Verfügung stehenden herkömmlichen literarischen Darstellungsmöglichkeiten wird auch im 1. Kapi-
58 Musil: Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere (1922). In: Ders.: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980. S. 177–200. S. 181. Musil empfiehlt für militärische Eignungsübungen die Anwendung des »sogenannte[n] Taylorismus«, welchen er als interdisziplinäres, von Berufspsychologen und praktischen Ingenieuren durchgeführtes »wissenschaftliche[s] Experimentalverfahren[ ]« kennzeichnet (ebd. S. 185), das bereits in amerikanischen Fabriken (Stahlkugelproduktion) zu »erheblich verkürzte[r] Arbeitszeit« bei höherer »Genauigkeit des Ergebnisses« geführt habe (ebd. S. 191). 59 1909 hatte Musil eine ihm angebotene Assistentenstelle für Psychologie bei Professor Alexius Meinong an der Universität Graz, in der Hoffnung, sich als Schriftsteller finanzieren zu können, abgelehnt. 60 Musil: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1299–1303, hier 1302).
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tel von Der Mann ohne Eigenschaften »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht« problematisiert: Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromillimeter genau ausdrücken ließe […].61
Während seines Studiums in Berlin von 1903 bis 1908 beschäftigt sich Musil unter anderem mit Fragen der visuellen und auditiven Wahrnehmung. Allerdings nimmt der ›Cand. phil.‹ an den wahrnehmungspsychologischen Experimenten am Psychologischen Institut der Berliner Universität unter Carl Stumpf – zu denen auch solche mit Tachistoskopen und Kinematographen gehörten – weniger als Experimentator denn als Proband teil, und zwar bei dessen Assistenten Friedrich Schumann.62 Für die Versuchsreihen seines Studienkollegen Johannes Gustav von Allesch63 entwickelt Musil 1905 einen Farbvariator mit Schneckentrieb, den er patentieren und über die Göttinger Firma Spindler und Hoyer für 225 Reichsmark (Preis vor dem Ersten Weltkrieg) vertreiben ließ.64 »Den hier abgebildeten Apparat habe ich konstruiert«, so wird Musil noch 22 Jahre später stolz erläutern, als ich am Berliner Psychologischen Institut arbeitete. Er ist, so wie er hier abgebildet erscheint, aus Sparsamkeitsgründen etwas weniger stabil ausgeführt worden, als es meiner durchgearbeiteten Zeichnung entsprach. Man verwendet solche Farbkreisel zu allen möglichen psychologischen, physiologischen und physikalischen Zwecken […]. Man schiebt zwei farbige Blätter, von denen eines radial aufgeschlitzt ist, so ineinander, daß die Farbflächen in dem gewünschten Größenverhältnis zueinander stehen; dann setzt man den Kreisel in Rotation, und sobald die Umdrehungsgeschwindigkeit groß genug ist, entsteht für das Auge die angestrebte Mischfarbe. Der Nachteil aller älteren Apparate war nun
61 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 9). 62 Friedrich Schumann war von 1894 bis 1905 Assistent von Carl Stumpf; zu Musil als Versuchsperson vgl. dessen Tagebucheintragungen »Am Tachy[s]toskop« (Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976. S. 125; im Folgenden zit. als Tb I, 125) sowie zum ›visuellen‹, ›auditiven‹ und ›motorischen‹ Gedächtnistyp (Tb I, 314). Vgl. auch Hoffmann »Der Dichter am Apparat«. S. 69. 63 Johannes Gustav von Allesch war von 1912 bis 1921 Assistent von Carl Stumpf. 64 Corino: Robert Musil. S. 245; vgl. auch Pelmter: »Experimentierfeld des Seinkönnens«. S. 51.
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der, daß man sie jedesmal anhalten und neu einstellen mußte, wenn man die Anteile der Grundfarben ändern wollte, um eine neue Farbenmischung darzubieten; und das Wesen des abgebildeten Apparates besteht eben darin, daß man das nicht tun muß, sondern die Änderungen während der Rotation durchführen kann und in der Lage ist, in beständigem Fluß jede Farbe vorzuführen, die sich aus zwei gegebenen Farben überhaupt herstellen läßt.65
Abb. 1: Farbvariationskreisel
Farbvariator nach Robert Musil
Die Selbstauskünfte Musils in Bezug auf seine naturwissenschaftlichtechnische ›Experimentalphase‹ sind widersprüchlich. Einerseits glaubt er sich rechtfertigen zu müssen, »warum ich für die ›flache‹ Experimentalpsych.[ologie] Interesse habe u[nd] warum keines für Freud, Klages, ja selbst für die Phänomenologie«.66 Andererseits gibt er an, »wenig Freude am psychol.[ogischen] Experiment« zu haben und »schon in Berlin dem Betrieb ferngeblieben« zu sein: »Der Phantast hatte dem Denker ein Bein
65 Musil: Der Variationskreisel nach Musil (1927) (GW II, 942–945, hier 944); es folgen ausführliche technische Erläuterungen des verwendeten Schneckentriebs. 66 Musil: Tagebücher (Tb I, 948); Musil hatte nachweislich nicht nur Husserl, sondern auch Klages und Freud gelesen.
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gestellt.«67 Dies scheint die Ausgangslage für das Programm von »phantastische[r], im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit« bzw. zu »Essayismus und Möglichkeitssinn« zu sein,68 das Ulrich als Mann ohne Eigenschaften im Modus des Konjunktiv II verfechten wird: Wann immer man ihn [Ulrich] bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.69
In seinen Tagebüchern bzw. Arbeitsheften entwirft Musil Anfang der 1920er Jahre eine Art Vorwort zu einem geplanten, aber nie realisierten Essayband »Versuche / einen andren Menschen zu finden«.70 Dieser Arbeitstitel, so befindet er, »[k]önnte eigentlich über meinem Gesamtwerk stehn«.71 In seinen Essays versucht er, das Konzept des modernen Dichters dem des wissenschaftlichen Experimentators anzunähern und konstruiert das Ichwie Poetik-Ideal eines Dichter-Ingenieurs, der mit (natur)wissenschaftlichen Experimentier- und Messungsmethoden im Bereich der Literatur einen ›neue Menschen‹ konstruiert, also Bedingungen für Konfigurationen schafft, unter denen dieser sichtbar bzw. möglich wird. Der Künstler, so notiert der »Moral-Ingenieur«72 Musil im Essayfragment Form und Inhalt (um
67 Musil: Tagebücher (Tb I, 918 f.): »Dummerweise, dass für mich die Vorstellung: man arbeitet sich in die Materie mit Energie ein, die einem das Leben in den Weg legt: nicht im mindesten anerkannte, sondern mit Energie nur das machte, was ich mir selbst aussuchte.« (TB I, 918 f.); vgl. auch aus den Prätexten zu Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE II, 1958 f.): »Freunde wunderten sich oft etwas respektlos über Achilles, warum er an dieser etwas beschränkten Experimentalpsychologie festhalte. Er tut es, weil es an einem Punkt wenigstens ein Gefühl von Sicherheit gibt. Und weil er – auch im Anblick der vielen Täuschungen, denen Dichter in Hinsicht auf den Wert von Gefühlen unterliegen – sieht, daß Erkenntnisse das Entscheidende sind, für den Wert des Gefühllebens.« 68 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 592). 69 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 255; Hervorh. von B. N.). 70 Musil: Tagebücher (Tb I, 643); vgl. auch ebd. (Tb I, 608). 71 Musil: Tagebücher (Tb I, 667). 72 Vgl. die Rezension von H. M.: Vossischen Zeitung (5. März 1933), Morgenausgabe. In: Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe (KA). Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptio-
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1910), ist ein Kombinatoriker »unseres Innenlebens«. Er ist Experimentator, denn er »operirt [sic] mit Gedanken, Gefühlen u[nd] Empfindungen.« Er »spielt nicht«, er treibt keine Kunst, »er treibt Wissenschaft«. 73 In Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918), welche gleichermaßen als »Versuch einer erkenntnis-theoretischen Prüfung«74 wie als »Poetologie des ›Versuchs‹«75 gelesen werden kann, wird »[d]ie Aufgabe« des Dichters darin gesehen, immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variablen zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.76
Bei diesen »Versuche[n,] einen andren Menschen zu finden«,77 ist der Gegenstand der Erkenntnis bzw. der essayistischen Versuchsanordnung nicht der einzelne Mensch, sondern es sind dessen »multipolare[ ] Relationen«.78 Die poetologisch und erkenntnistheoretisch relevanten Essays Musils gehen nicht von einem Substanz- bzw. Individualitätsbegriff aus, sondern von Relationen zwischen verschiedenen Elementen bzw. Zuständen. Sie entwickeln experimentelle Konfigurationen, welche die Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins sichtbar werden lassen.
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nen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. von Walter Fanta, Klaus Amman u. Karl Corino. Klagenfurt: Drawa 2009 (DVD-Version). KA Kommentare und Apparate, Kontexte, Zeitgenössische Rezensionen 1933. Vgl. Musil: Der Dichter und diese Zeit. Oder: Der Dichter und seine Zeit [etwa 1921/22] (GW II, 1349–1352, hier 1351): »Was im Leben gut ist, ist es noch lange nicht in der Kunst. Leben ist etwas Praktisches, ein Kompromiß, etwas, das sich begrifflich gar nicht fassen läßt, durchaus nicht restlos rationalisierbar ist u. darum Gewalt setzen muß, Postulate, Moral. Kunst aber ist etwas theoretisches, d. h. wörtlich übersetzt: Spähendes. Moral ist das Abstraktum des Handelns, Kunst ein Morallaboratorium […].« Musil: [Form und Inhalt] (GW II, 1302). Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (GW II, 1026). Michael Gamper: Dichtung als ›Versuch‹. Literatur zwischen Experiment und Essay. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007). S. 593–611. S. 599. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (GW II, 1029). Musil: Tagebücher (Tb I, 643). Musil: Penthesileiade (1912) (GW II, 985–987, hier 987).
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E XPERIMENTE IN DER L ITERATUR : »P ARTIALLÖSUNGEN « (Ein M.[ann] o[ohne] E.[eigenschaften] ist ein Theoretiker). Es muß Theoretiker geben. Und Forscher. Experimentatoren. Menschen ohne Bindung. Ohne Bedürfnis nach Ja oder Nein. Menschen der Partiallösung.79
1908 schließt Robert Musil sein Studium der Philosophie und experimentellen Psychologie in Berlin mit einer von Carl Stumpf auch im zweiten Versuch mit nur »laudabile« bewerteten Dissertation über Ernst Mach ab. Bereits 1906 waren – als Musils erster und einziger literarischer Erfolg – Die Verwirrungen des Zöglings Törleß erschienen. In diesem Text wie im Novellenband Vereinigungen (1911) kommen wahrnehmungspsychologische und erotische Experimente (›Perversionen‹) zur Darstellung, die zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbeobachtung changieren und physikalisch-maschinentechnische, wahrnehmungs- und gestaltpsychologische Experimentiermethoden verarbeiten. Es handelt sich um Versuche des dichtenden Ingenieurs bzw. experimentierenden Konstrukteurs Musil, das Verhältnis von ›Apperception‹80 und Darstellung sowie Narration und Reflexion umzukehren. 1927 würdigt Robert Musil in einem Essay Zu Kerrs 60. Geburtstag Émile Zolas naturalistische Programmschrift Le roman expérimental (1879/80), die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Literatur und (Natur-)Wissenschaft neu bestimmt hat: Zolas »Aufsatz« trennte von einem Zeitalter der Scholastik und Theologie […] das neue wissenschaftliche Zeitalter ab, dessen literarische Methode er auf das Experiment und die Anwendung der Naturwissenschaft auf die Vorgänge in Gemüt und Geist des Menschen gründete. […] Und Zola hatte nicht einmal unrecht damit. Die Lösung war falsch –, Zola hatte sich eine sehr unvollständige Vorstellung vom Wesen der Naturwissenschaft gemacht und diese noch dazu unrichtig übertragen – aber die Problemstellung war richtig; denn die Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben […]. 81
79 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1381 f.). 80 Vgl. Musils im Zusammenhang mit der Arbeit an Die Vollendung der Liebe notierten »Bemerkungen über Apperceptor udgl.« (Tb I, 229 f.); vgl. Tb II, 927– 930. 81 Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1180–1186, hier 1183).
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In Zolas programmatischem Versuch, naturwissenschaftliche Methoden und Versuchsanordnungen auf die Literatur zu übertragen, wird Literatur als Labor verstanden, in das der Schriftsteller sein Personal versetzt, um Verhalten und Charakterentwicklungen angesichts der kontrollierten Eingriffe (provocations) des Erzählers zu beobachten und narrativ zu protokollieren.82
Zola bestimmte auf der Grundlage von Hippolyte Taines Milieutheorie und Auguste Comtes ›sozialer Physik‹, vor allem aber Claude Bernards Médicine expérimental (1865)83 den Roman als Ort des Experiments mit der Psychologie und Soziologie. Bereits 1905, also während seiner Niederschrift von Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, notierte Musil nach der Lektüre des in der Neuen Rundschau abgedruckten Romans Michael (1904) von Herman Bang: Hier […] wird nur die Beziehung zwischen zwei Menschen geschildert, bloßgelegt, entdeckt. ›Die Beziehung‹ gewissermaßen wie die Variable einer Experimentalreihe, – mit Protokollirung [sic] von hunderten von Beobachtungen der einzelnen Stadien, zerlegt in hunderte von Augenblicken, unter Notierung der Temperatur des Versuchsraums und aller Nebenumstände. Aber immer nur die ›Beziehung‹ – gewissermaßen in abstracto; nicht wie im naturalistischen Experimentalroman.84
In den Verwirrungen des Zöglings Törleß nimmt die Törleß-Figur die Rolle des Beobachters gegenüber der Figuration Reiting/Beineberg/Basini ein, bis schließlich er selbst in die Experimentalkonstellation des Romans mit einbezogen wird. Das Konzept des Experimentalromans wird hier als Beobachtung und Konfiguration von Beziehungen weiterentwickelt. Dabei erfahren in der narrativen Verschränkung von Sinnlichkeit und mathematischer Erkenntnis, Mystizismus und naturwissenschaftlichem Experimentalismus beide Bereiche eine konstruktive Ironisierung.85 Während Reiting
82 Krause u. Pethes: Einleitung. S. 8. 83 Claude Bernard: Introduction à l’étude de la médicine experimentale. Paris: J. B. Baillière et fils 1865. 84 Musil: Tagebücher (Tb I, 148). 85 Vgl. hierzu die folgende Notiz aus dem Nachlass: »Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, dass neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst. Diese
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bei seinen ›sadistischen Spielen auf dem Dachboden‹86 erst »zärtlich gegen« Basini ist und ihn »nachher schlägt«,87 versucht Beineberg qua Hypnose unmittelbar mit Basinis »Seele selbst [zu] verkehren«: »Das ist ein Experiment«, erläutert Basini gegenüber Törleß, »das ihm [Beineberg] noch nie gelungen ist. Er sitzt, und ich muß mich auf die Erde legen, so daß er die Füße auf meinen Leib stellen kann. Ich muß von dem Glas recht träge und schläfrig geworden sein. Dann auf einmal befiehlt er mir zu bellen. Er beschreibt es mir ausführlich: – leise, mehr winselnd, – so wie ein Hund aus dem Schlafe heraus bellt.« »Wozu das?« »Man weiß nicht, wozu es gut ist. Er läßt mich auch grunzen wie ein Schwein und wiederholt mir in einem fort, ich habe etwas von diesem Tiere in mir.«88
Der mit der »wechselnde[n] seelische[n] Perspektive je nach Ferne und Nähe«89 experimentierende Törleß, den (zunächst) nur der »Vorgang in [s]einem Gehirn interessierte«,90 verliert im Grenzgebiet sinnlicher Erkenntnisse und »geschlechtlicher Erregung«91 das »Behagliche« der »Aufmerksamkeit« des (neutralen) Beobachters, »mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experimentes zusieht.«92 Während im Törleß-Roman die dargestellte Experimentalkonstellation sinnlicher wie mathematischer Erkenntnisse noch innerhalb eines eher konventionell arrangierten Narrativs von Fabel und Figur(en) realisiert wird, geht Musil im Novellenband Vereinigungen (1911) einen Schritt weiter. Die »Destruktion von Fabel und Figur«93 ist der Mach’schen Einsicht in die
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Art Ironie die konstruktive Ironie ist im heutigen D[eu]tschl[an]d ziemlich unbekannt.« (MoE II, 1939). Vgl. Walter Jens: Sadistische Spiele auf dem Dachboden: Die Verwirrungen des Zöglings Törless. In: Romane von gestern – heute gelesen. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Bd. I: 1900–1918. Erw., akt. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 1996. S. 55–63. Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) (GW II, 7–140, hier 101). Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (GW II, 101 f.). Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (GW II, 139). Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (GW II, 132). Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (GW II, 70). Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (GW II, 93). Vgl. Wolfgang Düsing: Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer. München: Fink 1982. S. 74.
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›Unrettbarkeit des Ich‹94 wie der Nicht-Existenz bzw. Nichtnachweisbarkeit physikalischer Notwendigkeiten geschuldet.95 Mittels Auflösung der (mono-)kausalen Erklärungsmuster96 und Aufhebung der Zentral- wie Doppelperspektive wird die empiriokritizistisch-sensualistische ›De-Konstruktion‹ des Ding- bzw. Substanzbegriffs in ein erotisches Erzählexperiment »einer nicht causal descriptiven[,] sondern seelisch schöpferischen Kunst« überführt. »Das selektive Prinzip war also«, so erläutert Musil in einem Brief gegenüber Franz Blei, »eine Verknüpfung von Schritten, in der jedes Glied nicht in erster Linie begründet, sondern legitimiert ist.«97 Das narrative Experiment der kleinsten motivierten Schritte als »Aufstellung funktionaler Beziehungen«98 zwischen Elementen bzw. Empfindungen kehrt das Verhältnis von Tatsachen/Geschehen und Bedeutungen/Reflexionen um und baut das Erzählte als Elementen- und Empfindungskomplexe99 aus den Gedanken als »psychische Konstituenten der Personen«100 selbst auf. In seinem Essay Über Robert Musil’s Bücher, der als Metatext zu den Verwirrungen des Zöglings Törleß wie zu den Vereinigungen gelesen werden kann, liefert Musil 1913 ein essayistisches Erzählkonzept nach, welches das »seit dem Beginn des Romans«101 herrschende Paradigma der (magischen) Realitätsschilderung durch experimentelle Konstruktionen ablösen soll: Kunst ist ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit und Konkretheit. Gewöhnlich erzählt man in Handlungen und die Bedeutungen liegen neblig am Horizont. […] Kann man da nicht versuchen, ungeduldig einmal mehr den sachlichen Zusammenhang der Gefühle und Gedanken, um die es sich handelt, auszubreiten und nur das, was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt, durch jenen vibrierenden Dunst fremder Leiber anzudeuten, der über einer Handlung lagert? Ich
94 Vgl. Ernst Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen [1886]. In: Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 9. Aufl. Jena: Fischer 1922. S. 1–30. S. 20: »Das Ich ist unrettbar.« 95 Vgl. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. S. 91. 96 Vgl. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. S. 16. 97 Musil: Brief an Franz Blei [Anfang Juli 1911]. In: Ders.: Briefe. 2 Bde. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981. Bd. 1. S. 82–84. S. 83; im Folgenden zitiert als (BR I, 83). 98 Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. S. 16. 99 Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. S. 13. 100 Musil: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (Br I, 86–88, hier 87). 101 Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 995–1001, hier 997).
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meine, man hat damit bloß das Verhältnis einer technischen Mischung verkehrt und man müßte das ansehen wie ein Ingenieur.102
Der Ingenieur, der das Verhältnis von Handlung und Bedeutung, Narration und Reflexion ›ver-kehrt‹ und somit »die Vorzüge einer vorurteilslosen Laboratoriumstechnik […] aus den Naturwissenschaften«103 auf die Produktion, Rezeption und Kritik von Literatur überträgt, argumentiert auf empiriokritizistischer Grundlage. Der Physiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach, der 1895 in Wien auf die neugeschaffene Professur für »Philosophie, insbesondere Geschichte der induktiven Wissenschaften« berufen wurde, hat in Erkenntnis und Irrtum (1886) mit Verweis auf Zolas Le roman expérimental vom »physischen Experiment« der Naturwissenschaft »noch ein anderes« unterschieden, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem Maße geübt wird – das Gedankenexperiment. Der Projektemacher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, der Dichter sozialer oder technischer Utopien experimentiert in Gedanken.104
Die Übertragung des Experimentalcharakters von der Naturwissenschaft auf die Literatur ist hier nicht bloß metaphorisch, sondern durchaus konstitutiv. Denn die herkömmliche, »populäre[ ] Denk- und Redeweise«, so Mach in den »Antimetaphysische[n] Vorbemerkungen« zu Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886), welche der Wirklichkeit (Sein) eine Täuschung (Schein) gegenüberstellt und somit die »eine Tatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit« erklärt, lasse sich nicht länger aufrechterhalten. Mach erläutert dies anhand einer einfachen Versuchsanordnung:
102 Musil: Über Robert Musil’s Bücher (GW II, 998); Hervorh. von B. N. Vgl. Ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1323–1327, hier 1323): »Das Gestalten des Erzählers hat nur Platz als ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit und Konkretheit.« 103 Musil: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes. Ein Fragment (1913) (GW II, 1009–1015, hier 1011). 104 Mach: Über Gedankenexperimente. In: Ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Darmstadt. Unv. reprodukt. Nachdr. der 5., mit der 4. übereinstimmenden Aufl. Leipzig 1926. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1980. S. 183–200. S. 186.
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Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt[.] Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? In beiden Fällen liegen doch Tatsachen vor, welche eben verschieden bedingte, verschiedenartige Zusammenhänge der Elemente darstellen.105
Es gibt, so führt Ernst Mach in einer Fußnote zum Phänomen der sogenannten »Sinnestäuschung« aus, in diesem Bereich weder falsch noch richtig […]. Das einzig Richtige, was man von den Sinnesorganen sagen kann, ist, daß sie unter verschiedenen Umständen verschiedene Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen.
So sei der eingetauchte Bleistift […] eben wegen seiner Umgebung [dem Wasser] optisch geknickt, haptisch und metrisch aber gerade. Das Bild im Hohl- oder Planspiegel ist nur sichtbar, während unter andern (gewöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer Körper entspricht.106
Die Differenz zwischen Wirklichkeits-Bild und Spiegel-Bild ist demnach keine ontische oder eine der Idee, sondern die zweier – hier der visuellen und haptischen – ›Empfindungen‹. Ob etwas als Wirkliches oder bloß Mögliches, als etwas Inneres oder Äußeres wahrgenommen wird, ist eine Frage der (physikalischen oder psychologischen) Perspektive. Der Rest ist Metaphysik. Das Konzept des postnaturalistischen Experimentalromans wird auch in Musils Hauptwerk weiterverfolgt, wobei die Übertragung des naturwissenschaftlich-technischen Laboratoriums und der Ingenieur-Methode auf den Bereich des Nicht-Ratioïden wiederum eine Relativierung und ästhetischmystische Erweiterung erfährt. Nachdem Ende 1932 auch der zweite Band von Der Mann ohne Eigenschaften auf Druck des Verlegers erschienen ist, wird dieser allgemein als »Experimental-Roman«107 gewürdigt. Georg
105 Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. S. 8. 106 Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. S. 8. 107 H. M.: Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Musil: KA. Zeitgenössische Rezensionen 1933.
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Lukács kennzeichnet den Autor Musil als »genaue[n] Experimentator« und »rationalisierende[n] Ingenieur für die verfeinerten seelischen Regungen der intellektuellen Elite der Gegenwart.«108 Die zeitgenössische Kritik verweist auf die »experimentelle Denktechnik«, das »experimentelle Verfahren« und – im Zusammenhang mit der geschwisterlichen Reise »[i]ns Tausendjährige Reich« – auf die «experimentelle[ ] Moral« des Romans.109 Das »›hypothetisch leben‹«,110 das im 62. Kapitel des 1. Buches »Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus« als eine voluntaristisch-aktivistische Vor- bzw. »Jugendform«111 der »Utopie der Exaktheit«112 in nicht-substantivischer Form vorkommt, wird 1933 – vermutlich durch einen Abschreib- bzw. Übertragungsfehler – sowohl in
108 Lukács: Totentanz der Weltanschauungen [1933]. In: Literatur und Literaturgeschichte in Österreich. Sondernr. der Zeitschrift Helikon. Hrsg. von Ilona T. Erdély. Budapest u. Wien 1979. S. 297–307. S. 297. Vgl. Walter Moser (Zur Erforschung des modernen Menschen. Zur wissenschaftlichen Figuration der Moderne in Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«. In: In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie. Hrsg. von Thomas Steinfeld u. Heidrun Suhr. Frankfurt am Main: Anton Hain 1990. S. 109–131. S. 128) hat die Ulrich-Figur als »Gedankenexperimentator« und Musils Roman als »Diskursexperiment« (Zwischen Wissenschaft und Literatur. Zu Robert Musils Essayismus. In: Verabschiedung der (Post-)Moderne? eine interdisziplinäre Debatte. Hrsg. von Jacques Le Rider u. Gérard Raulet. Tübingen: Narr 1987. S. 167–196. S. 187) und »textuelle[n] Ort einer Erprobung der Diskursarten« (ebd.) bestimmt. 109 L. St.: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Berlin. In: Literarische Welt, am 16. Dezember 1932. In: Musil: KA. Zeitgenössische Rezensionen 1933. 110 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 249). 111 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass]: »Utopie der Exaktheit, Ursprung./ Hat eine Jugendform in U.[lrich] als ›hypothetisch leben‹ 397. Beschreibt das Gefühl des jungen Menschen, der zu nichts bedingungslos Ja sagen will u. sich alles vorbehält, in einer Mischung von Aktivismus u[nd] Unkenntnis. Er läßt dem Vorgefundenen nur hypothetische Geltung.« Auffällig ist hier auch die Parallele zu »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«: »Er [der junge bzw. jugendliche Ulrich] hält sich frei; er will noch kein Charakter sein; er sucht das, was ihn innerlich mehrt, ob es auch intellektuell od. moral.[isch] verboten sei […].« (MoE II, 1878 f.) 112 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 247).
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der Vossischen Zeitung als auch in der Berliner Zeitung als »›experimentell leben‹«113 bzw. (substantivisch) als »›experimentelles‹ Leben«114 zitiert. Bei dem Konzept des »›hypothetisch leben‹« bzw. dessen ›männlichgereifter‹ Form einer »Utopie der Exaktheit« geht es darum, die wissenschaftlich-technischen Mess- und Experimentierstandards, also »die Vorzüge einer vorurteilslosen Laboratoriumstechnik«,115 auf das Gebiet des Nicht-Ratioïden, also das Leben selbst anzuwenden. Es handelt sich – wie Musil in seinen mäandernden Vorstufen, Entwürfen und Variationen zu Der Mann ohne Eigenschaften (selbst)kritisch festhält – um »eine naive Übertragung mathematischer Analogien. Regelung der Welt aus dem techn.[ischen] Denken«.116 Die »Utopie des Essayismus« wiederum geht, in den Lebensversuchen des Protagonisten Ulrich wie im Romanverlauf, inhaltlich aus der Maxime des »›hypothetisch leben‹« und methodisch aus der »Utopie der Exaktheit« hervor. In Musils Roman, der das Projekt der progressiven Universalpoesie fortsetzt, wird die »Utopie der Exaktheit« – auch als »Utopie der induktiven Gesinnung«117 und ironisch-persiflierend als das »Ideal der drei Abhandlungen«118 bezeichnet – durch das Konzept des Essayismus abgelöst. Dieses überführt Nietzsches Terminus des Weltlaboratoriums119 bzw. den »fahrlässigen Bewußtseinszustand der Welt«,120 der in
113 H. M.: Musils Mann ohne Eigenschaften. Der zweite Band des Romans. In: Vossische Zeitung (5. März 1933). In: KA Kommentare und Apparate, Kontexte, Zeitgenössische Rezensionen 1933. 114 Otto Ernst Hesse: Ein Dokument der Zeit Robert Musil: »Der Mann ohne Eigenschaften«. 2. Bd. In: B. Z. (14. März 1933). In: KA Kommentare und Apparate, Kontexte, Zeitgenössische Rezensionen 1933. Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 826): »das wahrhaft experimentelle Leben«. 115 Musil: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (GW II, 1011). 116 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1882). 117 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1882); vgl. auch Musil: Der deutsche Mensch als Symptom [1923]: »Aus reiner Induktion, bloß aus den Tatsachen heraus, läßt sich nicht einmal in den rein rationalen Naturwissenschaften eine Theorie erbaun […].“ (GW II, 1353–1400, hier 1379 f.) 118 Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Kap. 61 »Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens« (MoE I, 244–247). 119 Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 152): »Daß das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und daß die Leiter und die Theoretiker des Ganzen fehlten […].« Vgl. Friedrich Nietzsche (Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Hrsg. von Peter Gast [d. i. Heinrich Köselitz]. Frankfurt am Main: Insel 1992. S. 74 f.): »Der Gesamt-Aspekt ist der einer
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Der Mann ohne Eigenschaften auch als Essayismus der Weltgeschichte gekennzeichnet wird,121 in einen »bewusste[n] menschliche[n] Essayismus«.122 Gegenüber der Utopie der Exaktheit sei die ›Utopie des Essayismus‹123 mit ihrer »teilweisen Unbestimmtheit«,124 die auch als »phantastische Genauigkeit«,125 also ins Utopische gewendete experimentelle Exaktheit gekennzeichnet wird, in eine im Sinne der Partiallösungen »totalere«, das heißt die Bereiche des Ratioïden wie Nicht-Ratioïden gleichermaßen umfassende »Lösung«.126 Doch auch dieser Syntheseversuch unterliegt dem Prozess der progressiven Relativierung. Denn die ›Utopie des Essayismus‹, auch »Ess.[ayismus] I« genannt,127 die eine Verbindung von Genauigkeit und Leidenschaft, Mystik und Ratio bezeichnet, wird in den Entwürfen zum Mann ohne Eigenschaften wiederum komplementär ergänzt bzw. überboten durch die »Utopie des Ess.[ayismus] II«, welche ebenfalls »[v]on der Utopie der Exaktheit« abzweige.128 Es ist
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ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt.« Vgl. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster: Aschendorff 1966. S. 70 f. und Charlotte Dresler-Brumme: Nietzsches Philosophie in Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis [1987]. 2. Aufl. Wien: Böhlau 1993. S. 69. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 251); in den Nachlass-Notizen ist die Rede vom »›fahrlässigen Bewußtseinszustand der Menschheit‹« (MoE II, 1414). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 249). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 251). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1880 u. 1882). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1879). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 247). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1879). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1877). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1880).
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[d]ie Utopie des anderen (nicht ratioïden, motivierten usw) Lebens in Liebe. Auch Utopie des Ess.[ayismus] II. Die Utopie des reinen aZ. [anderen Zustands].129
Auf der Ebene der Erzählzeit wie auf jener der erzählten Zeit münden die »Parallelaktion« und die andere Hälfte der Weltgeschichte, also die »Liebesgeschichte«130 von Ulrich und Agathe, wie zwei Geraden, die sich außerhalb des fragmentarischen Romans im Unendlichen des Textmaterials begegnen, weder in den historischen Mythos eines Doppeljubiläums noch in die inzestuöse Vereinigung, sondern in den Krieg.
E XPERIMENTE MIT DER W AHRNEHMUNG ODER DAS F ERNGLAS ALS G ENIE DER M ODERNE Grundidee: Krieg. Alle Linien münden in den Krieg.131
In Der Mann ohne Eigenschaften geht die ›Utopie des Essayismus‹ von der Frage nach dem ›rechten Leben‹ aus. Sie zielt sowohl auf eine – gegenüber dem (natur)wissenschaftlichen Systemzwang – ›permanente Aktualisierung‹132 (Essayismus I) als auch auf ein »Leben[ ] in Liebe«133 (Essayismus II).
129 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1882). Beide – Essayismus I und II – haben, so Musil, »noch als Utopien verschiedene Wirklichkeitsgrade«. Außerdem wird angemerkt, »daß die U.[topie] d.[er] i.[nduktiven] G.[esinnung] das Böse, Metrische usw. einbezieht, d.[ie] U.[topie] d.[er] Liebe dagegen nicht. Das ist wohl ihr Grundunterschied.« (MoE II 1882) 130 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1117); dieser Ausruf Ulrichs gegenüber General Stumm von Bordwehr ist der Nachlassedition Adolf Frisés als Motto vorangestellt (MoE II, o. P.). 131 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1851). 132 Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1880): »[…] das Nicht-ratioïde der Moral (wie des Essays). Sie ist ja ohnehin die ›Moral der Dichtung‹. Sie müßte kein System bilden, sondern könnte sich in dauernder ›Aktualität‹ entfalten. Es entstehen immer neue moralische Erfahrungen. Partiallösungen hängt damit zusammen.« 133 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1882).
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Neben seiner Arbeit am Roman publiziert Musil in den 1920er Jahren eine Reihe von Essays, welche Wahrnehmungs- und »Gedankenexperimente«134 mit Gläsern, Fenstern und Türrahmen, Tieren und Flugprojektilen thematisieren. Diese werden 1936 unter dem paradoxalen Titel Nachlaß zu Lebzeiten zusammengefasst und veröffentlicht.135 Es handelt sich um narrative (De-)Konstruktionen von ›Gedankenbildern‹,136 welche die Bedingungen moderner Wahrnehmung, Erkenntnis und Literaturpraxis zur Disposition stellen und die experimentellen Methoden von Isolation (Dekontextuierung) und Variation (Perspektivierung) ebenso narrativ umsetzen wie reflektieren. In Triëdere (1936), einem essayistischen Kurztext von weniger als fünf Seiten Umfang, wird der »Versuch« eines Beobachters beschrieben, der »durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht.«137 ›Triëdere!‹ – als »Imperativ zu Musils Verb-Schöpfung ›triëdern‹«138 – lautet die Aufforderung an den Leser, seine alltäglichen Wahrnehmungsgewohnheiten zu verändern, sich versuchsweise auf das Konzept eines ›experimentellen Lebens‹ einzulassen und »unter die bewegte Oberfläche« der beschriebenen Wirklichkeiten zu tauchen.139 Die essayistische Versuchsbeschreibung Triëdere steht für das experimentelle Paradigma einer Schreibweise, welche Bild (Wahrnehmung) und Denken (Reflexion) in unterschiedlichen Versuchskonfigurationen miteinander ver-
134 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 594); vgl. Mach: Über Gedankenexperimente. S. 183–200. 135 Die laut Impressum auf 1936 datierte Textsammlung wurde bereits 1935 ausgeliefert. 136 Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1191); die Rede von »Gedankenbilder[n]« bezieht sich hier auf mentale bzw. kulturelle Konstruktionen (»Weltbilder«), die wiederum Gefühle zu ihrer Voraussetzung haben. 137 Musil: Triëdere (1936) (GW II, 518–522, hier 519 ). 138 Vgl. Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils »Nachlaß zu Lebzeiten«. Bielefeld: Aisthesis 1998. Anm. 9. S. 127; vgl. Musil: Triëdere (GW II, 519): »Wer es nicht glaubt, daß die Welt so ist, der triëdere die Straßenbahn.« In den 1926/27 publizierten Textvarianten wird der Imperativ des Titels noch durch ein Ausrufezeichen verstärkt; vgl. Musil: Triëdere! (1926/27) (GW II, 578–581). 139 Musil: Triëdere (GW II, 518).
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knüpft und poetologisch auf die Bedingung der Möglichkeit aisthetischer Erfahrung (experientia) reflektiert. In den »Antimetaphysische[n] Vorbemerkungen« beschreibt Ernst Mach folgenden monokularen Selbstversuch: »Liege ich z. B. auf einem Ruhebett, und schließe das rechte Auge, so bietet sich meinem linken Auge das Bild der folgenden Figur 1.«140 Abb. 2: Fig. 1
Illustration aus Ernst Machs Analyse der Empfindungen (1886)
Die »Selbstschauung ›Ich‹« wird dabei nicht nur als eine perspektivische, sondern zugleich auch als eine darstellungstechnisch überaus komplexe bestimmt:141
140 Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. S. 15. 141 In einer Fußnote erläutert Mach (Antimetaphysische Vorbemerkungen. S. 16), wie er zu der Zeichnung, welche eine »Selbstschauung ›Ich‹« wiedergibt, an-
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Von dem binocularen Gesichtfeld, das[ ] mit seiner eigentümlichen Stereoskopie jedermann geläufig ist, das aber schwieriger zu beschreiben und durch eine ebene Zeichnung nicht darstellbar ist, wollen wir hier absehen.142
Einen solchen »binocularen« (Selbst-)Versuch schildert Musils Essay. Beim Versuchsinstrument handelt es sich um ein Triëder, also ein Prismendoppelfernrohr. Das ist »ein binokulares Fernrohr oder Prismenglas […] mit einem Prismenumkehrsystem, dessen zwei zusammengekittete Prismen ein Dreieck ergeben,«143 so wie es im Ersten Weltkrieg verwendet wurde. Abb. 3: Triëder
Darstellung eines binokularen Fernglases
Das Subjekt der Beobachtung ist ein Mann, der im Prätext von 1926 explizit als ein (sich langweilender) Kriegsveteran exponiert wird.144 Gegenstände der Beobachtung sind zunächst ein dem »Beobachtungsort« gegenüberliegendes »bekanntes staatliches Institut« sowie die Straße.145 Dabei ver-
142 143 144
145
geregt worden sei, nämlich durch die folgende philosophische ›Lektüreanweisung‹ [eines gewissen Chr. F. Krause]: »Aufgabe: Die Selbstanschauung ›Ich‹ auszuführen. / Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus.« Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. Fußnote 1. S. 15. ABC der Optik. Hrsg. von Karl Mütze u. a. 2. Aufl. Hanau am Main: Werner Dausien 1961. S. 902; siehe auch S. 278. Musil: Triëdere! (GW II, 578); dieser besitzt, wie wir aus der 1926 im »Berliner Tageblatt« veröffentlichten Textvariante erfahren, sein Binokel »noch aus der Kriegszeit«. Musil: Triëdere (GW II, 519).
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kehrt sich zunächst das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt der Beobachtung. Denn die beobachteten Gegenstände erscheinen im Medium des Triëders nicht nur vergrößert und dadurch perspektivisch dem Auge des Betrachters näher gerückt, die »Steinpfeiler«, »Fenster« und »Gesimse« des Gebäudes bekommen selbst Augen, mit denen sie zum Beobachter »herüberblickten«. Und so sieht dieser die Redensart vom »Verschwinden der Linien« im Bereich der modernen Kunst »überlebensgroß […] vor seinen eigenen Augen.«146 Bald wird zudem deutlich, dass der Triëdernde die Anforderungen an eine naturwissenschaftliche Experimentalkonfiguration nur unzureichend erfüllt, da er sich nicht in einem »Nullzustand« bzw. »Neutralisationszustand« der Gefühle befindet.147 Denn bei der Beobachtung der Passanten richtet sich dessen »kennerhafte Neugierde« – wie es heißt: »natürlich« – bald auch auf die vorbeigehenden Frauen. Durch das Triëder gesehen werden deren durch modische Verhüllungen verdeckten Körperformen »wieder zu den ureinfachen Hügeln, aus denen die ewige Landschaft der Liebe besteht.« Diese »Bedeutung« verweist das männliche Beobachtersubjekt auf den »ewigen, sich gleichbleibenden Wert[ ]« eines Begehrens, dem die »Impulse zur Ausführung« werden.148 Das ›appetitive‹ Subjekt der Versuchsanordnung scheint sich hier geradezu mit dem Fernrohr als verlängertem wie verdoppeltem phallischem Sinnesorgan zu identifizieren. Dessen Objektiv verselbstständigt sich und gewinnt Subjektcharakter, wenn vom »unbestechlichen Blick des Triëders«, von der »offenbar etwas boshaften Ruhe des Triëderblicks«149 sowie von dessen Unerbittlichkeit die Rede ist.150 »[D]er Mann mit dem Glas«151 ›bewaffnet‹152 sein Auge mit dem »Binokel[ ]«,153 durch das er die vorübergehenden Passanten und insbesondere Passantinnen »aufs Korn« nimmt.154 In der aggressiven Großaufnahme des Triëders wird
146 147 148 149 150 151 152 153 154
Musil: Triëdere (GW II, 519). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [Nachlass] (MoE II, 1192). Musil: Triëdere (GW II, 520). Musil: Triëdere (GW II, 520). Vgl. Musil: Triëdere (GW II, 522). Musil: Triëdere! (GW II, 581). Vgl. Musil: Triëdere (GW II, 519). Musil: Triëdere! (GW, II, 579). Musil: Triëdere (GW II, 522).
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[d]ie Anmut einer Frau […] tödlich durchschnitten, sobald sie das Glas vom Rocksaum aufwärts als einen sackartigen Raum erfaßt, aus dem zwei geknickte kurze Stelzchen hervorkommen.155
Die Darstellung der Beobachtungen, die in eine sadistisch-voyeuristische Praxis »anzüglichen Mißbrauch[s]« überzugehen droht, wird unterbrochen und in eine »Theorie« des Triëderns überführt.156 Denn neben ihrem ›appetitiven‹ Effekt kann die akustische und optische Isolierung der Beobachtungsobjekte auch eine Dekontextualisierung der beobachteten Gegenstände wie deren ›Entpragmatisierung‹ in Bezug auf den Betrachter bewirken und auf diese Weise eine neue, eine andere – dämonische – »Bedeutung« (wieder)gewinnen: Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich […].157
Der Beobachter bleibt zwar ungeachtet der technisch bereits erzielten Möglichkeit, die Kamera vom Stativ zu lösen,158 unverrückt dort, wo er steht, erhöht über der Wirklichkeit, den Häusern, der Straßenbahn und den Passanten, an seinem (Fenster-)Platz.159 Hatte bereits das Triëdern der Straßenbahn die Wirklichkeit in der Perspektivierung des Objekts nicht nur verfremdet, sondern verändert, wenn die Straßenbahn durch das Triëder betrachtet »plötzlich« »etwas völlig Anderes« wird,160 so werden auch die Wahrnehmungsorgane des Beobachters sensibilisiert, wie es Musil bei den wahrnehmungs-physiologischen Versuchen im Experimental-Labor Carl
155 156 157 158
Musil: Triëdere (GW II, 521). Musil: Triëdere (GW II, 520). Musil: Triëdere (GW II, 520). Helmut Lethen: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann. In: Robert Musils »Kakanien«. Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Josef Strutz. München: Fink 1987. S. 195–229. S. 203 f. 159 Vgl. die Beobachtungsposition Ulrichs in Der Mann ohne Eigenschaften, wo der Straßenverkehr, »hinter einem der Fenster« nicht mit einem Fernglas, sondern mit einer Uhr ausgerüstet beobachtet bzw. gemessen wird (MoE I, 12). 160 Musil: Triëdere (GW II, 520); vgl. ebd. »Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, alles so deutlich an dem öffentlichen Ding, und nicht etwa persönlich bloß in seinem Auge […].«
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Stumpfs wiederholt an sich und anderen beobachten konnte.161 Denn der Blick durch das Triëder lässt die Augen des Beobachters »empfindlich«162 werden. Das Beobachtungsexperiment mit dem Prismenfernrohr verändert die Wirklichkeit ebenso wie das Auge des Betrachters. Insofern handelt es sich bei der in Triëdere beschriebenen Versuchsreihe gleichermaßen um ein Welt- wie ein Selbstexperiment. Das auf die Dinge und Erscheinungen des Alltagslebens gerichtete Triëder führt einerseits zum Wieder-Erkennen des »Bekannten«, andererseits kann es aber auch zu einer Destabilisierung der gewohnten Wahrnehmungen und somit zur Voraussetzung einer anderen Sehweise auf die Dinge, zur Entdeckung des bislang »Unbekannte[n]«, zu einem ›neuen Sehen‹, zur Bedingung ae(i)sthetischer Erfahrung werden: »Indem es [das Fernglas] die gewohnten Zusammenhänge auflöst und die wirklichen entdeckt, ersetzt es eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorübung dazu.«163 Somit ist die hier beschriebene De-Automatisierung von Wahrnehmung weniger ein Effekt des individuellen künstlerischen Genies, als vielmehr ein Effekt des Apparates und damit des Beobachtungsinstrumentes. Moderne Wahrnehmung, Wissenschaft und Kunst sind medial vermittelt und vielfach technisch konstruiert. Perspektivische Isolierung und zeitliche Variation, Groß- wie »Zeitlupenaufnahme[ ]«164 können gleichwohl auch unter Bedingungen moderner Technik und Medialität die dargestellte Versuchskonfiguration des Beobachtens von Beobachtungen in jenen Zustand überführen, der in Triëdere wie in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) als »zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser [U]mherschwimmen« umschrieben wird.165 Es ist jener ›andere Zustand‹, der als Essayismus II auf
161 162 163 164 165
Vgl. Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. S. 74 f. Musil: Triëdere (GW II, 521). Musil: Triëdere (GW II, 522). Musil: Triëdere (GW II, 518). Musil: Triëdere (GW II, 518 f.); vgl. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) (GW II, 1137–1154, hier 1138 f.): »Denn jede Kunst ist eine solche Abspaltung. Stumm wie ein Fisch und bleich wie Unterirdisches schwimmt der Film im Teich des Nursichtbaren […].«
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der Höhe der naturwissenschaftlich-technischen experimentellen Exaktheit ein »wahrhaft experimentelle[s] Leben«166 wieder möglich werden lässt. Im Mann ohne Eigenschaften wird dieser »Lieblingsgedanke« des »wahrhaft experimentelle[n] Leben[s]«167 wiederum ironisch relativiert. Ulrich, so heißt es im 116. Kapitel »Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele«, gab sich keiner Täuschung über den Wert seiner Gedankenexperimente hin; wohl mochten sie niemals ohne Folgerichtigkeit Gedanke an Gedanke fügen, aber es geschah doch so, als würde Leiter auf Leiter gestellt, und die Spitze schwankte schließlich in einer Höhe, die weit entfernt vom natürlichen Leben war.168
Das Leben aber ist jenseits des fragmentarischen Essay- bzw. Experimentalromans der ›Zwischenkriegszeit‹ die Wirklichkeit der »Kanonen«, der »Geschäfte Europas«,169 welche zu dem »ungeheuren Massenexperiment«170 des Ersten Weltkrieges führen, das durch die technische Präzision der optisch-akustischen Geräte und der Experimente mit fliegenden Projektilen, mit Phonographen, Tachistoskopen und Kinematographen erst ermöglicht wurde.
L ITERATURVERZEICHNIS (A USWAHL ) Adorno, Theodor W.: Der Essay als Form [1958]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 9–34. Bense, Max: Über den Essay und seine Prosa. In: Ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart: Dt. Verl.-Anstalt 1952. S. 9–37. Blasberg, Cornelia: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Stuttgart: Akad. Verl. Hans-Dieter Heinz 1984. Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003.
166 167 168 169 170
Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 826). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 826). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 594). Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (MoE I, 826). Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922] (GW II, 1075–1094, hier 1080).
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II. Experimente im Theater
Bertolt Brechts Theaterexperimente Galilei versus Lehrstück
F LORIAN V ASSEN
ABSTRACT: Beim Experimentbegriff der Naturwissenschaften und der Künste gibt es offensichtlich eine Interferenz mit punktueller Identität. So orientiert sich Bertolt Brecht, der sein episches Theater auch »Theater im wissenschaftlichen Zeitalter« nannte, in seiner Theaterarbeit an soziologischen und naturwissenschaftlichen Experimenten. Seine Bezugsperson ist vor allem der ›Künstler-Wissenschaftler‹ Galileo Galilei, dessen naturwissenschaftliche Experimente sich mit ›Aisthesis‹ und künstlerischer Praxis verbinden. Während jedoch ausgerechnet Brechts Leben des Galilei durch eine relativ traditionelle Dramenstruktur auffällt, stellen Brechts Lehrstücke (learning plays) mit ihrem pädagogisch-theatralen Spiel-Prozess radikale Erfahrungsexperimente dar.
Galileo Galilei gilt als einer der Begründer des naturwissenschaftlichen Experiments1 und Bertolt Brecht als einer der wichtigsten Vertreter des Theater-Experiments. So ist es kein Zufall, dass die beiden ›sich finden‹, oder, genauer gesagt, dass Brecht an Galilei anknüpft, seine induktive Methode
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Albert Einstein beispielsweise schreibt in seinem Buch über die Evolution der Physik (1938): »Mit dem Übergang von den Gedankengängen des Aristoteles zu denen Galileis wurde der Naturwissenschaft einer ihrer bedeutendsten Grundpfeiler gesetzt. Als dieser einmal getan war, konnte es über die weitere Entwicklung keinen Zweifel geben.« (Zit. nach Thomas Bührke: Sternstunden der Physik. Von Galilei bis Lise Meitner [1997]. 5. Aufl. München: Beck. 2003. S. 24.)
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und Erfahrungswissenschaft aufgreift und ein Theaterstück über ihn schreibt. Doch so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, ist diese Konstellation von Wissenschaft und Kunst im Kontext des Experiments nicht. Zunächst ist der Experiment-Begriff bei Galilei zu überprüfen und seine enge Verbindung zu ›Aisthesis‹ – verstanden als Wahrnehmung und sinnlich vermittelte Erkenntnis – und künstlerischer Praxis genauer zu analysieren. Nicht weniger komplex ist die Situation bei Brecht, der seinerseits versucht, dem epischen Theater eine wissenschaftliche Orientierung zu geben und damit eine adäquate ästhetische Antwort auf die gesellschaftlichen Widersprüche des »wissenschaftlichen Zeitalters« zu finden. Dabei hat jedoch ausgerechnet das Theaterstück Leben des Galilei mit seiner relativ traditionellen Struktur dazu beigetragen, dass Brecht weniger als ein Vertreter des künstlerischen Experiments, denn als ›Klassiker‹ des Theaters gesehen wird. Offensichtlich besteht ein Widerspruch zwischen Brechts Denkmethoden, literarischen Versuchen und Theaterexperimenten einerseits und der konkreten Gestaltung des Galilei-Textes und der Darstellung der Galilei-Figur andererseits. Brechts Lehrstücke dagegen stellen jenseits des Theaters eine radikale ästhetisch-pädagogische Versuchsreihe dar. Galilei und Brecht gemeinsam ist die Tatsache, dass ihre experimentelle Vorgehensweise zu ihrer Zeit einen revolutionären Stellenwert gehabt hat, aus heutiger Sicht allerdings – trotz aller Relevanz und intensivem Weiterwirken – sichtbare Begrenzungen aufweist. Die besondere Beziehung zwischen Galilei und Brecht ermöglicht es gleichwohl, den Begriff des Experiments in den Naturwissenschaften und der Kunst sowie deren spezifische Konstellation genauer zu untersuchen. Dabei wird sichtbar – so meine These –, dass die Bezeichnung Experiment in den beiden Feldern keine Äquivokation darstellt und auch der Begriff Metapher als Charakterisierung zu kurz greift. Stattdessen gibt es offensichtliche Analogien im Experimentbegriff der Naturwissenschaften und der Kunst, ja sogar eine Interferenz mit punktueller Identität. Das Verhältnis »von Literatur und Experiment« ist nach Michael Gamper auf drei Aspekte und die damit sich verknüpfenden Problemstellungen gerichtet: erstens auf den wechselseitigen Austausch zwischen den Wissensformen […], zweitens auf die Weisen der Reflexion von wissenschaftlichen Wissensbeständen durch die Literatur und die Künste, und drittens auf eine spezifische litera-
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rische Traditionsbildung des ›Versuchs‹, die experimentelle Strukturen als Gegenstand der Darstellung und als Produktionsbedingungen von Texten umfasst.2
Alle drei Aspekte, Austausch, Reflexion und die Form der Versuche, sind konstitutiv für Brechts Theaterexperimente.
G ALILEIS E XPERIMENTE – EINE V ERBINDUNG VON W ISSENSCHAFT UND K UNST Galilei steht am Anfang des wissenschaftlichen Experiments und damit der empirischen naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie. Die katholische Kirche hat ihn deshalb, ausgehend von einer Konfrontation von Wissenschaft und Religion, die sich erst im 19. Jahrhundert aufzulösen begann,3 als Bedrohung ihres religiösen Dogmas und politischen Machtanspruchs bekämpft und unterdrückt. Aber auch Brecht stand seiner Figur des Galilei letztlich kritisch gegenüber und veränderte ihn von der ersten zur zweiten und in der dritten Fassung seines Theaterstücks Leben des Galilei zu einer negativen Theaterfigur: Galilei wurde von einem geschickt agierenden und sich subversiv verhaltenden Widerstandskämpfer in der ersten Fassung, ursprünglich mit dem Titel Die Erde bewegt sich (1933–1938), geschrieben im Kontext des Nationalsozialismus, zum ›Verräter‹, der sich vom Volk abwendet, es sozusagen im Stich lässt und sich den politischen Machthabern unterwirft. Galilei steht bei Brecht für »die ›Erbsünde‹ der modernen Naturwissenschaften«,4 die ihre Forschung – ohne soziale Verantwortung –
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Michael Gamper: Experimentelle Differenzierungen im 19. Jahrhundert – eine Einleitung. In: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« Experiment und Literatur II: 1790–1890. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2010. S. 9–23. S. 10. Vgl. auch Michael Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments – eine Einleitung. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2009. S. 9–30. Erst 1835 wurde Galileis Dialog vom katholischen Index, der erst 1966 in seiner verbindlichen Form abgeschafft wurde, gestrichen und erst 1992 hat Papst Johannes Paul II. Galilei offiziell rehabilitiert. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 24. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Berlin/Weimar/Frankfurt am Main: Auf-
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nicht zum Wohl der Menschheit einsetzen: »die Atombombe« – so Brechts pointierte Schlussfolgerung – »ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.« (GBA 24, 240; vgl. 22, 25) Diese von Brecht explizit formulierten Widersprüche in Bezug auf die Naturwissenschaften und das Fortschrittsdenken sind gleichwohl nicht identisch mit Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Überlegungen zur Dialektik der Aufklärung, denn Brecht kritisiert nicht die technische Rationalität an sich, sondern nur ihren gesellschaftlich ›falschen Gebrauch‹. Galilei und die Folgen in den Naturwissenschaften sind auch heute noch umstritten, wie die kontroverse Diskussion etwa bei Edmund Husserl und Florian Nelle, Hans Blumenberg, Klaus Fischer, Helmar Schramm und Horst Bredekamp belegen.5 Der erste, die katholische Kirche betreffende, Aspekt ist hier nicht von besonderem Interesse, zumal sie heute in der Tendenz eine andere Einstellung zur Wissenschaft einnimmt6 und ihr politischer Einfluss begrenzt ist. Auch Brechts negative Umakzentuierung in der zweiten und dritten Fassung von 1947 und 1955/56 (vgl. GBA 5) wurde schon häufig kommentiert7 und als politisch wie theaterästhetisch problematisch erkannt, vor allem weil in dem selbst für Brecht außergewöhnlich langen Arbeitsprozess von gut zwanzig Jahren viele Widersprüche und Unklarheiten (Personalisierung, Individualisierung, Moralisierung, Opferbereitschaft, soziales Ver-
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bau u. Suhrkamp 1991. S. 240; im Folgenden steht hinter dem Zitat in Klammern die Sigle GBA sowie die Band- und Seitenzahl. Vgl. auch: Galileis erster Blick durchs Fernrohr und die Folgen heute. Hrsg. von Jakob Staude. Heidelberg: Winter 2010. Siehe überdies das Literaturverzeichnis. Vgl. dagegen die Kritik von Alan Posener: Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft. Berlin: Ullstein 2009. Vgl. zuletzt Bernadette Malinowski: »Leben des Galilei« als philosophisches Theater. In: Der Philosoph Bertolt Brecht. Hrsg. von Mathias Mayer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011 (= Der neue Brecht 8). S. 101–132. Werner Mittenzwei erklärt Brechts Veränderungen in der dritten Fassung mit dem Kampf gegen den Faschismus, der Akzentuierung von Eingreifen und Handeln und der Betonung der notwendigen „aktive[n] gesellschaftliche[n] Rolle des Individuums“. (Werner Mittenzwei: Brecht und die Naturwissenschaften. In: Brecht 73. Brecht-Woche der DDR. 9.–15. Februar 1973. Dokumentation. Hrsg. von Werner Hecht. Berlin: Henschel 1973. S. 153–196. S. 163.)
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brechen) im Text selbst entstanden sind.8 Außerdem stieß Brecht insofern an seine Grenzen, als Galilei trotz der deutlichen Negativierung in den späteren Fassungen in der Regel weiterhin als positiver Held mit einer aufklärerischen und humanen Haltung rezipiert wird – vergleichbar etwa mit dem Missverständnis in Bezug auf die Mutter Courage. Wesentlich komplexer und im Zusammenhang der Experiment-Thematik interessanter scheint mir dagegen der dritte Punkt: die Reduzierung von Galileis Experimenten auf einen engen Begriff der Naturwissenschaften. Vor allem der postulierte Dualismus von Ästhetik und Mathematik, von Kunst und Naturwissenschaft ist dabei in Frage zu stellen. Stattdessen ließe sich die These formulieren, dass gerade zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine starke Affinität zwischen Naturwissenschaften und Kunst besteht. Galilei ist ohne Zweifel einer der Begründer der Naturwissenschaften und – so muss man ergänzen – der Ingenieurwissenschaften, denn er hat nicht nur erstere mit Hilfe mathematischer Messmethoden grundlegend verändert, sondern letztere durch die Erfindung oder geschickte Konstruktion von Maschinen und Instrumenten – wie dem Proportionalzirkel, dem Thermoskop, einem Vorläufer des Thermometers, und dem Teleskop – weiterentwickelt.9 Vor allem mit dessen Hilfe hat er die ptolemäische Lehre als Irrtum erkannt und die Krise der geozentrischen Astronomie beschleunigt. Schon 1597 vertritt er, wie wir aus einem Brief an Johannes Kepler wissen, im Sinne eines »Paradigmawechsel[s]« und dem daraus folgenden »visuelle[n] Gestaltwandel[s]«10 die Position des Kopernikus11 und steht seit jener Zeit in ständigem, sich widersprüchlich entwickelndem Konflikt
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Vgl. die Darstellung von Rainer E. Zimmermann im Brecht-Handbuch; BrechtHandbuch. Bd. 1: Stücke. Hrsg. von Jan Knopf. Stuttgart: Metzler. S. 357–379; vgl. auch Gert Sautermeister: Zweifelskunst, abgebrochene Dialektik, blinde Stellen: Leben des Galilei (3. Fassung, 1955). In: Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1984. S. 125–161. 9 Vgl. Instrumente in der Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Helmar Schramm. Ludger Scharte u. Jan Lazardzig. Berlin: de Gruyter 2006 (= Theatrum Scientiarum 2); dort besonders Florian Nelle: Teleskop, Theater und die instrumentelle Offenbarung neuer Welten. S. 66–83. 10 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. S. 80, 123. 11 Vgl. Galileo Galilei: Schriften, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Anna Murray. Teil II. Briefe und Dokumente. Wiesbaden: Albus 2005. S. 9.
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mit der katholischen Kirche. Mit Hilfe von Experimenten entdeckt bzw. untersucht Galilei die Monde des Jupiter, die Struktur der Mondoberfläche, die Sonnenflecken, die Phasen der Venus, aber auch die Gesetzmäßigkeiten schwimmender Körper und die Fallgesetze, also zentrale Bereiche der beiden sich ergänzenden Systeme der Astronomie und der Mechanik. Entschieden wendet er sich dagegen, dass Philosophie und Wissenschaft in Büchern zu finden sei und dass man die Wahrheit durch die »›Vergleichung der Texte‹«12, das heißt durch »Buchwissen«, erkennen könne. Anstelle der Lektüre des ›göttlichen Aristoteles‹, wie damals in der Scholastik üblich, propagiert Galilei die Beobachtung und das Experiment. Dabei weiß man heute, dass Galilei keineswegs ein reiner Induktivist war, sondern zumeist von Gedankenexperimenten oder von mathematischer Deduktion ausging und seine Real-Experimente erst im Folgenden zur Überprüfung herangezogen und dementsprechend auch ausgewählt hat. Um etwas Neues zu sehen oder zu finden, bedarf es vor allem der Vorstellung von dem, was man sucht, und demgemäß einer spezifischen Aufmerksamkeit. Neu entdeckte Tatsachen sind untrennbar verbunden mit den ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen, Theorien oder Hypothesen.13 Nur so konnte Galilei, wie Thomas Kuhn herausgestellt hat, die Naturphänomene anders sehen, »als sie vorher gesehen worden waren«14 – ein Vorgang, der in enger Verbindung zu gesellschaftlichen Veränderungen steht und in einem kommunikativen Prozess mit der Wissenschaftlergemeinschaft, also den Kollegen und Schülern, sowie den Machthabern der damaligen Zeit abläuft.15 Seit der Zeit von Galilei hat sich die Positionierung und Relevanz des Experiments in der Wissenschaftsgeschichte ständig verändert.16 Grund-
12 Brief an Kepler vom 19. Aug. 1610; zit. nach Gerhard Szczesny: Das Leben des Galilei und der Fall Bertolt Brecht. Frankfurt am Main: Ullstein 1966. S. 15. 13 Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. S. 66. 14 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. S. 131. 15 Vgl. Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Erw. Neuaufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. 16 Vgl. Michael Heidelberger: Experiment und Instrument. In: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. Berlin: de Gruyter 2006 (= Theatrum Scientiarum 3). S. 378–397. Heidelberger unterscheidet mit Kuhn die klassischen Experimente, vor allem die Gedankenexperimente und Beobach-
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sätzlich aber ist es ein nach Regeln organisierter, wiederholbarer, planmäßig durchgeführter Versuch in Bezug auf ein oft künstlich erzeugtes und aus der Realität herausgelöstes Ereignis mit dem Ziel, etwas Neues zu entdecken oder eine Hypothese, sei es eine mathematische Formel oder eine theoretische Überlegung, empirisch zu belegen. Dabei gibt es, Michael Heidelberger zufolge, »zwei Arten von Experimenten«: solche, die zwar kausal, aber (noch) nicht in theoretische Strukturen und Paradigmen eingebettet sind, und solche, die ein Wissen um einen derartigen theoretischen Rahmen voraussetzen.17
Beide Vorgehensweisen haben jedoch insofern eine ambivalente Struktur, als sie sich auf der Basis von Neugier und Wissensdrang zwischen Unsicherheit und Regelhaftigkeit, Inspiration und Messbarkeit, zwischen Offenheit und Gesetzmäßigkeit, Wagnis und Ordnung bewegen. Galilei war aber nicht nur Naturwissenschaftler, Ingenieur und Handwerker, er war auch Literaturkritiker und Schriftsteller, Kunstkritiker und Künstler. Als Literaturliebhaber und -theoretiker beschäftigte er sich vor allem mit Ariost und kritisierte dessen Gegenspieler Tasso. Grundsätzlich wandte er sich gegen den Florentiner Manierismus mit seinen »hybrid selbstreferentiellen und notorisch ambivalenten Produkte[n]«18 und verteidigte stattdessen ästhetische Klarheit und Regelhaftigkeit. Galilei war zudem selbst ein großer Stilist19; er schrieb seine Hauptwerke, den Dialogo,
tungen der ›mathematica mixta‹, und die künstliche Anordnung der Umstände in den Experimenten Bacons (vgl. S. 379 f.). 17 Heidelberger: Experiment und Instrument. S. 395 f. 18 Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Berlin: Akademie 2007. S. 63. 19 Bredekamp spricht von Galileis »intensivierte[r] Sprachmelodik, die ihn zu einer Größe auch der Literaturgeschichte hat werden lassen.« (Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 104.) Werner Mittenzwei, der, Olschki zitierend, Galilei einen »Meister der italienischen Prosa« nennt (Leonardo Olschki: Galilei und seine Zeit. Halle: Niemeyer 1927.), betont ausdrücklich Brechts Begeisterung für die »Schreibweise Galileis, die fern aller Mystik und Allegorie die schöne Einfachheit und Exaktheit besaß, die die sorgfältige Hand des Technikers und Handwerkers verriet und dabei nie die Eleganz und Leichtigkeit verlor, die voller Humor, Witz und Satire war, […].« (Werner Mittenzwei: Gestaltungsprobleme des sozialistischen Realismus in Leben des Galilei. In: Brechts »Leben des Gali-
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Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische von 1632, die man auch »das aristotelisch-scholastische und das mathematisch-experimentelle«20 nennen könnte, und die Discorsi, Unterredungen über zwei neue Wissenschaften von 1638 nicht in Latein, sondern auf Italienisch, dem sogenannten ›volgare‹. Beeinflusst unter anderem von dem venezianischen Komödiendichter Ruzante, besitzt seine Sprache in ihrer anschaulichen, Alltagserfahrungen ansprechenden und zum Teil spöttisch-ironischen, aber auch deftigen Art eine besondere literarische Qualität. Mit der Verwendung der lebendigen Volkssprache wollte er in aufklärerischer Absicht erreichen, dass seine Experimente und Überlegungen den Verstand und die Sinne ansprechen und dass möglichst viele Leser seine Erfahrungswissenschaft verstehen. Neben der Konstruktion der Fakten steht demnach, so Karin Knorr-Cetina, die »literarische Konstruktion«, welche bei dem begabten Schriftsteller Galilei durchaus als »literarische Verstärkung«21 zu verstehen ist. Galilei stammt aus einer Künstlerfamilie, sein Vater war Komponist und Musiker, seine älteste Tochter war in ihrem Kloster künstlerisch tätig, und Galilei selbst spielte seit seiner Kindheit Laute. In der Forschung werden sogar Verbindungen zwischen Musik und Zeitexperimenten hergestellt: »Musical tempo and lute design became part of Galilei’s acceleration experiment.«22 Zudem war Galilei ein großer Kunstkenner, der enge Kontakte zu den Künstlern seiner Zeit pflegte und sich in dem grundlegenden Streit
lei«. Hrsg. von Werner Hecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 204–216. S. 210.) 20 Gerhard Harig: Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme – alte und neue Wissenschaft im Widerstreit. In: Galileo Galilei: Schriften, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Anna Murray. Teil II. Briefe und Dokumente. Wiesbaden: Albus 2005. S. 247–287. S. 247. 21 Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. S. 200 u. 228. Auch Gamper betont: »Für das Auftreten des Versuchs in der frühen Neuzeit ist dabei konstitutiv, dass Fiktion, Narration und Rhetorik in ihren produktiven und repräsentativen Aspekten stets und in allen Bereichen eine entscheidende Rolle spielten.« (Gamper: Experimentelle Differenzierungen im 19. Jahrhundert. S. 12.) Vgl. auch Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments. S. 13. 22 Glenn McClure: Galileo Galilei, the Arts and 21st Century Education. In: Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. Hrsg. von Kristin Westphal u. Wolf-Andreas Liebert. Weinheim: Juventa 2009. S. 149–167. S. 152.
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um die Vorherrschaft von Malerei oder Skulptur eindeutig auf die Seite der Malerei mit ihrer immanenten Tiefe und Räumlichkeit stellte. Diese Positionierung ist auch eine Selbstverteidigung, denn seit seiner Jugendzeit war er ein begabter Zeichner.23 Dies wird vor allem an seinen braunen Tuschezeichnungen des Mondes deutlich, die als Grundlage für die auch von Galilei selbst angefertigten Stiche in Sidereus Nuncius (Der Sternenbote) um 1600, der ersten Bildserie des Mondes, dienten.24 Da es noch keine Bildspeicherung gab, die bekanntlich erst mit der Verbindung von Teleskop und Fotografie im 19. Jahrhundert entstand, bildeten diese Zeichnungen notwendige ästhetische Fixierungen und Veranschaulichungen, ohne die die im Teleskop gesehenen Mondbilder nicht dauerhaft präsent gewesen wären. Schreiben und Zeichnen waren neben seinen philosophischen Überlegungen und wissenschaftlichen Hypothesenbildungen, neben geometrischen Analysen und der Konstruktion von Instrumenten Galileis wichtigste Tätigkeiten. Vor allem mit Hilfe von »visuelle[n] Denkformen« und »zeichnerischer Intelligenz«25 – wie Horst Bredekamp in seiner Monografie Galilei der Künstler (2007) dargestellt hat – verbindet Galilei Geist und Körper, Denken und Handlung. Vor dem Schreiben und Zeichnen stand aber das Sehen und Beobachten.26 Nicht zufällig war Galilei besonders eng verbunden mit der Academia de Lincei (Akademie der Luchse)27, die 1603 als selbständige Forschungsinstitution außerhalb der Universitäten gegrün-
23 Vgl. die Beiträge von Frank Fehrenbach zu Leonardos technischen Zeichnungen und Nicola Suthor zur Pinselführung. In: Instrumente in der Kunst und Wissenschaft. S. 84–113 u. S. 114–136. 24 Vgl. Bredekamp: Galilei der Künstler. Insbes. S. 343–362. 25 Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 6. 26 Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet mit dem stereoskopischen Sehen eine radikale Veränderung der Wahrnehmung statt, die Hand und Auge, Seh- und Tastsinn trennt und damit die Einheit des Körpers auflöst. Die Referentialität der Wahrnehmung, die Fokussierung des Sehens auf das, was man im Raum anfassen konnte, wurde nun in Frage gestellt. 27 Laut Johnston bestand diese Akademie, der auch der neue Papst Urban der VIII nahestand, vor allem aus »einer exklusiven Gruppe von Aristokraten, die in Naturphilosophie dilettierten« (Andrew James Johnston: Chaucer, Galilei, Brecht. Sprache und Diskurs im Leben des Galilei. In: Bertolt Brecht (1989–1956). Hrsg. von Walter Delabar u. Jörg Döring. Berlin: Weidler 1998 (= Memoria 1). S. 239–264. S. 248.). Johnston betont auch Galileis besondere literarische Schreibweise.
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det worden ist und die ihren Namen vor allem der Konzentration auf die Sehfähigkeit verdankt. Galileis Arbeit war ein »Sehen mit dem Stift in der Hand«. Mit zeichnenden Augen zu sehen, bedeutet, einen Gegenstand mit anderen Augen zu sehen, ihn zu verändern. […] Der Stift in der Hand läßt in Hinsicht auf das Zeichnen blicken. Das Auge wird zum zeichnenden Auge.28
Das Zeichnen verändert also das Sehen, fixiert, konzentriert, schreibt ein und verändert Zeit und Ort. Damit damals überhaupt etwas im Teleskop gesehen werden konnte, bedurfte es wegen der geringen Qualität der Instrumente29 vor allem einer intensiven Seh-Schulung, sprich Übung im ›Teleskopblicken‹. Vor allem indem die Atmung und der Pulsschlag des Forschers die genaue Beobachtung durch das Teleskop behinderten, macht sich hier der subjektive Faktor des wissenschaftlichen Experiments noch direkt und materiell bemerkbar. Grundsätzlich gilt, so Knorr-Cetina,
28 Isa Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung. Freiburg: Rombach 2006 (= Rombach Wiss. Reihe Scenae 2). S. 7. Wortelkamps theaterwissenschaftliche Überlegungen zur Kunst der Aufzeichnung und zur Transkription des Transitorischen im Theater verweisen auf die Korrespondenz zwischen Galileis und Brechts Vorgehensweise. 29 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Dimension des Teleskops vgl. Joseph Vogl: Medien-Werden: Galileis Fernrohr. In: Mediale Historiographien. Hrsg. von Lorenz Engell u. Joseph Vogl. Weimar: Universitätsverlag 2001. S. 115–123. Vgl. auch Florian Welle: Der irdische Blick durch das Fernrohr. Literarische Wahrnehmungsexperimente vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009 (= Stiftung für Romantikforschung 25). In Richard Sennetts kulturgeschichtlichen Untersuchung zum Handwerk findet sich auch der Abschnitt »Schwierige Werkzeuge«, in dem er die Probleme, aber auch die neuen Möglichkeiten der Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert aufzeigt; vgl. Richard Sennett: Handwerk. Berlin: Berlin Verlag 2008. Weiterhin erörtert er »die Verbindung zwischen Hand und Kopf« und die »grundlegende Bedeutung körperlicher Übung für den Erwerb von Fertigkeiten […].« (S. 20 f.); vgl. auch David Freedberg: The Eye of the Lynx: Galilei, His Friends, and the Beginning of Modern Natural History. Chicago: University of Chicago Press 2002.
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daß der Experimentator als kausale Ursache der erhaltenen Ereignisfolge gesehen werden muß und daß die Ereigniszusammenhänge als von uns geschaffen – und nicht als einfach gegeben – zu betrachten sind.30
»Wissenserzeugung« heißt Selektion aus der Wirklichkeit, Fakten – etymologisch abgleitet von lat. ›facere‹ – bedeutet Wissen als Konstruktion.31 In diesem Zusammenhang betont Bredekamp: Durch ihre Kenntnisse in der Perspektive waren künstlerisch ausgebildete Spezialisten weitaus besser vorbereitet, das Teleskop und das Mikroskop anzunehmen und zu nutzen, als Gelehrte, die weder über geschulte Augen noch über die Fähigkeit verfügten, sich des Gesehenen zeichnerisch zu vergewissern. Hierin lag der Grund, daß Galilei seine Kampagne zur Analyse der Sonnenflecken, […], vornehmlich mit Künstlern durchführte.32
Viele Wissenschaftler, Professoren, Theologen und Buchgelehrte weigerten sich sogar durch das Fernrohr zu schauen. Eine derartige Situation zeigt auch die fünfte Szene von Brechts Leben des Galilei (GBA 5, 215–224) – es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Galilei behauptet nach Bredekamp sogar, »daß die Kunst das Modell für die Philosophie biete«,33 – denn: »Der Rang des Malers wie des Philosophen beruht auf dem Einsatz des die Natur erforschenden Auges.«34 Sehen und Zeichnen, Auge und Hand, verstärkt durch das jeweilige Instrument, gehen also eine enge Verbindung ein; Erkenntnis und ihre Darstellung in Bild und Schrift sind nicht voneinander zu trennen. Letztlich findet eine vierfache Produktion statt, konstituiert durch zusammenhängende und doch – auch zeitlich – getrennte Faktoren: (1) die Entwicklung von Theorien und Hypothesen, (2) die Durchführung von Experimenten, (3) die Herstellung von Zeichnungen und (4) das Verfassen von Texten mit steigender Tendenz der Interpretativität. Dabei beinhalten alle vier Faktoren, Hypothesenbildung, experimentelle Beobachtung, zeichnerische Darstellung und der Prozess des Schreibens intensive Interpretationsarbeit.35
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Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. S. 21. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. S. 21 f. Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 319. Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 322. Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 327. Vgl. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. In diesem Sinne versteht auch Gamper das »Experiment als eine bestimmte provozierte Erfahrung, als ein
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Indem Galilei Augenschein, geometrische Analyse und philosophische Reflexion verbindet, setzt er gegen die Abstraktion immer wieder die Vielgestaltigkeit der Phänomene und betont sogar gegen eine Dominanz des Zwecks, dass nicht die »›notwendigen Dinge‹«, sondern die »›nicht notwendigen Dinge‹« von besonderer Bedeutung in der Forschung seien.36 Er möchte nicht die philosophischen Lehren in die denkbar engsten Räume eingezwängt sehen […], so daß man immer jene steife, gedrängte und jeglicher Anmut und Ausschmückung beraubte Schreibweise befolgen müsse, die den reinen Geometern eigen ist37 .
Der Vorwurf der Phänomenologie, speziell von Husserl in seinem Buch Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936), Galilei habe Wissenschaft »zu einer Technik entarten lassen«, und er habe »das ›Sinnesfundament‹ aller theoretischen Prozesse in der Anschaulichkeit der ›Lebenswelt‹ verlassen und vergessen«38, trifft vielleicht die spätere Entwicklung der Naturwissenschaften, aber nicht die Haltung des historischen Galilei. Die »geometrische Idealisierung« und »mathematisierende Theoretisierung«39 war bei ihm stattdessen stets eingebunden in Alltagserfahrungen und -sprache, in Anschaulichkeit und ästhetische Praxis. Zugleich aber wurde auch kritisiert, dass Galilei mit seinen Experimenten weniger »bewiesen« als »demonstriert« habe und dass analog zum Ma-
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Zusammenspiel von definierten Voraussetzungen, von künstlichem Eingriff und empirisch-performativem Ablauf, an das sich Verfahren der Erfindung, der Aufzeichnung, der interpretativen Ausdeutung und der kommunikativen Distribution anschließen […].« (Gamper: Experimentelle Differenzierungen im 19. Jahrhundert. S. 11.) Galileo Galilei: Le Opere. Edizione Nazionale. Hrsg. von Antonio Favaro. 20 Bde. Florenz [Reprint 1929–1968] Bd. VIII. S. 544; zit. nach Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 335, vgl. auch S. 330. Galilei: Le Opere. Bd. VIII, S. 544; zit. nach Bredekamp: Galilei der Künstler S. 335. Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. S. 470. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, § 66. In: Husserliana. Bd. 6. S. 230; zit. nach Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. S. 470.
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schinentheater seiner Zeit das Experiment mit Hilfe »kalkulierte[r] Theatralität« nicht als »Instrument der Freiheit […], sondern als eines der künstlerisch ambitionierten Demagogie«40 verwendet werde. Dieser Kritik liegt ein reduzierter Blick aus heutiger Sicht zugrunde, der die aktuelle Problematik von gesellschaftlicher Manipulation mit Hilfe von Inszenierung und Theatralisierung ahistorisch verallgemeinert und die spezifische Verbindung von Wissenschaft und Kunst im 17. Jahrhundert nicht berücksichtigt. Genauere Analysen zeigen heute, dass es sich bei Galileis Experimenten keineswegs um einen »fortschreitende[n] Prozeß der Entzauberung, Rationalisierung, Disziplinierung, Funktionalisierung und Instrumentalisierung« handelt, sondern primär um ein »Wechselspiel von Beobachtungsund Darstellungskünsten im Zeichen medialer Bedingungen«, um »Interferenzen von Kunst und Wissenschaft.«41 Da die drei »Kulturfaktoren« »Wahrnehmung, Bewegung und Sprache« für Galileis Forschung von zentraler Bedeutung sind, spielt besonders das Theater, das sich auf eben diese drei Elemente stützt, eine große Rolle. Dementsprechend verbindet sich bei Galilei die »Konstitution modernen Wissens« mit »Inszenierung und Konstruktion«.42 Es ist die »Affinität zur Kunst«, die »ihn über die Geometrie zur Mathematik führte«43, und es ist die Aisthetik als Lehre von der Wahrnehmung und der sinnlich vermittelten Erkenntnis, die seine experimentelle Arbeit fundiert. Zusammenfassend kann man demnach sagen, dass sich Galilei mit seinen Experimenten keineswegs auf eine kunst- und lebensfeindliche Naturwissenschaft und Mathematik reduzieren lässt, als Naturphilosoph ist er
40 Florian Nelle: Galileis Theatrum Mundi und die experimentelle Erziehung des Menschen. In: TheorieTheaterPraxis. Hrsg. von Hajo Kurzenberger u. Annemarie Matzke. Berlin: Theater der Zeit 2004 (= Recherchen 17). S. 224 u. 227. 41 Helmar Schramm: Einleitung. Ort und Spur im Theatrum scientiarum. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. Berlin: de Gruyter 2003 (= Theatrum Scientiarum 1). S. XI–XXIX. S. XIII. 42 Schramm: Einleitung. S. XIV. Vgl. auch Helmar Schramm: Einleitung. Kunst des Experimentellen, Theater des Wissens. In: Spektakuläre Experimente. S. XI–XXXVIII. Im 17. Jahrhundert fand eine »demonstrative Präsentation von Experimenten auf Messen und Märkten sowie überhaupt in Verbindung mit bedeutenden öffentlichen Ereignissen« statt. (S. XVI) 43 Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 33.
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vielmehr ein uomo universale; eher trifft demnach für Galilei eine Bezeichnung wie Künstler-Wissenschaftler zu.
B RECHTS T HEATER – EINE V ERBINDUNG VON K UNST UND W ISSENSCHAFT ? Brechts Versuchsreihe des epischen Theaters Brechts weltberühmtes episches Theater, lange Zeit als das Paradigma der experimentellen Dramatik des 20. Jahrhunderts verstanden, wird heute immer häufiger als letzter ›Rettungsversuch‹ des klassischen Theaters gesehen, und in der Tat bleibt die Fabel, Kern der aristotelischen Poetik, auch in Brechts Theaterkonzeption eine zentrale Kategorie.44 Richtig ist zudem, dass es epische Theaterformen schon in früheren Jahrhunderten gab und dass beispielsweise Luigi Pirandello, Paul Claudel, Billy Wilder und vor allem Erwin Piscator zu Brechts Zeit und zum Teil schon vor ihm mit ihnen arbeiteten. Das Besondere bei Brecht ist jedoch, dass er eine grundlegende Theorie des epischen Theaters entwickelt und systematisch mit epischen Theatertechniken experimentiert hat; die Episierung wurde nicht nur punktuell angewandt, sondern als Kommentar-, Reflexions- und Erzähl-Ebene strukturbestimmend. Brecht ist der einzige deutschsprachige Dramatiker des 20. Jahrhunderts, der derart umfassend Dramen- und SchauspielTheorie, Stücke-Schreiben und praktische Theaterarbeit miteinander verbunden hat, und er ist einer der wenigen, der eine Revolutionierung des Theaters ernsthaft in Angriff nahm. Brecht versucht, das Theater grundlegend zu verändern, indem er umfassende Experimente als Autor, Regisseur und Theaterpraktiker anstellt. Dabei ist allerdings der Begriff des künstlerischen Experiments in spezifischer Weise zu verstehen, eine starke Orientierung an den Natur- und Sozialwissenschaften ist unverkennbar. In einem kurzen Text von 1934 gibt Brecht dazu einen interessanten biografischen Hinweis: Im Gegensatz zu vielen meiner heutigen Kampfgenossen bin ich sozusagen auf kaltem Wege zu meiner marxistischen Einstellung gekommen. Wahrscheinlich
44 »Und die Fabel ist nach Aristoteles – und wir denken da gleich – die Seele des Dramas.« (GBA 23, 70) »Auf die ›Fabel‹ kommt alles an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung.« (GBA 23, 92)
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hängt das damit zusammen, daß ich ursprünglich Naturwissenschaften studiert habe. Argumente wirkten auf mich begeisternder als Appelle an mein Gefühlsleben, und Experimente (Hervorh. F. V.) beschwingten mich mehr als Erlebnisse. (GBA 22.1, 67 f.)45
Für Brecht gilt ohne Zweifel Hugo Dinglers Definition des Experiments46 von 1928: »Das Experiment fällt philosophisch unter den umfassenderen Begriff der ›Erfahrung‹«47 – und zwar im Sinne eines aktiven Eingreifens, einer Probe, eines Versuchs, der isolierbar, aus dem »Fluß des Geschehens« herausgehoben, mit »reproduzierbare[n] ›Bausteine[n]‹« wiederholbar48, damit aber auch variierbar ist. Diese »Handlung zu einem wissenschaftlichen Zwecke«49 verknüpft wissenschaftliche Begrifflichkeit mit Realität derart, dass man in der Verbindung von Denken und Handeln »Erscheinungen der Realität […] so einfangen und einengen« kann, dass man »in die Lage versetzt« wird, »sie in die Hand [Hervorh. F. V.] zu bekommen.«50 Die Begriffe Erfahrung, Eingreifen, Reproduzierbarkeit und Isolierbarkeit begegnen uns auch in Brechts Theatertheorie.
45 Hans-Peter Krüger spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Foucault vom »›ärztlichen Blick‹« von Brecht. Hans-Peter Krüger: »Postmodernes« beim jungen Brecht? In: Brecht 88. Anregungen zum Dialog über die Vernunft am Jahrtausendende. Hrsg. von Wolfgang Heise. Berlin: Henschel 1987. S. 147– 170. S. 153. 46 Hugo Dingler: Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte. München: Reinhardt 1928. Es ist mir nicht bekannt, ob Brecht das Buch von Dingler gekannt hat. 47 Dingler: Das Experiment. S. 51. Erfahrung steht in diesem Kontext – und auch für Brecht – nicht in Opposition zum wissenschaftlichen Experiment; vgl. dagegen Müller-Funk, der mit Koyré Erfahrung und Experiment unterscheidet, aber betont, dass in dem »Begriff des ›Versuchs‹, Gestus der Bescheidenheit wie Ausdruck von Intentionalität, […] gleichsam die Differenz zwischen stummer Erfahrung und beredtem Experiment« »verschleift« (Wolfgang Müller-Funk: Neugierde und literarisches Selbstexperiment im Essayismus der frühen Neuzeit. Montaigne und die Folgen. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«, S. 112–130. S. 114.). 48 Dingler: Das Experiment. S. 54 f. 49 Dingler: Das Experiment. S. 52. 50 Dingler: Das Experiment. S. 254.
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Einer der berühmtesten Vertreter dieses aktiven naturwissenschaftlichen Experimentierens neben Galilei ist Francis Bacon,51 der »wahre Stammvater […] aller modernen experimentierenden Wissenschaft«,52 auf dessen induktive empirische Vorgehensweise, auf dessen Verständnis von experimentum als erforschter experentia und dessen Einsetzen der Sinne als Ausgangspunkt für Zweifel und Wissen, sich Brecht immer wieder bezieht: Brechts »›Renaissance der Sinnlichkeit‹ sucht historische Bestätigung in der Sinnlichkeit der Renaissance.«53 Bacons Erfahrungswissenschaft […] besteht darin, eine rationelle Methode auf das sinnlich Gegebene anzuwenden. Induktion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode.54
So lässt Brecht in der Erzählung Das Experiment aus den Kalendergeschichten (1949) Bacon, vergleichbar mit Galilei, gemeinsam mit einem Jungen als Schüler Experimente durchführen (vgl. GBA 18, 362–372). Brecht spricht in diesem Text vom Beobachten, Beschreiben, Begreifen, also von Sehen, Schreiben und Anfassen respektive Verstehen und formuliert schließlich:
51 Neureuter zeigt, dass Brecht seine Theaterfigur Galilei mit Francis Bacon verbindet, indem er Galilei Formulierungen des historischen Bacon in den Mund legt. Vgl. Hans Peter Neureuter: Experimente der Neuzeit. Francis Bacon, Giordano Bruno und Galilei bei Brecht. In: Der Philosoph Bertolt Brecht. Hrsg. von Mathias Mayer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011 (= Der Neue Brecht 8). S. 85–99. Zur Wissenschaftstheorie und -philosophie Bacons vgl. auch den Beitrag von Michael Gamper in diesem Band. 52 Friedrich Engels u. Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. In: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 2. Berlin: Dietz 1972. S. 1–223. S. 135. 53 Helmar Schramm: Das Haus der Täuschungen (Bacon). Einige Überlegungen zu Brechts Ansatz eines »alltäglichen Theaters«. In: Brecht 88. S. 48–68. S. 60. 54 Engels u. Marx: Die heilige Familie. S. 135. Erfahrungen spielen auch bei Michel de Montaigne, einem anderen Zeitgenossen Galileis und Bacons, mit dem sich Brecht beschäftigt hat (vgl. GBA 29, 440 u. 561), eine zentrale Rolle. In einer Episode aus der 13. Szene (GBA 5, 114 f.) lässt sich Galilei von seiner Tochter »Sätze aus der Deckeninschrift aus der Bibliothek Michel de Montaignes« (GBA 5, 336) vorlesen, aber nur die, die er selber »aussuchte« (GBA 5, 114). Vgl. auch Müller-Funk: Neugierde und literarisches Selbstexperiment im Essayismus der frühen Neuzeit.
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Darum mußte man alles ausprobieren, selber, mit den Händen, und nur von dem Sprechen, was man mit eigenen Augen sah und was irgendeinen Nutzen haben konnte. (GBA 18, 364)
Auch in seiner theoretischen Schrift Kleines Organon für das Theater (1949) bezieht er sich auf Francis Bacon und sein Novum Organum von 1620, dessen deutsche Ausgabe noch heute mit Anstreichungen in Brechts Bibliothek zu finden ist und das seinerseits eine formale Fortsetzung und inhaltliche Kritik von Aristoteles’ logischen Schriften, zusammengefasst im 1. Jahrhundert v. Chr. unter dem Titel Organon, darstellt. Brecht wendet sich in seinem anti-aristotelischen Theater demnach nicht nur gegen dessen Poetik (ca. 335 v. Chr.), sondern vermittelt über Bacon auch gegen dessen Organon. Die novae creationes einer scientia activa, die Handlung und Theorie verbindet, nimmt Brecht auf, denn er will mit seinem Theater in die gesellschaftlichen Verhältnisse ›eingreifen‹. Auch formal knüpft Brecht an Galilei und Bacon an, indem er wie Galilei in seinem wichtigsten, allerdings unvollendeten ästhetik-theoretischen Text Messingkauf (1963) die Form des Dialogs wählt und im Kleinen Organon Bacons offene Form der »Aphorismen und Beobachtungen«55 verwendet; Kunst und Ästhetik, Naturwissenschaften und Empirie bleiben bei diesem wie bei Galilei noch eng miteinander verbunden. Bei Bacon »lacht« die »Materie« noch »in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an«, wie Karl Marx und Friedrich Engels formulieren, während bei Thomas Hobbes, dem »Systematiker des baconischen Materialismus«, der Materialismus »einseitig« und »menschenfeindlich«, wird: »Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers.«56 Brecht fordert, »daß für die Künste nunmehr dasselbe nötig ist, was die Baconschen Arbeiten für die Wissenschaften besorgt haben.« Dabei reichen nicht »einige formale Experimente«, sondern es geht darum,
55 Vgl. Wolfgang Krohn: Einleitung. In: Francis Bacon: Neues Organon [1620]. Lateinisch-deutsch. 2 Bde. Hrsg. von Wolfgang Krohn. Hamburg: Meiner 1992. S. XXXVII. Vgl. auch Wolfgang Krohn: Francis Bacons literarische Experimente zur Begründung der Experimentalwissenschaft. In: »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. S. 33–52. Brechts »Form des Diskurses« (Neureuter: Experimente der Neuzeit, S. 94.), sein fragmentarisches, unabgeschlossenes Denken bezieht sich grundlegend auf Bacon. 56 Engels u. Marx: Die heilige Familie. S. 135 f.
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daß das gesamte gesellschaftliche Leben vom Theater als experimentell aufgefaßt werden sollte. […] So hätte das Theater die Vorgänge zwischen Menschen und Klassen in großen überlegten Darstellungen nach der Seite ihrer Dirigierbarkeit durch die Gesellschaft der Betrachtung auszuliefern. (GBA 22.1, 558)
Brecht erkennt, dass die »gesellschaftlichen Bewegungsgesetze […] nicht an ›Idealfällen‹ demonstriert werden« können, da die ›Unreinheit‹ (Widersprüchlichkeit) gerade zu Bewegung und Bewegtem gehört. Es ist nötig – dies aber unbedingt −, daß im großen und ganzen so etwas wie Experimentierbedingungen geschaffen werden, d. h. daß jeweils ein Gegenexperiment denkbar ist. (GBA 23, 85)
In diesem Sinne führt Brecht auch den Dreigroschenprozeß (1931) als »[e]in soziologisches Experiment« (GBA 21, 448) durch, in dem er zu zeigen versucht, dass der Autor eines Kunstwerkes, in diesem Fall Brecht als Drehbuchautor des Dreigroschen-Films DIE BEULE (D 1931; Regie: Georg Wilhelm Pabst) angesichts der Macht des Kapitals der Filmgesellschaft nichts zu sagen hat; entgegen der kapitalistischen Ideologie vom Eigentum wird der Autor geistig enteignet, er verliert sein Urheberrecht. Interessanter in unserem Zusammenhang sind jedoch Brechts Überlegungen im Kontext des sozialwissenschaftlichen Experiments, denn in seinem Kommentar geht es Brecht nicht darum, in dem Rechtsstreit Recht zu bekommen, sein Ziel war vielmehr: »Die Wirklichkeit im Prozeß zu konstruieren« (GBA 21, 460) und damit Erkenntnisse über sie zu erhalten. Beim soziologischen Experiment tritt demnach an die Stelle von Falsifizier- bzw. Verifizierbarkeit ein heuristischer Ansatz, der sich im Verlauf des Experiments nicht auf das Ergebnis, sondern – durchaus analog zum Theater – auf die Performance konzentriert.57 Damit nähert sich das soziologische Experiment deutlich dem ästhetischen, das »die Realität provoziert, den Prozeß durch Beschleunigung und Zusammenfassung sichtbarer gestaltet.« (GBA 21, 508) Das Neuartige, für viele nicht Begreifbare dieser Art von Experiment beschreibt Brecht wie folgt: Auch von jenen, die unter einem Experiment nur ein von Anfang an planmäßig angelegtes, nur dem Experimentieren gewidmetes Unternehmen sehen, kann ein
57 Vgl. Lothar van Laak: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier. München: Fink 2009. Insbes. S. 185–234.
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Unternehmen wie der Dreigroschenprozeß nicht begriffen (das heißt ausgewertet) werden. Es ist nämlich ein für solche Leute unverständlich fließendes Vorkommnis, daß aus einem moralischen Akt [die Anrufung eines Gerichts] langsam ein Experiment über Moral überhaupt wird. (GBA 21, 463)
Die Neugierde des Anfassens und des Sehens, Hand und Auge, aber auch die Zielgerichtetheit und den Praxisbezug überträgt Brecht auf den Gestenund Wahrnehmungsraum des Theaters. Die Konzentration auf Wahrnehmung und Beobachtung steht dabei ebenso zum visionären Sehen und zur theatralen ›Hypnose‹ im Widerspruch wie der Gestus zur Körper-Ekstase; Brecht legt mit seinem Gestus Hand an den Körper, er zerlegt ihn in wiederholbare, zitierbare Gesten, macht ihn handhabbar, so wie das physikalische Experiment die Natur ›einfängt und einengt‹. In Brechts »Philosophie der Fingerzeige« werden »Begriffe« zu »Griffe[n]« (GBA 22.1, 513), das heißt, im Gestus konkretisiert sich die Abstraktion, der menschliche Körper und die Leiblichkeit kommen ins Spiel; so wird das »Theater« zum »Zugriff« auf die »Welt« (GBA 22.1, 555). Das genaue Beobachten und das zeigende Wiederholen, das Einüben von Haltungen, der Gestus und das Gestische, Distanzierung in jeglicher Hinsicht – das heißt: als AutorHaltung, als Textstruktur, als Methode des Schauspielers und als Zuschauerreaktion – haben Unterhaltung und Belehrung als Lust auf Vergnügen und Lust auf Wissen im Sinne von ›Be-Greifen‹ und ›Ein-Greifen‹ zum Ziel. Brechts Bemühen, sich als Schriftsteller der Haltung des Wissenschaftlers zu nähern58, um das traditionelle Theater, jenen »Rauschgifthandel« (GBA 22.2, 683) zu destruieren, ist jedoch keineswegs als kunstfeindliche oder gar technokratische Verirrung zu verstehen, Brecht hat sich davon deutlich distanziert: »Dennoch war, was als Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters praktiziert wurde, nicht Wissenschaft, sondern Theater,
58 Vgl. Werner Mittenzwei: Brecht und die Naturwissenschaften. In: Brecht 73; Meinhard Adler: Brecht im Spiel der technischen Zeit. Naturwissenschaftliche, psychologische und wissenschaftstheoretische Kategorien im Werk Bertolt Brechts. Ein Beitrag zur Literaturpsychologie. Berlin: Nolte 1976; Jan Knopf: Bertolt Brecht und die Naturwissenschaften. In: Brechts Leben des Galilei. Hrsg. von Werner Hecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 163–188; Fang Wang: »Man experimentiert auch mit Menschen …« – zur Thematik der Einheit von Wissenschaft und Kunst bei Bertolt Brecht. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992.
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[…].« (GBA 23, 66) Noch deutlicher formuliert er in seinem Journal, es sei ein »Fehler, zuviel Funktionalismus in das epische Theater hineinzutheoretisieren. Dadurch kommt etwas Technokratisches heraus« (GBA 26, 474), es entstehe ein eigentümlich puritanischer Geruch […], etwas Laboratoriumhaftes. Die ästhetische Seite schrumpft zum Formalismus zusammen. (Das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters wird zum wissenschaftlichen Theater.) (GBA 27, 216)
Brecht erkennt: Wir können mit Hilfe der Ästhetik allein nichts gegen das bestehende Theater ausrichten. Um dieses Theater zu liquidieren, d. h. abzubauen, wegzukriegen, unter dem Preis loszuschlagen, müssen wir schon die Wissenschaft heranziehen, so wie wir auch, um allerhand anderen Aberglauben zu liquidieren, die Wissenschaft herangezogen haben. Und zwar in unserem Fall die Soziologie, d. h. die Lehre von den Beziehungen der Menschen zu den Menschen, […]. (GBA 21, 270)
Theater bedarf also der Hilfe der Wissenschaft, aber es findet keine »Fusion« statt, und vom »episch-wissenschaftliche[n] Theater«59 zu sprechen ist eindeutig eine unzulässige Verkürzung. So ist die Kunst ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit, welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin. (GBA 22.2, 754)
Als Theoretiker der Dramatik, des Theaters und der Schauspielkunst hat Brecht eine Vielzahl von programmatischen Texten geschrieben – auch das ist symptomatisch für die literarische Moderne mit ihren Manifesten und Programmen. In unserem Kontext ist der Aufsatz Über experimentelles Theater60 von 1939 von besonderem Interesse. Brecht gibt dort zunächst
59 Frank-M. Raddatz: Die Anbindung an das Phantasma der Wissenschaft. In: Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Frank-M. Raddatz. Berlin: Henschel 2007. S. 91 und S. 114. 60 In einem Gespräch zwischen Günther Anders und Bertolt Brecht spricht Anders in Bezug auf Brechts Theater von »Experimentaldramatik« und Brecht bestätigt: »Episches Theater ist zugleich experimentelles Theater«. Anders betont weiter in dem Gespräch Brechts »Theorie des Zeigens«, den »Zeiger«, sprich Experimentator, und das »Gezeigte[s]« beim Experimentieren im Theater. (Günther
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einen Überblick über die verschiedensten Theaterexperimente der vorhergehenden Jahrzehnte, die entweder die »Amüsierkraft« oder den »Lehrwert« des Theaters »erhöhen sollten« (GBA 22.1, 540) und in der »Phase« des »höchsten Standard[s] und damit ihre[r] Krise« sowohl zur »Steigerung der Amüsierkraft nebst Ausbau der Illusionstechnik« als auch zur »Steigerung des Lehrwerts und de[m] Verfall des künstlerischen Geschmacks« (GBA 22.1, 543 f.) geführt haben. Besonders hebt Brecht Piscators Experimente hervor, die »eine völlig neue gesellschaftliche Funktion des Theaters überhaupt« »erstrebten«, aber doch, wie der Naturalismus, mit den »lehrhaften Elementen, […] die künstlerischen Elemente«, sprich »die Phantasie, den Spieltrieb und das eigentlich Poetische« »schädigten« (GBA 22.1, 545 f.). Anknüpfend an die Aufklärer Denis Diderot und Gotthold Ephraim Lessing drängt Brecht seinerseits »auf eine Verschmelzung der beiden Funktionen Unterhaltung und Belehrung« (GBA 22.1, 548). Ziel ist es, auf dem Theater mit künstlerischen Mitteln ein Weltbild zu entwerfen, Modelle des Zusammenlebens der Menschen, die es dem Zuschauer ermöglichen konnten, seine soziale Umwelt zu verstehen und sie verstandesmäßig und gefühlsmäßig zu beherrschen (GBA 22.1, 548),
denn: »Daß die Menschen so wenig über sich selber wissen, ist schuld daran, daß ihr Wissen über die Natur ihnen so wenig hilft.« (GBA 22.1, 550) Als theatrale Mittel entwickelte Brecht »in einer neuen Kette von Experimenten« »die Verfremdungstechnik«, den »sogenannte[n] epische[n] Darstellungsstil« und »das sogenannte gestische Prinzip« (GBA 22.1, 555 f.),61 mit deren Hilfe Erfahrung wieder theatral relevant wird. Abschließend stellt er klar, dass sein Theater als »Stätte der Erfahrung« nicht »der neue Stil« ist, sondern der Anfang von Versuchen bzw. »eine der vielleicht möglichen Lösungen des Problems« (GBA 22.1, 557). Konstitutiv für Brechts Theater-Experimente sind Konstruktion bzw. Montage, zwei zentrale ästhetische Kategorien der Experimente in der lite-
Anders: Der Mensch ohne Welt. 2. Aufl. München: Beck 1993. S. 138 f.; den Hinweis auf Anders verdanke ich meinem Freund und Kollegen Gerd Koch.) 61 Mit Walter Benjamin betont Malinowski besonders den »erkenntnistheoretische[n]« Aspekt der Geste bei Brecht. (Malinowski: »Leben des Galilei« als philosophisches Theater. S. 121.)
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rarischen Moderne. Sie vor allem haben ihm von Seiten des dogmatischen, sozialistischen Realismus den Vorwurf des »literarischen Formalismus« eingebracht, der – so Brecht kritisch – »simpel von der décadence« abgeleitet wird. Ironisch fährt er fort: Die literarischen Avantgardisten sind dekadente Bourgeois, fertig. […] Die Montage etwa gilt als Kennzeichen der Décadence. Weil durch sie die Einheit zerrissen wird, das Organische abstirbt! (GBA 26, 328)
Dabei experimentiert Brecht keineswegs in radikaler Weise mit der Montage. Er montiert in seine Theatertexte Chorauftritte und Songs, Spruchbänder und Projektionen, und die Schnittstellen der montierten Teile sind auch deutlich sichtbar, aber die Beibehaltung eines Sinnzusammenhangs, einer klaren Abfolge von Einzelteilen und von Handlungssträngen belegen, dass Brecht keineswegs eine Montage in der Art der Assoziationsästhetik wählt. Das Interesse des Zuschauers wird zwar nicht mehr auf das Ziel der Handlung, sondern auf deren Verlauf gelenkt, aber die Fabel bleibt für Brecht weiterhin trotz Unterbrechungen und Diskontinuität (vgl. GBA 26, 407) das Zentrum des Dramas. Gerade neue Formen wie die Montage, die Brecht aus der Realität gewinnt und nicht aus formalen Dogmen, haben ihn seinerseits wiederum veranlasst, gegen den »echte[n] sozialistische[n] Realismus«, wie er spöttisch formuliert, scharf zu polemisieren: »Hays Stück ›Haben‹« »ist ein trauriger Schund, Sudermann ist dagegen ein Fortschritt.« (GBA 26, 316) Mehr als zehn Jahre später macht Brecht in einer Anmerkung zu seiner Hofmeister-Bearbeitung deutlich, dass es – vergleichbar mit den ›finsteren Zeiten‹ für die Lyrik62 – auch für das Theater eine Zeit gab, in der es notwendig war, die Abbildungen der Wirklichkeit in der Kunst auf ihre Wirklichkeitstreue hin zu prüfen und die Absichten zu untersuchen, welche die Künstler mit der Wirklichkeit hatten. So kam es, daß wir von einer Wahrheit als unterschieden von Poesie zu sprechen hatten.
Und er fährt fort: Neuerdings untersuchen wir Kunstwerke oft überhaupt nicht mehr nach ihrer poetischen (künstlerischen) Seite hin und begnügen uns auch schon mit Werken,
62 Vgl. Bertolt Brecht: Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung (GBA 14, 388).
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die für das Theater keinerlei poetischen Reiz mehr haben, sowie Aufführungen, die keinerlei artistischen Reiz mehr haben. Werke und Aufführungen solcher Art mögen nun ihre Wirkungen haben, aber es können kaum tiefe sein, auch nicht in politischer Richtung. Es ist nämlich eine Eigentümlichkeit der theatralischen Mittel, daß sie Erkenntnisse und Impulse in Form von Genüssen vermitteln; die Tiefe der Erkenntnis und des Impulses entspricht der Tiefe des Genusses. (GBA 24, 380)
In der »Vorrede« des Kleinen Organons für das Theater legt Brecht dar, wie sein »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters« bzw. das experimentelle »Thaeter[s]«, wie er es zeitweise in Abgrenzung zum traditionellen Theater nannte (GBA 23, 65 u. 22, 761), als Reaktion auf das Theater als »Zweig des bourgeoisen Rauschgifthandels« »aus dem Reich des Wohlgefälligen« emigriert und »wissenschaftlich exakte[n] Abbildungen« und die »schöne[n] Logik des Einmaleins« verlangt (GBA 23, 65 f.). Zudem soll es beim Zuschauer »eine Haltung« bewirken, »die auch in den Wissenschaften eingenommen werden muß« − »eine staunende, erfinderische und kritische« (GBA 26, 407). Wieder knüpft Brecht an Galilei und seinen »fremden Blick«63 an, mit dem er einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. […] Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muß das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren. Es muß sein Publikum wundern, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdung des Vertrauten. (GBA 23, 82)
Das Publikum des aristotelischen Theaters beschreibt er dagegen als ziemlich reglose Gestalten in einem eigentümlichen Zustand. […] Sie haben […] die Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren, wie sie auch nicht hören, sondern lauschen. (GBA 23, 75)
An die Seite der Schauspielkunst stellt Brecht deshalb die ›Zuschaukunst‹. Schon in den frühen 1920er Jahren lässt Brecht am Ende von Trommeln in der Nacht (1922) Kragler nach einem Trommelwirbel ins Publikum rufen: »Glotz nicht so romantisch!« (GBA 1, 229).
63 Zuletzt hat sich Malinowski ausführlich mit dem »fremden Blick« in Brechts Theatertheorie bzw. bei seiner Theaterfigur Galilei auseinandergesetzt. Vgl. Malinowski: »Leben des Galilei« als philosophisches Theater. S. 119–128.
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Brecht übernimmt in seinem Theatertext Leben des Galilei Galileis Konzentration auf das Sehen als Erkenntnismittel64 und konfrontiert es mit dem Begriff »Glotzen«, also einem begriffslosen Blick der an der Oberfläche verbleibenden Anschauung. So lässt Brecht Andrea, Galileis Schüler, auf dessen Kritik am geozentrischen Weltbild mit den Worten reagieren: »Aber ich sehe doch, daß die Sonne abends woanders hält als morgens. Da kann sie doch nicht stillstehn! Nie und nimmer.« Darauf antwortet Galilei: » Du siehst! Was siehst du? Du siehst gar nichts. Du glotzt nur. Glotzen ist nicht sehen.« (GBA 5, 11) Anschaulich aber wird Galileis neue Sichtweise erst durch ein einfaches Experiment in Form eines Modells, zunächst in Form eines Stuhls und dann eines Apfels, mit deren Hilfe er Andrea »sehen« lehrt (GBA 5, 12). Galilei führt direkt auf der Bühne, respektive im Text selbst, für seinen Schüler Andrea »vereinfachte[ ] Experimente« vor, die als »[d]idaktische Demonstrationen« mit »theatralischen und dramaturgischen Aspekten« »ein einleuchtendes Ergebnis vorweisen«65 sollen.66 Als Organisationsform der Theatermacher stellt Brecht sich mit der Diderot-Gesellschaft, analog zu den »internationale[n] Gesellschaften von Wissenschaftlern«, eine »Gesellschaft für induktives Theater« (GBA 22.1, 274)67 vor, welche die Aufgabe hat,
64 Den verkümmerten oder reduzierten Seh- und Hörsinn wieder zu entfalten, ist auch in der Malerei bzw. der Musik ein wichtiges Ziel, etwa wenn Oskar Kokoschka eine »Schule des Sehens« gründet und praktiziert. 65 James W. McAllister: Das virtuelle Labor: Gedankenexperimente in der Mechanik des siebzehnten Jahrhunderts. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. S. 35–55. S. 38. 66 Roland Barthes benutzt den Begriff des »Scharfblicks« auch zur Erklärung von Brechts theoretischer Position; Barthes betont, dass Brecht in seinen Theatertexten »zwischen der Erklärung« der »historischen Ereignisse« und »dem Ausdruck der menschlichen Entfremdung eine Zwischenebene« »entwickelt«: »die Ebene einer Problematik des Scharfblicks«; er führt etwa in der Mutter Courage »eine Verblendung« vor. (Roland Barthes: Brecht, Marx und die Geschichte. In: Ders.: »Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin«. Schriften zum Theater. Hrsg. von Jean-Loup Rivière. Berlin: Alexander 2001. S. 184–189. S. 188.) 67 Brecht spricht auch von der »induktive(n) Methode« des Films (GBA 21, 465) und in Bezug auf Mutter Courage und ihre Kinder von einem »Schema von Wirkungsquanten« (GBA 26, 445).
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Erfahrungen ihrer Mitglieder systematisch zu sammeln, eine Terminologie zu schaffen, die theatralischen Konzeptionen des Zusammenlebens der Menschen wissenschaftlich zu kontrollieren. (GBA 22.1, 276)
Auch Brecht ist natürlich der Unterschied zwischen den naturwissenschaftlichen Experimenten und seinen Theaterexperimenten nicht entgangen, deren Akzent vor allem im Erproben, Ausprobieren, im Unfertigen, Vorläufigen, sprich: im Versuchscharakter lag. Entsprechend nannte Brecht eine Heftreihe Versuche (1929–1933)68, mit denen er sich als Literaturproduzent die »Möglichkeit« »schuf«, »bestimmte wichtige Arbeiten, die experimentellen Charakter hatten, laufend zu veröffentlichen«69, wie Elisabeth Hauptmann beim Neudruck 1959 schreibt. Bis 1933 werden 15 Versuche in sieben Heften publiziert, »Arbeiten«, die nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse sein (Werkcharakter haben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung) bestimmter Institute und Institutionen gerichtet sind (Experimentcharakter haben) […].70
Nicht zufällig finden wir in Heft eins (1930) als ersten Versuch das »Radiolehrstück«, Der Ozeanflug, ergänzt durch Brechts »Radiotheorie«71, das heißt sein »Radioexperiment«72, als zweiten die Geschichten vom Herrn Keuner, ein Versuch »Gesten zitierbar zu machen«73, und als dritten Fatzer, 3, ein Ausschnitt aus dem Text-Fragment Fatzer, mit dem sich Brecht zu jener Zeit besonders intensiv beschäftigte und der eine besondere Relevanz für ihn hatte. Die Versuche vier bis sieben in Heft zwei (1930), die epische
68 Vgl. die »verschiedene(n) Kulturen des Versuchs« im 18. Jahrhundert, »von denen die wissenschaftlichen und die populären des Salons und des Jahrmarkts nur die bekanntesten sind.« Die »Tendenz zur Ausdifferenzierung« »ermöglichte im 19. Jahrhundert ein dynamisches Verhältnis zwischen Wissenschaft und Literatur, das […] geprägt war durch Entgegensetzung und Konkurrenz […].« (Gamper: Experimentelle Differenzierungen im 19. Jahrhundert. S. 12 f.) 69 Elisabeth Hauptmann: [Vorbemerkung]. In: Bertolt Brecht: Versuche 1–12. Berlin: Suhrkamp 1959. S. 2. [Neudruck der Versuche 1–12. Berlin: Kiepenheuer 1929–1933] 70 Bertolt Brecht: [Vorbemerkung zu Heft 1]. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 6. 71 Brecht: Versuche 1–12 S. 5. 72 Brecht: Erläuterungen [zu »Der Ozeanflug«]. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 23. 73 Brecht: [Vorbemerkung]. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 6.
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Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, die »Untersuchung«74 Über die Oper, das Lesebuch für Städtebewohner« mit »Texte[n] für Schallplatten«75 und Das Badener Lehrstück, dessen Aufführung, »einen kollektiven Apparat organisiert«, setzten die experimentellen Literaturproduktionen im Kontext der damals avancierten Medien fort. Mit den Versuchen acht bis zehn in Heft drei (1931), bestehend aus Die Dreigroschenoper, Der Dreigroschenfilm und Der Dreigroschenprozeß, konzentriert sich Brecht auf das epische Theater, die »›nichtaristotelische Dramatik‹« und »das soziologische Experiment«76 als »eine neue kritische Methode«77, die sich, »um das zu Sehende jedermann sichtbar zu machen«, gegen die »›objektive[n], interesselose[n]‹, passive[n] Anschauung«78 wendet.79 Heft vier (1931) mit den Versuchen 11 und 12 schließlich beinhaltet sehr gezielt und von Brecht sicherlich beabsichtigt die Lehrstück-»Schulopern« Der Jasager und Der Neinsager und das politisch radikalste Lehrstück, Die Maßnahme, für proletarische Massenchöre aus Berlin.
74 Brecht: [Vorbemerkung zu Heft 2]. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 44. 75 Brecht: [Vorbemerkung]. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 44. 76 Zum »soziologischen Experiment« bei Brecht vgl. u. a.: Gerd Koch: Lernen mit Bert Brecht. Bertolt Brechts politisch-kulturelle Pädagogik. Hamburg: Association 1979. S. 45–62. 77 Brecht: [Vorbemerkung zu Heft 3]. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 144. 78 Brecht: Der Dreigoschenprozess. Ein soziologisches Experiment. In: Ders.: Versuche 1–12. S. 243–300, S. 244 (GBA 21, 448–514, 449). 79 Vermutlich über Karl Korsch macht Brecht 1943 in den USA die Bekanntschaft von Kurt Lewin, dem Begründer der experimentellen Sozialpsychologie, der 1939 in seinem Aufsatz Experimente über den sozialen Raum schreibt: »Ich bin der Überzeugung, daß es möglich sei, in der Soziologie und Sozialpsychologie Experimente vorzunehmen, die mit dem gleichen Recht als wissenschaftliche Experimente zu bezeichnen sind wie die in der Physik und der Chemie.« (Kurt Lewin: Experimente über den sozialen Raum. In: Ders.: Die Lösung sozialer Konflikte. Bad Homburg: Christian 1953. S. 112–127. S. 112; diesen Hinweis verdanke ich meinem Freund und Kollegen Gerd Koch.); vgl. auch Lewins Aufsatz Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. In: Erkenntnis 1 (1939/31). S. 421–466; zit nach: Ulrich Sautter: »Ich selber nehme kaum noch an einer Diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine Diskussion über Logik verwandeln möchte.« Der Logische Empirismus Bertolt Brechts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995) H. 4. S. 687–709. S. 701 f.
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Als Brecht nach dem Zweiten Weltkrieg in der SBZ/DDR endlich sein eigenes Theater erhält, konzipiert der Regisseur und Theaterpraktiker Brecht sogenannte Modellbücher, in denen mit Text, Kommentar und vielen Bühnenfotos der Grundgestus des jeweiligen Stücks sowie szenische Arrangements, die Gliederung der Fabel, Tempo, Ablauf der Aufführung und Varianten festgehalten wurden. Brecht geht es dabei nicht um Vorschriften, nicht einmal um Vorbilder, sondern um Entwürfe, die als Muster dienen können. Analog zu naturwissenschaftlichen Modellen produziert Brecht einen Entwurf, der aber in Differenz zum naturwissenschaftlichen Modell lediglich als Orientierung im Kontext der Einmaligkeit des künstlerischen Experiments dient. So schreibt Brecht: Modelle zu benutzen ist eine eigene Kunst; so und so viel davon ist zu lernen. Weder die Absicht, die Vorlage genau zu treffen, noch die Absicht, sie schnell zu verlassen, ist das Richtige. […] Gedacht als Erleichterungen, sind die Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie sind nicht gemacht, das Denken zu ersparen, sondern es anzuregen; nicht dargeboten, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern es zu erzwingen. Nicht nur zur Abänderung der Vorlage, auch zur Annahme ist Phantasie nötig. (GBA 25, 398)
Brecht hält die Konstruktion von Modellen für notwendig, da er so sein experimentelles Theater weiterentwickeln und weitergeben kann. Grundsätzlich sind Modelle hilfreich, die »Verdinglichung der menschlichen Beziehungen« (GBA 21, 469) sichtbar zu machen. Um die Realität zu durchdringen, »ist tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestelltes‹. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.« (GBA 21, 469) Brechts Theatertext Leben des Galilei − ein ästhetischer ›Rückschritt‹? Wir haben gesehen, wie Galilei und Brecht – also ein Naturwissenschaftler und ein Künstler – in der Realität und im Laboratorium respektive in der Literatur und im Theater experimentieren. Dabei bezieht sich Brecht mit seinen politisch-theatralen Versuchen direkt auf Galileis und Bacons wissenschaftliche Experimente.80
80 Im Gegensatz dazu besteht bei Brecht eine deutliche Distanz zum ExperimentBegriff der Romantik und des Naturalismus; ersterer ist ihm etwa wegen der Be-
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So wie Galilei Wissenschaft und Kunst eng miteinander verbunden sah, so wie seine Experimente von Messbarkeit und Regelhaftigkeit einerseits und von Offenheit und Innovation andererseits bestimmt waren und es ihm um das Sehen und die präzise Beobachtung ging, so orientiert sich Brechts Theaterkunst ihrerseits an der Wissenschaft. Auch seine Theaterexperimente besitzen eine vergleichbare Ambivalenz und sein Theater bedarf ebenfalls der Schulung der Wahrnehmung; an die Seite der Schauspielkunst stellt Brecht deshalb die ›Zuschaukunst‹. Lieferte für Galilei das Bild »einen fundamentalen Beitrag für die gestaltende Reflexion der Welt«81, so ist es bei Brecht das Theater. Beide entfalten dabei »in der experimentellen Praxis, dem Modellieren und Handhaben von Welt eine Eigendynamik kunstvoller Beobachtungs- und Darstellungsvorgänge.«82 Wie Galilei entwirft Brecht Modelle, arbeitet mit Gedankenexperimenten, Erfahrungsräumen und alltäglichen Haltungen. Im Messingkauf wendet er sich gegen die scharfe Trennung von Wissenschaft und Kunst: Leute, die weder etwas von Wissenschaft verstehen noch von der Kunst, glauben, daß das zwei ungeheuer verschiedene Dinge sind, von denen sie da nichts verstehen. Sie meinen, der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen, wenn sie ihr erlauben, phantasielos zu sein, und die Kunst zu fördern, wenn sie jedermann davon abhalten von ihr Klugheit zu verlangen. Die Menschen mögen in einem bestimmten Fach besondere Begabung besitzen, aber sie sind in ihm nicht um so begabter, je unbegabter sie in allen andern Fächern sind. Wissen gehört zur Menschlichkeit ebenso wie Kunst, […]. Ganz ohne Wissen ist niemand, und so ist niemand ganz ohne Kunst. (GBA 22.2, 808)
Auch im Kleinen Organon für das Theater betont er deren Verbindung: Es treffen sich Wissenschaft und Kunst darin, daß beide das Leben der Menschen zu erleichtern da sind, die eine beschäftigt mit ihrem Unterhalt, die andere mit ihrer Unterhaltung. (GBA 23, 73)
tonung von Phantasie und Traum sehr fremd, während er letzteren wegen seiner Reduziertheit kritisiert. 81 Bredekamp: Galilei der Künstler. S. 8. 82 Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig: Vorwort. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. S. V f. S. V.
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Besonders anschaulich beschreibt Brecht die Durchdringung von Wissenschaft und Ästhetik in seiner Vorrede zum Kleinen Organon für das Theater: Es könnte ja heute sogar eine Ästhetik der exakten Wissenschaften geschrieben werden. Galilei schon spricht von der Eleganz bestimmter Formeln und dem Witz der Experimente, Einstein schreibt dem Schönheitssinn eine entdeckerische Funktion zu, und der Atomphysiker R. Oppenheimer preist die wissenschaftliche Haltung, die ›ihre Schönheit hat und der Stellung des Menschen auf Erden wohl angemessen scheint‹. (GBA 23, 66)
Den Künstler-Wissenschaftler Galilei charakterisiert Brecht explizit in den Anmerkungen zu seinem Theaterstück: Ein großer Teil seiner Sinnlichkeit ist geistiger Natur. Da gibt es ›schöne Experimente‹, die kleine theatralische Darbietung, zu der er jede Lektion gestaltet; […] dann gibt es in seinen Reden Stellen […], wo er gute Wörter auswählt und sie abschmeckt wie Gewürze. (GBA 24, 247)
Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Brechts Drama Leben des Galilei eine weitgehend traditionelle Form aufweist. Diese ist dominiert durch einen in sich widersprüchlichen Helden als Persönlichkeit, geprägt von Atmosphäre und Stimmung, konstituiert durch einen Spannungsbogen mit einander verzahnter Szenen – also durch eine dramatische Struktur mit nur wenigen epischen Elementen und ohne Montage. Auf diese Weise wird insgesamt die Verfremdung, das heißt der fremde, distanzierte Blick, vermindert und die Einfühlung verstärkt.83 Brecht wusste sehr genau um diese Problematik, wie wir aus der Eintragung vom 24. Februar 1939 in sein Journal wissen: ›Leben des Galilei‹ ist technisch ein großer Rückschritt, wie ›Frau Carrars Gewehre‹ allzu opportunistisch. Man müßte das Stück vollständig neu schreiben, wenn man diese ›Brise, die von neuen Küsten kommt‹, diese rosige Morgenröte der Wissenschaft haben will. Alles mehr direkt, ohne die Interieurs, die ›Atmosphäre‹, die Einfühlung. Und alles auf planetarische Demonstrationen gestellt. […] Es wäre zuerst das ›Fatzer‹-Fragment und das ›Brotladen‹-Fragment zu
83 Mit Galileis fremdem Blick »präfiguriert« (Malinowski: »Leben des Galilei« als philosophisches Theater. S. 128.) Brecht immerhin seine neue Zuschaukunst, sprich den von Brecht beim epischen Theater intendierten Blick des Zuschauers.
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studieren. Diese beiden Fragmente sind der höchste Standard technisch. (GBA 26, 330; vgl. 27, 216)
Mit »technisch« meint Brecht hier ihre Dramaturgie und Ästhetik. Nicht zufällig sind diese beiden experimentellen Theatertexte im Rahmen eines komplexen Arbeitsprozesses Fragment geblieben, nicht zufällig haben sie eine besondere Affinität zu Brechts Lehrstücken, diesen radikalen Spielund Erfahrungsexperimenten, mit denen Brecht die Grenzen seines epischen Theaters zu überschreiten versuchte. Lehrstück als learning-play Die »andere Versuchsreihe« jenseits des Theaters Als Brecht 1929 zum ersten Mal den Titel »Lehrstück« verwendete und Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, wie es später heißt, am 28. Juli im Rahmen der Baden-Badener Musikfestwochen aufgeführt wurde, hatte er einen Theater-Typus geschaffen, der in einem zentralen Punkt deutlich über seine Experimente mit dem epischen Theater hinausging: Die Kommunikation von Bühne und Publikum, das Spielen für ein Publikum war abgeschafft oder zumindest nebensächlich geworden: »das lehrstück lehrt dadurch«, wie Brecht schreibt, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. prinzipiell ist für das lehrstück kein zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden.84
Brecht »führt eine andere Kette von Versuchen« durch, »die sich zwar theatralischer Mittel bedienten, aber die eigentlichen Theater nicht benötigten, […].« (GBA 22.1, 167) Stattdessen initiiert er einen selbstreflexiven politisch-pädagogischen Spiel-Prozess, in dem die »tätigen und betrachtenden«, die »politiker« und »filosofen« nicht mehr voneinander getrennt sind, so wie bei Marx Theorie und Praxis in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen.85 Diese Versuchsreihe besteht aus dem Ozeanflug, dem Badener Lehrstück vom Einverständnis, dem Jasager und Neinsager, aus Die
84 Bertolt Brecht: Zur Theorie des Lehrstücks. In: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrung. Hrsg. von Reiner Steinweg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. S. 164 f. S. 164. Zu Bertolt Brechts Lehrstück-Konzeption vgl. auch den Beitrag von Patrick Primavesi in diesem Band. 85 Bertolt Brecht: Theorie der Pädagogien. In: Brechts Modell. S. 70 f. S. 71.
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Maßnahme, Die Ausnahme und die Regel (1938) und Die Horatier und die Kuriatier (1938),86 sprich Lehrstücken für das Radio, Lehrstücke im Kontext experimenteller Musik sowie Lehrstücke für Schüler im Rahmen der Reformpädagogik, für Arbeiterchöre und für Kinder. Diese als ästhetisch-pädagogisches Experiment entstandene und sich im politischen und kulturellen Umfeld der Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik entwickelnde Theater-Form wurde allzu oft als Theaterstück mit einer Lehre, als politisches Zeitstück oder als Agitprop im Sinne von Indoktrination und Kunstfeindlichkeit missverstanden. Brecht stellte deshalb selbst die Frage, »ob nicht die bezeichnung lehrstück eine sehr unglückliche«87 sei. Die englische Übersetzung »learning-play«88, die Brecht höchstwahrscheinlich mitformuliert hat, drückt dagegen in ihrer Betonung des Lernens gegenüber der Lehre und des Spiels als Prozess gegenüber dem Stück als fertigem Produkt viel stärker Brechts Intention aus. Das ›LernSpiel‹, wie man die englische Bezeichnung rückübersetzen kann, verweist jedenfalls auf Aspekte, welche die Bezeichnung Lehrstück allzu oft verdeckt hat. Es geht nämlich bei Brechts Lehrstückkonzeption eben gerade nicht darum, dass Theaterfiguren dem Publikum eine ›fertige‹ Lehre vortragen, sondern dass die Spielenden als Lernende die eigentlichen Protagonisten werden, indem sie in der Gruppe Experimente als Spielende durchführen im Sinne von »durchführung bestimmter handlungsweisen, einnahme bestimmter haltungen, wiedergabe bestimmter reden«89. Die Haltungen werden untersucht, indem sie durchgeführt, wiederholt, verändert, beobachtet, reflektiert und so auch erlernbar bzw. kritisierbar werden. Angestrebt wird »die nachahmung hochqualifizierter muster […] ebenso die kritik, die an solchen mustern durch ein überlegtes andersspielen geübt wird.«90 Wahrnehmung und Handlung stehen dabei in enger Verbindung und im Gegensatz zum epischen Theater dominiert gegenüber der Repräsentation die Per-
86 Die verschiedenen Fassungen und Variationen, die sich auch in unterschiedlichen Titeln zeigen, sind in dieser Aufzählung nicht berücksichtigt. 87 Bertolt Brecht: Mißverständnisse über das Lehrstück. In: Brechts Modell. S. 129 f. S. 129. 88 Bertolt Brecht: The German Drama: pre-Hitler. In: Brechts Modell. S. 148–151. S. 150. 89 Brecht: Zur Theorie des Lehrstücks. S. 164. 90 Brecht: Zur Theorie des Lehrstücks. S. 164.
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formativität als körperliche und sprachliche Handlungen, die selbst Wirklichkeit konstituiert und präsentiert. Dabei wird – wie beim naturwissenschaftlichen Experiment – ein Teilaspekt aus dem »Fluß des Geschehens« herausgehoben, als »reproduzierbarer ›Baustein[e]‹« wiederholbar91, als Haltungen, Worte und »Gesten zitierbar«,92 wie Walter Benjamin sagt, damit aber auch variierbar. Anstelle einer fixierten Lehre tritt die theatrale Arbeit an äußeren körperlichen und inneren emotionalen, rationalen, psychischen Haltungen der Spielenden, die sich vor allem mit dem Widerspruch von sozialer Beziehung und Sozietät einerseits und Glücksverlangen des einzelnen und Asozialität andererseits auseinandersetzen. Ständig stellt sich dabei die Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlicher Gewaltförmigkeit und persönlicher Gewalttätigkeit sowie nach der Legitimität von Widerstand. So entsteht auch ein neues Verständnis vom Individuum, das weder isoliert gesehen und besonders exponiert wird, noch in seiner Persönlichkeit ausgelöscht werden soll, sondern in seiner Vielgestaltigkeit eine neue Stärke durch die Integration in eine Gruppe erhalten kann. Die Menschen, in diesem Fall die Spielerinnen und Spieler, sollen in der Gruppe Erfahrungen mit dem »Dividuum« machen; das heißt, »am einzelnen ist gerade seine Teilbarkeit zu betonen […]« (GBA 21, 359), wie es Brecht schon vor etwa achtzig Jahren sehr modern formuliert hat. Bei diesen Überlegungen gibt es offensichtliche Bezüge zu den modernen Naturwissenschaften. Brecht hat sich nicht nur in Dänemark von Assistenten des Atomphysikers Niels Bohr bei der Arbeit am Galilei in physikalischen Fragen beraten lassen; in Los Angeles hat er auch einen engen Kontakt zu Hans Reichenbach, einem Physiker und Philosophen des Logischen Empirismus93 , der seinerzeit als
91 Dingler: Das Experiment. S. 54 f. 92 Walter Benjamin: Bert Brecht. In: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 660–667. S. 662. 93 Zu Brecht und dem Logischen Empirismus vgl. Ulrich Sautter: »Ich selber nehme kaum noch an einer Diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine Diskussion über Logik verwandeln möchte.« Siehe auch Brechts Hinweise auf Heisenbergs Unschärferelation, die Ziffel in den Flüchtlingsgesprächen »Heisenbergs Unsicherheitsfaktor« nennt (GBA 18, 229), und auf Max Plancks Determinismus oder Indeterminismus in der Eintragung vom 26. März 1942 im Journal. Dort heißt es: »Auch der historische Materialismus weist diese ›Unschärfe‹ in bezug auf das Individuum auf.« (GBA 27, 74).
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Student Albert Einsteins erste Vorlesung über die Relativitätstheorie gehört hat. So lassen sich bei Brecht auffällige Parallelen und Bezüge zur Quantentheorie feststellen: Atom und Individuum als das ursprünglich ›Unteilbare‹ sind beide im 20. Jahrhundert ›teilbar‹ geworden und befinden sich dementsprechend in einer Wechselwirkung mit ihrer Umwelt respektive mit anderen Menschen. Brecht spricht von der »Zertrümmerung der Person«, der »Gespaltenheit des Menschen« (GBA 21, 320), vom Individuum »als ein[em] widerspruchsvolle[n] Komplex« und einer »kampfdurchtobte[n] Vielheit« (GBA 22.2, 691), das »das Dividuelle ungeheuer ausbauen« muss (GBA 21, 179); »die Zertrümmerung, Sprengung, Atomisierung der Einzelpsyche«, »diese eigentümliche Kernlosigkeit der Individuen« »bedeutet« also »nicht Substanzlosigkeit« (GBA 23, 476). Diese soziologischen Gedankenexperimente überträgt Brecht auch auf den Bereich der Kunst: Der Zwiespalt zwischen Individuum und Dividuum macht den Künstler aller Zeiten aus. […] Kunst nichts besonders Individuelles. Ein reiner Individualist wäre schweigsam. [GBA 21, 179 f.)
Brecht spricht in Bezug auf seine Lehrstück-Experimente von »Geschmeidigkeitsübungen, die für jene Art Geistes-Athleten bestimmt sind, wie es gute Dialektiker sein müssen.«94 Durch Rollentausch sind die Beteiligten während des Spielprozesses mal Spielleiter oder Beobachter – sprich Experimentator –, mal Mitspieler, also Teilnehmer des Experiments und damit zugleich Spiel-, das heißt Untersuchungsgegenstand. Im Spiel-Prozess werden also Subjekt- und Objekt ebenso wenig separiert wie Körper und Denken, sie unterscheiden sich nur punktuell und im Perspektivwechsel von Fremd- und Selbstwahrnehmung. Auch die zumeist getrennten Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsebenen des künstlerischen Experiments gehen im Lehrstück-Spiel eine untrennbare Verbindung ein. Das Ergebnis des spielerischen Prozesses bleibt dabei ungewiss und unsicher. Potentialität ist Ausgangspunkt, Grundlage und Ziel. Wenn Brecht formuliert: »die form der lehrstücke ist streng, jedoch nur, damit teile eigener erfindung und aktueller art desto leichter eingefügt werden können«95, dann postuliert er, dass die Lehrstücke sich sozusagen auf
94 Brecht referiert von Pierre Abraham. In: Brechts Modell. S. 197–199. S. 198. 95 Brecht: Zur Theorie des Lehrstücks. S. 164.
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einer ›mittleren Abstraktionsebene‹ zwischen diskursivem und poetischem Text befinden. In diese Form, die sehr karg und sparsam in ihren Mitteln ist, eben »streng«, können eigene Erfahrungen, alltagssprachlich formuliert, ohne Probleme eingefügt werden.96 Gleichwohl sind die Lehrstücke − anders als beim Rollenspiel und Psychodrama − kunstvoll gebaute, literarische Texte, in denen nicht nur die gesellschaftlichen Muster »hochqualifiziert« sind, sondern auch die sprachlichen. Diese »reden« des Lehrstücks hat Brecht in oft reimlosen Versen mit unregelmäßigen Rhythmen und in gestischer Sprache gefertigt, das heißt, es ist eine gesprochene und doch zugleich poetische Sprache. Adorno betont deshalb zu Recht, dass die Lehrstücke nach einem »artistische[n] Prinzip«97 gebaut sind. Walter Benjamin fasst dementsprechend die außergewöhnliche Qualität der Lehrstücke wie folgt zusammen: »Ihre pädagogische Wirkung haben sie zuerst, ihre politische dann und ihre poetische ganz zuletzt.« 98 Im Begriff der ästhetischen Erfahrung, »gewonnen im gestischen Umgang mit literarischen Texten«, die ihre politische Qualität in dem Widerstand gegen die »Deformationen des Alltags«99 besitzen, wird die Spezifik der Lehrstück-Konzeption sichtbar: Es geht um die ästhetische Konkretion von historischen Erfahrungen, um die Komplexität und Unausdeutbarkeit der Texte, die in Gesten, Haltungen und Reden materialisiert und in szenischen Bildern ihre Ausdrucksform finden. Indem diese Erfahrungsexperimente zugleich ästhetische Experimente sind, finden wir auch hier – noch intensiver als in der Versuchsreihe des epischen Theaters – das Spannungsverhältnis von Kunst und Realität, von Theater und Politik. In einer ›Experimentalgemeinschaft‹ werden auf der Grundlage strenger Regeln Wahr-
96 Schramm stellt auch eine interessante Beziehung zwischen Bacons theatralem »Großexperiment« »›Haus der Täuschungen‹« in dem Utopie-Fragment New Atlantis und Brechts Lehrstück-Konzeption her. So wie es dort darum geht, dass man Betrügereien »›als Betrügereien erkennt‹«, so geht es bei Brecht um die Zertrümmerung jeglicher Ideologie im Lehrstück-Spielen (Schramm: Das Haus der Täuschungen. S. 65). 97 Theodor W. Adorno: Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 409–430. S. 419. 98 Benjamin: Bert Brecht. S. 662. 99 Ralf Schnell u. Florian Vaßen: Ästhetische Erfahrung als Widerstandsform. Zur gestischen Interpretation des »Fatzer«-Fragments. In: Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis. Hrsg. von Gerd Koch, Reiner Steinweg u. Florian Vaßen. Köln: Prometh 1984. S. 158–174. S. 170.
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nehmungen und Haltungen ›entregelt‹. Im dezentrierten und multiperspektivischen Spiel entsteht Ungewöhnliches und auch Verstörendes und damit ein ästhetischer ›Möglichkeitssinn‹.100
V OM E XPERIMENT ZUR K LASSIK ? T HEATER -E XPERIMENTE MIT B RECHT Angesichts des epischen Theaters und der Lehrstücke muss man sich fragen: Was ist heute aus Brechts vielfältigen Theater-Experimenten geworden? Ist er wirklich ein ›folgenloser Klassiker‹, wie es seit Max Frischs missverstandenem Diktum oft heißt? Einerseits ist der ›tote Hund‹ Brecht, zu dem man ihn in so manchem Feuilleton polemisch erklärt, Jahr für Jahr nach Shakespeare der meist gespielte Autor auf deutschen Bühnen, und die heutige Theaterpraxis und viele aktuelle Inszenierungsstile sind ohne Brecht nicht denkbar; gerade viele junge Regisseure greifen in ihrer experimentellen Theaterpraxis – oft ohne sich dessen bewusst zu sein – auf Brechts theatrale Techniken und Theaterformen zurück. Gleiches gilt für jüngere Theater-Autoren im 21. Jahrhunderts wie René Pollesch oder Rimini Protokoll,101 Heiner Goebbels und Armin Petras102, ganz zu schweigen von älteren Dramatikern, die mit dem Theater experimentiert haben, wie Peter Weiss, Heiner Kipphardt, Heiner Müller oder Elfriede Jelinek. Zusammen mit seinen Antipoden Antonin Artaud und Samuel Beckett – mit denen er aber durchaus Berührungspunkte hat, etwa in Experimenten mit Körperlichkeit, Ritualisierung oder Sprachkritik – hat Brecht das europäische Theater des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert. Seine Theaterund Lehrstück-Experimente – einst eine Revolution des Theaters, ästhetisch-politische Versuche auf der Suche nach Neuem, verstörend und ungewöhnlich, ein Grenzen überschreitendes Wagnis – waren in ihrer Orientierung an Wissenschaft und Politik allerdings zugleich immer bemüht um Rationalität, Gesetzmäßigkeit und Reproduzierbarkeit, kurz um eine marxistische Erklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sein Versuch der
100 Zum Möglichkeitssinn bei Musil vgl. den Beitrag von Birgit Nübel in diesem Band. 101 Zu René Pollesch und Rimini-Protokoll vgl. auch den Beitrag von Patrick Primavesi in diesem Band. 102 Vgl. die Gespräche über Brecht in Frank-M. Raddatz: Brecht frißt Brecht.
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Gesellschaftsveränderung mit Hilfe des Theaters als soziologisches und ästhetisches Experiment stellte ohne Zweifel eine eingreifende Prozedur dar. Die Entwicklung ist weitergegangen: Mit Werner Heisenbergs Unschärferelation erhalten die Naturwissenschaften und mit ihnen deren Experimente eine neue Dimension: Mit dem postdramatischen Theater löst sich die traditionelle Dramenform, Brechts episches Theater radikalisierend, weiter auf, indem Fabel, Figur, Dialog ihre Struktur bildende Dominanz verlieren. Dezentrierung und Multiperspektivität, Veränderung von Wahrnehmungsmustern und Suchbewegungen im Spannungsfeld von Bühne und Zuschauerraum schaffen eine neue Theater-Situation. Brechts episches Theater dagegen ist – im Gegensatz zur Lehrstück-Praxis – heute in vielerlei Hinsicht kulturell und politisch integriert, es ist zu einem Theater »des institutionalisierten Experiments«103 geworden. In seiner ständigen, oft routinehaften und unproduktiven Wiederholung scheint Brechts Theater abgenutzt und verbraucht, es sei denn, heutige Theaterpraxis und -theorie setzten Brechts Experimente in der Art fort, dass sie mit ihnen experimentieren und Brecht also ebenso als Material benutzen wie er, entsprechend seiner Materialwerttheorie, mit der Weltliteratur umgegangen ist. In diesem Sinne formuliert Heiner Müller provozierend und doch zutreffend den Experimentgedanken weiterdenkend: »Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.«104
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103 Nelle: Galileis Theatrum Mundi. S. 222. 104 Heiner Müller: Fatzer ± Keuner. In: Heiner Müller: Werke. Bd. 8. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 223–231. S. 231.
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Barthes, Roland: Brecht, Marx und die Geschichte. In: Ders.: »Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin«. Schriften zum Theater. Hrsg. von Jean-Loup Rivière. Berlin: Alexander 2001. S. 184–189. Benjamin, Walter: Bert Brecht. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 660–667. Blumenberg, Hans: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 24. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Berlin/Weimar/Frankfurt am Main: Aufbau u. Suhrkamp 1991. Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrung. Hrsg. von Reiner Steinweg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Bredekamp, Horst: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Berlin: Akademie 2007. Bührke, Thomas: Sternstunden der Physik. Von Galilei bis Lise Meitner [1997]. 5. Aufl. München: Beck 2003. Dingler, Hugo: Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte. München: Reinhardt 1928. Engels, Friedrich u. Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. In: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 2. Berlin: Dietz 1972. S. 1–223. »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580– 1790. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2009. Fischer, Klaus: Galileo Galilei. München: Beck 1983. Freedberg, David: The Eye of the Lynx: Galilei, His Friends, and the Beginning of Modern Natural History. Chicago: University of Chicago Press 2002. Galilei, Galileo: Schriften, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Anna Murray. Teil II. Briefe und Dokumente. Wiesbaden: Albus 2005. Galileis erster Blick durchs Fernrohr und die Folgen heute. Hrsg. von Jakob Staude. Heidelberg: Winter 2010. Gamper, Michael: Experimentelle Differenzierung im 19. Jahrhundert – eine Einleitung. In: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« Experiment und Literatur II: 1790–1890. Hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer. Göttingen: Wallstein 2010. S. 9–23. Harig, Gerhard: Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme – alte und neue Wissenschaft im Widerstreit. In: Galileo Galilei: Schriften, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Anna Murray. Teil II. Briefe und Dokumente. Wiesbaden: Albus 2005. S. 247–287.
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ABSTRACT: Für die Praxis des Theaters sind Experimente auf mehreren Ebenen von Bedeutung. Zum einen können Experimente aller Art auf der Bühne vorgeführt und thematisiert werden. Darüber hinaus sind Experimente mit der Form von Darstellung und Inszenierung zu beobachten, die sich auf die Elemente des Theaters selbst beziehen. Und schließlich kann Theater insgesamt als experimenteller Vorgang betrachtet werden, der sich in einer Versuchsanordnung vor und mit Zuschauern vollzieht, die ihrerseits Teil des Experimentes sind. Diese verschiedenen Aspekte des Experimentellen werden exemplarisch an Brechts Ozeanflug-Lehrstück (1929/1950) als einem Theaterund Medienexperiment wie auch an einigen neueren Beispielen von Theater-, Tanzund Performance-Aufführungen erläutert.
Ohne Experiment ist Theater kaum denkbar, wenn es nicht in musealer Traditionspflege erstarren will. Selbst der Versuch, überlieferte Werke und traditionelle Spielweisen möglichst unverändert zu erhalten, wird früher oder später zum Experiment, wenn das Publikum mit diesen Traditionen nichts mehr anfangen kann. Gerade die soziale Funktion von Theater hängt damit zusammen, dass es die Welt und sich selbst reflektierend aufs Spiel setzt und beides nicht etwa als gegeben oder unveränderlich voraussetzt. Daher ist es durchaus angebracht, vom Theater Experimente zu fordern. Als 1996 Christoph Marthalers szenischer Parcours Straße der Besten unter der Leitung des schottischen Schauspielers Graham Valentine durch das Gebäude der (Ost-)Berliner Volksbühne führte, die sozialistische Arbeitshelden-Verklärung parodierte und dabei zugleich auf die Abgründe des Über-
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wachungsstaates DDR anspielte, war auf dem Programmzettel eine Grußbotschaft des gerade verstorbenen Heiner Müller zum 80-jährigen Bestehen der Institution Volksbühne zu lesen, ein Bekenntnis zum Experiment und auch zur Provokation: »Theater, denen es nicht mehr gelingt, die Frage WAS SOLL DAS zu provozieren, werden mit Recht geschlossen.«1 Die Schließung von Theatern ist in den meisten Fällen nicht zu rechtfertigen. Dennoch trifft Müllers Formel den Kern des nach wie vor akuten Problems, wie die gesellschaftliche Aufgabe und Relevanz von Theater zu bestimmen wäre jenseits seiner Inanspruchnahme für Zwecke der Erziehung, Bildung und gehobenen Unterhaltung. Während es zur bürgerlichen Ideologie des 18. und 19. Jahrhunderts gehörte, sich vom höfischen Prinzip der repräsentativen Verschwendung zu distanzieren und den moralischen Nutzen des Theaters zu beschwören, basiert das Selbstverständnis der Schaubühne des modernen, wissenschaftlichen Zeitalters auch über das 20. Jahrhundert hinaus eher darauf, sich bewusst dem Experiment zu verschreiben. So erscheint Theater als Labor und Experiment vor und mit Zuschauern. Experimente mit ungewohnten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen sind jedenfalls ein wesentliches Element neuerer Theaterformen, die gleichwohl noch unterhaltsam sein können. Aber was heißt dann Experiment und Experimentieren? Und inwiefern ist die Perspektive des Experiments hilfreich, um aktuelle Entwicklungen der Theaterpraxis zu verstehen? Dazu werden im Folgenden einige Grundlagen skizziert und ein für die Theater- und Mediengeschichte bedeutsames Experiment näher betrachtet: Bertolt Brechts Ozeanflug-Lehrstück. Daran anschließend werden einige neuere Theaterproduktionen diskutiert, die das Potential experimentellen Arbeitens mit durchaus unterschiedlichen Spielarten verdeutlichen.
Z UM V ERHÄLTNIS VON E XPERIMENT UND T HEATER Unter Experiment wird allgemein ein Versuch verstanden – entsprechend der etymologischen Ableitung des Wortes von experiri ›versuchen‹, ›ausprobieren‹. Seit dem 17. Jahrhundert wird das Experiment als ein wissen-
1
Heiner Müller: »Stöhnend unter der Last meines Versprechens …«. In: Christoph Marthaler: Straße der Besten (Programmzettel). Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz. Berlin 1996.
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schaftlicher Versuch definiert, als empirischer Beweis oder als Probe auf eine Hypothese. Im engeren Sinne experimentell ist die Manipulation komplexer Prozesse in einem kontrollierten Versuchsrahmen, wobei die Auswirkung der absichtlichen Veränderung einzelner Faktoren untersucht wird. Dazu bedarf es mehr oder weniger genau definierter Ziele bzw. Forschungsinteressen, die das Experiment von einem bloßen Aus- oder Herumprobieren unterscheiden sollen. Bei wissenschaftlichen Versuchen ergeben sich aber die interessanteren Resultate im Sinne von Entdeckungen nicht selten in Abweichung von den geplanten Ereignisverläufen. Experimente eröffnen somit immer auch die Möglichkeit, dass etwas Unvorhergesehenes eintritt und frühere Hypothesen in Frage gestellt werden. Einen Möglichkeitsraum, in dem sich etwas Nicht Geplantes ereignen kann, schaffen aber vor allem die Künste, mit ihren jeweils spezifischen Formen des Experiments. Im Umbruch zur Moderne des 20. Jahrhunderts haben traditionelle ästhetische Kriterien wie handwerkliches Können, der Ausdruck einer harmonischen Ordnung der Welt, die sinnlich wahrnehmbare Manifestation allgemein gültiger Ideen oder auch eine möglichst genaue Abbildung der Natur ihre normative Bedeutung verloren. Seither sind im Diskurs über die Künste eine Vielzahl von weiteren Aufgaben und Potentialen formuliert worden, die einen wachsenden Anteil des Experimentellen enthalten. Dabei ist allgemein die Tendenz festzustellen, Kunst nicht mehr nur vom Produkt her zu begreifen sondern eher als einen Prozess, der wesentlich durch den Rezipienten, seine Wahrnehmungs-, Synthese- und Imaginationsleistungen mitgestaltet wird. Die soziale und politische Funktion wie auch die ökonomische Bedingtheit von Kunst gewinnen (wieder) an Bedeutung, insbesondere ihre Ablösung vom individuellen Schöpfer hin zu kollektiven Produktionsformen, die heute zunehmend durch mediale Netzwerke geprägt sind. Die von Walter Benjamin reflektierten Auswirkungen der massenhaften technischen Reproduzierbarkeit von Kunst auf ihre sämtlichen Funktionen2 haben sich im Zeitalter der digitalen Vernetzung noch verstärkt und den Experimentcharakter der Kunst ebenfalls befördert. Gerade für das Theater
2
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (›Erste Fassung‹). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Herrmann Schweppenhäuser. Bd. I/2: Abhandlungen. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. S. 435–469.
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als eine kulturelle Praxis – die auch in früheren Epochen schon mehr und anderes als Kunst war und zugleich anthropologische, religiöse, soziale und politische Funktionen hatte – lassen die skizzierten Veränderungen die Dimension des Experiments deutlich hervortreten. Um diese Entwicklung genauer fassen zu können, sind einige Aspekte zu unterscheiden, mit denen sich das Verhältnis von Experiment und Theater konkret manifestiert. (1) Zunächst kann die Darstellung von Experimenten auf der Bühne betrachtet werden, sowohl in dramatischen als auch nicht-dramatischen Formen von Theater. Die spektakuläre Seite von Experimenten ist stets auch in theatraler Form präsentiert worden, sei es in den häufig theatrum genannten Schausälen und Laboren der Wissenschaft, sei es auf Marktplätzen und Jahrmärkten zur gewinnbringenden Unterhaltung der Menge. Auch in dramatischen Texten werden häufig naturwissenschaftliche Experimente thematisiert, ob in den beiden Teilen von Johann Wolfgang Goethes Faust (erschienen 1808 und 1832) die Erforschung der Triebkräfte des Menschen und der Natur vorgeführt wird, »was die Welt im Innersten zusammenhält«3, oder in Georg Büchners Woyzeck (entstanden 1836/1837) die Versuche des Mediziners zum Nachweis der Leidensfähigkeit des Menschen: »so machen wir d[ie] unsterblichsten Experimente«.4 Forscher und Wissenschaftler eignen sich als dramatische Figuren umso mehr, wenn ihre Experimente mit bestehenden Lehren oder religiösen Tabus brechen, oder wenn sie konfrontiert sind mit der Verantwortung, die sie persönlich für ihre Erkenntnisse und deren Anwendung tragen. Hierfür sind exemplarisch Brechts Leben des Galilei (1939), Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (1961) und Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) zu nennen. Diese mehr oder weniger ausdrücklich um das Thema der Kernforschung kreisenden Stücke zeigen aber zugleich, dass die Struktur des dramatischen Textes selbst schon zur Darstellung von Versuchsanordnungen tendiert: Das eigentliche Material des Dramas, das Verhalten von Men-
3
4
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 7/1: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1994. S. 11–464. S. 34. Georg Büchner: Woyzeck. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Frankfurt am Main: Insel 2002. S. 145–219. S. 211.
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schen in Konfliktsituationen, eignet sich in besonderem Maß dazu, als Experiment vorgeführt zu werden. So kann die Darstellung von Situationen, die in einer abgeschlossenen Versuchsanordnung mit einer überschaubaren Anzahl von Faktoren in Kombination und Wechselwirkung stattfinden, durchaus als Experiment bezeichnet werden. Dargestellt werden also nicht nur naturwissenschaftliche Versuche, sondern Experimente mit menschlichem Verhalten, psychologische und soziologische Experimente mit Krisen aller Art in einem kontrollierbaren Rahmen vor Zuschauern. Im europäischen Theater dominiert seit dem 18. Jahrhundert der Guckkasten, in dem das Publikum die in einem Stück dargestellte Handlung beobachten kann wie in einem Labor, als Versuchsaufbau mit mehr oder weniger vorhersehbarem Ausgang. Getestet werden vor allem Reaktionen, bei den vorgeführten Rollen wie auch beim Publikum. Dieser Versuchsaufbau reicht vom bürgerlichen Theater der Aufklärung, das zutreffend auch als ein »Labor der Emotionen«5 bezeichnet wurde, über die moderne Dramatik der Enge bei Jean-Paul Sartre bis hin zu neueren Autoren wie Thomas Bernhard, Botho Strauß, Yasmina Rezah und vielen anderen. Immer wieder geht es um Experimente mit dem Verhalten von Menschen in abgeschlossenen Situationen, unter überschaubaren Bedingungen, deren Manipulation durch die dramatische Handlung nachvollziehbar ist. Dramaturgie ist in diesem Sinne die geschickte Anlage und Steuerung solcher Experimente, die aus den dialogischen Situationen des Dramas entwickelt und auf wiederholbare Weise vorgeführt werden. (2) Wie sich damit allerdings schon abzeichnet, lässt die Darstellung von Experimenten aller Art auf der Bühne auch die Darstellung selbst als Experiment erscheinen. Dieser zweite Aspekt im Verhältnis von Theater und Experiment wird zwar durch eine Vielzahl von methodisch-technischen Lehrbüchern verdeckt, mit denen seit der Poetik des Aristoteles die Regeln der dramatischen Dichtkunst und der theatralen Darstellung immer wieder neu formuliert und in umfassenden Systemen geordnet wurden. Die Elemente der Inszenierung unterliegen aber zeitbedingten Tendenzen und Moden und können kaum nach absoluten Kriterien festgelegt werden. So wurde in allen Epochen des Theaters mit formalen Experimenten gearbeitet, sei es bei der Sprachgestaltung von Texten, bei Methoden des Schauspielens
5
Vgl. Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin: Edition Sigma 1995.
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oder bei den übrigen Elementen des Theaters: Bewegung, Raum/Bühnenbild, Kostüme, Licht, Musik und Geräusche. Entweder werden einzelne Elemente oder Zeichenebenen zum Gegenstand experimenteller Gestaltung, oder mehrere zusammen, wenn beispielsweise die gesamte visuelle Dimension einer Aufführung experimentell in dem Sinne erscheint, dass ein Text in einen veränderten Kontext gestellt wird. In diese Richtung wiesen bereits die historischen Avantgarden, deren ästhetische Experimente vielfach bekannte Werke neuen Deutungen aussetzten. Exemplarisch können die Massenaufführungen von Max Reinhardt, das dokumentarische Medientheater von Erwin Piscator oder auch die Biomechanik von Wsewolod Meyerhold als experimentelle Versuche mit der Form der theatralen Darstellung gelten. In Anknüpfung an die Experimente der historischen Avantgarden lässt sich seit den 1970er Jahren eine speziellere Form des formalen und inhaltlichen Experimentierens beschreiben, das sogenannte Regietheater. Darin dienen die Werke des Schauspiel- oder Opernrepertoires als Material, das in einen neuen Rahmen versetzt wird, der häufig auch auf die Zeit der Inszenierung verweist. Die Arbeit der Aktualisierung kann als Experiment betrachtet werden, wenn versucht wird, alte Texte unter neuen Bedingungen zu deuten – etwa durch mehr oder weniger explizite Verweise auf andere Zeiten und mit der Überlagerung historischer Zeitschichten, wenn die Wächter in Verdis Aida oder Beethovens Fidelio durch Uniformen als Nazisoldaten erscheinen. Durchaus plakativ wird seit den 1970er Jahren, entgegen dem Ideal einer Zeitlosigkeit der Werke, auch die Interpretationsgeschichte mitinszeniert. Dadurch ist das Regietheater nicht mehr nur als formales Experiment wirksam, mit dem die Werke auf neue Weise lesbar gemacht werden. Darüber hinaus geht es um ein soziologisches Experiment, dessen analytisches Potential die Gesellschaft betrifft – zum Beispiel als Kritik an den Repräsentationsstrukturen des Stadttheaterbetriebs. Zum Grundgestus von Regietheater gehörte es schließlich auch, den falschen Schein der Repräsentation aufzudecken und die gesellschaftliche Funktion von Kultur zu thematisieren. (3) Über die bisher betrachteten Formen des dargestellten Experiments oder des Experiments mit der Darstellung hinaus gibt es eine dritte Dimension des Experimentellen, zu der (im letzten Abschnitt dieses Beitrags) verschiedene Beispiele aktueller Theaterarbeit näher betrachtet werden sollen: Hier erscheint Theater insgesamt als Experiment, als Versuch nicht nur mit Verhaltensweisen und Reaktionsmustern auf der Bühne, sondern noch
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grundsätzlicher: mit der Situation der Begegnung von Akteuren und Zuschauern. Auch auf dieser Ebene kann es, ähnlich wie in der experimentellen Neudeutung ›klassischer‹ Dramen, einen mehr oder weniger offenen Ausgang des Experiments geben. Dabei ist die Möglichkeit zu scheitern konstitutiv für den Theaterprozess, für den es ohne dieses Risiko auch kein Gelingen geben wird. Etwas muss aufs Spiel gesetzt werden, damit Theater sich ereignen kann – darin liegt nicht nur eine elementare Erfahrung von Schauspielern, die sich vor Zuschauern ausstellen, sondern auch eine notwendige Bedingung aller ästhetischen Setzungen einer Inszenierung. Mit diesem Aspekt lässt sich ein elementares Kriterium für den Experimentcharakter des Theaters festhalten. Wie sehr die Meinungsmacher des Feuilletons im Verweis auf die besseren alten Zeiten, auf die moralische Verantwortung beim Einsatz von Steuergeldern, auf das Fassungsvermögen von Abonnenten oder auf bevorstehende Wahlkämpfe sich auch darin gefallen mögen, bedächtig vor Experimenten aller Art zu warnen – Theaterarbeit hat schon verloren, wenn sie nichts riskiert. Theater zählt zu den wenigen Orten, an denen das Verhalten von Menschen auf die Probe gestellt wird. Die Beschränkung auf das Gängige und Bewährte, dem vermeintlichen Publikumsgeschmack Entsprechende kann ein Theater auf Dauer nicht füllen, wird aber dazu beitragen, seine überregionale Wahrnehmbarkeit und Bedeutung zu reduzieren. Professionalität und Routine können auch schaden, etwa wenn bei Aufführungen nur der Eindruck restloser Kontrolle entsteht, die keine Lücke oder Störung mehr zulässt. Theater und Kunst dienen aber im Gegenteil eher der »Verunmöglichung von Kontrolle«, wie Heiner Müller konstatiert hat,6 der zugleich davon ausging, dass Theater in erster Linie ein »Laboratorium sozialer Phantasie«7 sei, als Experiment mit ungewohnten Verhaltensweisen und mit einer gemeinsamen/geteilten Wahrnehmung. Dadurch entsteht eine Situation, in der mit der Bearbeitung und Reflexion alltäglicher Erfahrungen experimentiert werden kann, wobei die Trennung von Akteuren und Zuschauern an Bedeutung verliert:
6
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Heiner Müller: Ich wünsche mir Brecht in der Peep-Show. Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz. In: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1990. S. 115–129. S. 129. Heiner Müller: Ein Brief (an Martin Linzer). In: Theater-Arbeit. Berlin: Rotbuch 1975. S. 124–126. S. 126.
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Dann hat das Theater erst seine eigentliche Funktion: nämlich daß die Leute ihr Leben durchspielen können und Variationen von Situationen. Leute, die hinterher oder vorher etwas ganz anderes machen. Dann hat das Theater eine wirkliche Funktion als Laboratorium. […] wo Situationen oder überhaupt gesellschaftliche, kollektive Phantasie produktiv gemacht oder auch erst kreiert werden kann.8
In diesem Sinne geht es mit dem Theater immer wieder um ein kollektives Experiment bzw. um Experimente mit dem Kollektiv oder der Gemeinschaft, ihrer Spaltung ebenso wie ihrer vorübergehenden, flüchtigen Versammlung. Die im Folgenden besprochenen Beispiele enthalten zwar auch Elemente der zunächst genannten Experiment-Formen, also dargestellte Experimente und Experimente mit der Form der Darstellung, zeigen aber vor allem die Ausdehnung des Experiments auf das Theater selbst, das als Vorgang und Situation insgesamt zum Thema gemacht und in Frage gestellt wird. Diese Infragestellung kann sowohl innerhalb von Theatergebäuden als auch im öffentlichen Raum geschehen. So findet der Versuch, theatrale Experimente nicht mehr nur vor Zuschauern durchzuführen, sondern auch mit ihnen zu experimentieren (mehr oder weniger ausdrücklich und mehr oder weniger kontrolliert), seine Fortsetzung im urbanen Kontext, bei einer Sondierung der alltäglichen Inszenierung und Konditionierung des Verhaltens. Außerdem reflektiert die gegenwärtige künstlerische Praxis aber auch die medialen Revolutionen, mit denen ›Öffentlichkeit‹ sich immer weiter in die technischen Medien und Netzwerke der Massenkommunikation verlagert. Umso aufschlussreicher ist der Ansatzpunkt der historischen Avantgarden des Theaters in den 1920er und 30er Jahren, die damals gerade erst etablierte Technik des Rundfunks und bald darauf des Films für Experimente mit neuen Theaterformen zu nutzen. Nicht zufällig sind die beiden bis heute einflussreichsten Tendenzen der modernen Theaters, die sich an den Personen Bertolt Brecht und Antonin Artaud festmachen lassen, jeweils verknüpft mit der Durchführung von Radioexperimenten, Versuchen mit dem technischen Medium Rundfunk: Artaud produzierte eine (allerdings kurz vor der geplanten Sendung abgesetzte und erst lange nach seinem Tod
8
Heiner Müller: Einen historischen Stoff sauber abschildern, das kann ich nicht. In: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1986. S. 31–54. S. 40 f.
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ausgestrahlte) Sendung Pour enfinir avec le jugement du dieu (1948),9 und Brecht arbeitete Ende der 1920er Jahre in Baden Baden an den für die Reihe der Lehrstücke grundlegenden Radio-Versuchen, auf die nun etwas näher einzugehen ist.
B RECHTS L EHRSTÜCK ALS T HEATER - UND M EDIENEXPERIMENT Die von Brecht mit den Lehrstücken eröffnete Versuchsreihe miteinander eng verknüpfter Texte bietet gerade für die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Experiment einige Aufschlüsse, indem sie von der Arbeit an neuen technischen Medien ausgeht. So überlagern sich im ersten Lehrstück Der Lindberghflug bzw. Ozeanflug (1929/1950) wie auch in dem daran anschließenden Badener Lehrstück (1929/1930) die bisher skizzierten Ebenen der Verknüpfung von Theater und Experiment, außerdem aber Medien- und Theaterexperimente. Dem Lehrstück liegt eine Auffassung von Medium und Apparat zugrunde, die weit über die Funktionen von Übermittlung, Reproduktion und Speicherung hinaus das ›Dazwischen‹ der Medien reflektiert: ein der theatralen Darstellung auch früherer Epochen immanentes Spiel mit der Schwelle zwischen Präsenz und Abwesenheit, ein phantasmatisches, gespenstisches Moment in der Vergegenwärtigung und Darstellung (Repräsentation). Dazu kommen das Motiv der Durchquerung, ein raumzeitlicher Prozess, welcher Reise und Transport ebenso wie eine Erfahrung der Veränderung und Auflösung individueller Persönlichkeit umfasst, und schließlich ein Denken des Theaters weniger als Aufführung von Werken, denn als Übung, die auch das Zuschauen als solches thematisiert. Die elementare Bedingung von Theater, die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern, kann durch die Arbeit mit technischen Medien auf neue Weise bewusst gemacht werden, im Spiel mit der Spannung zwischen Distanz und Nähe, Entzug und Kontakt, Reproduktion und liveness. Dem entspricht eine Verunsicherung von Wahrnehmungsweisen, die ein heutiges
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Vgl. dazu und zur Inszenierung der Stimme insgesamt Patrick Primavesi: Stimme ± Körper. Interferenzen zwischen Theater und Performance. In: Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Hrsg. von Gabriele Klein u. Wolfgang Sting. Bielefeld: Transcript 2005. S. 165–179. Zu Bertolt Brechts Lehrstück-Konzeption vgl. auch den Beitrag von Florian Vaßen in diesem Band.
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Publikum im alltäglichen Gebrauch der Kommunikations- und Unterhaltungstechnologie angenommen hat. Deren Kommerzialisierung hat sich auch in der Theaterpraxis auf affirmative Weise niedergeschlagen. So ist die Verwendung von Medien im gegenwärtigen Theater (wie schon in den 1970er und 80er Jahren) kein notwendig innovativer Faktor. Umgekehrt wäre es genauso abwegig, den – seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder neu beschworenen – Niedergang des Theaters bloß den technischen Medien anzulasten, etwa einer Rivalität auf dem Unterhaltungsmarkt oder dem Eindringen von Film-, Video- und Reproduktionstechnologie ins Theater. Das Vorhandensein von Monitor oder Kamera auf der Bühne sagt über eine Theaterarbeit noch wenig aus, kann dekorative oder konzeptionell begründete Funktionen haben. Für die historischen Avantgarden ist aber davon auszugehen, dass ihre Auseinandersetzung mit den neuen Medien Film und Rundfunk ein verändertes Denken des Theaters befördert hat. Dieses Potential der Arbeit des Theaters mit technischen Medien und der Reflexion seiner eigenen (Inter-)Medialität wird durch Brechts Ozeanflug und das Badener Lehrstück vom Umgang mit den gestürzten Fliegern erhellt. Um zu klären, worin bis heute die Herausforderung des Theaters durch diese Medienexperimente liegt, bleiben die Texte erneut zu befragen – gegen ihre verbreitete Reduktion auf autoritäre Belehrungsdramatik oder auf musikpädagogisch motivierte Gesangsveranstaltungen.10 Brechts erstes Lehrstück hieß anfangs Der Lindberghflug, dann Der Flug der Lindberghs, seit 1950 aber, wegen Charles Lindberghs Kollaboration mit den Nazis, Der Ozeanflug. Dieser Versuch sollte die damalige Begeisterung für technische Pionierleistungen vorführen und zugleich für eine radikale Veränderung von Theater und Rundfunk nutzen. So ging es von Anfang an um eine experimentelle Verknüpfung von drei Apparaten bzw. ›Medien‹: die Flugmaschine, in den 1920er Jahren noch kein alltäglicher Gebrauchsgegenstand, sondern utopischer Schauplatz von Heldentaten für die ganze Menschheit; das Rundfunkgerät, kurz Radio, dessen Verbreitung ebenfalls von einer Aura des Ätherischen und Metaphysischen begleitet
10 Für eine ausführlichere Analyse auch mit Beispielen zur neueren Rezeption der Lehrstücke vgl. Patrick Primavesi: Durchquerungen. Brechts Lehrstück als Medien- und Theaterexperiment. In: Theater und Medien / Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. von Henri Schoenmakers u. a. Bielefeld: Transcript 2008. S. 357–370.
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war; und das Theater, das auf eine jahrtausendelange Geschichte zurücksah, in der modernen Massengesellschaft aber so unzweckmäßig erschien, dass allenthalben seine Erneuerung versucht wurde. Brecht wollte in der Versuchsanordnung eines Experiments die Funktionsmöglichkeiten dieser drei unterschiedlichen Apparate ausprobieren; und für das Theater wie auch für den Umgang mit technischen Medien ist der Ozeanflug bis heute eine komplexe Herausforderung: 1.) Schon im Stücktext deutet sich an, dass der physische Transport ersetzt werden kann durch einen medialen, eine Durchquerung von Kanälen oder Funkwellen, die Raum und Zeit auf ein Minimum schrumpfen lässt. Dazu kommt 2.) Brechts Idee, den Rundfunk aus einem Distributionsapparat in einen Apparat der Kommunikation zu verwandeln. Angesichts immer größerer Perfektibilität der Medien ist umso bemerkenswerter, dass 3.) der Erfolg von Brechts Experiment für das Theater darin lag, sein eigenes Scheitern integrieren zu können. Gerade aus dem Misserfolg der ersten Aufführung sollte etwas gelernt werden. Die Vorführung war selbst das Experiment, bei dem sich das Publikum als Teil der Versuchsanordnung begreifen sollte. Dem entsprach 4.) die Orientierung der Lehrstückpraxis nicht an den Zielen der Werkaufführung, sondern am Prinzip einer bewussten Übung, durch die Einbindung von Selbstreflexion und Theorie ins Spiel. Dabei wurde aber 5.) auch die Theorie experimentell aufs Spiel gesetzt und die Frage aufgeworfen, was eigentlich das szenische Potential der neuen technischen Medien sein könnte. Mit der Aufforderung eines (nicht näher charakterisierten) Gemeinwesens an jedermann, den Flug des Fliegers zu wiederholen: »Durch das gemeinsame / Absingen der Noten / Und das Ablesen des Textes«11 wird der Apparat auf ein kollektives Experiment ausgerichtet. Die gegenüber der ersten Version erweiterte Fassung von 1930 enthält 17 Szenen: die Vorstellung des Fliegers, seine Begegnungen mit den Elementen Nebel, Schneesturm und Wasser sowie Dialoge mit dem personifizierten Schlaf und dem Flugzeugmotor. Dazwischen finden sich Kommentare zum Flug durch die Massenmedien Radio und Zeitungen bis hin zum »Bericht über das Unerreichbare« (das mit dem »Bericht vom Fliegen« im Badener Lehrstück
11 Bertolt Brecht: Der Flug der Lindberghs. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Bd. 3: Stücke 3. Bearb. von Manfred Nössig. Berlin/Weimar/Frankfurt am Main: Aufbau u. Suhrkamp 1988. S. 7–24. S. 9.
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dann korrigiert wird, wo es stattdessen das »Noch nicht Erreichte« heißt).12 Als Dokument der medialen Versuchsanordnung erweist sich der Lehrstücktext schon mit Blick auf die Uraufführung bei den Baden Badener Musiktagen, die das Thema »Radiokunst für die Massen im technischen Zeitalter« zum Motto hatten.13 Mit der Musik von Kurt Weill und Paul Hindemith fand die erste Aufführung am 27. Juli 1929 im Aufnahmestudio des Kurhauses statt und wurde mit Lautsprechern in andere Säle übertragen, um wie bei den übrigen Konzerten eine Radioübertragung zu simulieren. Bei einer für den Vormittag geplanten Generalprobe wollte Brecht die neue Verwendung des Rundfunks auch szenisch vor anwesendem Publikum demonstrieren. Diese Demonstration konnte dann aber erst am 28. Juli stattfinden, als ›theatralisches Experiment‹. Klaus-Dieter Krabiels Einwände gegen diesen Begriff können nicht überzeugen, da er die Lehrstücke nur als musikpädagogische Praxis deutet und einen viel zu engen Theaterbegriff voraussetzt, den Brecht aber überwinden wollte.14 Das Experiment sollte zugleich die medialen Bedingungen des Radiohörens aufzeigen und eine theatrale Praxis entwerfen. Auf eine Leinwand projiziert wurden Brechts mit »Radiotheorie« überschriebene Ideen zur Funktion von Rundfunk und Musik als ›Übung‹: »tun ist besser als fühlen, indem er [der Hörer] die musik mitliest und in ihr fehlende stimmen mitsummt […] oder im verein mit anderen laut singt.«15 Vor dieser Leinwand war ein Zimmer aufgebaut, worin ein Mann mit der Partitur am Tisch saß und den Part des Fliegers bzw. des Hörers übernahm (markiert durch ein Schild: ›Der Hörer‹). Daneben war ein kleines Orchester und ein Lautsprecher für die von Schallplatten abgespielten Geräusche,
12 Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. In: Ders.: Werke. Bd. 3. S. 25–46. S. 27. 13 Vgl. den Hinweis im Entstehungskommentar zu Der Flug der Lindberghs. In: Brecht: Werke. Bd. 3. S. 401. 14 Vgl. Klaus-Dieter Krabiel: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung eines Spieltyps. Stuttgart: Metzler 1993. S. 225. Vgl. auch: Ders.: Lindberghflug/Lehrstück. In: Brecht-Handbuch. Hrsg. von Jan Knopf. Bd. 1: Stücke. Stuttgart: Metzler 2001. S. 216–226. S. 221. 15 Bertolt Brecht: [Zum Flug der Lindberghs]. In: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrung. Hrsg. von Reiner Steinweg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. S. 37–41. S. 38.
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also alle im Stücktext mit »Radio« bezeichneten Stimmen. Das Radio lieferte dem Hörer nach Hause, was er selbst nicht produzieren konnte. Abb. 1: Szenische Demonstration, angeleitet vom Lehrstück-Autor
Bertolt Brecht: Der Lindberghflug (Baden Baden, 1929). Foto: Suhrkamp Verlag©.
Schon der Beginn des Stückes (vor allem die Aufforderung »Hier ist der Apparat, steig ein!«) versprach einen Prozess der aktiven Teilnahme, der experimentellen Durchquerung eines veränderten Erfahrungsraumes. In seinen späteren Erläuterungen beschreibt Brecht diesen Vorgang als »eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivisierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent«.16 Festzuhalten bleibt allerdings, dass das Lehrstück als Theaterentwurf von der Reflexion einer bei der Uraufführung noch unbefriedigenden Praxis geprägt war. Bei der nachträglichen szenischen Demonstration experimentierte Brecht nicht zuletzt mit der Möglichkeit einer chorischen Wiedergabe des Fliegerparts: »Nur durch das gemeinsame Ich-Singen kann ein Weniges von der pädagogischen Wirkung gerettet werden«.17 Dieser Korrektur ent16 Brecht: Erläuterungen zum »Flug der Lindberghs« (Versuche-Heft 1930). In: Brechts Modell der Lehrstücke. S. 66–69. S. 67 f. 17 Brecht: Erläuterungen zum »Flug der Lindberghs«. In: Brechts Modell der Lehrstücke. S. 69.
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sprachen Veränderungen des Textes, vom »Ich« des Fliegers zum »Wir«.18 Und auch die Ideologie des Fortschritts wird dekonstruiert, wenn sich der Kampf gegen die primitivere Technik gegen das heroisch verklärte Ich und seine Identifikation mit der Maschine wendet. Wie schon Walter Benjamin zum Lindberghflug anmerkte, kommt es nach Brechts Selbstkorrektur darauf an, nicht die Erregung des Publikums über die Heldentat, sondern eine Erfahrung von Arbeit für das Theater zu nutzen, die Erschöpfung und Scheitern einschließt.19 Im Badener Lehrstück (1929/1930) wird diese Tendenz noch zugespitzt, wobei sich das Experiment nun nicht mehr auf die Überwindung der Natur durch das Wagnis des Ozeanflugs und seine mediale Übertragung bezieht, sondern das Verhalten des Menschen im technischen Zeitalter einer umfangreichen Testreihe aussetzt: Nach einem allgemeinen Bericht vom Fliegen besteht der nunmehr gestürzte Flieger im Gespräch mit dem Chor auf seinem Ruhm und bittet ihn bzw. die Menge um Wasser. Darauf folgt eine Reihe von Szenen zur Untersuchung, »ob der Mensch dem Menschen hilft«20: Vorgeführt wird die Verweigerung der Hilfe durch den Chor; die Betrachtung von Bildern des Todes; eine Belehrung über die Notwendigkeit, mit dem Tod einverstanden zu sein; eine Szene mit zwei Clowns, die einen dritten (Herrn Schmitt) auf dessen eigenen Wunsch hin demontieren; und das abschließende Examen, bei dem der Gestürzte zeigt, dass er gelernt hat, seine Identität aufzugeben. Auch dieses (ebenfalls 1929 uraufgeführte) Lehrstück hat Brecht für die Publikation im Versuche-Heft 1930 erweitert und inhaltlich konkretisiert: Den gestürzten Flieger begleiten nun drei Monteure, die das Sterben als Aufgehen im Kollektiv lernen, während allein der Flieger bis zuletzt aus seiner Individualität beharrt und dafür mit der »Austreibung«,21 einer symbolischen Verstoßung aus der Gemeinschaft bestraft wird. Während im Lindberghflug die Position des Hörers nur indirekt für das Publikum der Aufführung stehen konnte, wird das Publikum des Bade-
18 Brecht: [Zum Flug der Lindberghs]. In: Brechts Modell der Lehrstücke. S. 65. 19 Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? (Zweite Fassung) In: Gesammelte Schriften. Bd. II/2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1977. S. 532–539. S. 537. 20 Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. In: Ders.: Werke. Bd. 3. S. 29. 21 Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. In: Ders.: Werke. Bd. 3. S. 44 f.
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ner Lehrstücks direkt in die Untersuchung über Hilfe und Hilfeverweigerung einbezogen. Außerdem wurden in den, der szenischen Demonstration des Lindberghflugs ähnlichen, Versuchsaufbau weitere Medien integriert, ein eigens mit Valeska Gert produzierter »Totentanz«-Film (DER TOD – D 1929, Regie: Carl Koch) sowie Fotos mit Kriegstoten. Aufgrund von Protesten der Zuschauer ließ Brecht diese Szene mit den Projektionen sogar noch einmal wiederholen: »Nochmalige Betrachtung der mit Unlust aufgenommenen Darstellung des Todes«.22 So verlagerte sich das Experiment der Beteiligung des Publikums am medialen Experiment durch Mitsingen auf die Wahrnehmung einer für damalige Verhältnisse extremen Vorführung von Gewalt. Plötzlich waren die Zuschauer mit der Verantwortung für die eigene Teilnahme an dem Prozess der Darstellung konfrontiert. An den konkreten Umständen dieser Aufführungsversuche wird deutlich, dass Brecht sein mehrfach geäußertes Ziel, »die Durchführung der Experimente, die der Umgestaltung des Theaters dienen«,23 mit den Lehrstücken am konsequentesten verfolgt hat. Die anschließenden Lehrstücke, vor allem Der Ja-Sager/Der Nein-Sager (1930/1931) und Die Maßnahme (1930/1931/1938) arbeiten ebenfalls daran, experimentelle Situationen auf der Ebene der Handlung (bis hin zur Überprüfung der wissenschaftlichen Lehren des Marxismus/Leninismus) mit eher formalen Experimenten zu verknüpfen, welche die Gestaltungsmittel der Inszenierung und den theatralen Vorgang als solchen betreffen. Darüber hinaus wurde das Experiment für Brecht insgesamt zur Arbeitsmethode – etwa wenn er seine theoretischen und poetischen Texte in der Heft-Reihe Versuche publizierte (von 1930 bis 1957 erschienen 15 Hefte mit insgesamt 37 Versuchen), wenn er den Rechtsstreit über die Verfilmung der Dreigroschenoper (1928) als ein »soziologisches Experiment«24 bezeichnet und mit theoretischen Reflexionen kommentiert hat oder wenn er schließlich im Kleinen Organon (1949) ein »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters« skizzierte und zu dessen
22 Vgl. den Kommentar zur Wirkung des Badener Lehrstücks vom Einverständnis in: Brecht: Werke. Bd. 3. S. 415. 23 Bertolt Brecht: Gegen das »Organische« des Ruhms. Für die Organisation. In: Ders.: Werke. Bd. 21: Schriften 1. 1914–1933. Bearb. von Werner Hecht. Frankfurt am Main 1992. S. 327–330. S. 327. 24 Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment. In: Ders. Werke. Bd. 21. S. 448–514.
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Begründung davon ausging, dass auch die gesellschaftliche Realität »als ein Experiment« anzusehen sei.25 Bereits in dem einschlägigen Text Über experimentelles Theater (1939/40) unterscheidet er zwei Linien von Experimenten, die den beiden Funktionen Unterhaltung und Belehrung gegolten hätten. Bezogen auf die Unterhaltung seien vor allem technische Neuerungen zu beobachten, die sich aber noch lange nicht durchgesetzt hätten. In der Phase ihrer höchsten Steigerung, im Theater Piscators hätten diese Experimente zunächst »ein völliges Chaos« angerichtet, weil sie »eine völlig neue gesellschaftliche Funktion des Theaters überhaupt« angestrebt und den Lehrwert auf Kosten des Unterhaltungswertes übersteigert hätten.26 In dieser Perspektive gesteht Brecht ein, dass der Verzicht auf Einfühlung für das Theater wohl »das größte aller denkbaren Experimente« bedeuten würde und lässt die Frage schließlich offen, ob es möglich sein könnte, eine stattdessen auf dem Effekt der Verfremdung beruhende Kunst unterhaltsam genug zu gestalten, um ihr zu allgemeiner Geltung zu verhelfen.27 Damit wird aber deutlich, dass gerade für ein Theater ›nach Brecht‹ die Frage nach dem Experiment von zentraler Bedeutung bleibt: Wie ließe sich Theater weiter als Experiment organisieren, ohne in bloßer Belehrung zu enden? Was wird aus den ebenso wichtigen Faktoren der Unterhaltung und des Spiels?
T HEATER UND P ERFORMANCE ALS E XPERIMENT MIT DEM E XPERIMENT Zwar ist auch das gegenwärtige Theater weit davon entfernt, eine allgemeine Akzeptanz von Experimenten erreicht zu haben. Dennoch wird das Experimentieren in zunehmendem Maße als notwendige Bedingung für theatrale Prozesse angesehen. So kann auch von einer Ästhetik des Probens, des Unfertigen und Nicht-Perfekten gesprochen werden, die für Theaterarbeit
25 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: Ders.: Werke. Bd. 23: Schriften 3. 1942–1956. Bearb. von Barbara Wallburg. Frankfurt am Main 1993. S. 65–97. S. 65, 85. 26 Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater. In: Ders.: Werke. Bd. 22: Schriften 2. 1933–1942. Teil 1. Bearb. Inge Gellert u. Werner Hecht. Frankfurt am Main 1993. S. 540–557. S. 544 f. 27 Brecht: Über experimentelles Theater. In: Ders.: Werke. Bd. 22. S. 553 f.
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gerade im Unterschied zu den technischen Unterhaltungsmedien an Bedeutung gewinnt.28 Was damit immer häufiger vollzogen wird, ist nicht bloß eine Ausweitung des Experiment-Charakters auf die Aufführung insgesamt, sondern zugleich eine praktische Reflexion über die Frage, welcher Status dem Experiment zukommt, von wem und in wessen Namen es eigentlich durchgeführt wird und mit welchen Konsequenzen. In diesem Sinne wird im Theater also auch mit dem Experiment selbst experimentiert. Dafür wird oft die Aufführung insgesamt in einen Modus der Krise versetzt. Die Zuschauer rücken nicht selten in den Mittelpunkt dieses Meta-Experiments, mit einer der Performance-Kunst entsprechenden Zuspitzung von extremen Situationen, Grenz- und Schwellenerfahrungen. Die englische Performance-Gruppe Forced Entertainment hat auf besondere Weise immer wieder mit Tabubrüchen gearbeitet – bis hin zur direkten Vorhersage, wann und an welcher Krankheit die jeweils einzeln adressierten Zuschauer sterben werden, wie in der Produktion First Night (2001). Natürlich wissen alle Beteiligten, dass solche Prophezeiungen aus der Luft gegriffen sind. Dennoch haben sie den Effekt, die Frage nach der Gemeinschaft des Theaters auf unbequeme Weise konkret zu machen. Dass es mit diesem Ausspielen des Peinlichen zugleich um ein komisches Experiment gehen kann, hat besonders der Prolog des Stückes Showtime! (1996) gezeigt. Dabei steht der Schauspieler Richard Lowdon einsam vor dem Publikum, einen Dynamit-Gürtel um den Bauch, und versucht scheinbar verzweifelt, die Zeit bis zum Auftritt seiner Kollegen auszufüllen. Auffällig sind Lowdons Gesten, mit denen er ebenso wie durch die regelmäßigen Pausen seiner Rede die Reaktionen des Publikums, zumal dessen Gelächter, wie in einer Comedy Show dirigieren kann. Dies ermöglicht ihm, den selbstreflexiven Prolog vorzutragen, der nicht nur seine eigene Situation als Darsteller und den visual gag thematisiert, den er um den Bauch gebunden hat, sondern auch die Rolle des Publikums – die sonst im Theater eigentlich Tabu ist, um den Leuten nicht den Spaß zu verderben:
28 Vgl. dazu auch: Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater. Hrsg. von Melanie Hinz u. Jens Roselt. Berlin: Alexander 2011.
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There’s a word for people like you and this word is audience. […] It’s important to remember that there are more of you than of us. So, if it does come to a fight, you will undoubtedly win.29
Dieser mögliche Kampf zwischen Zuschauern und Akteuren ist eine komische Vorstellung. Und natürlich wissen wir als Zuschauer, dass er jetzt nicht wirklich seinen Dynamitgürtel zünden und das Theater sprengen würde, auch wenn der große Wecker, der als Zeitzünder am Gürtel hängt, die Echtzeit des jeweiligen Abends anzeigt. Aber die Art, wie der Schauspieler nervös bleibt und sich immer häufiger umsieht, erzeugt einen gewissen Sog. Dabei geht es die ganze Zeit um die Situation, allein auf der Bühne zu stehen, dem voyeuristischen Blick der Zuschauer ausgesetzt, und, wie er es später als Alptraum aller Schauspieler erzählen wird, den vom Autor gerade erst geschriebenen und von seinen Kollegen hereingerufenen Text einfach nicht hören zu können. So verstärkt auch noch das Spiel mit der Panik des Darstellers, der nichts darzustellen hat, den experimentellen Charakter dieser Szene. Indem die Situation des ›nackten‹ Auftritts aber zugleich auch als Experiment thematisiert wird, spürt das Publikum allmählich, dass es längst schon mitspielt, ob es will oder nicht. Im Hinblick auf eine Offenheit der Situation, in der das Publikum direkt adressiert wird, wären viele weitere Produktionen von Forced Entertainment anzuführen. Damit steht diese Arbeit natürlich auch in der Tradition von Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (entstanden 1965), die selbst schon den Charakter eines Experiments hat und diesen ebenfalls thematisiert. Dass dieses am Frankfurter Theater am Turm 1966 von Claus Peymann uraufgeführte Stück in den letzten Jahren wieder eine gewisse Konjunktur erlebt hat, hängt sicher mit der Frage zusammen, wie – in einer Zeit allseitiger Angebote und Aufforderungen zur Partizipation – die Aktivität des Publikums thematisiert werden könnte, ohne auf überholte Techniken der ›Animation‹ und der aufdringlichen Einbeziehung von Zuschauern ins Bühnengeschehen zurückzugreifen. Bevor Handkes Text am Ende zur eigentlichen Beschimpfung übergeht (die sich damals an eine Gesellschaft von Mittätern bei den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs richtete), entfaltet er eine gezielt widersprüchliche Kette von Anweisungen und Positionsbestimmungen, die das Publikum als solches adressieren: die Gewohnhei-
29 Forced Entertainment: Showtime. Performance text. Written by Tim Etchells and the company. Sheffield: Forced Entertainment 1996. S. 6 f.
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ten und Erwartungen der Zuschauer, ihre Gedanken und Wahrnehmungen. Aus der Litanei dieser Aussagen ragen jene heraus, die sich konkret auf die Situation des Theaters beziehen, auf die gemeinsame Anwesenheit von vielen Zuschauern miteinander und mit den Akteuren. Und dennoch verbleibt der Text, zumindest wenn die Inszenierung (wie bei Peymann) seiner eigenen Logik zu folgen versucht, im Rahmen des übergreifenden Sprachspiels der Anrede. Gerade durch die Art, wie er das Publikum zugleich anspricht und übergeht, anerkennt und missachtet, wird die Geste des offenen Kontakts und der Bezugnahme durchkreuzt, mit einer gegenläufigen Tendenz zur völligen Abschließung: Zu Beginn der Aufführung und am Ende sollen Tonbandeinspielungen eine ›normale‹ Theateratmosphäre vortäuschen: Bühnenarbeiter hinter dem Vorhang und später Beifallsgeräusche, bis das Publikum den Saal verlässt.30 Handkes Stück, das mit seinem Pathos des Theaterprotestes in den sechziger Jahren verankert und damit auch überholt schien, ist in der letzten Zeit mehrfach zurückgekehrt, ob freier bearbeitet in den Produktionen von Forced Entertainment oder bei der Passantenbeschimpfung der österreichischen Gruppe God’s Entertainment (Wien 2008, seither auf Tour in großstädtischen Fußgängerzonen), oder auch durch explizite Inszenierungen wie von Sebastian Hartmann (Schauspielhaus Hamburg 2004 / Schauspiel Leipzig 2008), und Laurent Chétouane (Theater am Neumarkt, Zürich 2010). Einerseits entspricht Handkes Text ganz den künstlerischen und politischen Tendenzen seiner Entstehungszeit. Wie Susan Sontag 1962, also bereits einige Jahre vor der Publikumsbeschimpfung mit Bezug auf das Happening feststellte, ging es damit vor allem um eine aggressive Behandlung des Publikums: »Das Ereignis scheint darauf angelegt, das Publikum zu ärgern und zu beschimpfen. […] Im Happening ist das Publikum der Sündenbock.«31 In dieser Perspektive erscheint Handkes Publikumsbeschimpfung wie ein früher Versuch, die Mittel der Performance Kunst (einschließlich Happening und Life Art) auf den Bühnen der (west-)deutschen Stadt- und Staatstheater einzusetzen. In der Form eines Theaterstücks soll
30 Peter Handke: Publikumsbeschimpfung [1966]. In: Ders.: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. 14. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. S. 5–48. S. 11 f., 48. 31 Susan Sontag: Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders. Übers. von Mark W. Rien. Frankfurt am Main: Fischer 1982. S. 310, 321.
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der aggressive Akt der Beschimpfung hier gerade dadurch seine Wirkung entfalten, dass er – anders als bei den Happenings in Galerien oder auf der Straße – mit einem distanzierten und stillgestellten Publikum rechnet, dass vielleicht sogar bis zum Ende zuhört. Indem das Publikum einbezogen ist in ein experimentelles Spiel, das die Versuchsanordnung zum Thema macht, wird es weniger zum Sündenbock als vielmehr zum Versuchsobjekt, das sich aber zugleich in die Rolle des Experimentators versetzen kann. Wie schon erwähnt, reflektieren Experimente im gegenwärtigen Theater die selbst gesetzten oder auch durch die Medien bewirkten Zwänge, denen Theaterzuschauer und Theatermacher ausgesetzt sind. Experimente im Theater sind daher nicht einfach auf die gängigen Formen des Tabubruchs, der Beschimpfung etc. zu reduzieren, sondern zumeist so angelegt, dass diese Verhaltensformen als Teil des Experiments transparent werden. Andererseits liegt im Verzicht auf spektakuläre Effekte der Überschreitung mitunter ein viel größeres Risiko, etwa im Versuch, Texte nicht mit Regieeinfällen zu interpretieren, sondern einfach sprechen zu lassen, mit der Schwierigkeit, dafür eine präzise Haltung, Atmung und Intonation zu finden. Bei einer Schauspiel-Aufführung des französischen Regisseurs Laurent Chétouane (Iphigenie auf Tauris, Münchner Kammerspiele 2005, mit Fabian Hinrichs in der Titelrolle), kam es zu der eigenartigen Situation, dass ein sichtbar kulturbeflissenes Publikum es als Tabubruch empfand, stundenlang Goethes Text zuhören zu müssen, weil die üblichen, vom Regietheater her gewohnten Einfälle und Erfindungen ausblieben. Was im Theater als Experiment zu bezeichnen ist, ist jedenfalls auch bedingt durch das Publikum, seine Wahrnehmungsgewohnheiten und Erwartungen. Aktuell scheint Theater fast schon absorbiert zu sein von einer Kultur des Spektakels, der permanenten Feste und Events, die alle durch Elemente theatraler Inszenierung und Performance geprägt sind. Guy Debord erkannte darin das Moment einer Betäubung und illusionären Befriedigung, mit der die ökonomischen und politischen Verhältnisse der Konsumgesellschaft verdeckt werden. Auch das Theater vermarktet sich als Event in einer Medienkultur, die zur Norm von Öffentlichkeit geworden ist. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass gerade die Reflexion veränderter Produktionsstrukturen viele Theatermacher eher wieder wegführt von der Behauptung des spektakulären Ereignisses. Sie suchen vielmehr die Möglichkeit einer Unterbrechung des Erlebnisstromes, einer Störung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten und einer neuen Aufteilung von Gegenständen der
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sinnlichen Erfahrung zu erreichen, worin ja – mit Jacques Rancière – ein Potential des Politischen gesehen werden kann.32 Grundlegend für diese Perspektive ist die Beobachtung, dass wir im Theater immer auch Zeugen sind, die für das, was sie sehen, ein Stück weit Verantwortung tragen. So bleibt die Arbeit an Experimenten dem Theater weiterhin aufgegeben, auch als Herausforderung der ›Zuschaukunst‹ – zwischen Voyeurismus, Teilnahme und Zeugenschaft. Diese Aufspaltung verschiedener Funktionen im Zuschauer wird durch den Verzicht auf die konventionellen Muster des Experiments bewusst, mit dem spezifischen Diskurs einer Inszenierung. Neuere Theaterformen arbeiten verstärkt mit Instruktionen und Versuchsanordnungen, die den Experimentcharakter der Aufführung deutlich unterstreichen. Dabei entstehen mitunter ironische Kommentare zu dem rigorosen Pathos, mit dem die Performance-Kunst der 1960er Jahre die schwierigsten und auch gewalttätigsten Experimente veranstaltet hat, um das Publikum zu schockieren. Cuqui Jerez’ Arbeit The Real Fiction (2005) führt ihre eigene Krise herbei, indem sie mit einer Kette von Fehlern experimentiert. Die Zuschauer wurden darauf nur durch einen rätselhaften Text im Programmheft vorbereitet: Dieses Projekt ist eine Recherche über die Wahrschmiere von Bontinics und Oregomatics. Das interessanteste Werkzeug, das wir frügebracht haben ist Kulifi. […] Die Transformation (Verwandlung) des Zipon im Raum ist bebaucht von der Vorstellungskraft der Zuschauer und dann zurück zum wahren Sisero; und über allem die Frotipey der Überraschung.33
So war das erste Experiment eine Krise des Sinns, ein Angriff auf die didaktischen Konventionen solcher Programmnotizen. Die Aufführung selbst beginnt in einem weißen Raum, in dem zwei junge Frauen diverse Objekte arrangieren, kleine Geräte an- oder ausschalten, und dabei den ganzen Vorgang filmen. Plötzlich entdecken sie, dass die Videokamera nicht funktioniert hat. Sie rufen nach einem Techniker, schließlich kommt Cuqui Jerez selbst auf die Bühne und kündigt an, dass die Aufführung von vorne beginnen soll, was jedoch bedeutet, dass alle Gegenstände auf der Bühne neu arrangiert werden müssen. Der zweite und dritte Versuch scheitern aber eben-
32 Vgl. Jacques Rancière: Die Ästhetik als Politik. In: Ders.: Das Unbehagen in der Ästhetik. Übers. von Richard Steurer. Wien: Passagen 2007. S. 29–56. 33 Cuqui Jerez: The Real Fiction. Programmheft Euroszene Leipzig, 2008.
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falls, da sich fortan viele Fehler in den Ablauf einschleichen und schließlich zu einem völligen Desaster führen. Die Wände fallen um, die Kleider der Akteurinnen sind zerfetzt. Eine von ihnen hat backstage einen Unfall und kommt mit einer stark blutenden Wunde zurück. Cuqui Jerez versucht zu helfen, wird aber von einer Rückwand des Bühnenaufbaus begraben. Abb. 2: Das Experiment spielt mit dem eigenen Scheitern
Cuqui Jerez: The Real Fiction (2005). Foto: DVD, Cuqui Jerez©.
Ein weiterer Neustart wird von Zuschauern unterbrochen, die mit der Regisseurin streiten, da sie ihnen zu verstehen gibt, dass ihr Auftritt noch nicht an der Reihe oder gar gestrichen sei, so dass sie, die nun als Statisten kenntlich sind, ihren Job verloren hätten. Plötzlich kommt jemand ›vom Haus‹ auf die Bühne und verlangt, dass die Aufführung enden soll, da einige Zuschauer noch Karten für eine andere Aufführung hätten, die sonst nicht mehr erreicht werden könne. Cuqui Jerez beschwert sich, und als Ergebnis der Diskussion stimmt sie zu, eine verkürzte Fassung der fünften Wiederholung vorzuführen, da sonst niemand den Abend verstehen könne. Noch der Applaus dieser in jeder Hinsicht experimentellen Aufführung wird zum Gegenstand einer Korrektur, indem Jerez ihn unterbricht, mit den anderen abgeht, um erneut hervorzukommen und dann erst das Ende zuzulassen. Insgesamt ist kaum mehr zu bestimmen, ob die Fehler echt oder gespielt waren. So kann die Selbstreflexion von Theater als Experiment mitunter zu
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einer Art mise en abyme führen. Indem sich das Wiederholen und Korrigieren vermeintlicher Fehler verselbständigt, ist das Publikum schließlich gezwungen, über den Status des Experiments selbst zu entscheiden.
T ESTLEISTUNGEN IM M EDIENTHEATER Die Transformation der Bühne in ein Labor, der Aufführung in ein Experiment, und des Publikums in ein Versuchsobjekt (das mitunter auch zum Experimentator werden kann), ist aber keineswegs bloß als ästhetisches Spiel anzusehen. Vielmehr bringt diese Tendenz eine generelle Entwicklung zum Ausdruck, die das Theater im Zeitalter der Medien durchläuft. Wie schon Benjamin reflektiert hat, wird aus der Kunstleistung des Theaterschauspielers im Übergang zur Funktion des Filmdarstellers etwas strukturell anderes: eine ›Testleistung‹ vor der Apparatur und vor einem Team von Experten im Studio. Wie ein Schauspieler erscheint, entzieht sich damit weitgehend seiner Kontrolle, indem es bei der Aufnahme nicht mehr um Verläufe und Entwicklungen geht, sondern nur noch um einzelne Momente: »Bei der Filmaufnahme kann kein Darsteller beanspruchen, den Zusammenhang, in dem seine eigene Leistung steht, zu überblicken.«34 Mit dieser Perspektive, die sich im Zeitalter digitaler Bildbearbeitung zugespitzt hat, sollen im Folgenden einige Aufführungen erwähnt werden, die exemplarisch die Bedeutung der Testleistung im Medientheater verdeutlichen. Dass sich die Praxis des Schauspielens und auch der Probenarbeit im Kontext von Film- und Medienproduktionen verändert hat, reflektiert im deutschsprachigen Raum vor allem die Arbeit des Autors und Regisseurs René Pollesch. Dabei gibt er seinen Schauspielern gerade in der Vorführung von Entfremdungsprozessen in ihrem Metier eher noch größeren Spielraum als sonst im Theater oder gar bei Fernseh- oder Filmproduktionen. Seine Texte entwickeln sich oft erst während der Proben. So haben die Schauspieler einigen Einfluss auf ihren Part, was natürlich auch einen anderen Umgang mit den Rollen bewirkt, einen kollektiven Prozess, der mit der Premiere nicht abgeschlossen ist. Die Reaktionen der Zuschauer wirken ebenfalls noch auf Polleschs Texte und Inszenierungen ein, als Test, wel-
34 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (›Erste Fassung‹). S. 453.
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cher Satz auf welche Weise funktioniert und welcher nicht. In den Texten selbst wird häufig das Schauspielen thematisiert und – mit einiger Ironie – seine Entwicklung beklagt, die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts zunehmend an den Arbeitsweisen des Films orientiert hat, zur bloßen Testleistung vor Apparaten geworden ist. So ist das Thema vieler Stücke von Pollesch, dass Schauspieler heute vor der Kamera kaum mehr Rollen spielen im Sinne einer umfassenden Verwandlung, sondern vielmehr ihre personality trainieren, die jederzeit bereit sein soll, effektvoll alle Klischees des Unterhaltungsmarktes zu bedienen. In Liebe ist kälter als das Kapital (2007) ging es explizit um Schauspielen als Testleistung im alltäglichen Training des kapitalistischen Lebens. Die Stuttgarter Inszenierung arbeitete mit John Cassavetes’ Film OPENING NIGHT (USA 1977), worin die Krisen einer alkoholabhängigen Schauspielerin bis zur Premiere eines neuen Theaterstückes als Spektakel vermarktet werden. Cassavetes’ Gratwanderung zwischen Bühne und Film wurde von Pollesch ins Theater zurückgeholt, besonders die Szene, wo sich die Schauspielerin bei den Proben nicht ohrfeigen lassen will. Diese Szene wird durchgespielt, bis jeder jeden geohrfeigt hat und jeder einmal in der Rolle der hysterischen Schauspielerin zusammengebrochen ist. So wurde der im Film hochdramatische Vorgang in ein szenisches Experiment überführt, das durch die Mechanik der Wiederholung eine eigene Komik freisetzte. Der Raum von Janina Audick war so angelegt, dass die Darsteller beim Abgehen durch die Türen auf ein Filmset gelangten, ohne Rückzugsmöglichkeit. Immer wieder scheitern die Akteure an dieser Versuchsanordnung und beschweren sich: »Hier hinter der Bühne wurde doch nicht immer schon gefilmt. Das war doch mal Tradition, dass man von der Bühne abgeht und dann war man in der Wirklichkeit!«35 Wie zur Parodie auf das Prinzip der task-based performance ist der Kampf gegen das Videofilmtheater eine gelungene Komödie. Geht es doch mit der Klage über die neue Technik weniger um den Verlust von Authentizität als um den komischen Effekt der Fehler, die sich in der vergeblichen Sorge um die Wirkung des eigenen Spiels einstellen: In Liebe ist kälter als das Kapital sind das die missglückten Auftritte, das Herein-Stolpern in den Drehort oder das wiederholte
35 René Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews. Hrsg. von Corinna Brocher u. Aenne Quiñones. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009. S. 175.
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Scheitern der Ohrfeigen-Szene. Der Alptraum der Schauspieler, die nicht mehr ungefilmt proben können, ist zugleich die Kehrseite einer Theaterästhetik, die den Anspruch auf abgeschlossene Produkte unterläuft. Abb. 3: Überall wird gedreht
René Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital (Staatstheater Stuttgart, 2007). Darsteller: Florian von Manteuffel, Christian Brey, Bijan Zamani, Katja Bürkle. Foto: David Graeter©.
Eine Versuchsanordnung für die Erprobung von Testleistungen zeigte auch Polleschs Aufführung Cappuccetto Rosso (2005). Hier gilt das Experiment, wiederum an Benjamins Kunstwerk-Aufsatz erinnernd, dem Verlust der Aura in der Konfrontation mit der Kamera. Sophie Rois entfaltet virtuos eine Rolle, die nur noch aus Versatzstücken besteht: Die Schauspielerin Maria Tura, die 1942 in Polen bei den Dreharbeiten zu dem (fiktiven) Film DIE NAZI-SCHICKSE ihren Zauber verloren haben soll, erscheint als Gespenst aus einem ganz anderen Film. Pollesch benutzt erneut ein komisches Geflecht aus Filmfiguren und -situationen, um die Selbstreflexion des theatralen Apparats und des Schauspielens voranzutreiben – inspiriert vor allem von Ernst Lubitschs Film TO BE OR NOT TO BE (USA 1942). Darin ist Maria Tura eine Schauspielerin in einem Warschauer Theater, die ihren Zauber einzusetzen weiß, um einen Fliegerleutnant zu betören und einen NaziSpion loszuwerden, der den polnischen Widerstandskampf gefährdet. Je mehr Sophie Rois über den Verlust ihres Zaubers klagt, den ihr Caroline Peters aus dem Max-Reinhardt-Seminar und Christine Groß in Nazi-
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Uniform nur bestätigen können, desto mehr gewinnt ihr Spiel an Virtuosität: »Aber eben war es doch noch da, dieses gewisse Etwas!«, ruft sie hysterisch, während die Zuschauer sie auf der Leinwand nur noch unscharf sehen können. Jedes Mal wenn sie ihren Monolog über die puritanischen Hemmungen beginnt, wiederholt sich der Effekt: Der Zauber ist weg. Ähnlich wie der Film Benjamin zufolge den Verlust der Aura durch Übersteigerung der Persönlichkeit kompensiert, zeigt auch Polleschs Inszenierung die phantasmagorische Rettung des Zaubers, eingebettet in einen Diskurs über erfolgreiche Nazi-Filme – beispielsweise der von Bernd Eichinger produzierte UNTERGANG (D/Russland 2004, Regie Oliver Hirschbiegel) und Heinrich Breloers TV-Doku-Drama SPEER UND ER (D 2005). Auch die Bühne von Cappuccetto Rosso ist ein Filmset, auf dem alle Darsteller/innen immer zugleich als Film-, Theater- und Videoschauspieler agieren. Verdoppelt ist nicht zuletzt die Position des Regisseurs, indem Volker Spengler auf der Bühne einerseits als Regisseur fungiert, der seine drei Schauspielerinnen herumkommandiert, andererseits als Wunderheiler Sophie Rois wieder zu ihrer Aura verhelfen will. Mithilfe der Videotechnik gelingt auch dieser Trick, indem ihr Kopf auf der Leinwand (wieder) einen Sternchenkranz hat. Die Restitution der (Billig-)Aura, die vorher mit großem Aufwand für verloren erklärt werden musste, ist ein weiterer Schritt im Experiment dieser Aufführung, das letztlich den Zuschauern gilt. Diese werden nicht nur durch das Spiel mit dem verlorenen Zauber getestet, sondern auch durch Szenen, die ihre eigenen Illusionen ansprechen – schließlich fordert Sophie Rois alle auf, das Theater zu verlassen und Jura zu studieren. Pollesch setzt sein Publikum immer wieder solchen experimentellen Situationen aus, die aber nie ganz ernst gemeint sind, sondern – mit hohem Unterhaltungswert – die Rahmenverhältnisse des Theaters thematisieren.
E XPERIMENTE IM ÖFFENTLICHEN R AUM Exemplarisch für Experimente mit der (Inter-)Medialität des Theaters auch in der Erkundung der äußeren Wirklichkeit sind die Arbeiten der seit 1994 bestehenden deutsch-englischen Theatergruppe Gob Squad. Ihre Produktion The Great Outdoors (2001) begann auf einer Bühne: Die Akteure kamen aus einem Zelt heraus und bereiteten sich auf eine Expedition durch die Stadt vor. Einer nach dem anderen verließen sie das Theater, von da an mit
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den Zuschauern nur noch über Mobiltelefone und Kameras in Kontakt. Das Publikum blieb schließlich allein zurück. Noch weiter ging die Produktion Super Night Shot (2003), bei der die Idee des öffentlichen Raumes ebenso in Frage gestellt wurde wie die Möglichkeit, durch eine PerformanceAktion die Realität der Städte zu verändern. Der Abend begann damit, dass die Zuschauer die von einem Trip durch die Stadt zurückkehrenden Akteure begrüßen sollten. Dann wurde der Film vorgeführt, der zuvor in der jeweiligen Stadt aufgenommen worden war, wo man die Performer bei dem Versuch sehen kann, die Welt zu retten oder wenigstens irgendeinem Passanten etwas Gutes zu tun. Dass in Super Night Shot jeder der vier Akteure seine eigene Kamera mit sich trägt, die ständigen Count-downs und insgesamt die Anlage des Abends, bei dem der Kontakt zu den Akteuren bloß in einem inszenierten Jubel besteht, all das verweist darauf, dass auch ortsspezifische Produktionen immer wieder an Experimenten mit der medialen Konstruktion von Wirklichkeit arbeiten. Abb. 4: Mediale Versuchsanordnung im öffentlichen Raum
Gob Squad: Super Night Shot (2003). Foto-Montage: Gob Squad©.
In Gob Squads Produktion Saving the world (2003) sah man die Gruppe beispielsweise in Hamburg, Mannheim oder Berlin einen Tag lang damit beschäftigt, vor dem Panoramablick von sieben Kameras das alltägliche Leben der jeweiligen Stadt zu erklären und zu dokumentieren. Das Experiment ging hier von der Aufgabe aus, dieses Leben wenigstens mit der Kamera für die Zukunft zu retten. Die Zukunft, das sind in diesem Fall die Zu-
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schauer im Theater. Diese sehen auf sieben im Halbkreis angeordneten Leinwänden jeweils einen Zusammenschnitt des Lebens ihrer Stadt. Plötzlich stehen auf den Sitzreihen hinter ihnen die Akteure von Gob Squad auf und beginnen, sich mit ihren Abbildern aus der Vergangenheit zu streiten, dass sie ein falsches Bild der Wirklichkeit vorführen, den Zuschauern die Wahrheit vorenthalten etc. So spielen die Theater- und PerformanceExperimente von Gob Squad mit dem Verhältnis von ›live-Abwesenheit‹ und ›mediatisierter Gegenwart‹. Anstatt eine echte Realität des Theaters gegen den technischen Apparat auszuspielen, zeigen sie Wechselbeziehungen zwischen beiden. Unsere Wahrnehmungsweisen haben sich längst soweit verändert, dass gerade das Theater den Verlust der Aura des Lebendigen und all die Illusionsstrategien reflektieren muss, die diesen Verlust kompensieren. Darin liegt der Ausgangspunkt für viele Experimente aktueller Theaterformen: In einer Welt, in der einerseits – wie Gilles Deleuze es formuliert hat – Marketing der neue Name für soziale Kontrolle geworden ist36 und andererseits Wirklichkeit als Medieneffekt erscheint, ist auch der Ort des Theaters nicht mehr selbstverständlich, sondern auf experimentelle Sondierungen angewiesen. Die Installation intermedialer Versuchsanordnungen sowohl in Bühnenhäusern als auch im öffentlichen Raum ist schließlich eines der Elemente, die auch die Produktionen der Gruppe Rimini Protokoll in den letzten Jahrzehnten geprägt und international bekannt gemacht haben. Dazu kommen die Arbeit mit nicht professionellen Akteuren als Experten des Alltags und eine gründliche Recherche, als Voraussetzung einer Vielzahl dokumentarischer Experimente. Rimini Protokoll experimentiert immer wieder mit der Überlagerung von verschiedenen Wirklichkeiten, die sich im Kopf der Teilnehmer verbinden können: Bei System Kirchner (2000) laufen die Zuschauer einzeln mit Kopfhörern und Walkman ausgestattet durch die Stadt und bewegen sich mithilfe ihrer eigenen Imagination zugleich durch ein Theater im Kopf. Bei Sonde Hannover (2002) verfolgen sie mit Ferngläsern ausgerüstet aus einer Vogel-Perspektive von der Dachetage eines Kaufhauses das Treiben auf dem Marktplatz unter ihnen als großen Krimi. Bei Deutschland 2 (2002) hören und sehen sie einer Gruppe von Bonner Bür-
36 Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen. Übers. von Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 254–262. S. 260.
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gern dabei zu, wie diese eine gleichzeitig stattfindende Bundestagssitzung aus dem Berliner Reichstag nachsprechen. Bei Call Cutta (2005) lassen sie sich über das Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs durch eine Telefonverbindung aus einem Call Center im indischen Kolkata leiten. Bei Cargo Sofia (2006) erfahren sie in einem eigens umgebauten, halb transparenten LKW die Realität des Güterverkehrs direkt auf der Straße. Und bei 50 Aktenkilometer. Ein begehbares Stasi-Hörspiel (2011) können sie in Berlin Mitte wiederum einzeln, mit GPS-Mobiltelefonen durch eine Vielzahl von Funkwolken laufen, in denen (Ton-)Dokumente aus der StasiUnterlagen-Behörde zu empfangen und zu hören sind. Auf jeweils verschiedene Weise werden die Teilnehmer dieser Projekte selbst zu denjenigen, welche die Experimente ausführen und auch auswerten, für sich oder gemeinsam, jedenfalls in weitaus größerer Selbständigkeit als sie im Theater für gewöhnlich zu erfahren ist. Abb. 5: Soziale Skulptur auf dem Leipziger Augustusplatz
LIGNA: Radioballett (Leipzig, 2006). Foto: Nicolas Reichelt©.
Eine ähnliche Strategie verfolgt die vom freien Radio kommende Gruppe LIGNA, die vor allem durch ihr Radioballett bekannt wurde, das sie in mehreren Bahnhöfen oder auf großen städtischen Plätzen durchgeführt haben. In Anlehnung an Brecht trug diese Performance-Aktion auch den Titel einer ›Übung‹ – beispielsweise: Übungen im unnötigen Aufenthalt (Hamburg 2002) oder Übung im nichtbestimmungsgemäßen Verweilen (Leipzig 2003). Diese Übungen, die weder bloß politische Agitation noch bloß
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künstlerisches Ereignis sein wollen, verändern die Atmosphäre ihres jeweiligen Ortes: Hunderte von Teilnehmern spielen mit, indem sie Anweisungen für Gesten über kleine tragbare Radioempfänger hören und ausführen. Dabei geht es jedoch – im Unterschied zur Ästhetisierung von Massenchoreografien bei Werbe- oder Propagandaveranstaltungen – nicht um ein genau kontrolliertes Erscheinungsbild, sondern eher um ein beiläufiges Geschehen, das sich oft kaum vom sonstigen Betrieb an den jeweiligen Orten abhebt. So gelingt es LIGNA, die Verhaltenskonditionierung im öffentlichen Raum spielerisch erfahrbar zu machen. Durch minimale Veränderungen werden aus erlaubten Bewegungen solche, die gemäß der Hausordnung (etwa in Bahnhöfen) verboten sind, wenn sich etwa die Geste des Grüßens in die des Bettelns verwandelt. Im Übergang zu Formen der Intervention, wie sie bereits in den 1950er Jahren Guy Debord als Prinzip einer situationistischen Praxis entworfen hat, können auch die Produktionen von LIGNA als Experiment erscheinen, das die Selbständigkeit der Teilnehmer ebenso auf die Probe stellt wie die Handlungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum. Dabei weitet sich das Experiment zugleich auf die Passanten oder umstehenden Betrachter aus, deren Verhalten ebenfalls sichtbar werden kann, auch wenn es dafür keine zentrale Perspektive gibt, in der das Geschehen insgesamt zu überblicken wäre. Die von Debord vorgeschlagene Schaffung von Situationen verbindet sich bei LIGNA denn auch nicht so sehr mit strategischen Interessen, wie sie dem Aktionismus konkreter politischer Initiativen entsprechen. Wenn die von den Radiosendern bewirkte kollektive Zerstreuung der Teilnehmer mitunter auch das Versammlungsverbot in bestimmten, bereits privatisierten Zonen des öffentlichen Lebens unterläuft, sind diese Veranstaltungen doch keineswegs auf eine demonstrative Besetzung ausgerichtet. Vielmehr geht es um das Experiment mit kollektiven Verhaltensweisen, die durch kleine Abweichungen von den sonst wirksamen Normen diese überhaupt erst bewusst machen. Auch in diesem Fall handelt es sich um Experimente, die eine Erweiterung des Theaterbegriffs und seine Anwendung auf verschiedenste Formen von performativen Ereignissen und Situationen nahelegen. Mit diesen wird das alltägliche Leben ähnlich wie bei Rimini Protokoll als eine Inszenierung erfahrbar, die sich mehr oder weniger gewohnheitsmäßig abspielt und keiner spezifischen Regie mehr bedarf. Wie schon bei den Experimenten im Theaterraum geht es bei solchen Interventionen um eine Sondierung und
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Reflexion von Wahrnehmungsverhältnissen, die auf spielerische Weise erfahrbar gemacht werden. Damit wird häufig auch das Experiment als solches thematisiert und experimentell auf die Probe gestellt. Insgesamt kann gesagt werden, dass aktuelle Formen von Theater und Performance innerhalb oder außerhalb der Bühnenhäuser dazu tendieren, die Zuschauer und deren verschiedene Funktionen und Positionen zum Thema zu machen, und zwar nicht selten mit offenem Ausgang, welcher dem Publikum überantwortet wird. So geht die zunehmende Selbstreflexivität des theatralen Experiments mit einer Bewusstmachung des Rahmens einher, an dem sich das Verhalten von Zuschauern im öffentlichen Raum ebenso wie im Theater orientiert, den sie aber immer auch selbst beeinflussen und verändern können.
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Kalkulierte Spielräume Experimente im universitären Theaterlabor
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ABSTRACT: Aus der produktionsorientierten Sicht einer Praktischen Theaterwissenschaft und am Beispiel aus der universitären Theaterpraxis wird anschaulich gemacht und diskutiert, welche besonderen Spielräume das Medium Theater als künstlerisches Experimentierfeld eröffnet. Das Kalkül theatralen Experimentierens kann grundsätzlich auf alle am Proben- oder Aufführungsprozess beteiligten Parameter bezogen sein – auf künstlerische, organisatorische oder personelle: auf die Einrichtung des Bühnenraums bzw. das Verhältnis zwischen Zuschauern und Akteuren, auf die dramaturgische Konstitution eines Textes oder Themas, vor allem aber auch auf die Interaktion innerhalb eines Produktions- oder Darstellerkollektivs.
Experimente in den Künsten – der Titel dieser Publikation bezieht seinen Reiz aus der Konfrontation zweier Begriffs- oder Gegenstandsfelder: dem Experiment als naturwissenschaftlichem Erkenntnisinstrument auf der einen Seite, künstlerischen Praktiken und Disziplinen auf der anderen Seite. Das so markierte Spannungsverhältnis wird in der folgenden Untersuchung genutzt, um spezifische Bedingungen und Möglichkeiten theatralen Experimentierens zu profilieren. Damit reiht sich dieser Ansatz ein in aktuelle Entwicklungstendenzen einer innovativen Theaterwissenschaft, die sich verstärkt theatralen Herstellungsverfahren und -prozessen zuwendet.
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In einem kursorischen Überblick wird zunächst die historische Entstehung der Theaterprobe skizziert und gezeigt, wie sich ein heutiger Begriff von experimentellem Theater im ästhetischen Diskurs seit 1800 allmählich herausgebildet hat (1). In einem zweiten Schritt wird anhand eines konkreten Beispiels aus der universitären Theaterpraxis dargestellt, welche besonderen Spielräume das Medium Theater als künstlerisches Experimentierfeld heute eröffnet (2), um daraus schließlich drei Konzepte theatralen Experimentierens abzuleiten (3).
W ISSENSCHAFTLICHES E XPERIMENTIEREN VERSUS T HEATER PROBIEREN Zunächst ist zu konstatieren, dass der Bedeutungsraum des ›Experiment‹Begriffs mit dem der ›Probe‹ verwandt ist. Beide Begriffe bezeichnen Handlungsstrategien des Versuchs, bei denen es im weitesten Sinne darum geht, empirische Erfahrung oder Wissen zu generieren – es geht also darum, an bisher erworbenes Wissen anzuknüpfen, es zu bestätigen oder neues Wissen zu schaffen. In ihrer Habilitationsschrift Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe (2008) fasst Annemarie Matzke diesen Umstand folgendermaßen zusammen: »Die theatrale Praxis des Probens bewegt sich im Spannungsfeld von Wiederholung und forschendem Suchen im Unbekannten.«1 Darüber hinaus existiert eine weitere Parallele: So wie der Wissenserwerb in industriellen Labors unter größter Geheimhaltung stattfindet, so ist auch die Probe im professionellen Theater eine wohlbehütete »Spielwiese«,2 ein Erfahrungsraum, aus dem meist nur wenig nach außen dringt. So wie erfolgreiche Wissenschaftler von abenteuerlichen Entdeckungen oder legendären Forschungsreisen erzählen, so neigen auch Theaterpraktiker da-
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Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Unveröffentl. Habilitationsschrift. Freie Universität Berlin 2008. S. 15. Vgl. Peter Zadek: My way. Eine Autobiographie 1926–1969. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000. S. 84.
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zu, ihr künstlerisches Tun in anekdotenhaften Probenberichten nachträglich zu verklären.3 Trotz solcher vermeintlicher Gemeinsamkeiten muss – wie Matzke herausstellt – »der Vergleich der Theaterprobe mit dem Begriff des Experiments in den Naturwissenschaften kritisch hinterfragt werden.«4 Dies gilt vor allem dann, wenn man das wissenschaftliche Experiment im engeren Sinne als ein Erkenntnisinstrument auffasst, das unter kontrollierten Bedingungen in Ursache-Wirkungsketten abläuft und dabei in erster Linie der Sicherung und Verallgemeinerung von Wissen dient. Doch selbst wenn man berücksichtigt, dass eine Erkenntnis auch in den Naturwissenschaften nur so lange Gültigkeit beanspruchen kann, bis sie einer neuerlichen, anders gearteten Überprüfung nicht mehr standhält, lässt sich wissenschaftliches Streben nach intersubjektiv nachprüfbarer Erkenntnis mit den experimentellen Verfahren innerhalb von Theaterproben auf den ersten Blick kaum vereinbaren. Denn der besondere Reiz theatraler Suchbewegungen liegt nicht in einem objektivierbaren Zweck, sondern in ihrem spielerischironischen Eigensinn oder ihrer Mehrdeutigkeit. Und gerade weil Probenarbeit nur selten nach verallgemeinerbaren Standards abläuft, bekommt man es auch bei ihrer wissenschaftlichen Beobachtung und Untersuchung mit besonderen methodischen Schwierigkeiten zu tun. Denn alles, was sich über die Probe sagen lässt, gilt »nur für dieses Stück in diesem Raum mit diesen Schauspielern«, ist also je spezifisch.5 Experimentelles Theater – zum Assoziationsraum des Begriffs Im Diskurs der Theaterpraktiker wird theatrales und wissenschaftliches Tun dennoch gerne zumindest metaphorisch in Einklang gebracht – etwa wenn von Theater als »Laboratorium der sozialen Phantasie«6 oder als »Ver-
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Vgl. Ole Hruschka: Theater von innen. Die Probe im publizistischen Diksurs. In: Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater. Hrsg. von Melanie Hinz u. Jens Roselt. Berlin: Alexander. S. 224–259. Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. S. 203. John von Düffel: Probenprozesse und Sonderwege – Sieben Theatermacher der Gegenwart. In: Wie Theater entsteht. Theaterszene-Jahrbuch Köln. Hrsg. von John von Düffel u. Detlef Langer. Köln: Dietrich 2002. S. 6–10. S. 9. Heiner Müller: Theater-Arbeit. Berlin: Rotbuch 1975. S. 126.
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suchsanstalt«7 die Rede ist. Solche gängigen Redeweisen sind das Ergebnis einer historisch noch relativ jungen Entwicklung, die sich an drei Stationen festmachen lässt: Erstens: Erst in der epochalen Umbruchsituation um 1800, innerhalb der »Transformationen von Arbeit, Theater und dem gesellschaftlichen Status der Kunst« – so Annemarie Matzke –, hat sich die Probe als Arbeitsform im heutigen Sinne herausgebildet.8 Am Beispiel von Goethes Weimarer Hoftheater zeigt sie, wie sich zu dieser Zeit jene »Vorstellung des Theaters als etwas zu Erarbeitendem entwickelt«, die sich schließlich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzt: Während Ende des 18. Jahrhunderts die Erarbeitung eines Stückes sich oft auf drei Proben beschränkte, etablieren sich spätestens Anfang des 20. Jahrhundert Arbeitsformen, die eine Probenzeit von mehreren Monaten erfordern. 9
Ein heutiges Verständnis der Probe als versuchsweise Erkundung szenischer Vorgänge ist eng mit der gesellschaftlichen Funktion des Theaters verknüpft, das im 18. und frühen 19. Jahrhundert – wie Rainer Ruppert es formuliert – als »Labor der Seele und der Emotionen« institutionalisiert wird.10 Ruppert zufolge wird Theater in diesem Zeitraum nicht nur Leitmedium, sondern auch »Produktionsinstanz der bürgerlichen Innenwelt« – denn: Im Theater drückt sich das Wissen um Emotionalität, Subjektivität und Individualität, das neu entstandene ›psychologische Menschenbild‹, nicht nur aus, sondern das Medium steuert zu den ›Verinnerlichungsprozessen‹ des 18. Jahrhunderts spezifisches Wissen, spezifische Modelle und spezifische Erfahrungsmöglichkeiten bei11
– und zwar in erheblichem Maß und mit weitreichender, öffentlicher Wirksamkeit.
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Interview mit Claus Peymann. In: Drin sein oder nicht sein. Theater und Fußball – ungleiche Geschwister? (D 1998). Regie: Jo Schmidt. ZDF/3sat, Ausstrahlung vom 1. Juni 2006. 8 Matzke: Arbeit am Theater. S. 19. 9 Matzke: Arbeit am Theater. S. 17 f. 10 Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin: Sigma 1995. 11 Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. S. 90.
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Zweitens: Als spezifische Form der Wissensgenerierung entwickelt sich die Probe in Wechselwirkung und parallel zu der dynamisierten, neuzeitlichen Wissensproduktion in anderen künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen. Diese Dynamik wird im Zuge der sogenannten ›Entliterarisierung‹ bzw. der ›Retheatralisierung‹ des Theaters durch die historischen Avantgarden an der Schwelle zum 20. Jahrhundert radikalisiert und beschleunigt. Mit der Emanzipation vom Dramentext beginnt die Erforschung neuer Theaterarchitekturen, neuer Zuschauer/Spieler-Konstellationen, geht die ›Wieder-Entdeckung‹ des Theaters als Fest, als Ritual und vor allem als Medium der politischen Auseinandersetzung einher.12 Erst mit diesem – wie Hans-Thies Lehman es formuliert – »Eintritt des Theaters in das Zeitalter des Experimentierens«13 werden im frühen 20. Jahrhundert die Begriffe des Laboratoriums, des Experiments oder der Versuchsanordnung auch im Zusammenhang mit der Theaterkunst geläufig und diskursmächtig. Genau diese Begriffe bezeichnen und befördern in der ästhetischen Moderne jene Innovationsschübe und Emanzipationsbewegungen, die das bislang Gewohnte und Bekannte erneuern oder überschreiten. Außerdem sind sie zum Teil Ausdruck einer noch ungebrochen optimistischen Sicht der Theaterkünstler auf den technischen Fortschritt und die Errungenschaften der Wissenschaft.14 Drittens: Eine kaum zu überschätzende Folgewirkung für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters entfalten Bertolt Brechts Überlegungen zum epischen Theater.15 In seinen theaterprogrammatischen Schriften erhebt er wiederholt die Forderung nach einem »Theater des wissenschaftli-
12 Vgl. Sandra Umathum: Avantgarde. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch u. Mattthias Warstat. Stuttgart: Metzler 2005. S. 26–29. 13 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. S. 81. 14 Vsevolod Meyerhold etwa hat herausgestellt: »Die Kunst muß auf wissenschaftlicher Grundlage basieren, das gesamte Schaffen des Künstlers muß ein bewußter Prozeß sein. Die Kunst des Schauspielers besteht in der Organisation seines Materials, d. h. in der Fähigkeit, die Ausdrucksmittel seines Körpers richtig auszunützen.« (Vsevolod Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik [1922]. In: Ders.: Theaterarbeit 1917–1930. Hrsg. von Rosemarie Tietze. München: Hanser 1974. S. 72–76. S. 73) 15 Zu Brechts epischem Theater vgl. auch den Aufsatz von Florian Vaßen in diesem Band.
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chen Zeitalters«.16 Bereits die Formulierung macht deutlich, dass die Differenz und die Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Theaterkunst für Brechts Theaterverständnis von zentraler Bedeutung ist.17 Im skandinavischen Exil unterzieht er die theaterästhetischen Neuerungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer kritischen Evaluation und fordert »objektive, außerindividuelle Kriterien«18 für jenes Theater, das er nach dem Zweiten Weltkrieg zu realisieren gedenkt. Dabei übernimmt er zum einen für die von ihm propagierte neue Technik der Schauspielkunst aus dem Bereich der Wissenschaft die »Technik des Irritiertseins gegenüber landläufigen ›selbstverständlichen‹, niemals angezweifelten Vorgängen«19; zum anderen soll auch dem Zuschauer »eine untersuchende, kritische Haltung«20 gegenüber den auf der Bühne gestalteten Figuren und Vorgängen ermöglicht werden. Brechts Überlegungen zum epischen Theater orientieren sich nicht zuletzt an einer soziologischen Perspektive, die es – wie Walter Benjamin in Versuche über Brecht (1955) herausgestellt hat – gestattet, »die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln«.21 Der vielleicht folgenreichste Aspekt der Brecht’schen Programmatik besteht Benjamin zufolge darin, den jeweiligen experimentellen Ansatz im Umgang mit gesellschaftlichen und theatralen Vorgängen auf der Bühne selbst transparent zu machen:
16 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater [entstanden 1948]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 16: Schriften zum Theater 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 661–700. S. 662. 17 Frank-M. Raddatz: Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Berlin: Henschel 2007. S. 79. 18 Bertolt Brecht: Notizen über eine Gesellschaft für induktives Theater [entstanden 1937]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15: Schriften zum Theater 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 305–309. 306. 19 Bertolt Brecht: Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15: Schriften zum Theater 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 341– 349. S. 347. 20 Brecht: Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst. S. 341. 21 Walter Benjamin: Versuche über Brecht [entstanden 1931–1938]. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. S. 20.
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Brecht nimmt den Charakter des Experimentellen ins Gebilde selbst hinein, das gar nichts anderes als der Vollzug des experimentellen Prozesses ist. Im Grunde gibt es bei Brecht keine künstlerischen Resultate, keine Werke im tradierten Sinn mehr, die von den Verfahren, welche zu ihnen führen, sich trennen ließen.22
In Anlehnung an Brecht kann von experimentellem Theater gesprochen werden, wenn das Theater seine medienspezifischen Bedingungen als soziale Kunstform und damit seine besonderen ästhetischen ›Gesetzmäßigkeiten‹ zeigt und reflektiert, wenn es seine medialen Möglichkeiten und Grenzen erprobt und innovativ zu erweitern sucht – kurz: wenn es ein »von genuin künstlerischen Motiven bewegtes« Theater ist und Wege beschreitet, die »nicht anders als in der Wissenschaft über Fehlschläge, Irrtümer, Abwege«23 führen können. Folglich ist Theater allerdings nicht a priori als experimentell zu bezeichnen, denn nicht jede Trial-and-Error-Methode ist auch ein Experiment. Voraussetzung für künstlerisches Experimentieren ist vielmehr eine reflexive Distanz, ein geschärftes Bewusstsein der Beteiligten für das gemeinsame, künstlerische Tun und dessen Wirkung: Experimentierfreudige Theaterschaffende sind – so könnte man mit Dirk Baecker formulieren – Beobachter zweiter Ordnung, die »mit den Wahrnehmungen, den Vorurteilen, dem allzu gesunden Menschenverstand der Betrachter zu spielen« wissen – und dies auch ihr Publikum »genießen« lassen.24
D IE › STUDENTISCHE A RBEITSFLÄCHE ‹ ALS E XPERIMENTIERRAUM Die im Folgenden beschriebenen Ergebnisse einer theaterpraktischen Übung aus dem Studiengang ›Darstellendes Spiel‹ sind unter dem Titel Lost in Illyria im Sommersemester 2009 erarbeitet und im Rahmen der Ringvorlesung »Experimente in den Künsten« erneut aufgeführt worden. Die szenischen Versuche zu William Shakespeares Komödie Was ihr wollt (engl.: Twelfth Night or What You Will; Entstehung um 1601/Erstpublikation 1623) sind vor allem von dem Ort geprägt, an dem sie auf dem Campus der Leibniz Universität Hannover stattgefunden haben.
22 Benjamin: Versuche über Brecht. S. 190. 23 Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 34. 24 Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos 2001. S. 52.
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Abb. 1: Kellerraum der Leibniz Universität Hannover
Studentischer Arbeitsraum, in dem Lost in Illyria (2009) inszeniert worden ist.
Es handelt sich dabei nicht um einen Theaterraum, sondern um das Untergeschoss des früheren Verwaltungsgebäudes der Continental-Werke in Hannover, das 1953 erbaut wurde und zunächst als Heizungskeller diente. Betritt man diesen Raum bei Tage, fällt zunächst die Inneneinrichtung ins Auge: Gelbe Tischquader samt Bestuhlung verweisen, zusammen mit dem Kaffeeautomaten in der Ecke, auf seine aktuelle soziale Funktion als ›studentische Arbeitsfläche‹. So wie man den Raum bei seiner alltäglichen Nutzung vorfindet, erscheint er bereits als ein hybrider ›Un-Ort‹, der offenkundig eine Umwidmung oder gar ›Um-Inszenierung‹ erfahren hat. Die Werkstattaufführung, von der im Folgenden die Rede sein soll, ist nun nicht in dem Sinne ortsspezifisch, dass sie explizit von diesem Raum oder seiner Geschichte dominiert würde; thematisch wird sie vielmehr von Shakespeares Stück bestimmt. Dennoch nimmt unsere Inszenierung die beschriebene, studentische Arbeitsfläche zum Ausgangspunkt und bezieht sie in die Aufführung ein.
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Abb. 2: Kellerraum, der als Theaterraum genutzt wird
Szenenfoto: Raum während einer Aufführung von Lost in Illyria (2009).
Nachdem das Publikum an den Tischen der studentischen Arbeitsfläche Platz genommen hat, betreten zehn ›Theater-Studierende‹ den Raum, verteilen sich auf ihren (markierten) Stühlen unter den Zuschauern – und vertiefen sich in die Lektüre ihrer Shakespeare-Texte. Nun wird durch eines der hohen Kellerfenster ein clownesk gekleideter Darsteller als Shakespeare’scher Narr erkennbar, der vergnügt pfeifend den Schauplatz betritt und mit seinem Gitarrenspiel den Auftakt für die nun folgende Darstellung gibt. Die Musik ist es, die einen der Spieler schließlich motiviert, seine Lektüre zu unterbrechen, sich zu erheben und die ersten Verse aus dem berühmten Monolog des Orsino in der Übersetzung Schlegels zu sprechen – erst vorsichtig tastend, dann zunehmend selbstbewusst: »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter …«.25
25 William Shakespeare: Was Ihr wollt. Komödie. Übers. von August Wilhelm Schlegel [1797]. Hrsg. von Dietrich Klose. Stuttgart: Reclam 1970. S. 4.
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Abb. 3: Kellerraum, der als Theaterraum genutzt wird
Szenenfoto: Shakespeares Narr erobert theaterfremdes Terrain.
Gezeigt und reflektiert wird somit die theatrale ›Eroberung‹ unbekannten Terrains – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Dies gilt zunächst im Wortsinn, weil an der Leibniz Universität Hannover (damals) noch kein Ort für den praktischen Theaterunterricht zur Verfügung stand. Die Entscheidung, einen theaterfremden Ort für Motive aus einem Shakespeare-Stück zu wählen, ist vor allem aber eine produktionsästhetische und hochschuldidaktische Herausforderung, die zu produktiver Theaterarbeit anregt: Ausgerechnet in einem ehemaligen Heizungskeller, ausgerechnet an einem solchen ›liebesfernen‹ Ort erforschen Studierende Figuren und Motive aus der
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höfischen Welt einer Shakespeare-Komödie, die »die verschiedensten Spielarten von Liebe« zum Thema hat.26 Und gerade aus diesem Kontrast, so die Ausgangsthese des Projekts, ergibt sich im gelungenen Fall eine wirkungsvolle, innovative Publikumsdramaturgie: Der zunächst theaterfremde Ort verwandelt sich in einen »intimen Interaktionsraum«, der die »Wahrnehmung und das Erleben einer körperlichen Gegenwart der Interaktionspartner steigert« und dabei die »gewohnte Asymmetrie« zwischen den Spielerinnen und ihrem Publikum »sowohl auflösen, als auch verschärfen« kann. Theatrales Handeln wirkt hier – und zwar durchaus im Sinne Brechts – »befremdlicher«27 als auf der herkömmlichen Guckkastenbühne. Denn man kann sagen: Die gewohnte soziale Wirklichkeit des Campus-Lebens wird hier szenisch reflektiert und in ihrer Konstruiertheit bewusst gemacht. Unter diesen Vorzeichen kann unser Probenort mit guten Gründen als »Labor- und Experimentierraum« bezeichnet werden. Schließlich ist es – im Sinne Hajo Kurzenbergers – ein bewusst erdachter und gesetzter Raum, der durch das […] künstlerische und theoretische Problem, durch die […] Darstellungsaufgabe und ihre Reflexion eingerichtet wird28.
Experimentieren mit dramaturgischen Versatzstücken Im Rahmen der theaterpraktischen Übung ging es nicht darum, das Stück linear oder gar vollständig in seiner Chronologie – etwa mit den Mitteln des psychologischen Theaters – zu erzählen, sondern um eine eher assoziative Auseinandersetzung mit dem Stück, insbesondere mit dem Handlungsstrang der »romantischen Komödie«, der Dreieckskonstellation um Orsino, Viola und Olivia. Dabei konzentrierte sich das Interesse auf das Spiel mit Identitäten und geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen. Eine zweite, wesentliche Ausgangsthese des Projekts bestand darin, dass adäquate Verfahren der Vergegenwärtigung eines ›Klassikers‹ wie
26 Balz Engler: Twelfth Night, or What You Will. In: Interpretationen. Shakespeares Dramen. Stuttgart: Reclam 2000. S. 273–287. S. 286. 27 Geesche Wartemann: Interaktionsraum Kindertheater. In: Szenische Orte, mediale Räume. Hrsg. von David Roesner, Geesche Wartemann u. Volker Wortmann. Hildesheim: Olms 2005. S. 89–107. S. 104. 28 Hajo Kurzenberger: Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie. In: Ders.: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität. Bielefeld: Transcript 2009. S. 203–227. S. 209.
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Shakespeare nicht (mehr) allein aus dem dramatischen Text ›hervorgehen‹. Eine zeitgemäße Lesart setzt unter anderem die Kenntnis aktueller Inszenierungsbeispiele voraus und sollte sich außerdem selbstverständlich damit auseinandersetzen, wie die jeweils verhandelten Themen- und Motivkomplexe in den Medien der populären Kultur oder in der bildenden Kunst behandelt werden.29 Besonders anregend für unsere dramaturgischen Überlegungen war Michael Thalheimers Was-ihr-wollt-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin aus dem Jahr 2008, die von einem ›Besetzungstrick‹ geprägt ist: Sämtliche Rollen werden von Männern gespielt. Dies ist mehr als eine intelligente Anspielung auf die elisabethanische Theaterpraxis, in der Frauen bekanntlich nicht die Bühne betreten durften und Frauen-Rollen daher von jungen Männern gespielt wurden. Thalheimers Besetzungspraxis bezieht seine theatrale Wirksamkeit daraus, dass sie den – wiederum seit dem 17. Jahrhundert konventionalisierten – Umgang mit seither als Hosen-Rollen bezeichneten Frauen-Figuren (Rosalind, Viola) durchbricht und so ein innovatives und verstörendes Spiel mit Geschlechterdarstellungen ermöglicht.30 Während Thalheimers Inszenierung mit entsprechenden Zuschreibungen spielt, indem er sie ›herbeizitiert‹ und ironisch unterläuft, wird Shakespeares Stoff in der für uns als Ergänzung interessanten Verfilmung SHE’S 31 THE MAN (CDN/USA 2006) dem gängigen Raster einer ›Teenie-Komödie‹ unterworfen. Anders als bei Thalheimer, der einen melancholischen Blick auf die uneingelöst bleibenden Verheißungen der Liebe wirft, liefert Shakespeares Text dem Film den Stoff für eine turbulente pubertäre Selbstfindung mit absehbarem Happy End. Bemerkenswert dabei ist, wie präzise und gewitzt Shakespeares Stück zu diesem Zweck aktualisiert wird, das heißt, in welcher Weise die Haupt- und Nebenfiguren und die verschiedenen Erzählebenen im Rahmen der Hollywood-Dramaturgie an Bedeutung gewinnen oder verlieren. Shakespeares Illyrien wird zum Beispiel an einer
29 Vgl. Ole Hruschka: Hildesheim verhandelt mit Shakespeare. Die Freisetzung theatraler Energie im Projektsemester. In: Ders.: Shakespeare revisited. Theatrale Verfahren der Vergegenwärtigung eines ›Klassikers‹. Hildesheim: Olms 2009. S. 129–141. S. 130. 30 Vgl. Elke Schuch: „I exceed my sex“. Inszenierungen von Geschlecht in Shakespeares Dramen: Text und Aufführung. Trier: WVT 2003. 31 She’s the man (CDN/USA 2006). Regie: Andy Fickman. Laufzeit: 105 min.
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amerikanischen High School angesiedelt, an einem Schauplatz also, der zumindest entfernt an eine studentische Arbeitsfläche erinnert. Abb. 4: Spiel mit Geschlechterrollen
Szenenfoto: Viola, von drei Spielerinnen dargestellt, verliebt sich in Orsino.
Sowohl die konzeptionelle Leitlinie der Thalheimer-Inszenierung als auch Textpassagen der filmischen Adaption werden in unserer Szenenfolge als Reminiszenzen aufgegriffen. Mit beiden Lesarten haben wir bei unserer Version der ersten Begegnung zwischen Olivia und Viola insofern experimentiert, als wir Versatzstücke aus beiden Vorbildern aufgegriffen, miteinander kombiniert und bei den Proben zu unserer szenischen Versuchsanordnung überprüften haben. Kollektiver Spielsinn: Rollendarstellung im Selbstversuch Nach dem geschilderten Umgang mit räumlichen Voraussetzungen und dramaturgischen Vorbildern gerät mit der Spielweise nun ein drittes, für unser Projekt besonders charakteristisches Experimentierfeld in den Blick. Im Laufe des Semesters war eine Auswahl an szenischen Lösungen zu Shakespeare-Szenen erarbeitet und diskutiert worden. Für den ersten Durchlauf etwa zwei Wochen vor der hochschulöffentlichen Präsentation
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stellte die Spielleitung eine Aufgabe, die in erster Linie dazu beitragen sollte, dass die Ebene der szenischen Improvisation möglichst selten verlassen wird. Die Spielerinnen und Spieler wurden gebeten, alle notwendigen ›privaten‹ Rückfragen zu Verabredungen untereinander und jede auftretende Proben-Konfusion als Teil des gemeinsamen Spiels zu begreifen, dabei ein gewisses energetisches Niveau möglichst nicht zu unterschreiten – also immer weiter zu spielen, nie auszusteigen. Die Probe sollte möglichst durchgehend eine Aufführungssituation simulieren, deren paradoxes Motto in etwa lautet »Wir probieren heute in diesem Raum Shakespeare – und alles, was uns daran hindern könnte, gehört dazu!«32 Eine das Probengeschehen zufälligerweise beobachtende Zuschauerin war über den Status des Erlebten zunächst verunsichert, hat die Spielregel aber allmählich durchschaut. Zwar war in ihren Augen häufig nicht eindeutig auszumachen, was zum fertigen, szenischen Produkt, was zum ›Theater auf dem Theater‹ und was zur realen Probensituation gehörte. Gerade dieser Umstand erschien ihr allerdings nicht als Schwäche, sondern als spezifische Stärke einer theatralen Darstellung, bei der Ungewissheiten und gewollt-ungewollte Umwege nicht kaschiert, sondern offensiv integriert wurden. Angefeuert von diesem Erfolg setzten wir uns daraufhin zum Ziel, die Voraussetzungen unseres experimentellen Umgangs mit Shakespeare in dieser Weise auch in der späteren Aufführungssituation zu thematisieren, sie also ebenso vor dem Publikum spielerisch und im Kollektiv ›live‹ zu verhandeln. Die Absicht, sich an der Grenze zwischen Proben- und Aufführungssituation zu bewegen, erwies sich jedoch als ein Balanceakt: Wie, so fragten wir uns, könnten wir unsere Auseinandersetzung mit Shakespeare im Hier und Jetzt der Aufführung offen legen, ohne die Spiel-im-SpielEbene der Gefahr auszusetzen, wie eine bloße Notlösung zu wirken oder – schlimmer noch – wie »eine vorherige Entschuldigung für eventuell zu erwartende Mängel«?33
32 Vgl. Ole Hruschka: Shakespeare probieren. Dramaturgie und Didaktik im Theater mit Jugendlichen. In: Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. Hrsg. von Wolfgang Schneider. Bielefeld: Transcript 2009. S. 195–203. 33 Leopold Klepacki: Die Ästhetik des Schultheaters. Pädagogische, theatrale und schulische Dimensionen einer eigenen Kunstform. Weinheim München: Juventa 2007. S. 152.
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Einen wichtigen Impuls erfuhren unsere Überlegungen zu dieser Frage durch The Rehearsel, eine Performance des spanischen Theaterkollektivs um die Regisseurin Cuqui Jerez,34 die am 14. und 15. Juni bei den Theaterformen 2009 in Hannover zu sehen war. The Rehearsel spielt mit der Demonstration einer ›realen‹ Probensituation, entpuppt sich stellenweise aber als hochgradig artifizielle bis genau kalkulierte Choreografie. Eine wiederkehrende Pointe besteht darin, dass im Verlauf der 90-minütigen Aufführung immer neue und andere Spielerinnen den Status einer ›Regisseurin beanspruchen, indem sie – zum Beispiel durch einen unerwarteten Auftritt aus dem Zuschauerraum – die Deutungshoheit über das Geschehen gewinnen. The Rehearsel liefert als performatives Theater über Theater eine vergnügliche Reflexion auf grundlegende Schwierigkeiten kollektiver Produktionsformen, bei denen sich zwangsläufig jemand dazu aufschwingen muss, das gerade Erlebte zu beschreiben und zu bewerten. Bei der nächsten Probe zu unserer Was-ihr-wollt-Szenenfolge einigten wir uns auf folgende Spielregeln, die auch für die späteren Aufführungen gelten sollten: – Der Ablauf, der ansonsten auf den Proben relativ detailliert geplant und verabredet wurde, kann während der Aufführung durch die Spielerinnen und Spieler auf unerwartete Weise unterbrochen werden – ohne dass die anderen vorher wissen, wann und wie dies geschieht. Ausnahme: Eine der Unterbrechungen sollte unbedingt von dem Narren ausgehen, der das Geschehen als kommentierende Figur ohnehin kontrolliert und lenkt. – Die Unterbrechungen bestehen aus positiv formulierten Spielanweisungen oder Anregungen. Sie sollen die anderen Mitspieler – wie dies normalerweise aus der Position eines Regisseurs geschieht – zu einer Variation ihrer Szene unter neuen Vorzeichen auffordern. – Damit die Aufführung nicht an Stringenz verliert, sollten nicht mehr als drei solcher überraschender Interventionen stattfinden.
34 Zu The Rehearsel vgl. auch den Aufsatz von Patrick Primavesi in diesem Band.
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Ziel dieser Verabredungen war es, unter den am Theaterprozess Beteiligten »eine intendierte Ungewissheit«35 über den Ablauf und die Wirkung der szenischen Versuchsanordnung zu stiften. Dieses Verfahren sollte zum einen die soziale Aufmerksamkeit unter den Darstellern und ihre Präsenz in der Bühnensituation steigern. Der kollektive Selbstversuch forderte zum anderen die Kreativität der Zuschauer heraus. Wenn der Darsteller, der ansonsten den Orsino verkörperte, vor der zweiten Begegnung mit Viola auf den Kaffeeautomaten zusteuerte, sich dafür von den Zuschauern einen Euro lieh – dann konnte man meinen, er handele hier als Schauspieler, als Student, der sich in einer studentischen Arbeitsfläche während der Probenpause eine Erfrischung gönnt; man konnte diesen Moment aber auch so interpretieren, dass Orsino über die bevorstehende Begegnung und seine unerfüllte Liebe zu Olivia sinniert. Erst im flüchtigen Erlebnis des Aufführungsprozess und durch die kreative Leistung des Publikums entstand hier – wie Jens Roselt formuliert hat – eine »fragile Figur, die weder das eine (ein Schauspieler) noch nur das andere (eine Rolle) ist.«36 Eine solche Spielvereinbarung stellt nicht-professionelle ebenso wie professionelle Darsteller vor besondere Probleme. Die Vereinbarung muss auf einer guten Absicherung aufbauen, auf einer Vorarbeit, bei der die Spielerinnen und Spieler lernen, sich in einem flexiblen theatralen Ordnungsgefüge zu bewegen. Es bedarf mit den Worten Thomas Alkemeyers und anderer einer durch praktische Mitgliedschaft erworbenen Vertrautheit mit den […] materiellen und symbolischen Bedingungen des Geschehens sowie einer in Fleisch und Blut übergegangenen Aufmerksamkeit für alle körperlichen und sprachlichen Äußerungen der Mit- und Gegenspieler.37
Verkörpertes Erfahrungswissen und ein gut trainierter kollektiver Spielsinn bilden in Lost in Illyria die Basis für ein experimentelles Selbstverständnis
35 Dieses Zitat findet sich in der Einleitung von Stefanie Kreuzer zu diesem Band auf Seite 7. 36 Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters. München: Fink 2008. S. 228. 37 Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle u. Thomas Pille: Zur Emergenz von Ordnungen in sozialen Praktiken. In: Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Hrsg. von Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle u. Thomas Pille. Bielefeld: Transcript 2009. S. 7–19. S. 9.
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der Akteure, die – wie Erika Fischer-Lichte es beschreibt – »als Versuchsleiter eine spezifische Situation herstellen, der sie sich selbst und andere aussetzen.«38
T HEATRALES E XPERIMENTIEREN – DREI K ONZEPTE Vor dem Hintergrund des geschilderten Shakespeare-Projekts wird evident, dass die Produktivität theatraler Experimente von zwei Seiten gefährdet ist: Sie endet einerseits dort, wo ein Zuviel an Kontrolle herrscht, wo beispielsweise in der szenischen Wiederholung keinerlei Abweichung mehr erlaubt ist, keine Spielräume für Variationen oder Einfälle entstehen; bedroht ist das experimentelle Potential zum anderen aber auch dann, wenn das Spiel zu selbstbezüglich im anarchischen Chaos versinkt und in Vergessenheit gerät, welchem Thema oder Stoff, welcher Darstellungsaufgabe das Bühnengeschehen letztlich gerecht werden muss. Innerhalb einer experimentellen Theaterpraxis, die ihren Namen verdient, sind diese beiden Möglichkeiten des Scheiterns immer inbegriffen. Typologisch lassen sich drei verschiedene Strategien und Verfahren theatralen Experimentierens unterscheiden, wenngleich diese in der Theaterpraxis rasch aufeinander folgen, sich durchkreuzen oder zusammenwirken können. Im Folgenden sind sie stufenweise so gegliedert, dass sie sich zunehmend von dem eingangs beschriebenen naturwissenschaftlichen Experiment-Begriff entfernen. 1.) Als Formen des akribischen Experimentierens sind zunächst jene Probenmethoden zu bezeichnen, die in erster Linie an der ›handwerklichen‹ Absicherung eines szenischen Ablaufs interessiert sind.39 Denn so wie naturwissenschaftliche Experimente auf die Bestätigung einer These zielen, die in weiteren Versuchsreihen überprüft werden kann, so können auch Theaterproben an der Perfektionierung eines szenischen Vorgangs arbeiten, indem sie eine einmal verabredete Richtung in oft mühseligen Versuchen der Wiederholung und der Variation konkretisieren und präzisieren.40 Sol-
38 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. S. 285. 39 Vgl. Ole Hruschka: Magie und Handwerk. Reden von Theaterpraktikern über die Schauspielkunst. Hildesheim: Olms 2005. S. 167–175. 40 Vgl. Matzke: Arbeit am Theater. S. 203.
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ches Experimentieren erinnert in seiner Wiederholungsstruktur an rituelle Praktiken oder ähnelt als Disziplinierungsstrategie einem fast exerzitienhaften »Modus des Übens«.41 2.) Auf der nächsten Stufe sind Verfahren des konzeptionellen Experimentierens angesiedelt, die weniger auf eine »Prüfung« als »auf die Hervorbringung von Wissen« zielen und insofern eher an einem »Akt der Überschreitung«42 des bisher Gewussten und Erfahrenen interessiert sind: zum Beispiel, wenn innerhalb eines Probensettings zwar vorläufige Vereinbarungen über die Textvorlage, das Bühnenbild und die Besetzung gelten, es jedoch bewusst offen bleibt, ob und inwiefern diese Vorentscheidungen durch neue szenische Erfindungen verändert werden. Eine solche konzeptionelle Öffnung des Probenprozesses verweist darauf, dass »Wiederholung und Neufindung, Reproduktion und Zerstörung […] zu den metaphysischen Triebfedern des Theatermachens [gehören]«.43 3.) Als Phasen des magischen Experimentierens schließlich kann man jene Momente von Proben oder Aufführungen beschreiben, in denen das zuletzt beschriebene Risiko noch radikalisiert wird: Wenn Darsteller oder Performer zum Beispiel in Bezug auf eine Improvisation davon sprechen, sich dem Geschehen spielerisch zu überlassen oder für sie die »Intuition« oder ein »Gespür« besonders wichtig sind, um zu einer adäquaten szenischen Umsetzung zu gelangen – dann ist damit eine Dimension ihrer Handlungen gemeint, die im Wissenschaftsdiskurs nicht nur häufig ausgeblendet, sondern mitunter gar »als irrational diskriminiert«44 wird. Das Irritierende eines solchen Umgangs mit praktischem (Körper-)Wissen besteht darin, dass die daraus hervorgehenden Ergebnisse womöglich nicht mehr »auf Vorüberlegungen rückführbar«45 sind. Die Akteure setzen sich bewusst einer zunächst unüberschaubar komplexen Situation aus; die inhärente Bedeutung des neu Entstandenen wird erst nachträglich beschrieben und ge-
41 Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. S. 369. 42 Matzke: Arbeit am Theater. S. 203 43 Kurzenberger: Der kollektive Prozess des Theaters. S. 34. 44 Alkemeyer u. a.: Zur Emergenz von Ordnungen in sozialen Praktiken. S. 15. 45 Jens Roselt: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Schauspielkunst und Wissenschaft. In: Dynamiken des Wissens. Hrsg. von Klaus W. Hempfer u. Anita Traninger. Freiburg im Breisgau: Rombach 2007. S. 143–160. S. 146.
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deutet. Auch ein solcher, bewusster Prozess des Sich-Einlassens – mit anschließender reflektierender Rückschau – ist ein theatrales Experiment.
L ITERATURVERZEICHNIS Alkemeyer, Thomas; Kristina Brümmer; Rea Kodalle u. Thomas Pille: Zur Emergenz von Ordnungen in sozialen Praktiken. In: Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Hrsg. von Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle u. Thomas Pille. Bielefeld: Transcript 2009. S. 7–19. Baecker, Dirk: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos 2001. Engler, Balz: Twelfth Night, or What You Will. In: Interpretationen. Shakespeares Dramen. Stuttgart: Reclam 2000. S. 273–287. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht [entstanden 1931–1938]. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater [entstanden 1948]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 16: Schriften zum Theater 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 661–700. –––: Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15: Schriften zum Theater 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 341–349. –––: Notizen über eine Gesellschaft für induktives Theater [entstanden 1937]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15: Schriften zum Theater 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 305–309. Düffel, John von: Probenprozesse und Sonderwege – Sieben Theatermacher der Gegenwart. In: Wie Theater entsteht. Theaterszene-Jahrbuch Köln. Hrsg. von John von Düffel u. Detlef Langer. Köln: Dietrich 2002. S. 6–10. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Hruschka, Ole: Hildesheim verhandelt mit Shakespeare. Die Freisetzung theatraler Energie im Projektsemester. In: Ders.: Shakespeare revisited. Theatrale Verfahren der Vergegenwärtigung eines ›Klassikers‹. Hildesheim: Olms 2009. S. 129– 141. –––: Magie und Handwerk. Reden von Theaterpraktikern über die Schauspielkunst. Hildesheim: Olms 2005. S. 167–175. –––: Shakespeare probieren. Dramaturgie und Didaktik im Theater mit Jugendlichen. In: Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. Hrsg. von Wolfgang Schneider. Bielefeld: Transcript 2009. S. 195–203.
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B ILDNACHWEIS Aufführungsfotos: Andreas Hartmann – © 2009.
III. Experimente im Film
Walter Benjamins Begriff des ›OptischUnbewussten‹ und die Experimente mit der filmischen Zeitdehnung A NDREAS B ECKER
ABSTRACT: Walter Benjamins Begriff des ›Optisch-Unbewussten‹, wie er im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in Bezug zum filmischen Verfahren der Zeitdehnung benutzt wird, ist in seiner Bedeutungsdimension prognostisch angelegt. Während das zeitgenössische Kino der 1930er Jahre die Zeitlupe nur in wenigen Fällen benutzt, findet diese in den letzten Jahrzehnten vielfach Verwendung. Der Beitrag nimmt die verschiedenen ästhetischen Ausdrucksformen zum Anlass, den Begriff des Optisch-Unbewussten durch konkrete Analysen in seiner Vielschichtigkeit zu verorten. Benjamins Text kommentierend werden Filmexperimente mit der Zeitdehnung von Michelangelo Antonioni, Gus Van Sant, Joe Jones und Ridley Scott untersucht.
D IE C HRONOFOTOGRAFIE UND DIE ERSTEN E XPERIMENTE MIT DER NEUEN Z EITDARSTELLUNG Die Erfindung der Bewegungsaufzeichnung durch Chronofotografen wie Eadweard Muybridge war neben der technischen Neuerung vor allem ein
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großangelegtes ästhetisches Experiment.1 Zum ersten Mal war nicht mehr der physisch anwesende Zuschauer in der Position eines Richters, sondern der abwesende Beobachter, der sich die Vorgänge mit Hilfe der technischen Apparatur nachträglich erschloss. Dieser fingierte, sich aus der ›Physiognomie‹ der technischen Anordnung ergebende Beobachter ist in einer zwiespältigen Position. Um das laufende Bild verstehen zu können, verzichtet er auf seine Souveränität als Wahrnehmender. Nicht die Welt, die sich ihm impressional zeigt, ist die maßgebende, sondern erst das mediale Bild eröffnet ihm, was eigentlich passiert ist. Die Alltagswelt erfährt eine Erschütterung, weil es technisch konstruierte Blicke gibt, die nicht ignoriert werden können, die aber gleichzeitig auch nicht ohne Brüche in die vertraute Weltsicht integrierbar sind. Die zahlreichen Beobachtungstechniken – Mikroskop, Teleskop, die Röntgenfotografie2 – traten mit dem Anspruch auf, den Alltag zu rationalisieren. De facto machten sie aus diesem eine Terra incognita.
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Vgl. Eadweard Muybridge: Muybridges Complete Human and Animal Locomotion [1887]. Introduction by Anita Ventura Mozley. Vol. I–III. New York: Dover 1979. Man denke hier an Wilhelm Conrad Röntgens 1895 veröffentlichten Bericht der ersten Versuche mit ›X-Strahlen‹, die nur durch einen Floureszenzschirm sichtbar werden, für das Auge aber unsichtbar sind: »Papier ist sehr durchlässig: hinter einem eingebundenen Buch von ca. 1000 Seiten sah ich den Fluorescenzschirm noch deutlich leuchten; die Druckerschwärze bietet kein merkliches Hinderniss. Ebenso zeigte sich Fluorescenz hinter einem doppelten Whistspiel; eine einzelne Karte zwischen Apparat und Schirm gehalten macht sich dem Auge fast gar nicht bemerkbar. Dicke Holzblöcke sind noch durchlässig; zwei bis drei cm dicke Bretter aus Tannenholz absorbiren nur sehr wenig. – Eine ca. 15 mm dicke Aluminiumschicht schwächte die Wirkung recht beträchtlich, war aber nicht im Stande, die Fluorescenz ganz zum Verschwinden zu bringen. – Mehrere cm dicke Hartgummischeiben lassen noch Strahlen hindurch. – Glasplatten gleicher Dicke verhalten sich verschieden, je nachdem sie bleihaltig sind (Flintglas) oder nicht; erstere sind viel weniger durchlässig als letztere. – Hält man die Hand zwischen den Entladungsapparat und den Schirm, so sieht man die dunkleren Schatten der Handknochen in dem nur wenig dunklen Schattenbild der Hand.« (Wilhelm Conrad Röntgen: Über eine neue Art von Strahlen. In: Aus den Sitzungsberichten der Würzburger Physik.-medic. Gesellschaft. Würzburg 1895. S. 1–10. S. 1 f.) Man beachte die Dramatisierung Röntgens, auch seine Beispiele. Roger Corman hat diese Macht, alles Sehen zu können, in seinem Film X: THE MAN WITH THE X-RAY EYES (USA 1963; dt. DER MANN MIT DEN RÖNTGENAUGEN) dramaturgisch umgesetzt. Zur Geschichte der Strahlung siehe
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Diese optischen Verfahren eröffnen nicht nur ungesehene, ungewusste, noch nicht wahrgenommene Bereiche. Sie erschließen den Alltag neu, zwingen uns, ihn anders zu interpretieren, indem sie uns dieses A-Präsente zeigen. Sie verschieben die Relation zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem, zwischen An- und Abwesendem, ähnlich wie es schon die Psychoanalyse versuchte, wenn sie Fehlhandlungen und Versprechern ein unbewusstes Motiv unterstellte.3 Walter Benjamin beschreibt diese Zusammenhänge zunächst in der Kleinen Geschichte der Photographie von 1931 und dann in dem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1936 mit dem Begriff des »Optisch-Unbewußten«.4
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insbesondere Catherine Caufield: Das strahlende Zeitalter. Von der Entdeckung der Röntgenstrahlung bis Tschernobyl [amerik.: Multiple Exposures. Chronicles of the Radiation Age (1989)]. Übers. von Sebastian Scholz. München: Beck 1994. Siehe dazu insbesondere Sigmund Freuds Ausführungen in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse über Die Fehlleistungen: Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1915–1917]. Frankfurt am Main: Fischer 1995. S. 13–75. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders.: Aufsätze. Essays. Vorträge. Gesammelte Schriften. Bd. II.1 [1977]. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 368–385, insbes. S. 371; Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seines technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Bd. I.2 [1974]. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 431–469, S. 471–508; Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seines technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Nachträge. Gesammelte Schriften Bd. VII.1 [1989]. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 350–384. Zu diesem Aufsatz und seiner Entstehungsgeschichte siehe insbesondere Burkhardt Lindners Ausführungen im Benjamin-Handbuch, über die verschiedenen Fassungen heißt es dort: »Der Kunstwerk-Aufsatz liegt damit also in drei deutschen Druckfassungen vor: als Abdruck des ReinschriftManuskripts, das anders als die weiteren Fassungen noch keine Aufteilung zwischen Text und Fußnoten kennt (Erste Fassung I, S. 431–469), als die sehr viel später gefundene Zweite Fassung (VII, S. 350–384) und als Dritte Fassung (I, S. 471–508; hier noch als ›zweite Fassung‹ bezeichnet), die als Einzelpublikation in der edition Suhrkamp (1963) bis heute die gewissermaßen kanonische Version des Kunstwerkaufsatzes darstellt.« (Burkhardt Lindner: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: Benjamin-
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Benjamins Verfahren besteht darin, etwas zu benennen, bevor es beschrieben und argumentativ begründet ist. Mit Begriffen wie andere Natur, Kollektivtraum, Kollektivwahrnehmung, Impfung und Massenpsychose wird das Optisch-Unbewusste zusammen mit dem ›Triebhaft-Unbewussten der Psychoanalyse‹ in einen theoretischen Zusammenhang gestellt, der im Kunstwerk-Aufsatz keineswegs ausgearbeitet ist – und den Benjamin auch nicht ausformulieren wird. Benjamins Arbeiten sind der Gegenwart vorauseilende, medientheoretische Präfigurationen, in denen sich das theoretische Erkennen übersteigert und mit noch nicht festgelegten, aber auch noch unverbrauchten Termini in die Zukunft vortastet. Selbst die konkreteren Passagen des Kunstwerk-Aufsatzes sind keineswegs Beschreibungen zeitgenössischer Filme. Sie sind in wesentlichen Momenten prognostisch angelegt. In ihnen werden damals nur ansatzweise vorhandene Stile und selten benutzte Verfahren wie das der Zeitdehnung und Zeitraffung so herausgestellt, als seien sie für das Erzählkino der 1930er Jahre bereits konstitutiv.5 Der zeitliche Vorsprung des Kunstwerk-Aufsatzes war so groß, dass sich dieses nur skizzenhaft entwickelte Begriffsgeflecht erst in den letzten Jahrzehnten als brauchbar erwies, um das nun faktisch bestehende Erzählkino und den Experimentalfilm zu beschreiben. Im zeitlichen Abstand sind genügend Filme entstanden, die die Verfahren der Zeitdehnung und Zeitraffung in der von Benjamin angedeuteten Weise nutzen. Es sind Filme, welche die Zeitdehnung nicht als bloße Aufzeichnung von Vorgängen und Be-
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Handbuch. Hrsg. von Burkhardt Lindner. Stuttgart: Metzler 2006. S. 229–251. S. 230). Ich beziehe mich im Folgenden auf die Fassung in Bd. VII.1 der Gesammelten Schriften (GS). Auch einige Zeitgenossen Benjamins nutzten bereits die Zeitdehnung, und Benjamin dürfte diese Filme gekannt haben. In den überwiegenden Fällen werden allerdings Körperbewegungen verlangsamt und keine Objektbewegungen in gedehnter Zeit präsentiert. Beispiele hierfür sind: ENTR'ACTE (F 1924; Regie: René Clair); WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT – EIN FILM ÜBER MODERNE KÖRPERKULTUR (D 1925; Regie: Nicholas Kaufmann u. Wilhelm Prager); LA CHUTE DE LA MAISON USHER (F/USA 1928; Regie: Jean Epstein); LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (F 1928; Regie: Germaine Dulac); DER HEILIGE BERG (D 1926; Regie: Arnold Fanck); DER WEISSE RAUSCH. NEUE WUNDER DES SCHNEESCHUHS (D 1931; Regie: Arnold Fanck); TARIS, ROI DE L'EAU (F 1931; Regie: Jean Vigo). Bekannt dürften Benjamin auch Ernst Machs Fotografien gewesen sein, die – in Hochgeschwindigkeitsaufnahmen festgehalten – Projektile im Flug zeigten.
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wegungen einordnen, sondern – als Sinneserweiterung verstanden – die Welt neu erschließen. Diese Arbeiten halten dazu an, die Natur, die Wahrnehmung und die eigene Beobachterperspektive zu hinterfragen.6 Im Folgenden möchte ich einige Bedeutungsdimensionen des Begriffs des ›Optisch-Unbewussten‹ vorstellen. Ich konzentriere mich dabei auf die filmische Zeitdehnung. Als Verfahren, die Interpretation abzusichern, kann nur die behutsame Lektüre und die Verortung in Kontexte helfen. Ich beginne daher zunächst mit Benjamins Gedanken zum Unbewussten, beschreibe dann den Begriff des ›Optisch-Unbewussten‹7 und komme schließ-
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In Bezug auf den dokumentarischen Film siehe dazu Andreas Becker: Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung. Bielefeld: Transcript 2004. Für das Erzählkino habe ich einige Überlegungen angestellt in Andreas Becker: Zeitmaschine Film. Über die Ästhetik der perspektivierten Zeit. In: Schnitt. Das Filmmagazin 56 (2009). S. 10–14. In der Filmtheorie wurde die Nähe des Films zum Traum schon früh thematisch, so in Hugo von Hofmannsthals Text Der Ersatz für die Träume (1921). Auch Élie Faure schwärmt von den Möglichkeiten der Zeitlupe; der Zeitraffer biete »uns das äußere Bild der Auflösungsarbeit, die das Unterbewußtsein vornimmt« (Élie Faure: Mystik des Films [frz.: Introduction à la mystique du cinéma (1934)]. Übers. von Frieda Grafe. In: Filmkritik (1969) H. 5. S. 329–337. S. 335.). Bei Jean Epstein heißt es: »Als Domäne der Affekte ist das Unbewusste auch die bevorzugte Domäne der Rührung. Das heißt, es ist in gewissem Sinne die Domäne der Ästhetik. […] Der hohe ästhetische Stellenwert der Erinnerung, ein Wert, der uns unser aller persönliche Erfahrung und alle Literatur, ja, auch das heutige Kino, mit seinen Unschärfen und Rückblenden, hundertfach pro Tag demonstrieren, ist zum Teil auf Unbewusstes zurückzuführen, welches in jeder Erinnerung enthalten ist und durch diese aufgerufen wird.« (Jean Epstein: Das Unbewusste, Sitz der Persönlichkeit [frz.: Kap. »Le domaine affectif«. In: La Lyrosophie (1922)]. In: Ders.: Bonjour Cinéma und andere Schriften zum Kino. Übers. von Ralph Eue. Wien: Österr. Filmmuseum 2008. S. 37–42. S. 40.). Auch Jacques Rancière versteht Freuds Verfahren als eine Form ästhetischen Denkens, »ein Denken, dessen, was nicht denkt«, es heißt: »Anders gesagt, die ›Ästhetik‹ ist kein neuer Name, um den Bereich der ›Kunst‹ zu bezeichnen. Sie ist eine spezifische Konfiguration dieses Bereichs. Sie ist keine neue Rubrik, unter der sich einordnen ließe, was zuvor dem allgemeinen Begriff der Poetik unterstellt war. Sie kennzeichnet eine Transformation des Denkregimes der Kunst. Und dieses neue Regime ist der Ort, an dem sich eine spezifische Idee des Denkens herausbildet. Meine Hypothese lautet, daß das Freudsche Denken des Unbewußten nur auf der Grundlage dieses Denkregimes der Kunst und der Idee des Denkens, die ihm innewohnt, möglich ist.« (Jacques Rancière:
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lich wieder auf das ›Experiment‹ zu sprechen und auf das, was Benjamin als ›unbewusste List‹ bezeichnet. Durchzogen sind die folgenden Ausführungen von Filmbeispielen mitunter auch der jüngeren Filmgeschichte. Mir schien diese Kommentierung des Textes ein Weg, dem zeitlichen Vorsprung Benjamins zu entsprechen. Diese Beispiele sind keine Illustrationen von Benjamins Thesen, sondern eher retrospektiv gewandte, bildhafte Kommentare.
D IE W ACHENDEN HABEN IHRE W ELT GEMEINSAM Der Film habe, heißt es im Kunstwerk-Aufsatz, in »die alte heraklitische Wahrheit – die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine für sich – […] eine Bresche geschlagen« (GS VII.1, 377). Benjamin bezieht sich hier auf Heraklits 89. Fragment.8 Der griechische Denker stellt Wachen und Schlafen in eine dialektische Opposition zueinander. Deren Unterschied fasst er im Begriff der Welt (altgriechisch: kosmos) zusammen. Während die Wachenden in einer gemeinsam erfahrbaren, intersubjektiv geteilten Welt leben, bewegen sich die Schlafenden in einer idiosynkratischen Welt innerhalb der Welt, die nur für den Träumenden Geltung beansprucht.9 Benjamin nun stellt diesem Modell der Opposition
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Das ästhetische Unbewußte. In: Ders.: Das ästhetische Unbewußte [franz.: L’inconscient esthétique (2001)]. Übers. von Ronald Voullié. Zürich: Diaphanes. S. 7–12. S. 10.). Was Benjamins Annahmen jedoch von diesen Texten unterscheidet, ist der Versuch, das filmisch Präsentierte als eigene Form des Unbewussten zu fassen. Eben darum führt Benjamin den Begriff des Optischen ein, weil er hierin eine neuartige, apparative Zugangsweise zum Unbewussten erblickt, und diese eben nicht in einer allgemeinen Ästhetik, sei diese auch dialektisch gewendet, aufgehen sieht. Siehe hierzu: Die Fragmente der Vorsokratiker. Aus dem Griechischen übers. von Hermann Diels. Hrsg. von Walther Kranz. 14. Aufl. Zürich: Weidmann 1969. S. 171. Siehe hierzu insbesondere Hartmut Böhme: Vergangenheit und Zukunft im Traum. Traumhermeneutik bei Artemidor von Daldis und Ludwig Binswanger. In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008). S. 11–30. »Der Träumende erfährt sich nicht als Träumenden, sondern erst der Erwachte weiß, geträumt zu haben«, heißt es in Burkhardt Lindners Kommentar zu Benjamins Texten über Träume (Burkhardt Lindner: Walter Benjamin. Träume. Hrsg. von Burkhardt Lindner. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 147). Weitere Texte, auf die ich mich
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von Wachen und Schlafen eines der Konstellation entgegen. Spricht Benjamin von Träumen, so sind dies – zumindest in den späten Arbeiten – medial affizierte, kollektive Träume. »Das Leben«, heißt es im SurrealismusAufsatz, schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bilder[.]10
Und gleich im Anschluss an das Eingangszitat heißt es profan: In die alte heraklitische Wahrheit […] hat der Film eine Bresche geschlagen. Und zwar viel weniger mit Darstellungen der Traumwelt als mit der Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden Micky-Maus (GS VII.1, 377).
Der Film wird zum Konkurrenzprodukt für Träume. Was geträumt würde, zeigen diese Traum-Simulakren ganz plakativ bereits im Wachen. Durch solcherlei Surrogate der Phantasie wird die Grenze zwischen Traum und Wachen porös. »Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben«, werden technisch-medial gezeigt, wie es in Kleine Geschichte der Photographie heißt (GS II.1, 371). Sie sind oftmals intensiver und passgenauer als die individuellen Traumbilder. Was meint Benjamin nun, wenn er im Eingangszitat davon spricht, der Film habe in »die alte heraklitische Wahrheit« eine Bresche geschlagen?
beziehe, sind: Burkhardt Lindner: Das Optisch-Unbewußte. Zur medientheoretischen Analyse der Reproduzierbarkeit. In: Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Hrsg. von Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz u. Manfred Riepe. Bielefeld: Transcript 2001. S. 271–289. Vgl. auch Burkhardt Lindner: Versuch über Traumkitsch. Die blaue Blume im Land der Technik. In: Heinz Brüggemann: Walter Benjamin und die romantische Moderne. Hrsg. von Heinz Brüggemann und Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. S. 229–246. Zum Bezug auf Freud insbes. S. 242 f. 10 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz [1929]. In: Ders.: Aufsätze. Essays. Vorträge. Gesammelte Schriften. Bd. II.1 [1977]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 295–310. S. 296). Siehe dazu auch Gregor Schwering: Walter Benjamin und Walter Serner: Optisch-Unbewußtes und Schaulust. Zur Signatur eines Medienumbruchs. In: Sprache und Literatur (2004) H. 1. S. 14–24.
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Warum ruft er das Bild von vergangenen Eroberungstechniken auf, durch die Festungen und Burgen gestürmt wurden? Seit Jahrhunderten schon werden die fünf Sinne symbolisch als Festung vorgestellt und der Verstand mit dem im Innersten residierenden Fürsten verglichen. Erinnert sei an Schriften von Aristoteles, Gregor von Nyssa, Nikolaus von Kues oder an die Tradition der Seelenburg, beispielsweise in Teresa von Ávilas Castillo interior o tratado de las moradas (dt.: Wohnungen der Inneren Burg, 1577).11 Auch dieses allegorische Bild lässt sich als ein Hinweis auf die neuzeitliche Veränderung verstehen: Der Film ist ein ›Angreifer‹ auf dieses durch Kulturtechniken ›verschanzte‹ Ich. Eben dieses Bedeutungsfeld wird auch mit aufgerufen, wenn es etwas vorher im Text heißt: Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. (GS VII.1, 376)
Die zeitliche Sprengung des Alltags mit »dem Dynamit der Zehntelsekunden« ist lautlos und komfortabel. Dabei sehen wir Wahrnehmende diese Sprengung nicht von außen, sondern sind mittendrin, weil hier nicht äußere Objekte, sondern Anschauungsformen zerlegt und neu geordnet werden. Die zeitliche Deformation lässt uns das Gespür für die Bedingungen dieser Reise und deren Gefahr verlieren und so desorientiert wohnen wir diesen filmischen Raum gerne ein: Würden wir, so darf man sagen, gelassener, nach einem anderen Rhythmus leben, so gäbe es nichts »Bestehendes« für uns; sondern alles geschähe vor unsern Augen, alles stieße uns zu. So aber ist es eben im Traum (GS V.2, 1009),
heißt es in einem Fragment des Passagen-Werks (1982).12
11 Für Lektürehinweise siehe Hubertus Busches Kommentar zu Johann Gottfried Wilhelm Leibnizens Leib-Seele-Pentagon in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht. Hrsg., mit einer Einl. u. Anm. vers. sowie unter Mitw. von Hans Zimmermann. Aus dem Lateinischen übers. von Hubertus Busche. Hamburg: Meiner 2003 (= Philosophische Bibliothek 543). S. 383 f. 12 Heinz Brüggemann stellt diese Passage in den Kontext von Benjamins Theorie der Farbe, insbesondere der Funktion der Phantasie. Siehe dazu Heinz Brügge-
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Die Schlussequenz aus Michelangelo Antonionis ZABRISKIE POINT (USA 1970) macht sinnlich erfahrbar, was Benjamin hiermit gemeint haben könnte (vgl. 1:41,00–1:46,55 u. Abb. 1). Der Film spielt in Los Angeles in der Zeit der Protestbewegung der sechziger Jahre und bringt in der Liebesgeschichte zwischen Mark (Frechette) und Daria (Halprin) zugleich zwei Perspektiven auf diese Zeit zur Darstellung. Daria arbeitet als Sekretärin und träumt in der Schlusssequenz des Films davon, dass das Gebäude, in dem gerade eine Besprechung stattfindet, gesprengt werde. Dieser Tagtraum ist allerdings so intensiv und weist eine solche Detailliertheit auf, dass auch wir uns in ihm verlieren. Abb. 1: Explosion in Michelangelo Antonionis ZABRISKIE POINT
Zabriskie Point (USA 1970). Regie: Michelangelo Antonioni. Kamera: Alfio Contini, Earl McCoy (Special Effects).
mann: Von Linearität und Farbe, Zeichen und Mal zum Optisch-Unbewussten im Film. Walter Benjamin in diskursiven Konstellationen mit Gershom Scholem und Siegfried Kracauer. In: Benjamin-Studien 1. Hrsg. von Daniel Weidner u. Sigrid Weigel. München: Fink 2008. S. 27–48, insbes. S. 40 f. Brüggemann verdanke ich insbesondere auch den Hinweis auf Kracauer und dessen ›Marseiller Entwurf‹ zu einer Theorie des Films, in dem es heißt: »Der Film kann durch Tricks Zeiten, Räume, Bewegungen und Objekte transformieren, ineinander verwandeln und imaginieren. So sind ihm auch imaginierte Welten erschlossen und Überleitungen zwischen der realen Welt und der imaginierten. (Zeitlupe und Zeitraffer. Menschen wie Liliputaner …)« (Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Mit einem Anhang ›Marseiller Entwurf‹ zu einer Theorie des Films. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 569).
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Die Explosion, welche eigentlich der Einbruch des Zufälligen in den Alltag ist, wird als eine Art neu ordnende Kraft sichtbar, die Objekte aus ihrem Inneren heraus zerreißt und aus dem Ganzen das Ephemere erblühen lässt. Und eben diese Umformung verleiht den Aufnahmen eine Nähe zur Erscheinungsform der Träume. Sie gibt den flüchtigen Momenten der Zerstörung eine Dauer und lässt die Objekte wie partikularisierte Erinnerungsteilchen dahinschweben. Wir kontemplieren dadurch in Momente, die noch vor der Wahrnehmungsschwelle liegen. Durch die Zeitdehnung vollzieht sich eine metaphorische Wandlung. Konkret wird hier ein Haus gesprengt, im übertragenen Sinne jedoch die moderne Zivilisation. Die Veränderung der Zeitskala hebt den konkreten Bezug zu den Gegenständen auf, setzt uns aber in ein sinnliches Verhältnis zur Explosion. Die Zeitlupe lässt durch die Verlangsamung die Kriterien für das Gefährliche schwinden, so dass wir selbst einen solchen Moment genießen können. Es scheint als verleihe die Explosion erst den Gegenständen ihre Teilbewegungen, die unendlich filigran wirken. Antonionis Kameramänner Alfio Contini und Earl McCoy versuchen, in den Einstellungen der zeitgedehnten Explosion Spuren klassischer Vanitas-Motive sichtbar zu machen. Doch es gelingt ihnen nicht. Die Aufnahmen gesprengter Alltagsgegenstände zeigen in ihrer Wiederholung lediglich, wie die in der bildenden Kunst noch gehaltvollen Motive durch die Klischees und Stereotype der Konsum- und Warenwelt ersetzt werden.13 Auch hierin liegt eine Affinität zu den Träumen, die in allgemeinen Bildern und Stereotypen erzählen.14
13 Die Sequenz ist unterlegt mit Pink Floyds Song Come in Number 51. Your Time Is Up. In: Pink Floyd: Zabriskie Point. Soundtrack zum Film. 2 CDs. Sony 2010. Enth. auf CD 1. 14 Beim Aufwachen wundern wir uns manchmal und sind irritiert über den Anspruch, den Träume erheben, weil deren Bilder doch – rückblickend – banal wirken.
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S ICH SELBST ALS A NDEREN SEHEN . A LTERITÄT UND O PTISCH -U NBEWUSSTES Ernst Mach schildert in der Analyse der Empfindungen (1886) eine Beobachtung, die Sigmund Freud in seiner Schrift Das Unheimliche (1919)15 in einer Fußnote wieder aufgreift:16 Ich stieg einmal nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. »Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein«, dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber befand sich ein großer Spiegel.17
Freud spricht in seinem Text von einem ›Doppelgängertum‹. Mach sieht sein Unbewusstes ganz plakativ vor sich, er denkt sogar laut, was er verdrängt, kann aber – zunächst – nicht realisieren, dass er selbst es ist, der dort im Spiegel erscheint. Würde er sich erkannt haben als Ernst Mach, wohl hätte er sich niemals als »herabgekommenen Schulmeister« gesehen. Das Spiegelbild gestattet ihm, sich selbst als Anderen zu betrachten, sich schauend zu verfehlen. Der Raum hinter dem Rücken des Wahrnehmenden wird als vor ihm liegender gespiegelt, und der Wahrnehmende selbst erscheint als außer sich seiend, so als sei er selbst ein Anderer. Wenn es sich auch um eine optischphysikalische Anordnung handelt, so liegt deren Wirkung doch eben darin, den Blick derart ›umzustülpen‹, dass sich die Relation zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem verändert. Der Blick wird durch die katoptrische Technik dezentralisiert, dadurch eröffnet der Spiegel dem Unbewussten eine optische Projektionsfläche.18
15 Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud. Bd. 12. 6. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986. S. 229– 268. 16 Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1922]. Nachdruck der 9. Aufl. von 1922. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1987. S. 3. 17 Freud: Das Unheimliche. S. 246. 18 Im Passagen-Werk spricht Benjamin auch von den »neuen, synthetischen Wirklichkeiten« (GS V.2, 1026) des Films und der Reklame. Sich selbst im Spiegelbild zu erkennen, heißt, sich selbst in die Augen zu sehen – denn nur dadurch kann das Blickgeschehen angehalten werden. Wir blicken, beispielsweise durch den Rückspiegel des Autos, nach hinten, manchmal unterhalten wir uns aber
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Das Unheimliche der Situation besteht gerade darin, dass etwas anwesend und zugleich abwesend ist, dass sich etwas im Material versteckt, das als es selbst nicht erkannt werden kann, sondern nur als ein Anderes. Das Bewusstsein treibt eine Art Mimikry mit sich selbst, ihm erscheint der Selbstbezug als ein Fremdbezug. Dabei ist all das vorsprachlich als ein reines Blickgeschehen zu fassen. Der Spiegel evoziert eine neue Art Beobachterrelation, gerade hierin liegt das Moment des Optisch-Unbewussten. Benjamin erwähnt dieses Zitat von Mach nicht (die erste Auflage der Analyse der Empfindungen erschien bereits 1886); aber seine Ausführungen im Passagenwerk, in dem er Paris als »Spiegelstadt« beschreibt (GS V.2, 666), weisen in eben diese Richtung. In der ›Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz‹ schreibt Benjamin:
auch während der Fahrt miteinander und schauen uns durch die Spiegelung in die Augen. Wir begegnen uns dann blickend im gespiegelten Raum. Schon Dürer hat, beispielsweise in der berühmten Druckserie zur Apokalypse, mit Hilfe optischer Abbildungsverfahren Irritationen und Täuschungen eingefügt. Die zunächst sachlich und perspektivisch richtig wirkende Darstellung erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine, bei der die Formen aus dem Bildraum herauszuwuchern scheinen und bei der sich mit jeder Begrenzung der einen Gestalt eine weitere ergibt. Der Beobachter ›navigiert‹ durch das Bild und versucht, die Instanz und einen einzigen Blickpunkt, von dem aus das Gesehene zu deuten wäre, herzustellen. Siehe dazu: Albrecht Dürer: Die drei großen Bücher. Hrsg. u. komm. von Matthias Mende. Faks. der Orig.ausg. Nürnberg 1511. Enth. u. a.: Marienleben. Grosse Passion. Apokalypse. Nördlingen: Uhl 2001. Zu Benjamins Zeit, vor allem während seiner Kindheit, waren die Werbebildchen, beispielsweise die Liebig-Sammelbilder, sehr verbreitet. Oftmals waren dies Suchbilder. Unangenehmes versteckte sich im Alltäglichen. Man sah etwas ›uneigentlich‹. Bei Udo Pini heißt es: »Oder spürten die Zeichner der Jahrhundertwende, daß ihr kleines Rätselmedium nicht mehr so recht in das neue Zeitalter paßte? Die ›erwachsene‹ Presse druckte immer kleinere Vexierbilder auf der vor- oder allerletzten Seite, bald kamen die Zeichner nur noch in den Jugendund Kinder-Gazetten oder in entsprechend verspielten Sammelbänden vor – und da waren es dann immer wieder die gleichen, wenn nicht dieselben vom gleichen Anbieter. […] Alle Versuche, sich nach 1924 in Deutschland neben den beliebten (1913 in New York erfundenen) Kreuzworträtseln zu behaupten, scheiterten.« (Vexierbilder. Rätselhafte Versteckspiele. Hrsg. und komm. von Udo Pini. Frankfurt am Main: Ullstein 1992. S. 18 f.). Dieses ›uneigentliche Sehen‹ ließe sich als ein Sehen insbesondere von Bildern verstehen, bei dem es einen Blickwechsel gibt, der uns – im gleichen Material – jeweils andere Bilderscheinungen eröffnet. Man denke hier an die sog. ›optischen Täuschungen‹.
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Unter den Bruchstellen der künstlerischen Formationen ist eine der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewußtseins. Er ist – um es mit einem Wort zu sagen – das einzige Prisma, in welchem dem heutigen Menschen die unmittelbare Umwelt, die Räume, in denen er lebt, seinen Geschäften nachgeht und sich vergnügt, sich faßlich, sinnvoll, passionierend auseinanderlegen. (GS II.2, 752)
Die Zeitlupe nun bringt uns in analoger Weise zeitlich so in Distanz zu dem Gesehenen wie das Spiegelbild es auf die räumliche Weise macht. Beide eröffnen einen Spalt innerhalb der (Selbst-)Wahrnehmung, sie erzeugen neuartige Formen von Alterität. So wie Mach den Bildraum des Spiegels als Fortsetzung des Leibraums versteht, so sieht der Zuschauer den zeitgedehnten Film als in seiner Gegenwart ablaufend. Die technische Veränderung der Zeit wird nicht als solche wahrgenommen, sondern lässt sich bestenfalls durch Indizien erschließen. So involviert das Verfahren den Zuschauer in eine neue Form zeitlicher Wahrnehmung, indem sie das Wahrnehmungsfeld derart dehnt, dass dessen Syntheseleistung nicht mehr ausreicht, um das Dargebotene in seinem Bewegungsgestus auch zu sehen. Die filmisch dargestellte Welt kann mit dem Habitus der Alltagswelt nicht mehr zur Deckung gebracht werden. All das Ungesehene, Übersehene, Noch-nicht-Wahrgenommene rückt in den Fokus, während die Zeitmodulation uns das Alltägliche in eine temporale Ferne entrückt. Das Verfahren zeigt einen ungewöhnlichen, verfremdeten, unheimlichen Alltag, weil es das Geflecht von Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung neu arrangiert. Im Kunstwerk-Aufsatz heißt es, dass durch die Zeitlupe an »die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter« (GS VII.1, 376) trete. Ähnlich wie ein Vexierbild zwei Gestalten zugleich zeigt, obwohl wir doch nur eine davon sinnlich realisieren können, so kann auch der Zeitlupenfilm eine zweite Dimension im Alltagsgeschehen freilegen, die das Alltägliche neu zu betrachten verlangt. Gerade der Fluxus-Bewegung ging es darum, diese Art von ästhetischen Betrachtungsweisen einzuleiten. Man denke an Joe Jones Fluxusfilm No. 18, SMOKING (USA 1966), der den Regisseur beim Rauchen zeigt, die Kamera führte wie bei einigen anderen Fluxus-Zeitlupenfilmen Peter Moore. Es gibt keinen Kommentar. Der Film ist von keiner Musik unterlegt und besteht nur aus einer einzigen, statischen Einstellung (vgl. Abb. 2).
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Abb. 2: Rauchformation in Joe Jones SMOKING
Smoking (1966). Fluxus-Film No. 18. Regie: Joe Jones. Kamera: Peter Moore.
Sicherlich lässt sich diese Aufnahme als eine Art Projektionsfläche deuten, welche sich der Wahrnehmung darbietet. Durch die Verlangsamung gelingt es dem Zuschauer weder, Vorder- und Hintergrund voneinander zu scheiden, noch sehen wir einen Unterschied zwischen Rauch und Rauchendem. Das Geschehen wird zum Projektionsfeld unserer Phantasie. Der emporsteigende Rauch wird unweigerlich körperhaft gesehen und scheint sich wie die Schlangenhaare der Erinnyen aus dem Kopf des Rauchenden herauszuwinden. Der Rauchende versteckt sich nicht nur hinter einer Sonnenbrille, er wird selbst zu einer Wolke, er ist im Bild nurmehr zu erahnen. Dazu setzt sich der Wunsch des Rauchenden, Zeit zu gewinnen, den Alltag rituell zu verlangsamen, im filmischen Material fort.
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O PTISCHE M ERKWELT Burkhardt Lindner weist in seiner Analyse 19 des Begriffs des OptischUnbewussten auf eine Textstelle der dritten Fassung des KunstwerkAufsatz hin, in der die Nähe zu Freuds Psychoanalyse nochmals deutlicher herausgearbeitet ist als in anderen Fassungen: Der Film hat unsere Merkwelt in der Tat mit Methoden bereichert, die an denen der Freudschen Theorie illustriert werden können. Eine Fehlleistung im Gespräch ging vor fünfzig Jahren mehr oder minder unbemerkt vorüber. Daß sie mit einem Male eine Tiefenperspektive im Gespräch, das vorher vordergründig zu verlaufen schien, eröffnete, dürfte zu den Ausnahmen gezählt haben. Seit der »Psychopathologie des Alltagslebens« hat sich das geändert. Sie hat Dinge isoliert und zugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen. Der Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt. (GS I.2, 498)
Lindner spricht von einer »Spaltung zwischen dem Gesehenen und dem Sichtbaren«20 und versteht dieses Moment als Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers auf eben jene unbemerkten Aspekte: »wir (be)merken die Welt anders, als sie uns bisher vertraut war«.21 Es erfolgt sowohl durch die Psychoanalyse als auch durch die Zeitlupe eine Neugewichtung des Alltags, weil etwas deut- und sichtbar wird, das »unbemerkt im breiten Strom des Wahrgenommenen« mitschwamm. Dass Benjamin den Begriff des Gedächtnisses durch den der ›Merkwelt‹ ersetzt, eröffnet eine weitere Nuance seiner Theorie. Derjenige, der sich etwas merken will, weiß um die Fehlerhaftigkeit seiner eigenen Erinnerung. Gewöhnlich benutzen wir dann Objekte, die uns als Zeichen dienen, um uns aufmerken zu lassen – verwiesen sei beispielsweise auf den berühmten Knoten im Taschentuch.22
19 Lindner: Das Optisch-Unbewußte. S. 271–289. Zur Begriffsrekonstruktion siehe auch Becker: Perspektiven einer anderen Natur. S. 284–292. 20 Lindner: Das Optisch-Unbewußte. S. 288. 21 Lindner: Das Optisch-Unbewußte. S. 284. 22 Siehe dazu Martin Heideggers Analysen des Zeichens. Er spricht dort von ›Merkzeichen‹. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927]. Tübingen: Niemeyer 1986. § 17. Verweisung und Zeichen. S. 76–83, insbes. S. 81.
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Der Film ist nun unter anderem ein Hilfsmittel, um das dem Vergessen Anheimfallende technisch-reproduktiv zu bewahren und damit alles nachträglich einem Deutungsprozess zu unterziehen. Und gerade hier ist die Zeitlupe eines der Verfahren, das uns das Unbemerkte untersuchen und deuten lässt. Thomas Koebner spricht in seinem Aufsatz zur Zeitlupe von ›unwillkürlichen Zeichen‹, als »Indikatoren der sonst streng verheimlichten, unbotmäßigen und vertrackten Obsessionen« der Protagonisten23. Sein Beispiel ist die Darstellung einer Geste in István Szabós Film TAKING SIDES (F/GB/D/A 2001). Ich möchte dieses Moment des Optisch-Unbewussten am Beispiel von Martin Scorseses RAGING BULL (USA 1980) illustrieren.24 Dass der Film die Boxkämpfe in Zeitlupe zeigt, ist zu erwarten. Dass er aber seinen Protagonisten Jake LaMotta, gespielt von Robert de Niro, auch in einem zeitgedehnten Alltag agieren lässt, bedarf einer Erklärung. Die Szene, um die es uns geht, spielt in einer Dance Hall im New York der 1940er Jahre (vgl. RAGING BULL. 0:22,00–0:23,19; vgl. Abb. 3). Jake LaMotta ist verliebt in Vickie (Cathy Moriarty), die ihm gegenüber am Tisch sitzt und von einem anderen Herrn, Salvy Butts, gespielt von Frank Vincent, begleitet wird. Durch die Zeitdehnung wird einerseits die idyllische Zeit des Verliebten dargestellt. Andererseits werden durch dieses Stilmittel aber auch scheinbar belanglose Gesten deutbar und erschließen uns, ebenso wie LaMotta, den Charakter der Protagonisten. Durch ein Hin- und Her-Faden zwischen zwei
23 Thomas Koebner: Zeitlupe oder was wirklich geschah. In: Ders.: Wie in einem Spiegel. Schriften zum Film. Dritte Folge. Sankt Augustin: Gardez 2003. S. 420–434. S. 433 24 Weitere Filme, die diesen Einsatz des Verfahrens anschaulich machen, sind Jacques Demys LOLA (Italien, Frankreich 1961), François Truffauts Fahrenheit 451 (UK 1966) und Brian De Palmas THE UNTOUCHABLES (USA 1987). Eine Zeitlupe steht im Zentrum von Demys Film – und durch diese erschließt sich uns dessen ganze psychoanalytisch angelegte Dramaturgie. Truffaut zeigt die Bücherverbrennung und den Habitus der Feuerwehr in Zeitlupe. Bei De Palma wird der berühmte Showdown auf den Treppen des Bahnhofs von Chicago in Zeitlupe dargeboten. Zu RAGING BULL siehe Stephan May: Faust trifft Auge. Mythologie und Ästhetik des amerikanischen Boxfilms. Bielefeld: Transcript 2004. S. 219– 240 u. S. 321–325. Wie May zeigt, hat schon Max Schmehling in den 1930er Jahren Filmaufnahmen benutzt, um die Technik seiner Gegner zu studieren (May: Faust trifft Auge. S. 146).
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Soundatmosphären lässt uns der Regisseur an dem Erleben des Boxers teilhaben und subjektiviert den filmischen Raum. Abb. 3: Tischgesellschaft in Martin Scorsese RAGING BULL
Raging Bull (USA 1980). Regie: Martin Scorsese. Kamera: Michael Chapman.
LaMotta agiert in diesem zeitgedehnten Alltag so, als ob er von anderen physisch bedroht würde, obwohl sie ihm nur zuwinken oder ihn anblicken. Und schon hier verlängert Scorsese durch die Zeitlupe den Boxkampf ästhetisch in den Alltag hinein, indem er diesen wie jenen gedehnt zeigt. Die bloßen Gesten werden durch die Verlangsamung pointiert, so wie wir es etwa von Sportübertragungen her kennen. Sie bekommen dadurch eine Tiefendimension, die nach Deutung verlangt. Die Zeitlupe separiert die Gesten dadurch auch aus dem filmischen Geschehen, so dass der Eindruck erzeugt wird, dass diese eine besondere, zeichenhafte Bedeutung aufweisen.
U NBEWUSSTE L IST In Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) findet sich die berühmte Beschreibung der odysseeischen List. Es ist dies eine Form der instrumentellen Vernunft, bei der sich der Held rationa-
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ler Mittel bedient, um den Gesang der Sirenen zu hören, ohne ihm zu verfallen:25 List aber ist der rational gewordene Trotz. Odysseus versucht nicht, einen andern Weg zu fahren als den an der Sireneninsel vorbei. Er versucht auch nicht, etwa auf die Überlegenheit seines Wissens zu pochen und frei den Versucherinnen zuzuhören, wähnend, seine Freiheit genüge als Schutz. Er macht sich ganz klein, das Schiff nimmt seinen vorbestimmten, fatalen Kurs, und er realisiert, daß er, wie sehr auch bewußt von Natur distanziert, als Hörender ihr verfallen bleibt. Er hält den Vertrag seiner Hörigkeit inne und zappelt noch am Mastbaum, um in die Arme der Verderberinnen zu stürzen. […] Der gefesselte Hörende will zu den Sirenen wie irgendein anderer. Nur eben hat er die Veranstaltung getroffen, daß er als Verfallener ihnen nicht verfällt.
In der zweiten Fassung von Benjamins Kunstwerk-Aufsatz findet sich eine korrespondierende Stelle. Doch wo Adorno und Horkheimer die Entstehung der Rationalität in den Mythos verlegen, verfährt Benjamin genealogisch. Seine Unterscheidung von erster, ritueller und zweiter, experimenteller Technik markiert zugleich einen Bruch zwischen geschichtlichen Epochen. Wo Adorno und Horkheimer eine Entwicklungslinie von der Antike zur Moderne ziehen, besteht Benjamin auf einer fundamentalen Differenz: Die technische Großtat der ersten Technik ist gewissermaßen das Menschenopfer, die der zweiten liegt auf der Linie der fernlenkbaren Flugzeuge, die keine Bemannung brauchen. Das Ein für allemal gilt für die erste Technik (da geht es um die nie wiedergutzumachende Verfehlung oder den ewig stellvertretenden Opfertod). Das Einmal ist keinmal gilt für die zweite (sie hat es mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanordnung zu tun). Der Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewußter List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen. Er liegt mit anderen Worten im Spiel. (GS VII.1, 359)
Wenn Odysseus bei Horkheimer und Adorno eine bewusste, rationale List ausübt, was wäre dann eine unbewusste List, und warum zeigt sie sich im
25 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1947]. Hrsg. von Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr. In: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt am Main: Fischer 1987. S. 11–238. S. 82 f. Zur modernen Umsetzung des Sirenen-Mythos vgl. auch: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. von Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007.
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Spiel? Man kann hier nur spekulieren. Aber es geht offensichtlich um einen Wahrnehmenden, der bei der zweiten, also der apparativen, Technik aus dem situativen Gefüge herausgelöst ist.26 Die fernlenkbaren Flugzeuge, die in den 1930er Jahren zum ersten Mal getestet wurden, brauchen zwar keine Besatzung mehr, aber dennoch jemanden, der sie steuert.27 Diesem wird das Töten zum Spiel, insofern es aus allem konkreten Bezug herausgelöst ist. Er agiert in einem experimentellen Raum, einem Möglichkeitsraum. Seine List erscheint ihm nicht als solche. Die Technik mit ihren Möglichkeiten wirkt wie eine ungeheure Kraft, derer sich der virtuell Fliegende bedient. Wer ein solches Flugzeug steuert, übt die Macht zu Töten durch seine Phantasie aus. Das spielerische Moment – und auch das Antimimetische, um das es Benjamin geht – besteht darin, dass die zweite Technik sich mit dem Unbewussten verbindet. Im Spiel wird das ausgelebt, was ansonsten verdrängt würde. Aber ein solches militärisches ›Spiel‹ hat reale Auswirkungen, die allerdings für den, der die Apparatur steuert, nicht einsehbar sind. Die verheerenden Wirkungen erscheinen ihm wiederum nur grafisch dargestellt auf dem Bildschirm. So wird das Spiel zur List. Der Überlistete ist allerdings nicht ein Anderer, sondern der, der glaubt, die Technik ›benutzen‹ zu können. Denn diese unterläuft die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Formen dieser ›unbewussten List‹ finden sich am ehesten in militärischen Beobachtungs- und Steuerungstechniken, die in asymmetrischen
26 An dieser Stelle kann ich aus Platzgründen nicht auf Benjamins Mimesistheorie eingehen. Siehe dazu Burkhardt Lindner: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: Ders.: Benjamin-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2006. S. 229–251, insbes. S. 248 f. 27 Zur Geschichte dieser UAV (Unmanned Aerial Vehicles) heißt es: »Erste Bestrebungen zur Entwicklung von unbemannten Flugzeugen gab es bereits nach dem Ersten Weltkrieg. Damals dienten ferngesteuerte Flugzeuge als Übungsziele. Eines der ersten dieser Flugziele war eine 1935 umgerüstete Havilland Tiger Moth mit der Bezeichnung ›DH.82B Queen Bee‹. Der Name Bee soll im weiteren Verlauf dazu geführt haben, daß sich der Begriff ›Drohne‹ für unbemannte, ferngesteuerte Flugzeuge etablierte.« (Sascha Lange: Flugroboter statt bemannter Militärflugzeuge? Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) 2003. Online-Publikation: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?as set_id=187. S. 18). Lange nennt als Gründe für den Einsatz solcher UAV: Verweildauer, Kosteneinsparungen, Risikominderung, Einsatzbereitschaft, Größenvorteile, psychologische Wirkungen und Manövrierfähigkeit.
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Kriegen eingesetzt werden und im Videospiel. Beide möchte ich als Beispiel heranziehen. Ridley Scott hat in den letzten Jahren in einigen Filmen die neuen Formen von Kriegen und Gefechtssituationen dargestellt. Vergleichbar mit der Verfahrensweise beispielsweise Ernst Jüngers, der den Krieg als ›Totale Mobilmachung‹ verstand,28 wird auch hier die konkrete Situation zu einer Metapher für gesellschaftlich-strukturelle Veränderungen überhaupt. Dieser neue Krieg erweist sich als ein asymmetrischer, polyperspektivischer, bei dem rein technische Bilder konkrete Alltagssituationen durchdringen und bei dem die Grenze zwischen Krieg und zivilem Leben fließend ist, vergleichbar vielleicht am ehesten mit dem Kampf der Partisanen im Zweiten Weltkrieg.29 In einem globalen Arrangement von wahrnehmungsmäßigen und technischen Perspektiven verdichtet sich eine allgemeine Tendenz, die sich auch mit dem Begriff der ›unbewussten List‹ beschreiben lässt. Wie schon bei BLACK HAWK DOWN (USA 2001), so verschränkt Scott auch in BODY OF LIES (USA 2008; dt. DER MANN, DER NIEMALS LEBTE) mehrere Erzählperspektiven miteinander. Der Film zeigt nicht nur den Alltag des Undercover-Agenten Roger Ferris (Leonardo DiCaprio), der versucht, im Nahen Osten Selbstmordattentäter zu finden, bevor sie ihre Tat ausführen. Diese Alltagsrealität wird durchdrungen von Beobachtungsperspektiven von Überwachungssatelliten und Drohnen, die Ferris räumlich verorten und die es seinem Kollegen, dem Verbindungsoffizier Ed Hoffman (Russell Crowe), von Langley aus erlauben, per Mobilfunk aus der Ferne akustische Anweisungen und Hinweise zu geben. Während der Kollege in Amerika einkauft, seine Kinder betreut und per Headset-Handy mit Ferris spricht, steckt dieser mitunter in einer lebensbedrohlichen Situation. Die Aktionsräume des Krieges sind unübersichtlich. Alltag hier und Krieg dort gehen ineinander über, ohne dass die Möglichkeit einer adäquaten Wahrnehmung der Situation bestünde. Aus dieser Sicht ist der Krieg ein imaginierter, der von dem ›gewonnen‹ wird, der seine Phantasie mobilisieren kann und der
28 Vgl. Ernst Jünger: Die Totale Mobilmachung [1930]. In: Ders.: Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Sämtliche Werke. Bd. 7: Essays I. Stuttgart: Klett 1980. S. 119–142. 29 Siehe dazu: Dirk Freudenberg: Theorie des Irregulären: Partisanen, Guerillas und Terroristen im modernen Kleinkrieg. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. 2008. Online-Ausgabe. Siehe insbes. das Kapitel 7 ›Gefechtsfeld‹. S. 314–349.
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selbst das zivile Leben, die eigenen Wünsche und Hoffnungen, einem vorgestellten Kampfplatz unterordnet, bzw. dem, der sich auch in Gefahrensituationen noch in den Alltag des Kollegen hineinphantasieren kann. Die polyphone Welt des Nahen Ostens kann vom Agenten Ferris nur emphatisch verstanden werden, er muss sich selbst in diese hineinbegeben – nicht anders als die Selbstmordattentäter –, Vertrauen gewinnen, Mimikry an die fremde Kultur betreiben.30 Kriegführung erweist sich als Alltagsdisziplin und als ständige Notwendigkeit, das Zivile militärisch zu deuten. Jede banale Geste, jedes spielerische Moment, der Zufall gar, können falsch gedeutet werden, und die Situation kann in Sekundenbruchteilen bedrohlich kippen. ›Unbewusste List‹ zeigt sich in eben jenen beinahe tödlichen Missverständnissen. Weil der eine vom anderen abhängt, entstehen Situationen der unklaren Entscheidung. Letztlich malt der Film ein Szenario zwischen einer Erfahrungswelt des Kriegers Ferris und einer zivilen Welt der Überwachung aus, für die Ed Hoffman steht. Und weil einer die Situation des anderen nicht kennt, und hierin liegt das Moment des Unbewussten – zwischen den Menschen, in der Kommunikation durch Technik – entstehen Fehlentscheidungen, da weder die Erfahrung ausreicht noch der Blick der Satelliten, um ein adäquates Verständnis zu erlangen. Die Ungewissheiten und Unwägbarkeiten werden durch die Technik nicht beseitigt, diese verschiebt sie nur und erzeugt selbst unvorhersehbare Situationen. Die Seite der Terroristen ist umgekehrt eine der anarchischen Methoden, wo die orale Kommunikation, Botendienste, überreichte Notizen die High-Tech-Welt Amerikas unterminieren.31 In diesem globalen Geflecht wird Gewalt kriegerisch
30 Freudenberg: Theorie des Irregulären. S. 391: »Gerade im Kampf gegen Gruppierungen des internationalen Terrorismus sind asymmetrische Mittel zum Einsatz zu bringen. Die Irregulären sind mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, indem man ihre Taktiken annimmt, sie täuscht und überrascht, mobil und gerissen ist, über unkonventionelle Ideen, exzellente Geländekenntnisse sowie einen guten Draht zur Bevölkerung verfügt und die Fähigkeit zur ständigen Improvisation beherrscht.« Der Film selbst ist eine Form der Immunisierung, weil er terroristische Angriffe in Europa, in Manchester, ausmalt, die nicht stattfanden. 31 In BODY OF LIES führt Ed Hoffman aus: »Now, you see, because our enemy has realized that they are fighting guys from the future. Now it is brilliant as it is infuriating. If you believe it’s the past, and you behave like it’s the past, then guys from the future find it very hard to see you. If you throw away your cell phone shut down your e-mail, pass all your instructions face-to-face, hand-to-hand,
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durch Geschwindigkeitsvorsprung bekämpft, wenn der eine dem anderen voraus ist und weiß, was in naher Zukunft geschieht – und dabei unerkannt bleibt. Abb. 4: Explosion in Ridley Scotts BODY OF LIES
Body of Lies (USA 2008). Regie: Ridley Scott. Kamera: Alexander Witt.
Zeitlupenaufnahmen von Explosionen und Schusswechseln, Angriffsmanövern und Verfolgungsjagden erzeugen einen mehrdimensionalen Raum, der eben diesem neuen Szenario entspricht.32 Diese Zeitlupenaufnahmen dienen, so eingesetzt, nicht dazu, narrative Effekte zu setzen, sondern vielmehr dehnen sie die Situationen derart aus, dass auch der Zuschauer deren Ver-
turn your back on technology and just disappear into the crowd. No flags. No uniforms. You got your basic grunts on the ground there. They’re looking going, ›Who is it we’re fighting?‹ In a situation like this, your friends dress just like your enemies and your enemies dress like your friends.« (0:04,55–0:05,50) 32 Freudenberg schätzt die Situation folgendermaßen ein: »Mittels moderner Technologien und Präzisionswaffen können Entfernungen in Minuten überwunden werden, geographische Räume schrumpfen zusammen und demzufolge wird die frühere Dominanz des Raumes relativiert. Der Raum erfährt auf der anderen Seite eine Vergrößerung: das Gefechtsfeld wird globalisiert. Die militärischen Möglichkeiten erlauben es also, den Gesamtraum zu erfassen, und zwingen gleichzeitig auch zur Dislozierung der Kräfte im Raum. Folglich werden geographische Entfernungen in der sicherheitspolitischen Lagebeurteilung ein Faktor von immer geringerer Bedeutung.« (Freudenberg: Theorie des Irregulären. S. 328). Freudenberg weist darauf hin, dass in dieser Konstellation der zeitlichen Dimension eine immer wichtigere Bedeutung zukommt, gerade in Bezug zum Faktor der Information (Vgl. Freudenberg: Theorie des Irregulären. S. 333).
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dichtung wahrnimmt (vgl. Abb. 4). Sie erweisen sich hier als Chiffren für die Gesamtlage. Die Brüche innerhalb der Handlung, wann jemand etwas falsch verstanden hat oder falsche Kommandos gab, wann eine ›unbewusste List‹ sich auswirkte, visualisieren sich in der gedehnten Gewalt und ihrer Vorbereitung konkret-sinnlich in den Bildern. Manchmal werden Momente gedehnt, manchmal leicht beschleunigt, oft durch die Montage und die Hand-held-camera, eine Desorientierung erzeugt.
W EITERE F ORMEN DES ›O PTISCH -U NBEWUSSTEN ‹ Am 20. April 1999 begehen Eric Harris (18) und Dylan Klebold (17) an der Columbine High School in Littleton ein Massaker. Sie töten zwölf Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren und einen Lehrer. Weil es zu einem Prozess kam, wurden einige Unterlagen veröffentlicht, unter anderem auch die mehrere hundert Seiten umfassenden Tagebuchaufzeichnungen der beiden jungen Männer.33 Einer der beiden Amokläufer schreibt 1998 in diesem Tagebuch: Doom – it burned into my head my thoughts usually have something to do with the game. Whether it be a level on environment or whatever. In fact a dream I had yesterday was about a ›Deathmatch‹ level that I have never even been to. It was so vivid and detailed I will probably try to recreate it using a map editor. […] What I can’t do in real life I try to do in doom.34
Es ist keineswegs so, dass das Spiel ›Doom‹ das Massaker ausgelöst hat. Das Spiel der texanischen Id-Software setzt sich wie ein Virus in die Träume und träumend wird es auf einem anderen Level weitergespielt. Und dieser Traum wird dann wiederum im Spiel nachgestellt. Es bilden sich assoziative Verkettungen zwischen der Realität und dem Spiel, die den Tätern allerdings nicht als solche deutlich werden: »What I can’t do in real life I try to do in doom.« Während Michael Moore in dem Docufiction-Film BOWLING FOR COLUMBINE (CDN/USA/D 2002) den gesellschaftlichen Bedingungen für diese Tat nachgeht, rekonstruiert Gus Van Sant in seinem Film ELEPHANT (USA
33 Jefferson County Sheriff’s Office: Columbine Documents, JC-001-025923 bis JC-001-026859, CD-ROM, Jefferson County 2006. 34 Jefferson County Sheriff’s Office: Columbine Documents. JC-001-026189.
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2003) den Verlauf der Tat mit Laiendarstellern. Wir sehen die Tat mehrfach, aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen und beobachtet. Erst dieses multiperspektivische Geflecht von Erlebnissen der Anderen umgrenzt eben die Leerstelle, die das Motiv der Täter klären könnte. Es gehört zur Stärke des Films, dass er den Alltag nach jenen langweiligen, tristen, monotonen Momenten absucht und so in dem scheinbar Belanglosen Anzeichen für die sich ankündigende Tat andeutet. Abb. 5: Screenshot aus Gus Van Sants ELEPHANT kurz vor dem Massaker
Elephant (USA 2003). Regie: Gus Van Sant. Kamera: Harris Savides.
Harris Savides Kamera folgt den Protagonisten im Stil eines Ego-ShooterSpiels. Aber hier passiert nichts. Wohl lassen sich diese Aufnahmen als ästhetisierte Suchbilder verstehen, bei denen sich irgendwann ein Kippeffekt einstellt und wir nicht mehr wissen, wo die Realität aufhört und in den Alptraum übergeht. Das Massaker hätte vielfach verhindert werden können, hätte man die Entstehung des Motivs wahrgenommen, aber genau das gelingt niemandem. Van Sant verortet das Massaker in ein kompliziertes Gewebe aus Realitätsschichten, die einander beeinflussen und bei denen es keine Trennung
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zwischen Innen und Außen, zwischen Bewusstem und Unbewusstem mehr gibt. Immer wieder sehen wir die Wolken im Zeitraffer, so als müssten wir auch das Wettergeschehen als Akteur denken und es wie die Auguren im alten Griechenland deuten. Alles wird zum vorausdeutenden Zeichen. Die Bilder versetzen uns in die Lage, mit Unbewusstem anschaulich umzugehen, was noch nicht heißt, das Unbewusste als Unbewusstes zu begreifen. Es ist ein diagnostischer Blick notwendig, um eben dessen Bedeutung zu verstehen. In einer Szene geht John McFarland (John Robinson) durch die langen, labyrinthischen Gänge der Highschool. Er begegnet schließlich draußen den zwei Mitschülern, die gerade dabei sind, die Schule in voller Bewaffnung zu betreten und die das Massaker Minuten später begehen werden. John reagiert schnell, aber es ist bereits zu spät – und die Ereignisse nehmen ihren Lauf (vgl. Abb. 5). Durch den Einsatz des Speed-Change wird nicht nur Johns Zeiterleben mit seinen Stockungen und Abschweifungen der Aufmerksamkeit dargestellt. Es wird zugleich in Relation zu anderen Perspektiven gesetzt. Der Freudensprung eines Hundes wird in der gedehnten Zeit des Speed-Change präsentiert, während die Amokläufer in Normalzeit die Schule wie beiläufig betreten. Diese zeitlichen Aberrationen zeigen, dass der Alltag in sich perspektivisch strukturiert ist. Und in diesen verschiedenen Perspektiven kann das Optisch-Unbewusste nur durch Variation der Blickpunkte und Beschreibungen erfahrbar gemacht werden. Der Film ist ein Sensorium dafür: Ist uns schon im groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse. (GS VII.1, 376)
L ITERATURVERZEICHNIS Becker, Andreas: Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm. Darmstadt: Büchner 2012.
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F ILMOGRAFIE (A USWAHL ) Body of Lies (USA 2008). Regie: Ridley Scott. Kamera: Alexander Witt. Elephant (USA 2003). Regie: Gus Van Sant. Kamera: Harris Savides. Der heilige Berg (D 1926). Regie: Arnold Fanck. Kamera: Sepp Allgeier, Albert Benitz, Helmar Lerski u. Hans Schneeberger. Der weiße Rausch. Neue Wunder des Schneeschuhs (D 1931). Regie: Arnold Fanck. Kamera: Richard Angst, Hans Karl Gottschalk, Bruno Leubner u. Kurt Neubert. Raging Bull (USA 1980). Regie: Martin Scorsese. Kamera: Michael Chapman. Smoking (1966). Fluxus-Film No. 18. Regie: Joe Jones. Kamera: Peter Moore. Zabriskie Point (USA 1970). Regie: Michelangelo Antonioni. Kamera: Alfio Contini, Earl McCoy (Special Effects).
Christopher Nolans MEMENTO (USA 2000) Erzählexperiment zwischen filmischer Darstellung und pathologischem Befund
S TEFANIE K REUZER
ABSTRACT: Christopher Nolans MEMENTO zeichnet sich durch ein besonderes immersives Potential aus, indem der Film das Spannungsfeld zwischen wahrnehmungspsychologischen und filmisch narrativen Perspektiven erprobt. Die Präsentation des Geschehens als sogenannte ›Rückwärtserzählung‹ ermöglicht rezeptionsästhetisch analoge Wahrnehmungserfahrungen zum Erleben des Protagonisten, der unter einem Defekt seines Kurzzeitgedächtnisses leidet. Als Erzählexperiment ist MEMENTO in dreierlei Hinsicht zu verstehen: (1) als experimenteller Versuch einer narrativen Inszenierung der anterograden Amnesie mit filmischen Mitteln, (2) als erzählerisches Experiment mit der traditionell-chronologischen Präsentationsweise einer Geschichte sowie (3) als Experimentieren mit filmischen Strategien unzuverlässigen Erzählens.
M EMENTO UND R ÜCKWÄRTSERZÄHLUNGEN IN L ITERATUR UND F ILM Wenn zeitliche Inversionen und speziell sogenannte ›Rückwärtserzählungen‹ in Literatur und Film thematisiert werden, so ist Ilse Aichingers Spiegelgeschichte (1949) als eines der bis heute innovativsten literarischen Beispiele anzuführen. Die Erzählung irritiert durch Aufforderungen wie:
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[…] geh die Stiegen hinunter, an dem Pförtner vorbei, durch den Morgen, der Nacht wird.1 (Hervorh. S. K.)
Viele Beschreibungen erscheinen der gängigen Alltagslogik entrückt: Du läufst in sie [die Kinder] hinein, du läufst, als liefst du mit dem Rücken nach vorn, und keines ist dein Kind. Wie soll denn auch eines davon dein Kind sein, wenn du zur Alten gehst […].2 (Hervorh. S. K.)
Beide Zitate demonstrieren exemplarisch die grundlegende (Para-)Logik von Aichingers Rückwärtserzählung. Es ist eine in Du-Form erzählte Lebensgeschichte einer jungen Frau, die an den Folgen einer Abtreibung stirbt, zu der sie sich aufgrund ihrer unglücklichen Liebesbeziehung entschieden hat. Wenn im Laufe der Erzählung »de[r] Morgen« zur »Nacht wird« und das Laufen als ein blindes und orientierungsloses Rückwärtsgehen erscheint, liegt eindeutig kein einfach erklärbares analeptisches Erzählen vor. Die Lebensgeschichte wird nicht durchgängig konsequent rückwärts erzählt oder gespiegelt. Durch die spezifische Erzählform entstehen vielmehr neue Zusammenhänge, wird eine neue Geschichte erfunden. Ausgehend vom Bild des Rückwärtslaufens wäre zu vermuten, dass eigentlich der Film das ideale Darstellungsmedium für Rückwärtserzählungen sein müsste. Schließlich ist es filmtechnisch einfach, die Abfolge der Einzelbilder umzukehren und das Gefilmte im wörtlichen Sinne rückwärts ablaufen zu lassen. Als ein frühes filmisches Experiment aus der Stummfilmzeit sei prototypisch Luis Lumieres Kurzfilm DÉMOLITION D’UN MUR (F 1896)3 erwähnt, in dem die zuerst zum Einsturz gebrachte Hauswand sich im Anschluss auf wundersame Weise wieder aufzurichten scheint. Genannt sei zudem das filmtechnisch realisierte Rückwärtslaufen des Kutschpferdes in dem komödiantischen Kurzfilm LE CHEVAL EMBALLÉ (F 1908; Regie: Louis J. Gasnier).4 Beispiele für die durchgängige, längere Verwen-
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Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte [1949]. In: Dies.: Werke. Taschenbuchausgabe in 8 Bdn. Hrsg. von Richard Reichensperger. Bd. 2: Der Gefesselte. Erzählungen (1948–1952). 5. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2002. S. 63–74. S. 66. Aichinger: Spiegelgeschichte. S. 67. Démolition d’un mur (F 1896). Regie: Louis Lumiere. Laufzeit: (PAL/DVD: bfi – Early Cinema: Primitives and Pioneers – 2 DVDs, [2005]) DVD 1: Kap. 4/49: 1 Min. Le cheval emballé (F 1908). Regie: Louis J. Gasnier. Laufzeit: (PAL/DVD: bfi – Early Cinema: Primitives and Pioneers – 2 DVDs, [2005]) DVD 2 – Kap.
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dung dieser filmischen Reversionstechnik finden sich jedoch nur wenige. Angeführt werden kann die tschechoslowakische Produktion HAPPY END (CH 1968) von Oldřich Lipský (vgl. Abb. 1–6).5 Dieser Film stellt ein narratives Pendant zu Aichingers Spiegelgeschichte dar, indem die Geschichte eines guillotinierten Verbrechers von dem im Sarg liegenden abgeschlagenen Kopf über seinen Gefängnisaufenthalt, seine Verbrechen und Liebschaften zurück in eine glückliche Kindheit erzählt wird. Da die Handlung in HAPPY END zwar rückwärts läuft, die Sprache aber verständlich bleibt, wird deutlich, dass die filmische Rückwärtserzählung ebenso wie Aichingers Text eigengesetzlich funktioniert, episodisch angelegt ist und eine ungewöhnliche Logik erzeugt. Abb. 1–6: Wundersame ›Auferstehung‹ des guillotinierten Protagonisten
Screenshots aus Oldřich Lipskýs HAPPY END (CH 1968)6
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8/25: 7 Min. Außerdem wurde im Film bereits früh mit non-linearen Erzählweisen experimentiert. Der US-amerikanische Stummfilm INTOLERANCE (USA 1916) von David Wark Griffith kann als ein prominentes filmhistorisches Beispiel für eine narrative Achronie angeführt werden. Happy End (CS 1968). Regie: Oldřich Lipský. Drehbuch: Oldřich Lipský. Laufzeit: (PAL) ca. 71 Min. Vgl. Happy End (CS 1968). Regie: Lipský, Oldřich. Drehbuch: Oldřich Lipský. Laufzeit: (YouToube: http://v.youku.com/v_show/id_XMTM3MTUxODg= .html – 15. Mai 2010 | nicht mehr abrufbar) ca. 70 Min. 0:02,39–0:03,20.
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Im Gegensatz zu diesem materialästhetisch experimentellen Film kann seit Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt ein filmisches Erproben chronologischer Inversionen im Rahmen von episodischen Rückwärtserzählungen festgestellt werden. In der Nachfolge von Christopher Nolans US-amerikanischer Filmproduktion MEMENTO (USA 2000)7 sind zwei französische Filme anzuführen, die ähnliche Erzählstrategien nutzen. So entlarvt Garspar Noé in seinem IRRÉVERSIBLE (F 2002; dt.: IRREVERSIBEL)8 durch die Verkehrung der Chronologie sukzessive den Rachemord an dem vermeintlichen brutalen Vergewaltiger einer jungen Frau als grausame Untat, bei der ein Unschuldiger umgebracht worden ist. François Ozons 5 X 2 (F 2004; dt.: 5 X 2 – FÜNF MAL ZWEI)9 hingegen verfolgt die gescheiterte Beziehung eines Paares von der Scheidung zurück bis zur ersten Begegnung und dem Beginn der Beziehung. Im Vergleich zu Aichingers Spiegelgeschichte basieren IRRÉVERSIBLE und 5 X 2 allerdings auf etablierten narrativen Strategien.10 Christopher Nolans episodischer Rückwärtserzählung MEMENTO liegt ebenfalls ein sukzessiver Umdeutungsprozess zugrunde. Kompliziert wird
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Memento (USA 2000). Regie: Christopher Nolan. Drehbuch: Jonathan Nolan u. Christopher Nolan. Musik: David Julyan. Kamera: Wally Pfister. Schnitt: Doy Dorn. Darsteller: Guy Pearce (Leonard), Carrie-Anne Moss (Natalie) u. Joe Pantoliano (Teddy). Laufzeit: (PAL/DVD: Helkon – 2 DVDs, 2002) 109 Min. 8 Irréversible (F 2002; dt.: Irreversibel). Regie: Gaspar Noé. Drehbuch: Gaspar Noé. Produzent: Christophe Rossignon. Darsteller: Monica Bellucci (Alex), Vincent Cassel (Marcus) u. Albert Dupontel (Pierre). Laufzeit: (PAL) ca. 97 Min. 9 5 x 2 (F 2004; dt.: 5 x 2 – Fünf mal zwei). Regie: François Ozon. Drehbuch: François Ozon u. Emmanuèle Bernheim. Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi (Marion – »Sie«) u. Stéphane Freiss (Gilles – »Er«). Laufzeit: (PAL) ca. 90 Min. 10 Die erzählerische Struktur von IRRÉVERSIBLE ist vergleichbar mit dem Prinzip der aufbauenden Rückwende von Kriminal- oder Detektivgeschichten, wobei es überdies – mit zunehmender Kenntnis der Vorgeschichte – sukzessiv zu einer Umdeutung des Geschehens kommt. Ozons Film 5 X 2 über das Verschwinden der Liebe liegt zwar keine spektakuläre Verbrechensaufdeckung zugrunde, doch auch bei dieser Filmerzählung handelt es sich um eine subtile Nachverfolgung einer Entwicklung sowie eine sukzessive Aufdeckung von Ursachen – seien es Störfaktoren, Nachlässigkeiten, Unaufmerksamkeiten oder Unaufrichtigkeiten, die sich als narrative Puzzleteile zu einem Gesamtbild der Paarbeziehung zusammensetzen lassen.
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die Durchdringung des Geschehens allerdings dadurch, dass – wie in Aichingers Spiegelgeschichte und Nolans erstem Low-Budget-Spielfilm FOLLOWING (GB 1998)11 – mehrere Erzählebenen vorliegen, die in einer gegenläufigen Chronologie aufeinander ausgerichtet sind und in MEMENTO in einem komplexen Relationsverhältnis zueinander stehen. Der Vorspann von MEMENTO kann in mehrfacher Hinsicht als prototypisch für den Film verstanden werden. Die surreal anmutende (Para-)Logik der intern fokalisierten, rückwärtsgerichteten Erzählebene in Aichingers Spiegelgeschichte findet im filmtechnisch realisierten Rückwärtslauf gar eine Entsprechung (vgl. 0:00,47–0:02,35). In den ersten Einstellungen von MEMENTO – nachdem der Titel eingeblendet worden ist und derweil die Credits noch zu lesen sind – wird ein Polaroid im Close-up von einer Hand ins Bild gehalten und zwischenzeitlich immer wieder geschüttelt. Entgegen der üblichen Ausentwicklung der Fotografie verblasst diese allerdings zusehends. Nach einem harten Schnitt wird in wenigen Einstellungen gezeigt, wie das Polaroid in eine Sofortbildkamera eingelegt und von dieser blitzend eingezogen wird. Es folgt eine Einstellung auf eine rote, mit Blut zu assoziierende Flüssigkeit, die sich indes in einem unbestimmten Bildraum senkrecht nach oben bewegt (vgl. Abb. 16). Im Anschluss sind für die Dauer von jeweils einigen Sekunden die Großaufnahmen einer leeren Patronenhülse am Boden und einer blutbespritzten Brille zu sehen. Dann folgt ebenfalls im Close-up der Hinterkopf eines mit dem Gesicht zum blutverschmierten Boden liegenden Mannes, zu dem die abermals im Bild befindliche Brille zu gehören scheint. Kontinuierlich untermalt von dem sphärisch ruhigen Score ist im Gegenschuss ein jüngerer, blonder Mann im Anzug zu erkennen, dem nun eine Pistole quasi in die ausgestreckte Hand ›springt‹. Dann wird erneut in Großaufnahme die Hülse sichtbar, die sich – ebenso wie in Parallelmontage die Brille – wie durch einen unsichtbaren Magneten gelenkt bewegt und bei gesteigerter Schnittfrequenz schnell und geräuschvoll zurück in den Hülsenauswurf der Pistole fliegt. Auf ähnliche Weise rutscht die Brille dem hinaufgleitenden Liegenden ins Gesicht. Ein Schuss und ein Schrei übertönen die Umgebungsgeräusche und den Score.
11 Following (GB 1998). Regie: Christopher Nolan. Drehbuch: Jonathan Nolan. Musik: David Julyan. Kamera: Christopher Nolan. Darsteller: Jeremy Theobald (Bill), Alex Haw (Cobb), Lucy Russell (Blondine) u. John Nolan (Polizist). Laufzeit: (PAL) ca. 70 Min.
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Der Vorspann zeigt eine Verkehrung der Chronologie eines Geschehens – genauer gesagt: eines Mordes. In umgekehrter Reihenfolge ist der Hergang als das Abfeuern eines tödlichen Schusses aus einer Pistole, das Niederstürzen des Opfers sowie eine anschließende Polaroidaufnahme und -entwicklung der vollbrachten Tat zu beschreiben. Durch die Kombination der regulären akustischen Tonspur mit dem visuellen filmischen Rückwärtslauf in Zeitlupe12 erscheint das Geschehen verfremdet und erhält eine bizarre Anmutung. Es entsteht der Eindruck, als würde ein Mord ungeschehen gemacht und ein Toter wieder auferstehen. Fotografie und Film stehen bekanntermaßen als indexikalische Zeichen im semiotischen Sinne Charles Sanders Peirces13 prinzipiell für Authentizität und Beglaubigung und können als mediale Versuche der Konservierung von Erinnerung verstanden werden. Roland Barthes zufolge sind Fotografien gar als »Noema des ›Es-ist-so-gewesen‹«14 aufzufassen. Das Verblassen des Polaroids mutet hingegen als eine Illustration des Vergessens an und kann als eine Demonstration des Verschwindens von Erinnerungen angesehen werden.
12 Christopher Nolan hat in den »Special Features« einer zweiten Zusatz-DVD mit Materialen im Untermenü »Anatomy of a Scene« das Making-of des Vorspanns kommentiert und herausgestellt, dass nur die am Boden sich durch Druckluft bewegende Patronenhülse eine Simulation des filmischen Rückwärtslaufs darstellt. Für alle anderen Einstellungen hingegen sei das Geschehen regulär gefilmt worden und werde tatsächlich rückwärts präsentiert, um einen möglichst großen Realitätseffekt zu erreichen (vgl. Special Features 16,46–18,25). 13 Fotografie und Film können in der zeichentheoretischen Terminologie von Peirce in der Regel als indexikalisch erzeugte ikonische Zeichen verstanden werden. So stellen beide Medien einerseits – entsprechend ihrer chemisch-physikalischen Erzeugung auf einem lichtempfindlichen Trägermaterial – indexikalische Reflexe der Realität dar. Andererseits stehen Fotografie und Film in einem ikonischen Ähnlichkeitsverhältnis zum Abgelichteten, indem sie – wenngleich zweidimensional und meist in einem anderen Maßstab – Form- und Farbanalogien sowie gegebenenfalls Veränderungen und Bewegungen eines ›Originals‹ widerspiegeln. Vgl. Charles Sanders Peirce: Neue Elemente. In: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida. Hrsg. von Dieter Mersch. München: dtv 1998. S. 37–56. S. 43. 14 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [franz.: La chambre claire (1980)]. Übers. von Dietrich Leube. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (= st 1642). S. 87.
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MEMENTO erzählt die Geschichte des ehemaligen Versicherungsangestellten Leonard Shelby (Guy Pearce) aus San Francisco, der an anterograder Amnesie15 leidet. Durch den Defekt des Kurzzeit- respektive Arbeitsgedächtnisses hat er sowohl die Fähigkeit verloren, sich »neue Gedächtnisinhalte« einzuprägen, als auch »bereits vorhandene«16 Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abzurufen. Dieses pathologische Erinnerungsdefizit prägt Leonard Shelbys Suche nach dem Mörder seiner Frau.17 Narratorisch erfährt Leonards Amnesie eine Inszenierung, indem das Geschehen aus seiner Wahrnehmungsperspektive sukzessive von den Zuschauern des Films erschlossen werden muss. Ebenso wie Leonard im ›inneren Kommunikationssystem‹ aufgrund seines permanenten Vergessens und des Fehlens zu vieler Kontextinformationen von seiner Umwelt manipuliert wird, wird auch der Zuschauer im ›äußeren Kommunikationssystem‹18 durch die erzählerische Unzuverlässigkeit und Leonards erst am Filmende offenkundig werdenden Selbstbetrug getäuscht. MEMENTO kann in dreierlei Hinsicht als Erzählexperiment verstanden werden: (a) MEMENTO ist der experimentelle Versuch einer narrativen Inszenierung der anterograden Amnesie mit filmischen Mitteln.
15 Zu den Formen der retrograden und anterograden Amnesie vgl. Hans-Joachim Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. 2., unveränd. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005 [2002]. S. 85. 16 Philip G. Zimbardo u. Richard J. Gerrig: Psychologie [engl.: Psychology and Life]. Hrsg. von Siegfried Hoffe-Graff u. Irma Engel. Unter Mitarbeit von Barbara Keller. 7., neu übers. u. bearb. Aufl. Berlin: Springer 1999. S. 244. 17 Unfähig, sein Erleben länger als einige Minuten zu erinnern, zerfällt ihm sein Leben zwangsläufig in unzusammenhängende Episoden. Idealtypisch für diese Erfahrung kann der wiederkehrende Dialog zwischen Leonard und seinem ›Bekannten‹ Teddy (Joe Pantoliano) angeführt werden: Leonard: »I guess, I already told you about my condition?« Teddy: »Oh, well, only every time I see you!« (0:03,14–19; vgl. auch 0:22,19–0:22,24) 18 Im Sinne Manfred Pfisters bezeichnet das »innere Kommunikationssystem« fiktionaler Texte und Geschichten die »dialogisch miteinander kommunizierenden fiktiven Figuren«, und das »äußere Kommunikationssystem« bezieht sich auf die empirischen und impliziten Sender- und Empfängerinstanzen, wobei diese Kategorien auch auf das filmische Medium übertragen werden. (Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse [1977]. 9. Aufl. München: Fink 1997 (= Uni-Taschenbücher 580). S. 21; vgl. auch S. 20–22.)
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(b) Erzählerisch experimentiert MEMENTO mit der Auflösung und Durchbrechung der traditionell-chronologischen Präsentation einer Geschichte. (c) Zudem erprobt MEMENTO filmisch Strategien unzuverlässigen Erzählens. Um diese experimentellen Aspekte des Films herauszustellen, soll die dramatische Spannung des Films in drei Kapiteln im Rahmen einer filmnarratologischen Analyse19 auf der methodischen Grundlage eines intermedialen erzähltheoretischen Ansatzes20 nachvollzogen werden. Erstens gilt es aufzuzeigen, wie der Protagonist Leonard als überlebendes Opfer eines Gewaltverbrechens an dessen Folgen physisch und psychisch leidet und als ideale Identifikationsfigur fungiert. Zweitens ist die Struktur der Erzählung in ihrer Komplexität und Verwobenheit der unterschiedlichen Handlungskonstellationen und diegetischen Ebenen aufzuzeigen. Drittens sollen Multiperspektivität, Irritationen, erzählerische Unzuverlässigkeit und Unentscheidbarkeit als narrative Strategien herausgestellt werden, die rezeptionsästhetisch experimentell ein Amnesieäquivalent erzeugen.
19 Der filmnarratologische Ansatz basiert auf Gérard Genettes theoretischem Ansatz und Terminologie, wobei die Fokalisierungstypen und deren Übertragung auf das filmische Medium in diesem Kontext von besonderem Interesse sind. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung [franz.: Discours du récit (1972; dt.: Über die Erzählung); franz.: Nouveau discours du récit (1983; dt.: Neuer Diskurs über die Erzählung)]. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt. 2. Aufl. München: Fink 1998 [1994]. S. 269–278. Vgl. Julika Griem u. Eckart Voigts-Virchow: Filmnarratologie: Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalysen. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera u. Ansgar Nünning. Trier: WVT 2002 (= WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5). S. 155–183. 20 ›Erzählen‹ ist in diesem Kontext weit gefasst und an Werner Wolfs theoretischem Ansatz und seiner Begriffsdefinition orientiert: »Erzählen als Akt des Hervorbringens von Geschichten geht weit über das Medium Literatur und verbale Textsorten hinaus: Erzählen ist intermedial.« (Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera u. Ansgar Nünning. Trier: WVT 2002 (= WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5). S. 23–104. S. 23.)
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›M EMENTO ‹ ODER ›C AN ’ T REMEMBER TO FORGET ‹ – T RAURIGE G ESCHICHTE EINES A MNESIE -O PFERS ? Der Titel des Films MEMENTO erinnert an den christlich konnotierten, lateinischen Mahnspruch ›Memento mori‹,21 die Aufforderung an die Lebenden des Todes zu gedenken. Unter Weglassung des Bezugswortes erscheint der Imperativ ›Memento‹ allerdings als eine unspezifische Erinnerungsaufforderung. Genau dieses krankhaft bedingte Unbestimmtheitsgefühl charakterisiert das Leben des Protagonisten zutreffend. Unfähig sein gegenwärtiges Erleben über die Dauer weniger Minuten zu erinnern, hat Leonard sich ein ›System‹ (vgl. 0:06,14–52; 0:09,56– 0:10,46; 0:11,59–13,50) zurechtgelegt, um sein Leben sowie seine Recherchen nach dem Mörder seiner Frau zu organisieren. Er notiert alle wichtigen Informationen – respektive ›Fakten‹ – nicht auf Zetteln, die verloren gehen können, sondern nutzt Tattoos auf seinem Körper (vgl. Abb. 7).22 Außerdem führt er stets eine Polaroid-Kamera mit sich, um Fotos machen zu können, die er dann beschriftet. Im Anschluss ordnet er die Fotos auf einem von ihm angefertigten Poster (vgl. Abb. 8) und stellt auf diese Weise seine Beziehung zu den wichtigsten Menschen und Dingen in seinem aktuellen Leben nach dem Tod seiner Frau dar (vgl. 0:12,03–21). Seinen Vorsatz, den Mörder seiner Frau zu suchen und zu töten, hat er ebenso notiert,
21 Memento mori ist überdies der Titel einer Kurzgeschichte von Christopher Nolans Bruder Jonathan, deren Handlung Christopher Nolan zu seinem Film inspiriert hat. Der Text findet sich in den »Special Features« der Zusatz-DVD im Untermenü »Erinnerungen«. 22 Das Motiv der Einschreibung von Merksätzen auf dem Köper erinnert an Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1919), wo dem Verurteilten sein Vergehen auf brutale Weise tödlich in den Körpern eingeritzt wird. In Klaus Hoffers Strafkolonie-Paraphrase Der Niedergang einer Zunft (2001) hat das Motiv eine Übertragung auf die kalligraphische Tätowierkunst erfahren. Vgl. Klaus Hoffer: Der Niedergang einer Zunft. In: manuskripte 41 (2001) H. 154. S. 67–74. Bernd Kiefer hat ausgehend von Leonards tätowiertem Körper im Sinne einer filmischen Referenz auf Martin Scorseses Remake CAPE FEAR (USA 1991; dt. KAP DER ANGST) verwiesen. Vgl. Bernd Kiefer: Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen. Überlegungen zur Unreliable Narration in Literatur und Film. In: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hrsg. von Fabienne Liptay u. Yvonne Wolf. München: etition text + kritik 2005. S. 72–88. S. 83.
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wie sein Auto, seine Wohnstätte, die Erinnerung, Filme für seine Kamera zu kaufen, oder Grundbedürfnisse, wie zu essen. Mitunter auch aus subjektiver Kameraperspektive gezeigt finden sich überdies in unterschiedlich professionellen Typografien die Tattoos: »SHE IS GONE«, »Time Still Passes«, »DON’T TRUST / YOUR WEAKNESS« sowie »MEMORY IS TREACHERY« (0:12,29–50). Abb. 7–8: Leonards externalisiertes Erinnerungssystem
Tätowierungen (0:15,08)
Mind-Mapping (0:12,05)
Zu Beginn des Films stellt Leonard seine Strategien im Gespräch mit seinem ›Bekannten‹ Teddy (Joe Pantaliano) sogar als überlegen heraus: Teddy: »Lenny, you can’t trust a man’s life to your little notes and pictures.« Leonard: »Why not?« Teddy: »Because your notes could be unreliable.«
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Leonard: »Memory’s unreliable.« Teddy: »Please!« Leonard: »No, no, no. Memory’s not perfect. It’s not even that good. Ask the police. Eyewitness testimony is unreliable. Cops don’t catch a killer by sitting around memory stuff. They collect facts. They make notes and they draw conclusions. Facts, not memories. That’s how you investigate. I know, it’s what I used to do. Look, memory can change the shape of a room, it can change the colour of a car. And memories can be distorted. They’re irrelevant if you have the facts.« (0:22,54– 0:23,28)
Leonard Shelby wird überdies als unglücklich liebender Protagonist charakterisiert, der unter dem gewaltsamen Tod seiner Frau leidet und ihr in gleichermaßen gefühlvollen wie schmerzlichen Erinnerungen nachhängt: Natalie: »[…] Close your eyes and remember her.« Leonard: »You can just feel the details. The bits and pieces you ever bothered to put into words. And you feel these extreme moments … even if you don’t want to. You put these together and you get the feel of a person. Enough to know how much you miss them. And how much we hate the person who took them away.« (0:19,05–0:20,03)
Durch die überwiegend interne Fokalisierung der Geschichte aus Leonards Wahrnehmungsperspektive wird dem Zuschauer ein Identifikationsangebot präsentiert. Atmosphärisch trägt auch der leitmotivisch in stimmungsvollen Erinnerungssequenzen eingesetzte, melancholische Score David Julyans zur Immersion bei (vgl. 0:34,15–0:37,57). Wenngleich Leonards Vorsatz zu seiner Rachetat rechtswidrig und verwerflich ist, lässt er im positiven Sinne doch das Maß seiner Liebe und seines Verlustes erahnen. Durch Verbrennen der Erinnerungsstücke an seine Frau hat Leonard bereits vergeblich versucht, sie zu vergessen. Wissend – »I can’t remember to forget you.« (0:54,8–11) – gelingt es ihm jedoch nicht, sein traumatisches Verlusterlebnis zu verdrängen (vgl. 0:52,20– 54,25). Das Letzte, woran er sich erinnern kann, bleibt unabdingbar der Moment ihres Sterbens. Seinen Erinnerungen zufolge, die in Flashbacks aus der ›Egoperspektive‹23 präsentiert werden, war es ein grausamer Ersti-
23 ›Egoperspektive‹ ebenso wie ›Ich-Perspektive‹ und die englischen Synonyme first-person view oder first-person perspective sind Termini, die im Kontext von Computerspielen geprägt worden sind. Sie bezeichnen eine Kameraperspektive,
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ckungstod (vgl. 1:19,37–50). Von dem Amnesie auslösenden Schlag auf den Hinterkopf getroffen hat er – entsprechend seiner Darstellung – bewegungsunfähig am Boden liegend, seine Frau sterben gesehen (1:15,35– 1:16,44). Leonard, der in der ersten Sequenz des Films als Mörder in Erscheinung tritt, hat daher – ganz im Gegensatz zu dem, was in Anbetracht seines Verbrechens zu erwarten wäre – die Sympathien der Zuschauer auf seiner Seite. Aufgrund Leonards anterograder Amnesie wird allerdings immer wieder deutlich, wie schwer er es hat, sich im Leben zu orientieren. Der Portier des Motels, in dem er wohnt, nutzt seine Gedächtnisschwäche, um ihm zwei Zimmer gleichzeitig zu vermieten (vgl. 0:24,10–0:25,30). Während einer lebensgefährlichen Verfolgungsjagd vergisst er skurrilerweise, wovor er eigentlich flieht, ob er Verfolgter oder Verfolger ist (vgl. 0:47,32– 0:48,06). Natalie (Carrie-Anne Moss) verhöhnt gar offen seine »freaky tattoos«, von denen seine Orientierung im Leben abhänge.24 Insgesamt werden Leonards Unzulänglichkeiten zunehmend deutlicher. Er wird von Natalie wie von Teddy in illegalen Drogengeschäften für ihre Zwecke missbraucht. Zudem versagt sein externalisiertes Erinnerungssystem, sobald er keinen Stift zur Hand hat oder ein Foto abhanden kommt.
die scheinbar aus den Augen einer Spielfigur präsentiert wird und auf diese Weise ein hohes immersives Potential ermöglicht. In der Filmwissenschaft ist der Terminus der ›subjektiven Kamera‹ zur Beschreibung der Übernahme einer Figurensichtweise, die auch als Point-of-View-Shot bezeichnet wird, gebräuchlich. Vgl. Werner Faulstich: Grundkurs Filmanalyse. München: Fink 2002 (= UTB 2341). S. 120. Vgl. James Monaco: Film und neue Medien. Lexikon der Fachbegriffe. Deutsche Fassung von Hans-Michael Bock. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003 [1999]. S. 157. 24 Der entsprechende Dialog lautet folgendermaßen: Leonard: »So, you have information for me?« Natalie: »Is that what your little note says?« Leonard: »Yeah.« Natalie: »Must be tough living your life according to a couple of scraps of paper. You mix your laundry list with your grocery list, and you’ll end up eating your underwear for breakfast. That’s why you have those freaky tattoos?« (0:17,25–40)
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Sein ›System‹ funktioniert somit nicht als zuverlässiges Gedächtnisäquivalent.25 Aufgrund der anterograden Amnesie ist sich Leonard der Gegenwart stets nur für einige Minuten bewusst. Längere Zeitabschnitte und kompliziertere Begründungszusammenhänge kann er sich hingegen nicht merken. Ebenso wie die chronologisch rückwärtsgewandte episodische Filmhandlung voraussetzungslos und ohne Vorwissen beginnt, muss Leonard sich stets erneut ohne Erinnerung an die jüngere und jüngste Vergangenheit orientieren. Auf diese Weise ermöglicht der Film einen konsequenten Nachvollzug des Erlebens des Protagonisten, eröffnet analoges (Mit-)Erleben und präsentiert somit rezeptionsästhetisch ein hohes immersives Potential im Sinne Marie-Laure Ryans.26 So sehr MEMENTO indes aus Leonards Wahrnehmungsperspektive erzählt ist und so sehr Empathie, Mitgefühl und Sympathie für den Protagonisten geschürt werden, so wenig bleiben diese positiven Emotionen ungebrochen. Denn die sukzessive Enthüllung der Vergangenheit liefert dem Kinozuschauer schließlich ein Korrektiv für die Bewertung von Leonards Verhalten. Der Zuschauer wird durch die kontinuierliche aufbauende Rückwendung in die Lage versetzt, wozu Leonard unfähig ist, nämlich Leonards Selbstbild kritisch zu überprüfen. Erweckt der Film im ersten Teil trotz der verkehrten Chronologie einen relativ überschaubaren Eindruck, so komplizieren sich die Handlungen im zweiten Teil zusehends.
25 Natalie provoziert Leonard in einer Auseinandersetzung bewusst und gesteht ihm offen, ihn zu benutzen. Bevor sie ihn jedoch so sehr provoziert, dass er sie schlägt, hat sie – wohlwissend um sein Erinnerungsdefizit – alle Stifte zusammengepackt, um ihm bis zu ihrer Rückkehr keine Möglichkeit zum Notieren des Erlebten und damit zur Wissenssicherung einzuräumen (vgl. 1:10,34–1:14,16). 26 Marie-Laure Ryans Ausführungen zu Immersion sind zwar auf fiktionale Literatur bezogen, können aber ebenso auf Filmerzählungen übertragen werden: »Once we become immersed in a fiction, the characters become real for us, and the world they live in momentarily takes the place of the actual world. The pseudoreality that characters have for the reader of fiction is demonstrated by the natural tendency to empathize with them.« (Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington: Indiana Univ. Press 1991. S. 21.)
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S TRUKTUR DER F ILMERZÄHLUNG – VIER H ANDLUNGSEBENEN EINER G ESCHICHTE ? Ekkehard Knörer hat in seiner Rezension des Films die Handlungsstruktur von MEMENTO folgendermaßen charakterisiert und kritisiert: Als etwas überflüssig erweisen sich, konsequent betrachtet, zwei narrative Gegenbewegungen in Memento. Zum einen erzählt der Film Lennys Geschichte von einem bestimmten Punkt an – aber immer wieder zwischen die »Rückblenden« geschnitten – (schwarz-weiß des Kontrastes wegen) konventionell vorwärts auf die Rückblendenzeit zu, bis die beiden Stränge zusammenstoßen. Und zum anderen gibt es einen Zweitplot, eine Verdopplung und Variation des Motivs des Gedächtnisverlusts in einer etwas sentimentalen Vor-Vorgeschichte aus Lennys Leben als Gutachter für eine Versicherungsgesellschaft. Dadurch wird dem Hauptplot nichts Entscheidendes hinzugefügt, es geht in gewisser Weise nur um die Verdeutlichung, und dadurch auch: Verwässerung, des Gedächtnisverlust-Dilemmas.27
Knörer hat in seiner Filmkritik zwar zwei Erzählstränge als »narrative Gegenbewegungen« auf der zeitlichen Ebene zutreffend beschrieben. Doch es handelt sich hierbei weder um eine redundante »Variation des Motivs des Gedächtnisverlusts«, noch wird dem »Hauptplot« durch die in schwarzweiß erzählte Geschichte »nichts Entscheidendes hinzugefügt«. Stattdessen stehen die Erzählebenen in einer fundamental bedeutsamen Relation zueinander, und es sind vier diegetische Ebenen zu differenzieren. Filmtechnisch ist der Unterschied zwischen den in Farbe und in schwarz-weiß gehaltenen Filmsequenzen offensichtlich. Die SchwarzWeiß-Sequenzen sind auf der Tonspur oftmals unterlegt mit Leonards Voice-over und Julyans atmosphärisch kühlem Synthesizer-Score: Leonards Voice-over: »So where are you? You are in some motel room. You just … you just wake up and you’re in … in a motel room. There’s the key. It feels like maybe it’s just the first time you’re been here, but perhaps you’ve been there for a week, three months. That’s kind of hard to say. I … I don’t know. It’s just an anonymous room.« (0:02,36–58)
27 Ekkehard Knörer: Memento. Regie: Christopher Nolan USA 2000. Eine Kritik von Eckehard Knörer (28. Okt. 2002). http://www.jump-cut.de/filmkritikmemento.html (25. Jan. 2012).
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In zögerlich erkundendem Tonfall reflektiert Leonard seine Situation und versucht sich – beispielsweise nach dem Aufwachen –, in der ihm wieder fremd gewordenen Motelumgebung zu orientieren. Der internen Fokalisierung Leonards auf der Tonspur stehen auf der Bildspur visuell kühle, betont sachlich gehaltene und beinahe dokumentarisch anmutende Eindrücke entgegen. Durch langsame Kamerafahrten und eine relativ niedrige Schnittfrequenz muten die Sequenzen gleichermaßen neutral-distanziert wie explorativ an und erinnern aufgrund mitunter extremer und statischer Aufsichten an die Bildästhetik von Überwachungskameras. Sowohl die Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen wie die Farbfilmsequenzen werden episodisch entwickelt.28 In alternierender Reihenfolge ist das chronologisch regulär erzählte, vorwärts gerichtete Geschehen in schwarz-weiß gehaltenen Filmbildern zwischen die chronologisch rückwärtsgewandte Filmerzählung in Farbe montiert. Indem die Anschlüsse jeweils wiederholt und in sogenannten Loops gedoppelt werden, ist eine Orientierung in der zeitlichen Reihenfolge eindeutig möglich. Die Tatsache, dass beide Handlungsstränge aufeinander zulaufen, ist – im wörtlich zu verstehenden Sinne – an Leonards Tattoos ablesbar. Das in der weiter zurückliegenden Vergangenheit angesiedelte Geschehen wird filmisch konventionell in SchwarzWeiß-Bildern erzählt. Der Mord an J. G., den Leonard in Natalies Freund Jimmy Grants entdeckt haben will, markiert schließlich das Zusammenlaufen beider Handlungsstränge. Durch eine von Schwarz-Weiß in Farbe übergehende Einstellung, welche die Entwicklung des Beweisfotos zeigt, wird das zeitliche Zusammentreffen der Handlungsebenen hervorgehoben (vgl. 1:35, 21–54). Im Anschluss zeichnen sich eine drastische Umdeutung des Geschehens und eine grundlegende Neubewertung des Protagonisten ab.29 Schien die
28 Dieser Einsatz von Farb- und Schwarz-Weiß-Filmerzählungen wird filmtechnisch gängig zur Abgrenzung unterschiedlicher Erzählebenen oder auch verschiedener Fokalisierungstypen genutzt – seien es null-fokalisierte Rückblenden oder Phantasien einer Figur. Verwiesen sei exemplarisch auf A GUN, A CAR, A BLONDE (USA 1997; dt.: CONFIDENTIAL; Regie: Stefani Ames), bei dem es am Ende ebenfalls zu einer kurzzeitigen Zusammenführung beider diegetischer Ebenen kommt. 29 In diesem Kontext erscheint auch Natalies Verhalten, die durch Leonard ihren Freund Jimmy verloren hat, in einem neuen Licht. Dass sie den Mörder ihres Lebensgefährten benutzt, um sich vor anderen Drogendealern zu schützen und
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Schwarz-Weiß-Handlung bis dato in traditioneller Manier die ältere Vorgeschichte von Leonards Suche nach dem Mörder seiner Frau zu dokumentieren, wohingegen die in Farbe gehaltene Erzählung sukzessive die jüngere Vergangenheit des Mordes an Teddy aufzudecken schien, so überrascht der zweite Mord beim Zusammentreffen beider Geschichten. Leonards bis dahin idealisierte Suche nach dem Mörder seiner Frau verliert durch die Wiederholung der Tat ihre moralische Legitimation, und Leonard erscheint als düpierter Serientäter. Strukturell wird die Filmerzählung schließlich durch den Mord an Jimmy Grants gegliedert. Dieser Mord, der – im Gegensatz zur Ermordung Teddys aus dem Vorspann – am Filmende steht, markiert die Mitte des Geschehens in seiner nachträglich zu rekonstruierenden chronologischen Struktur. Überdies legt Teddy sogar kurz nach Leonards Mord an Jimmy dar, dass Leonard den tatsächlichen Vergewaltiger seiner Frau schon früher – vor Einsetzen des filmisch dargestellten Geschehens – umgebracht hat. Im Hinblick auf die Reihenfolge der Präsentation des Geschehens im Kontext der filmischen Darbietung rahmt die Mordthematik hingegen die Filmhandlung, indem sie einleitend an deren Anfang steht sowie relativ spät an deren Ende erneut aufgenommen wird. Die narratorische Komplexität von MEMENTO ist aus rezeptionsästhetischer Perspektive immer wieder hervorgehoben worden. Bernd Kiefer etwa hat die These formuliert, dass MEMENTO die entscheidenden Merkmale des Film noir im instabilen Charakter des Protagonisten, der verschachtelten Rückblenden-Montage, des Einsatzes der Voiceover des Protagonisten und der Farb-Dramaturgie bis zur vollkommenen Verunsicherung des Zuschauers treibt.30
Andy Klein hat die Systematik der Verschachtelung beider Handlungsstränge detailliert dargelegt: Credits, 1, V, 2, U, 3, T, 4, S, 5, R, 6, Q … all the way to 20, C, 21, B, and, finally, a scene I’m going to call 22/A
Leonard auf Teddy ansetzt, von dem sie annimmt, dass er Geld unterschlagen hat, erscheint nun zum einen als Selbstschutz und zum anderen als Rache am Mörder ihres Freundes. 30 Kiefer: Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen. S. 82.
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und die »real-world chronology« theoretisch rekonstruiert: 1, 2, 3 ,4 ,5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22/A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V. 31
Eine differenzierte Analyse der diegetischen Ebenen oder eine erzähltheoretisch differenzierte Beschreibung und In-Beziehung-Setzung der einzelnen Handlungsstränge der Filmerzählung zueinander liegt indes bisher noch nicht vor32 und soll im Folgenden geleistet werden. Die Farbfilmsequenzen ebenso wie die Schwarz-Weiß-Filmepisoden sind nämlich nicht einsträngig linear angelegt, sondern integrieren jeweils diegetisch abhängige Erzähl- respektive Handlungsebenen.33
31 Andy Klein: Everything you wantet to know about »Memento«. A critic dissects the most complex – an controversial – film of the year (28. Juni 2001). In: Salon.com. http://dir.salon.com/story/ent/movies/feature/2001/06/28/memento_ analysis/print.html (25. Jan. 2012). Andy Kleins Systematik zufolge sind Schwarz-Weiß-Filmsequenzen nummeriert und die Farbfilmsequenzen alphabetisch benannt. Das Prinzip entspricht jedoch dem dargelegten Schema. 32 Indra Runge hat in ihrer Filmanalyse der chronologischen Inversion in MEMENTO eine »Analyse der Form« vorgenommen, ohne allerdings die Farb- und Schwarz-Weiß-Filmhandlungen an sich nochmals systematisch zu differenzieren. Vgl. Indra Runge: Zeit im Rückwärtsschritt. Über das Stilmittel der chronologischen Inversion in Memento, Irréversible und 5 x 2. Stuttgart: Ibidem 2008 (= Film- und Medienwissenschaft 2). S. 45–58. 33 Im Rahmen des erzähltheoretischen Ansatzes von Gérard Genette wird die Rahmenhandlung, bei der es sich um die hierarchisch allen anderen Erzählebenen übergeordnete Ebene handelt, als ›extradiegetisch‹ bezeichnet. Diegetisch von dieser erzählten Welt oder dieser filmischen Diegese abhängige (Binnen-)Geschichten werden auf erster Stufe als ›intradiegetisch‹, auf zweiter Stufe als ›metadiegetisch‹ auf dritter als ›metametadiegetisch‹ etc. bezeichnet. Vgl. Genette: Die Erzählung. S. 162–167 u. S. 249–256. Im Gegensatz zu dieser Begriffsbestimmung besteht filmnarratologisch allerdings grundsätzlich auch die Möglichkeit, das extradiegetische Erzählen – und damit das ›Erzählt-werden‹ der Filmgeschichte – auf der Ebene der filmtechnischen und materialästhetischen Präsentation anzusiedeln und etwa auf die Montage oder auf nicht-diegetische Musik zu beziehen. In diesem Falle wären die diegetisch übergeordneten Farb- und Schwarz-Weiß-Filmerzählungen als intradiegetisch und die von diesen abhängigen Binnenerzählungen als metadiegetisch zu klassifizieren. In diesem Argumentationskontext werden die Bezeichnungen der diegetischen Ebenen indes nur auf die dargestellten Diegesen angewandt und nicht auf die filmischen Darstellungsweisen des ›Erzählt-Werdens‹.
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Abb. 9–10: (1) Farbfilmerzählung
(a) Leonards Gespräch mit Teddy (0:23,09)
(b) intradiegetische Erinnerung Leonards an Überfall (1:16,32)
So wird in den (1) Farbfilmsequenzen zwar überwiegend (a) Leonards Suche nach dem Mörder seiner Frau in Form der episodischen Rückwärtserzählung beschrieben (vgl. Abb. 9). Darüber hinaus enthalten diese farbigen Sequenzen jedoch auch (b) auf einer intradiegetischen Erzählebene intern fokalisierte Flashbacks, die noch über Leonards Vergangenheit der in schwarz-weiß bebilderten Erzählgegenwart zurückreichen. Es handelt sich um Leonards Erinnerungen an seine Frau – seien es Vergegenwärtigungen des Alltags mit ihr, seien es Bilder des Verbrechens oder auch ihres Todes (vgl. Abb. 10).34
34 Da eine durchgängige subjektive Kameraperspektive nicht den filmischen Erzählkonventionen entspricht, sondern eher als artifiziell wahrgenommen wird,
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Abb. 11–12: (2) SW-Filmerzählung
(c) Leonard telefonierend im Hotel (0:55,11)
(d) intradiegetische Erzählung über Sammy Jankis (0:26,34)
Auch die Erzählgegenwart der (2) Schwarz-Weiß-Filmepisoden, die von (c) Leonards Hotel-Aufenthalt, seinen Selbstgesprächen und Telefonaten sowie seinem Nachdenken über den Mörder dominiert sind (vgl. Abb. 11), integrieren auf einer diegetisch abhängigen Erzähl- oder auch Erinnerungsebene die für Leonard sehr präsente und von ihm wiederholt vorgetragene (d) Geschichte von Sammy Jankis (vgl. Abb. 12). Zeitlich könnte es sich dabei um einen ähnlichen Lebensabschnitt handeln, wie den, aus dem Leonards Erinnerung an den Alltag mit seiner Frau stammen. Aufgrund der
ist es im Rahmen der interne Fokalisierung Leonards durchaus möglich, dass Leonard selbst im Bild erscheint.
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Schwarz-Weiß-Filmästhetik wirken diese Erinnerungssequenzen allerdings zeitlich entrückter und emotional distanzierter. Die inhaltliche Komplexität der Geschichte von MEMENTO resultiert nun – ganz im Gegensatz zu Knörers These – gerade aus der Schwierigkeit, diese disparaten Erzählstränge miteinander in Beziehung zu setzen. Die Tätowierung »remember Sammy Jankis« (vgl. 1:10,54–11,00) auf Leonards linkem Handrücken, die Leonard – im Gegensatz zu den anderen Tätowierungen an seinem Körper – immer sehen kann und die auch dem Kinozuschauer bereits eingangs präsentiert wird, steht offenbar für die grundlegende Erinnerungsaufforderung des Films: ›Erinnere dich!‹, ›Memento!‹ Der Fall von Sammy Jankis ist die Geschichte, die Leonard allen Menschen in seiner Umgebung wiederholt erzählt. Diesen Erzählungen zufolge war Sammy Jankis zur Zeit, als Leonard noch als Agent für ein Versicherungsunternehmen gearbeitet hat, in einer ähnlichen Situation wie Leonard in der Erzählgegenwart. So berichtet Leonards Voice-over, dass Sammy Jankis in der Folge eines Autounfalls an einem Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses gelitten habe (vgl. 0:25,28–0:26,17): Leonards Voice-over: »The crazy part was that this guy who couldn’t even follow the plot of Green Acres anymore could do most complicated things. As long as he learned them before the accident. And as long as he kept his mind on what he is doing.« – Sammy wird gezeigt, wie er seiner Frau eine Insulinspritze gibt – Sammys Frau: »Be gentle.« Leonards Voice-over: »Now the doctors assure me that there’s a real condition called Arterial-Grade Memory Loss or Short-term Memory Loss, it’s rare but legit. […]« (0:26,18–40)]
Als Gutachter einer Versicherung hat Leonard Sammy medizinisch intensiv untersuchen und kritisch testen lassen. In einem abschließenden Urteil sei Sammy schließlich das Vermögen zugesprochen worden, zwar nicht durch Erinnerung, aber durch Instinkt lernen zu können (vgl. 0:30,34–0:32,13). Da Sammy in dieser Hinsicht indes keine Fortschritte gemacht habe und Konditionierungsprozesse bei ihm nicht erfolgreich gewesen seien, ist Leonard – wie er weiterhin dem imaginären Gesprächspartner am Telefon berichtet – zur Schlussfolgerung gekommen, dass seine Krankheit psychologisch und nicht physiologisch motiviert sei. Auf diese Weise seien die finanziellen Ansprüche an die Versicherung abgewehrt worden (vgl. 0:37,58–0:38,43).
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Sammys Frau habe sich allerdings, so Leonard, mit dieser Situation emotional nicht abfinden können (vgl. 0:43,21–0:44,18 u. 0:47,04–32) und ihn nach seiner aufrichtigen, menschlichen Meinung gefragt (vgl. 1:00,17– 1:02,25). Nachdem Leonard ihr unbedacht Hoffnung auf eine mögliche Gesundung ihres Mannes gemacht hat, habe sie – wiederum Leonard zufolge – Sammy, dessen Liebe sie sich sicher war, getestet. Bei mehrfachem heimlichen Zurückstellen der Zeiger ihrer Armbanduhr habe sie ihn wiederholt aufgefordert, ihr die jeweils zu dieser Zeit notwendige Insulinspritze zu geben. Indem Sammy dies ohne Bewusstsein der Wiederholung seiner Handlung getan habe, sei seine Frau an einem Zuckerschock gestorben, und Sammy lebe fortan in einem Heim (vgl. 1:23,10–1:26,03). Diese intern fokalisierte Erzählung Leonard Shelbys ist jedoch im Fortgang der Filmerzählung kritisch zu beurteilen. Ein erster, wenngleich noch versteckter und nur für einen Sekundenbruchteil sichtbarer Hinweis findet sich, wenn Leonard von Sammys Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik erzählt und diese Erzählung visuell illustriert wird (vgl. 1:26,04–31). So ist anfangs Sammy in der Klinikumgebung auf einem Stuhl sitzend und das Geschehen um ihn herum betrachtend zu sehen (vgl. Abb. 13). Nachdem durch eine im Vordergrund vorübergehende Figur die Sicht kurzfristig versperrt ist, wird im Anschluss für einen Sekundenbruchteil Leonard an seiner Stelle sitzend erkennbar (vgl. Abb. 14). Sammy erscheint somit, wie auch Bernd Kiefer herausgestellt hat, als »Shelbys Alter Ego«.35 Es handelt sich indes wohl nicht eindeutig um ein unbewusstes und »unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Auges« liegendes »Subliminalbild«,36 da die Vertauschung der Figurenidentität von aufmerksamen Zuschauern durchaus bewusst zu registrieren ist. Auf diese Weise wird ein Misstrauen an Leonards Erzählungen, Erinnerungen und sogenannten ›Fakten‹ erzeugt.37
35 Kiefer: Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen. S. 85. 36 Kiefer: Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen. S. 85. 37 Kiefer hat in diesem Zusammenhang herausgestellt: »Allerdings produzieren das externalisierte [fotografische] und das am Körper eingeschriebene Gedächtnis nur noch ›den Effekt von ›Subjektivität‹ […], da beide nicht das leisten können, was das funktionierende Gedächtnis leisten würde: aus heterogenen Einzelmerkmalen ein in sich kohärentes Bild zu entwerfen und für eine gewisse Dauer zu stellen. Shelbys Gedächtnis-Stützen sind ›Subjektivitäts-Prothesen‹, mit deren Hilfe die Orientierung in der höchst komplexen Realität auch höchst
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Abb. 13–14: Klinikaufenthalt
Sammys Klinikaufenthalt (1:26,28)
Lennys Klinikaufenthalt (1:26,29)
Nachträglich sind zudem weitere Hinweise zu rekonstruieren, die darauf hindeuten, dass bei Lenny – wie er von seiner Frau genannt worden ist – und Sammy nicht allein eine phonetische Ähnlichkeit der Kosenamen vorliegt, sondern dass sich hinter beiden Namen Leonards Identität verbirgt und Sammy nur als Projektionsfigur fungiert. So findet sich bereits vor der Erzählung über den Klinikaufenthalt eine kurze Einstellung der Insulinspritze in Leonards Hand (vgl. 1:18,08–20) als Erinnerungsreflex, der jedoch in die Farbfilmsequenzen montiert ist. Der Logik von Leonards Er-
hypothetisch wird.« (Kiefer: Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen. S. 81.)
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zählungen folgend müsste dieses Motiv aber eigentlich zu Sammys Geschichte gehören. Der zwielichtige Polizist Teddy liefert allerdings einleuchtende Erklärungen zum Zusammenhang von Leonards und Sammys Geschichten, als Leonard ihn nach seinem Mord an Jimmy Grants zur Rede stellt und ihm vorwirft, von ihm benutzt worden zu sein: Teddy:
»You tell everybody about Sammy. Everybody who will listen. ›Remember Sammy Jankis? Remember Sammy Jankis?‹ Great story, it gets better every time you tell it. So you lie to yourself to be happy. There’s nothing wrong with that. We all do it. Who cares if there’s a few little details you’d rather not remember?« […] Teddy: »Sammy didn’t have a wife. – It was your wife who had diabetes.« – Leonards Erinnerungsreflex an seine erstickende Frau sowie eine Insulinspritze, die er ihr gibt: »Ouch.« – Leonard: »My wife wasn’t diabetic.« Teddy: »You sure?« – Leonards Erinnerungsreflex an seine Frau, die er zwickt und die darauf sagt: »Ouch. Cut it out!« – Leonard: »She wasn’t diabetic. You think I don’t know my own wife? What the fuck is wrong with you?« Teddy: »Well, I guess I can only make you remember the things you want to be true. Like Jimmy down there.« […] Teddy: »Look, Lenny. I was the cop assigned to your wife’s case. I believed you. I thought you deserved a chance for revenge. I’m the one who helped you find the other guy in your bathroom that night. The guy that cracked your skull and fucked your wife. We found him. You killed him. But you didn’t remember. So I helped you start looking again. Looking for the guy you already killed.« […] Teddy: »[…]. You don’t want the truth! You make up your own truth! Like your police file. It was complete when I gave it to you. Who took the twelve pages?« […] Leonard: »Why should I do that?« Teddy: »Create a puzzle you could never solve. Do you know how many … how many towns, how many John G.’s or James G.’s? Shit Lenny, I’m a fucking John G.« Leonard: »Your name is Teddy.« Teddy: »My mother calls me Teddy. My name is John Edward Gammel.« (1:38,21–1:42,05)
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Teddys Aussagen zufolge, die von Leonards Erinnerungsreflexen gestützt werden, hat Leonards Frau den Überfall der in die eheliche Wohnung eingebrochenen Junkies und die Vergewaltigung durchaus überlebt. Gestorben ist sie stattdessen – ebenso wie Leonard es von Sammys Frau beschrieben hat – an einer Überdosis Insulin. Wenn Sammy tatsächlich, wie Teddy angibt, ein Versicherungsbetrüger war und überhaupt keine Frau gehabt hat, so muss es Leonard gewesen sein, der seine Frau unwissentlich umgebracht hat. Aus dieser Perspektive würden auch seine Erinnerungen an die Insulinspritze im Rahmen der Filmerzählung logisch erklärbar. Abb. 15–16: Mögliche Todesmomente
Leonards einschlafende oder aber sterbende Frau (0:19,57)
Blut-Einstellung (0:02,17)
Zudem wäre Leonards Erinnerung an ein Aufwachen seiner Frau, das in vollkommener Regungslosigkeit zu enden scheint, als ihr eigentlicher Todesmoment verstehbar (vgl. Abb. 15). Auf diese Weise würde gar eine ma-
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kaber-komische Ironie entfaltet, da Leonards Voice-over zu den Bildern des mutmaßlichen Todesmoments gerade von seinem Hass auf die Person spricht, die ihm seine Frau genommen hat (vgl. 0:19,50–0:20,02). Sein Hass müsste sich vermutlich gegen sich selbst richten. Der kinematographische Code des Films stützt diese Interpretation durch eine analoge Bildästhetik. Sowohl Leonards im Bett liegende Frau als auch Teddys Todesmoment (vgl. Abb. 16) werden in ›gedrehten‹ Einstellungen gezeigt: So ist die Einstellung von Leonards Frau um 90° gegen den Uhrzeigersinn gedreht, und auch im Vorspann liegt eine durch Drehung auffällig verfremdete Einstellung vor, wenn das vermutlich die Wand hinunterfließende Blut um 180° verkehrt – aus Teddys Wahrnehmungsperspektive jedoch stringent erklärbar – den Bildraum hinaufzufließen scheint (vgl. 0:02,17–19). Diese Interpretation der Filmerzählung basiert auf der grundsätzlichen Annahme, dass nicht allen Handlungsebenen derselbe Grad an Vertrauenswürdigkeit zukommt. Wenn Leonard sich – wie Teddy ihm vorwirft – seine eigenen Wahrheiten und Geschichten erfindet, um glücklich zu sein, sich nur erinnert, woran er sich erinnern will und sogar die Polizeiakte manipuliert hat, um sich vor ein beinahe unlösbares Rätsel zu stellen, so verdiente er eigentlich nicht länger Mitgefühl und Sympathie. Da er sein Verhalten indes immer wieder vergisst und, wie Teddy ihm zu Recht vorhält, nicht weiß, wer er ist, sondern nur wer er war (vgl. 1:04,55–1:05,41), erscheint selbst sein moralisch verwerfliches oder düpiertes Verhalten bis zu einem gewissen Grad entschuldbar. Auf diese Weise fällt es aus rezeptionsästhetischer Perspektive auch nicht leicht, ihn als Sympathieträger gänzlich aufzugeben. Zwar sind Leonards intradiegetische Erinnerungen an Sammys Geschichte – trotz der dokumentarischen Schwarz-Weiß-Filmästhetik – als subjektiv verzerrte Sichtweise interpretierbar. Die übrigen Erzählebenen sind von diesem Verlust an Glaubwürdigkeit aber kaum tangiert und können – obwohl sie aus der Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten fokalisiert sind – vorerst weiterhin als objektiv und vertrauenswürdig verstanden werden. Die notwendige Neubewertung von Leonards Verhalten ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Zwar sind Teddys Erklärungen plausibel und werden vom kinematographischen Code gestützt. Doch Teddy ist selbst ein verdächtiger Cop, der in Drogengeschäften nicht immer polizeilich korrekt ermittelt, sondern überdies mit korrupten Mitteln versucht, seinen finanziel-
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len Vorteil herauszuschlagen. Aus diesem Grund kommt seinen Aussagen kein hierarchisch herausgehobener (Wahrheits-)Wert zu. In dem Moment jedoch, in dem Leonard seinen Selbstbetrug als ein mörderisches Spiel offenlegt, wird der letzte Zweifel an seiner Unschuld ausgeräumt: Leonard: »You think I just want another puzzle to solve? Another John G. to look for? You’re a John G. So you can be my John G. Do I lie to myself to be happy? In your case Teddy, yes, I will.« (1:43,40-1:44,13)
Beim Notieren von Teddys Nummernschild gesteht Leonard sich ein, das Rätsel um den vermeintlichen Mörder zu erfinden, um glücklich zu sein. In diesem Moment ist er sich seines Selbstbetrugs voll bewusst. Egal wie eingeschränkt Leonards Kurzzeitgedächtnis ist und unabhängig davon, dass er unter anterograder Amnesie leidet, kann sein Verhalten somit offensichtlich nicht als unzurechnungsfähig beurteilt werden. Leonard wird vielmehr bewusst zum Mörder. Die Tatsache, dass er sich als Opfer zudem denjenigen heraussucht, der ihm geholfen hat, den Vergewaltiger seiner Frau zu finden, lässt sein Verhalten moralisch fragwürdig erscheinen.
»Y OU MAKE UP YOUR OWN TRUTH !« – M ULTIPERSPEKTIVITÄT , I RRITATIONEN , ERZÄHLERISCHE U NZUVERLÄSSIGKEIT Die erzählerische Unzuverlässigkeit ist allerdings nicht auf die diegetisch abhängigen Geschehensebenen beschränkt, sondern auch im Rahmen der übergeordneten Farbfilmerzählungen festzustellen. Dementsprechend ist terminologisch exakter von einem mimetisch unentscheidbaren Erzählen38 zu sprechen.
38 Die Kategorien des (a) theoretisch unzuverlässigen und (b) mimetisch unzuverlässigen Erzählens sowie dem (c) mimetisch unentscheidbaren Erzählen gehen auf die Typologie von Matías Martínez und Michael Scheffel zurück, die Bezug auf Félix Matínez Bonatis Differenzierung zwischen theoretischen und mimetischen Sätzen nehmen, wie er es in Fictive Discourse and the Structure of Literature (1981) erläutert hat: Matías Martínez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie [1999]. 2., durchges. Aufl. München: Beck 2000. S. 95–107 (Kap. »5. Unzuverlässiges Erzählen«) u. S. 165.
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Abb. 17–22: Nummernschildversionen
Leonards Tätowierung »SG1371U« (0:14,19) versus Kfz-Kennzeichen in Teddys Führerschein »SG13 7IU« (0:14,23)
zwei Nummernschilder »SG137IU« (1:42,37) und »SG13 7IU« (1:44,00)
zwei handschriftliche Notizen »SG I3 7IU« (1:44,02 u. 1:45,57)
So liegen im Hinblick auf das Nummernschild von Teddys Wagen Widersprüche auf den Ebenen der Bild- und Tonspur der Farbfilmerzählungen vor. Wenn Leonard sich Teddys Nummernschild als einen Baustein für sein mörderisches Puzzle auf der fingierten Suche nach dem vermeintlichen Mörder seiner Frau handschriftlich festhält, so notiert er »SGI3 7IU« (vgl. 1:44,02 | Abb. 21). Auf dem Notizzettel ist graphisch kein Unterschied zwischen dem Großbuchstaben ›I‹ und der Zahl ›1‹ auszumachen. Das im Gegenschuss gezeigte Nummernschild des Wagens lautet hingegen »SG13 7IU« (vgl. 1:44,00 | Abb. 20). Dies ist auch das Kfz-Kennzeichen, das in Teddys Führerschein eingetragen ist (vgl. 0:14,23 | Abb. 18). Die
Zu einer weiterführenden Differenzierung der Kategorien vgl. Stefanie Kreuzer: Literarische Phantastik in der Postmoderne. Klaus Hoffers Methoden der Verwirrung. Heidelberg: Winter 2007 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik 45). S. 58–67 (Kap. »2.3 Unzuverlässiges und unentscheidbares Erzählen«).
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Tätowierung, die Leonard sich nach seiner Notiz im Studio stechen lässt, enthält schließlich zweimal die Nummer eins, wobei der Abstand zwischen den Zahlen ›3‹ und ›7‹ getilgt ist: »SG1371U« (vgl. 0:14,19 | Abb. 17). Gleich in zwei Sequenzen – sowohl am Anfang wie am Ende des Films – liest Leonard sich dieses Tattoo laut vor, wobei er allerdings jeweils bei der zweiten, deutlich lesbaren ›Eins‹ stets den Buchstaben ›I‹ spricht.39 Die fehlerhafte Tradierung des Kfz-Kennzeichens – die im Übrigen auch aus dem Drehbuch hervorgeht40 – lässt Leonards System und seine Vorgehensweise gänzlich zweifelhaft und unzuverlässig erscheinen. Wenn Leonard zudem trotz des falsch notierten Kennzeichens dennoch den von ihm gesuchten Täter findet, muss sein Agieren gar absurd oder traumwandlerisch erscheinen. Es entsteht der Eindruck, dass Leonard nicht nur erinnert, was er erinnern will, sondern dass er darüber hinaus überhaupt nur wahrnimmt, was er auch wahrnehmen will. Beziehen sich die bisher herausgestellten Unstimmigkeiten alle direkt auf Leonards Figurenperspektive – sein Handeln, Sprechen und Wahrnehmen –, so potenziert sich die Problematik der filmischen Glaubwürdigkeit abermals durch die Beobachtung, dass selbst das Nummernschild von Teddys Wagen nicht durchgängig identisch ist. Wenn Leonard und Teddy nämlich das Motel in ihren Autos verlassen, ist Teddys Nummernschild deutlich im Bildvordergrund lesbar als »SG137IU« (vgl. 1:42,37 | Abb. 19), und zwar ohne dass Hinweise auf eine Egoperspektive Leonards existierten. Auf diese Weise liegen nun neben Leonards ambivalenter handschriftlicher Notiz – von der übrigens, ebenso wie von anderen Notizen, zwei Versionen existieren (vgl. 1:44,02 u. 1:45,57 | Abb. 21/22) – insgesamt drei verschiedene Nummernschild-Kombinationen vor: »SG13 7IU«, »SG1371U« und »SG137IU«. Mit dieser Beobachtung ist schließlich auch die bis dato als vertrauenswürdig verstandene Farbfilmerzählung als unzuverlässig zu klassifizieren. Ohne eine hierarchisch übergeordnete ›objektive‹ Erzählebene und ohne eine privilegierte Figurenperspektive bleibt die Struktur der erzählten Welt ungewiss.
39 Beim ersten Mal könnte dieser Fehler durch den Vergleich mit dem Kfz-Eintrag im Führerschein gerechtfertigt werden (vgl. 0:14,17–43). Beim zweiten Mal ist die Fehlleistung indes offenkundig (vgl. 1:27,21–32). 40 Vgl. die Original-Drehbuch-Seiten 15./21 und 33./50 f. und in den »Special Features« der Zusatz-DVD im Untermenü »Leonards Fotoalbum«.
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Diese Unstimmigkeiten sensibilisieren für weitere Irritationen, wie sie auch Johannes Duncker auf The Unofficial Christopher Nolan Website herausgestellt hat.41 Das Polaroid, welches Leonard von dem ermordeten Jimmy gemacht hat (vgl. 1:37,00 | Abb. 23), stimmt nicht mit der Haltung von Jimmys leblosem Körper auf dem Boden überein (vgl. 1:35,31 | Abb. 24). Abb. 23–24: Ansichten des ermordeten Jimmy
Farbfilmerzählung: Polaroid von Jimmys Leiche (1:37,00)
SW-Filmerzählung: Jimmys lebloser Körper (1:35,31)
Auf Teddys Führerschein ist deutlich lesbar der 29. Februar 2001 als Ablaufdatum eingetragen (vgl. 0:12,33). Dieses Datum existiert jedoch extrafiktional nicht, da 2001 kein Schaltjahr war.
41 Vgl. Johannes Duncker: The Unofficial Christopher Nolan Website / Movies / Memento (11. Nov. 2004). http://www.christophernolan.net/memento.php (25. Jan. 2012).
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Abb. 25: Logische Unmöglichkeit
unmögliches Ablaufdatum von Teddys Führerschein (0:12,33)
Außerdem ist Natalies Bierdeckelnotiz »Come by AFteR [afteR] / Natalie [Natalie]« (vgl. 1:20,29 u. 1:30,12 [vs. 1:29,09]) nicht immer dieselbe.42 Der Name von Leonards Motel variiert zwischen Natalies Notiz »MonteRest Inn«, Leonards auch im Untertitel verschriftlichten Lesart »Mount Crest Inn« (vgl. 0:48,14–19) sowie dem Motelschild »Mountcrest INN« (vgl. 0:48,26). Diese Beobachtungen und Folgerungen beziehen sich allerdings auf Aspekte des Films, die eine differenzierte Analyse voraussetzen, die auf wiederholter Sichtung und den Möglichkeiten digitaler Video- oder DVDTechniken basieren. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob es sich lediglich um Nachlässigkeiten und Fehler im Rahmen der Filmproduktion handelt oder ob diese Unstimmigkeiten intentional eingefügt und als Hinweise auf eine grundsätzliche erzählerische Unzuverlässigkeit funktionalisiert sind. Die Angemessenheit dieser Interpretation wird schließlich durch einen offensichtlichen logischen Bruch am Filmende deutlich. In drei kurz aufeinander folgenden Flashbacks – deren Dauer von Sekundenbruchteilen bis zu drei Sekunden reicht – erinnert Leonard eine Situation, in der er mit seiner Frau auf dem Bett liegt, derweil sie ihm über die tätowierte Brust streicht (vgl. Abb. 26). Zu erkennen ist zum einen die bekannte frühe und spiegelverkehrt geschriebene Tätowierung »JOHN G. RAPED AND MURDERD MY WIFE«. Zum anderen ist aber auch ein bisher noch nicht gesehenes Tattoo deutlich lesbar: »I’VE DONE IT« (vgl. 1:45,29/31 u. 1:45,33–35).
42 Auch in anderen Fällen wechselt ihre Handschrift (vgl. 0:12,32).
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Abb. 26: Logische Unmöglichkeit
Leonards logisch (un)möglicher Erinnerungsreflex (1:45,31)
Diesem vermeintlichen Erinnerungsreflex Leonards kommt bezogen auf die gesamte Filmhandlung eine zentrale Bedeutung zu. Es eröffnen sich drei mögliche Interpretationen: 1.) Die Tatsache, dass Leonards Frau lebendig ist, legt es nahe, dass es sich um einen logisch unmöglichen Erinnerungsreflex Leonards handelt, durch den seine unzuverlässige Sichtweise nochmals bestätigt würde. Im Rahmen dieser Interpretation würde das Ausmaß seiner Desorientierung eklatant deutlich, da nun selbst seine Erinnerungen an die Vergangenheit instabil geworden wären. 2.) Im Kontext einer grundlegenden erzählerischen Unzuverlässigkeit und einer fehlenden Hierarchisierung der einzelnen Erzählebenen sowie ihres jeweiligen Glaubwürdigkeitsstatus, könnte diesen Bildern – ebenso wie denen der Insulinspritze – jedoch auch geglaubt werden. Dies führte erneut zu einer grundsätzlichen Uminterpretation. So wäre Leonard als ein skrupelloser Mörder zu verstehen, von dem vermutet werden könnte, dass er weniger an Amnesie, sondern vielmehr an Schizophrenie und Wahnvorstellungen leidet und seinen Realitätsbezug weitgehend verloren hat. Dieser Interpretation zufolge wäre er wohl bereits zu Lebzeiten seiner Frau zum Mörder an ihrem Vergewaltiger geworden – oder aber es müsste sich bei der Frau, die bisher als seine Ehefrau angesehen worden ist, um eine andere Frau, etwa eine Geliebte, handeln. 3.) Weiterhin könnte Leonard auch als eine vollkommen widersprüchliche Fokalisierungsinstanz angesehen werden, die endgültig ein mimetisch unentscheidbares Erzählen etablierte und eine eindeutige Aussage über das tatsächliche Geschehen unmöglich werden ließe.
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Es zeigt sich schließlich, wie problematisch es ist, eine Bewertung des Filmgeschehens vorzunehmen, da dieses bereits logisch inkohärent präsentiert wird. Selbst auf den verschiedenen diegetischen Ebenen ist eine Unterscheidung zwischen subjektiv-verzerrter interner Fokalisierung Leonards und einer objektiv-glaubwürdigen Null-Fokalisierung nicht mehr durchgängig möglich. Obwohl die Relation der einzelnen Erzählebenen zueinander konsequent aufzulösen ist, bleibt die Frage nach deren Vertrauenswürdigkeit und Glaubhaftigkeit letztlich unentscheidbar. Die montierten Einstellungen am Ende des Films sind eingebettet in einen durch Voice-over gestalteten Inneren Monolog Leonards. Derweil er mit dem Auto durch die Stadt fährt und zwischendurch die Augen schließt, sinniert er über die Existenz der Welt außerhalb seiner Vorstellung. In Parallelmontage sind die Bildreflexe seiner Frau mit den Tattoos sowie kurze verwischte Bilder der am fahrenden Auto vorübergleitenden Stadtumgebung zu sehen: Leonards Voice-over: »I have to believe in a world outside my mind. I have to believe that my actions still have meaning. Even if I can’t remember them. I have to believe that when my eyes are closed the world’s still there. – [Flashback 1:45,29] Do I believe the world’s still there? [Flashback 1:45,31] Is it still out there? [Flashback 1:45,33–35] – Yeah! We all need memories to remind ourselves who we are. I’m not different. (1:45,09–55)
Dieser Schlussmonolog kann als eine metanarrative Reflexion verstanden werden, die für das Gesamtverständnis des Films relevant ist. Wenn Leonard sich zwingen muss, an eine Welt außerhalb seiner Gedanken zu glauben, so ließe sich das bisherige Geschehen an sich als seine Gedankenwelt oder zumindest vermischt mit dieser interpretieren. Wenn Leonard überdies, sobald er die Augen schließt, seine Frau sieht, so scheint er nur bedingt in der Welt zu leben, durch die er mit geschlossenen Augen das Auto steuert. Leonard, der wiederholt die Augen schließt, um sich eine intensivere Innensicht zu ermöglichen, bewegt sich quasi blind für die Gegenwart durchs Leben. Einerseits ist dies ein bewusstes Verhalten, andererseits eine Folge der anterograden Amnesie, die ihm die Konsolidierung von neuen Gedächtnisinhalten unmöglich macht. Ohne das Gefühl zeitlicher Kontinuität und ohne Bewusstsein seines Handelns kann Leonard sich seiner Identität nicht mehr sicher sein. Wahrheiten und Kausalitäten sind relativ geworden. Das Leben hat seine zentrale Sinndimension verloren. Leonard selbst
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ist sich dieser Tatsache bewusst, indem er demjenigen, der ihm das Gedächtnis ruiniert hat, vorwirft: »He destroyed my ability to live.« (vgl. 0:23,35–38) Indem die verschiedenen diegetischen Ebenen sowie die diskrepanten Fokalisierungstypen nicht mehr in ein hierarchisch strukturiertes Verhältnis zu stellen sind und keine logisch privilegierte Perspektive auszumachen ist, wird ein mimetisch unentscheidbares Erzählen etabliert. Dieses zeichnet sich durch eine offene Perspektivenstruktur im inneren Kommunikationssystem aus und evoziert aufgrund der erzählerischen Multiperspektivität eine instabile fiktionale Welt, in der weder theoretische noch mimetische Aussagen mit Bestimmtheit der Wahrheitsfrage unterzogen werden können. Durch Widersprüche werden rezeptionsästhetisch Irritationen und Verunsicherung im Hinblick auf das eigentliche Geschehen evoziert. Indirekte Hinweise auf eine solche Ungewissheit finden sich übrigens bereits sehr früh. So verkündet Leonard am Filmanfang selbstgewiss seine Überzeugung: »You can learn to trust your own handwriting. That becomes an important part of your life. Write yourself notes.« (0:10,00–08) Wenn er dieses ›System‹ konsequent praktizieren sollte und Schreibschrift im Vergleich zur Druckschrift als Mittel zur Differenzierung von Falschaussagen nutzen würde – etwa wenn Teddy ihn zwingt, sich zu notieren, dass er Natalie nicht trauen soll (vgl. 1:02,54–1:04,52) –, so müsste schließlich auch der zentrale Erinnerungssatz »remember Sammy Jankis«, der ebenfalls in Schreibschrift verfasst ist, irritieren. Konsequent in Leonards ›System‹ gedacht, wäre dieser Erinnerungssatz typographisch als nicht wahr markiert und würde Leonards gesamtes Denkgebäude ad absurdum führen. Schließlich erhält auch der in Großbuchstaben geschriebene Merksatz »MEMORY IS TREACHERY« – also ›Erinnerung ist Verrat‹ – in diesem Kontext eine neue Bedeutungsdimension. Solche Überlegungen überfordern letztlich die Aufnahme-, Gedächtnisund Kombinationsfähigkeit des Kinozuschauers. Die Verwirrung durch unterschiedliche Erzählstränge, mögliche Figurenidentitäten sowie unbestimmte Grade von Glaubwürdigkeit erzeugt schließlich ein Rezeptionsäquivalent zur anterograden Amnesie. Ebenso wie Leonard kann sich auch der Zuschauer seiner Voraussetzungen nicht mehr sicher sein. Denn einerseits bleibt unklar, was wirklich geschehen ist, und andererseits dürften emotional Schwierigkeiten bestehen, sich von der einmal gefassten Sympathie für und Empathie mit dem Protagonisten wieder zu distanzieren.
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M EMENTO ALS FILMISCHES E XPERIMENT Das Thema des Gedächtnisverlustes ist filmisch gängig – verwiesen sei etwa auf den artifiziell erzeugten Zustand der Amnesie in Science-FictionFilmen wie TOTAL RECALL (USA 1990; Regie: Paul Verhoeven) oder MATRIX (USA 1999; Regie Andy u. Larry Wachowski). Überdies können mit der partiellen Rückwärtserzählung ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004) von Michel Gondry43 sowie David Lynchs ebenfalls mimetisch unentscheidbar erzähltem Film MULLHOLLAND DR. (USA/F 2001)44 aber auch Beispiele für einen ungewöhnlichen Umgang mit der Thematik angeführt werden. Insgesamt wird die Amnesie-Thematik filmisch allerdings überwiegend genutzt, um eine unbekannte und geheimnisvolle Vergangenheit effektvoll aufzudecken. Anterograde Amnesien sind hingegen nur selten gestaltet. Als ein deutsches Filmbeispiel ist Tom Tykwers WINTERSCHLÄFER (D 1997)45 zu nennen. Das Thema der Amnesie wird jedoch zumeist primär auf der diegetischen Ebene des Geschehens thematisiert. MEMENTO hingegen präsentiert eine medienspezifische Versuchsanordnung, in der Amnesie im Spannungsfeld von wahrnehmungspsychologischen und filmisch-narrativen Perspektiven rezeptionsästhetisch erprobt wird.
43 In diesem Film haben zwei Liebende, die vermeintlich am Ende ihrer Beziehung stehen, die Gedächtnislöschung ihrer Vergangenheit bei einer Firma in Auftrag gegeben und die Löschung der Erinnerungen wird in traumhaft-surreal anmutenden Bildern gestaltet. Vgl. Stefanie Kreuzer: Traum(hafte Zu)Fluchten in Science-Fiction-Filmen. Terry Gilliams BRAZIL (GB 1985) und Michel Gondrys ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004). In: Kybernetische Ordnung in den Künsten. Hrsg. von Hans Esselborn. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. S. 113–130. 44 MULHOLLAND DR. liegt eine retrograde Amnesie einer Protagonistin zugrunde. 45 In WINTERSCHLÄFER sind mehrere Figurenschicksale kompliziert miteinander in Beziehung gesetzt, wobei ein Protagonist an anterograder Amnesie leidet und zur Externalisierung seiner Erinnerungen – ebenso wie Leonard – Fotografien nutzt. Vgl. Stefanie Kreuzer: Filmische Bilder des Gedächtnisverlustes. Amnesie und Fotografie in Tom Tykwers Winterschläfer (D 1997). In: LiteraturKunst-Medien. Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Achim Barsch, Helmut Scheuer u. Georg-Michael Schulz. München: Martin Meidenbauer 2008 (= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur; Kontext 8). S. 350–367.
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MEMENTO ist in seinem Spiel mit unzuverlässigem Erzählen zudem mit ANGEL HEART (USA/Kanada/GB 1987; Regie: Alan Parker)46 und FIGHT CLUB (USA/D 1999; Regie: David Fincher) sowie den postmortalen Filmerzählungen CARNIVAL OF SOULS (USA 1962; Regie: Herk Harvey), THE SIXTH SENSE (USA 1999; Regie: M. Night Shyamalan) und YELLA (D 2007; Regie: Christian Petzold) zu vergleichen.47 Indem die subjektive Kamera respektive die interne Fokalisierung des Geschehens aus der verzerrten oder auch schizophrenen Perspektive der Protagonisten lange Zeit unbemerkt bleibt und als vertrauenswürdig und null-fokalisiert rezipiert wird, nutzen diese Filme die Möglichkeit zu einer überraschenden Umdeutung des Geschehens durch die Entlarvung der unzuverlässigen Egoperspektive.48 Im Gegensatz zu ANGEL HEART, FIGHT CLUB, CARNIVAL OF SOULS, THE SIXTH SENSE und YELLA findet in MEMENTO indes keine umfassende und gesicherte Umdeutung des Geschehens statt. Die erzählte Welt bleibt aufgrund der Unzuverlässigkeit von Leonards Erinnerungsvermögen ungewiss,
46 ANGEL HEART gestaltet überdies die Amnesie-Thematik. 47 Christopher Nolan hat im Zusammenhang mit MEMENTO zwar auch auf THE USUAL SUSPECTS (USA 1995; dt.: Die üblichen Verdächtigen; Regie: Bryan Singer) verwiesen (vgl. in den Special Features Elwis Mitchells Interview mit Nolan im Rahmen der Sendung »Independent Focus« 22,02–20). Im Gegensatz zu den anderen Filmen sind jedoch weniger filmische Multiperspektivität oder subjektive Kamera für das unzuverlässige Erzählen entscheidend, sondern vielmehr die erzählerische Strategie des Verschweigens sowie die Verstellungskünste eines der Protagonisten. Die Reihe der Filmbeispiele zu unzuverlässigem Erzählen wäre selbstverständlich noch zu erweitern. Sandra Poppe führt in einem ähnlichen Kontext etwa Alejandro Amenábars THE OTHERS (USA/E/F/I 2001), Cameron Crows VANILLA SKY (USA 2001), Ron Howards A BEAUTIFUL MIND (USA 2001) sowie David Lynchs LOST HIGHWAY (USA/F 1997) an. Vgl. Sandra Poppe: Wahrnehmungskrisen – Das Spiel mit Subjektivität, Identität und Realität im unzuverlässig erzählten Film. In: Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Hrsg. von Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier u. Timo Skrandies. Bielefeld: Transcript 2009 (= Medienkulturanalyse 6). S. 69–83. 48 Als ein Filmbeispiel dafür, dass die erzählerische Unzuverlässigkeit auch vom intendiert unzuverlässigen und lügnerischen Erzählverhalten einer Nebenfigur ausgehen kann, ist Alfred Hitchcocks STAGE FRIGHT (USA 1950; dt.: DIE ROTE LOLA) zu nennen. In diesem Film wird die falsche Darstellung eines Mordgeschehens durch den Mörder als objektiv rezipiert, wodurch dieser bis zum überraschenden Schluss des Films als unschuldig Verfolgter erscheint.
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so dass schließlich ein mimetisch unentscheidbares Erzählen etabliert wird. Dies ist der Kern des Erzählexperiments: MEMENTO bietet narrativ die Möglichkeit zur Immersion. Im Rahmen der Übernahme einer filmischen Wahrnehmungsweise, die Analogien zur anterograden Amnesie aufweist, wird der Kinozuschauer in seinem Verständnis der erzählten Welt grundsätzlich verunsichert und macht dadurch rezeptionsästhetisch eine analoge Erfahrung wie der Protagonist aufgrund seines pathologischen Zustandes.
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F ILMOGRAFIE 5 x 2 (F 2004; dt.: 5 x 2 – Fünf mal zwei). Regie: François Ozon. Drehbuch: François Ozon u. Emmanuèle Bernheim. Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi (Marion – »Sie«) u. Stéphane Freiss (Gilles – »Er«). Laufzeit: (PAL) ca. 90 Min. Le cheval emballé (F 1908). Regie: Louis J. Gasnier. Laufzeit: (PAL/DVD: bfi – Early Cinema: Primitives and Pioneers – 2 DVDs, [2005]) DVD 2 – Kap. 8/25: 7 Min. Démolition d’un mur (F 1896). Regie: Louis Lumiere. Laufzeit: (PAL/DVD: bfi – Early Cinema: Primitives and Pioneers – 2 DVDs, [2005]) DVD 1: Kap. 4/49: 1 Min. Following (GB 1998). Regie: Christopher Nolan. Drehbuch: Jonathan Nolan. Musik: David Julyan. Kamera: Christopher Nolan. Darsteller: Jeremy Theobald (Bill), Alex Haw (Cobb), Lucy Russell (Blondine) u. John Nolan (Polizist). Laufzeit: (PAL) ca. 70 Min. Happy End (CS 1968). Regie: Oldřich Lipský. Drehbuch: Oldřich Lipský. Laufzeit: (PAL) ca. 71 Min. Irréversible (F 2002; dt.: Irreversibel). Regie: Gaspar Noé. Drehbuch: Gaspar Noé. Produzent: Christophe Rossignon. Darsteller: Monica Bellucci (Alex), Vincent Cassel (Marcus) u. Albert Dupontel (Pierre). Laufzeit: (PAL) ca. 97 Min. Memento (USA 2000). Regie: Christopher Nolan. Drehbuch: Jonathan Nolan u. Christopher Nolan. Musik: David Julyan. Kamera: Wally Pfister. Schnitt: Doy Dorn. Darsteller: Guy Pearce (Leonard), Carrie-Anne Moss (Natalie) u. Joe Pantoliano (Teddy). Laufzeit: (PAL/DVD: Helkon – 2 DVDs, 2002) DVD 1: 109 Min.
Im Steinbruch der Nachgeschichte Zur experimentellen Filmästhetik von Hans Jürgen Syberberg1
B ERND K IEFER
ABSTRACT: Der Regisseur und Autor Hans Jürgen Syberberg wurde in der Ära des Neuen Deutschen Films international als einer der bedeutendsten deutschen Künstler wahrgenommen. Er wird anhand seines spezifisch experimentellen Konzepts der Montage mit Bruchstücken einer geborstenen geschichtlichen und kulturellen Tradition charakterisiert in seiner dezidiert anti-modernen Ästhetik, die als eine Ästhetik des Posthistoire zu verstehen ist. Syberbergs Ästhetik zeichnet sich durch Widersprüche aus und changiert zwischen der Wiedergewinnung einer mythischen Weltsicht und der Hervortreibung blitzhafter ästhetischer Epiphanien. Diese Konzeption wird thematisiert. Zum einen geht es um die Abgrenzung von einer postmodernen Ästhetik, und zum anderen soll vor allem Syberbergs wohl bedeutendstes Werk HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (BRD/F/UK 1977) untersucht werden. Abschließend wird nach der Aktualität der Ästhetik von Syberberg gefragt, der in den letzen Jahren sein »Lebensmodell« Kunst auf den Ort seiner Geburt und Kindheit zurückgeführt hat: auf den Gutshof Nossendorf in Vorpommern, von dem aus er via Webcams mediale Einblicke in ein Leben bewusster Einfachheit erlaubt – als Experiment einer Verbindung von Kunst und Leben.
1
Vgl. eine erste Fassung dieses Textes: Bernd Kiefer: Kulturmontage im Posthistoire. Zur Filmästhetik von Hans Jürgen Syberberg. In: Montage in Theater und Film. Hrsg. von Horst Fritz. Tübingen: Francke 1993. S. 229–247.
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O RTSBESICHTIGUNG […] those who make »small but daring experiments within an exhausted tradition.« – Edmund White: Caracole (1985) –
Ein Ort, ein Leben und ein Lebenswerk – auf dem Gutshof Nossendorf in Vorpommern wurde 1935 Hans Jürgen Syberberg geboren. Mit seinen Filmen LUDWIG – REQUIEM FÜR EINEN JUNGFRÄULICHEN KÖNIG (BRD 1972) und KARL MAY (BRD 1974) avancierte er in den 1970er Jahren zu einem der bedeutendsten Regisseure des Neuen Deutschen Films. In Syberbergs folgendem Opus magnum, dem siebenstündigen HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (BRD/F/UK 1977), sieht Susan Sontag in einem weitausholenden Essay gar »das ehrgeizigste symbolische Kunstwerk unseres Jahrhunderts«,2 das, so schließt sie, »zu jener Kategorie nobler Meisterwerke« gehöre, »die unbedingte Gefolgschaft verlangen und sie auch erzwingen können«.3 Unbedingte Gefolgschaft wurde Syberberg von der Filmkritik in der Bundesrepublik verweigert. Antiaufklärerisches Pathos, Manierismus,
2
3
Susan Sontag: Syberbergs Hitler. In: Syberbergs Hitler-Film. Hrsg. von Klaus Eder. München: Hanser 1980. S. 7–32. S. 25. In den Text der deutschen Übersetzung haben sich eine Fehlschreibung und eine Fehldeutung dieses Satzes von Susan Sontag eingeschlichen. Es heißt hier nicht »Kunstwerk«, was noch korrekt wäre, sondern »Kunstwert unseres Jahrhunderts«. Ich habe diese Fehlschreibung im Zitat stillschweigend korrigiert. Im amerikanischen Original lautet der Passus: »probably the most ambitious Symbolist work of this century«, wobei »work« mit ›Werk‹ zu übersetzen ist. Vor allem aber wird aus dem Kontext des Satzes in Sontags Text deutlich, dass sie nicht ›symbolisch‹ meint, wie übersetzt wurde, sondern ›symbolistisch‹, da sie im Zusammenhang von den französischen Symbolisten spricht, und das insinuiert etwas anderes als ›symbolisch‹. Ich weise hier nur versteckt darauf hin, da die Rezeption des HITLERFilms in Deutschland, wenn überhaupt, dann von der deutschen Übersetzung des Textes geleitet wurde. Vgl. den Originaltext Syberberg’s Hitler in: Susan Sontag: Under the Sign of Saturn. New York: Picador 2001. S. 135–165. Der Satz findet sich hier auf Seite 158. Der Text erschien erstmals im Jahr 1979, als Francis Ford Coppola Syberbergs Film als OUR HITLER mit Aplomb in den USA präsentierte. Sontag: Syberbergs Hitler. S. 31. Neben Susan Sontag äußerten sich auch Michel Foucault, Jean-Pierre Faye, Alberto Moravia und Heiner Müller positiv über den HITLER-Film. Vgl. ihre Texte in Syberbergs Hitler-Film. Hrsg. von Klaus Eder. München: Hanser 1980.
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Geschichtsklitterung, Geschwafel oder schlicht Einfalt warf die Kritik Syberberg dort vor, wo Susan Sontag romantische Ironie, surrealistische Kombinatorik und ein kompliziertes »Montageprinzip«4 erkennt sowie Elemente der ästhetischen Avantgarde, die aus dem Film ein »Mosaik von Stilzitaten«5 machen. Freilich, auch Sontag entgeht nicht der Mangel an gedanklicher Reflexion, die Stillstellung von Reflexion in überladenen Bildern, hatte Syberberg doch geschrieben, Hitler bekämpfe man nicht »mit Auschwitzstatistiken und der Soziologie seiner Wirtschaft, sondern mit Richard Wagner und Mozart«,6 mit den »Traditionen unserer Mythen« und den »Kitsch-Welten, die einmal staatstragend waren«.7 – »Eine Montage mit den filmischen Mitteln des Irrationalen«,8 mit »Bausteine[n] mythischer Welten«,9 so hat Syberberg die Ästhetik seiner Filme LUDWIG, KARL MAY, HITLER und PARSIFAL (BRD/F 1982) beschrieben, jener Tetralogie, die er als »Arbeit der Trauer«10 über den Untergang Deutschlands, schließlich in PARSIFAL und in DIE NACHT (BRD 1985) als Abschied von der untergehenden abendländischen Kultur versteht. Film als Montage »auf der Basis europäischer Kulturassoziationen«,11 nachdem nur noch »die Trümmer der Geschichte«12 geblieben sind, und »Irrationalismus in der Montage meiner Filme«,13 dies sind die Prinzipien der Syberberg’schen Filmästhetik, die »in irritierender Unruhe«14 sich »als ästhetische Nachfolge der 68er Generation und der Popkultur«15 versteht. Eine »Revolution in der Darstellbarkeit von Welten und geistigen Absichten«16 wollte Syberbergs Ästhetik sein, ein
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Sontag: Syberbergs Hitler. S. 12. Sontag: Syberbergs Hitler. S. 14. Hans Jürgen Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. S. 19. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 18. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 27. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 17. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 10. Hans Jürgen Syberberg: Syberbergs Filmbuch. Frankfurt am Main: Fischer 1979. S. 20. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 17. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 22. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 31. Hans Jürgen Syberberg: Die freudlose Gesellschaft. Notizen aus den letzten Jahren. Frankfurt am Main: Ullstein 1983. S. 128. Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 13.
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filmisches Experiment mit den Restbeständen deutscher und europäischer Kultur und Geschichte – mit der Tendenz zum Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners. Heute, fünfundzwanzig Jahre nach DIE NACHT, Syberbergs letztem Film, der für das Kino entstand, ist sein Werk weitgehend unbekannt und fast vergessen. Die exzeptionelle Länge der meist mehrstündigen Filme sperrt sich sogar gegen die Programme der ambitionierten Kinos, und auch aus dem Nachtprogramm des Fernsehens, wo sie zur ›Hochzeit‹ des Neuen Deutschen Films in den 1970er Jahren zu sehen waren, sind die Filme längst verschwunden. Zwischen 1985 und 1994 arbeitete Syberberg auf Videomaterial, und diese Filme waren in Theatern und im Rahmen von Installationen auf Ausstellungen zu sehen, etwa HÖHLE DER ERINNERUNG auf der documenta X 1997. Das allmähliche Verschwinden Syberbergs aus dem öffentlichen Bewusstsein dürfte jedoch auch damit zu tun haben, dass er sich in seinen Büchern Die freudlose Gesellschaft (1981), Der Wald steht schwarz und schweiget (1984) und vor allem in Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege (1990) gelegentlich derart politisch abstrus und anstößig äußerte, dass ihn seine Klagen über den Untergang Deutschlands im Jahr 1945 und über die ›Verwestlichung‹ der deutschen Nachkriegskultur ins politische Abseits stellten. Von bedenklicheren Äußerungen über die Zeit des Nationalsozialismus soll hier erst gar nicht die Rede sein. Syberberg galt gewiss einige Jahre in Deutschland als Persona non grata. Im Jahr 2000 kehrte er in seinen Geburtsort Nossendorf zurück und begann, den verfallenen Gutshof zu renovieren und so zu restaurieren, wie er ihn erinnert. Seither ist dieser Ort als Konzept der Land-Art der Fixpunkt von Syberbergs künstlerischer Arbeit: der Raum der Geburt und der Kindheit und der Raum, in den Syberberg durch vier Webcams auf seiner Website (http://www.syberberg.de) täglich Einblicke in sein Leben erlaubt. Die Präsentation seiner Filme erfolgte im Jahr 2003 anlässlich der Ausstellung »Syberberg/Paris/Nossendorf« im Centre Pompidou in Paris erstmals streng im Ausgang von und im Fluchtpunkt auf Nossendorf.17 Das »Nossendorf-Projekt«, das er Ende 2010 in Berlin in der Deutschen Kinemathek als Installation präsentierte, verbunden mit einer Retrospektive seiner Filme im Kino des Deutschen Histo-
17 Vgl. Syberberg/Paris/Nossendorf. Hrsg. von Christian Longchamp. Ausstellungskatalog Centre Pompidou Paris 2003. Der Band enthält auch zahlreiche Texte von Syberberg über seine Arbeit in Nossendorf.
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rischen Museums, scheint er als Summe seiner Arbeit zu verstehen: Nossendorf als Ursprung und Ziel, als Mythos und Monument eines Lebenswerks. Das Leben und die Kunst, die Vergangenheit und die Gegenwart sollen offenbar, bezogen auf die Wiedergewinnung der Aura eines Ortes, in eine multi-mediale experimentelle Verbindung treten – ineinander übergehen. In Nossendorf transformiert sich Hans Jürgen Syberberg selbst in ein deutsches Gesamtkunstwerk und kehrt so in die aktuelle deutsche Kultur zurück.18 Grund genug, sein ästhetisches Programm auf seine Aktualität hin zu befragen.
D IE A BSAGE AN DIE M ODERNE Montage, Irrationalismus, Mythos – schon die wesentlichen Termini von Syberbergs Ästhetik ergeben eine Verbindung von ›irritierender Unruhe‹ und eine Montage von Heterogenstem. In der klassischen Montage-Theorie von Sergej Eisenstein, Bertolt Brecht bis Ernst Bloch und von Walter Benjamin bis zu Theodor W. Adorno kommt der Montage eine entmythisierende Funktion zu. Sie sprengt als Logik des Produziertseins des Werkes falsche Totalität, oktroyierten Sinn, um eine andere, verdrängte Wahrheit einsichtig zu machen. Der Montage-Begriff, wie ihn diese Theorie-Debatte konzipiert hat, steht im Schnittpunkt erkenntnistheoretischer und geschichtsphilosophischer Überlegungen und verweist auf den Konnex von ästhetischer Avantgarde und avanciertem gesellschaftlichen Bewusstsein. Damit aber wird diese Montage-Theorie selbst historisch anfällig: Sie steht und fällt mit einer Deutung der Moderne, die darauf setzt, dass Geschichte, Sinn und Subjektivität nicht nur theoretisch erfassbare Phänomene sind, sondern dass auch deren Potentialität im Medium des Ästhetischen sich erkennend aus dem ideologischen Verblendungszusammenhang befreien lässt. Montage-Kunst ist so von den 1920er Jahren bis in die 1970er Jahre zum ästhetischen Korrelat des geschichtsphilosophisch ins Offene gedach-
18 Vgl. dazu die Zeitungsartikel von Heimo Schwilk und Andreas Kilb, wobei sich Kilb deutlich skeptischer zu Syberbergs »Feldzug zur Wiedereroberung der Vergangenheit« äußert. Ich komme darauf am Ende meines Textes zurück. Vgl. Andreas Kilb: Die zweite Erfindung der Kindheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (18. Nov. 2010). S. 38. Vgl. auch Heimo Schwilk: Landnahme eines Mythomanen. In: Die Welt (12. Nov. 2010). S. 23.
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ten Projektes der Moderne geworden. Schwindet dieses geschichtsphilosophische Vertrauen zum Bewusstsein, dass nur noch die »Erinnerung an die Geschichte«19 geblieben ist, dann erfährt Montage eine Umfunktionierung. Sie zielt bei Syberberg auf die »assoziativ unentwirrbare[ ] Vertiefung eines epischen Kosmos«20 hin zur Raum-Zeit-Simultaneität, in der Geschichte zur synchronen Fläche ästhetisch disponiblen Sinnes wird. Was Syberberg schon in LUDWIG, seiner Vision von Leben und Tod des bayerischen Königs Ludwig II., mit den Rück-Projektionen, mit der Ton-Montage, mit der Bild-Montage von Nibelungenmythos, Kunstwelten des späten 19. Jahrhunderts, Folklore, Kitsch und Nazismus zu einer Phantasmagorie deutscher Träume und Alpträume zu verdichten trachtete, was in HITLER und PARSIFAL, seiner Verfilmung der Wagner-Oper, dann zu montierten Panoramen des ›Steinbruches der Geschichte‹ wurde, das ist als Montage-Kunst nicht mehr auf ein rationales Deutungsmuster von Geschichte und vom Sinn der Geschichte beziehbar. Syberberg sieht Geschichte seit LUDWIG als einen katastrophalen Prozess, der zum Stillstand hin läuft, als einen Prozess, dem nur ein mythisch-ästhetisches Montage-Denken noch letzte Bilder entreißen kann. »Montage stand an der Wiege des Films, der Schnitt ist sein Herzschlag und die Wiedergewinnung der Aura des Mythos ein hohes Ziel«.21 Es ist Syberbergs filmischer »Wille zum Mythos«,22 der seine MontageÄsthetik trotz gelegentlicher Hinweise auf Sergej Eisenstein, Bertolt Brecht und Walter Benjamin zu deren Theorien in Widerpart setzt. Dementsprechend ist es nur konsequent, dass Syberberg sich und seine Ästhetik zur »Anti-Moderne«23 rechnet. Um Syberbergs Anti-Modernismus zu erfassen, ist ein Rückblick auf die Entwicklung der Montage-Theorien der Moderne nötig. Dass seit dem Jahr 1789 ganz neue Rhythmen die Geschichte bewegen, dass jedes Geschehen derart mannigfaltig ist, dass sich Details kaum zur Einheit runden und narrativ runden lassen, dies bekundet schon der große Historiker Jules
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Hans Jürgen Syberberg: Parsifal. Ein Filmessay. München: Heyne 1982. S. 24. Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 15. Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 12. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 17. Hans Jürgen Syberberg: »Mit kleinsten Mitteln etwas sehr Anspruchsvolles offerieren«. Gespräch mit Florian Rötzer. In: Frankfurter Rundschau (3. Okt. 1987). S. ZB 2.
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Michelet im 19. Jahrhundert.24 Die Heterogenität und das Widerstrebige der historischen Kräfte kann für ihn nur noch punktuell erfasst werden, im kleinsten Ausschnitt, gleichsam im Sekunden-Stil. So spielte Michelet mit dem Gedanken, seine Geschichte der Französischen Revolution nicht nach Jahren, sondern nach Tagen, fast nach Stunden zu schreiben, um der Vielfalt der Ereignisse gerecht zu werden. Nur so ließ Sinn, ließ die historische Wahrheit sich überhaupt noch konstruieren. Für ein gänzlich anderes Medium der Darstellung von Realität hat Michelet die Probleme erkannt, auf die die Montage-Theorie und Montage-Kunst dann reagierten: Es ist die Frage, wie immens dynamisierte Abläufe in ihrer Diskontinuität und Widersprüchlichkeit noch darstellbar sind. Diese Problematik durchzieht die gesamte Filmtheorie Sergej Eisensteins. Der Film als das »urbanistische Kunstwerk[ ]«25 der Moderne ist geprägt vom ungeheuren Tempo der Zeit und von den Antagonismen der Realität. Wenn Eisenstein der Montage-Technik von David Wark Griffith vorhält, sie sei »eine Schule des Tempos und nicht des Rhythmus«,26 dann beklagt er die mangelnde intellektuelle Durchdringung der gesellschaftlichen Widersprüche, die den Rhythmus der Zeit ausmachen. Indem Eisenstein diesen Mangel der bürgerlichen Ideologie Griffith’ anrechnet, expliziert er zugleich die erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Position, die seiner Montage-Theorie das Fundament gibt. Rhythmus der Montage meint eine »organische Einheitlichkeit«,27 eine Einheitlichkeit im Spiel der Gegensätze, eine Einheitlichkeit der Erscheinung der Realität, die in ihren Widersprüchen erkannt, gespalten, neu zusammengesetzt und so neu begriffen wird. Montage im Sinne Eisensteins gestaltet die historischen und sozialen Widersprüche, die dialektische Logik von Geschichte und Gesellschaft; sie setzt eine ideologische Konzeption in schnelle Bilder um und vertraut auf einen konstruierbaren Sinn von Geschichte: Montage entmythisiert, indem durch dialektische Logik die Tiefenstruktur der Wirklichkeit erkennbar wird.
24 Vgl. Edmund Wilson: Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof. Über Geschichte und Geschichtsschreibung. Aus dem Amerik. von Ehrenfried Klauer u. Hans Stern. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 33. 25 Sergej Eisenstein: Dickens, Griffith und wir. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze I. Zürich: Arche 1962. S. 60–136. S. 86. 26 Eisenstein: Dickens, Griffith und wir. S. 110. 27 Eisenstein: Dickens, Griffith und wir. S. 111.
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Die gesamte ›klassische‹ Montage-Diskussion der 1920er und 1930er Jahre kreist um dieses Vertrauen in die Zielgerichtetheit der Geschichte, in erkennbaren, darstellbaren und ästhetisch vermittelbaren Sinn. Von Eisenstein und Brecht gleichermaßen inspiriert hat Ernst Bloch Montage als Konstruktion und Erkenntnisvermittlung begriffen. Als »konstitutive Montage«28 ist sie ästhetische Produktivkraft und Politikum zugleich, denn sie baut aus den Bruchstücken der Wirklichkeit neue Zusammenhänge auf; sie funktioniert das Material, mit dem sie schaltet, derart um, dass die Wirklichkeit, ästhetisch gegen den Strich gebürstet, die in ihr liegenden Möglichkeiten aufscheinen lässt. Nichts anderes als die »revolutionäre Geburt der künftigen Gesellschaft und Welt in der jetzigen«29 soll Montage befördern. Überdeutlich ist das geschichtsphilosophische Pathos, das Montage hier zur ästhetisch-politischen Produktivkraft der Moderne designiert. Der dieser Konzeption immanente Rationalismus spiegelt sich in Walter Benjamins Bestimmung der Montage im Kunstwerk-Aufsatz wider. Montage sprengt »mit dem Dynamit der Zehntelsekunden«30 die Realität dergestalt auf, dass, wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment, »neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen«,31 die auf ihr revolutionäres Potential zu befragen sind. Für Benjamin verwissenschaftlicht Montage die Kunst und politisiert sie zugleich. Freilich, dem späten Benjamin ist das Zutrauen in die konstruktive und geschichtstreibende Kraft der Montage geschwunden. In der Passagen-Arbeit, seinem großen Versuch zur Rekognoszierung der Moderne, montiert Benjamin nur noch den »Abfall der Geschichte«.32 Die Hoffnung, dass Montagebilder eine andere Konfiguration von Realitätspartikeln offenbaren, die unmittelbar politische Erkenntnis motiviert, war dahin. Was geschieht mit der Montage, und was
28 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962. S. 225. 29 Bloch: Erbschaft dieser Zeit. S. 246. 30 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. [7 Bde. in 14 Tl.-Bdn.] Unter Mitw. von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2: Abhandlungen. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Taschenbuch-Edition. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 [1974]. S. 499. 31 Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2. S. 500. 32 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V: Das Passagen-Werk. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. S. 575.
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geschieht durch Montage noch, wenn die Einsicht, die in ihrem Ursprung steht, die Einsicht, dass einem beschleunigten und jede Einheitlichkeit entbehrenden historisch-sozialen Prozess nur mit schnellen, diskontinuierlichen Bildern beizukommen ist, schwindet? Was geschieht, wenn der Sinn der Montage, mit der man Telos und Wahrheit ›heraustreiben‹ will, ungewiss wird? Was geschieht mit Montage, wenn die Gewissheit schwindet, dass überhaupt ein Sinn ist, der konstruiert werden kann? – Dass dies keine rhetorischen Fragen sind, kann man den Überlegungen zur MontageTheorie entnehmen, die der stets hellsichtige Siegfried Kracauer schon zwischen 1928 und 1938 anstellte. In seiner Kritik von Walter Ruttmanns Montage-Film BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (D 1927) beklagt Kracauer – wie Eisenstein bei Griffith –, dass die Montage von Details der Realität nicht einen sinnvollen Zusammenhang der Realität aufdecke, sondern alle Partikel unverbunden nebeneinander stehen lasse.33 Ist diese Kritik noch motiviert vom großen Vorbild der sowjetischen Montage-Filme, so gerät auch dieses Denkmal zehn Jahre später erheblich ins Wanken. Anlässlich einer erneuten Sichtung der frühen Filme Wsewolod Pudowkins bemerkt Kracauer, dass Montage hier nicht einen vorfindbaren Sinn erkennend aus der Verzerrung befreit, sondern subjektiv setzt. Pudowkins Montage »veranschaulicht« nur, »was er für den Sinn des Geschehens hält«.34 Selbst Eisenstein ist der Kritik nun nicht mehr enthoben, entdeckt Kracauer doch in der Methode der Montage die Vorherrschaft einer Geschichts- und Erkenntnistheorie, die immer schon weiß, welcher Sinn dem Geschehen zu entnehmen ist. Was Kracauer in Frage stellt, ist das ideologische Fundament der Montage-Konzeptionen, das einer historischen Situation entspringt, »die von revolutionären Energien bebt«,35 das aber zum Dogma wird, wenn der Realität alle vitalen Energien abhanden kommen, wenn die Realität nicht mehr auf einen Nenner gebracht werden kann. Dann läuft
33 Vgl. Siegfried Kracauer: Film 1928. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 295–310. S. 308. 34 Siegfried Kracauer: Pudowkin. In: Ders.: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film. Hrsg. von Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 85–88. S. 87. 35 Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Übers. von Ruth Baumgarten u. Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. S. 196.
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Montage ins Leere und wird zu »tableaux vivants«.36 Kracauers Interpretation der Montage ist signifikant, fragt sie doch nach der Erkenntnisleistung von Montage-Kunst unter Bedingungen, unter denen die Realität, die Montage noch ästhetisch bewältigte, ihren Aggregatzustand völlig veränderte. Wird Sinn disponibel, tendiert Montage zur Anschauung ohne Begriff. Im Wandel der Montage-Theorie von der Sinngebung des ohnehin Sinnvollen über die Sinngebung des Sinnlosen bis zu Adornos Auffassung, Funktion der Montage sei es, »den Sinn [zu] negieren«,37 spiegelt sich die Krise der progressiven Geschichtsphilosophie und der ihr sekundierenden optimistischen Erkenntnistheorie der Moderne. Seit Anfang der 1970er Jahre liegen zwar mannigfaltige Montage-Definitionen vor; die Montage-Theorie selbst tritt jedoch ins Stadium der Historisierung ein.38 Als Peter Bürger 1974 in seiner Theorie der Avantgarde Montage noch einmal zum Grundprinzip der avantgardistischen Kunst ausrief, hielt er ihr zugleich den Nekrolog, denn er konstatiert das Scheitern der Avantgarde. Mit einer einschneidenden Veränderung der historischen Konstellation, für die sich seit den späten 1970er Jahren die Begriffe Postmoderne und Posthistoire eingebürgert haben, geht ein Wandel des Geschichtsbewusstseins und des ästhetischen Bewusstseins einher, dem alle Sinn-Konstruktionen suspekt sind, die auf theoretischen Totalitätskonzepten beruhen. So war es nur konsequent, dass Andreas Kilb, ausgehend von Bürgers Montage-Begriff und Benjamins Allegorie-Theorie, die Vorbild Bürgers war, die allegorische Phantasie zum Kennzeichen einer Ästhetik der Postmoderne machte.39 Hat Geschichte sich
36 Kracauer: Von Caligari zu Hitler. S. 354. 37 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [1970]. Hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981 (= stw 2). S. 231. 38 Signifikant hierfür sind die beiden Ausgaben der Zeitschrift Alternative: Vgl. Alternative – Zeitschrift für Literatur und Diskussion 20 (1977) H. 117: Brecht/Eisenstein. Gegen die Metaphysik des Sichtbaren. Hrsg. von Hildegard Brenner. Vgl. Alternative – Zeitschrift für Literatur und Diskussion 21 (1978) H. 122/123: Montage/Avantgarde. Hrsg. von Hildegard Brenner. In den Beiträgen geht es ausschließlich darum, von der klassischen MontageTheorie für die aktuelle Kunstpraxis und Kunsttheorie zu retten, was noch zu retten ist. 39 Vgl. Andreas Kilb: Die allegorische Phantasie. Zur Ästhetik der Postmoderne. In: Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde. Hrsg. von Christa Bürger u. Peter Bürger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. S. 84–113.
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zur blinden Mitte des bewusstlosen Augenblicks, des reinen Moments zusammengezogen, ist also alle Dynamik in ihr zum Stillstand gekommen, wird Montage im klassischen Sinne kraftlos. Sie weicht einem allegorischen Bewusstsein, das die Trümmer der Geschichte zu einer räumlichen Figur zusammensetzt. In dieser Simultaneität kann, von allen Sinnpostulaten befreit, jedes Partikel zu jedem anderen in eine assoziative Beziehung treten. Geschichte steht still; ihre Bestände treten ein in das unbegrenzte Spiel ästhetischer Konstellationen.
I M P OSTHISTOIRE ANGEKOMMEN Von dieser Überführung des modernen Montage-Konzeptes in das postmoderne allegorische Bewusstsein fällt Licht auf Syberbergs anti-moderne Montage-Ästhetik. Sie setzt auf irrationale Potentiale des Mythos und des Traums, nicht auf rationale Durchdringung der Tiefenstrukturen des ›Realen‹. Sie verzichtet auf die Gestaltung einer organischen Einheitlichkeit der Widersprüche, auf dialektische Logik des Heterogenen und favorisiert die Intensität der Assoziation. Nicht um rationale Erkenntnisvermittlung geht es Syberberg, sondern um irritierende Unruhe. Vor allem aber wendet er sich gegen die Auffassung, Geschichte besitze eine sinnstiftende, einheitliche Struktur. Es ist überraschend und nicht ohne Pikanterie, dass 1972, in dem Jahr, in dem Syberbergs LUDWIG entstand, Jürgen Habermas in einem Text über Benjamin den historischen Ort dieses Films und der Syberberg’schen Montage-Ästhetik recht präzise bestimmte, allerdings ohne auf Syberberg einzugehen: »an der Schwelle des posthistoire, wo die symbolischen Strukturen verbraucht und durchgescheuert, ihrer imperativen Funktionen entkleidet sind«.40 Das ist eine etwas abgeklärte Definition des Posthistoire; bei Syberberg ist immerhin von dem Scheitern aller historischen Utopien die Rede, von einer »Apokalypse«41 und von der »Ahnung vor der Zukunft des Endes aller Geschichte«.42 Dieses Vergehen der Geschichte wird von Syberberg zunächst als Entlastung empfunden, als Befreiung von
40 Jürgen Habermas: Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins. In: Zur Aktualität Walter Benjamins. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. S. 173–223. S. 217. 41 Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 20. 42 Syberberg: Die freudlose Gesellschaft. S. 83.
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unseren »missbrauchten Utopien und Ideen«.43 Deren Kalvarienberg zeigt Syberberg im PARSIFAL. Dort steht Klingsor auf einem Felsen, zu seinen Füßen die (abgeschlagenen?) Köpfe von Aischylos, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner und Ludwig II., in Rückprojektion montiert mit der Liberté von Delacroix und dem Christus-Kopf von Leonardo: das Abendland als Trümmerfeld der Kunst, der Religion, der Politik und der Philosophie. Ein solcher Blick auf die Geschichte, ein solches posthistorisches Geschichtsverständnis bedingt eine andere Ästhetik als die geschichtsphilosophisch optimistische des forcierten Modernismus; ja – erst das Überschreiten der Schwelle zum Posthistoire setzt als letztes verbleibendes Gedächtnis das der Kunst, des Filmes und der Montage der Bruchstücke in ein neues Recht. Film sammelt die Spuren einer verschwindenden Welt. Was Syberberg montiert, das sind die frei gewordenen Möglichkeiten in einer Trümmer-Welt, das sind die assoziativ aufgerissenen Räume zwischen den partikularen Bruchstücken von Geschichte und Kultur. Seine Montage zeigt keine bewegte Welt mehr, kein dynamisches In-die-ZukunftStürzen, sondern Geschichte wird hier zum Zeit-Traum. Arbeit an und in der Geschichte weicht der ästhetischen Traum-Arbeit mit den Resten des Wachbewusstseins, das einmal Geschichte war. Arnold Gehlen schrieb 1961 in dem Vortrag Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit: Je weiter die Zeit fortschreitet, um so deutlicher wird daher die echte Überlieferung der europäischen Geschichte in der Vergangenheit verschwinden, d. h. sie wird wie die griechische zum Bildungsgut umgeformt und moralisch wie praktisch unverbindlich werden […]. Schließlich taucht sogar der Gedanke als möglich auf, daß wir die Schwelle zum post-histoire, zu einem nachgeschichtlichen Zustand bereits überschritten haben könnten.44
Gehlen macht hier die in sich beschleunigte Zeit, die beschleunigte Geschichte der neuzeitlichen Moderne, für das Verschwinden der Geschichte überhaupt verantwortlich. Die rasende Geschichte wird autodestruktiv, ver-
43 Syberberg: Parsifal. S. 116. 44 Arnold Gehlen: Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit. In: Ders.: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Mit einem Nachwort von Herbert Schnädelbach. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986. S. 127–140. S. 133 f.
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zehrt sich selbst. Gehlen hat für diesen Zustand den Begriff der »kulturellen Kristallisation« geprägt: Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich »Rechne mit deinen Beständen«, nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist.45
Alle geschichtlichen Möglichkeiten und auch alle Alternativen sind für Gehlen durchgespielt und realisiert worden; alles war schon da und ist nun ausgeschöpft. Nichts ist mehr zu erwarten. Vor allem die großen »Schlüsselattitüden« haben abgedankt, die aus Vielfalt Einheit, aus Interruptionen Kontinuität stiften wollten. Was im Zustand der Kristallisation von Geschichte und Kultur noch bleibt, das ist »das aufgestöberte Durcheinander von allen Ideen und Motiven aus allen Zeiten und Windrichtungen«.46 Nach dem Ende der »Schlüsselattitüden« kommt es nun der Kunst zu, einen Kernbestand, wie Gehlen es formuliert, »mit reizvoller Unverantwortlichkeit« zu »umspielen«.47 Wir sind hier nahe bei dem, was Syberberg die assoziative Montage nennt, die die historisch-kulturellen Bruchstücke aus dem chronologischen Nacheinander herauslöst, um sie in der filmischen Tiefe des Raumes simultan montieren, umspielen zu können. Im aufgestöberten Durcheinander von allen Ideen und Motiven wird Geschichte letztlich zum Mythos. Das ist die Pointe der PosthistoireDiagnosen, die Lutz Niethammer schon der Eindeutschung von »la posthistoire« in »das Posthistoire« abliest. Offenbar soll, so Niethammer, »wo sie war, ›es‹ werden«,48 das Mythische, das kollektive Unbewusste, das Träumen und Phantasieren, das sich der Vernunft in der Geschichte lange unterwerfen musste, nun aber, quasi unter den Trümmern, wieder zum Vorschein kommt. Syberbergs posthistorischer Wille zum Mythos zielt auf dieses Unbewusste, auf das Irrationale des unreglementierten Wunsches, der Geschichte zu entragen. Deshalb sind seine Helden Ludwig II., nicht Bis-
45 Arnold Gehlen: Über kulturelle Kristallisation. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hrsg. von Wolfgang Welsch. Weinheim: Akademie 1988. S. 133–143. S. 141. 46 Gehlen: Über kulturelle Kristallisation. S. 134. 47 Gehlen: Über kulturelle Kristallisation. S. 143. 48 Lutz Niethammer: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. S. 8.
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marck, Karl May, nicht Fontane; und deshalb auch HITLER nicht als Geschichte eines Menschen, sondern als »Menschheitsgeschichte«, »die Katastrophe als Film. Weltuntergang, Sintflut, Kosmos im Verenden«.49 Syberbergs filmischer Wille zum Mythos ist der Wille, die Geschichte ganz Bild werden zu lassen in Tableaux vivants, in denen die Zeit zum Raum wird. Daher rührt sein anti-moderner Affekt gegen die Montage-Konzeption Eisensteins, überhaupt gegen die Auffassung, »Kino sei Bewegung«,50 gegen Montage als Beschleunigungsbild. In jeder Beschleunigung erkennt Syberberg den ästhetischen Reflex der alles auslöschenden Zeit der Moderne, den Reflex einer gestückelten Zeit, die zergliedert und auslöscht. Für Syberberg hat das (Montage-)Kino selbst zum Verschwinden der Geschichte beigetragen. Es hat Tabula rasa gemacht, als es meinte, Geschichte in einer objektiven Form darstellen zu können. Jetzt haben wir, so Syberberg Ende der 1970er Jahre, nur noch »die Trümmer der Geschichte […] und müssen nun die Mythen darunter suchen«.51 So hat Anton Kaes im Jahr 1989 Syberbergs HITLER-Film denn auch zwischen einem Bewusstsein des Posthistoire und einer postmodernen Ästhetik der Fragmente situiert.52 Man müsste diese Konzeption Syberbergs, in der sich eine katastrophische Geschichtsphilosophie – wie sie sich auch beim späten Benjamin Ende der 1930er Jahre in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« findet – mit einer anti-modernistischen Ästhetik verbindet, einmal vergleichen mit dem Szenario der Nachgeschichte als einer großen Deponie, das Ernst Jünger in seinem Roman Eumeswil (1977) entwirft.53 Es würden nicht nur Parallelen zwischen der Ästhetik des Filmemachers Syberberg und der des Schriftstellers Jünger in einem bestimmten Moment aufzuzeigen sein – die Parallelen würden ohne jeden Zweifel in dem von beiden betriebenen Substitut der Geschichte durch Mythos sehr weit gehen; man käme damit vielleicht auch der neuen Aktualität beider deutschen Künstler auf die Spur, die sich nicht zuletzt darin zeigt, dass parallel zu Syberbergs »NossendorfProjekt« in Berlin in Marbach 2010/11 die große Ausstellung »Ernst Jün-
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Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 81. Syberberg: Die freudlose Gesellschaft. S. 70. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 17. Vgl. dazu Anton Kaes: From Hitler to Heimat. The Return of History as Film. Harvard: Harvard University Press 1989. S. 47–58. 53 Vgl. zu Jünger und dem Posthistoire Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München: Siedler 2007. S. 635–644.
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ger. Arbeiter am Abgrund« dem Autor gewidmet ist.54 Was beide verbindet, ist die ästhetische Transformation der für Millionen von Menschen katastrophalen und todbringenden Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert in einen Zustand des Posthistoire, der in ein subjektives Projekt des experimentellen Lebensentwurfs als Gesamtkunstwerk übergeht. Jüngers Wilflingen mit seinen Sammlungen von Käfern und Texten und durchschossenen Stahlhelmen und Syberbergs Nossendorf mit der Live-Übertragung des ländlichen Alltagslebens im weltweiten Netz – Orte der deutschen Provinz, in denen alles Kleine eine exorbitante Bedeutung suggeriert: Sie stehen am Ende des so turbulenten ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts im Fokus der Gegenwart.
D AS L EBENSMODELL K UNST IN DER N ACHGESCHICHTE Syberberg sprach schon 1990 von einem »Lebensmodell Kunst«,55 das als »Erkenntnis-Erinnerung«56 fungieren soll, als letztes Gedächtnis im Posthistoire. »Erkenntnis-Erinnerung« hat nichts gemein mit einem Vertrauen zu rationaler Erkenntnis oder untrüglicher Mnemotechnik. Es geht Syberberg vielmehr um das Ambivalente, um das Vage eines aufblitzenden Momentes, in dem durch Montage heterogene Materialien zusammenstoßen. Nicht Erinnerung an oder Erkenntnis von etwas soll befördert werden. Beides hätte possessiven Charakter, wäre Besitz von »Wahrheit«. Syberberg hingegen spricht von einer »musikähnlichen Wahrheit aus Bildern und Tönen« für »lange Meditationen intensiveren Lebens«.57 Eine musikähnliche Wahrheit ist kaum fixierbar; sie ist allenfalls ein Gewebe aus Ferne und Nähe – immer flüchtig. Gleichwohl, der erklärte Anti-Modernist Syberberg zielt auf das »Gesamtkunstwerk mit seinem Absolutheitsanspruch der Totalität«;58 er will einerseits eine ästhetische Relativität irritierender Unruhe durch Montage, andererseits will er die Totalität einer heilenden, einer erlö-
54 Vgl. die Informationen zur Ausstellung im »Ausstellungsarchiv« auf der Homepage des Deutschen Literaturachiv Marbach: http://www.dla-marbach.de. 55 Hans Jürgen Syberberg: Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege. München: Matthes & Seitz 1990. S. 58. 56 Syberberg: Parsifal. S. 251. 57 Syberberg: Die freudlose Gesellschaft. S. 236. 58 Syberberg: Parsifal. S. 246.
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senden ästhetischen Erfahrung. Das ist nur vordergründig ein künstlerischer Widerspruch – wesentlich ist es ein politischer. Fixpunkt des Syberberg’schen Geschichtsverständnisses und seiner Ästhetik, ja Fluchtpunkt, dem er durch seine Kunst zu entkommen trachtet, ist die Französische Revolution, der Göttersturz der alten Welt, nach dem eine Entsakralisierung und Profanierung des Lebens eingetreten sei. In der vollends profan gewordenen Moderne entschwinden Mythos, Religion und Natur als Mittelpunkte der Kunst; schließlich bleiben auch von der beschleunigten Geschichte nur Fragmente. Wie die Romantiker beklagt Syberberg den ›Verlust der Mitte‹ (Hans Sedlmayr) der Kunst, und wie die deutschen Frühromantiker will er ihr mit einer neuen, einer künstlichen Mythologie eine neue Mitte schaffen, die sie zur Totalität entfalten kann. Syberberg schließt an das Projekt einer ästhetischen Revolution der Moderne aus dem Geiste des Mythos an. Allein, die deutsche Suche nach dem verlorenen Paradies (Ludwig II. und Karl May) langt immer in künstlichen Paradiesen an, in Individual-Mythologien an der Grenze zum Wahn. Diesen Prozess des Umschlagens von Sinn-Suche in Selbstzerstörung verfolgt Syberberg in LUDWIG und in KARL MAY. LUDWIG ist eine komplett im Studio gedrehte Phantasmagorie im Geiste von Georges Méliès. Der König träumt sein schönheitssüchtiges Leben, das ihn von jeder Politik entfernt und entfremdet, als dieses Leben, das die Nachwelt konstruiert hat. Er ist sich seiner ›Rolle‹ bewusst und weiß, dass er sie ›schlecht gespielt‹ hat. KARL MAY, der dreistündige Film über den Schriftsteller, der die Prärien des Wilden Westens und die Schluchten des Balkan zu deutschen Seelenlandschaften macht und sich zum omnipotenten Helden, der sie dominiert, endet mit einem Auftritt des jungen Adolf Hitler bei einer Lesung des von ihm bewunderten May. In HITLER weitet Syberberg das Seelenpanorama eines Mannes auf ein Volk, auf Europa, schließlich auf den ganzen Globus aus. PARSIFAL konstatiert das Ende aller Sinn-Suche und Erlösungshoffnung, die sich im Rahmen der Geschichte bewegt. Nach dem Ende der Geschichte bleibt allein die Immanenz der Kunst, des Films, der durch »Montagebilder der untergegangenen Welt«59 zum »Ersatz für verlorene Realitäten der Vergangenheit«60 wird. Kunst ersetzt die Geschichte als verlorenen Bezugspunkt
59 Syberberg: Parsifal. S. 66. 60 Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 93.
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des Menschen. Sie wird selbst zum »Lebensmodell«.61 Indem Syberberg aber seiner Kunst den Anspruch auf Totalität zuschreibt, erbt er – ohne es zu registrieren – die Problematik aller geschichtsphilosophischen Totalisierungs-Ideen: die Frage, wie der Wille zur Totalität es mit dem widerständigen Besonderen hält. »Eine Phantasie meiner Art«, schreibt Syberberg in seinem Buch zum PARSIFAL-Film, »ist nicht erfinderischer Natur […]. Das Eigene liegt in der Kombinationsfähigkeit von Vorgefundenem zu etwas Drittem, OptischAkustischem, vielleicht zu Riechendem, Tastendem, Schmeckendem.«62 Bedeutsam ist hier zunächst die grundsätzliche Absage an das Prinzip der ästhetischen Moderne: an die Innovation, an das Schöpferische und originär Neue. Hinzukommt der Akzent des eminent Sensuellen, der Synästhesie, die der Symbolismus zum ästhetischen Prinzip erhob. Alle Sinne sollen zusammentreten, gleichsam ineinander montiert werden. Erst in der sich ergebenden Totalität einer Interaktion der Sinne schärft sich die Wahrnehmung des Film-Zuschauers für die assoziativen ›correspondances‹ (Baudelaire) des kombinierten Materials, der Bruchstücke, die Syberbergs Filme ausstreuen: Riesige Bruchsteinlager der alten Kulturen für Zitate, die sich zu neuen Kulturen schichten. Alles, was wir zeigen, hören lassen, ist schon einmal benutzt, berührt worden, und nur die Umordnung der Systeme und Bruchsteine ergibt, wenn es gelingt, das Neue.63
Hier erscheint das Neue als Ziel ästhetischer Produktion wieder ins Recht gesetzt, und zwar nun als Resultat einer umordnenden Kombinatorik – der Montage. Syberberg spricht von Montage-Effekten als von »Bildvermengungen als Entsprechungen hin und her«.64 Diese Entsprechungen erfolgen jedoch nicht auf der Ebene der Organisation des filmischen Materials, sondern als Montage im Raum vor der Kamera und als Montage auf der Tonspur. Auch spricht Syberberg vom Irrationalismus als dem Prinzip seiner Montage, doch steht dessen Dominanz das Prinzip »geprüfter Zufälle«65 entgegen. Ein geprüfter Zufall ist als Prinzip des Kombinierens von hetero-
61 62 63 64 65
Syberberg: Vom Unglück und Glück der Kunst. S. 58. Syberberg: Parsifal. S. 48. Syberberg: Die freudlose Gesellschaft. S. 83. Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 20. Syberberg: Vom Unglück und Glück der Kunst. S. 105.
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genem Material alles andere als irrational. Der Ratio – sagen wir besser: der rationalen Erkenntnis des Zuschauers – kann sich jedoch die Bedeutung, der Sinn der Entsprechungen entziehen. Das war schon das Problem der Eisenstein’schen Montage-Ästhetik. Syberberg setzt darauf, dass der Augenblick der synästhetischen Wahrnehmung von ›Vermengungen‹ im Montage-Bild identisch ist mit dem des Erkennens von Entsprechungen des Montierten. Auf die Herstellung dieser Identität zielt die »ErkenntnisErinnerung«, die assoziativ ausgelöst wird, von ordnender und analysierender Ratio nicht geregelt ist. Ihr Fundament soll das kollektive Unbewusste sein, in dem sich Individualgeschichte und Kulturgeschichte in einem internalisierten »Bildkosmos«66 decken. Durch Montage-Effekte soll dieser innere Kosmos im Zuschauer aktiviert werden – gleichsam wie in der ›talking cure‹ der Psychoanalyse: hier aber weniger durch Sprache, sondern durch Bilder und Töne. Syberberg versteht Montage somit als eine das Vergessene und Verdrängte im Bild-und-Ton-Gedächtnis der Menschheit revozierende Arbeit, als Kulturmontage: »die Montage verschiedenster menschlicher Anstrengungen«,67 Bilder, Welt-Bilder zu entwerfen, die längst verschollen sind. Betont Syberberg hier die überindividuelle Komponente der »Erkenntnis-Erinnerung«, so hebt er an anderer Stelle gerade die subjektive Freiheit hervor. Der Zuschauer soll frei sein, selbst zu kombinieren, da erst in ihm der Hintergrund der montierten Assoziationsketten deutlich wird: Er versteht seine Filme als »Erfindungen fürs innere Auge«68. In Syberbergs Ästhetik lässt sich ein merkwürdiger Widerspruch erkennen – zwischen überindividueller Determination der »Erkenntnis-Erinnerung« und subjektiver Freiheit, zwischen vorgegebener Totalität und der assoziativen Logik des Besonderen.
D ER Hitler-F ILM – EIN ÄSTHETISCHES E XPERIMENT AN G ESCHICHTSBILDERN Die Syberberg’sche Montage-Ästhetik richtet sich in toto gegen den epischnarrativen Film, der sich als Spiegel des Lebens oder als historische Rekon-
66 Syberberg: Parsifal. S. 24. 67 Syberberg: Parsifal. S. 253. 68 Syberberg: Parsifal. S. 235.
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struktion ausgibt. Diese Montage-Ästhetik ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Zunächst bedeutet Montage für Syberberg Montage vor der Kamera. Er baut im Studio Panoramen mit Versatzstücken aus Geschichte, Malerei, Architektur, Filmgeschichte und Alltagsleben auf. In diese Assemblagen stellt er Leinwände, auf die Bildmaterial, Bildzitate aus allen Bereichen der Geschichte und der Kunst projiziert und überblendet werden. Historische Realien stehen gleichrangig neben Fiktion. Die zweite Dimension der Montage ist die des gesprochenen Textmaterials. In Syberbergs Filmen können sich Personen aus den unterschiedlichsten Epochen der Geschichte begegnen, auch imaginäre Figuren treten auf. Die Simultaneität von Zeiten und die Gleichrangigkeit von Realität und Fiktion werden in einer Vielzahl montierter und kaum entschlüsselbarer Zitate auch in den Texten manifest. Sprache wird als »Sprachpartitur«69 eingesetzt, als intertextuelles Gewebe mit musikalischer Rhythmik. Die dritte Dimension ist die Montage auf der Tonspur. Hier montiert Syberberg klassische Musik, dokumentarische Textzitate, Zitate aus der Weltliteratur und Texte aus eigener Feder. Der Zuschauer hat also drei Ebenen vor sich: das, was er sieht, nämlich die im Raum montierten Kultur-Versatzstücke und Projektionen; das, was die agierenden Schauspieler (und im HITLER-Film auch Puppen) sagen, zitieren, und schließlich das, was er an Musik und weiteren Texten hört. Alle Ebenen sind gleichwertig, gleich vielschichtig, von Leitmotiven durchzogen (etwa dem Nibelungen-Mythos), zu Obertönen verdichtet (der Wagner’schen Musik). Sie überlagern sich, können aber auch durch Verschiebungen innerhalb des Bildes und auf der Tonspur aufgebrochen, konterkariert werden. Kennzeichnend für Syberbergs häufig statische Einstellungen, die diese Panoramen erfassen, ist die exzeptionelle Länge (sie können bis zu zehn Minuten dauern) und die rituelle, stilisierte Langsamkeit der Bewegungen vor der Kamera. Diese ›Welt-Revuen‹ mit ihren Assoziationsketten, die sich aus Raum- und Klang-Systemen aufbauen, mit ihrer Beziehungs- und Verdichtungs-Technik, mit den Perspektivwechseln und den Zitaten selbst in Objekten, mit ihrer Vermischung von Kunst und Kitsch, von Weihe-Festspiel, Zirkus und Tingeltangel – sind sie politische Kunstwerke? Syberberg drehte HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND in knapp drei Wochen mit einem geringen Budget von einer Million DM im Studio. Der
69 Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 22.
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Film wurde 1977 in Teilen in Cannes gezeigt, im Winter 1977 komplett in London; in Deutschland gab es 1978 nur eine einzige Kopie, die in Theatern und in Museen vorgeführt wurde, kaum in Kinos. 1979 lief HITLER im Fernsehen, das ihn koproduziert hatte. Eine ›Handlung‹ des über sieben Stunden langen Films ist nicht referierbar. HITLER hat, mehr noch als LUDWIG, den Charakter einer Phantasmagorie, eines visionären Pandämoniums, in dem die Szenen einer assoziativen Logik folgen, mehr einem mythischen Geflecht der permanenten Metamorphose ähneln denn einer epischen Konstruktion von Geschichte. Das ist der antimoderne Impuls Syberbergs. Gerade hier, beim Thema und Gegenstand Hitler gilt: Wo Geschichte war, soll erneut Mythos werden.70 Der Film ist also nur bedingt narrativ. Er ist auch nicht montiert wie ein Film Eisensteins. Er ist vor der Kamera montiert – aus Figuren, Puppen, Requisiten und Kulissen, die zugleich als Leinwände fungieren, auf die Bilder projiziert werden. Auf der Tonspur ist der Film montiert aus Fragmenten von Musik Mozarts, Beethovens, Wagners, aus Schlagern der Zeit, historischdokumentarischem Tonmaterial – etwa aus Radiosendungen und aus der »Wochenschau« – sowie aus Zitaten der Weltliteratur, Reden der Nazi-Zeit und Texten von Syberberg. HITLER ist in vier Teile gegliedert. Teil I: »Der Gral«. Nach Bildern des Kosmos erscheint die ›Black Mary‹, Edisons Filmstudio-Hütte, Geburtsstätte des Films als der kommenden Kunst des 20. Jahrhunderts, die Hitler in Dienst zu nehmen wusste. Eine Erzählerstimme aus dem Off (André Heller) kündigt an, nun werde Hitler endlich der Prozess gemacht, mit den Mitteln des Films und als »Abschied vom Abendland«. Der Film DAS CABINET DES DR. CALIGARI (D 1920) von Robert Wiene wird zitiert und mit ihm wohl auch Kracauers These, die deutschen Filme der Weimarer Republik hätten eine Mentalität mitgeformt, die zu Hitler geführt habe; eine These, die Kracauer in seinem Buch From Caligari to Hitler vertritt, das im amerikanischen Exil entstanden und 1947 erschienen ist. In ständig wechselnden Kulissen, vor Rückprojektionen und unter Verwendung verschiedener Musikstücke und historischen Tonmaterials erscheint der Schauspieler Heinz Schubert als Conférencier eines Weltuntergangszirkus, in dem Lud-
70 Zu dieser Problematik mit Blick auf den HITLER-Film vgl. Thomas Elsaesser: Myth as the Phantasmagoria of History. H. J. Syberberg, Cinema and Representation. In: New German Critique 24/25 (1981/82). S. 108–154.
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wig II., Chaplin als Hitler sowie Hitler und Goebbels als geführte Handpuppen auftreten. Es sind Spielfiguren in einem großen Welttheater, »the greatest show of the century«: Adolf Hitler. Der Totenkult der Nazis erscheint als umfassendes Symbol für die Geschichte des Dritten Reichs mit seinem Untergangspathos. Überdies wird Hitlers Kunst- und Kulturverständnis als das des ewigen Spießers dargestellt, mit Auswirkungen bis in die Gegenwart, in Ost und West. Immer wieder erscheint ein junges Mädchen. Es ist wohl das Symbol der Demokratie, und es bringt Hitler wie ein Kind hervor und bettet ihn in eine Wiege. Das Mädchen, in Filmstreifen gehüllt, fungiert auch als Bild der Melancholie. Teil II: »Ein deutscher Traum … bis ans Ende der Welt«. Ausgehend von Philipp Otto Runges Gemälde Der Morgen (1808) als Rückprojektion71 wird der deutsche Traum der Erneuerung des Lebens seit der Epoche der Romantik inszeniert, visualisiert und hörbar gemacht als Versuch einer Mythologisierung der Seele, der zum deutschen Alptraum und zum NaziMythos vom Untergang wurde. Die Führer des Dritten Reichs treten als Puppen-Gesellschaft auf; es wird über Macht und Charisma räsoniert. In einer der eindrucksvollsten Einstellungen des Films fährt Heinz Schubert als Hitler in der Toga aus dem Grab Richard Wagners auf: »Hier wurde das geistige Schwert geschmiedet, mit dem wir siegten. […] Ich war und bin das Ende eurer geheimsten Wünsche, Legende und Wirklichkeit eurer Träume«. Vorläufer der NS-Ideologie haben ihren Auftritt und schwadronieren über die »Welteislehre«, und immer wieder hört man aus dem Off die endlosen Aufrufe der Namen bei den NS-Totenfeiern. Der Schauspieler Hellmut Lange als Kammerdiener Hitlers referiert in einem 45-minütigen Monolog, in immer anderen Kulissen und durch Rückprojektionen an immer andere Orte versetzt – schließlich in der Projektion eines Fotos der Reichskanzlei in dieser monumentalen Architektur fast verschwindend – das Alltagsleben Hitlers, und die ›Banalität des Bösen‹ (Hannah Arendt) wird sichtbar. Teil III: »Das Ende eines Wintermärchens«. Der Mord an den europäischen Juden ist hier Thema, in Toneinspielungen und in Bildern aus Auschwitz. Heinz Schubert, nun als Himmler – alle Schauspieler agieren in
71 Rückprojektion meint hier, dass Syberberg durch Projektoren, die hinter den im Studio aufgestellten Projektionsflächen positioniert sind, Bilder auf diese Leinwände wirft. Die Kamera befindet sich vor den Leinwänden.
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mehreren Rollen – wird massiert und spricht zum Masseur von seinem »tragischen Konflikt zwischen Wollen und Müssen«. Teil IV: »Wir Kinder der Hölle«. Hitler erscheint als Inkarnation der deutschen Erlösungssehnsüchte: »Ich bin Deutschland, und Deutschland bin ich.« Versatzstücke deutscher Kulturgeschichte wechseln mit Bildern des Krieges in Russland. Nach dem Ende 1945, der ›Götterdämmerung‹, entsteht die Hitler-Folklore auf dem Obersalzberg, ein »deutsches Disneyland«, in dem sich Friedrich der Große und die ›Preußen-Herrlichkeit‹, der deutsche Schäferhund und Eva Braun als Lili Marleen in einem Panoptikum deutscher Sehnsüchte einstellen, die Hitler lange überleben. Der Erzähler zieht die Bilanz einer katastrophalen Einheit von Führer und Volk: »Du bist der Exekutor des Abendlandes …« Am Ende tritt das Mädchen vor der Rückprojektion des Bildes einer riesigen Träne an einem Auge erneut auf, dann hängt die Träne über der Welt. Isoliert man die Figur des Mädchens, das zu Beginn des Films mit der Demokratie und der Melancholie assoziiert wird und am Ende mit der Träne, der Trauer, dann ergäbe sich eine Klammer, die auf eine zu leistende Arbeit der Trauer hindeuten könnte. Allerdings wird in diesem irrationalen Konstrukt aus Bildern und Tönen, die sich permanent überlagern, die ineinander und gegeneinander getrieben werden, in diesem Palimpsest deutscher und europäischer Zeit- und Kultur(ge)schichten nicht klar, worum getrauert wird: über den ›Untergang des Abendlandes‹ (Oswald Spengler), über das Scheitern der Demokratie 1933, gar über das Scheitern Hitlers oder doch über die Millionen von Opfern, die dieser Wahn gefordert hat? Klar ist: »Man wird […] umsonst bei Syberberg nach Worten des Mitgefühls für die nicht-deutschen Opfer des Nazismus suchen. Das ist nicht sein Thema. Sein Thema ist Deutschland«.72 Deutsche Ideologie ist hier mal Tragödie, mal Possenspiel, wird mal wagnerianisch in langen Einstellungen auf eine überladene Szenerie in Nebelschwaden bis zum Bersten am Übermaß des Kitsches aufgebläht, mal brechtianisch aufgebrochen. Dem Zuschauer und Zuhörer wird alles an Konzentration abverlangt, denn der Film ist bewusst ambivalent; er versucht, einen Zustand zu erzeugen, geradezu einen rauschhaften Sog, in dem sich die Faszination am Bösen (vielleicht)
72 Serge Daney: Immer noch Preuße. In: Ders.: Von der Welt ins Bild. Augenzeugenberichte eines Cinephilen. Hrsg. von Christa Blümlinger. Berlin: Vorwerk 2000. S. 105 f. S. 105.
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mit der Einsicht in dessen gefährliche Banalität mischt. Syberberg nimmt einerseits Walter Benjamins berühmtes Diktum von der faschistischen ›Ästhetisierung der Politik‹ aus dem Kunstwerk-Aufsatz ernst und überbietet es noch bis zur Übersteigerung, Hitler sei ein Produkt der Romantik und des Films, den er sich durch Goebbels dienstbar mache. Es finden sich aber auch Momente, welche die deutsche Ideologie direkt angreifen, etwa die lange Sequenz, in der Peter Kern als Oberscharführer Ellerkamp, Diener und Filmvorführer Hitlers auf dem Obersalzberg, über Hitlers Musikalität, seine Liebe zum Schäferhund Blondie und sein Vegetariertum schwätzt. Dazu sind auf der Tonspur der Fledermaus-Walzer zu hören, dann Fronttheater-Lieder der Landser-Seligkeit, schließlich Stille Nacht und Üb’ immer treu und Redlichkeit, übergehend ins Lied der Deutschen. Deutsche Ideologie und deutsche Mentalität – und zwar nicht nur die der Nazi-Zeit – werden einsichtig als Gemengelage aus dem Moralismus der Alles-besserWissenden, die zugleich zwischen Auflösungssehnsucht und Allmachtsphantasien schwanken. In solchen Epiphanien, die aus der Kollision von Bild, Sprache und Musik entstehen, besitzt Syberbergs Film auch eine Kraft, die das Irrationale einer Mentalität transparent werden lässt: auf die Inhumanität hin, die ihre Basis bildet. Der Film erschien in Deutschland zu einem Zeitpunkt, in dem die Auseinandersetzung mit Hitler durch Joachim Fests Biographie Hitler (1973), durch den Film HITLER – EINE KARRIERE (1977) von Fest und Christian Herrendoerfer und durch Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler (1978) bestimmt war. Doch der Film HITLER stieß in dieser Situation auf wenig Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Wolfram Schütte etwa erkannte in seiner Kritik vor allem den »Fall eines subjektiven Kaleidoskops«, ein in »Einfalt« erstelltes »Kuddelmuddel« von Bildern, Tönen und Zitaten. 73 Syberbergs HITLER treibt in der Tat die Formen filmischer Darstellung von Geschichte und filmischer Arbeit an Geschichtsbildern durch seine experimentelle Montage-Ästhetik in ein Extrem. Die Entfesselung der Bedeutungsvielfalt von heterogenem Material ist die Chance der assoziativen Montage nicht nur zur »Revolution in der Darstellbarkeit von Welten«, sondern auch dazu, im Rezipienten »neue Systeme des Denkens und Füh-
73 Wolfram Schütte: Der Erlöser ruft oder Parzifal sucht Bayreuth. In: Frankfurter Rundschau (16. Juni 1978). S. III.
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lens«74 entstehen zu lassen. So wird – produktionsästhetisch – gebundene Bedeutung entfesselt; so wird – rezeptionsästhetisch – die Phantasie des Zuschauers, seine ästhetische Wahrnehmung sensibilisiert, also aus den Konventionen normierten Wahrnehmens befreit. Diese Dimension der Montage-Ästhetik verbindet Syberberg mit der radikalen Moderne und Avantgarde, insbesondere mit dem Surrealismus, mit dem Syberberg auch die Fixierung auf die Traum-Logik und das Unbewusste teilt. Durch Montage-Effekte kann das optisch und akustisch Unbewusste im Assoziationsgefüge sichtbar und hörbar gemacht werden. So gesehen, ist auch die Ablösung des linear-kausalen, des chronologischen Geschichtsbildes durch posthistorische Simultaneität, durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Gleichwertigkeit von Realität und Fiktion eine Chance: die Dinge, Figuren, selbst Ereignisse neu zu kombinieren, assoziativ in neue Konstellationen und Konfigurationen zu stellen, nachdem deren historisch eindeutiger Sinn sich verflüchtigt hat. Gerade dies stellt Gilles Deleuze in seiner Kino-Philosophie des ›Zeit-Bildes‹ heraus: Die Originalität Syberbergs gründet nicht zuletzt in der Ausbreitung eines weiten Raums von Informationen, eines komplexen, heterogenen, anarchischen Raums, in dem Triviales und Kulturelles, Öffentliches und Privates, Historisches und Anekdotisches, Imaginäres und Reales in enger Nachbarschaft zueinander stehen, […] unter Verhältnissen, die niemals solche der Kausalität sind.75
Diese Entgrenzung, ja Entfesselung historisch gebundenen Sinnes zur anarchischen Polysemie und Polyvalenz, die Syberbergs Montage-Ästhetik befördern will, ist die Möglichkeit der posthistorischen Kunst, das Material der Geschichte mit »reizvoller Unverantwortlichkeit zu umspielen« (Gehlen).76 Damit stellt sich aber die Frage nach der möglichen Rezeption anarchischer Polysemie – vor allem, wenn das Thema des Films Hitler ist. Fredric Jameson stellt diese Frage nach der »tension between the referential and aesthetic play« bei Syberberg und kommt zum Schluss: it is the viewing subject who enjoys the freedom to take such works as political art or as art tout court. It is on the viewing subject that the choice falls as to
74 Syberberg: Syberbergs Filmbuch. S. 13. 75 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 [franz.: Cinéma 2. L’image-temps (1985)]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 343 f. 76 Gehlen: Über kulturelle Kristallisation. S. 143.
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whether these films have a meaning in the strong sense, an authentic resonance, or are perceived simply as texts, as a play of signifiers.77
Die Wahl des Rezipienten, sich ganz auf das durch Montage entfesselte »play of signifiers« einzulassen, würde so – gerade bei einem Film wie HITLER – zu einer rein ästhetischen Wahrnehmung, vielleicht gar zu einer rein ästhetizistischen: zum ästhetischen Spiel um seiner selbst willen.
D IE DORISCHE W ELT UND DIE NEUE E INFACHHEIT Syberberg führt seine Ästhetik in einer ihrer Dimensionen dicht heran an eine mögliche rein ästhetische Wahrnehmung, wenn er von der »Wiedereinführung und Rehabilitierung der Allegorie«78 spricht, die Sinn zu SinnPartikeln dekonstruiert und so ein schier unendliches Bedeutungs-Surplus entstehen lässt. Alle Eindeutigkeit zerfällt im »Wahnwitz des Augenblicks«79 ästhetischer Wahrnehmung, in dem die Bild- und Ton-Montagen im Kopf des Zuschauers zu neuen Gefügen zusammentreten. Solche Plötzlichkeit, wie sie Karl Heinz Bohrer in seinen Schriften immer wieder analysiert, suspendiert die Kontinuität der Zeit- und Raum-Erfahrung. Von »Urblitze[n] der Erfahrung«80 ist bei Syberberg die Rede, die nach dem Abtragen historischer Schichten der Erfahrung plötzliche Einsichten in die Gespaltenheit des Sinnes und der Sinnlichkeit vermitteln könnten. Dies wäre – immer noch – die Chance einer Ästhetik des Posthistoire als allegorischer Phantasie, die Syberberg umreißt als: monologische Struktur in der dialektischen Form des maskierten Ich, Aneinanderreihung von Texten statt Charakterfiguren, Musik, Gegenstände von allegorischer Bedeutung, archaisch wirkende Bilder im Sinne seelischer Vorgänge, sich überlagernd, gegeneinander geführt, Fragmentarisches, Skizzenhaftes.81
77 Fredric Jameson: »In the Destructive Element Immerse«: Hans-Jürgen Syberberg and Cultural Revolution. In: Ders.: Signatures of the Visible. New York: Routledge 1992. S. 63–81. S. 81. 78 Syberberg: Die freudlose Gesellschaft. S. 235. 79 Syberberg: Parsifal. S. 255. 80 Syberberg: Vom Unglück und Glück der Kunst. S. 61. 81 Hans Jürgen Syberberg: Der Wald steht schwarz und schweiget. Neue Notizen aus Deutschland. Zürich: Diogenes 1984. S. 501 f.
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Die Tendenz einer solchen Ästhetik, die Zeiten zu Bildern und Tönen schichtet, montiert, lässt allerdings im Anklang an Carl Gustav Jungs Verbindung von Archaik und Psyche lineares Denken zugunsten von zyklischem Denken hinter sich. Alles kehrt in einem solchen Kunstverständnis als Bildpotential wieder, alles ist dieser Ästhetik verfügbar. Wo die postmoderne Ästhetik sich jedoch in allen Spielarten der Retotalisierung des Fragmentarischen und Skizzenhaften verweigert, den Verlust des Sinnzusammenhanges als Fait accompli bejaht, da spricht Syberberg seiner Ästhetik des Posthistoire immer wieder eine Totalitätsabsicht zu, hinter der die Gewissheit steht, »dass wir Gefangene sind übergeordneter Gesetze«, die zu befolgen sind als die Gesetze eines zum »Erhabene[n]« remythisierten Schicksals, das sich nie wandelt.82 Syberbergs radikale Anti-Moderne wendet sich gegen die Postmoderne, für die auch der Mythos zum Spielmaterial geworden ist. Seine Montage im Steinbruch des Posthistoire unterstellt sich übergeschichtlichen Gesetzen, um eine neue Ganzheit und Einheit zu stiften, deren Vorbild sie doch der Geschichte entnimmt: dem Gesamtkunstwerk Richard Wagners und dessen ›Mytho-Politik‹. Syberbergs »neue Metaphysik als Mythos per Film«83 nimmt die ästhetischen Potentiale der Montage-Technik in den Dienst einer Kunst-Politik, die »Urblitze der Erfahrung« nur entzündet, um aufblitzende Erfahrung jeder Subjektivität zu entziehen und einem Unterbewusstsein zuzuschlagen, in dem Individuum und Kollektiv identisch sein sollen. So soll – gleichsam dionysisch – das Individuationsprinzip ästhetisch gesprengt, die Differenzierungsstrategie der neuzeitlichen Moderne ausgehebelt werden, auf dass ein Identifikationsmuster entsteht, das lebenspraktisch wirksam wird. Syberbergs Ästhetik legt es vor allem auf eine mythisch-kollektive, entdifferenzierte Identität an, nicht auf die ästhetisch-blitzhafte Einsicht in jene Vielfalt und in jene Frakturen, aus denen die Moderne und das moderne Subjekt bestehen. Das »Lebensmodell Kunst«, aufgeladen mit Mythoskonzepten und metaphysischen Absolutheitsansprüchen aus dem kulturellen Reservoir des Abendlands, soll die Wunden heilen, die die Geschichte geschlagen hat. Letztlich beharrt Syberberg darauf, dass auch Montage zurücktreten muss, lassen sich doch nie die Spuren des Subjektiven an und in ihr ganz tilgen: »und statt Montage diese Welterlösung als Selbsterlösungswerk im Spiel der
82 Syberberg: Der Wald steht schwarz und schweiget. S. 502. 83 Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. S. 30.
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Mittel, die unsere Zeit uns gab – und das ist hier der Film«.84 Hatte die klassische Montage-Konzeption die Herstellung von Denkbildern im Sinn, die einer vertieften Apperzeption und Erkenntnis von Realität dienen, so ebnet Syberbergs Ästhetik die Differenz von Subjektivem und Objektivem grundsätzlich ein, die Montage dialektisch vermittelt. Film soll im Spiel der Mittel eine neue paradiesische Undifferenziertheit aufscheinen lassen, die noch in ihrer profanen Form als ästhetischer Zustand ›Erlösung‹ vom Leid moderner Subjektivität wäre. Syberbergs Ästhetik tendiert zu einer Ästhetik der Überwältigung der Subjekte, denen ›Erlösung‹ von der Moderne verordnet wird. Jeder historische Bruch mit Mythos und mythisch gedeuteter Kollektivität gilt Syberberg als tragisch sowie gleichzeitig als eine durch Kunst zu schließende Wunde. Die Kunst soll das ›Ja‹ aus der Tragik der Geschichte sprechen. Der erste Preis, der für dieses ›Ja‹ zu entrichten ist, ist die Preisgabe des Subjektes, des schlechthin Besonderen und Einzelnen. In Kunst, wie Syberberg sie will, wird nicht auf das Subjekt gezielt, sondern auf den »Tempel, das Schloß, das Andachtsbild, de[n] heilige[n] Text, die Musik als Klang der Sphärenwelten«,85 auf die Manifestation einer von Geschichte (scheinbar) nicht (mehr) betroffenen Autorität: der des Künstlers Syberberg. Auf diese Weise kehrt eine Ästhetik, die zunächst auf die Trümmer der Geschichte gesetzt hat, zu einer Kunstauffassung zurück, in der sich die Einheit eines souveränen Willens zur Schöpfung mit der Macht, ihn durchzusetzen manifestiert. Die absolute Kunst als ›Selbsterlösungswerk‹ wird tendenziell absolutistisch. Das ist der historisch-politische Kern von Syberbergs experimenteller Anti-Moderne, denn diese Kunst bezieht ihre Energie aus einem Willen zur ästhetischen Schöpfung, dem – wie beim Bau von Tempeln und Schlössern – auch Menschen, auch Subjekte nur Material sind, das sich wie Dinge kombinieren, montieren und schließlich konsumieren lässt. Syberbergs Montage-Ästhetik auf der Basis europäischer Kulturassoziationen und der Bild- und Tonvermischungen ist inspiriert von der Avantgarde und deren Angriff auf allen autoritär gesetzten Sinn. Sie wird jedoch selbst autoritär durch ihren affirmativen Gestus, durch das unbedingte ›Ja‹ zur Preisgabe des Subjekts, zu seiner Unterwerfung. Was im Montage-Kunstwerk an Bruchstücken der Kultur und Geschichte zur Einheit eines Lebensmodells zusammentritt, das soll – so will
84 Syberberg: Parsifal. S. 263. 85 Syberberg: Vom Unglück und Glück der Kunst. S. 176.
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es Syberberg – nur Vorschein sein, Vorschein des »zum Kunstwerk gewordene[n] Leben[s] des zum Staat geronnenen Volkes«.86 Dieser posthistorische Ästhetizismus, der sich aller Einsichten in die Konsequenzen eines zum Staat und im Staat »geronnenen« Lebens meint entschlagen zu können und sich eine ›dorische Welt‹ (Gottfried Benn) halluziniert, funktioniert letztlich die ästhetische Avantgarde in eine politische Anti-Moderne um und bleibt darin erschreckend modern. Hans Jürgen Syberbergs Rückzug nach Nossendorf, zurück zum Ursprung in deutscher Provinz und hin zur Restauration einer individuellen Vergangenheit, und die Ausrichtung seines Lebens und seines Werks auf diesen Ursprung im »Nossendorf-Projekt« lässt sich deuten als mögliche Revision dieser Implikation seiner Ästhetik und seiner Filme, die nun, im Nossendorf-Kontext, erscheinen können als eine über vierzig Jahre währende subjektive Suche nach der verlorenen Zeit und der verlorenen Heimat. Die obsessive experimentell-ästhetische Beschäftigung mit deutscher und europäischer Geschichte und Kultur in LUDWIG, KARL MAY, HITLER, PARSIFAL und in DIE NACHT – einem aus Texten von Sophokles bis Beckett montierten Monolog der Schauspielerin Edith Clever zu Musik von Bach und Wagner, einem ›Endspiel des Abendlands‹ – wird in Nossendorf auf einen wohl auch experimentellen Versuch zurückgeführt, eine Einfachheit des Lebens wiederzugewinnen und sie mittels avancierter Medientechnik darzustellen in jenen Tableaux vivants, die Syberbergs Webcams im Netz zeigen: den Wandel der Jahreszeiten, Obst auf einem Tisch, ein frugales Mahl – es handelt sich nur um essentielle Phänomene und Dinge des Lebens, die schnell zu erfassen und zu deuten sind und doch höchst bedeutsam erscheinen. Dass dieses Projekt Syberbergs ihn aus der Sphäre der Vergessenheit wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten ließ, kann man interpretieren als sein neues Erscheinen im Einklang mit einer Zeitstimmung in Deutschland. Die Zeit der großen politischen und ästhetischen Experimente, die Zeit der Wagnisse ist definitiv zu Ende. Gekommen ist die Zeit der privaten Experimente, die darauf zielen – und angeblich darauf zu zielen haben – mit dem Einfachsten auszukommen. Dagegen muss man dann doch an das erinnern, was Syberbergs höchst komplexe ästhetische Experimente, in aller Problematik, einmal wollten: Sie wollten dazu provozieren, den Experimenten zu widersprechen.
86 Syberberg: Vom Unglück und Glück der Kunst. S. 184.
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F ILMOGRAFIE (Erfasst werden hier nur die Filme von Hans Jürgen Syberberg, auf die im Text Bezug genommen wird. Eine ausführliche Filmografie findet sich in dem von Christian Longchamp herausgegebenen Band, siehe das Literaturverzeichnis. Hans Jürgen Syberberg vertreibt eine DVD-Edition seiner Filme. Die Filme, bei denen das verzeichnet ist, sind auch bei der Filmgalerie 451 auf DVD erhältlich.) Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König (BRD 1972). Regie und Buch: Hans Jürgen Syberberg. Kamera: Dietrich Lohmann. Schnitt: Peter Przygodda. Musik: Richard Wagner u. a. Produktion: TMS Film GmbH/ZDF. Vertrieb: DVD: H. J. Syberberg/Filmgalerie 451. Farbe, 35 mm, 134 Min. Darsteller: Harry Baer (Ludwig II.), Peter Kern, Ingrid Caven (in verschiedenen Rollen) u. v. a. Karl May (BRD 1974). Regie und Buch: Hans Jürgen Syberberg. Kamera: Dietrich Lohmann. Schnitt: Ingrid Broszat. Musik: Fréderic Chopin, Franz Liszt, Gustav Mahler u. a. Produktion: TMS Film GmbH. Produktionsleitung: Bernd Eichinger. Vertrieb: DVD: H. J. Syberberg/Filmgalerie 451. Farbe, 35 mm, 187 Min. Darsteller: Helmut Käutner (Karl May), Kristina Söderbaum, Käthe Gold, Attila Hörbiger, Lil Dagover, Rudolf Prack (in weiteren Rollen). Hitler, ein Film aus Deutschland (BRD/F/UK 1977). Regie und Buch: Hans Jürgen Syberberg. Kamera: Dietrich Lohmann. Schnitt: Jutta Brandstaedter. Musik: Richard Wagner, Gustav Mahler, Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach u. a. Produktion: TMS Film GmbH/WDR/INA Paris/BBC London. Vertrieb: DVD: H. J. Syberberg/Filmgalerie 451. Farbe, 35 mm, 437 Min. Darsteller: Heinz Schubert, Hellmut Lange, Peter Kern, Martin Speer u. v. a. (in verschiedenen Rollen), André Heller u. Harry Baer (Erzähler). Parsifal (BRD/F 1982). Regie und Buch: Hans Jürgen Syberberg, Film-Adaption von Richard Wagners »Parsifal«. Kamera: Igor Luther. Schnitt: Jutta Brandstaedter, Marianne Fehrenberg. Musik: Richard Wagner. Produktion: TMS Film GmbH/BR/Gaumont Paris. Vertrieb: DVD: H. J. Syberberg. Farbe, 35 mm, 255 Min. Darsteller/Sänger: Michael Kutter, Karin Krick (beide als Parsifal, gesungen von Rainer Goldberg), Armin Jordan (Amfortas, gesungen von Wolfgang Schöne), Martin Speer (Titurel, gesungen von Hans Tschammer), Robert Lloyd (Gurnemanz), Aage Haugland (Klingsor), Edith Clever (Kundry, gesungen von Yvonne Minton). Die Nacht (BRD 1985). Regie und Buch: Hans Jürgen Syberberg. Kamera: Xaver Schwarzenberger. Schnitt: Jutta Brandstaedter. Musik: Johann Sebastian Bach, Richard Wagner. Produktion: TMS Film GmbH. Vertrieb: DVD: Hans Jürgen Syberberg. Farbe und s/w, 35 mm, 360 Min. Einzige Darstellerin: Edith Clever.
IV. Experimente in der Musik
Filmmusikalische Experimente zwischen Bild und Ton oder: Der betrunkene Klavierspieler
N INA N OESKE
ABSTRACT: Der Beitrag geht anhand unterschiedlicher Beispiele aus dem Umfeld und Grenzbereich der ›Filmmusik‹ der Frage nach, inwiefern sich das Zusammenspiel von Bild und Ton, Sehen und Hören als Wahrnehmungsexperiment eigener Art auffassen lässt. Die Anliegen der hier vorgestellten Regisseure und Komponisten unterscheiden sich in ihrer Zielsetzung dabei deutlich: So schwankt die Koppelung zweier Wahrnehmungsbereiche zwischen dem reinen Zufallsexperiment und dem bewusstkontrollierten Einsatz des klanglichen Mediums zur Erzielung einer bestimmten Wirkung beim Rezipienten.1
Z UFÄLLE , K OINZIDENZEN , W AHRSCHEINLICHKEITEN 1960 notierte Siegfried Kracauer folgendes Jugenderlebnis: Der betrunkene Klavierspieler: Ich kann mich noch genau an ein altes Kino erinnern, das ich in längst vergangenen Zeiten mit Vorliebe zu besuchen pflegte.
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Beim vorliegenden Text handelt es sich um die Schriftfassung eines Vortrags; der entsprechende sprachliche Duktus wurde weitgehend – mit geringfügigen Änderungen – beibehalten.
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[…] Die Musik in diesem Kino wurde von einem grauhaarigen Klavierspieler geliefert, der genauso hinfällig und verbraucht war wie die verblaßten Plüschsessel und die vergoldeten Gipsengel. Auch er hatte einmal bessere Tage gesehen. In seiner Jugend war er ein begabter Künstler gewesen, mit einer glänzenden Zukunft vor sich; aber dann war er dem Trunk verfallen […]. Er befand sich selten in einem Zustand, den man hätte nüchtern nennen können. Und wenn er spielte, war er so völlig in sich selbst versunken, daß er auch nicht einen einzigen Blick auf die Leinwand verschwendete. Seine Musik schlug einen Kurs ein, der sich nie voraussehen ließ. Manchmal – vielleicht unter dem Einfluß eines leichteren Rausches – improvisierte er frei, als hätte er das Bedürfnis, die vagen Erinnerungen und stets wechselnden Stimmungen auszudrücken, die der Alkohol in ihm hervorrief; bei anderen Gelegenheiten befand er sich in einem solchen Zustand der Betäubung, daß er ein paar beliebte Schlager wieder und wieder spielte und sie nur mechanisch mit brillanten Läufen und Trillern verzierte. So war es keineswegs ungewöhnlich, daß etwa in einem Film, den ich gerade sah, fröhliche Melodien in dem Augenblick ertönten, als der empörte Graf seine treulose Frau aus dem Haus warf, und daß ein Trauermarsch die blaugefärbte Szene ihrer schließlichen Versöhnung untermalte. Dieser Mangel jeglicher Beziehung zwischen den musikalischen Themen und der Handlung, die sie unterstützen sollten, war mein ganzes Entzücken, denn er ließ mich die Filmhandlung in einem neuen, unerwarteten Licht sehen und, wichtiger noch, er regte mich dazu an, mich in der unerforschten Wildnis zu verlieren, die durch die vieldeutigen Aufnahmen erschlossen wurde. Gerade weil der alte Klavierspieler die Bilder auf der Leinwand nicht beachtete, veranlaßte er sie dazu, manche ihrer Geheimnisse preiszugeben. Auf der anderen Seite schloß die Tatsache, daß er sie unbeachtet ließ, das Zustandekommen unwahrscheinlicher Parallelen keineswegs aus. Ab und zu paßte sich seine Musik dem dramatischen Geschehen mit einer Genauigkeit an, die mir um so mirakulöser erschien, als sie völlig unbeabsichtigt war. Es war dieselbe Art der Sensation, die ich spürte, wenn ich beim Spazierengehen auf der Straße entdeckte, daß die gemalten Zeiger einer jener Uhren, wie sie vor Uhrmacher-Läden zu hängen pflegen, genau die richtige Zeit angaben, wenn ich an dem Laden vor2 beiging.
2
Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1964; engl.: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality (1960)]. Vom Verf. revid. Übers. von Friedrich Walter u. Ruth Zellschan. Hrsg. von Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. S. 191.
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Was Siegfried Kracauer im Musik-Kapitel seiner Theorie des Films (1964; engl. Theory of Film, 1960) beschreibt, ist ein hochgradig experimentelles Setting: Eine vorgegebene, in sich schlüssige Bilderzählung, die Filmhandlung, wird kombiniert mit einer autonom existierenden klanglichen Schicht, die auf den ersten Blick keinen erkennbaren Zusammenhang mit der optischen Ebene aufweist. Dabei ist die klangliche Ebene, die Musik, ähnlich sinnvoll und in sich stimmig wie die Bilderzählung; was jedoch ›gekappt‹ ist, ist die Verbindung zwischen Klang und Bild – und zwar dann, wenn man von einer bewussten, Zusammenhang stiftenden ›Intention‹ ausgeht. Da der Pianist betrunken ist, das heißt, in seiner eigenen, nur aus Klängen bestehenden Welt lebt, in der er von der ›Außenwelt‹ lediglich Rudimente wahrnimmt, kann er – wiederum: bezogen auf die Bildebene – als eine Art Zufallsgenerator gelten, eine Music-Box mit eingebauter Random-Funktion. Der junge Kracauer wohnt also einem Wahrnehmungs-Experiment mit zwei Unbekannten bei: Denn nicht nur weiß der Klavierspieler nichts vom Film, sondern auch der Film weiß nichts von der Musik. Sobald ein wie auch immer gearteter Bezug zwischen Bild und Ton erkennbar ist, ereignet sich somit ein Wunder: Zufällig ergibt die im Kino erlebte Welt als ganze Sinn; auf diese Weise wird, so Kracauer, das ›hinter‹ Bild und Ton liegende »Geheimnis« erkennbar. Dass derartigen Ereignissen ein ›Zauber‹ innewohnt, ergibt sich nahezu zwangsläufig aus der Unwahrscheinlichkeit einer solchen sinnfälligen Verbindung. Das Beispiel der im Straßenbild zufällig die richtige Uhrzeit anzeigenden feststehenden Zeiger veranschaulicht dies in Zahlen: Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Situation beträgt, wenn man von der Minute als kleinster Einheit ausgeht, 1:1440. Ähnliches wie bei Kracauers frühen Kinobesuchen geschieht in einem filmmusikalischen Experiment, das als THE DARK SIDE OF OZ oder auch THE DARK SIDE OF THE RAINBOW bekannt geworden ist: Es handelt sich hierbei um die Kopplung des bekannten Filmes THE WIZARD OF OZ (USA 1939; Regie: Victor Fleming) mit dem 1973 erschienenen, überaus erfolgreichen Album Dark Side of the Moon von Pink Floyd.3 Das Resultat ist bemer-
3
Vgl. hierzu John Richardson: Resisting the Sublime: Loose Synchronization in La Belle et la Bête and The Dark Side of Oz. In: MusicoLogical Identities. Essays in Honor of Susan McClary. Hrsg. von Steven Baur, Raymond Knapp u. Jacqueline Warwick. Aldershot: Ashgate 2008. S. 135–148.
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kenswert: Die zahlreichen Koinzidenzen zwischen Bild- und Klangebene, die auf diese Weise entstehen, führten sogar zu Spekulationen darüber, dass die Band, in steter Tuchfühlung mit dem bewegten Bild, genuine ›Filmmusik‹ komponiert habe. Pink Floyd widersprachen derartigen Mutmaßungen jedoch konsequent. Einige Beispiele sollen der Veranschaulichung dienen: So ändert die Musik deutlich ihren Charakter, als die von Judy Garland dargestellte Dorothy, die zuvor (ausgerechnet zum Pink-Floyd-Text »Balanced on the biggest wave«) auf dem Zaun eines Schweinestalls balancierte, von diesem herunterfällt (vgl. 0:04,10–0:04,20). Ihr ahnungsvoller Blick in den Himmel wird von nicht näher definiertem, unheilvollem Rauschen, Motoren- und Gewittergeräuschen begleitet (vgl. 0:07,15–0:08,06). Das anschließende Einfahren der ›wicked witch of the west‹ auf dem Fahrrad wird punktgenau durch das Klingeln mehrerer Wecker, die ebenso Fahrradklingeln sein könnten bzw. durch das signalhafte Läuten von Uhren angezeigt (vgl. ab 0:08,07). An einer weiteren Stelle ist just in dem Moment, in dem Dorothy bemerkt, dass der Blechmann kein Herz besitzt, in der Musik Herzklopfen zu hören (vgl. ab 0:42,35); und beim Betreten des Zauberlandes, das mit dem Übergang zum Farbfilm einhergeht, setzt die Musik nach einer längeren Pause im Gegensatz zur vorherigen Sequenz rhythmisch markant ein – wiederum eingeleitet durch mechanisch klingende Geräusche (vgl. ab 0:19,31). Es stellt sich die Frage, ob diese Konstellation von Bild und Ton bloßer ›Zufall‹ ist oder nicht. Auch hier gilt, um mit Kracauer zu sprechen, dass die Musik von Pink Floyd die Bilder dazu bringt, »manche ihrer Geheimnisse preiszugeben«: So löst Dorothys Sturz vom Zaun mit Hilfe der Musik plötzlich und unerwartet eine ungeahnte Dramatik, den Eindruck einer inneren (psychischen) Spannung aus, die angesichts der äußerlich banalen Handlung zunächst unangemessen erscheint, die Innenwelt Dorothys jedoch zugleich als überaus ›bedeutsam‹ herausstellt. Zudem verleiht die von weit her klingende, elektronisch verfremdete Stimme aus Dark Side of the Moon der im selben Moment ins Bild tretenden Tante Emmy einen fremdartigen, quasi ›außerirdischen‹ Eindruck (vgl. ab 0:04,42) – Zeugnis der Wahrnehmung der pubertierenden Protagonistin, der die heimatliche Idylle nicht mehr vertraut ist. THE WIZARD OF OZ scheint tatsächlich auf der ›anderen Seite des Mondes‹ zu spielen, ein vordergründig harmloses Märchen gewinnt die Dimensionen eines Albtraums.
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Die Spekulationen über entsprechende diesbezügliche Intentionen der Band sind müßig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unser Gehirn in einem solchen Maße auf Sinnstiftung hin angelegt ist, dass selbst die auf den ersten Blick abwegigsten Koppelungen von Bild und Ton einer imaginären Logik untergeordnet werden. Bei der Verknüpfung von Dark Side of the Moon mit THE WIZARD OF OZ ergeben sich für die Wahrnehmung offenbar besonders viele Momente, welche in ihrer Sinnhaftigkeit zur Deutung herausfordern.4 Für die Koppelung mit der Musik Pink Floyds sei die Hypothese in den Raum gestellt, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass zwei in sich stimmige, sich in der Zeit entfaltende Kunstwerke, die zudem beide in einer ähnlichen Geschwindigkeit – etwa hinsichtlich des Wechsels von Szenen und der Entfaltung von Stimmungen – von ›wunderbaren Welten‹ erzählen, möglicherweise vergleichbare Proportionen aufweisen: Plötzliche Richtungsänderungen, Peripetien der Handlung und Änderungen von Setting und Personenkonstellation, das heißt, die Geschehnisse in Zeit und Raum sind ähnlichen Gesetzen unterworfen. Bemerkenswert ist jedoch, dass insbesondere die raumakustischen Ereignisse bei Pink Floyd teilweise überraschend parallel mit den räumlichen Parametern der Bilderzählung laufen.
B ILD UND T ON , S EHEN UND H ÖREN Die Tatsache, dass Musik bewegte Bilder charakteristisch ›einzufärben‹ vermag, machte man sich bereits zu Beginn der Stummfilm-Ära in den 1890er Jahren zunutze. So gibt es für den eigentlichen Grund des Einsatzes von Musik im Kino mehrere Hypothesen: Neben der Vermutung, dass die Klänge das Projektoren-Geräusch übertönen sollten, findet sich unter anderem die Hypothese, dass das Publikum schon damals ›Stille‹ nicht zu ertragen vermochte und diese – zumal in Verbindung mit einer erzählten Geschichte oder Schilderung einer Situation – als unheimlich empfand.5 Viel
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5
Man unternehme einmal das Experiment und höre zu diesem Film das Album Kid A (2000) von Radiohead oder die Tales of Mystery and Imagination (1976) von The Alan Parsons Project: Auch hier ist die Menge der Koinzidenzen zumindest auf den ersten Blick erstaunlich. Vgl. hierzu u. a. Anno Mungen: »BilderMusik«. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikauf-
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näherliegender erscheint jedoch der Hinweis darauf, dass bereits in der alltäglichen Wahrnehmung in den seltensten Fällen die optische und die akustische Ebene isoliert auftreten: Zu denken ist an kulturelle Erzeugnisse wie Opern- und Theateraufführungen sowie an Zirkus- und JahrmarktSpektakel aller Art; die Moritatensänger etwa verwiesen bei ihren Auftritten stets auf das veranschaulichende Bild. Anno Mungen gelangt entsprechend zu der Erkenntnis, dass Filmmusik nicht plötzlich begann, Realität zu sein, sondern die Begleitung von medialen großformatigen und bewegten Bildern mit Musik eine Tradition aufweist, die weit ins 19. Jahrhundert, ja sogar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreicht. […] Filmmusik ist phänomenologisch eine 6 Kunstform des 19. Jahrhunderts.
Der polnischen Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa zufolge, die 1964 als eine der ersten, die sich überhaupt mit diesem Thema intensiv beschäftigten, eine Ästhetik der Filmmusik (1965; poln. Estetyka muzyki filmowej, 1964) veröffentlichte, dominiert dabei fast immer die visuelle Schicht. Die Musik sei im Film entsprechend, so Lissa, der optischen Schicht völlig unterworfen, bildet aber mit ihr eine viel stärkere Einheit als in anderen synthetischen Künsten, und zwar eine Einheit dialektischen Typs; denn erst beide gemeinsam bilden die Ganzheit höheren Grades. Wenn das Bild einen konkreten einzelnen Inhalt gibt, so gibt die Musik dessen allgemeinen Untergrund: Das Bild ›vereinzelt‹, konkretisiert, die Musik verallgemeinert, gibt allgemeine Ausdrucksqualitäten oder Charakteristiken und dehnt damit den Wirkungsbe7 reich des Bildes aus.
6 7
führungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Remscheid: Gardez! 2006 (= Filmstudien 45). S. 358: »Das Zerstreuen von Angst und die Erfüllung des Rezipienten mit Emotionen bilden zwei Seiten der gleichen Medaille: Musik vertreibt Angst; zur gleichen Zeit holt Musik Verborgenes hervor und belebt eine neue Realität.« Mungen: »BilderMusik«. S. 352. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik [poln.: Estetyka muzyki filmowej, (1964)]. Berlin: Henschel 1965. S. 20. Lissa beschäftigte sich bereits in den 1930er Jahren mit Filmmusik; vgl. Zofia Lissa: Muzyka i film. Studium z pogranicza ontologii, estetyki i psychologii muzyki filmowej, Lwów: Księgarnia Lwowska, 1937. Eine kurze Einführung in ihre Filmmusik-Ästhetik gibt Tarek Krohn: Äs-
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Damit verleihe »die Musik den visuell gegebenen Erscheinungen tieferen Sinn, tiefere Bedeutung, sie verallgemeinert, was das Auge als individuellen Gegenstand erfaßt.«8 Die akustische Schicht ›deutet‹ mithin das Bild und lotet dessen Tiefendimensionen aus, wobei dies auf vielfältige Weise geschehen kann: Zu denken ist etwa an eine musikalische Stimmungsuntermalung im Sinne der ›Mood-Technik‹ (bezogen auf die Gestimmtheit der Protagonisten bzw. als musikalisches ›Lokalkolorit‹ eines bestimmten Ortes) oder an einen musikalischen Kommentar. Bewegungsabläufe können in Form des Mickey-Mousings9 akustisch verdoppelt (und damit verstärkt) werden. Musikalische Leitmotive, wie sie vor allem das Musikdrama Richard Wagners prägen, doch auch für die Filmmusik eine bedeutende Rolle spielen, vermögen ein Netz von Verweisen herzustellen und damit ihrerseits Bedeutung zu stiften, indem sie von Hoffnungen, Wünschen, Motivationen der Protagonisten und verborgenen Ursachen des sichtbaren Geschehens erzählen. Auch hier ›transzendiert‹ die Musik den einzelnen Moment.10 Der umgekehrte Fall – das Bild kommentiert die Musik – taucht hingegen höchst selten auf: Es scheint, als fesseln optische Eindrücke die Aufmerksamkeit in weit höherem Maße als akustische – was mit dem abendländischen Primat des ›Sehens‹ über das ›Hören‹ zusammenhängt.11 Was wir sehen, befindet sich in Distanz zu uns; wir können es vor uns hinstellen und genau betrachten. Was wir hören ist, gleichsam distanzlos, ›in‹ uns. Die Augen können wir verschließen, die Ohren nicht. Dass unser Auge offensichtlich eine viel engere Verbindung zu Rationalität und Begrifflichkeit (als Vermögen des ›wachen Bewusstseins‹) aufweist als unser Ohr, erfahren wir etwa, wenn wir mit Leichtigkeit ein Bild beschreiben
thetik der Filmmusik. Zofia Lissa. In: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 2 (2008). http://www.filmmusik.uni-kiel.de/beitraege.htm (13. Mai 2010). 8 Lissa: Ästhetik der Filmmusik. S. 30. 9 Beim Mickey-Mousing handelt es sich – in Anlehnung an die Praxis früher Zeichentrickfilme Walt Disneys – um den Fachausdruck für jene filmmusikalische Technik, in der die Musik Bewegungen, Stimmungen und Geräusche illustrativ nachzeichnet. 10 Zu den verschiedenen Formen des Zusammenspiels von Bild und Ton vgl. insb. Claudia Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg: Wißner 2001 (= Forum Musikpädagogik 43). S. 77–99. 11 Grundlegend hierzu Peter Sloterdijk: Wo sind wir, wenn wir Musik hören? In: Ders.: Weltfremdheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 294–325. S. 294 f.
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können, jedoch scheitern, sobald wir aufgefordert sind, uns – nicht nur als Laien – zu einer erklingenden Musik zu äußern, deren Notentext uns nicht vorliegt. Die experimentelle Koppelung von Bild und Ton scheint also von vornherein zugunsten des Bildes auszufallen. Dennoch: Auch die Musik im Film wird durch die Filmhandlung beeinflusst – indem sie nämlich, so Lissa, im Gegensatz zum Bild »infolge ihrer Verbindung mit einer konkreten Situation, in der sie gemeinsam mit dem Bild auftritt«, ihre Mehrdeutigkeit verliere.12 Selbst wenn es sich um eine Musik handelt, die, wie etwa Wagners Tristan und Isolde (1865), bereits ihrerseits hochgradig semantisch aufgeladen ist, scheint diese, sobald sie an das (bewegte) Bild gekoppelt wird, zur bloßen Begleitung herabzusinken. Wenn also Luis Buñuel zu seinem Film UN CHIEN ANDALOU (F 1929), der als surrealistisches Meisterwerk in die Filmgeschichte eingegangen ist, abwechselnd Ausschnitte aus Tristan und Isolde und aus argentinischen Tangos auf einem Grammophon abspielte, so rechnete er insbesondere mit der kreativen Kraft des Unbewussten. Heraus kommt ein von logischen Brüchen durchsetztes absurdes, auf seine Weise aber dennoch ›logisches‹ (filmisches) Kunstwerk. Dabei scheint es durchaus konsequent, dass, mit dem Tango und den Ausschnitten aus Tristan, semantisch bereits hochgradig aufgeladene, allgemein bekannte musikalische ›Fundstücke‹ verwendet werden: Beide Sphären stehen paradigmatisch – auf einer in ihrer Allgemeinheit fast schon abstrakten Ebene – für die ›Liebe‹, und zwar sowohl im sinnlichen, konkret-sexuellen als auch, wie am Ende der Oper Wagners, im absolut-metaphysischen Sinn. Indem also die Assoziationen des Filmzuschauers durch die Musik in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, ergibt sich die ideale Ergänzung zu den surrealistischen, scheinbar beliebigen ›Fundstücken‹ (›objets trouvés‹) auf der optischen Ebene – den unverständlichen Einzelhandlungen und scheinbar aus dem Zusammenhang gerissenen Gegenständen (verwesende Eselkadaver auf Konzertflügeln, Achselbehaarung im Gesicht, Ameisen in einem schwarzen Loch auf der Handinnenfläche). Die musikalische Endlosschleife bildet dabei eine quasi-autonome Schicht, die, da sie explizit in keinem direkten Zusammenhang mit dem Bildgeschehen steht, die ›Handlung‹ nur äußerlich affiziert. Anders als bei DARK SIDE OF OZ sind die Berührungsmomente hier beliebig. Die Musik ist in ihrer semantischen Be-
12 Lissa: Ästhetik der Filmmusik. S. 28.
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setzung so allgemein verständlich, dass sie jegliche Szene mit den Ideen von ›Liebe‹ und ›Tod‹ aufladen würde. Fast scheint es, als werde die damals noch herrschende Praxis der sogenannten ›Kinotheken‹, in denen zur klanglichen Untermalung bestimmter Stimmungen und Ereignisse die entsprechenden Noten ausgeliehen werden konnten,13 ironisch ad absurdum geführt. Im fünf Jahre zuvor – als Einlage in François Picabias Ballett Relâche – uraufgeführten Film ENTR’ACTE (F 1924; Regie: René Clair) hingegen, der ähnlichen surrealistischen bzw. dadaistischen Grundsätzen folgt, bildet die Musik des französischen Komponisten und Enfant Terrible Erik Satie, bekannt geworden unter dem Titel Cinéma, das ideale Pendant zur filmischen Schnitttechnik. Ähnlich wie hier Szene an Szene, wird dort »Abschnitt […] an Abschnitt« gereiht.14 Die eigens für diesen Film komponierte Musik ist dabei zeitlich exakt, sozusagen mit der Stoppuhr, auf die Bildfolgen zugeschnitten. Die wenigen harmonischen und melodischen Versatzstücke weisen einfache Wiederholungsstrukturen auf. Auf fast allen Ebenen herrscht Entwicklungslosigkeit; es geht um den Augenblick. Die fehlende Logik der Filmhandlung macht sich schließlich auch in der (nach damaligen Gesichtspunkten) fehlenden musikalischen Logik bemerkbar. Visuelle Strukturen werden auf diese Weise durch die Musik verdoppelt. Diese habe, so Norbert Jürgen Schneider und Rainer Fabich, die Freiheit einer Tapete, die unbesorgt mit ihrer Musterung hinter einem Schrank […] verschwinden kann und dennoch […] ihre Seinsqualität nicht einbüßen muß. […] [D]en rhythmischen Gestalten Clairs unterlegt Satie mit seiner klassizistisch einfachen Repetitionsmusik eine Art ›kariertes Papier‹, um das Fi15 gurenhafte der Rhythmik bei Clair zu erhöhen.
Die Musik bildet also, um es mit der Gestalttheorie auszudrücken, den ›Grund‹, das Optische hingegen die ›Figur‹. Zugleich – und das ist bemerkenswert – scheint die Musik jedoch das Filmgeschehen zu kommentieren, indem sie in ihrer ausgestellten Phrasenhaftigkeit auf die augenscheinliche
13 Vgl. Ulrich E. Siebert: Filmmusik. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. 2. Aufl. Kassel: Bärenreiter 1995. Sp. 446–474. Sp. 449. 14 Hans Emons u. Helga de la Motte-Haber: Filmmusik. Eine systematische Beschreibung. München: Carl Hanser 1980. S. 99. 15 Rainer Fabich u. Norbert Jürgen Schneider: Cinéma von Erik Satie. Aspekte zu einer Filmmusikpartitur. In: Melos 48 (1986) H. 3. S. 40–61. S. 52 f.
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Beliebigkeit und Absurdität des menschlichen Alltags verweist; auf diese Weise gewinnt sie eine eigene Bedeutung. Einen späten Reflex dieser Form der musikalischen ›Baukastentechnik‹ im Film16 stellt die Musik des amerikanischen Komponisten Philip Glass zum Film KOYAANISQATSI (USA 1982; Regie: Godfrey Reggio) dar: Dem filmischen Epos, einer anderthalbstündigen apokalyptischen Zivilisationsgeschichte ohne Handlung, wird eine Musik hinzugefügt, die – als sogenannte Minimal Music – einen Trance-Zustand mit bewusstseinserweiternder Wirkung hervorruft. Dabei gilt hier ebenso wie in ENTR’ACTE: Die Wiederholungsstrukturen und optisch-rhythmischen Muster auf der Bild-Ebene finden sich in der Musik wieder; großstädtische Anonymität und die ›Masse‹ werden durch die Austauschbarkeit der melodisch-harmonischen Versatzstücke und deren zur Wiederholung einladender Kürze gespiegelt.
M USIKALISCHE R ATIONALITÄT : F ILMMUSIK -E XPERIMENTE BEI A DORNO UND E ISLER Zwar hat sich Theodor W. Adorno schriftlich offenbar weder zu UN CHIEN ANDALOU noch zu ENTR’ACTE geäußert: Es liegt jedoch nahe, dass er mit einer derart ausgestellten, wenn auch bewusst eingesetzten musikalischen Unverbindlichkeit, die sich schließlich auch in KOYAANISQATSI findet, nichts anzufangen wusste bzw. gewusst hätte. Wenn die ›genormten‹ HollywoodKompositionen ihm bekanntlich zu sehr der Stromlinienförmigkeit der Kulturindustrie entsprachen,17 so hätte er bei den bisher angeführten Beispielen – auch und insbesondere in dem kulturkritischen Film KOYAANISQATSI –
16 Grundlegend hierzu Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. S. 93–99. Siehe zu ENTR’ACTE auch Emons u. de la Motte-Haber: Filmmusik. S. 99: »Zukunftsweisend ist jedoch das Baukastenprinzip; zusammengesetzt, ohne Entwicklung struktureller Beziehungen, ohne Entfaltung emphatischer Ausdruckscharaktere, nur manchmal die Zuständlichkeit eines Perpetuum Mobile durchbrechend, verträgt diese Musik Schnitte. Da ohnehin der herkömmliche musikalische Zusammenhang preisgegeben ist, ist eine Zerstörung des Sinns durch Zerstückelung nicht möglich.« 17 Gemeint ist ein standardisiertes filmmusikalisches ›Vokabular‹, das für bestimmte Situationen eine bestimmte Musik vorsieht, etwa: die Geige für Liebesszenen, rhythmisch markante symphonische Vollstimmigkeit im Unisono für Verfolgungsjagden.
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deren ›rückständige‹ filmmusikalische Tonsprache bemängelt. Zudem wäre ihm der Bezug zwischen optischer und akustischer Ebene vermutlich allzu beliebig erschienen. In seiner zusammen mit Hanns Eisler während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil geschriebenen, zunächst nur unter dem Namen Eislers erschienenen Monografie Komposition für den Film (1949; amerik.: Composing for the films, 1947), fordern die Autoren explizit die Verwendung von Neuer Musik im Film, das heißt einer Musik, die sich im Gefolge Arnold Schönbergs nicht mehr an konventionelle musikalische Sprachregelungen hält und sich in freier Atonalität und Rhythmik einer ungebundenen musikalischen ›Prosa‹ überlässt. Dies nämlich sei genau das Mittel, welches dem Medium des Films entspräche, wie Eisler und Adorno ausführen: Die optische Filmhandlung hat allemal den Charakter von Prosa, von Unregelmäßigkeit und Asymmetrie. Sie gibt sich als fotografiertes Leben […]. Infolgedessen besteht aber ein Bruch zwischen dem Bildvorgang und einer symmetrisch gegliederten konventionellen Melodie. Keine achttaktige Periode ist wahrhaft synchron mit dem fotografierten Kuß. Besonders kraß wird das Mißverhältnis von Symmetrie und Asymmetrie bei Begleitmusiken zu Naturvorgängen, wandernden Wolken, Sonnenaufgängen, Wind und Regen. […] [S]ind sie selber als fotografierte doch so unregelmäßig und dokumentarisch, daß ihre leibhaftige Gegenwart eben jenes poetisch-regelmäßige Element geradezu ausschließt, mit 18 dem die Filmindustrie sie assoziiert.
Anders ausgedrückt: Um der quasi-dokumentarischen Bild-Ebene im Film ebenbürtig zu sein – und das ist das erklärte Ziel der Autoren –, der gängigen abendländischen Präferenz des Optischen vor dem Akustischen sozusagen ein Schnippchen zu schlagen, muss die Musik gleichsam ›realitätsgerecht‹ werden, sich den Strukturen der Wirklichkeit so nahe wie möglich annähern. So kann die Komposition des Schönberg-Schülers Hanns Eisler zu Walter Ruttmanns abstraktem Film OPUS III (D 1924)19 als Vorstudie für seine späteren filmmusikalischen Arbeiten angesehen werden: Die Musik scheint sich so genau wie möglich an die Bewegungen, Formen und Struk-
18 Theodor W. Adorno u. Hanns Eisler: Komposition für den Film [1949; amerik.: Composing for the films (1947)]. Mit einem Nachwort von Johannes C. Gall u. einer DVD »Hanns Eislers Rockefeller-Filmmusik-Projekt 1940–1942«. Hrsg. von Johannes C. Gall. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. S. 15. 19 Vgl. zu OPUS III auch Emons u. de la Motte-Haber: Filmmusik. S. 103.
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turen der bewegten (abstrakten) Bilder anzupassen, ohne dass sie ihre Komplexität preisgibt. Rhythmen, melodische Abläufe und einzelne Klangfarben sind dabei eng auf die Bilder und deren Bewegungen abgestimmt. Bei der von Adorno und Eisler geforderten Filmmusik geht es darum, bewußt aus der Sache heraus die musikalische Haltung [zu] wählen, die notwendig ist, anstatt von musikalischen Clichés oder Affekten sich treiben zu lassen. 20
Es gelte mithin, »stets genau das Mittel zu wählen, das von der besonderen Sache im besonderen Augenblick gefordert wird«.21 So ist es insbesondere Arnold Schönbergs Orchesterkomposition Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34 (1929/30), die, so die Autoren, mit ihrem programmatischen Hinweis drohende Gefahr – Angst – Katastrophe […] mit untrüglicher Sicherheit genau diese Einsatzstelle für die Verwendung der neuen musikalischen Mittel bezeichnet.22
Im amerikanischen Exil hatten beide Autoren im Rahmen eines von der Rockefeller Foundation geförderten »Radio Research Projects« die Möglichkeit, ihre Thesen zur Filmmusik praktisch zu überprüfen. Das Ergebnis sind mehrere filmmusikalische Arbeiten, die gleichsam experimentell ausloten, wie der von beiden Autoren geforderte »dramaturgische Kontrapunkt« zwischen Bild und Ton aussehen kann. Kurz gefasst ging es um die Etablierung von Musik als eigenständige Schicht, die – im Extremfall kommentierend – die Wachheit und geistige Flexibilität des Rezipienten aufrechterhalten bzw. befördern soll. Musik, »anstatt sich in der Konvention der Nachahmung des Bildvorgangs oder seiner Stimmung zu erschöpfen«, solle »den Sinn der Szene hervortreten« lassen, »indem sie sich in Gegensatz zum Oberflächengeschehnis stellt.«23 Das prominenteste und zugleich experimentellste Beispiel einer quasi-naturwissenschaftlich vorgehenden Kompositionsweise – die Nähe zu Bertolt Brecht wird an dieser Stelle deutlich – ist Eislers bekannte zwölftönige Komposition Vierzehn
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Adorno u. Eisler: Komposition für den Film. S. 36. Adorno u. Eisler: Komposition für den Film. S. 36. Adorno u. Eisler: Komposition für den Film. S. 38. Adorno u. Eisler: Komposition für den Film. S. 30.
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Arten den Regen zu beschreiben (1941). Seit 2006 ist die restaurierte Fassung des dazugehörigen zwölfminütigen Filmes REGEN (NL 1929; Regie: Joris Iven) zugänglich, und zwar in der, so der Herausgeber Johannes C. Gall, »außergewöhnlichen Einspielung«24 des Jahres 1941 unter Leitung von Rudolf Kolisch, mit Eduard Steuermann am Klavier. Beide Künstler waren insbesondere von Adorno hochgeschätzte Interpreten Neuer Musik. Wind, Wolken, einfahrende Schiffe, Blätter und Regentropfen werden musikalisch jeweils ebenso differenziert wie charakteristisch dargestellt. Zudem gilt auch hier: Motivverwandtschaften, aber auch die zwölftönige Grundstruktur der Komposition bürgen für musikalischen Zusammenhalt. So scheint es, als sichere sich – bei nahezu maximaler Ereignislosigkeit auf der Bild-Ebene – die Musik eine gewisse Dominanz über das sichtbare Geschehen auf der Leinwand. Bei Eislers und Adornos Filmmusik-Experimenten geht es somit darum, durch höchstmögliche Kontrolle der musikalischen Mittel, das heißt durch höchste Bewusstheit des Komponisten, neue Konstellationen mit bewusstseinsveränderndem Potential und letztlich offenem Ausgang zu schaffen. »Experiment im legitimen Sinn«, konstatiert Adorno 1964 in einem Vortrag über Schwierigkeiten beim Komponieren, heißt nichts anderes als die ihrer selbst bewußte Kraft des Widerstands von Kunst gegen das konventionell von außen, vom Einverständnis ihr Aufgezwungene.25
Das wahrhaft ›Neue‹ kann mithin nur dann erscheinen, wenn sich der Komponist ganz und gar dem ›musikalischen Material‹ und dessen Eigengesetzlichkeiten überlässt, das zugleich jedoch vom künstlerischen Subjekt rational durchdrungen werden muss – gewohnt dialektisch heißt es in Adornos Ästhetischer Theorie (posthum 1970) hinsichtlich des musikalischen Experiments: »Beim Experiment ist das Moment des Ichfremden ebenso zu
24 Adorno u. Eisler: Komposition für den Film. S. 180. 25 Theodor W. Adorno: Schwierigkeiten beim Komponieren [1964]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 17. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 253–273. S. 262.
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achten wie subjektiv zu beherrschen: erst als Beherrschtes zeugt es fürs Befreite.«26 Die Lösung des prototypisch experimentellen amerikanischen Komponisten John Cage hingegen, der die Kontrolle über seine Mittel über weite Strecken bewusst aufgab, und zwar in grenzenloser Neugierde auf das Ergebnis, vermochte Adorno bekanntlich nicht zu überzeugen. Zwar hat Cage keine Filmmusik komponiert, doch kann sein Umgang mit ›Material‹ – wie etwa 1977 in seiner Komposition Inlets. Sound Piece for Conch Shells (for three players of water-filled conch shells and one conch player using circular breathing and the sound of fire)27 – als Wahrnehmungsexperiment ganz eigener Art gelten. Es ist die Unmöglichkeit, das Ergebnis zu kontrollieren, die den Reiz jener musikalischen Performance – und zahlreicher weiterer Konzerte Cages – ausmacht. Die in Peter Greenaways Film dokumentierte Konzentration auf das ›pure Phänomen‹ zeugt wiederum von einer quasinaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf kleinste Vorgänge in der Natur, wie sie sich auch in den Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben bei Eisler findet.
S CHLUSS : M USIK ALS E XPERIMENT? Das künstlerisch-musikalische Experiment ist ein äußerst vager Begriff, unter dem vieles subsumiert werden kann, was seit gut 200 Jahren innerhalb der abendländischen Kultur unter Voraussetzung einer bestimmten künstlerischen Haltung entstand und dabei neue Wege beschritt28. Der
26 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [posthum 1970]. Aus dem Nachlaß hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. 13. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. S. 64. 27 Eine Einspielung der Komposition befindet sich in Peter Greenaways filmischer Dokumentation FOUR AMERICAN COMPOSERS (GB 1983) über die Musiker John Cage, Robert Ashley, Meredith Monk und Philip Glass . Vgl. auch den Beitrag von Christiane Heibach in diesem Band. 28 Dies bestätigen u. a. Ulrich Dibelius’ Ausführungen zum Experimentellen in der Musik: »Alles Neuartige, das diese Bezeichnung wirklich verdient, beginnt als Experiment. […] Gedanken, Utopien, Träume, die sich mit überzeugender Bestimmtheit einstellen, ruhig wachsen lassen, weiterverfolgen und Stück um Stück an ihrer Realisierung arbeiten – dies alles gehört zu jener Einstellung, die Experimentieren erst ermöglicht. […] In gewisser Weise ließe sich die musikali-
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Komponist Karlheinz Stockhausen behauptete gar, dass »[j]ede schöpferische Leistung von Rang […] ein Wagnis, ein Experiment« genannt werden könne.29 Im Supplement-Band der ersten Auflage des NachschlageStandardwerks Die Musik in Geschichte und Gegenwart heißt es 1979 unter dem Stichwort »Experimentelle Musik«: Hinsichtlich der Erfahrungen, die die Geschichte der europ[äischen] Kunstmusik lehrt, ist der Begriff des Experimentellen […], zumindest seit den letzten 200 Jahren, tautologisch. Er drückt nichts anderes aus als die spezifischen mus[ikalischen] Produktionsbedingungen, die innerhalb der allgemeinen bürgerl[ichen] Produktionsverhältnisse und durch sie bedingt ihre Dynamik erhiel30 ten und die sich in den definitiven Gestalten der Werke sedimentierten.
Dabei seien es, laut Konrad Böhmer, nicht die »Strukturen« der Werke, die experimentell genannt werden könnten, sondern insbesondere »das soziale Risiko, das der Komp[onist] eingeht, wenn er sich nicht in einem vertrauten und identifizierbaren mus[ikalischen] Idiom ausdrückt.«31 Adorno spitzt in seiner Ästhetischen Theorie zu: »Tatsächlich ist kaum mehr Kunst möglich, die nicht auch experimentierte.«32 Bereits 1954 notierte er in seinem Aufsatz Das Erbe und die neue Musik: Daß in der Kunst nichts versucht werden dürfe, ist nichts als der Aberglaube derer, die sie mit Natur verwechseln, und dabei in Wahrheit sich wünschen, daß
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sche Entwicklung seit 1945 als ein Auf und Ab von mobilisierenden Experimenten und nachfolgender Verhärtung beschreiben.« (Ulrich Dibelius: Moderne Musik II (1965–1985) [1988]. 3. Aufl. München u. Mainz: Piper u. Schott 1991. S. 99 f.) Vgl. auch Marion Saxer: Nichts als Bluff? Das Experiment in Musik und Klangkunst des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In: Musik & Ästhetik 43 (2007). S. 53–67. Karlheinz Stockhausen: Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles. Bd. 2. Köln: Dumont 1964. S. 238. Konrad Böhmer: Experimentelle Musik. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 16: Supplement. Kassel: Bärenreiter 1979. Sp. 155–161. Sp. 157. Böhmer: Experimentelle Musik. Sp. 158. Adorno: Ästhetische Theorie. S. 62.
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sie nach eingefahrenen, verdinglichten Spielregeln verfahre, die sie also zum genauen Gegenteil von Natur machen wollen.33
Die experimentelle Ästhetik eines John Cage ist hiermit allerdings nicht erfasst – gründet die Emanzipation des Hörers bei ihm doch gerade auf der ›Naturhaftigkeit‹ von Kunst als Voraussetzung des künstlerischen Experiments. Gerade angesichts der durch derartige Definitionen zum Tragen kommenden Ungreifbarkeit des ›Experiment‹-Begriffes, wenn er auf die Musik angewandt wird, sind somit Differenzierungen notwendig: Ist die Rede (produktionsästhetisch) vom kompositorischen Experiment, vom sozialen Experiment oder vom Wahrnehmungsexperiment? Bei den hier thematisierten ›filmmusikalischen Experimenten zwischen Bild und Ton‹ geht es – auch, wenn das soziale Experiment hier ebenfalls eine Rolle spielt – vor allem um letzteres: Verknüpft wird die jeweilige Wahrnehmung zweier verschiedener Sinnesbereiche, und zwar ohne die Gewissheit, was dabei letztlich herauskommt. Die Vorstellungen der Akteure hinsichtlich eines ›gelungenen‹ Experiments sind dabei durchaus unterschiedlich: Während es etwa Kracauer um das mehr oder minder zufällige ›Einschnappen‹ verschiedener Wahrnehmungsbereiche geht, ist es Adorno und Eisler um die primäre Unabhängigkeit von Sehen und Hören zu tun, die es einzig zulässt, dass beides sich gegenseitig ›bewusst‹ zu kommentieren vermag. Schwerlich lässt sich vom Standpunkt beginnenden 21. Jahrhunderts aus beurteilen, ob die genannten Experimente ›geglückt‹ sind, nicht zuletzt, da die Kriterien des Gelingens fehlen – aber darum geht es beim künstlerischen Experiment womöglich auch nicht. Was bleibt, ist die Feststellung, dass das Zusammenspiel von Hören und Sehen in seiner Vielgestaltigkeit und Facettenhaftigkeit bei weitem noch nicht erschöpfend untersucht wurde.34 Dies hinterlässt vor allem der Filmmusik und der ihr gewidmeten For-
33 Theodor W. Adorno: Das Erbe und die neue Musik [1954]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 685. 34 Vgl. hierzu u. a. Matthias Tischer: Hören und Sehen. Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Hörens. In: Bericht der Tagung »Bewegungen zwischen Hören und Sehen« (Thurnau, 19.–21. November 2009). Hrsg. von Stephanie Schrödter. [im Druck]
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schung ein umfassendes Gebiet weiterer Erkundungen – ganz gleich, ob der Klavierspieler nun betrunken ist oder nicht.
L ITERATURVERZEICHNIS Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [posthum 1970]. Aus dem Nachlaß hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. 13. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. –––: Das Erbe und die neue Musik [1954]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 684–694. –––: Schwierigkeiten beim Komponieren [1964]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 17. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 253–273. Adorno, Theodor W. u. Hanns Eisler: Komposition für den Film [1949; amerik.: Composing for the films (1947)]. Mit einem Nachwort von Johannes C. Gall u. einer DVD »Hanns Eislers Rockefeller-Filmmusik-Projekt 1940–1942«. Hrsg. von Johannes C. Gall. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Böhmer, Konrad: Experimentelle Musik. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 16: Supplement. Kassel: Bärenreiter 1979. Sp. 155–161. Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg: Wißner 2001 (= Forum Musikpädagogik 43). Dibelius, Ulrich: Moderne Musik II (1965–1985) [1988]. 3. Aufl. München u. Mainz: Piper u. Schott 1991. Emons, Hans u. Helga de la Motte-Haber: Filmmusik. Eine systematische Beschreibung. München: Carl Hanser 1980. Fabich, Rainer u. Norbert Jürgen Schneider: Cinéma von Erik Satie. Aspekte zu einer Filmmusikpartitur. In: Melos 48 (1986) H. 3. S. 40–61. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1964; engl.: Theory of Film. The Redemption of Pysical Reality (1960)]. Vom Verfasser revidierte Übersetzung von Friedrich Walter und Ruth Zellschan. Hrsg. von Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Krohn, Tarek: Ästhetik der Filmmusik. Zofia Lissa. In: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 2 (2008). http://www.filmmusik.uni-kiel.de/beitraege.htm (13. Mai 2010). Lissa, Zofia: Ästhetik der Filmmusik [poln.: Estetyka muzyki filmowej (1964)]. Berlin: Henschel 1965. Mungen, Anno: »BilderMusik«. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Remscheid: Gardez! 2006 (= Filmstudien 45).
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Richardson, John: Resisting the Sublime: Loose Synchronization in La Belle et la Bête and The Dark Side of Oz. In: MusicoLogical Identities. Essays in Honor of Susan McClary. Hrsg. von Steven Baur, Raymond Knapp u. Jacqueline Warwick. Aldershot: Ashgate 2008. S. 135–148. Saxer, Marion: Nichts als Bluff? Das Experiment in Musik und Klangkunst des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In: Musik & Ästhetik 43 (2007). S. 53–67. Siebert, Ulrich E.: Filmmusik. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil. Bd. 3. 2. Aufl. Kassel: Bärenreiter 1995. Sp. 446–474. Sloterdijk, Peter: Wo sind wir, wenn wir Musik hören? In: Ders.: Weltfremdheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 294–325. Stockhausen, Karlheinz: Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles. Bd. 2. Köln: Dumont 1964. Tischer, Matthias: Hören und Sehen. Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Hörens. In: Bericht der Tagung »Bewegungen zwischen Hören und Sehen« (Thurnau, 19.–21. November 2009). Hrsg. von Stephanie Schrödter. [im Druck]
F ILMOGRAFIE Four American Composers (GB 1983). Regie: Peter Greenaway.
Musik als Experiment Transmediale Verhandlungen in Amy Lowells imagistischer Lyrik
R EGINA S CHOBER
ABSTRACT: In seiner radikalen Abkehr von literarischen Konventionen und Traditionen zeichnet sich die Dichtung des Imagismus in hohem Maße durch experimentelle Tendenzen aus. Für die amerikanische Autorin Amy Lowell (1874–1925), eine der Hauptvertreterinnen des Imagismus, ist das literarische Experiment untrennbar verknüpft mit einer intermedialen Bezugnahme auf die Musik, welche mit einer Transformation lyrischer Sprache, Struktur und Ausdrucksformen einhergeht. Für Lowell vollzieht sich das ›Experiment Musik‹ auf drei wesentlichen Ebenen: (1) der Erforschung transmedialer Elemente wie Klang und Rhythmus, (2) der Übertragung musikalischer Strukturen auf die Literatur sowie (3) letztlich in der vollständigen literarischen Transkription musikalischer Werke.
Die Literatur um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert zeichnet sich wie kaum zu einer anderen Zeit durch eine fundamentale Abkehr von traditionellen Repräsentationsformen, mediale Grenzüberschreitungen und eine Radikalisierung literarischer Ausdrucksmittel aus. Es war eine Zeit, in der sich die Kunst gewissermaßen neu erfand, in der ästhetische Paradigmen in Frage gestellt wurden und radikale künstlerische Methoden eine Revolution der Darstellungs- sowie Wahrnehmungsmodi versprachen. Dieser oft bedingungslose Wunsch nach einer vollkommenen Neuordnung und der in
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starkem Fortschrittsglauben behaftete Drang, neue ästhetische Praktiken zu erproben, schlägt sich in der Vielzahl experimenteller Bewegungen, Manifeste und ›-ismen‹ nieder, die sich sowohl in der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst sowie dem Film und dem Tanz um 1900 entwickelten und die in ihrer extremen Ausrichtung nicht selten in einem konkurrierenden und antithetischen Spannungsverhältnis zueinander standen. Eine solche modernistische Bewegung, die sich zwar nicht so radikal und avantgardistisch gebärdete wie einige andere Schulen der literarischen Avantgarde – beispielsweise der Dadaismus, Surrealismus oder Futurismus –, die aber gerade die moderne Dichtung außerordentlich beeinflusst hat, ist die britisch-/angloamerikanische Schule des Imagismus. Neben Ezra Pound und H. D. (Hilda Doolittle) gilt Amy Lowell als eine der Hauptvertreterinnen und Gründerinnen des Imagismus. Sie schloss sich der Bewegung 1913 während einer Englandreise an und machte diese innovative Gedichtform mit ihrer komplexen Bildlichkeit, den unkonventionellen, an der Alltagssprache angelehnten Rhythmen und der knappen, ökonomischen Ausdrucksweise einem amerikanischen Publikum zugänglich, indem sie in den Folgejahren zahlreiche imagistische Gedichte verfasste, drei ImagismusAnthologien mit dem Titel Some Imagist Poets (1915–1917) in Amerika veröffentlichte und eine Vielzahl an öffentlichen Vorträgen über die dichterische Bewegung in verschiedenen Orten der USA hielt. Die Imagisten betrachteten diese experimentelle lyrische Schule als eine bewusste Abkehr von überholten literarischen Konventionen und als eine unumgängliche Methode ästhetischer Repräsentation, um der veränderten Realität der Jahrhundertwende mit ihren massiven technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen, nationalen Konflikten sowie epistemologischen Umbrüchen auf einer künstlerisch-literarischen Ebene zu begegnen. Insbesondere für Lowells Konzept des Imagismus ist das literarische Experiment untrennbar verknüpft mit einer intermedialen Bezugnahme auf die Musik. Wie für viele andere modernistische Dichter stellt das Medium Musik in ihren Gedichten ein Ideal dar, welches auf exemplarische Art und Weise die Transformation und Weiterentwicklung lyrischer Sprache, Struktur und Ausdrucksformen verkörpert. Durch ihre transmedialen Parameter Klang und Rhythmus steht die Musik der Lyrik zwar ohnehin besonders
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nahe,1 als ›mediales Andere‹ liefert sie der modernistischen Lyrik, die sich bewusst von der Tradition des 19. Jahrhunderts abgrenzt, jedoch auch innovative und richtungsweisende Impulse. Musik wird zum materiellen sowie methodischen Vehikel für Lowells experimentellen Umgang mit dem Medium Literatur. Wenn man Werner Wolf folgt, der als eine entscheidende Funktion musikalischer Bezugnahmen in der Literatur den Ausdruck und die Verstärkung des Drangs nach experimentellen Überschreitungen etablierter (ästhetischer) Grenzen nennt, so wird Intermedialität in Lowells imagistischem Lyrikkonzept zur Funktion des Experiments und durch dieses gewissermaßen konstitutiert.2 Musik wird für die Lyrik der Moderne zum Experiment und somit zum Sinnbild des Progressiven, des Neuen, des Innovativen. Für Amy Lowell vollzieht sich das ›Experiment Musik‹ in drei wesentlichen Schritten, die ihre Entwicklung als modernistische Autorin widerspiegeln und die als Grundtypologie literarischer Annäherungen an das musikalische Medium verstanden werden können. (1) Neben thematischen und metaphorischen Referenzen auf Musik wendet sich Lowell in besonderem Maße dem kreativen Potential musikalischer Klänge, Rhythmen und Strukturen zu. Dazu beschäftigt sie sich zunächst mit transmedialen Elementen, also solchen, die integraler Bestandteil sowohl der Musik als auch der Lyrik sind. In diesem ersten Schritt bricht Lowell bewusst Mediengrenzen auf, um Erkenntnisse über den Ursprung und die fundamentalen Gemeinsamkeiten von Lyrik und Musik zu gewinnen. Im Vordergrund stehen dabei die intensive theoretische Auseinandersetzung sowie erste lyrische Experimente mit Rhythmus und Klang. (2) In einem zweiten Schritt macht Lowell diese Erkenntnisse für ihre Entwicklung des Imagismus sowie einer eigenen literarischen Form, der ›Polyphonic Prose‹ fruchtbar. Musikalisches Material und musikalische Struktur werden hier zu formgebenden Elemen-
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Zur Genese des Begriffs ›sister arts‹ und der engen Verknüpfung der beiden Medien Lyrik und Musik siehe James Anderson Winn: Unsuspected Eloquence. A History of the Relations between Poetry and Music. New Haven: Yale UP 1981. Vgl. auch Henry Tompkins Kirby-Smith: The Celestial Twins: Poetry and Music through the Ages. Amherst: University of Massachusetts Press 1999. Vgl. Werner Wolf: Towards a Functional Analysis of Intermediality. The Case of Twentieth-Century Musicalized Fiction. In: Cultural Functions of Intermedial Exploration. Hrsg. von Erik Hedling u. Ulla Britta Lagerroth. Amsterdam: Rodopi 2002. S. 20–28.
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ten der Lyrik. (3) Lowells Erkenntnisse über musikalische Klänge, Rhythmen und Strukturen münden schließlich in einem letzten Schritt des intermedialen Experiments, der vollständigen Transkription eines musikalischen in einen lyrischen ›Text‹. Im Folgenden werden diese drei Schritte anhand einiger Beispiele skizziert und in ihrem kulturell-/ästhetischen Kontext diskutiert, um Lowells einzigartige, aber auch paradigmatische Funktion für den experimentellen Umgang mit Intermedialität in der (amerikanischen) Moderne zu veranschaulichen.
M USIK ALS M ATERIAL In Folge einer wachsenden Skepsis gegenüber der Repräsentierbarkeit einer allgemeingültigen Realität sowie einer damit einhergehenden Suche nach neuen Darstellungsmodi waren die Künste um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in besonderem Maße durch selbstreferentielle Tendenzen gekennzeichnet. Dem Material wurde eine prominente Stellung beigemessen. In der Malerei etwa äußerte sich dies in einem zunehmenden Trend zur Abstraktion, zur Auflösung mimetischer Repräsentationsweisen und der Konzentration auf Materialität, Struktur und Form des Kunstwerks. Ebenso standen in der Musik Experimente mit Klängen, Geräuschen, Formen und Rhythmen im Vordergrund. Diese oftmals radikale Suche der ›Neuen Musik‹ nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten führte zu einer Verdichtung progressiver und in der Rezeption überraschender Kompositionselemente, wie beispielsweise durch Experimente mit A- und Bitonalität, polyrhythmischen Strukturen sowie ungewohnter Instrumentation bis hin zur Emanzipation des Geräuschs. Auch in der Lyrik, einem in besonderer Weise auf seine sonorische Qualität ausgerichteten literarischen Genre, fanden in dieser Zeit Experimente mit formalen Parametern statt, insbesondere mit Klang und Rhythmus. Diese Tendenz, die Aufmerksamkeit des Rezipienten immer stärker auf die Kompositionstechnik und das Material anstatt auf semantische Inhalte zu lenken, ging in der literarischen Moderne oft mit einer ›Musikalisierung‹ der Sprache, also einer Konzentration auf klangliche Strukturen
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und Formen einher.3 In Lowells Lyrik spielt die klangliche Dimension denn auch eine übergeordnete Rolle. »Poetry is as much an art to be heard as is music«, erklärt die Dichterin in ihrem Aufsatz Poetry as a Spoken Art und verweist damit explizit auf die enge transmediale Verbindung zwischen Lyrik und Musik sowie auf die performative Dimension lyrischer Texte.4 Die klangliche Qualität ihrer Lyrik zeigt sich bereits in ihrem noch stark an die viktorianische Tradition des 19. Jahrhunderts angelehnten Frühwerk. Roads, ein Gedicht aus Lowells erstem Gedichtband A Dome of ManyColoured Glass (1912), beschreibt eine pastoral anmutende Landschaft aus der Erinnerung des lyrischen Ichs: I know a country laced with roads, They join the hills and they span the brooks, They weave like a shuttle between broad fields, And slide discreetly through hidden nooks. They are canopied like a Persian dome And carpeted with orient dyes. They are myriad-voiced, and musical, And scented with happiest memories. […] And the song and the country become as one, I see it as music, I hear it as light; Prismatic and shimmering, trembling to tone, The land of desire, my soul’s delight. And always it beats in my listening ears With the gentle thud of a horse’s stride,5
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Für den Prozess der Erinnerung und Evokation der idealisierten Landschaft spielt Klang eine zentrale Rolle. Nicht nur die unmittelbare Zuordnung des Attributs »musical« mit den ineinander verwobenen Straßen (Z. 7), sondern
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Vgl. Eric Prieto: Listening In. Music, Mind, and the Modernist Narrative. Lincoln: University of Nebraska Press 2002. S. 41. Amy Lowell: Poetry as a Spoken Art [1917]. In: Poetry and Poets: Essays. New York: Biblo and Tannen 1971. S. 12. Amy Lowell: A Dome of Many-Coloured Glass. Boston: Houghton Mifflin 1912. S. 53–55, Z. 1–8 u. 30–35.
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auch die Häufung von Binnenreimen, Alliterationen sowie Phonolexis6 verstärken die klangliche Qualität dieses Gedichts. Die auditive Wahrnehmungsdimension des Gedichts wird jedoch mit anderen Sinneswahrnehmungen verknüpft. So ergeben visuelle, olfaktorische und sogar taktile Eindrücke zusammen ein intersensoriales oder gar synästhetisches Gesamtbild, welches die ganzheitliche Erfahrung der Erinnerung widerspiegelt. Das lyrische Ich verweist explizit auf die synästhetische Erfahrung: »I see it as music, I hear it as light« (Z. 31). Die visuelle Wahrnehmung wird durch die auditive Erfahrung erst hervorgerufen und umgekehrt. Die scheinbar unmögliche Erfahrung des ›Musik-Sehens‹ und des ›Licht-Hörens‹ deutet auf eine reziproke Interaktion der Sinne und einer Erfahrung hin, welche über eine isolierte Sinneswahrnehmung hinausgeht.7 Inspiriert durch die französischen Dichter des Fin-de-Siècle experimentierte auch Lowell mit synästhetischen Erfahrungen, der Verschmelzung und Korrelation verschiedener Sinneswahrnehmungen. Lowells Beschäftigung mit Synästhesie und intersensorialen Phänomenen lässt sich auf ihre Beschäftigung mit den französischen Symbolisten zurückführen, mit denen sie sich in ihren Studien Six French Poets (1915) und Tendencies in Modern American Poetry (1917) auseinandersetzt.8 Die Idee einer unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung über einen anderen Sinneskanal übte eine starke Faszination auf Künstler des späten 19. Jahrhunderts aus – insbesondere auf die Symbolisten – und liegt im Glauben an eine ursprüngliche Einheit der Sinne begründet.9 Das Phänomen Synästhesie als ästhetische Kategorie und Metapher, so wie es in Lowells Gedicht zutage tritt, kam etwa zeitgleich mit der Erforschung der
6
7 8
9
Der Begriff ›Phonolexis‹ wird hier in Anlehnung an Phil Roberts benutzt, der diesen als bedeutungssuggerierenden Effekt definiert, welcher durch die Assoziation mit anderen, eine ähnliche Klangstruktur aufweisenden Begriffen entsteht (vgl. Phil Roberts: How Poetry Works. 2. Aufl. London: Penguin 2000. S. 289). ›Phonolexis‹ bezeichnet also Phänomene, die zuweilen auch ›Iconismen‹ genannt werden und einen Subtypus des Klangsymbolismus darstellen. Zum Prinzip des Synästhetischen in den Künsten vgl. auch den Beitrag von Christiane Heibach in diesem Band. Vgl. Amy Lowell: Six French Poets. Studies in Contemporary Literature. New York: Macmillan 1915; Amy Lowell: Tendencies in Modern American Poetry. Boston: Houghton Mifflin 1917. Vgl. Kevin T. Dann: Bright Colors Falsely Seen. Synaesthesia and the Search for Transcendental Knowledge. New Haven: Yale UP 1998. S. ix f.
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physisch-/pathologischen Erscheinung der ›echten‹ Synästhesie in der Medizin auf.10 Das starke Interesse der Naturwissenschaften an synästhetischer Wahrnehmung äußerte sich in zahlreichen Studien und medizinischen Experimenten, welche diese besondere Art der menschlichen Wahrnehmung zu begründen versuchten. Durch diese naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse inspiriert, experimentierten auch die Künste zunehmend intensiver mit dem in der Bevölkerung eher selten auftretenden neurologischen Phänomen. Synästhesie wurde zum mystischen Konstrukt eines universalen und transzendentalen Modus, welcher die traditionelle monosensuale Wahrnehmung abzulösen und eine neue Entwicklungsstufe der menschlichen Wahrnehmung zu verkünden schien, die einen unmittelbaren Zugang zu ästhetischer Erhabenheit versprach.11 Noch intensiver als in Bezug auf das Phänomen der Synästhesie beschäftigte sich Lowell mit Erkenntnissen naturwissenschaftlicher Verfahren im Kontext ihrer rhythmischen Experimente. Ein wesentliches Element des Imagismus stellt das freie Versmaß dar. Nur in flexiblen und organischen Rhythmen, so die Imagisten, können idiosynkratische Bilder präzise dargestellt werden. Im (zweiten)12 imagistischen Manifest, 1915 von englischen
10 Zum Verhältnis von medizinischer und künstlerischer Beschäftigung mit Synästhesie siehe Richard Cytowick: Synesthesia. A Union of the Senses. New York: Springer 1989. Cytowick definiert synästhetische Wahrnehmung als unfreiwillige Verbindung zweier oder mehrerer Sinneswahrnehmungen. Das medizinischpsychologische Phänomen, durch welches die betreffende Person beispielsweise Farben hören, Wörter schmecken oder Musik sehen kann, erregte erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissenschaftliches Interesse und wurde allmählich zu einer der am häufigsten untersuchten psychischen Anomalien. Etwa zur gleichen Zeit wuchs auch das künstlerische Interesse an synästhetischer Wahrnehmung, insbesondere im Kontext des Französischen Symbolismus um Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud. 11 Vgl. Dann: Bright Colors Falsely Seen. S. 36, 44. 12 Das erste imagistische Manifest wurde 1913 von Frank Stuart Flint und Ezra Pound verfasst und in der Zeitschrift Poetry veröffentlicht. Auch dieses Manifest enthält als eine von drei Hauptforderungen die nach neuen Rhythmen. Flint und Pound verweisen dabei auf musikalische Rhythmen: »As regarding rhythm: to compose in sequence of the musical phrase, not in the sequence of a metronome« (Frank Stuart Flint und Ezra Pound: Imagisme und A Few Dont’s by an Imagiste. In: Ezra Pound: A Critical Anthology. Hrsg. von John P. Sullivan. Baltimore: Penguin 1970. S. 41).
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und amerikanischen Dichtern um Lowell veröffentlicht, ist die Schaffung neuer Rhythmen eine der Hauptforderungen: To create new rhythms – as the expression of new moods – and not to copy old rhythms, which merely echo old moods. We do not insist upon ›free verse‹ as the only method of writing poetry. We fight for it as for a principle of liberty. We believe that the individuality of a poet may often be better expressed in freeverse than in conventional forms. In poetry a new cadence means a new idea.13
In ihrem Gedicht An nach neuen, freieren schimmernder Fische Farben, Formen und sprachlich imitiert:
Aquarium (1916) kommt Lowell dieser Forderung Rhythmen nach. Sie entwirft ein lebendiges Bild und deren Reflektionen im Wasser, indem sie die Bewegungen der Fische auf anschauliche Weise
Streaks of green and yellow iridescence, Silver shiftings, Rings veering out of rings, Silver – gold – Grey-green opaqueness sliding down, With sharp white bubbles Shooting and dancing, Flinging quickly outward. Nosing the bubbles, Swallowing them, Fish.14
[1]
[5]
[10]
An Aquarium ist nicht nur aufgrund seiner raschen Abfolge verschiedener Impressionen, sondern in erster Linie aufgrund seines flexiblen Rhythmus für die Betrachtung eines experimentellen Lyrikverständnisses der Dichterin interessant. Es dient Lowell als Übungsstück, als Experimentierfeld für die Möglichkeiten, mit sprachlichen Rhythmen zu spielen. In der Entwicklung ihres freien Versmaßes orientiert sich Lowell an den flexiblen Rhythmen impressionistischer Musik, insbesondere der Claude Debussys. Sie vergleicht die variable Qualität seiner musikalischen Motive
13 Veröffentlicht in Amy Lowell u. a.: Some Imagist Poets. An Anthology. Boston: Houghton Mifflin Company 1915. S. vi. 14 Amy Lowell: Men, Women, and Ghosts. New York: Macmillan Company 1916. S. 360, Z. 1–11.
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mit der Klarheit, Suggestivität und rhythmischen Präzision des Imagismus.15 Dabei stellt sie einen expliziten Bezug zwischen ihrem Gedicht An Aquarium und zwei Klavierstücken Debussys her: Now if the reader will take the trouble to remember Debussy’s Poissons d’Or and Reflets dans l’Eau; he will at once see their connection with the following poem of mine16.
Eine der Hauptparallelen zwischen Debussys Musik und Lowells Gedicht sind die idiosynkratischen und flexibel rhythmischen »Gesten«, wie Richard Parks sie als typisches Element in Debussys Musik beschreibt.17 Solch eine musikalische Geste befindet sich beispielsweise in dem Klavierstück Poissons d’Or (Goldfische) aus Debussys Album Images II (1908):18 Abb. 1: Claude Debussy: Poissons d’Or (1908)
Takt 30–31, 1. Zählzeit.
Dieses rasche, abfallende Motiv lässt trotz des notierten 3/4-Takts kein eindeutiges Metrum erkennen. Durch die Vorhalte und variablen Notenwerte sowie Triolen wirkt das Motiv beinahe improvisiert. Das flexible Moment eines wendigen Fischs wird durch die Charakterangabe »capricieux et souple« (kapriziös und beweglich) noch verstärkt.
15 Vgl. Amy Lowell: Some Musical Analogies in Modern Poetry. In: The Musical Quarterly 6 (1920) H. 1. S. 127–157. 16 Lowell: Some Musical Analogies in Modern Poetry. S. 137. 17 Richard S. Parks: Music’s Inner Dance. In: The Cambridge Companion to Debussy. Hrsg. von Simon Trezise. Cambridge: Cambridge UP 2003. S. 199. 18 Claude Debussy: Poissons d’Or. In: Images II. Paris: Durand & Fils 1908.
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In Lowells An Aquarium wird dieser Eindruck einer verspielten und spontanen Bewegung aufgegriffen. Das Gedicht weist eine Vielzahl verschiedener Rhythmen auf, denn sowohl Metrum als auch Silbenzahl variieren von Zeile zu Zeile. Die rhythmische Flexibilität des freien Versmaßes führt jedoch nicht zu einer völligen Aufgabe einer festen rhythmischen Einheit. Zwar ist kein festes Metrum mehr erkennbar, doch die rhythmischstabilisierende Funktion nimmt stattdessen ein in relativ gleichmäßigen Zeitabständen wahrnehmbarer Puls ein. Die Anzahl und Geschwindigkeit der Silben zwischen diesem Puls ist demnach sehr unterschiedlich und orientiert sich an einer ›organischen‹, dem natürlichen Sprechrhythmus nachempfundenen Kurve, die Lowell ›cadence‹ nennt. In ihrem Verständnis poetischer Rhythmen orientiert sich Lowell an der Musik, in der sie dieses Prinzip exemplarisch zu finden glaubt: Cadenced verse is non-syllabic, and in that sense resembles music far more than the old metrical verse ever did. As music varies the numbers of notes in a bar by splitting them up into smaller time valuations, so cadenced verse may vary the number of its syllables within the duration of its time-units to any extent desired.19
Lowell zufolge korrespondiert die Variabilität musikalischer Notenwerte mit der flexiblen Silbenzahl des freien Versmaßes. Dieses isochrone Verständnis der Prosodie basiert auf der Annahme, dass sich der natürliche Sprechrhythmus in sich wiederholende Einheiten gleicher Zeitlänge aufteilt oder, anders ausgedrückt, dass die Zeitspanne zwischen zwei (betonten) Silben immer die gleiche ist, unabhängig von der Zahl der dazwischen liegenden Silben. Überträgt man diese Annahme auf lyrische Rhythmen, so resultiert rhythmische Regelmäßigkeit nicht aus einer Abfolge betonter und unbetonter Silben, sondern stattdessen aus einer relativ stabilen Zeitdauer zwischen betonten Silben, die wie ein musikalischer Puls durch das Gedicht hinweg wahrnehmbar ist. Um die Bedeutung dieses auf normalen Sprechrhythmen basierenden Prinzips der Isochronie für die moderne Lyrik gegenüber der konservativen ›alten‹ Schule der viktorianischen Dichtung zu demonstrieren, wählte Lowell experimentelle Methoden, die das prosodische Prinzip der Isochronie in der imagistischen Dichtung objektivieren und somit validieren sollten.
19 Lowell: Some Musical Analogies in Modern Poetry. S. 141.
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Mit Professor William Morrisson Patterson der Columbia University in New York, der 1917 die Studie The Rhythms of Prose veröffentlicht hatte,20 führte sie in den Folgejahren eine Reihe von Versuchen durch, in denen imagistische Gedichte im freien Versmaß mit Hilfe eines speziellen Geräts aufgenommen und ihr Sprachrhythmus analysiert wurde: My experiments with Dr. Patterson consisted in reading various poems aloud into a sound-photographing machine. I read the poems several times, and then, at Dr. Patterson’s desire, I repeated them to myself, pronouncing the syllable ›tah‹ aloud on the chief accents. The results proved what I had already guessed, that the units conformed closely in time – allowing for the slight acceleration and retardation of the unitary pulse, guided by an artistic instinct – but, of course, not in syllabic quantity.21
Diese Studie ist eins vieler Beispiele einer Verbindung zwischen naturwissenschaftlichem und künstlerischem Experiment zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lowell war nicht die einzige modernistische Dichterin, die versuchte, mit (pseudo)wissenschaftlichen Experimenten prosodische Innovationen zu erzeugen. Zahlreiche Dichter der Avantgarden machten sich das steigende Ansehen der Naturwissenschaften zunutze, um ihren ästhetischen Theorien mehr Gewicht und Autorität zu verleihen. Given the anxiety that poetry is dying and science is progressing, one should not be surprised that modern poets have attempted to make poetry scientific, in hopes of resuscitating it22.
Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht verwunderlich, dass gerade Pattersons ›wissenschaftliche‹ Herangehensweise an das Phänomen Rhythmus die Dichterin fasziniert. Lowell argumentiert sogar vehement gegen eine Trennung zwischen Naturwissenschaften und Künsten und sieht gerade in ihrer Vereinigung die Chance für Innovation und Fortschritt: An artist works intuitively; a scientist deliberately. Yet there seems no reason why each should not recognize the value of the other’s method. The long quarrel
20 William Morrison Patterson: The Rhythms of Prose. An Experimental Investigation of Individual Difference in the Sense of Rhythm. New York: Columbia UP 1917. 21 Lowell: Some Musical Analogies in Modern Poetry. S. 143. 22 Timothy Steele: Missing Measures. Modern Poetry and the Revolt against Meter. Fayetteville: University of Arkansas Press 1990. S. 226
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between artist and scientist is based upon a misconception. Neither opponent understands the peculiar language of the other well enough to see when they are saying the same thing. The more ignorant artists exclaim at the desecration of analysis; the more unimaginative scientists recoil from what appears to them the illogical and vague mind-processes by which the artist gains his end. But let us forget the quarrel; let us see what can be done when sympathy takes the place of hostility, and let us bear in mind a simple and incontrovertible fact; namely, that science is merely proven truth.23
Ungeachtet des Vertrauens in die positivistischen Methoden einer naturwissenschaftlichen Herangehensweise an ästhetische Phänomene schwankt Lowell jedoch paradoxerweise zwischen einem Verlangen nach organischer und flexibler Deklamation und einem starken Glauben an wissenschaftliche Objektivität. Flexibilität und Natürlichkeit finden offenbar nur auf der Ebene des Effekts, nicht aber auf der Ebene der Produktion statt. Künstlerische Freiheit ist für Lowell demnach nicht gleichbedeutend mit Willkür einer intuitiven Kreativität, sondern unterliegt, wenn auch unbewusst, klaren naturwissenschaftlichen Gesetzen, oder anders formuliert: Das künstlerische Experiment ist an die Grenzen gebunden, die das naturwissenschaftliche Experiment vorgibt. Um sich den beiden Hauptelementen (imagistischer) Dichtung, Klang und Rhythmus, auf einer transmedialen Ebene zu nähern, um ihre ursprüngliche, ihre ›musikalische‹ Dimension zu ergründen, bewegt sich Lowell also auf der Ebene objektiver Versuche und Erkenntnisse, indem sie eine systematische Annäherung an das scheinbar intuitive und unmittelbare Medium Musik erprobt.
P OLYPHONIC P ROSE : M USIK ALS S TRUKTUR The day takes her ease in slippered yellow. Electric signs gleam out along the shop fronts, following each other. They grow, and grow, and blow into patterns of fire-flowers as the sky fades. Trades scream in spots of light at the unruffled night. Twinkle, jab, snap, that means a new play; and over the way: plop, drop, quiver, is the sidelong sliver of a watch-maker’s sign with its length on another 24 street.
23 Amy Lowell: The Rhythms of Free Verse. In: The Dial (17. Januar 1918). S. 51. 24 Amy Lowell: Spring Day. In: Men, Women and Ghosts. S. 46.
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Diese Passage stammt aus Spring Day, einem der eindrücklichsten imagistischen Gedichte Lowells. Das Gedicht beschreibt verschiedene sinnliche Eindrücke eines Individuums in der modernen Großstadt. Aufgrund der außerordentlichen Dichte klanglicher und rhythmischer Elemente werden diese Eindrücke dem Rezipienten sehr direkt vermittelt. Das Gedicht beschreibt die urbane Geräuschkulisse nicht nur, sondern inszeniert sie. Spring Day ist in einer Form verfasst, die Lowell ›Polyphonic Prose‹ nennt, eine hybride Form zwischen Prosa und Lyrik.25 Sie kombiniert freies Versmaß mit einem Sprachgebrauch, der das poetische Material, insbesondere den Klang, hervorhebt, in einer Konzentration aus Reim, Assonanzen und Alliterationen. Die häufigen Wiederholungen und Parallelismen, nicht nur von Klängen, sondern auch von Wörtern und Strukturen, entsprechen der Wiederkehr verschiedener ›Themen‹ in polyphoner Musik.26 In den Polyphonic-Prose-Gedichten kulminieren Lowells Experimente mit Klang und Rhythmus. Durch den Bezug auf die komplexe musikalische Technik der Polyphonie erproben diese Gedichte Effekte zeitlichräumlicher Simultaneität in einem Medium, welches dem Prinzip der Gleichzeitigkeit a priori zu widersprechen scheint. Während in der Musik verschiedene Stimmen gleichzeitig erklingen können, ist dies im linear angelegten Medium Literatur unmöglich, wenn man einmal von sporadischen Experimenten wie beispielsweise dem surrealistischen ›Simultanisme‹ absieht.27 Doch gerade durch seine Vielstimmigkeit und Komplexität wird die Polyphonie für viele Modernisten zum strukturellen Modell für die Repräsen-
25 Vgl. Lowells Vorwort zu Can Grande’s Castle: Amy Lowell: Can Grande’s Castle Boston: Houghton Mifflin 1918. S. vii–vxii. 26 In der Musik bezeichnet der Begriff ›Polyphonie‹ (griech.: πολυ poly ›mehr‹ und φονη phone ›Stimme‹) eine Struktur aus unabhängigen, jedoch gleichzeitig erklingenden melodischen Strängen, im Gegensatz zur ›Monodie‹ oder ›Homophonie‹, einer einzelnen Melodie oder einer Melodie mit harmonischer Begleitung. 27 Vgl. Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality. Amsterdam: Rodopi 1999. S. 20 f. Vgl. auch Eric Prieto: Listening In. Music, Mind, and the Modernist Narrative. Lincoln: University of Nebraska Press 2002. S. 73. Für Jules Romains surrealistische Experimente mit verbaler Polyphonie siehe Daniel Albright: Untwisting the Serpent. Modernism in Music, Literature, and Other Arts. Chicago: University of Chicago Press 2000. S. 263 f.
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tation einer immer komplexer und unüberschaubar werdenden Welt.28 Vor allem in der Darstellung des ersten Weltkriegs bedient sich Lowell dieses musikalischen Formprinzips, um die chaotischen Konstellationen verschiedener Konfliktlinien, die Effekte menschlicher Konfrontation sowie die Unfassbarkeit menschlichen Leidens zu repräsentieren. Entgegen Mikhail Bakhtins metaphorischem Konzept polyphoner Literatur29 versuchen Lowells Experimente mit Polyphonie dennoch das scheinbar Unmögliche, indem sie bestrebt sind, den Effekt musikalischer Polyphonie, räumlichzeitlicher Simultaneität unmittelbar zu erzeugen – entweder durch den raschen Wechsel von einem ›Thema‹ zum anderen oder durch einen Widerhall, einen Resonanzraum ähnlich einem musikalischen Orgelpunkt oder Ostinato.30
28 Polyphone Strukturen in der Literatur sind bereits eingehend untersucht worden, beispielsweise in Bezug auf das ›Sirenen-Kapitel‹ von James Joyces Ulysses (1922), Aldous Huxleys Point Counter Point (1928) oder Virgina Woolfs The Waves (1931) (Vgl. Calvin Brown: Music and Literature. A Comparison of the Arts. Athens: The University of Georgia Press 1948; vgl. Wolf: The Musicalization of Fiction; vgl. Nadya Zimmermann: Musical Form as Narrator. The Fugue of the Sirens in James Joyce’s Ulysses. In: Journal of Modern Literature 26 (2002) H. 1. S. 108–118.) Es wurde gezeigt, dass diese modernistischen Romane polyphone Elemente wie zeitliche Simultanität und eine Vielzahl unabhängiger Stimmen, Themen und Perspektiven eingesetzt werden, um eine ›kakophone‹ Wirklichkeit sowie das fragmentarische Bewusstsein der modernen Psyche darzustellen. Für eine Darstellung des Gebrauchs polyphoner Strukturen in den bildenden Künsten des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Karin von Maur: Vom Klang der Bilder. München: Prestel 1999. 29 Obwohl Lowell den Begriff ›Polyphonie‹ benutzt, als sei dieser ein etablierter literarischer Terminus, setzte er sich im literaturwissenschaftlichen Kontext erst mit Mikhail Bakhtins Konzept des ›polyphonen Romans‹ durch. Bakthin identifiziert als ›polyphon‹ die dialogischen Elemente in Fyodor Dostoevskys Romanen, wobei er sich vor allem auf die heterogenen und autonomen Stimmen und Perspektiven der Romanfiguren bezieht. (Vgl. Mikhail Bakhtin: Problems of Dostoevsky’s Poetics [1984]. Aus dem Russ. übers. von R. W. Rotsel. Ann Arbor: Ardis 1973.) Während Polyphonität für Bakhtin in erster Linie in einem metaphorischen Sinne zu verstehen ist, der insbesondere das Phänomen der ›Vielstimmigkeit‹ beschreibt, bewegt sich der Begriff bei Lowell und den Imagisten deutlich näher an seiner ursprünglichen, klanglich-formalen Konnotation. 30 Während ein Orgelpunkt in der Musik eine einzelne, lang ausgedehnte Bassnote bezeichnet, über der sich die Melodie entfaltet, ist ein Ostinato ein sich wieder-
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Lowells Gedichtband Can Grande’s Castle (1918) enthält vier epische Gedichte in Polyphonic Prose, die das Thema ›Krieg‹ in seiner historischen Dimension darstellen. Die folgende Passage aus The Bronze Horses, dem vierten dieser Gedichte, stellt die Plünderung Konstantinopels durch die Venezianer im Jahre 1203 plastisch dar:31 Stones pour out of the mangonels; arrows fly thick as mist. Swords twist against swords, bill-hooks batter bill-hooks, staves rattle upon staves. One, two, five men up a scaling ladder. Chop down on the first, and he rolls off the ladder with his skull in two halves; rip up the bowels of the second, he drips off the ladder like an overturned pail. But the third catches his adversary between the legs with a pike and pitches him over as one would toss a truss of hay. Way for the three ladder men! Their feet are on the tower, their plumes flower, argent and gold, above the muck of slaughter. From the main truck of the ships there is a constant seeping of Venetians over the walls of Constantinople. They flow into the city, they throw themselves upon the beleaguered city. They smash her defenders, and crash her soldiers to mere bits of broken metal.32
Die Dynamik der Kampfszene wird sprachlich durch einen intensiven Gebrauch von Assonanzen, Konsonanzen, Alliterationen und Wortwiederholungen ausgedrückt. Zudem spiegeln die onomatopoetische Wortwahl sowie die rhythmisch flexiblen und oft synkopischen Effekte den energischen Eindruck des Gefechts wider. Dieser Effekt des Widerhalls zeichnet sich jedoch nicht nur auf der klanglichen Mikroebene ab. Wie Lowell in ihrem Vorwort zu Can Grande’s Castle betont, basiert die Technik der Polyphonic Prose wesentlich auf dem Prinzip des ›return‹, welches sie folgendermaßen beschreibt: »the recurrence of a dominant thought or image, coming in irregularly and in varying words, but still giving the spherical effect […] imperative in all
holendes Muster im Bass. Für eine Analyse des Ostinatoeffekts in Robert Pingets Roman Passacaille (1969) vgl. Prieto: Listening In. S. 70–73. 31 Wie bereits der Titel andeutet, schildert das Gedicht die Odyssee vierer Bronzepferde, die von den Venezianern während des vierten Kreuzzuges aus Konstantinopel geplündert, dann von Napoleon gewaltsam nach Paris gebracht worden sind, von wo aus sie, über einen Umweg über Rom nach dem Ersten Weltkrieg nach Venedig zurückkehrten. Dort sind sie heute in der Basilika von St. Markus zu sehen. 32 Lowell: Can Grande’s Castle. S. 185.
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poetry.«33 Durch Wiederholungen nicht nur auf der klanglichen, sondern auch auf der semantischen Ebene erzeugt Lowell ein komplexes Geflecht verschiedener Stimmen und Resonanzen und suggeriert dadurch einen räumlichen Eindruck simultaner Wahrnehmung, ähnlich wie in latenter Polyphonie, einem Phänomen, das sich beispielsweise in Johann Sebastian Bachs Violinpartiten oder Cellosuiten zeigt. Lowells Vorstellung eines ›sphärischen Effekts‹ entspricht Lars Elleströms Konzept des ›virtuellen Raums‹, der perzeptuellen Illusion dreidimensionaler Tiefe in Folge einer räumlichen Konstruktion zeitlicher Ereignisse.34 In Lowells Lyrik ist dieser räumliche Effekt jedoch nicht ausschließlich auf die narrative Ebene reduziert, wie beispielsweise in anderen modernistischen Texten – etwa Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929)35 oder William Faulkners The Sound and the Fury (1929), in denen ein räumlicher Eindruck insbesondere durch den Aufbruch zeitlicher Chronologie oder die Gegenüberstellung autonomer narrativer Stränge und Stimmen erzielt wird –, sondern findet unmittelbar auf der klanglich-/strukturellen Wahrnehmungsebene statt. Eins der bedeutendsten Merkmale polyphoner Musik ist die Koexistenz horizontaler und vertikaler Wahrnehmung. Während die einzelnen melodischen Stränge in sich vollständige Einheiten bilden, die sich auf der zeitlichen Achse bewegen, fügen sich diese zugleich zu einem kohärenten räumlichen Geflecht zusammen. Dieses dualistische Spannungsfeld zwischen räumlicher und zeitlicher Dimension stellt ein zentrales Motiv in Lowells The Bronze Horses dar und wird exemplarisch durch die Figur der Pferde repräsentiert. Wie viele der Gedichte, in denen Lowell Bezug auf das Medium Musik nimmt, steht im Mittelpunkt interessanterweise eine bildkünstlerische Arbeit, eine Statue. Wie ein Leitmotiv durchziehen Hinweise auf die Pferde das gesamte Gedicht und verkörpern die perfekte Einheit von Bewegung und Stillstand. Als Skulpturen sind die Pferde zwar statisch, suggerieren aber durch ihre angehobenen Vorderbeine eine dynamische
33 Lowell: Can Grande’s Castle. S. xii. 34 Vgl. Lars Elleström: The Modalities of Media. A Model for Understanding Intermedial Relations. In: Media Borders, Multimodality and Intermediality. Hrsg. von Lars Elleström. Hampshire: Palgrave Macmillan 2010. S. 20. 35 Vgl. Alfred Döblin: Der Nutzen der Musik für die Literatur. In: Die Zeitlupe. Kleine Prosa. Hrsg. von Walter Muschg. Olten: Walter 1962. S. 158–160; Johannes Balve: Ästhetik und Anthropologie bei Alfred Döblin. Vom musikalischen Gespräch zur Romanpoetik. Wiesbaden: Dt. Universitätsverlag 1990.
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Bewegung. Trotz ihrer tatsächlichen Vertreibung an verschiedene geographische Orte in Folge turbulenter Feldzüge drücken die Pferde eine gewisse Stabilität und Sicherheit aus: »they trot forward without moving, and time passes and passes them, brushing along their sides like wind«.36 Was immer auch um sie herum geschieht, sie stehen erhaben über jeglicher Erschütterung, sogar während des Feldzugs in Konstantinopel: »the quiet horses […] wait and advance. This is not their fire, they trample on the luminousness of flames, their strong hind legs plant them firmly on the marble coping«.37 Inmitten der Instabilität weltlicher Angelegenheiten bilden diese Pferde die einzige beständige und autonome Instanz. Wie Themen in polyphoner Musik bewegen sich die Pferde vorwärts, füllen aber auch die räumliche Dimension und stehen somit symbolisch für ein Verlangen nach stabilisierender Balance in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Im Versuch, die Komplexität des Krieges und einer chaotischen Realität sprachlich zu greifen, bedient sich Lowell des Prinzips musikalischer Polyphonie und versucht, dieses ins literarische Medium zu ›übersetzen‹. Dabei nimmt sie durch die geographische Distanz zum Ersten Weltkrieg eine Position ein, die es ihr erlaubt, das Thema des Krieges auf eine abstraktsymbolische Ebene zu heben. Polyphonie wird auf diese Weise einerseits zur Allegorie des Krieges und korrespondiert damit nicht im strengen musikalischen Sinn mit einer Vorstellung von Harmonie oder Konkordanz, sondern eher mit der von Kakophonie und Diskordanz. In ihrem historisierenden und ästhetisierenden Ansatz inszeniert Lowell andererseits jedoch auch eine transzendente Vision einer Balance, die in ihrem experimentellen Zugriff auf Dimensionen der Zeit- und Raumwahrnehmung zum Tragen kommen. Musikalische Polyphonie bietet Lowell das strukturelle Material, um eine Gleichzeitigkeit von Chaos und Ordnung auszudrücken. Dass Lowell ihre Kriegsgedichte fast ausschließlich in einer Form schreibt, die als ästhetisches Paradigma die komplexe und elaborierte musikalische Struktur der Polyphonie wählt, zeigt, dass die Unfassbarkeit des Krieges das Experiment mit poetischen Mitteln erfordert, die nicht nur mediale Grenzen überschreiten, sondern auch ein extremes Maß menschlicher Kognition und Wahrnehmung in Anspruch nimmt.
36 Lowell: Can Grande’s Castle. S. 178. 37 Lowell: Can Grande’s Castle. S. 185.
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T RANSKRIPTION UND T RANSFORMATION Nach der intensiven Auseinandersetzung mit musikalischen Parametern wie Klang, Rhythmus und polyphonen Strukturen münden Lowells intermediale Experimente schließlich gewissermaßen in eine Synthese: Es entsteht eine vollständige Transformation von Musik in Text. Lowells ›Übersetzung‹ des musikalischen in den verbalen Text ist eine unmittelbare Fortführung ihres experimentellen Verlangens nach medialen Grenzüberschreitungen. Anknüpfend an ihre Versuche, die freifließenden Rhythmen impressionistischer Musik zu imitieren, erprobt sie nun Ähnliches auch im traditionellen, metrischen Versmaß.38 Musikalische Vorlagen sucht sie vor allem in der Musik zeitgenössischer europäischer Komponisten, beispielsweise in Béla Bartóks letzter der Vierzehn Bagatellen op. 6 für Klavier (1908), mit dem Titel Ma Mie qui danse.39 Im Folgenden soll anhand dieses Beispiels gezeigt werden, wie Lowell eine musikalische Vorlage in das verbale Medium ›übersetzt‹ und dabei nicht nur mediale, sondern auch kulturelle Grenzen überschreitet.40 Lowells Gedicht After Hearing a Waltz by Bartók (1914) nimmt schon im Titel explizit Bezug zu seiner musikalischen Vorlage, welche sich im Gedicht wiederum auf mehreren Ebenen bemerkbar macht – sowohl auf der rhythmischen, stilistischen, als auch auf der semantischen. Bemerkenswerterweise bezieht sich Lowell in ihrer intermedialen Transkription auf ein zeitgenössisches und experimentelles Musikstück, das zu ihrer Zeit als äußerst progressiv galt. Bartóks Bagatellen zeichnen sich durch eine innovative Klangsprache, komplexe Rhythmen und ungewohnte melodische und harmonische Wendungen aus, welche Lowell als Material für ihre poetischen Experimente aufgreift und nutzbar macht. Indem sie für ihre Tran-
38 Vgl. Lowell: Some Musical Analogies in Modern Poetry. S. 144. 39 Vermutlich hörte Lowell dieses Stück in einer Aufführung in ihrem Haus in Brookline, vorgetragen von Heinrich Gebhard. Das einzige existierende Konzertprogramm, welches auf eine Aufführung des Stücks hinweist, stammt vom 4. Juli 1916, doch wahrscheinlich hatte Lowell das Stück schon 1913 oder 1914 gehört. 40 Ein weiteres Beispiel einer literarischen ›Übersetzung‹ einer musikalischen Vorlage ist Lowells Gedicht Stravinsky’s Three Pieces ›Grotesques‹ for String Quartet (Men, Women, and Ghosts, 1916), welches sich auf die im Titel genannte Komposition des russischen Komponisten Igor Stravinsky bezieht.
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skription ebenfalls experimentelle Musik auswählt, positioniert sich Lowell durch die Anknüpfung an musikalisches Material auf selbstreflexive Weise in einem ästhetisch progressiven Kontext. Abgesehen von ihrer grundsätzlichen, transmedialen Verbindung korrespondieren Musik und Gedicht jedoch auch auf einer kulturellsemantischen Ebene, welche die beiden Texte in einen modernistischen Kontext stellen. Das Motiv der Groteske, welches in Bartóks Klavierstück einen zentralen Stellenwert einnimmt, wird von Lowell in ihrem Gedicht aufgegriffen und gleichermaßen von einem europäischen in einen amerikanischen Kontext ›über-setzt‹. Intermediale Transkription bedeutet also in diesem Fall nicht nur die Übersetzung eines semiotischen Systems in ein anderes, sondern eben auch ›kulturelle Übersetzung‹. Die Groteske ist ein zentrales Element in Bartóks Musik, welche sich durch häufige instrumentale, thematische und tonale Verzerrungen sowie bizarre Effekte auszeichnet.41 Das kompositorische Material der letzten Bagatelle für Klavier entstammt den kurz zuvor komponierten Two Portraits (1911), einer Komposition für Solovioline und Orchester, in welcher Bartók zwei musikalische Portraits der jungen Geigerin Stefi Geyer mit den beiden Titeln Ideal und Grotesque entwirft. Diese musikalische Repräsentation zweier extremer und sich widersprechender Darstellungen einer Person gilt als eines der deutlichsten Beispiele für die Groteske in Bartóks musikalischem Schaffen. Bartóks Klavierbagatelle Valse (1908)42 beginnt mit einem typischen Walzer-Rhythmus im 3/8-Takt:
41 Zur Groteske in Béla Bartóks Musik siehe Julie A. Brown: Bartók and the Grotesque: Studies in Modernity, the Body and Contradiction in Music. Aldershot: Ashgate 2007. 42 Béla Bartók: Valse (Ma mi qui danse--). In: 14 Bagatelles for Piano, op. 6. [1908]. Überarb. Ausg. Hrsg. von Péter Bartók. Budapest: Editio Musica Budapest 1998. S. 34–39.
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Abb. 2: Béla Bartók: Valse (1908)
Takt 1–7.
Was auf den ersten Blick wie eine typische Walzer-Begleitung aussieht, stellt sich rasch als Karikatur eines Walzers heraus. Nicht nur das äußerst hohe Tempo macht den Walzer ›untanzbar‹, auch die übertriebenen Akzente auf den jeweils ersten Zählzeiten sowie die verzerrte I–V-Harmonik in jedem zweiten Takt lassen bereits nach wenigen Takten vermuten, dass es sich hierbei um eine Verfremdung des Walzer-Genres handelt.43 Der groteske Charakter der Bagatelle wird durch flüchtige musikalische Gesten verstärkt, die an Stelle von lyrischen Melodien fragmentarisch das Stück durchziehen und in ihrer Spontaneität einen exzentrischen Eindruck erwecken. Wie von einer inneren Besessenheit getrieben, drängen diese Gesten nach vorne, unterstützt durch den fortwährenden 3er-Rhythmus in der linken Hand. Der starke dynamische Impetus des Walzers wird jedoch durch rhythmische Stockungen, Hemiolen und Synkopen gebrochen, die, unterstützt durch Pausen und rhythmische Divergenzen, zunehmend die Idee eines in sich organischen und rhythmisch konsistenten Tanzes ad absurdum führen. Das Stück ähnelt eher einer ›Danse macabre‹44 als einem gehobenen Wiener Walzer. Das groteske Element in Bartóks Walzer resultiert jedoch nicht allein aus der Karikatur des Walzergenres, sondern vor allem aus seiner
43 Anstelle der erwarteten Tonika-Dominantbeziehung einer Walzerbegleitung folgt auf den anfänglichen D-Durakkord (Takt 1) ein ›Akkord‹, der in keiner Beziehung zu D-Dur steht und in welchem der Quartsprung im Bass um einen Halbton ›verpasst‹ wird. Die Dissonanz fis/gis entwickelt sich im Laufe des Stückes immer mehr zu einem unabhängigen Motiv und erscheint in unterschiedlichen Kontexten und Intervallkombinationen (Vgl. Tadeusz A. Zielinski: Bartók. Zürich: Atlantis 1973. S. 102.). 44 Das Stück erinnert an Camille Sain-Saëns Danse macabre (op. 40, 1874), eine groteske Parodie eines festlichen Walzers, welches ebenso einen ›Tanz des Wahnsinns‹ verkörpert.
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beinahe unheimlichen, monströsen Ebene. Die karikierenden, immer höher steigenden Motive erlangen eine Eigendynamik und lösen sich somit von der Genrekonvention ab. Die grotesken Verzerrungen gewinnen dadurch gegenüber den satirischen und humorvollen Passagen zunehmend an Bedeutung. Dies wird besonders deutlich in der Behandlung des für den Walzer typischen ternären Metrums, welches sich im Laufe des Stückes immer mehr von seiner begleitenden Funktion ablöst und sich zum eigenständigen Motiv emanzipiert. Das anfangs banal erscheinende repetitive Motiv, das zunächst als übertriebene Parodie des Walzer-Rhythmus auftritt, gerät zunehmend außer Kontrolle: Abb. 3: Bartók: Valse (1908)
Takt 45–64.
Durch die allmähliche Steigerung in für eine Begleitung ungewöhnliche Tonhöhen, aber auch durch den plötzlich eintretenden dualen Rhythmus mit veränderter Abfolge der Tonrelationen (ab Takt 59) unterscheidet sich dieses Motiv substantiell von einer reinen Karikatur des Walzers. Stattdessen kehrt es die spielerisch-humorvolle Dimension der Karikatur in eine autonome Einheit, die eine eigene Dynamik entwickelt. Bartóks ›Valse‹ ver-
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fremdet den Walzer nicht nur, sondern subversiert ihn geradezu. In Anlehnung an Gabriele Beinhorn, die einen ähnlichen Effekt in Maurice Ravels La Valse (1919/20) konstatiert,45 kann man also behaupten, dass Bartóks Klavierbagatelle den Walzer als abgenutztes Klischee einer gefälligen Ästhetik und Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts karikiert, dessen Verzerrung den Zerfall und die Leere eben jener Kultur offenbart.46 In Amy Lowells Gedicht After Hearing a Waltz by Bartók (1914) ist der Walzer auf mehreren Ebenen präsent. Ein festlicher Tanz bildet den Hintergrund für die Erinnerungen des lyrischen Ichs, das gerade auf grausame Art und Weise seinen Nebenbuhler ermordet hat. Die retrospektive Perspektive, die schon im Titel des Gedichts angedeutet wird, drückt den Wechsel von Musik zum verbalen Medium aus und fungiert somit als metatextueller Marker. Darüber hinaus bestimmt der Akt des Erinnerns, der Rekonstruktion maßgeblich die inhaltliche Ebene des Gedichts. Während die Geliebte des Mörders im Nebenraum zur Walzermusik tanzt, erlebt der Mörder das grausame Geschehen noch einmal, er tanzt eine ›Danse macabre‹ mit dem soeben getöteten Opfer als Tanzpartner. Die groteske Qualität der Szene wird vor allem durch die Gleichzeitigkeit und die allmähliche Vermengung der beiden Walzer erzeugt. Während der ›echte‹ Walzer lediglich aus der Entfernung des Ballsaals wahrnehmbar ist, durchdringt dieser immer mehr die psychische Konstitution des Mörders, der in seinem Schockzustand seine Tat zu fassen versucht: But why did I kill him? Why? Why? In the small, gilded room, near the stair? My ears rack and throb with his cry, And his eyes goggle under his hair, As my fingers sink into the fair White skin of his throat. It was I!
[1]
[5]
45 Vgl. Gabriele Beinhorn: Das Groteske in der Musik. Arnold Schönbergs ›Pierrot Lunaire‹. Pfaffenweiler: Centaurus 1988. S. 37–49. 46 Sowohl Ravels La Valse and Bartóks Valse stellen groteske Karikaturen des Walzergenres dar. In beiden Stücken wird der Walzerrhythmus zunehmend verzerrt, indem er an Tempo und Intensität gewinnt und dadurch den traditionellen Walzer ad absurdum führt. Während Ravels La Valse jedoch eine kollageartige Struktur aufweist, in der konventionelle Walzerelemente mit verfremdeten Elementen kombiniert werden, ist Bartóks Valse von Anfang an verfremdet und gibt zu keinem Zeitpunkt die Illusion eines konventionellen Walzers.
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I killed him! My God! Don’t you hear? I shook him until his red tongue Hung flapping out through the black, queer, Swollen lines of his lips. And I clung With my nails drawing blood, while I flung The loose, heavy body in fear. Fear lest he should still not be dead. I was drunk with the lust of his life. The blood-drops oozed slow from his head And dabbled a chair. And our strife Lasted one reeling second, his knife Lay and winked in the lights overheard. And the waltz from the ballroom I heard, When I called him a low, sneaking cur. And the wail of the violins stirred My brute anger with visions of her. As I throttled his windpipe, the purr 47 Of his breath with the waltz became blurred.
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[10]
[15]
[20]
Zu Beginn des Gedichts erkennt das lyrische Ich sich selbst und sein Opfer sowie die Tat, die es begangen hat. Bald jedoch wird sein Gemütszustand immer instabiler. ›Betrunken von Lebenslust‹ (Z. 14) fühlt er sich sowohl durch seine Liebe zu der Frau als auch durch seine Eifersucht überwältigt. Dabei spielt die Musik eine tragende Rolle in der Vermischung von Realität und Emotionen. Der Walzer wird durch die irrationale Wahrnehmung des Mörders verzerrt und somit zum Sinnbild für seine gewaltsamen Begierden. Die Musik, die sich mit dem Akt des Tötens ›vermischt‹ (Z. 21), wird zur Triebkraft für die innere Besessenheit und den Wahnsinn des Mörders: I have ridden ten miles through the dark, With that music, an infernal din, Pounding rhythmic inside me. Just Hark! One! Two! Three! And my fingers sink in To his flesh when the violins, thin And straining with passion, grow stark.48
[25]
[30]
47 Amy Lowell: Sword Blades and Poppy Seed. New York: Macmillan 1914. S. 155 f., Z. 1–24.
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Der rasche Walzerrhythmus, auf den im Gedicht Bezug genommen wird, steht in einem direkten Verhältnis sowohl mit dem Rhythmus des galoppierenden Pferdes, mit dem der Täter zum Ort des Geschehens reitet, als auch mit seinem rasenden Herzschlag. Der Rhythmus bestimmt das Tempo seiner inneren Verfassung und zwingt ihn, die grausame Tat zu begehen. Als Hintergrund zu diesem Mord und dem nachfolgenden Totentanz durchzieht das Walzermetrum das Gedicht unmittelbar. Der unaufhaltsame Puls manifestiert sich durch die wiederholte Artikulation »One! Two! Three!« auch auf semantischer Ebene. Das hohe Tempo der musikalischen Vorlage, welche den Wahnsinn widerspiegelt, wird im Gedicht zusätzlich durch das Reimschema unterstrichen. Die außergewöhnliche Dominanz ausgedehnter Reime, wie beispielsweise in der vierten Strophe, welche mit »heard«, »cur«, »stirred«, »her«, »purr«, und »blurred« (Z. 19–24) endet, betonen die exzentrische, aber auch besessene Qualität des Gedichts und den zunehmenden Wahnsinn des Protagonisten. Ein weiteres verzerrendes Element des Gedichts betrifft sein Metrum. Die regelmäßige und fast monoton wirkende Abfolge von einer betonten und zwei unbetonten Silben entspricht nur scheinbar dem Walzerrhythmus, wie Lowell selbst betont: I attempted to reproduce waltz rhythm, a perfectly regular thing and one which it might be supposed quite possible to render in strict metre. Horror of horrors! It was not. The dactyllic metre I had proposed to myself gave no swing in words, and I was obliged to fall back on the bastard waltz accent of the anapestic.49
Lowells ›Walzerrhythmus‹, der das gesamte Gedicht durchzieht, kehrt das ›regelmäßige‹ Metrum des Walzers um und beginnt statt mit einer betonten mit zwei unbetonten Silben. Was Lowell einen »bastard waltz accent« nennt, ist in der Tat ein ›falscher‹ Rhythmus und parodiert das Walzergenre. Die verzerrte Walzermusik mit seinem stark getriebenen Metrum gilt als Spiegel für die zwei Triebe, die den Mörder beherrschen und die sich ebenfalls nach und nach miteinander vermischen: seine Mordgelüste sowie sein leidenschaftliches sexuelles Verlangen. Nicht nur der Akt des Tötens,
48 Lowell: Sword Blades and Poppy Seed. S. 156–157, Z. 25–30. 49 Lowell: Some Musical Analogies in Modern Poetry. S. 144.
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sondern insbesondere der Tanz mit dem toten Körper enthält eine homoerotische Komponente: He is here in the room, in my arm, His limp body hangs on the spin Of the waltz we are dancing, a swarm Of blood-drops is hemming us in! Round and round! One! Two! Three! And his sin Is red like his tongue lolling warm. One! Two! Three! And the drums are his knell. He is heavy, his feet beat the floor As I drag him about in the swell Of the waltz. With a menacing roar, The trumpets crash in through the door. One! Two! Three! Clangs his funeral bell.50
[40]
[45]
Gerade die Vermischung von sexueller, gewaltsamer und künstlerischtänzerischer Bildlichkeit bestimmt die Groteske dieser Szene. Sowohl Tanz als auch Sexualität werden vor dem Hintergrund des mörderischen Kontextes umgedeutet. Genau wie die Walzermusik in ihrer Transformation von einer Tanz- zu einer Trauermusik eine neue soziokulturelle Funktion erhält, verwandelt sich auch die körperlich harmonische Beziehung zweier Tänzer in einen besessenen Totentanz. Die Blutrünstigkeit des Mörders wendet sich jedoch rasch gegen ihn: Während des Tanzes gewinnt der tote und steife Körper immer mehr Kontrolle über den Mörder, bis dieser wiederum das Gefühl des Erwürgens verspürt: And his blood has dripped into my heart! And my heart beats and labours. One! Two! Three! His dead limbs have coiled every part Of my body in tentacles. Through My ears the waltz jangles. Like glue His dead body holds me athwart.
[60]
One! Two! Three! Give me air! Oh! My God! One! Two! Three! I am drowning in slime!
50 Lowell: Sword Blades and Poppy Seed. S. 157 f., Z. 37–49.
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One! Two! Three! And his corpse, like a clod, Beats me into a jelly! The chime, One! Two! Three! And his dead legs keep time. Air! Give me air! Air! My God! 51
[65]
Diese anschauliche und zutiefst grausame Beschreibung des gegenseitigen Würgeprozesses in der absurden und zynischen Assoziation des Tanzes bedient sich in erster Linie der Bildlichkeit des Gothic- bzw. Horrorgenres.52 Während Bartók im Wesentlichen eine Karikatur des Walzers mit sporadischen Elementen einer unheimlichen Groteske entwirft, steht bei Lowell die ausführliche Repräsentation eines Horrorplots im Vordergrund, der Gewalt, Angst und Wahnsinn ästhetisiert. Lowells Protagonist weist auf, was Dieter Meindl ein zentrales Motiv der Groteske nennt: »mentale Verfremdung« und »Wahnsinn«.53 Der Protagonist des Gedichts bewegt sich im Grenzbereich zwischen Realität und Traum, zwischen Rationalität und Unzurechnungsfähigkeit, zwischen Leben und Tod. Seine psychische Zerrissenheit, welche in hohem Maße durch Referenzen auf das Medium Musik hervorgerufen wird, steht hier im Vordergrund. Insbesondere der musikalische Rhythmus drückt die dunklen Zwänge und die Irrationalität der menschlichen Psyche aus. Dabei
51 Lowell: Sword Blades and Poppy Seed. S. 158 f., Z. 56–67. 52 In diesem Kontext lassen sich interessante Parallelen zwischen dem Gedicht und Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The Masque of the Red Death ziehen (In: Selected Tales by Edgar Allan Poe [1842]. London: Penguin 1994. S. 192–198). Diese Erzählung des Gothicgenres handelt von dem vergeblichen Versuch des Prinzen Prospero, dem ›Roten Tod‹, einem Synonym für die Cholera, zu entkommen, indem er sich selbst in einem Schloss einschließt. Während eines pompösen Maskenballs erscheint eine Figur in der Maske des Roten Todes, welche der Prinz abzuwehren versucht, jedoch im Gefecht getötet wird. Daraufhin bringt der Rote Tod einen Gast nach dem Anderen um, bis er die vollkommene Macht über das gesamte Schloss hat. Poes The Masque und Lowells After Hearing a Waltz weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf der inhaltlichen Ebene auf. Beide Narrative enthalten eine Mordszene während eines Balls sowie eine unkontrollierbare, monströse Gewalt, die zunehmend an Autonomie gewinnt. Auch die Figur der Musik übernimmt in beiden Erzählungen eine zentrale Rolle, da sie als dramatisches Element das unaufhaltsame Schicksal sowie die groteske, unheimliche Atmosphäre erzeugt. 53 Dieter Meindl: American Fiction and the Metaphysics of the Grotesque. Columbia: University of Missouri Press 1996. S. 15.
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greift das Gedicht einerseits auf ein literarisches Genre des 19. Jahrhunderts zurück, positioniert sich jedoch durch formale Brüche sowie insbesondere durch die intermediale Referenz auf Musik des 20. Jahrhunderts in einem modernistischen Kontext, wobei es die Tradition der amerikanischen Groteske antizipiert.54 Sowohl Bartók als auch Lowell entwickeln eine kritische Verfremdung des traditionellen Walzergenres, seiner kulturellen Konventionen sowie der Normen körperlicher Grenzen. Lowells Überspitzung des Horrorelements liest sich selbst jedoch wie eine groteske Transmutation der Musik. Während Musik für Bartók ein Repräsentationsmedium ist, ist das Konzept der Musik in Lowells Gedicht an sich grotesk: Musik wird zum Inbegriff der Dynamik, mit der das Unheimliche außer Kontrolle gerät. Das groteske Portrait des Körpers in Bartóks Valse entwickelt sich zu einem monströsen Körper in Lowells Gedicht, führt ein dunkles Eigenleben und verwandelt die bizarre Karikatur in eine grausame Horrorszene. After Hearing a Waltz by Bartók ist eine intermediale ›Übersetzung‹ eines musikalischen in einen verbalen Text. Der Prozess der Übersetzung findet sowohl auf der formal-/semiotischen als auch auf der ästhetisch-/kulturellen Ebene statt. Durch den experimentellen Umgang mit musikalischem Material erweitert Lowell das poetische Ausdruckspotential. Darüber hinaus übersetzt sie dadurch auch die kulturelle ›Bedeutung‹ der Musik in ihren eigenen kulturellen Kontext einer spezifisch modernistischen Lesart des Gothicgenres. Indem es Bezug auf die Musik nimmt, begibt sich das Gedicht gleichermaßen in einen performativ-/diskursiven Prozess, welcher nicht nur die musikalische Vorlage, sondern auch sich selbst und seine eigene Medialität inszeniert. Als Vertreterin des Imagismus repräsentiert Amy Lowell eine dichterische Bewegung, die das Experiment zu einer zentralen ästhetischen Kategorie macht, indem sie in ihren Manifesten radikale Wege beschreitet, gleichzeitig jedoch eine Diversität und Heterogenität vorschreibt, die sich einer ge-
54 Groteske Elemente in der Literatur entwickelten sich zwar zunächst aus einem europäischen Kontext des 19. Jahrhunderts durch die Faszination für das Fantastische heraus, jedoch ist Lowells Groteske stark von der amerikanischen Tradition der Groteske beeinflusst. Für die spezifisch amerikanische Qualität der Groteske siehe Paula M. Uruburu: The Gruesome Doorway. An Analysis of the American Grotesque. New York: Lang 1987.
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nauen Zuschreibung von Gedichten zu dieser Bewegung entzieht. Lowells Werk spiegelt diese Vielzahl unterschiedlicher ästhetischer Positionen sowie Ausdrucksmittel wider. Im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen ist das Experiment für sie jedoch kein Selbstzweck, sondern vielmehr ein zentrales Instrument, um literarische Ausdrucksformen zu transformieren und einem sich wandelnden Konzept der Wahrnehmung zu begegnen. In der Entwicklung einer poetischen Sprache und ihrer Stellung innerhalb der amerikanischen Dichtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts greift Lowell bewusst experimentelle Verfahren auf, die in ihrer Ergebnisoffenheit und Prozesshaftigkeit die Suche nach neuen Wegen in den Vordergrund stellen. Dabei wird die Musik als das mediale ›Andere‹ zur vielleicht wichtigsten Projektionsfläche für Lowells Experimentalismus. In der intensiven Auseinandersetzung mit und Übertragung von musikalischen Klängen, Rhythmen, Formen sowie vollständigen Kompositionen in das verbale Medium gelingt es Lowell nicht nur, die Ausdrucksmittel der Dichtung zu erweitern, sondern gleichzeitig auch, auf einer metamedialen Ebene die Möglichkeiten intermedialer Grenzüberschreitungen zu reflektieren und das Verhältnis zweier Medien zueinander zu problematisieren. Dabei ist das Experiment in Lowells Werk immer auch Ausdruck einer Suche nach einer amerikanischen Ästhetik in einer sich verändernden Welt. Gleich ob in ihren Experimenten mit Synästhesie, dem freien Versmaß oder der ›Übersetzung‹ der musikalischen Groteske in Bartóks Valse in einen amerikanischen Horrorkontext, drücken Lowells Gedichte stets selbstreflexiv die Umstände und Folgen der Modernisierung aus. Musik fungiert dabei als Sinnbild der Wahrnehmungs-, Gestaltungs-, und Darstellungsmöglichkeiten ästhetischen Ausdrucks. In seinen verschiedenen Erscheinungsformen und medialen Konstruktionen wird Musik selbst zum Experiment und verkörpert somit den Wandel und den Prozess der Neuordnung einer sich radikal verändernden Realität.
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V. Experimente in der bildenden Kunst
Das Experiment des Findens als Verfahrensweise der Kunst Gemeinsamkeiten mit – und Differenzen zur – Wissenschaft
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ABSTRACT: Indem beim künstlerischen Experimentieren die Subjektivität des Fragehorizontes viel mehr ins Gewicht fällt als in der Wissenschaft und das Erkennen in hohem Maße in der Sensibilität des Wahrnehmungsvermögens verankert ist, entstehen vielfältige Rückkoppelungen und ein weiter Resonanzraum, der das Andere, das Fremde in Anschlag zu bringen sucht. Gleichwohl sind Kunst und Wissenschaft vereint im konstitutiven Moment der Praxis, das ›Erfahrenheit‹ als verinnerlichte, verkörperlichte Verlaufsform des reflektierten Handelns in einem Zug hervorbringt und weitertreibt – so dass man die Kunst als eine experimentelle Bewegung des Findens ins Offene bezeichnen kann.
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F RAGE -H ORIZONT »Ich suche nicht, ich finde.« (Pablo Picasso)1
Ein Chemiker der Universität Bremen antwortete auf die Nachfrage eines neugierigen Kindes, was denn ein wissenschaftliches Experiment sei, mit folgenden Worten: »Ein Experiment beginnt immer mit einer Frage, die man klären will. Aber das kann man nicht durch bloßes Nachdenken. Man will z. B. wissen: wann gefriert Wasser? Um das festzustellen, mussten die Leute vor langer Zeit zuerst experimentieren. Ausprobieren also.«2
So alltagsvertraut es für uns ist, dass die Dinge ausprobiert werden wollen, bedeutet das nicht gleichzeitig die Fokussierung auf eine präzise Frage oder ein Problem. Künstlerisches Experimentieren beginnt nicht unbedingt mit einer Fragestellung, im Gegenteil: So legt eine Sentenz des Malers René Magritte nahe: »Und das gerade ist das Problem – wie man keines stellen kann, damit der Geist sich nicht darauf verwenden muß, die Lösung zu finden.«3 Vor die Frage schiebt sich hier die Eröffnung eines Fragehorizontes. Die Metapher meint mehr als eine Gegenüberstellung von Problem und Lösung, deren Distanz in Richtung des gesicherten Wissens zu verringern ist. Anders als bei dieser objektivierenden zielgerichteten Erkenntnisgewinnung ist die gekrümmte Horizontlinie immer auf ein Subjekt bezogen und immer gleich weit von diesem entfernt. Es geht nicht darum, näher heran zu rücken, sondern den Standpunkt zu bedenken, von dessen Lage es abhängt, welche Dinge ins Blickfeld rücken. Mit dem Horizont wird auf eine Sichtweise und (innere) Verfassung reflektiert, aus der heraus sich Fragen erst stellen. Problem und Lösung werden entkoppelt bzw. auf einer anderen Ebene ›ver-handelt‹. Dem konsequenten Befragen einer Sache, der Suche nach gesichertem Wissen oder Wirken, geht so die bewusste Öffnung für
1
2 3
Pablo Picasso: Selbstbekenntnis [1826]. Zitiert nach: Picasso in Rußland. Materialien zur Wirkungsgeschichte 1913–1971. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Zürich: Arche 1973. S. 19. Kinder fragen Wissenschaftler. In: Das Magazin der »Stadt der Wissenschaft 2005« Bremen-Bremerhaven (April 2005). S. 25. René Magritte. Ausstellungskatalog Tate Gallery London 1969. S. 32.
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›Frag-Würdiges‹ voraus – eine Art frei schwebende Aufmerksamkeit für Phänomene und Ereignisse, mit der eine befragbare Welt allererst gefunden wird. Eine mit Achtsamkeit gepaarte Neugierde, durch die hindurch man erst in Erfahrung bringt, was man wissen will. Womit man sich auf seinen subjektiven Erkenntnisprozess zurückgeworfen findet – auf meinen individuellen Erfahrungshorizont, der auf meiner Leiblichkeit beruht und tief in die Gefilde des Unbewussten hinabreicht. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels spricht von einem »Leibkörper als einem Inbegriff von Modalitäten […], als eine Art und Weise, wie uns dies oder jenes in der Welt, an uns selbst und bei Anderen begegnet.«4 Bereits für Paul Valéry, der die ›poietische‹ Tätigkeit des »construire«5 betont, ist das Denken »ernsthaft allein durch den Körper« und dieser ist als sensibles Bezugsinstrument das Eichmaß der Gewissheit. […] Das Erscheinen des Körpers verleiht [dem Denken] sein Gewicht, seine Kraft, seine Konsequenzen und seine endgültigen Wirkungen.6
Die ins Feld geführte existenzielle Maßgabe bringt anderes mit sich als das noch Unbekannte, das einem als sachlich oder operational begrenzten Untersuchungsfeld gegenüber steht. Es ist ein In-Berührung-Kommen mit einer viel umfassenderen Gewiss- und Ungewissheit. Es ist etwas, das tief verunsichern und sich regressiv gebärden kann, da es weder prinzipiell
4
5
6
Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004 (= stw 1734). S. 137 f. – Es ist »die Leiblichkeit unserer selbst, die als ursprünglicher technischer Apparat (als Registrier-, Bewegungs-, Koordinationsapparat) und als ursprüngliches Medium (als Urbild, Urskript, Urlaut, Urtastatur) fungiert. Dies bedeutet keineswegs, dass Techniken und Medien im Leib ihren Ursprung haben, es bedeutet aber, dass sie von Anfang an in uns als einem leiblichen Selbst einnisten, und zwar deswegen, weil unser Leib etwas von einem Leibkörper hat« (Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. S. 137 f.). Der Leibkörper nimmt mit einer primären Ungeschiedenheit seiner Sinne wahr und fühlt sich von vielfach gemischten Eindrücken der Dinge berührt. Mit Valérys scharfsichtigen Analysen der poiesis (Methode des Hervorbringens) auf der Grundlage höchster Wahrnehmungssensibilität (aisthesis) soll das Eingangsmotto von Picasso konterkariert werden. Denn es geht in unserem Zusammenhang um eine sich im Finden selbst weitertreibende Suche. Paul Valéry: Cahiers/Hefte. Bd. 3. S. 306. Er fährt fort: »Die ›Seele‹ ohne den Körper brächte nur Kalauer hervor – und Theorien.«
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noch geradewegs noch überhaupt Erfolg versprechend auf einen anvisierten Lösungsweg führt. Ein »von hinten getrieben«-Sein,7 nicht über Ziele definierbar, die man kenne und anstrebe, kennzeichne generell den Forschungsprozess, stellt Hans-Jörg Rheinberger in seinen Untersuchungen von Experimentalsystemen fest. Das führe einerseits auf die »Perspektive der Hoffnungen und der Ängste des Individuums«, andererseits in jene »Tunnels und Schächte früherer Werke«,8 die die materielle Kultur ausmachen. In seinem Aufsatz Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen (2007) bezieht sich Rheinberger sowohl auf die Bemerkung des Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn (»a process driven from behind«)9 als auch auf den Kunsthistoriker George Kubler, der in seinem Buch Die Form der Zeit (1982) eine Geschichte materieller Kulturen im Sinn hatte. Kubler untersuchte, was im Rahmen der jeweiligen zeitgeschichtlichen Strukturen überhaupt verwirklicht werden kann.10 Die Perspektive des Individuums formulierte schon Valéry: Wir wissen von uns nur, was die Umstände aus uns herausholen – und wir tun jedenfalls nicht mehr, als auf das zu antworten, was in unserer Substanz erscheint oder aber was in ihr verborgen ist. […] Unsere Freiheit selbst […] ist eine Antwort unseres Zustands […]. Die hervorstechende Leistung der Kunst und jeder Spekulation (denn auch das Zeichnen zum Beispiel ist eine wahrhaftige Spekulation, wie die Philosophie oder die Analysis) ist Handlungen und Handlungserzeugnisse aus uns hervorzurufen, von denen wir nicht wussten, dass wir sie »bargen«.11
Ein solches »Zurückfallen« auf die Bedingungshorizonte des Forschens erweitert gleichzeitig das Ziel- und Spielfeld der Erkenntnisbestrebungen,
7 8
Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 151. Hans-Jörg Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. In: Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst. Hrsg. von Peter Friese, Guido Boulboulle u. Susanne Witzgall. Ausstellungskatalog Neues Museum Weserburg Bremen 2007. S. 82–93. S. 82. 9 Thomas S. Kuhn: The Trouble with the Historical Philosophy of Science. An Occasional Publication of the Department of the History of Science. Harvard University: Cambridge MA 1992. S. 14. 10 Hans-Jörg Rheinberger selbst interessiert vor allem, wie in der Wissenschaft das Neue entsteht und wie das mit dem Experimentalprozess zusammenhängt. Vgl. Rheinberger: Über die Kunst. S. 83. 11 Valéry: Cahiers/Hefte. Bd. 6. S. 158 f.
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indem es unbeabsichtigte Rückkoppelungen erzeugt und Einblick in jene Welten gewährt, die man nicht vorsätzlich entwerfen kann, sondern in die man hineingeworfen ist. Für den begreifen wollenden Begriffsmenschen reduziert sich Wirklichkeit ständig auf einen Inhalt, der auf jeden Fall kleiner ist als sein Horizont. Wenn man die Dimension Raum zulässt, wird die Welt größer, unbekannt, offen und man empfindet sich als Teil davon. Es geht darum, das Denken von einer Logozentrik zu befreien, die in der reinen Selbstgegenwärtigkeit des Gedachten alle Spuren seines Antriebs auslöscht. […] Das beinhaltet ein Zulassen des Körpers, […] der Natur und sämtlicher Möglichkeiten einer »extension of man«, wie das McLuhan nennt.12
Man könnte diese sinnliche Erweiterung auch mit dem Hinken vergleichen, von dem Jean-François Lyotard sagt, dass jemand, der hinken muss, dem Boden misstraue, was wiederum »weise und ohne Ressentiment [ist], denn er geht ja trotzdem und kann vorwärts kommen«; er fliege vielmehr »im besten Sinne des Wortes«.13 Statt den Forschergeist im Überblicksflug vorschnellen zu lassen und möglichst weitgehend Terrain zu gewinnen, vertieft sich hier der Horizont des experimentellen Feldes, um sowohl beim mühsamen Vorwärtstasten als auch bei unverhofften Sprüngen Rückmeldungen über die Beschaffenheit des zugrunde Liegenden zu geben. Auf diesem hinderlichen Weg14, der die Unebenheiten von Grund und Boden sichtbar macht, gibt es nur ein zögerliches Fortschreiten.
12 Franz-Xaver Baier: Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raums. Köln: König 1996 (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek 2). S. 63. – Die Erweiterung beinhaltet zugleich, sich einem größeren System anzuvertrauen, wodurch die Zufälligkeit des Experimentierens die Gültigkeit gegebener Rahmenbedingungen herausfordert und fallweise überschreitet. Vgl. in diesem Kontext auch die von Gregory Bateson geforderte Relation zwischen Zufall und Strenge: Gregory Bateson: Geist und Natur, eine notwendige Einheit [amerik.: Mind and Nature (1979)]. Übers. von Hans Günter Holl [1987]. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= stw 691). 13 Jean-François Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens [französ.: La philosophie et la peinture à l’ère de leur expérimentation (1986)]. Übers. von Marianne Karbe. Berlin: Merve 1986 (= Internationaler Merve-Diskurs 129). S. 25 f. 14 Vgl. Valérys frühen Hinweis auf eine der gefährlichsten Vorstellungen unserer Zeit, ans Ziel gelangen zu können, ohne den Weg zu durchlaufen, in unseren Worten: ein anvisiertes Projekt möglichst umstandslos in die Praxis umsetzen zu
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Abb. 1: Paul Klee: Hauptweg und Nebenwege (1929)
Öl auf Leinwand. 83,7 x 67,5 cm. Museum Ludwig, Köln.15
Eine versteckte Würdigung dieser Umständlichkeit der Nebenwege – um auf Paul Klees berühmtes Bild anzuspielen (vgl. Abb. 1) – finden wir schon bei dem Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg. Im Zusammenhang mit seinen Pathosformeln machte er auf jenen künstlerischen »Denkraum der Besonnenheit«16 aufmerksam, der durch eine Hemmung der Ausdrucksbewegung zu Stande kommt. Im Moment des Zögerns entsteht gleichsam ein Riss in der ›ent-hemmten‹ Automatik der Handlungsketten, eine mehr oder minder bewusste ›Zurück-Haltung‹ im unbestimmten Raum zwischen inne-
wollen, ohne den sich im Verlauf entwickelnden Zusammenhang theoretischer und praktischer Überlegungen zu berücksichtigen. 15 Susanna Partsch: Paul Klee. Köln: Taschen 1990. S. 62. 16 Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hrsg. von Dieter Wuttke. Elfriede R. Knauer. 3., durchges. u. durch ein Nachwort ergänzte Ausgabe. Baden-Baden: Koerner 1992. S. 267.
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ren Erregungszuständen und künstlerischen Formulierungsversuchen – eine »ewig flüchtende Pause zwischen Antrieb und Handlung« (Warburg).17 Dieses Unterbrechen ist ein Ausbremsen des leidenschaftlichen Ausdrucksverlangens, ein Verlangsamen der dynamischen Gebärde und eine Verlängerung des Agierens, was mit einer Intensivierung des Wahrnehmungsaktes einhergeht – so wie wir uns in Klees Bildraum in den kleinteiligen Verzweigungen der Nebenwege ergehen und dabei mehr und anderes passieren als beim ›Erklimmen‹ der übersichtlichen Geradeausstrecke. Es sind andere Räume, die sich durch ein verzögertes Handeln (er)öffnen und eine andere Form des Experimentierens verlangen: eine Art experimentelles Finden in einem ineinander verflochtenen Austausch von »leib-haftiger« Erfahrung und (wahl)freier geistiger Konstruktion.18 Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat dem aktiven Zaudern ein ganzes Buch gewidmet und kommt damit dem künstlerischen Vorgehen auf die Spur.19 Am Schluss seiner Überlegungen spricht er von einem »methodischen Zaudern«, das folgende theoretische Unterscheidung nahe lege:
17 Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992 (= Europäische Bibliothek 12). S. 322. 18 Schon Friedrich Nietzsche formulierte eine für das 19. Jahrhundert provozierende Sichtweise: »Werk- und Spielzeuge, Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. […] Hinter Deinen Gedanken und Gefühlen […] steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« (Friedrich Nietzsche: Die Reden Zarathustras. In: Ders.: Werke in drei Bdn. Hrsg. von Karl Schlechta. Bd. 2. Köln: Hanser 1994. S. 293–333. S. 300.) 19 So beschreibt er etwa im Rekurs auf Schillers ästhetische Erziehung, dass sich »[im Unterschied zur bloßen und leeren Unbestimmtheit] im ästhetischen Zustand aktiver Bestimmbarkeit eine fortlaufende Setzung und Rücknahme von Bestimmungen [vollzieht], eine Determination, die zugleich gemacht und vernichtet wird; ein Gedränge von Möglichkeiten also und ein internes Schwanken, in dem jede Bestimmung durch eine weitere aufgehalten und blockiert wird. Damit ergibt sich ein innerer Zauderrhythmus von Bestimmungen, eine dynamische Gegenläufigkeit der Kräfte. Das Aufgebot des ›ganzen Vermögens‹ ist hier synonym mit einem Zaudern, das im Vorfeld der Entschließung, vor jedem Übergang zur Tat in einer gewissen Unerträglichkeit kulminiert.« (Joseph Vogl: Über das Zaudern [2007]. 2. Aufl. Zürich: diaphanes 2008. S. 50) Die Zumutung, das aus- und durchzuhalten, obliegt dem künstlerischen Verfahren.
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Während eine robuste Theorie ihre Gegenstände (etwa »die« Literatur, »das« Wissen, »die« Wissenschaft, »die« Vernunft) immer schon kennt und darum keine Theorie benötigt, setzt ein idiosynkratisches Verfahren die Unerklärtheit seines Untersuchungsbereichs voraus [… und habe] ein paganes Wissen im Blick, wenn »pagan« herkommend von lat. pagus, sich auf einen lokalen, abgegrenzten und globalisierbaren Bereich bezieht. Wissen erscheint darin nicht – wie in einer langen aristotelischen Tradition – als Erkenntnis des Allgemeinen. Es verlangt vielmehr eine ebenso »regionale« wie »pluralistische« Epistemologie, die konkurrierende Allgemeinheiten mit unterschiedlichen Grenzen und Einsatzbereichen unterstellt.20
›W AHR - NEHMEN ‹ In einem solch verwickelten Forschungsprozess spielt die Wahrnehmung eine tragende Rolle, das ›Gewahr-werden‹ eines Anderen, Fremden – vor und innerhalb jedweder bewältigenden Aneignung. Wahrnehmen wird in diesem Kontext als ein in die Verfügbarkeit der Welt getriebener Keil verstanden, der das Unbekannte anschauen und als Erfahrungsraum erhalten will. »Fremdheit nicht zu denken als das, was uns noch nicht bekannt und noch nicht verständlich ist, sondern als das, was sich als Fernes, Abwesendes zeigt«21 und nicht zu vereinnahmen ist. Wahrnehmen ist dementsprechend ein Betrachten von Aneignungswidrigem, um einen Zwischenraum zu gewinnen und eigene Orte einzuräumen, an denen das (vor)gegebene Andere nicht nur als Stimulus zu seiner Überwindung gebraucht, sondern als »Mitspieler« eines offenen Geschehens entdeckt wird. »Handeln beruht dann auf einem Vorhaben, das sich nie in ein sicheres Haben verwandelt.«22
20 Vogl: Über das Zaudern. S. 114. 21 Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (= stw 1397). S. 29. 22 Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (= stw 868). S. 102. – Es geht um die Erfahrung des Fremden als »Auseinandersetzung im Rahmen einer Zwischensphäre«: »Im Zusammenspiel zwischen Frage und Antwort stoßen wir nicht auf bloßes Gegebenes, aus dem etwas zu machen ist, sondern auf Gegebenes, das uns auffordert, anregt, einlädt, auch abschreckt. Um ein bezeichnendes Wortspiel von Francis Ponge zu zitieren: selbst das ob-jet hat etwas von einem ob-jeu« (Waldenfels: Der Stachel. S. 64).
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Diese Art der Erfahrung, der Dinge in einem wechselseitigen Spiel erst gewahr zu werden, greift etymologisch zurück auf die unberechenbare Bewegung des Fahrens, das ›Gefahr‹ bedeutet. Denn als Fahrender weiß man nicht, was auf einen zukommt, sondern bewegt sich ins Ungewisse von Raum und Zeit hinein. Es wird einem kein Standort des Überblicks gewährt, sondern es taucht eins nach dem anderen unvermittelt auf: als Fragmente von Dingen, als elementare Verläufe und Funktionen. Nichts ist, alles wird; alles erscheint nah, direkt, existenziell. Die Gefährlichkeit der Erfahrung ist denn auch im Wort ›Ex-peri-ment‹ verborgen – und zwar sowohl im lateinischen »periculum«, der ›Gefahr‹, als auch im griechischen »peira«, was ›Versuch‹, ›Wagnis‹ meint. Das Abenteuer des Experimentierens ist in dieser Weise nicht als der Erfahrung diametral entgegengesetzt zu betrachten, wie Lyotard mit Blick auf Walter Benjamin schrieb.23 Denn die zeitgenössische Kunst praktiziert – sprich: experimentiert – längst im Möglichkeitsfeld des Kontingenten und überlässt sich dabei den Erfahrungen mit der spezifischen Syntax und Eigendynamik der Materialien und Medien. In gleich ursprünglicher Weise24 ist nämlich das Auffinden unbekannter Räume ein aktives Erfinden, eine Konstruktion des ›Für-wahr-Nehmens‹, die durch ein experimentelles »Setting« zu Stande kommt: durch Versuchsanordnungen, in denen das Potenzielle durch das konkret Gegebene herausgefordert wird.25 In seinem Aufsatz Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen (2007) macht Rheinberger die methodische Entschiedenheit deutlich: »Mit dem Experiment schafft sich der Forscher eine empirische Struktur, eine Umgebung, die es erlaubt, in diesem Zustand des Nichtwissens um das Nichtwissen handlungsfähig zu werden.« (Hervorh. E. K.)26 Es ist ein Handeln ins Offene
23 Vgl. Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. S. 73 f. 24 Vgl. auch den Begriff der »gleich ursprünglichen Nebenfolge« des Soziologen Ulrich Beck, der das Auftreten eines gleichzeitigen Gegengewichts bei gesellschaftlichen Bewegungen kennzeichnet. 25 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. S. 137 f. 26 Vgl. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. S. 87. – Rheinberger fährt fort: »In einer Experimentalanordnung verkörpert sich allerdings eine ganze Menge von Wissen, das zu einem gewissen Zeitpunkt als gesichert gilt.« Gleichzeitig erinnert er daran, »dass Entdeckungen eigentlich nie auf die Weise gemacht worden sind, wie sie im öffentlichen Raum – sei es in Publikationen oder in Erinnerungen – dargestellt werden. Erhalten gebliebene Labor-
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hinein, das mit dem Zufall spielt, ihn in den Schaffensprozess einzubinden versteht und sich in einem a posteriori erkennbaren Verfahren zu (vorläufigen) Ergebnissen verdichtet. Gelingen ist somit nicht zu ›programmieren‹, vielmehr ist zu entdecken, wie es sich jeweils herstellt.27
K ÜNSTLERISCHES UND WISSENSCHAFTLICHES V ORGEHEN An dieser Stelle möchte ich noch einmal die Verwandtschaft zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Prozess hervorheben. Über das Experimentalsystem – genauer: über die spezifische und übergängliche experimentelle Anordnung – kommt das aus dem künstlerischen Handlungsfeld bekannte Phänomen der dedifferenzierten oder zerstreuten Aufmerksamkeit ins Spiel.28 Da das System ergebnisoffen und durch Mehrdeutigkeit ge-
unterlagen fördern so manche Überraschung zutage und lehren uns immer wieder, dass die Ordnung der Entdeckung und die Ordnung der Darstellung in der Wissenschaft zwei verschiedene Dinge sind« (S. 91). Der Kulturhistoriker Edgar Wind wies bereits 1934 in einer an naturwissenschaftliche Begriffe anknüpfenden, aber primär auf die Geisteswissenschaft zielenden Studie auf das »methodische Anwachsen durch Experimentieren« hin. Vgl. Winds theoretischen Überlegungen in Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien [1934]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (= stw 1478). S. 82). Nicht zuletzt erkannte man schon in einer der ältesten Weisheitslehren: »Um sich zu verwirklichen, bedarf es einer Entscheidung, einer Setzung. Diese Grundsetzung ist der große Uranfang alles dessen, was ist« (Richard Wilhelm: Aus der Einleitung zur Erstausgabe. In: I Ging. Buch der Wandlungen. Aus dem Chinesischen übers. u. erl. von Richard Wilhelm [1924]. 9. Aufl. Köln: Diederichs 1983. S. 15–22. S. 19. 27 Vgl. die Beschreibung des künstlerischen Verfahrens von Franz Kafka bei Vogl: Sein »Schreiben vollzieht eine fortwährende Entscheidung zum Unentscheidbaren, seine Entschiedenheit gilt einem deaktualisierenden Akt; und sein Spielraum ermisst eine unfertige Welt. In dieser Hinsicht ist das Labyrinth ein Zaudern und dieses der Weg des Schreibens selbst« (Vogl: Über das Zaudern. S. 102). 28 Der Psychologe Anton Ehrenzweig entlehnte diese widersprüchliche Begrifflichkeit den Ausführungen Paul Klees, der sie aus seinem künstlerischen Prozess heraus gebildet hatte. ›Zerstreute Aufmerksamkeit‹, eine logisch gesehen paradoxe Bewusstseinsverfassung, ermöglicht das wache Aufnehmen der Dinge in und um uns herum und behält sie zugleich in jener Schwebe, die zuvor nicht
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kennzeichnet ist, entwickeln sich Fragestellungen und Lösungswege erst aus dem Verlauf des Experiments heraus. Rheinberger fasst diesen Zusammenhang wie folgt: Es [gibt] kein notwendiges Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, keine automatische Entwicklung, keine vorherbestimmte Richtung, sondern allein die Möglichkeit, unvorwegnehmbare Ereignisse herbeizuführen und sie gegebenenfalls auf das System, im Sinne einer Verkettung, zurückwirken zu lassen.29
Um in dieser permanenten Übergangssituation Fragen herauszustellen, bedarf es in einem Zuge der Involviertheit in den (praktischen) Gang der Untersuchungen und der reflexiven (theoretischen) Distanz des kenntnisreichen Überblicks, das heißt einer (logisch paradoxen) Gegenläufigkeit, die erst im Zusammenwirken von Können und Erkennen unvorhersehbare, neue Einsichten hervorbringt – sogenannte Emergenzen. Unterlaufen wird dabei die starre methodische Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt, denn je erfahrener der Experimentator im Umgang mit den Phänomenen wird, desto mehr gibt das Untersuchungsfeld seine inhärenten Möglichkeiten frei. Rheinberger spricht deshalb von »intimer Exteriorität« bzw. »Extimität«:30 Erfahrenheit, die man als eine verinnerlichte, verkörperte Verlaufsform von reflektierten Erfahrungen aus der Praxis bezeichnen könnte. Als eine in aufmerksamer Forschungstätigkeit erworbene Intuition und Fähigkeit, sich mit dem »Forschungsding« auszutauschen, indem ich, obwohl ich das ›Setting‹ konstruiert habe und ihm deshalb äußerlich bleibe, dennoch in ihm hause. Solch ein ›Unter-einem-Dache-Wohnen‹ bedeutet nichts anderes, als in einem selbst initiierten Tätigkeitsfeld mit einem »epistemischen Ding«31 (Rheinberger) verbunden zu sein und es so ›von innen her‹, von seinen (mir noch unbekannten) Eigenschaften kennenzulernen.
gesehene und damit neue Verknüpfungen zu Stande bringt. Näheres zum Umgang mit diesem aktiven Wahrnehmungsmodus in: Eva Koethen: Zum ästhetischen Lernprozess […]. Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung als Spielraum zwischen Denken und Handeln. In: Zukunft der Bildungsfragen. Hrsg. von Manfred Bönsch u. Massoud Vahedi. Hannover: Universität/Fachbereich Erziehungswissenschaften 1999 (= Theorie und Praxis 70). S. 147–179. S. 152 f. 29 Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. S. 60 f. 30 Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 18. 31 Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 25.
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In der Kunst ist dies eine geläufige Erfahrung. Wenn ich das Werden eines ›Dings‹ erlebe, indem ich es kraft meiner Sinne mache, nehme ich am Prozess des lebendigen Herausbildens teil. Ich handele für mich und lasse gleichzeitig die Dinge geschehen; ich erfahre dabei ein Stück eigenes Leben, das mir gleichwohl entgegen tritt. Denn nun schauen die Dinge mich an und erscheinen mir, obwohl von mir gehandhabt, als eigensinniges Gegenüber. Es ist ein bewusstes vorsätzliches Anstoßnehmen, das die Dinge zum Gegenstand ihrer eigenen ›Aufführungen‹ macht; es ist die Inszenierung einer Performance, die die Dinge, entgegen ihrer scheinbaren Bekanntheit, ihr eigenes Rätsel entfalten lässt.32 Abb. 2: Edgar Lissel: Sphaera Incognita. Begegnung (2007)
Originalgröße: 80 cm ø. Duratrans auf runden Leuchtkasten.33
Anschaulich wird dieser Umstand beispielsweise in den Arbeiten des Fotografen Edgar Lissel, der mit Vorliebe mit Biologen zusammenarbeitet (vgl. Abb. 2). In diesem Versuchsaufbau beobachtete er, wie zwei unterschied-
32 Vgl. Eva Koethen: Annäherungen an Kunst im Bildungsprozess. Hamburg: edition zebra 2001. S. 73–75. 33 Torsten Scheid: Im Kosmos der Fotografie. Lokaltermin bei Edgar Lissel. In: Photonews (2009) H. 7/8. S. 16 f. S. 17.
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liche Bakterienkulturen zusammenkamen, ein im Labor generiertes, genmanipuliertes und ein sogenanntes »wildes«, naturbelassenes Bakterium. Ersteres wuchert heftig um die wilde Variante herum, es entstehen Tentakel und sich ständig verändernde Farben, bis sich schließlich zwei Zentren herausbilden, die sich niemand erklären kann. Für die Biologen stellen diese Fotografien, die im Übrigen äußerst aufwändig zu bewerkstelligen sind, eine massive Aufforderung für die Suche nach plausiblen Begründungen dar, während Lissel sich für die Aussagekraft der Bilder begeistert und das Augenmerk auf Lesart und Metaphorik lenkt: nicht um gegenüber hieb- und stichfesten wissenschaftlichen Ergebnissen ins Unverbindliche auszuweichen, vielmehr um den Wahrnehmungshorizont zu erweitern; um in den Fotoexperimenten zu zeigen, wie sein Vorgehen ohne konkrete Erkenntnisziele, indem er seine künstlerischen Motive gleichsam erst in den Petrischalen findet, Anschauung und Denken bereichern kann. Dadurch sensibilisiert er die wissenschaftliche Forschung für die Konstruktivität ihrer Prozesse und die Interpretationsbedürftigkeit ihrer Ergebnisse. Wie etwa wäre dieses Bild einer primitiven ›Protozelle‹ zu lesen (vgl. Abb. 3), das von dem noch jungen Forschungszweig der ›Synthetischen Biologie‹ beim Konstruieren neuer Organismen aus standardisierten Einzelbausteinen erzeugt wurde? Der Informatiker Bernard Robben bezeichnet derartige Formen der Darstellung als »Notationen«, die zuerst im Medium des Bildes etwas Erkennbares und Forschungsrelevantes generieren: Was als richtiges Bild im Sinne einer Repräsentation eines wissenschaftlichen Gegenstandes gilt, wird in Prozessen sozialer Aushandlung nach überprüfbaren Regeln und intersubjektiv reproduzierbaren Experimenten entschieden. […] Auf unterschiedliche Weise erhobene Daten lassen sich in einem Geflecht von Darstellungen miteinander kombinieren und in eine visuelle Zusammenschau bringen.34
34 Bernard Robben: Der Computer als Medium. Eine transdisziplinäre Theorie. Bielefeld: Transcript 2006 (= Reihe Kultur- und Medientheorie). S. 238 f. – Nach eigenen Aussagen Robbens geht es im Kapitel »Indexikalität zweiter Stufe« (S. 236–239) um eine Erklärung der neuen Logik des Bildes, »unsichtbare Phänomene« als Spuren des »Realen zu visualisieren« (S. 232).
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Abb. 3: Leben 2.0 (2009) – Abb. 4: Paul Klee: Pflanzlich-seltsam (1929)
links: Foto: SPL/Focus.35 – rechts: Wasserfarben über Aquarell auf schwarz grundiertem Papier über aquarellgetöntem Papier, auf Karton. 33,1 x 25,6 cm. Kunstmuseum, Bern. Paul-Klee-Stiftung.36
Welche Spur verfolgen diese merkwürdig evidenten, vielfach ineinander übersetzten Notierungsweisen? Stellen sie, in unserem Beispiel, eine baldige Fassbarkeit des Lebendigen in Aussicht, und überträgt sich diese Hoffnung der Wissenschaft auch auf die Ambiguität unserer menschlichen Existenz? Vielleicht werden wir durch bildsprachliche Vergleiche mit künstlerischen Konstruktionen – ähnlich wie im Begriff ›Notation‹ musikalische Übersetzungen anklingen – immer wieder an die Rätselhaftigkeit der hervorgebrachten Erscheinungen erinnert, wie etwa in einem zweiten Bild von Paul Klee (vgl. Abb. 4).37
35 Kai Kupferschmidt: Evolution à la carte. In: Der Tagespiegel online (28. Juli 2009). http://www.tagesspiegel.de/wissen/evolution-a-la-carte/1567166.html (6. Juni 2010). 36 Partsch: Paul Klee. S. 68. 37 Im Zuge der fortschreitenden Verwissenschaftlichung erhält sich übrigens noch bis ins 19. Jahrhundert hinein das ›Ins-Bild-Setzen‹ von Realität als ein ›poietisches‹ Gemisch aus genauen Beobachtungen, staunender Verwunderung und bewussten oder unbewussten Analogiebildungen aus der Fülle der Wahrnehmung. Vgl. auch Koethen: Annäherungen an Kunst im Bildungsprozess. S. 64–70.
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Die Beziehung und Wechselwirkung zwischen der wohlpräparierten Bühne der Erkenntnis und dem, was es beim Aufführen der Forschungstätigkeit an Unbekanntem zu sehen gibt, funktioniert auch oder sogar in der formalsten aller Wissenschaften, der Mathematik. Nachdem der Mathematiker eine neue formale Welt geschaffen hat, passiert etwas Seltsames: Plötzlich zeigen die Objekte ihm ihr eigenes Gesicht. »Sie haben andere, verborgene Eigenschaften, die man dann wieder rauskriegen möchte. Insofern existieren die Objekte ganz bestimmt real« […]. […] »Würden Mathematiker nicht an die Realität ihrer Objekte glauben, wären sie keine guten Mathematiker.« 38
An dieser Stelle erweist sich die laut Rheinberger beste Definition von Wirklichkeit durch Michael Polanyi als äußerst aufschlussreich. Sie besagt, dass aus der Perspektive der Forschung Wirklichkeit »›die Fähigkeit eines Dings [ist], sich in Zukunft wider die Erwartung zu verhalten.‹«39 Die experimentellen Erfahrungen, die bezeugen, dass ohne wechselseitigen Austausch zwischen Subjekt und Objekt, ohne grundsätzlichen Stoffwechsel zwischen Eigenem und Fremdem, keine Erkenntnis zu Stande kommt, finden in den Künsten vielfältigen poetischen Ausdruck. Falls – wie Walter Benjamin bemerkt hat – die Empfindung von einem Fenster, einer Wolke, einem Baum nicht im Kopf, nicht im Gehirn nistet und wir die Dinge »vielmehr an jenem Ort, wo wir sie sehen, empfinden, so sind wir auch im Blick auf die Geliebte außer uns.«40 Mit dieser ›ex-zentrischen‹ Hinwendung zum Gegenüber wird unsere Aufmerksamkeit auf die Verwicklungen mit der Erscheinungswelt gelenkt. Auf die Dinge ›da draußen‹, die Benja-
38 Zitate von Reinhard Diestel u. Stanislas Dehaene. In: Christoph Drösser: Eine Welt für sich. In: Zeit online (24. Febr. 2009). http://www.zeit.de/2008/29/NMathematik-und-Realitaet (6. Juni 2010). 39 Hans-Jörg Rheinberger: Iterationen. Berlin: Merve 2005 (= Internationaler Merve-Diskurs 271). S. 71. – Vgl. auch Gregory Bateson, der in seinem Buch Geist und Natur an den frühzeitigen kybernetischen Nachweis (Ross Ashby, 1956) erinnert, »daß kein System (ob Computer oder Organismus) etwas Neues produzieren kann, solange das System nicht eine Zufallsquelle enthält« (Bateson: Geist und Natur, eine notwendige Einheit). 40 Walter Benjamin: Einbahnstraße. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965 (= Bibliothek Suhrkamp 27). S. 21.
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min mit dem Vermögen belehnte, als vom Menschen »Angesehene«41 selbst den Blick aufzuschlagen und durch das Ereignis eines BlickWechsels für die Wahrnehmung unverfügbar zu werden: auratisch. »Erscheinung einer Ferne« – so nah ich ihr zu kommen glaube, wenn ich aus mir herausgehe, so nah ich mich der Welt auch fühle, wenn ich zu ihr in Beziehung trete. Je tiefer und inniger ich die Dinge anschaue, desto intensiver blicken sie zurück, offenbaren mir ihr inneres Leben und ihre eigene (Widerstands-)Kraft. »Und da ist keine Stelle, die Dich nicht sieht: Du musst Dein Leben ändern«,42 schreibt Rainer Maria Rilke eindringlich in der Endzeile seines Gedichts Archäischer Torso Apollo (1908). Der Text kündet von jenem lebendigen Austausch, durch den das ›Tor zur Welt‹ sich nach zwei Seiten hin öffnet und fortwährend zwischen meinem Blick nach draußen und den zurückblickenden Augen des Fremden, Unbekannten hin und her pendelt. Auf diese Weise entsteht ein unfassbarer Raum der Übergänge zwischen mir und der Welt, der von den vielfältig sich überkreuzenden Blicken erfüllt ist.43 Seine Dimensionen als reichhaltig und tief wahr-
41 Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (= st 345). S. 223. 42 Rainer Maria Rilke: Archäischer Torso Apollo (1908). In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 1. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber besorgt von Ernst Zinn. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Weimar. Leipzig: Insel 1948. S. 155. 43 Zur Verwerfungen des Blicks zwischen Künstler und Welt vgl.: Eva Koethen: Das Bild als Passage und Dekonstruktion. In: Eva Koethen u. Bertram Schmitz: Wirklicher als Wirklichkeiten? Zur Konstituierung von Wirklichkeit in Religion und Kunst. Stuttgart: Kohlhammer 2011. S. 171; vgl. auch das Schema des Überkreuzens, S. 85. Relevant für die Kunstwissenschaft sind die Überlegungen Georges DidiHubermans, die von einer Spaltung des Sehens ausgehen, welche für die Intensität der Form eines Kunstwerks konstitutiv wird. In seinem Buch Was wir sehen, blickt uns an (1999) fügt er die phänomenologische »presence« in die »presentness« als autonome »plastische Konzentration« der Kunst, so dass deren »intensive Form« nicht augenblicklich-unmittelbar zu erfassen ist, »sondern sich als presence einer Tiefe darbietet, die anthropomorph aufgefaßt wird, nämlich changierend zwischen Trauer und Begehren. [… So dass] der Begriff des Anthropomorphismus hier jede gewöhnliche mimetische oder psychologische Bedeutung verliert; er zielt vielmehr auf eine metapsychologische Verständnisebene, die uns erlaubt, das Freudsche Paradigma der Bildung (formation) – Symptombildung, Bildung im Traum, auf alle Fälle Bildung des Unbewussten – heranzuziehen« (Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an [französ.: Ce
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zunehmen, begründet sich darin, in Korrespondenz mit der Welt zu stehen,44 indem deren Erscheinen als ›meine Gegenwärtigkeit‹ erfahren wird: »Das Ding stellt sich nicht schlechthin als wahr für jedes erkennende Wesen dar, sondern als wirklich für jedes Subjekt, das meine Wahrnehmungssituation teilt«, so der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty zur Erfahrung von Wirklichkeit als ›Gegenwärtigkeit‹.45 Indem mich die Dinge angehen, werde ich ihrer gewahr und in einem Zuge meiner gegenwärtig – in einer Verfassung des Welt zugewandten Außer-sich-Seins, dem sich die Welt von sich her zeigt. Dies wird als ein Prozess des Entdeckens erlebt, in dem unweigerlich Resonanz entsteht:46 Es handelt sich um ein eigenwillig
que nous voyons, ce qui nous regarde (1992)]. Übers. von Markus Sedlaczek. München: Fink 1999 (= Reihe Bild und Text). S. 218). 44 Vgl. auch den Hinweis auf die die ursprüngliche (animistische und kindliche) Nichtunterscheidbarkeit der Kontingenz von Referenz und jener von Blicksympathie, die das Gelingen unseres Weltbezugs bezeugen – so etwa in Beaudelaires »Correspondances«, die Wolfram Hogrebe zitiert. Vgl. Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (= stw 1039). S. 31 f. Vgl. auch Rheinberger: Über die Kunst. S. 60 f. 45 Lambert Wiesing: Nachwort. In: Maurice Merleau-Ponty: Das Primat der Wahrnehmung [Le primat de la perception et ses conséquences philosophiques (1989)]. Übers. von Jürgen Schröder. Hrsg. von Lambert Wiesing. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (= stw 1776). S. 85–124. S. 114. – »Dass etwas in der Wahrnehmung als gegenwärtig erscheint, ist eine andere Art des Gegebenseins als wenn etwas als möglich oder notwendig erscheint. Denn weder das, was möglich ist, noch das, was notwendig ist, muss auch als gegenwärtig bewusst sein. Intellektuelle Schlüsse können zwar zu dem Ergebnis kommen, dass etwas möglich, wahr oder notwendig ist, aber nicht zu dem Ergebnis, dass etwas als gegenwärtig und präsent erscheint. Die augenblickliche Gegenwart von etwas kann nur wahrgenommen werden« (S. 112 f.). 46 Rheinberger benutzt den Begriff der Resonanz für die Abstimmung verschiedener experimenteller Praktiken aufeinander. Sie steht für die Verstärkung der »Herstellung interner Referenten, die experimentelle Handlungen aufeinander beziehbar machen, die keineswegs stabil sein müssen, aber doch verlässlich genug, um den nächsten Schritt zu ermöglichen« (Rheinberger: Iterationen. S. 66 f.). Aus anderer Perspektive versucht der Philosoph Wolfram Hogrebe einer »semantischen Resonanznatur« auf die Spur zu kommen. Er spricht vom vektoriellen Raum unseres Daseins, bei dem »aus der Tiefe der Unbestimmtheit im Hintergrund unserer Wahrnehmungen sich ihre Sinnhaltigkeit [speist]«. Eine höhere
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fremdes Zurücktönen der Stimme, mit der ich in den Wald hineingerufen habe, um darin etwas anderes als mein eigenes Echo zu hören.47 Sich mit der (Zurück-)Haltung des Staunens in die ›Wildnis der Wissenschaft‹ zu begeben und, wie etwa Taxonomen, ohne ausgeklügelte Hypothesen im aufmerksamen und sorgfältigen Beobachten neue Arten aufzufinden, gilt allerdings kaum noch als innovative Forschung (vgl. Abb. 5). In der Wissenschaftslandschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts verspricht ein aufwändiges Experimentieren mehr als das Entdecken und Aufzeigen der Artenvielfalt als Reichtum unseres Planeten. Wie der indische Verhaltensbiologe Raghavendra Gadagkar im Berliner Wissenschaftskolleg betonte, rückten eher Forscher, die über kein elaboriertes gerätetechnisches Equipment verfügen, die lebendige Natur ins Bewusstsein.48
Sensibilität für Unbestimmtheit befähige zu einem »Hindurchsehen« des semantischen und sensorischen Feldes und zum Wagnis, »sich der Eigendynamik frei bewegender Sinnsubstanzen auszusetzen […], so dass in eine porös werdende Bedeutung Assoziationen einsprudeln können, die in der Starrheit unserer Standard-Bezüglichkeit keine Chancen haben uns zu überraschen« (Hogrebe: Metaphysik und Mantik. S. 41 f.). Für die künstlerische Tätigkeit ist die Erfahrung von Resonanz ungeheuer inspirierend, da sie die Wechselbeziehung, den gegenseitigen Stoffwechsel zwischen Intention/Konzept und Material/Medium in lebendiger Weise beweglich hält. 47 Wie ›not-wendig‹ diese Widerständigkeit des Anderen, Fremden im Zustand künstlerischer Freiheit, um nicht zu sagen Beliebigkeit, erlebt wird, bezeugt der Maler Francis Bacon in einem Interview: »Sie wissen einfach nicht, wie die Hoffnungslosigkeit beim Arbeiten einen dazu bringt, einfach Farbe zu nehmen, einfach fast alles zu tun […], in dem Versuch, die willentliche Artikulation des Bildes zu unterbinden, so daß das Bild gewissermaßen spontan wachsen soll, innerhalb seiner eigenen und nicht meiner Struktur. Erst später kommt das Gespür dafür, was man will, ins Spiel, so daß man dann erst beginnt, den Zufall aufzuarbeiten, der für einen auf der Leinwand übrig geblieben ist. […] Sicher ist man entspannter, wenn das Bild, das man in seinen Empfindungen hat, durch Zufall sich zu formen beginnt.« (David Sylvester: Gespräche mit Francis Bacon [engl.: Interviews with Francis Bacon (1975)]. Übers. von Helmut Schneider. München: Prestel 1982. S. 164.) 48 Vgl. Stefan Klein: Der Wespenversteher. Der Insektenforscher Raghavendra Gadagkar ist der Charles Darwin der Moderne. In: Zeit online (1. April 2009). http://www.zeit.de/2009/08/Klein-Wespen-08 (6. Juni 2010).
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Abb. 5: Gunnar Brehm: Wo beginnt eine neue Art? (2009)
Fotos: Dr. Gunnar Brehm. Inst. für Spezielle Zoologie u. Evolutionsbiologie, Jena.49
Es können aber auch die Künstler sein, die die Welt über die Anschauung erkunden, wie beispielsweise Jasper Johns, der sich lebenslang mit dem Phänomen der Ähnlichkeit beschäftigt hat (vgl. Abb. 6). Wohl wissend, dass seine künstlerischen Arbeiten hier nicht annähernd zu interpretieren sind, erschließt sich dem aufmerksamen Betrachter ein Zusammenhang zwischen seinem Gemälde Between the Clock and the Bed (1981) und jenen aufgespießten Schmetterlingen von Gunnar Brehm, die die Frage aufwerfen, wo eine neue Art beginne. Was die Bilder offensichtlich verbindet, ist das äußerst differenzierte Umgehen mit Formen, die einander ähnlich sind und Entwicklungen zum Ausdruck bringen. Linien, Winkel und Symmetrien, die übergreifen, unmerklich ineinander übergehen und in Spannung zum ›Attraktor‹ der farblichen Kontrastierung stehen. Um es kurz zu fassen und in unseren Kontext zu stellen: Es geht, wenn auch mit ganz verschiedenen Intentionen, um eine Suche nach dem »Muster, das verbindet«.50
49 Josephina Maier: Weißt du, wie viel Falter fliegen? Für die Bestandsaufnahme der Tierwelt bekommen deutsche Forscher kein Geld. In: Die Zeit (12. Febr. 2009). S. 31 f. S. 32. 50 Bateson: Geist und Natur, eine notwendige Einheit. S. 28.
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Abb. 6: Jasper Johns: Between the Clock and the Bed (1981)
Enkaustik auf Leinwand. 183,2 x 321 cm. Museum of Modern Art, New York.51
Gemeint ist ein Verbindungsmuster des Lebendigen, das der Anthropologe Gregory Bateson als ästhetisch qualifiziert, da die Aufmerksamkeit den Gestalten, Formen und Relationen zu widmen sei.52 Ein Muster, das ihn die
51 Richard Francis: Jasper Johns. München: C. J. Bucher 1985. S. 100. 52 »Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und all diese vier mit mir? Und mich mit Ihnen? Und uns alle sechs mit den Amöben in einer Richtung und mit dem eingeschüchterten Schizophrenen in einer anderen?« (Bateson: Geist und Natur, eine notwendige Einheit. S. 15) An dieser Stelle ist die besondere Wahrnehmungsfähigkeit hervorzuheben, die auch der »Zauberstab der Analogie« (Novalis: Schriften. Bd. 3: Das philosophische Werk. Begr. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hrsg. von Richard Samuel u.a. 3., durchges. u. rev. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1983. S. 518.) genannt wird. Auf »die Wahrnehmung vager Ähnlichkeiten eingestellt zu sein, ist das Kennzeichen der Intelligenz« (Hogrebe: Metaphysik und Mantik. S. 41), zitiert Wolfram Hogrebe Douglas R. Hofstadter und erinnert an eine »Ähnlichkeitsvirtuosität«, die den künstlerischen Umgang mit unbestimmten Sinn(es)dimensionen erlaubt. »Wenn unsere kognitive Kompetenz normalerweise auf die Registratur von Invarianten und Konstanten geeicht ist, auf die Wahrnehmung sich durchhaltender Strukturen, dann verdankt sich unser Gewahren des kontingenten Geschehens der Referenz offenbar einer eigenen Sensibilität, einer Empfänglichkeit für Gelingendes, kurz: einem sensus contingen-
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Verbindung zwischen Geist und Natur, so sein gleichnamiges Buch (amerik. Mind and Nature, 1979), erkennen ließ. Denn »wie kommt einer auf die Idee, dass Körper sich morphologisch so verändern, dass sie etwas anderes werden?«53 fragt der Historiker Philipp Sarasin im Hinblick auf die revolutionäre Evolutionstheorie Charles Darwins. Eine rückblickende Erklärung finde sich in Darwins Autobiografie, in der er am Ende seines Lebens schreibt, dass nur eine sehr lange Reise einen auf eine solche Idee bringen könne. Gemeint ist eine lebenslange Forschungsreise, auf der Darwins Ideen entlang seiner phänomenalen Beobachtungsgabe sich entwickeln und reifen konnten. »Auf dem Weg durch einen Kontinent sehe man all diese unendlichen Formen gleichsam ineinander übergehen«, so dass eine Art genialer Übersetzung stattfinde: Darwin übersetzt das Reisen durch den Raum in eine Spekulation in die Tiefe der Zeit. Man könnte sagen, dass er diese einander ähnlichen Organismen mit einer Art Frühform des kinematografischen Blicks wahrnahm.54
Sein genauer und tiefgründiger Blick erkannte die fließenden Bewegungsmuster, die ein genealogisches Rekonstruieren erlauben und ein relationales Denken erfordern.55
V IELFÄLTIGKEIT ERFAHREN Die besondere Gegenläufigkeit eines experimentellen Findens vollzieht sich im Raum der Kunst dahingehend, dass sie das ›Gewicht der Phänome-
tiae, der sich letztlich als Seele der Referenz zu erkennen gibt. Dieses Kontingenzorgan ist ein fundamentaler Aspekt unserer Deutungsnatur« (Hogrebe: Metaphysik und Mantik. S. 32). 53 Thadden, Elisabeth von: Charles Darwin: Nichts bleibt je, wie es ist. Nichts bleibt je [Gespräch mit dem Zürcher Historiker Philipp Sarasin]. In: Zeit online (1. April 2009). http://www.zeit.de/2009/03/ST-Darwin (6. Juni 2010). 54 Sarasin in: Thadden: Charles Darwin. 55 Wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp herausfand, war Darwins bevorzugtes Bild für die Evolution und Organisation des Lebens nicht der hierarchisch strukturierte Baum, sondern die Koralle, die für eine anarchische Kraft des Ornaments und schöpferischen Überfluss steht. Indem ihre einzelnen Stränge sich verzweigen und wieder zusammenwachsen, bildet sich eine in alle Richtungen erweiterbare Ordnung nach Art eines Netzes oder Rhizoms.
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ne‹ spürbar werden lässt und neu verortet – als eine andere ›heterotope‹ Verbindung zur Lebenswelt, als ein Nähren des Stoffwechsels mit ihr, durch den sie sich mit neuen Erfahrungsräumen und Potenzialen anreichern kann. Aus der eigenen zufälligen Existenz, aus dem zufälligen Anfang, der man selbst ist, den man selbst auf sich nimmt, ist etwas Notwendiges geworden. Nicht […] im Sinne der Kausalität, sondern im Sinne der Bedeutung von Sinn.56
Da Sinnerfahrung sich nicht mehr auszeichnet durch die »Passion des Geistes, der die Formen der sinnlichen Wahrnehmung durchläuft, um seinen totalen Ausdruck schließlich im Diskurs des Philosophen zu erlangen«,57 wie Lyotard im Rekurs auf Hegels Ästhetik bemerkt, da Sinnhaftigkeit weder vorgegeben noch objektivierbar noch zu tradieren ist, stellt sie sich nur von Fall zu Fall ein. Sie wird hervorgebracht zwischen intuitiven Versuchen und kontrollierten Experimenten, großen Visionen58 und schrittwei-
56 Dietrich Mahlow: Der Zufall, das Denken und die Kunst. Vilem Flusser gewidmet. In: Zufall als Prinzip. Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Bearb. von Bernhard Holeczek u. Lida von Mengden. Heidelberg: Braus 1992. S. 53–64. S. 58. Über die Notwendigkeit der Kunst und über das existenzielle Bedürfnis nach Poesie reflektierte Paul Valéry in seinem Aufsatz Notwendigkeit der Dichtkunst (1938). Nach all den Dekonstruktionen seiner Epoche befand sich die Jugend vor »einer weißen, leeren Seite, und wir konnten nur eine einzige Bejahung darauf schreiben. Diese aber erschien uns unerschütterlich, da sie weder auf Überlieferung gegründet war, die jederzeit angefochten werden kann, noch auf eine Wissenschaft, deren Verallgemeinerungen jederzeit der Kritik zum Opfer fallen können, noch auf Texten, die sich beliebig interpretieren lassen, noch auf philosophischen Überlegungen, die nur von Hypothesen leben. Unsere Gewissheit war unsere Erregung und unser Erlebnis der Schönheit; und wenn wir uns […] in den Lamoureux-Konzerten trafen, wo die Jungen und ihre Meister einander begegneten […] bildete sich eine außergewöhnliche Atmosphäre. […] Wir hatten empfunden; und was wir empfunden hatten, gab uns die Kraft […]. Mit erleuchteter Seele und zum Glauben bereiter Intelligenz trafen wir uns wieder; so sehr erschien uns alles, was wir gehört hatten, als persönliche Offenbarung und wesenhaft uns zugehörige Wahrheit.« (Paul Valéry: Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bdn. Übers. u. hrsg. von Jürgen SchmidtRadefeldt. Bd. 5. Frankfurt am Main: Insel 1991. S. 95.) 57 Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. S. 73. 58 Zur Relevanz der Theorie vgl. Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Die Zeichnung, der Mond, die Sonne. Berlin: Akademie 2007.
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sem Vorgehen, sorgfältigem Beobachten und spontanem Auftauchen von Mustern im Beziehungsgeflecht59 – im geduldigen Einüben von komplexen Verbindungen und Spannungsfeldern zwischen Ideen und Eingebungen sowie Materialien und Medien. Die dadurch erzeugte Vielfalt an individuellen und durchmischten Räumen aufrecht zu erhalten bzw. durch die Kunst immer neue andere Möglichkeiten erfahrbar zu machen, ist deshalb unverzichtbar, weil dadurch die ›Möglichkeitsexplosion in der Moderne‹ (Michael Makropoulus)60 sich im Realen des leiblichen ›In-der-Welt-Seins‹ erdet. Ähnlich wie das Gehirn nicht die Zentrale unserer Individualität ist, sondern ein Organ vielfältiger Vermittlungsprozesse, realisieren sich Möglichkeiten in konkreten Kontexten der komplexen Lebenswelt.61 Mit dieser sinnlichen Anreicherung und gleichzeitigen Verkomplizierung wird der Innovationscharakter des Experimentierens ins Offene hinein sowohl erhalten als auch vor beliebiger Anwendbarkeit bewahrt, die das abstrakte Prinzip der Formali-
59 ›Muster‹ sind hier im Sinne von Bateson verstanden. 60 Vgl. Michael Makropoulus: Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne. München: Fink 1989. 61 Aufschlussreich ist hier das Buch des Psychiaters und Medizinhistorikers Thomas Fuchs Das Gehirn – ein Beziehungsorgan (2008), in dem er gegenüber den verbreiteten Deutungen der Neurowissenschaften und experimentellen Hirnforschung den lebendigen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Denn trotz aller Faszination an der inneren Unendlichkeit des Gehirns sei es nicht das Organ an sich, das fühle, denke und handle. Ohne Gründung auf den Resonanzboden der Leiblichkeit, auf ein Körper-Ich, zerfalle das Bewusstsein des konkreten Individuums in eben jene Bruchstücke, die man unter dem auf das Gehirn gerichteten mikroskopischen Blick eindrucksvoll bestimmen könne: »jede Theorie, die Bewusstsein als ein Produkt aus lokalisierbaren Einzelfunktionen bzw. Modulen betrachtet, handelt sich das Problem ein, wie diese Einzelfunktionen in eine einheitliche Tätigkeit integriert werden sollen. […] Das Projekt der Verräumlichung und Materialisierung von Bewusstsein verliert nur zu leicht über der Genauigkeit des Hinsehens seinen Gegenstand aus den Augen und hat dann nur noch Fragmente vor sich.« (Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer 2008. S. 76) Ein solcher Befund ist keinem Postulat von Ganzheitlichkeit geschuldet, sondern berücksichtigt die subjektive Erlebnisqualität, die in der Beobachterperspektive nicht erkennbar ist.
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sierung beim sogenannten Umsetzen in die Praxis ereilt.62 Unterlaufen wird auch jene zwanghafte Innovationskultur, die das Neue einzig um des Neuen willen schafft, ohne ›Rück-sicht‹63 auf Verluste an qualitativen Verflechtungen. Denn im lebensweltlichen Handeln erscheinen die neuen Möglichkeitsräume nicht in isolierter Form, vielmehr als konkrete Beziehungsmuster mit vielfältigen spezifischen Komponenten, die immer wieder (neu), das heißt von Fall zu Fall, gegeneinander abzuwägen sind.64 Diese lokale konkrete Situiertheit besitzt umso mehr Relevanz, je weiter sich das mittlerweile global gewordene zielorientierte Aneignungsprinzip ausbreitet, je mehr Erfolg dem ergebnissichernden System beschieden ist und je größere Umwälzungen der wissenschaftlich-technologische Fortschritt im Leben der Menschheit hervorbringt. Wenn dagegen
62 Wissen sowie Erkenntnisse umsetzen bzw. anwenden kann man nämlich nur dann, wenn man es unter theoretischen Bedingungen objektiviert hat und dadurch kontextunabhängig darüber verfügen zu können glaubt. Gottfried Boehm hat in diesem Kontext herausgestellt: »In dieser Lage aber befindet sich der in der Praxis des Lebens stehende und der sich verständigende Mensch nie: er kommt vielmehr schon immer in einer Situation vor, in der er handeln soll. Anwendung schließt ein, daß einer Wissen besitzt, das sich […] für beliebige Verwendbarkeit offenhält.« (Gottfried Boehm: Einleitung. In: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Hrsg. von Gottfried Boehm u. HansGeorg Gadamer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (= stw 238). S. 7–60. S. 21. – Ganz anders verhält es sich mit den aus der Praxis gewonnen Erkenntnissen und den Prozessen der Auslegung, die zu kritischem Reflexionswissen führen. Vgl. auch die Krise der Finanzwirtschaft, die, hervorgebracht vom vorsätzlichen Negieren realweltlicher Einbettung, die Katastrophen virtueller Blasen ohne Realbezug kreiert. 63 Das Wort ›Rück-Sicht‹ ruft anschaulich Walter Benjamins Engel der Geschichte in Erinnerung, der während seines stürmischen Rückwärtsflugs in die Zukunft auf die sich türmenden Trümmer der Vergangenheit blickt. Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1942]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I, 2. Hrsg, von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 691–704. S. 697 f. 64 Dies ist gemeint im Sinne einer »Andersheit des Einander« oder eines mannigfachen Ineinander von Eigenem und Fremdem als Unruheherd, wie es Waldenfels ausdrückt (vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 422 f.)
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die Werke der Kunst keinen »Fortschritt« in der Menschheitsentwicklung zulassen – sondern nur in der Existenz des einzelnen Künstlers –, so deswegen, weil ihr Gegenstand exakt begrenzt […] wird durch die Fähigkeiten eines einzelnen Menschen. […] Der Wissenschaftler hat es notwendig mit einem allgemeinen Gegenstand zu tun – sein Ziel ist allgemein, und seine persönlichen Fähigkeiten werden letztlich unpersönlich eingesetzt.65
Wenn nun die allgemeine herrschende Weltaneignung dank ihres invasiven Charakters und ihrer beschleunigten Eigendynamik zum ausweglosen Gesamtsystem avanciert, dann droht das unfassbare Ganze unserer Lebenswelten in eine dauerhafte Schieflage zu kippen. Einschlägig ausgerichtet mündet die imperiale Bewegung in einen kollektiven Gedächtnisverlust des offenen Horizonts vielfältiger Möglichkeiten;66 technisch aufgerüstet und ökonomisch entfesselt schreitet eine anonyme, massenwirksame Steigerungsspirale des Fortschritts über alle Spielräume des Einzelnen hinweg, die nicht identifizierbar und kontrollierbar sind. Man kann die Geschichte unserer Zivilisation auch als eine Reduktionsgeschichte lesen, in der große, belebte und gelebte Räume immer mehr schrumpfen und auf Objekte zentriert werden. Der Rückgang des Lebensraumes von kosmischer Weite in den Kopf des Subjektes.67
65 Valéry: Cahiers/Hefte. Bd. 6. S. 23 f. 66 Vereinseitigung kann auch die Experimentalkultur selbst betreffen, wenn beispielsweise in der experimentellen Computerarchitektur die Formgenerierung zum allgemeinen künstlerisch-wissenschaftlichen Entwurfsprinzip erhoben wird. (Vgl. Joseph Vogls Kritik an der Allgemeinheit der Erkenntnis in: Vogl: Über das Zaudern. S. 3 f.) Indem der Bildschirm suggeriert, in einer neuen Synthese von Individualisierung und Massenproduktion beliebige Gestaltungswünsche realisieren zu können, scheinen mehrdimensionale Entwurfsprozesse mit Ideenskizzen und modellhaften Versuchen obsolet zu werden. Anstelle langwieriger Analysen der jeweils besonderen Bedingungen eines Bauvorhabens, generiert ein anspruchsvolles mathematisches Programm immer differenziertere und komplexere Einzelformen – als Steigerung des ästhetischen Reichtums, ohne einschränkende Referenz oder Kohärenz. Ob diese blind-programmatische Individualisierung von Bauformen noch Leerstellen für Proportionen und Relationen bzw. Freiraum für Nichtantizipierbares lässt, ist zumindest fraglich (siehe Abb. 7; vgl. auch Abb. 8). 67 Baier: Raum. S. 63.
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Die bindungslose Dynamik von Handlungsprozessen weder als machtvolles Bewältigungsinstrument zu feiern noch in der Beliebigkeit zahlreicher, komplex vernetzter Welten untergehen zu lassen, ist Sache der ›vielperspektivisch‹ angelegten Künste und ihrer jeweiligen fruchtbaren Durchdringungen. Im Experimentieren können sie zeigen, wie sich die Potenziale des Unbekannten jeweils für die individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungsräume offenhalten. Anders als beim Innovations- und Fortschrittsdenken der Wissenschaft geht es in der Kunst nicht um experimentelles Verhalten zur Generierung neuer Erkenntnisse. Die Kunst ist nicht darauf aus, das Unbekannte aus der Welt zu schaffen, vielmehr versucht sie durch eine experimentierfreudige offene Geisteshaltung, immer neue Beziehungen und Verbindungen zu stiften. Bei den künstlerischen Arbeiten und Ausdrucksformen handelt es sich quasi um ›Verkörperungen‹, die erfahren werden müssen, um die Kontexte verstehend zu durchdringen. Aus dieser experimentellen Haltung heraus werden jene (imaginären) Räume des Übergangs gefunden, die ein konstruktives Aus- und Aufbrechen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens ins Unbekannte ermöglichen.68
68 Weichen zu dieser Haltung stellte schon das 18. Jahrhundert – um einen abschließenden Seitenblick auf die Musik zu werfen. So kann man beispielsweise Mozarts, heute klassisch genannte, Musik als ein geistiges Experiment verstehen, das mit noch unbekannten Größen der sinnlichen Genüsse hantiert. Seine Musik erschafft einen heterogenen Erfahrungsraum, der diverse Lüste und Zustände von Erfüllung mit dem Wagnis der offenen Zukunft und der Ausbildung eines (utopischen) Möglichkeitsbewusstseins konfrontiert. Dieser ästhetischkreative Zwischenraum weist über die gesellschaftlichen Kontraste und geschichtlichen Ambivalenzen der Epoche hinaus. Neben einer tendenziell melancholischen Verfassung, die, im Gegensatz zum Glauben an die Verheißungen der Zukunft, den Paradiesen der Vergangenheit nachhängt, entwickelt sich darin eine künstlerische Haltung, die die zwiespältigen Verbindungen der gegenläufigen Tendenzen ins Offene erweitert. Eine kreative Verfassung, die aus jener ambivalenten Zusammenbindung von aristokratischem Abstieg und produktivem Schaffen – dekadent wie der überfeinerte, müßig gehende Adel, produktiv wie die aufkeimende Arbeitsethik des Bürgertums – eine experimentelle Geisteshaltung der Übergänge herausbildet. Vgl. Eva Koethen: Ambiguität als künstlerische Haltung. In: Mozart. Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Herbert Lachmayer. Ostfildern: Hatje Cantz 2006 (= Katalogbuch zur Ausstellung des Da Ponte Instituts in der Albertina Wien 2006). S. 105–109. S. 107.
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Abb. 7: Kas Oosterhusis und Ilona Lenard: Kataloghaus »Variomatic«
Digital erstellte Architekturskizze69
Abb. 8: ›Ozeanum‹ in Stralsund von Behnisch & Partner
Digitale Skizze (Seitenansicht) des baugeschichtlich eingebundenen ›Ozeanums‹ des Stuttgarter Architekturbüros Behnisch & Partner70
L ITERATURVERZEICHNIS Baier, Franz-Xaver: Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raums. Köln: König 1996 (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek 2).
69 Michael Mönninger: Gebäude wie aus Knete. Das Centre Pompidou feiert eine neue Epoche der experimentellen Computerarchitektur. In: Die Zeit (8. Jan. 2004). 70 O. A.: Faltblatt »Moderne trifft Erbe«; online verfügbar unter http://www.ozeaneum.de/architektur/moderne-trifft-erbe (falter_moderne_trifft_ erbe.pdf) (6. Juni 2010). S. 1 f. S. 1.
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Experimente auf der weißen Wand oder des Kaisers neue Kleider
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ABSTRACT: Innerhalb der Avantgarde der 1910er Jahre galten die monochromen Gemälde meist als programmatische Endpunkte einer langen Bildtradition, indem jede Form von Darstellung und Illusion auf der leeren Bildfläche getilgt wurde. Als solche konnten sie jedoch zugleich zu Startpunkten für neue Experimente werden. Im späten 19. Jahrhundert waren die weißen und schwarzen Leinwände zunächst Thema von Karikaturen und Parodien. Ab den 1910er Jahren wurden sie zu Programmbildern der Avantgarde, die mit jedem neuen letzten Bild nochmals das vorausgegangene letzte zu überbieten suchten. Sie sind ebenso harmlos wie provozierend, sie zeigen nichts und stellen doch alles in Frage, was bis dato ein Bild ausgemacht hat.
K ÜNSTLERISCHES N EULAND Spricht man von Experimenten in der bildenden Kunst, dann denkt man an künstlerisches Neuland. Man denkt an Terrains, die noch nicht erschlossen sind, mindestens aber an das Überschreiten bestehender Grenzen und Konventionen, um die vertrauten Felder der Kunst in künstlerisches Neuland auszuweiten. Sofort fallen dafür berühmte Beispiele ein: die Perspektivenexperimente Filippo Brunelleschis im 15. Jahrhundert, mit denen man endlich die Bildfläche in einen sich dahinter öffnenden Raum durchbrechen konnte, oder die augentäuschenden Illusionsexperimente Andrea Pozzos, in
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denen gebauter und gemalter Raum im Barock miteinander zu verschmelzen scheinen. Man denkt aber auch an den Gegensatz solcher Bemühungen zur Illusionssteigerung, an Experimente zur Abstraktion seit dem späten 19. Jahrhundert und an das Überschreiten vertrauter Medien- und Gattungsgrenzen am Ausgang des 20. Jahrhunderts. In diesem modernen Zusammenhang findet auch der Begriff Experiment Verwendung, insbesondere als die bildenden Künste zunehmend in einen Dialog mit den experimentellen Wissenschaften und deren Methoden traten und an den aktuellen medientechnischen Entwicklungen partizipierten. Man denke etwa an die Farbexperimente Georges Seurats, in die aktuelle wahrnehmungsphysiologische Erkenntnisse eingeflossen sind,1 oder die langen Bildreihen der Farbquadrate Josef Albers, die wie naturwissenschaftliche Versuchsreihen aus einzelnen Variablen aufgebaut sind.2 Ebenso mag man an die Film- und Videoexperimente der 1920er und 1960er Jahre denken,3 die mit den neuen medientechnischen Entwicklungen einhergehen. Diese bekannten Beispiele für künstlerische Experimente haben eines gemein: Es geht darum, die bestehenden Grenzen der Gattungen, der Medien und die Darstellungskonventionen auszutesten und auszuweiten. Künstlerische Experimente sollen Neuland erschließen. Es handelt sich um Startund Ausgangspunkte für neue Entwicklungen und künstlerische Innovationen, deren Zielpunkte in der Moderne zunehmend offen bleiben und sich erst im Laufe des Experimentierens und in der Interaktion mit dem Rezipienten herausbilden. Theodor W. Adorno diskutiert einen solchen »experimentellen Gestus« sogar als das Echtheitssiegel der Moderne, wo nicht
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Dies wird etwa in der Auseinandersetzung Seurats mit den theoretischen Arbeiten Hermann von Helmholtz deutlich. Vgl. Michelle Folla: Der Raum in der Malerei und in der Wahrnehmung. Seurat und Helmholtz. In: Georges Seurat. Figur im Raum. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich u. Schirn Kunsthalle Frankfurt 2009. S. 113–123. Bei Albers stehen diese malerischen Experimente bezeichnenderweise in direkter Wechselbeziehung zu seinen theoretischen Überlegungen zu den Interaktionen der Farben. Vgl. Josef Albers: Interaction of Color. Grundlegung einer Didaktik des Sehens. Köln: Dumont 1997. Sowohl für den künstlerischen Film der 1920er wie auch für das Künstlervideo der 1960er Jahre wurden Begriffe wie Experiment, Experimentalfilm oder Videoexperiment immer wieder als Gütezeichen ihrer Innovationskraft verwendet.
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mehr Kontinuität von Form und Gehalt Sicherheit biete, sondern das Experimentelle für eine »Gewalttätigkeit am Neuen« stehe: Der experimentelle Gestus, Name für künstlerische Verhaltensweisen, denen das Neue das Verbindliche ist, hat sich erhalten, bezeichnet aber jetzt, vielfach mit dem Übergang des ästhetischen Interesses von der sich mitteilenden Subjektivität an die Stimmigkeit des Objekts, ein qualitativ Anderes: daß das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann.4
Vor dem Hintergrund einer solchen Definition, erscheinen diejenigen Bilder, um die es im Folgenden gehen soll, auf den ersten Blick als Gegenstücke zu künstlerischen Experimenten. Es wird um einfarbige, um monochrome Bilder gehen: kurz gesagt, um leere Bilder, die zunächst einmal das Gegenteil von einem Start- oder Ausgangspunkt sein wollen. Meist galten die monochromen Bilder sogar offensiv als Endpunkte, als letzte Bilder, die lange Traditionslinien künstlerischer Entwicklungen und Innovationen programmatisch hinter sich lassen. Sie sind nüchterne Bestandsaufnamen des Status quo und erteilen dem vertrauten Bild eine schroffe Absage. Alles das, was bis dato ein Bild ausgemacht hat – von der machtvollen Abbildung in der Ikone, über die bestechende Illusion der Zentralperspektive bis hin zu einem Realismus der beginnenden Moderne –, ist nun in der leeren, der meist weißen oder schwarzen Leinwand eingeebnet. Es handelt sich im direkten Sinne des Wortes um eine tabula rasa, um eine leere Wand, auf der einmal viele Bilder zu sehen waren und die nun nur noch vom Fehlen dieser anderen Bilder zeugt. Jeder experimentelle Spielraum des Neuen wird hier programmatisch und unerbittlich – wie mit einem Deckel – von der bloßgelegten Materialität der leeren Bildfläche verschlossen. Im Rückblick auf die noch kurze Geschichte solcher leeren Bilder wird jedoch deutlich, wie sehr die damit verbundene Finalität dennoch im Horizont eines Innovationsdenkens stand: Vom Ende des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sind mit immer größerer Regelmäßigkeit einfarbige, weiße und schwarze Leinwände entstanden, die sich offensiv als letzte Bilder ausgegeben haben. Jedes neue letzte Bild musste das voraus-
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Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 7: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. S. 42 f. Adorno hat hier freilich vor allem die experimentelle Musik im Blick.
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gegangene letzte nochmals übertrumpfen, obwohl man sofort misstrauisch werden musste, wie denn ein leeres letztes Bild nochmals von einem noch ebenfalls leeren, allerletzten Bild gesteigert werden könne. Genau hier wird das programmatische Paradox des leeren Bildes offensichtlich, bei dem es sich nie um ein letztes Bild als Anti-Bild handeln kann: Auf der leeren Fläche wird das Bild zwar einerseits an seinen Endpunkt gebracht, bis an die Grenze, wo es überhaupt noch als Bild akzeptiert werden kann. Zugleich ist es jedoch auch ein gänzlich unbestimmtes Bild, auf dem alle anderen Bilder möglich sind. Es ist nicht nur die weiße Wand, die um alle Bilder bereinigt ist, welche sich einmal dort befunden haben. Überdies ist sie als weiße Leinwand auch das Musterbeispiel dessen, was Umberto Eco in der Tradition Adornos als offenes Kunstwerk bezeichnet. Sie wartet nur darauf, von neuen Bildern überdeckt zu werden, und ist ein »Möglichkeitsfeld«, das sich mit offenem Ausgang an den Betrachter wendet.5 Es ist nun genau diese Verschränkung von letztem und erstem Bild, mit der die leeren Bilder der Moderne eben doch in den Kontext der künstlerischen Experimente gehören. Weder handelt es sich nur um das abrupte Ende einer langen Geschichte des malerischen Experimentierens, noch ist das Bild ganz den unbestimmten Experimenten eines Innovationsdenkens anheim gegeben. Das Augenmerk liegt vielmehr auf ihrer paradoxen Struktur. Die leeren Bilder sind gerade deshalb so innovativ, weil sie sich zuerst jeder Innovation verweigern. Sie führen auf den materiellen Nullpunkt des Bildes zurück, auf dem dann wiederum neue Bilder möglich sind. Oder um es anders auszudrücken: Neuland wird dadurch erschlossen, dass man sich auf radikale Weise des vertrauten Terrains vergewissert.
D ES K AISERS NEUE K LEIDER An Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider (1837) mag man erinnert sein, wenn man die vielen einfarbigen, vor allem die weißen und schwarzen und erst recht die vollständig unbemalten Leinwän-
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Eco bezieht sich analog zu Adorno auch auf die experimentelle Musik und beschreibt ein solches Möglichkeitsfeld etwa für die Kompositionen Luciano Berios. Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 27 f.
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de in Ausstellungen und Museen sieht, die dort mit dem Etikett der monochromen Malerei präsentiert werden. Als Preziosen werden sie ausgestellt. Auratisch, teils fast sakral sind sie in den perfekt weißen Ausstellungsräumen inszeniert, so als seien es die Prunkstücke der jeweiligen Sammlungen. Trotzdem wollen sie nicht recht überzeugen, wenn sie im Vergleich mit den anderen Bildern eigentümlich blass erscheinen. Daran ändert sich auch nichts, wenn man ihnen außerhalb der Ausstellungsräume in Banken, Arztpraxen und selbst beim Möbeldiscounter begegnet, wo sie mittlerweile zu standardisierten Dekorationsobjekten trendiger Wohnungseinrichtungen verkommen sind. Umso mehr fragt man sich, was es mit diesen Bildern überhaupt auf sich hat. Können sie einem kritischen Blick standhalten? Was wird darauf gezeigt? Was steht hinter der perfekten Inszenierung der leeren Leinwände, was rechtfertigt die hohen Preise auf dem Kunstmarkt? Und was, vor allem, verbirgt sich hinter der perfekten einfarbigen Oberfläche, dass man sie überhaupt als Bild erkennt? Abb. 1: Gerhard Richters Graue Bilder
Ausstellungsansicht des Städtischen Museums Abteiberg, Mönchengladbach 1974.
Die Antwort auf solche Fragen mag ebenso kurz wie einfach ausfallen: Dahinter verbirgt sich eigentlich sehr wenig und genau betrachtet sogar gar
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nichts. Warum meint man überhaupt darauf hinweisen zu müssen, dass zwei völlig identische Bilder doch eigentlich etwas ganz anderes aussagen sollen? Steht ein solcher Kommentar nicht gerade für das eigentliche Paradox dieser Bilder?6 Die einfarbigen Wände zeigen ja selbst, dass sie offensichtlich nichts zeigen. Sie entlarven sich unweigerlich als leere Gesten, wenn sie den Erwartungen, die an sie gerichtet werden, nicht entsprechen können und es vielleicht nicht einmal wollen. Sie geben sich selbst diese Blöße. Mit solchen Bildern mochte die Geduld der Betrachter seit 1915 schließlich überstrapaziert gewesen sein, selbst nachdem man sich bereits damals an einige besonders gewagte Experimente gewöhnt hatte. Bei den vorausgegangenen abstrakten Bildern war es noch das altbekannte Missfallen an der fehlenden Wiedererkennbarkeit und der mangelnden handwerklichen Perfektion gewesen: »Das kann ich ja auch!« Mit den einfarbigen Bildern kommt nun auch noch die Ratlosigkeit hinzu, gar nichts mehr zu sehen – nicht einmal mehr die gegenstandslosen Farbspuren, die bis dato soviel Unverständnis ausgelöst hatten: »Was ist daran noch ein Bild?« Vorher gab es immerhin noch etwas zu sehen, wenn auch nichts Wiedererkennbares und virtuos Ausgeführtes, sondern oft eher etwas Irritierendes.7 Nun fehlt auch dies noch. Übrig geblieben ist nur eine leere Fläche, die allenfalls noch dumpf an die Vielfalt der Bilder erinnern mag, die dort einmal zu sehen waren. So harmlos und gefällig die leeren Bilder also zunächst daherkommen, weil sie erst gar nichts zeigen, woran man Anstoß nehmen kann, so sehr
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Arthur C. Danto hat diesen Problemfall bekanntlich als eine der historischen Zäsuren in der Moderne beschrieben. Die Galerie einfarbig roter Bilder, die er am Anfang seines Buches Die Verklärung des Gewöhnlichen skizziert, steht dabei sowohl für die Vielfalt unterschiedlicher Bilder, die gleich aussehen können, als auch für die ontologische Bestimmung des Kunstwerks, das sich nach Duchamp und Warhol in nichts mehr von alltäglichen Objekten unterscheiden müsse. Vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. S. 17–21. Teils wird das monochrome Bild als eine radikale Entwicklungsform der Abstraktion avant la lettre verstanden. So beschreibt Raphael Rosenberg einzelne Beispiele monochromer Bilder als Abstraktionen vor 1900. Im Sinne des leeren Bildes muss man dazwischen jedoch noch einmal deutlich unterscheiden. Vgl. Raphael Rosenberg: Entdeckung der Abstraktion. München: Hirmer 2007. S. 273–309.
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provozieren sie gerade durch dieses Fehlen des Gezeigten. Entweder verweigern sie sich dem Betrachter vollständig. Sie geben ihm nicht einmal ein Anzeichen, dass dort mehr zu sehen sein könnte, als ihre nackte Oberfläche. Oder sie halten ihn zum Narren, wenn er doch genügend Verständnis und Phantasie aufbringen soll, die banalen leeren Flächen tatsächlich als Bilder zu akzeptieren und darin gar ›etwas anderes‹ zu sehen. So sehr fordern sie ihre Betrachter heraus, dass sie bis heute immer wieder in einem Atemzug mit den berühmten und berüchtigten Provokationen der Avantgarden im 20. Jahrhundert genannt werden – mit Marcel Duchamps Pissoir Fountain (1917), Joseph Beuys Fettecke (1982) oder auch Piero Manzonis Künstlerscheiße in Dosen (1961). Vielleicht gehören die leeren Leinwände also nicht mit den Glanzstücken der abendländischen Malerei in die Oberlichtsäle der Museen, sondern eher in deren Asservatenkammern, gemeinsam mit den berüchtigten Problemstücken, mit denen sich die Kunst der Moderne tatsächlich bis an den äußersten Rand ihrer Legitimität vorgewagt hatte. Als blendend weiße, als rätselhaft schwarze und auch als dezent farbige Oberflächen geben sie vor, ein Bild zu sein, ein Meisterwerk gar, das jedoch unsichtbar geworden ist.8 Die alte Debatte um bildliche Täuschung wird somit abermals durch eine neue Aporie bestimmt: Einerseits hat sich die Frage nach der Repräsentation aufgrund der gänzlich fehlenden Darstellung erledigt. Andererseits ist sie zugleich im Paradox eines fehlenden Bildes auf die Spitze getrieben. Einerseits markieren die leeren Bilder einen Gegenpol zur überwältigenden Illusion der vorausgegangenen Bilder. Andererseits stehen sie der perfekten Täuschung im trompe l’oeil und den gemalten Illusionsräumen um nichts nach. Allerdings ist es dort die täuschende Illusion des Anderen, das als Abgebildetes anwesend erscheint. Hier ist es das Bild selbst, das vorgetäuscht wird und das dem Betrachter bestenfalls den Spiegel vorhält, nicht auf diese umso dreistere Täuschung hereinzufallen.9
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So die bekannte Formulierung Hans Beltings. Aus dem unbekannten Meisterwerk ist in der Moderne ein unsichtbares Meisterwerk geworden. Vgl. Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die Mythen der modernen Kunst. München: Beck 1998. Bezeichnenderweise konnten diese blinden Spiegel der monochromen Leinwand in der Kunst seit den späten 1960er Jahren auch zu einem Siegeszug echter Spiegel führen, wie sie von Künstlern wie Gerhard Richter, Giulio Paolini oder Dan Graham verwendet worden sind.
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Die leeren Bilder geben vor, ein Bild zu sein. Ob sie dieser Behauptung jedoch standhalten können, bleibt zweifelhaft. Zu schnell erweisen sie sich als das Gegenteil, wenn die gesamte historische, stilistische und funktionale Bandbreite unterschiedlicher Bilder nun in dem einen Anti-Bild eingeebnet scheint. Zu einem solchen ernüchternden Urteil mag zumindest eine erste kritische Begegnung mit einer der weißen oder schwarzen Leinwände von Robert Rauschenberg, Ad Reinhardt, Robert Ryman, Piero Manzoni, Gerhard Richter oder vieler anderer Maler des 20. Jahrhundert führen.
P ARODIEN Dem Kaiser in Hans-Christian Andersens Märchen werden außergewöhnliche neue Kleider versprochen.10 Sie seien prächtig, ihre Farben und Muster ungewöhnlich. Vor allem aber versprechen die beiden betrügerischen Schneider dem Kaiser, seine Untertanen mit diesen Kleidern auf die Probe stellen zu können. Die wertvollen Stoffe seien nämlich nur für diejenigen sichtbar, die nicht dumm und ihres Amtes würdig seien. Folglich möchte schließlich auch keiner der Untertanen zugeben, dass er weder die Stoffe, noch die fertigen Kleider sehen könne, als sie den Schneidern beim Weben und Nähen zuschauen. Zu groß ist die Gefahr, sich bloßzustellen. Nicht einmal der König geht dieses Risiko ein, als er die leeren Webstühle der beiden Betrüger sieht und genauso wenig, als er endlich vollkommen nackt vor das Volk tritt. Er geht das Wagnis dieser Blöße ein, weil er noch mehr Angst als alle seine Untertanen hat, dass auch er sich seines Amtes als unwürdig und dumm erweisen könnte. Nicht einmal das kleine Kind, das schließlich aus der Menge ruft, der Kaiser habe ja gar nichts an, und genauso wenig die ganze Menge des Volkes, die den Betrug daraufhin ebenfalls
10 Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider (dän.: Kejserens nye Klæder) erschien erstmals 1837 mit der Kleinen Meerjungfrau im 3. Heft der Märchen für Kinder (dän.: Eventyr, fortalte for Børn). Das Märchen geht auf eine spanische Erzählung aus dem 14. Jahrhundert von Don Juan Manuel zurück, welche wiederum eine ältere maurische Tradition aufgreift. Andersen kannte diese Quelle nur aus zweiter Hand aus einer Sammlung deutscher Übersetzungen. Vgl. Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Hrsg. von Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel Matala de Mazza. Frankfurt: Fischer 2002. S. 19 f.
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bemerkt, halten den Monarchen davon ab, seine neuen Kleider würdig zu präsentieren. Er muss durchhalten, genauso wie seine Kammerherren, die eine Schleppe zu tragen haben, die gar nicht vorhanden ist. Nur so kann der König den offensichtlichen Betrug ignorieren, indem er seine Nacktheit weiterhin hartnäckig als prunkvolle Bekleidung ausgibt. Abb. 2: Des Kaisers neue Kleider
Illustration um 1930.
Andersens Märchen gibt damit auch für die Bilder eine eindeutige Warnung aus: Handelt es sich bei den leeren, sprich den einfarbigen schwarzen und weißen Leinwänden, die seit 1915 mit Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat auf weißem Grund (1915) und Weißem Quadrat auf weißem Grund (1919) mit zunehmender Anzahl in der Malerei des 20. Jahrhunderts auftauchen, um ebensolche unsichtbaren Kleider auf leeren Webstühlen, wie sie in Andersens Märchen vorkommen? Handelt es sich um Bilder, die völlig entblößt sind und sich nicht einmal notdürftig mit einer Darstellung bedecken können. Sind die entsprechenden Künstler möglicherweise die
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gleichen Scharlatane, wie die beiden betrügerischen Weber, wenn sie die leeren Leinwände als revolutionäre und fortschrittliche Gesten der Avantgarde anpreisen? Und stehen diese Bilder nicht für eine absurde Übersteigerung der Experimentierfreude in der Moderne, wenn sich das erhoffte Neuland am Ende doch nur als Fata Morgana erweist? Obwohl die leeren Leinwände offensichtlich genauso ›nackt‹ sind, wie der König in seinen neuen Kleidern, traut man sich seit ihrer ›Entdeckung‹ für die Avantgarde kaum noch, darauf hinzuweisen. Lieber stimmt man in den Chor all derjenigen ein, die ihre Schönheit und Bedeutung beteuern, um gar keinen Zweifel an ihrer entwicklungsgeschichtlichen Relevanz aufkommen zu lassen. Gerade die berufenen Kommentare der Kritiker können ihnen genug Bedeutung verleihen, als dass die ›Nacktheit‹ der leeren Bildfläche noch auffallen müsste oder Anlass zu Empörung geben könnte. Deren Deutungshoheit ist zu stark, als das man ihr widersprechen möchte, zumindest nicht offen und selbstbewusst. Der Widerspruch gegen solche mächtigen Absicherungen der leeren Bilder wurde und wird deshalb vor allem in der Kunstkritik eher indirekt und ironisch vorgebracht, indem man auf die lange bekannte Strategie der Parodie zurückgreift: Es geht darum, die leeren Bilder mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und sie publikumswirksam als große Täuschungen vorzuführen. Als Übersteigerung ihrer selbst sollen sie sich in ihrer ganzen Blöße selbst bloßstellen. Damit sind sie dem Betrachter ohne jeden Schutz ausgeliefert, genauso wie sich dieser ahnungslos von ihnen täuschen lässt – oder auch nicht. Von einer solchen ironischen Umkehrung zeugen unzählige Karikaturen, Komödien, Anekdoten und Kommentare, mit denen sich spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein eigenes Genre leerer Bilder im Sinne eines »monochromen Bildwitzes« herausgebildet hat.11 Dabei handelt es sich um Illustrationen und Kommentare über leere Bilder, die das Unverständnis gegenüber den vermeintlichen Schildbürgerstreichen im etablierten Kunstsystem selten als direkte Kritik, meist aber mit umso schärferer Ironie zum
11 Diese Karikaturen stehen dann im Kontext einer neuen Konjunktur von Karikaturen zeitgenössischer Kunstentwicklungen. Mit den Pariser Salonausstellungen etabliert sich ab 1840 ein neues Genre humoristischer Kunstkritik, in der abstrakte und nicht zuletzt leere Bilder beliebt waren. Vgl. Rosenberg: Entdeckung der Abstraktion. S. 295.
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Ausdruck brachten.12 Sie waren nicht nur beliebt, sondern auch universell einsetzbar und reichen von dadaistischen Parodien bis zur politischen Karikatur. Abb. 3: Raimond Pelez: Erster Eindruck des Salons von 1843
Lithographie, ganzseitig.
Einen Schwerpunkt bilden dabei die ironischen Bloßstellungen der emphatischen Gesten der Avantgarde, die durchgängig dem Muster einer stereotypen Polarisierung von vertrauter beziehungsweise akademischer Malerei und überschätzter Scharlatanerie gehorchen. Um 1840 etabliert sich dieses Genre mit den zunehmend ironischen Kritiken der Pariser Salonausstellun-
12 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es vor allem die Karikaturen mit einem Höhepunkt in den 1950er und 1960er Jahren. Jüngst haben die ironischen bis empörten Kommentare nochmals enorme Konjunktur in Blogs und Diskussionsforen des Internets.
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gen.13 In einem Ersten Eindruck des Salons von 1843 von Raimond Pelez wird etwa eine monochrom schwarze Bildtafel mit reich dekoriertem Rahmen innerhalb einer ganzseitigen Lithographie unterschiedlicher Bildtafeln mit ironischen Untertiteln abgedruckt. Darüber befinden sich zwei Gemälde, die an Kinderzeichnungen erinnern, rechts und links davon zwei Portraits mit zwei einfältigen Herren, die unschlüssig auf die dunkle Tafel in ihrer Mitte blicken. Der entsprechende Untertitel gibt mehr Informationen. Es handle sich um einen »Nachteffekt, nicht aufgehellt … vom Mondschein, vom Fleck weg gekauft von Mr. Robertson, Schuhwichsfabrikant«.14 In der schwarzen Fläche führt sich die Mimesis also selbst ad absurdum, indem die getreue Abbildung des Nachteffektes unweigerlich in der fehlenden Abbildung als schwarzer Fläche resultiert.15 Abb. 4: Raymond Pelez, Album Primo-Avrilesque (1897)
Buchillustration. Bildunterschrift: Combat de nègere dans une cave, pendant la nuit.
13 Für diese Geschichte der monochromen Bildtafeln in der Karikatur des 19. Jahrhunderts vgl. Denys Riout: La peinture monochrome. Histoire et archéologie d’un genre. Nîmes: Ed. Jacqueline Chambon 1996. Kap. II »La tradition du monochrome fictif«. Vgl. auch Rosenberg: Entdeckung der Abstraktion. S. 295–304. 14 Franz. Original: » Effet de nuit qui n’est pas clair … de lune, acheté subito par Mr. Robertson, fabricant de cirage«. 15 Zugleich wurde damit die Logik des Kunstmarktes mit den anscheinend absurden Preisen der leeren Bilder thematisiert. Dieses Thema wird in den späteren Parodien der leeren Bilder immer wieder ins Zentrum gerückt.
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Nicht von ungefähr sind auch die sieben einfarbigen Tafeln aus Alphonse Allais Album Primo-Avrilesque von 189716 noch vor den ersten monochromen Gemälden der europäischen Avantgarde in den 1910er Jahren entstanden. Selbstbewusst geben sie sich bereits im Titel als Aprilscherz aus, womit ihre Ernsthaftigkeit natürlich gleich in Frage gestellt ist. Umso mehr spielen sie aber gezielt auf die verschiedenen Topoi an, die auch später die Debatte um die leeren Bilder bestimmen wird. In dieser Funktion werden sie noch heute oftmals an den Anfang der Geschichte monochromer Bilder gestellt,17 in der die Parodie des leeren Bildes bezeichnenderweise noch vor seiner ernsthaften Realisierung stand: Die weiße Tafel, so der Untertitel, zeigt die Erstkommunion junger bleichsüchtiger Mädchen bei Schneetreiben, die rote Tafel die Tomatenernte apoplektischer Kardinäle an den Ufern des Roten Meeres und die blaue Das Erstaunen der jungen Rekruten, als sie zum ersten Mal dein Azur erblickten, o Mittelmeer.18 Wie auf dem Titelblatt benannt, folgen nach der Einleitung des Autors und der Partitur eines Trauermarsches für das Begräbnis eines berühmten tauben Mannes sieben prächtige Tafeln in Kupferstich und verschiedenen Farben. Den im 19. Jahrhundert damit verbundenen Erwartungen an dekorative und reproduzierende Farbgrafiken konnten und wollten diese Blätter jedoch keinesfalls entsprechen. Der fiktive Maler selbst macht dies deut-
16 Alphonse Allais: Album Primo-Avrilesque [franz. Originalausgabe 1897]. Hrsg. u. eingel. von Andreas Bee. Heidelberg: Das Wunderhorn 1993. 17 Auf diese genealogische Position von Allais Buchprojekt ist immer wieder hingewiesen worden, wenn in historischer Entwicklungsperspektive nach dem ersten monochromen Bild gefragt worden ist. Als ironische Gesten seien die monochromen Tafeln für eine ernsthafte Geschichte der monochromen Malerei meist vergessen oder gar ignoriert worden. Wenn überhaupt, dann seien sie als eine einmalige Gelegenheitsarbeit gewürdigt worden, um letztlich nicht die große Erzählung der Monochromie in der Moderne – beginnend mit Malewitsch und Alexander Rodtschenko bis zur Malerei des Postminimalismus – in Frage zu stellen. Alphonse Allais hingegen wird als Pionier dieser Tradition herausgestellt, bei dem die radikale Innovation von Malewitschs und Rodtschenkos Malerei bereits mindestens als ›Monochromie avant la lettre‹ vorgezeichnet sei. Vgl. dazu Andreas Bee: Einleitung. In: Alphonse Allais: Album PrimoAvrilesque [franz. Originalausgabe 1897]. Hrsg. u. eingel. von Andreas Bee. Heidelberg: Das Wunderhorn 1993. O. S. Vgl. auch Riout: La peinture monochrome. S. 169. 18 Allais: Album Primo-Avrilesque. O. S.
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lich, wenn er in seiner Einleitung selbstbewusst eine neue Position der Malerei markiert: Nicht von Malern sprach ich, wie man sie im allgemeinen meint, also nicht von den lächerlichen Handwerkern, die tausend verschiedene Farben nötig haben, um ihre mühselig gewonnenen Einfälle zum Ausdruck zu bringen. Nein! Der Maler, in dem ich mein Ideal sah, war derjenige, der auf geniale Weise für ein einziges Bild nur eine einzige Farbe brauchte: Diesen Künstler wage ich monochroidal zu nennen.19
Allais geht es also darum, das herkömmliche Missverhältnis von akademischer Malerei und großer Scharlatanerie umzukehren, indem die handwerkliche Perfektion nun hinter der Nüchternheit der einen Farbe zurückstehen soll. Er selbst, so der fiktive Maler weiter, habe als kleiner Junge in Paris ein berühmtes Bild gesehen, das bald darauf für einen hohen Preis in die USA verkauft worden sei und das er nun noch einmal reproduziert: Kampf der Neger im Keller, während der Nacht. Sofort habe er das Meisterwerk in diesem Bild erkannt und es sich zum Vorbild genommen. Allais verweist damit gezielt auf die vielen schwarzen Bilder in den Salonkarikaturen, indem er gerade diesen Bildtypus zum Ausgangspunkt seines Projektes wählte. Er nutzt also die gleiche Gegenüberstellung von Bildtafel und Untertitel und damit auch die gleiche Übersteigerung einer getreuen Abbildung, die sich selbst ad absurdum führt: Der Keller ist nun einmal so dunkel, dass darin keine dunkelhäutigen Personen mehr sichtbar sind. Von vornherein bleiben die in den Untertiteln benannten, absurden Motive in den fehlenden Figur-Grund-Kontrasten der einfarbigen Flächen eingeschlossen. Weder ein weiß gekleidetes Mädchen, noch ein Rekrut vor dem Meer und erst recht kein Kardinal bei der Tomatenernte treten daraus hervor. Genauso wenig lässt sich aber auch die Abwesenheit dieser Motive bestimmen. So absurd diese Titel zunächst anmuten, die Motive mögen vorhanden sein und bleiben doch unsichtbar. Zwischen den benannten Motiven und ihrer fehlenden visuellen Repräsentation entsteht eine Differenz die in die Paradoxie des leeren Bildes münden muss. Unweigerlich führen deshalb auch die Grafiken wieder zum Zweifel am leeren Bild zurück: Wird damit ihre Scharlatanerie offen zur Schau gestellt? Sind sie also bereits vollständig entlarvt, noch bevor sie 20 Jahre später
19 Allais: Album Primo-Avrilesque. O. S.
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demonstrativ als ernsthafte Innovation der Avantgarde ausgerufen werden? Oder leuchtet in solchen ironischen Kommentaren nicht bereits das eigentliche Potential der leeren Bilder als subversive Geste auf, die jedoch genauso schnell wieder verloschen ist, wie sie als Strohfeuer aufgeflammt war? Wäre also Malewitschs Weißes Quadrat auf weißem Grund von 1919 in diesem Sinne nichts anderes, als die sprichwörtliche Rede von der Flagge mit dem weißen Adler auf weißem Grund? Dies legt zumindest Allais Blatt mit der weißen Fläche nahe, auf dem die Erstkommunion nicht nur im Schneetreiben zu verschwinden droht, sondern sich erst gar nicht auf der weißen Fläche abzeichnet. Allais Parodie des leeren Bildes als Aprilscherz und Malewitschs Entleerung des Bildes als Revolution der Malerei kommen sich hier erstaunlich nahe. Es scheint fast, als hätte der französische Humorist den neuartigen Bildern des russischen Malers bereits jede Schärfe genommen, noch bevor diese überhaupt entstanden sind.
E INE I KONE DES LETZTEN B ILDES Als Kasimir Malewitsch 1915 in der ›Letzten Futuristischen Ausstellung 0.10‹ erstmals sein Schwarzes Quadrat präsentierte, waren die Überraschungen und Reaktionen wohl kalkuliert. Mit einem Mal brachte er seine neuen suprematistischen Bilder des letzten Jahres an die Öffentlichkeit, wodurch die Ausstellung nicht nur zum beachteten Ereignis, sondern auch zum Gegenstand kontroverser Diskussionen wurde. Allen anderen Bildern voran sollte dabei die kleine quadratische Leinwand mit dem schwarzen Quadrat auf weißem Grund die etablierten und vertrauten Vorstellungen der Ausstellungsbesucher und Kritiker provozieren; sei es, indem sie starken Widerspruch hervorrief, oder auch, indem sie nur zu demonstrativer Ignoranz Anlass gab. Die programmatischen Kommentare des Künstlers und vor allem die effektvolle Präsentation, sorgten dafür, dass das kleine Bild keinesfalls mehr nur als Parodie verstanden werden konnte. Es hing diagonal in der oberen Raumecke, direkt unter der markanten Stuckverzierung wodurch ihm demonstrativ eine überlegene Stellung zukam, nicht nur als Gegenpol zu den Konterreliefs von Malewitschs Konkurrenten Vladimir Tatlin, sondern auch zu der vorausgegangenen kubofuturistischen Malerei, die Malewitsch nun für beendet erklären wollte. Überhaupt verweigert sich das Schwarze Quad-
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rat den bis dato vertrauten Formen von bildlicher Darstellung, indem jeder Verweis und jeder Erfahrungsprozess in der einfarbigen Fläche stillgestellt ist und im bloßen Verweis auf sich selbst mündet. Wurde mit diesem Bild also bereits 1915 das Ende der künstlerischen Experimente der Avantgarde ausgerufen, just zu dem Zeitpunkt, als andere Künstler in der Petersburger Ausstellung ihre neue Experimentierfreudigkeit vorführten? Abb. 5: Kasimir Malewitsch: Schwarzes Quadrat (1915)
Öl auf Leinwand. 79,5 x 79,5 cm. Tretjakov Galerie, Moskau.
Ein genauerer Blick auf das kleine Bild führt diese programmatische Finalität jedoch wieder auf die anfangs angesprochene Aporie der leeren Bilder zurück: Trotz seiner markanten Form bleibt das Schwarze Quadrat, das als einziges Element von dem ebenfalls quadratischen Bildträger unterscheidbar ist, eigentümlich unscharf. Dies liegt vor allem an dem ebenfalls unklaren Figur-Grund-Verhältnis. Entweder erweist sich die tiefschwarze Fläche als Loch, in dessen Tiefe die anderen vertrauten Bilder zu verschwinden drohen. Oder die schwarze Farbe wird zur Deckschicht, die sich über den anderen Bildern verschließt. Einerseits zeigt die schwarze Fläche noch die Spuren eines früheren Bildes, das Malewitsch schwarz übermalt hat und das mit der Alterung der Farbschicht erneut zum Vorschein gekommen
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ist.20 Andererseits liegt es ebenso wenig auf dem weißen Grund, denn die weiße Farbschicht ist erst nach der schwarzen Fläche aufgetragen und erweist sich, genau betrachtet, als Rahmen um die quadratische Binnenform. Insofern ist das schwarze Quadrat auch nicht bloß ein geometrisches Elementarkonzept, wie Malewitschs Kollege Michail Larionow kritisiert hat.21 Es setzt den unterschiedlichen Ausprägungen akademischer Malerei nicht bloß eine neue ›akademische Form‹ entgegen, sondern versucht sich dieser Konkurrenz demonstrativ durch das Postulat seiner Autonomie zu entziehen. In jedem Fall sollte das Bild bereits bei seiner ersten Ausstellung als radikale Zäsur in der vertrauten Malereitradition verstanden werden, als ›Nullform‹, wie Malewitsch es damals selbst beschrieben hat.22 Es ist sowohl End- wie Ausgangspunkt, oder wie Felix Ingold schreibt »Fanal und Verheißung zugleich«:23 Das Schwarze Quadrat erweist sich als letztes Bild in einer langen Reihe von Bildern. Zugleich ist es die utopische Verheißung eines neuen Bildes, das nun selbstbewusst an die Stelle der vorausgegangenen Bilder tritt und die bereinigte Fläche für eine neue Bildproduktion bereitstellt. Malewitschs Kollege El Lissitzky beschrieb das Schwarze Quadrat gar als Platte, die »den engen Kanal der malerischen Kultur verschlossen hat.« Wie ein Grabstein besiegelte sie demonstrativ den Tod der alten Bilder, die an der Repräsentation orientiert waren. Die Rückseite dieser Platte – so Lissitzky – erwies sich jedoch zugleich als »mächtiges Fundament« für eine neue Entwicklungslinie.24 Alle Splitter der Bildtradition, die darauf noch zu sehen sind, habe der Suprematismus mit seinen weißen Grundflächen hin-
20 Dieser Alterungsprozess muss bereits früh eingesetzt haben, hat Malewitsch doch bereits selbst mehrere Kopien seines eigenen Bildes angefertigt. 21 Vgl. Felix Ingold: Welt und Bild. In: Was ist ein Bild? Hrsg. von Gottfried Boehm. München: Fink 1994. S. 367–410. S. 372. 22 »I have transformed myself in the zero of form and dragged myself out of the rubbish-filled pool of Academic art.« (Kasimir Severinovič Malevič: From Cubism and Futurism to Suprematism. The New Realism in Painting [1916]. In: Ders.: Essays on art. 1915–1933. Bd. 1. Übers. von. Xenia Glowacki-Prus u. Arnold McMillin. Hrsg. von Troels Andersen. Kopenhagen: Borgen 1968. S. 19–41. S. 19.) 23 Ingold: Welt und Bild. S. 370. 24 El Lissitzky: Proun [1921]. In: Proun und Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente. Dresden: Verlag der Kunst, 1977. S. 21–34. S. 25.
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weggefegt, um darauf den Blick in die Unendlichkeit einer neuen ›materiellen Kultur‹ freizuräumen.25 Damit konnte das Bild das altvertraute Terrain der Malerei – den Illusionsraum jenseits der Leinwand – verlassen und eroberte genau jenes Neuland – den realen Raum diesseits der Bildfläche – der in den kommenden Jahren in der Kunst der jungen Sowjetunion zu ganz unterschiedlichen Bildexperimenten führen sollte. Abb. 6: Ausstellungsansicht
Letzte Futuristische Ausstellung 0.10. St. Petersburg 1915.
Doch auch im Unterschied zu den übrigen suprematistischen Gemälden, die Malewitsch dicht gehängt an den Wänden der Petersburger Galerie zeigte, war das schwarze Quadrat in der oberen Raumecke nochmals als eine enorme Verdichtung stilisiert. Dafür ist die berühmte Fotografie bezeichnend, auf der die Fluchtlinien auffällig im schwarzen Quadrat in der oberen Raumecke zusammenlaufen. Wie ein Gegenpol nimmt es sich zu dem lee-
25 El Lissitzky: Der Suprematismus des Schöpferischen [1920]. In: Proun und Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente. Dresden: Verlag der Kunst, 1977. S. 15–20. S. 18.
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ren Stuhl in der unteren Raumecke aus. Dort bleibt der angestammte Platz der Malerei leer. Diese Position hat die Leinwand mit dem schwarzen Quadrat darüber eingenommen, die Malewitsch nicht nur als ein Experiment unter vielen verstand. Seine leere Leinwand markierte vielmehr einen Stillstand, der als leere Fläche zum Experimentierfeld einer neuen Kunst wurde, oder wie er 1916 in dem oft zitierten Brief an den Kritiker Alexander Benois selbst formuliert: zur »nackten ungerahmten Ikone meiner Zeit.«26 Denn während das Schwarze Quadrat nicht nur die Erwartungen des vertrauten künstlerischen Tafelbildes enttäuscht, sondern umso mehr noch gegen die strengen Regeln der orthodoxen Ikonenmalerei verstößt, nimmt es zugleich demonstrativ Bezug darauf. Mit seiner Position im Raum setzt Malewitsch es bekanntermaßen an den traditionellen Ort der russischen Ikone, in den »schönen Winkel« oder die »orthodoxe Ecke«, wie er 1924 selbst schreibt.27 Das Quadrat markiert also nicht nur einen Kontrapunkt zur westlichen Malereitradition der Neuzeit. Es wird überdies selbstbewusst an die Stelle gesetzt, die vorher einem heiligen und ›echten‹ Bild vorbehalten war. Als modernes Bild hat die Ikone nur das Fenster, das seit Alberti geöffnet werden konnte, verschlossen. Als Ikone der Moderne hat sie auch das ›Fenster zur Ewigkeit‹ abrupt verschlossen, das die Ikone zwischen Diesseitigem und Jenseitigem zu öffnen in der Lage war. Dies geschieht nun aber nicht mehr mit Blick auf ein Bilderverbot, durch welches das Abbild des Göttlichen zum Gegenstand vielfacher Bilderstreite geworden war. Von vornherein ist Malewitschs Utopie gegen ein gegenständliches und abbildliches Denken gerichtet, das nur auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse aus sei. Die Gegenstandslosigkeit der suprematistischen Malerei hingegen, sei von diesen Bedürfnissen losgelöst und markiere eine unabhängige, selbständige Denkform.
26 »I have only asingle bare and frameless icon of our times (like a pocket), and it is difficult to struggle.« (Kasimir Severinovič Malevič: A Letter from Malevich to Benois [1916]. In: Ders.: Essays on art. 1915–1933. Bd. 1. S. 42–48. S. 45.) 27 Vgl. Kasimir Severinovič Malevič: Appendix. From the Book on NonObjectivity [1924]. In: Ders.: Essays on art. 1915–1933. Bd. 3. Übers. von. Xenia Glowacki-Prus u. Arnold McMillin. Hrsg. von Troels Andersen. Kopenhagen: Borgen 1968. S. 354.
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Doch der Ort, der ehedem der Ikone vorbehalten war, wird in Malewitschs ›ausgelöschter‹ Ikone weiterhin in seiner besonderen Potentialität genutzt, wenn das Quadrat zum Ausdruck einer ›reinen Erregung‹ erklärt wird. Die Ikone ist bereits verschwunden, dagegen tritt das Schwarze Quadrat nun an die Stelle dieses heiligen Bildes. Es wird zur Ikone deklariert, die ihre besondere Macht nun paradoxerweise darin erweist, die vorausgegangenen Bilder entmachtet zu haben. Das Bild gründet nicht mehr in der Inkarnation des einen ›echten‹ Bildes, nicht einmal mehr in einem profanisierten und perfektionierten Abbild. Es bezieht sich vielmehr demonstrativ auf seine Autonomie, die es den vorausgegangenen Bildern entgegenstellt. Es partizipiert nicht mehr an einem Außen, es bedarf nicht mehr des Verweises und baut erst recht nicht mehr auf den ›Machterweis‹ des Göttlichen. Das Schwarze Quadrat ist stattdessen ganz auf sich zurückgeworfen. Urbild und Abbild sind ineinander gefallen. Es ist zum Archetypus einer vom Gegenstand losgelösten, autonomisierten Form geworden und tritt damit in jene Lücke, die es mit dem Auslöschen der vorausgegangenen Bilder geöffnet hat. Die neue Tradition der Bilder, die sich nun in der Gefolgschaft von Malewitschs Schwarzem Quadrat als eine nicht enden wollende Kette letzter Bilder entwickelt, ist bestens bekannt. Die Ikone, die noch an das Urbild des Göttlichen gemahnt, gerät allerdings schnell aus dem Blickfeld, da die nachfolgenden Bilder nun demonstrativ ihre Autonomie verteidigen müssen: Schon Malewitschs Malerei führt bald in eine andere Richtung. Beispielhaft angeführt sei sein 1918 entstandenes Weißes Quadrat auf weißem Grund. Einerseits wird der Topos des letzten Bildes mit der verschwindenden Form im weißen Grund nochmals radikalisiert. Im schwachen Kontrast der beiden Weißtöne lösen sich nun auch noch die letzten Rückstände einer erkennbaren Figur auf. Andererseits wird durch das Weiße Quadrat das Emblem des Schwarzen Quadrats zurückgenommen, indem die Konturen der Form verschwimmen und die Ikone damit in der weißen Wand zu verschwinden droht.
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Abb. 7: Kasimir Malewitsch: Suprematistische Komposition: Weiß auf weiß (1918)
Öl auf Leinwand. 79,4 x 79,4 cm. Museum of Modern Art, New York.
Die wenigen, noch verbliebenen Spuren der quadratischen Form, die nun diagonal im Bildfeld sitzt, genügen aber noch, das Bild von der weißen Wand, an der es hängt, zu unterscheiden. Das Weiße Quadrat auf weißem Grund erscheint nun wie der Rest eines Abbildes, der als Nachbild auf der bereinigten, weißen Fläche übrig bleibt.
B ILDER OHNE A NFANG UND E NDE Mit diesen Resten der Abbilder, die bei Malewitsch noch durch die weiße Fläche hindurch scheinen, wollte auch der junge Robert Rauschenberg noch fertig werden, als er im Sommer 1951 seine White Paintings malte. Es handelt sich um eine quadratische Leinwand und mehrere zusammengesetzte Formate mit reinweißer Oberfläche. Verschmutzungen und Alterungsspuren auf den weißen Flächen wurden für folgende Ausstellungen neu über-
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malt. Mitunter wurden die Leinwände gar neu gebaut, denn nun genügen Maße und Materialangaben, um das Bild perfekt wiederherzustellen. Abb. 8: Robert Rauschenberg: White Painting (1951)
Öl auf Leinwand. 183 x 318 cm. Privatsammlung.
Rauschenberg malte diese Bilder im Sommer 1952 bei seinem Aufenthalt am Black Mountain College, jenem legendären College, das damals ein besonderer Ort des Experimentierens für junge Künstler war. In diesem Kontext wurden die weißen Leinwände sofort interessiert und positiv aufgenommen. Als der junge Maler seine Bilder jedoch in der kommenden Saison bei seiner ersten Einzelausstellung in New York zeigen sollte, schickte er einen Brief an seine Galeristin Betty Parsons vorweg, in dem er einer möglichen Kritik an seiner neuartigen Malerei zuvorkommen wollte: »The results are a group of paintings that I consider almost an emergency.« Sofort kehrte er dieses zwiespältige Urteil jedoch in eine äußerst selbstbewusste Stellungsnahme: »they bear the contradictions that deserves them a place with other outstanding paintings.« Damit baute er jeder zukünftigen Kritik vor, indem er die weißen Leinwände von vornherein als außergewöhnliche Bilder bezeichnete und auch die Frage nach seinem handwerklichen Können für irrelevant erklärte. Es gehe ihm nicht mehr um die handschriftliche Geste und die genialistische Expression, die in der New Yorker
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Malerei dieser Zeit so emphatisch betont wurden. »It is completely irrelevant that I am making them – Today is their creator.«28 schrieb er. Was sollte es auch ändern, wenn der Künstler selbst Hand anlegt, auf den weißen Leinwänden sah man ja ohnehin Nichts.29 Zunächst mag man in solchen Formulierungen noch den Duktus John Cages heraushören, den Rauschenberg in diesem Sommer am Black Mountain College kennengelernt hatte und der wiederum in der Auseinandersetzung mit den weißen Bildern sein Silent Piece 4:33 (1952) komponiert hat.30 Doch im Unterschied zu Cages emphatischer Auffassung der lautlosen Leere, die sich beim Hörer in den individuellen Raum innerer Klänge öffnen sollte,31 handelte es sich bei den White Paintings um eine kritische Geste der Malerei der Moderne, die auf den realen Raum vor dem Bild gerichtet war: Abermals ging es um eine Kritik am herkömmlichen und vertrauten Bild, die nun aber verhaltener formuliert wurde, als es bei Malewitsch der Fall war. Die reinweiße Fläche sollte nun nicht mehr irritieren
28 Der Brief ist abgebildet in: Robert Rauschenberg. The Early 1950’s. Ausstellungskatalog Menil Collection Houston 1991. Abb. Nr. 59. 29 Insofern war es auch nur zu konsequent, dass er die Leinwände später von seinem Assistenten Brice Marden übermalen ließ und für eine Ausstellung 1966 in Stockholm sogar eine neue Leinwand nach seinen Angaben anfertigen ließ. 30 Inwieweit nun Cages Überlegungen für ein Piece of silence einen stärkeren Einfluss auf Rauschenberg hatten oder ob dessen Bilder wiederum den maßgeblichen Ausschlag für 4:33 gegeben haben, kann in diesem Zusammenhang nicht weiter diskutiert werden. In jedem Fall tauchen Rauschenbergs weiße Bilder erstmals innerhalb von John Cages Aktion (später Theater Piece No. 1 genannt) am Black Mountain College auf. Anschließend wurden sie auch in Rauschenbergs eigene Performances einbezogen, wobei ihrer Funktion als Projektionsfläche eine immer größere Bedeutung zukommt. Besucher der Cage-Aktion von 1952 erinnern sich, dass eines der Bilder damals schräg über dem Auditorium installiert gewesen sei und als Projektionsfläche gedient habe. Vgl. Mary Lynn Kotz: Rauschenberg. Art an Life. New York: Abrams 1990. S 76. Rauschenberg selbst hingegen meint, dass dies nie seine Intention gewesen sei und bestreitet einen solchen Gebrauch. Vgl. Rauschenberg: The Early 1950’s. S. 66. 31 Cage berichtet von seinem Besuch einer echofreien Kammer in den späten 1940er Jahren an der Harvard University, der ihn zu seinem berühmten Silent Piece animiert habe. Er habe dort erwartet, einfach nur nichts zu hören. Die Stille des Raumes habe jedoch dazu geführt, dass er innere Geräusche seines Nervensystems und der Blutzirkulation wahrgenommen habe. Vgl. John Cage: Experimental Music (1957). In: Ders.: Silence. Lectures and Writings. Middletown: Wesleyan University Press 1973. S. 7–12. S. 8.
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und empören. Sie stand vielmehr für eine neue Selbstvergewisserung des Bildes, das bis auf seine materiale Grundlage zurückgeführt worden war.32 Von dort aus sollte es sich wieder ganz im Sinne Theodor W. Adornos experimentell und mit unbestimmtem Ausgang an den Betrachter richten. Im selben Brief an seine Galeristin brachte Rauschenberg auch diese Überlegung nochmals auf den Punkt: Die weißen Leinwände »take you to a place in painting Art has not been yet.« Und auch diesen Punkt konkretisierte er nochmals: »to the point where a circle begins and ends.« Einerseits waren die weißen Leinwände also demonstrativ als letzte Bilder gemeint. Mit Thierry de Duve gesprochen, waren es nicht einmal mehr monochrome Gemälde, die in der einfarbigen Fläche noch auf den Gestus der Malerei verweisen konnten.33 Als ›blank canvases‹ waren sie bereits an den Punkt gelangt, den der einflussreiche Kritiker Clement Greenberg wenige Jahre später nervös kritisieren sollte: »Eine auf den Keilrahmen gespannte Leinwand existiert bereits als ein Bild – allerdings nicht unbedingt als ein gelungenes Bild.«34 Damit wurde der Forderung nach einer Reduktion des Bildes auf seine Minimalform so weit entsprochen, dass es selbst in Frage gestellt war. Trotzdem musste das weiße Feld für den jungen Künstler keinesfalls ein Endpunkt der Malerei bleiben. Vielmehr erwies es sich als Ausgangspunkt für ein neues Experimentieren. Spätestens seit Malewitschs Weißem Quadrat konnte die weiße Leinwand keinesfalls mehr ausschließlich als das unbeschriebene Blatt verstanden werden, als das man sie gerne gesehen hätte. Sie war weder nur eine unschuldige Parodie im Sinne der neuen Kleider des Kaisers, noch konnte sie das modernistische Wunschbild in Form der ›jung-
32 Vgl. dazu auch Brandon W. Joseph: White on White. In: Critical Inquiry 27 (2000) H. 1. S. 90–121. 33 Thierry de Duve unterscheidet zwischen ›monochrome canvases‹, die noch in der Tradition der Malerei als visuellem Ereignis stehen und den ›blank canvases‹, mit denen das Gemälde auf seine Objekthaftigkeit reduziert sei. Vgl. Thierry de Duve: The Monochrome and the Blank Canvas. In: Reconstructing Modernism. Hrsg. von Serge Guilbaut. Cambridge: MIT Press 1990. S. 244310. S. 252. 34 Clement Greenberg: Nach dem Abstrakten Expressionismus [1962]. In: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hrsg. von Karlheinz Lüdeking. Dresden: Verl. der Kunst 1997. S. 314–335. S. 331.
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fräulich makellosen Leinwand‹35 einlösen, das endlich ganz von den Verunreinigungen der vorausgegangenen Bilder bereinigt ist. 1915 wollte der russische Maler noch die Splitter der zentralperspektivischen Malerei ›wegfegen‹,36 um einen ›finalen Endpunkt‹ dieser Tradition zu markieren. 1952 ging es dem jungen New Yorker Maler nicht mehr um ein Bildfeld im Sinne der Darstellung, sondern um ein Bild als Oberfläche. Entsprechend handelt es sich nicht um Traditionssplitter, sondern um aktuelle Partikel, um einen diesseitigen und materialen Staub, der auf diesen tadellos weißen Oberflächen sichtbar werden kann. So sehr die Bilder auf jede eigene Darstellung verzichteten, konnten sie sich als ausgezeichnete Felder dennoch von der Ausstellungswand dahinter abheben. So wurden zu »[a]irports for lights, shadows and particles«,37 wie John Cage sie einmal bezeichnet hat. Das vertraute Terrain des repräsentationalen Bildes ist demonstrativ zugunsten eines neuen Terrains verlassen worden, auf dem sich nun die Staubkörner, die Schatten, Lichtreflexe und nicht zuletzt auch die Betrachter in Form von flüchtigen Spuren abzeichnen. Das leere Bildfeld wird somit im direkten Sinne des Wortes zum unbestimmten Experimentierfeld erklärt, auf dem die Grenzen des Bildes zu seinem Umraum und seinem betrachtenden Gegenüber fortan neu ausgetestet werden muss.
A M E NDE DAS B ILD? In der 25 Jahre später entstandenen Varese Wall (1975) von Robert Ryman sollte schließlich auch noch die Minimalunterscheidung von Bildträger und Wand aufgehoben werden, die für Rauschenbergs White Paintings noch ein letztes Mal gültig war. Mit ihr schließt Ryman an den von Rauschenberg bezeichneten Nullpunkt an, der zugleich Ende wie Anfang eines Kreises ist.
35 Bezeichnenderweise wählt Rauschenberg auch selbst eine solche Formulierung, wenn er deren Präsentation in seinem Brief an Betty Parson mit der »innocence of a virgin« beschreibt. 36 So hatte El Lissitzky Malewitschs Entwicklung beschrieben. Vgl. Lissitzky: Der Suprematismus des Schöpferischen. S 18. 37 Cage, John: On Robert Rauschenberg, Artist, and His Work [1961]. In: Ders.: Silence. Lectures and Writings. Middletown: Wesleyan University Press 1973. S. 98—108. S. 102.
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Einerseits steht die weiße Wand demonstrativ für das fehlende Bild. Sie erinnert an dasjenige Bild, das einmal auf der Wand zu sehen war und das nun vollständig in der Wandfläche aufgegangen ist. Andererseits kann diese Fläche nun auch zum Experimentierfeld einer neuen Malerei werden. Alle Parameter des Gemäldes sind zur Disposition gestellt. Das Format, die Oberfläche des Bildträgers, das Farbmaterial und selbst die Nägel, Schrauben und Klammern der Aufhängung werden gezielt in den Blick genommen und neu zueinander in Beziehung gesetzt. Es geht darum, die Malerei in den Blick zu nehmen und alle ihre materialen Bedingungen wie in einem strengen experimentellen Setting durchzuspielen. Abb. 9: Robert Ryman: Varese Wall (1975)
Öl auf Holz. 731x214cm. Dia Center for the Arts, New Nork.
Als weiße Wand ist die Bildfläche in den Raum gerückt. Sie markiert einen Abstand zur tatsächlichen Wand dahinter, an der sie nicht mehr hängt, sondern frei im Raum steht. Gleichwohl ist sie keine Skulptur, die sich als Körper im Raum befindet. Sie stellt sich vielmehr demonstrativ als Wand aus und tritt dem Blick des Betrachters als undurchdringliche Fläche entgegen. Ihre Ausmaße sind so groß, dass die Begrenzungen der weißen Tafel,
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die ohnehin nur schwach zu sehen sind, außerhalb des Blickfeldes des Betrachters liegen. Bild und Wand fallen damit fast deckungsgleich ineinander: Das Bild ist in der weißen Wand aufgegangen, ebenso wie die Wand wiederum selbst zum Bild geworden ist. Umso deutlicher markiert Rymans Varese Wall damit einen Gegenpol zu Malewitschs Schwarzem Quadrat. Beide waren als radikalisierte Formen ›letzter Bilder‹ gedacht, die an ihrem jeweiligen historischen Entwicklungspunkt um 1915 und 1975 nur schwerlich zu unterbieten waren. Gleichwohl stellten sie, wie die Vorder- und Rückseite einer Leinwand, zwei entgegensetzte Pole des ›letzten Bildes‹ dar: Malewitschs Quadrat wird zur neuen Ikone, die den Platz der vorausgegangenen Bilder selbstbewusst einnimmt. In Robert Rymans Varese Wall bleibt dieser Platz auf der weißen Wand nicht nur demonstrativ leer, sondern Bild und Wand gehen sogar ineinander auf. Nur der Abstand zur tatsächlichen Wand des Ausstellungsraums dahinter und die blauen Schaumstoffstücke, die einen Abstand zum Boden herstellen, lassen die weiße Holzwand noch als Bild im Raum erscheinen. Davor steht der Betrachter. Er blickt auf die weiße Fläche, in der nun auch noch die gegenstandslose Welt des Bildes, die Malewitsch propagiert hat, zugunsten der bloßen Ansichtigkeit der perfekten, leeren Oberfläche ausgetauscht ist. Das Schwarze Quadrat war an die Stelle der Ikone getreten und hatte dem ermächtigenden Bild des Göttlichen eine autonome Form des Absoluten entgegengestellt. Die weiße Varese Wall ist hingegen der Ausdruck eines radikalisierten Realismus, den Robert Ryman immer wieder propagiert: Nach der »nackten ungerahmten Ikone« ist das Bild nun zur ›nackten weißen Oberfläche‹ geworden, die nun auch der autonomen Form noch die aufgeklärte Realität ihres Materials entgegensetzt. Nicht einmal mehr die Figur des Entzugs, eines sichtbaren Mangels, von der die monochrome Malerei lange geprägt war, wird hier noch bedient. Die Ansichtigkeit der leeren Oberfläche ist nun selbst zum Bildgegenstand stilisiert. Sie kann nicht einmal mehr altern, so wie Malewitschs Quadrat, durch dessen Risse das frühere Bild doch wieder hindurch scheint. Ähnlich wie bei Rauschenbergs Leinwänden wird vor jeder Ausstellung eine neue Farbschicht aufgebracht, welche die neutrale Oberfläche wieder herstellt. Doch auch im Unterschied zu dessen weißen Bildern, will die Wand nur eine hermetische Bildebene sein, die zur Reflexionssfläche der Malerei wird.
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Vor dem Hintergrund dieser drei Beispiele könnte man geneigt sein, einmal mehr die Fortschrittsgeschichte der modernistischen Malerei im 20. Jahrhundert rekapituliert zu sehen. Ein erster Höhepunkt bildlicher Selbstreflexion ist mit Malewitschs Quadrat gegeben. In Rauschenbergs weißen Leinwänden kommt es zu einer erneuten Steigerung, die schließlich in Rymans weißer Wand bis an den Punkt getrieben wird, wo der Spielraum bildlichen Experimentierens nicht nur enorm eng, sondern umso mehr reglementiert ist. Sieht man jedoch von einer solchen oft erzählten Fortschrittsgeschichte ab, dann wird deutlich, wie sich zwischen dem Schwarzen Quadrat Malewitschs, den weißen Leinwänden Rauschenbergs und der weißen Wand Robert Rymans das eingangs erwähnte experimentelle Setting der letzten Bilder abzeichnet: Jeweils wird selbstbewusst eine Absage an die Bildtradition gemacht und jede vorausgegangene Innovation auf den Nullpunkt der leeren Leinwand zurückgeführt. Von dort aus wird dann aber wieder ein weitläufiges Neuland betreten, das das Experimentieren zum Wagnis macht. Am Anfang stand quasi der ›Paukenschlag‹ einer Bildzerstörung, die nur durch ein selbstbewusstes Bild, eine neue Ikone, möglich war. Am Ende steht dagegen das hermetische, auf seine plastische Nacktheit reduzierte Bild, das nun nicht nur um all das bereinigt ist, was vorher noch durch das herkömmliche, repräsentative Bildkonzept hinzugekommen war, sondern das sogar seine Grenzen zum Ausstellungsraum austesten muss. Nur auf den ersten Blick wirken die verschiedenen besprochenen Beispiele wie Wiederholungen des gleichen Experiments, das jeweils im nüchternen Ergebnis eines vermeintlich nackten Bildes endet: Natürlich sehen die leeren, weißen Bilder auf den ersten Blick recht ähnlich aus. Was will man auch anderes erwarten? Denn tatsächlich ist auf keinem das zu sehen, was man gemeinhin von einer bildlichen Darstellung erwartet. Umso stärker stehen die weißen Leinwände dann aber doch in einer je unterschiedlichen experimentellen Versuchsanordnung. Es beginnt mit dem demonstrativen Experiment Malewitschs, mit dem er offensiv die gesamte vorausgegangene Bildtradition infrage stellt. Darauf folgen die weißen Leinwände Rauschenbergs, in denen dieser das Bild auf seinen Umraum und auf den Betrachter hin öffnet. Am Ende steht die strenge Versuchsanordnung der weißen Bilder Rymans, in der alle Parameter des gemalten Bildes systematisch untersucht werden können.
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Insofern ist das Neuland der Malerei, das in diesen und vielen anderen Experimenten erschlossen wurde, keinesfalls so eng, wie es beim ersten Blick auf die paradoxen leeren Bilder erscheint. Es ist keine Sackgasse, sondern ein ähnlich weites Neuland, wie das verlassene Terrain.
L ITERATURVERZEICHNIS Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 7: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Albers, Josef: Interaction of Color. Grundlegung einer Didaktik des Sehens. Köln: Dumont 1997. Allais, Alphonse: Album Primo-Avrilesque [franz. Originalausgabe 1897]. Hrsg. u. eingel. von Andreas Bee. Heidelberg: Das Wunderhorn 1993. Bee, Andreas: Einleitung. In: Alphonse Allais: Album Primo-Avrilesque Hrsg. und eingel. von Andreas Bee. Heidelberg: Das Wunderhorn 1993. Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk. Die Mythen der modernen Kunst. München: Beck 1998. Cage, John: Experimental Music [1957]. In: Ders.: Silence. Lectures and Writings. Middletown: Wesleyan University Press 1973. S. 7–12. –––: On Robert Rauschenberg, Artist, and His Work [1961]. In: Ders.: Silence. Lectures and Writings. Middletown: Wesleyan University Press 1973. S. 98– 108. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Duve, Thierry de: The Monochrome and the Blank Canvas. In: Reconstructing Modernism. Hrsg. von Serge Guilbaut. Cambridge: MIT Press 1990. S. 244–310. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Folla, Michelle. Der Raum in der Malerei und in der Wahrnehmung. Seurat und Helmholtz. In: Georges Seurat. Figur im Raum. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich u. Schirn Kunsthalle Frankfurt 2009. S. 113–123. Greenberg, Clement: Nach dem Abstrakten Expressionismus [1962]. In: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hrsg. von Karlheinz Lüdeking. Dresden: Verl. der Kunst 1997. S. 314–335. Ingold, Felix: Welt und Bild. In: Was ist ein Bild? Hrsg. von Gottfried Boehm. München: Fink 1994. S. 367–410. Joseph, Brandon W.: White on White. In: Critical Inquiry 27 (2000) H. 1. S. 90–121.
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Vom Sinn der Sinnlichkeit Multimediale Sprachkunstexperimente
C HRISTIANE H EIBACH
ABSTRACT: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenden sich die entstehenden Avantgarden gegen den dominanten bürgerlichen Kunstbegriff, der sich um 1800 im Spannungsfeld von Geist und Sinnlichkeit konstituierte und die Einbildungskraft als geistiges Element gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung prämierte. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts entdecken die Sinnlichkeit und mit ihr den Körper als wichtiges Organ der ästhetischen Produktion und Rezeption neu. Auch die Literatur erhält damit neue Dimensionen, indem sie aus dem Buch heraus in den akustischen und teilweise auch multimedialen Raum transferiert wird. Diese Tendenzen setzen sich mit den Avantgarden der 1960er Jahre fort und münden in aktuelle interaktive Medienkunstinstallationen mit ihren mehrsensoriellen, den »bewegten Betrachter« (Annette Hünnekens) konstituierenden Umgebungen. Diese Tendenzen fordern die literaturund kunstwissenschaftliche Theorienbildung heraus, weil sie ein gesamtsinnliches und -psychisches Erleben konstituieren, für das bisher eine entsprechend komplexe wissenschaftliche Modellierung noch fehlt.
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S INNLICHE W AHRNEHMUNG UND L ITERATUR – A SPEKTE EINES S PANNUNGSVERHÄLTNISSES Im Film STRANGER THAN FICTION (USA 2006; Regie: Marc Foster) wird die imaginäre Welt des neuesten Buches der erfolgreichen Romanautorin Karen Eiffel durch den Einbruch der Realität kräftig durcheinander gewirbelt.1 Ihre Hauptfigur Harold Crick erweist sich fiktionsimmanent als ›realer‹ Mensch, der allerdings mit seinem romanesken Alter Ego völlig identisch ist. Die Fiktion dringt zunehmend in den Alltag des ›realen‹ Harold Crick ein, als dieser plötzlich die Stimme der Erzählerin hört und sich selber treffend beschrieben sieht und, noch schlimmer, von seinem geplanten fiktionalen Tod erfährt. In der Ahnung, dass die Romanwelt unerwünschten Einfluss auf sein Leben haben könnte, macht sich Harold fieberhaft auf die Suche nach seiner vermeintlichen Schicksalsmacht. Karen Eiffel, gespielt von Emma Thompson, ist fassungslos, als sich ihre imaginäre Hauptfigur plötzlich als sinnlich wahrnehmbarer Mensch entpuppt: Erst die Stimme am Telefon und dann die Begegnung, bei der sie sich der gesamten sicht-, hörund fühlbaren Gestalt Cricks gegenüber sieht, lassen sie vor Schreck verstummen. Ihr fertiger Romanentwurf, endend mit dem Tod des Helden, gerät angesichts der sinnlichen Realität des imaginär geglaubten Harold Crick ins Wanken. Tatsächlich erweist sich Karen Eiffel in ihrer autoritativen Allmacht als gescheitert: Zum einen ahnt sie nichts von der bevorstehenden Begegnung mit ihrem Helden, zum anderen entgleitet ihr die Macht über ihre fiktionale Welt von dem Augenblick an, von dem sie erst in stimmlichen, dann in visuellen Kontakt mit ihrem vermeintlichen Geschöpf tritt. Die Komödie STRANGER THAN FICTION spielt mit dem Verhältnis von Realität und Fiktion2 und siedelt die Konfrontation dieser beiden Welten im Moment der sinnlichen Wahrnehmung an. In der physischen Begegnung von Autorin und Hauptfigur beginnt die Realität zu siegen – die Sinne ent-
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Stranger than Fiction (dt.: Schräger als Fiktion; USA 2006). Regie: Marc Foster. Produktionsfirma: Columbia Pictures. Dass der Film natürlich selber Fiktion ist, ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Interessant ist allerdings, dass Karen Eiffel bei der ersten Begegnung mit ihrer Hauptfigur keinerlei Impuls verspürt, Harold Crick zu berühren. Sie verbleibt im Modus der audio-visuellen Wahrnehmung, die dem Rezeptionsmodus des Zuschauers im Kino entspricht.
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falten ihre Macht über das Fiktionale. Das Spiel zwischen diesen Sphären, auf dem der Film seine Wirkung aufbaut, kann jedoch nur gelingen, indem es das Spannungsverhältnis zwischen Einbildungskraft und sinnlicher Wahrnehmung im klassischen Dualismus der Zuordnung der ersteren zum Fiktionalen und der letzteren zur Realität aufgreift. Der Verlust der Autorenautonomie, den Karen Eiffel auf mehreren Ebenen durchleben muss, verweist somit nicht zuletzt auf die zwiespältige Stellung, die der sinnlichen Wahrnehmung in den westlichen Kulturen seit der Antike zugewiesen wird. Denn kulturgeschichtlich kommt der sinnlichen Wahrnehmung bis heute eine ambivalente Stellung zu: Die philosophischen Epistemologien, die sich in den letzten Jahrhunderten herausgebildet haben, spiegeln die Probleme wider, die der christlich geprägte Westen mit der Sinnlichkeit und der damit einhergehenden Naturgebundenheit des Menschen immer schon hatte und die gerade in der Folge der Aufklärung mit ihrer zunehmenden Konzentration auf das selbstbestimmte Individuum noch verschärft wurden. Motor dieses Konflikts ist die Vorstellung von einer Einschränkung der menschlichen Autonomie durch die Bindung an die Außenwelt, die durch die Wahrnehmungsorgane erfolgt. Die eigentlichen Erkenntnisprozesse, so die im Verlauf des neuzeitlichen Denkens seit Descartes zunehmend dominante Meinung, haben sich in erster Linie im Geiste zu vollziehen – und zwar einem Geiste, der zwar Daten der Außenwelt aufnimmt, diese aber nach eigenen Regeln verarbeitet und aus den inneren Informationsverarbeitungsorganen, vorzugsweise denen der Vernunft und der Einbildungskraft, seine Welterkenntnis schöpft. In der Zeit um 1800, in der das menschliche Subjekt als ein autonomes konstituiert wird, prägen derartige Vorstellungen die philosophische, aber auch die ästhetische Diskussion zunehmend.3 Repräsentativ und bis heute nach wie vor einflussreich schlägt sich die Ambivalenz der Bedeutung der Sinne in Immanuel Kants Erkenntnistheorie nieder, in der sich trotz der konstatierten Verbindung von sinnli-
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Für eine informative Übersicht über verschiedene Bewertungsaspekte der sinnlichen Wahrnehmung vgl. Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München: C. H. Beck 2000.
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cher Wahrnehmung und Verstand eine eindeutige Prämierung der von der sinnlichen Außenwelt unabhängigen Vernunft manifestiert.4 Ebenso sind die Kunst und deren Autonomisierungsprozess um 1800 inhärent gebunden an die Erhebung des von der Außenwelt weitgehend abgekoppelten inneren Sinnes der Einbildungskraft zum primären ästhetischen Organ sowohl der Produktion als auch der Rezeption. Insbesondere in der Frühromantik wird die Einbildungskraft als Ort der ästhetischen Tätigkeit konzipiert, die sogar in der Lage ist, die reale Welt entsprechend ihrem Willen umzuformen. »Der Roman ist ein Leben – als Buch«,5 schreibt Novalis und: »Vollk[ommne] Bücher machen Vorlesungen unnütz. Das Buch ist die in Striche (wie Musik) gesezte, und complettirte Natur.«6 Für die Poesie bedeutet diese Prämierung der Einbildungskraft einen Verlust ihrer sinnlichen Komponente. War sie zuvor, wie noch bei Lessing und Herder, immer auch als akustische, orale Kunst präsent, so treiben Klassik und Frühromantik die Bindung des poetischen Wortes an die Abstraktion des geschriebenen Buchstabens voran und begründen die bis heute weitgehend andauernde Koppelung der Literatur an das sinnlich deprivierte Medium des Buches. Durch Verarbeitung visueller Daten (Buchstaben, Worte, Sätze) generiert der Rezipient – so die Vorstellung, die sehr viel später von der Rezeptionsästhetik wissenschaftlich ausformuliert wurde – in einer Abschottung von der sinnlich wahrnehmbaren, äußeren Realität die imaginären Welten. In der Frühromantik wird der Roman auf diese Weise zum Abbild sowohl des Lebens als auch des gesamten Universums, so dass das real-physische Erleben durch den inneren Vollzug in der Imagination ersetzt werden kann.7 Die kreativen Prozesse der Einbildungskraft, ausgelöst von der ästhetischen Rezeption des Romans, sind an Intensität der sinnlichen
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Diesen Dualismus von Natur und Vernunft entwickelt Kant vor allem in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785): Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werke in zwölf Bdn. Bd. 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 11–102. Novalis: Vorarbeiten 1798. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Hrsg. von Joachim Mähl u. Richard Samuel. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1999. S. 311–420. S. 388. Novalis: Das allgemeine Brouillon. 2. Handschriftengruppe (1798). In: Ders.: Werke. Bd. 2. S. 561–639. S. 605. Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion dieser Entwicklung Christiane Heibach: Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform. München: Fink 2010. S. 84–88.
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Erfahrung mindestens gleichgesetzt – mehr noch: Sie zeugen von der Autonomie und Autopoiesis des Menschen gegenüber der Außenwelt. Die sinnliche Wahrnehmung geht der Literatur jedoch nicht völlig verloren – tatsächlich wird die poetische Sprache zum Kristallisationspunkt aller Sinne. Für Johann Gottfried Herder, dessen Ästhetik auf einer in ihrem Einfluss zunehmend schwächer werdenden sensualistischen Basis aufbaut, ist die Poesie – im Gegensatz zu den anderen Künsten – schon nicht mehr einem äußeren Sinn zuzuordnen: Sie wird zu der Kunst, die es vermag, alle sinnlichen Empfindungen in der Abstraktion der Sprache zusammenzuführen. Die Frühromantik spitzt diese von Herder formulierte Wirkungsmächtigkeit der Sprache noch zu: […] der Poesie allein ist es gegeben, das gesamte Gemüth des Menschen auszusprechen, sein ganzes äußeres und inneres Daseyn abzuschildern. Sie ist daher auch die Repräsentantin aller Künste und bildet sie gleichsam in sich vor8,
schreibt August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über schöne Kunst und Literatur (1801–1804) zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch die Bedeutung synästhetischer Empfindungen verlagert sich, wie E. T. A. Hoffmann anschaulich beschreibt, in die Imagination: Nicht sowohl im Traume als während des Einschlafens, vorzüglich wenn ich viel Musik gehört habe, finde ich die Übereinkunft der Farben, Töne, Düfte. Es kömmt mir vor, als wenn alle auf die gleiche geheimnisvolle Weise durch den Lichtstrahl erzeugt würden, und dann sich zu einem wundervollen Konzerte vereinigen müßten. Der Duft der dunkelroten Nelken wirkt mit sonderbarer magischer Gewalt auf mich; unwillkürlich versinke ich in einen träumerischen Zustand und höre dann, wie aus weiter Ferne, die anschwellenden und wieder verfließenden tiefen Töne des Bassethornes.9
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August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801– 1804). In: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Bd. 1: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803). Hrsg. von Ernst Behler. Paderborn: Schöningh 1989. S. 179– 781. S. 476. E. T. A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Kreisleriana 1–6. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bdn. Bd. 2/1: Fantasiestücke. Werke 1814. Hrsg. von Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main: Dt. Klassiker Verl. 1993. S. 32–82. S. 63.
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Zwar wird die real gehörte Musik hier zum Auslöser der synästhetischen Empfindungen, entscheidend allerdings ist zum einen der transitorische Zustand beim Übergang vom Wachen zum Schlafen, zum anderen der imaginative Charakter der Synästhesien. Diese werden durch die Erinnerung an den äußeren Sinnesreiz erzeugt und entstehen somit zeitversetzt zum eigentlichen Reiz, der geistig rekonstruiert wird. Wir werden in der Frühromantik generell mit einem Synästhesiebegriff konfrontiert, der sich weniger an der multimodalen sinnlichen Wahrnehmung orientiert, sondern dessen Effekte vielmehr in der synästhetisch konzipierten Einbildungskraft angesiedelt werden. Die stärkste ›Materialisierung‹ erhalten Synästhesien daher in der Frühromantik in der poetischen Sprache: Erzählungen wie das Klingsor-Märchen aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (posthum 1802), das auch als Allegorie auf das Verhältnis von Poesie und Sinnlichkeit gelesen werden kann, oder die eigengesetzlichen Phantasiewelten E. T. A. Hoffmanns, die oftmals durch komplexe Sinneskoppelungen gekennzeichnet sind, weisen der äußeren Wahrnehmung durchaus eine große Bedeutung zu, die jedoch erst durch die Eigentätigkeit der Einbildungskraft in der Konstruktion des Imaginären zur eigentlichen Entfaltung gebracht werden. Sinnliche Wahrnehmung ist somit nur ein peripherer Baustein zur Konstruktion von Welten, die zu einer nüchternen, kausal-rational funktionierenden Realität lediglich lose Beziehungen aufweisen. Die Verlagerung der sinnlichen Wahrnehmung in die Imagination hat uns eine ungeheure Bereicherung literarischer Formen und Schreibweisen beschert und dennoch gleichzeitig das Verhältnis der Literatur zur Sinnlichkeit mit großer Spannung aufgeladen – einer Spannung, die, wie STRANGER THAN FICTION zeigt, bis heute ein Definiens des Literarischen geblieben ist. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist das Subversive, das Experiment, das mitunter genau diese sinnliche Abstraktion der Literatur auszuhebeln versucht – auf verschiedenen Ebenen und mit einem Arsenal unterschiedlicher Strategien.
H ERAUSFORDERUNG DER S INNE : S PRACHKUNST JENSEITS DES B UCHES Während sich die Literatur seit 1800 von der konkreten sinnlichen Empfindung löst und diese in ein Reich der Imagination und Reflexion überführt,
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hat das Buch als materielles Medium seit seiner Existenz durchaus eine Karriere als sinnlich erfahrbares Experimentierobjekt gemacht. Doch um den Bereich der Buchkunst soll es in der Folge nicht gehen. Auch Experimente der visuellen Poesie, die sich seit der Antike jenseits der Buchform bewegen, stehen hier nicht zur Debatte.10 Besonders interessant – und in der Folge stehen die jüngeren Entwicklungen dieser Tendenzen im Mittelpunkt – werden Formen der Sprachkunst jenseits des Buches vor allem ab dem Zeitpunkt, an dem sich eine mediale Festlegung der Literatur auf das Buch kulturell durchsetzt. So gibt es auch in neuester Zeit immer wieder Versuche der Subversion des Buches und seiner materiellen Eigenschaften: Zwingt die Buchform mit ihrer festgelegten Seitenfolge das Erzählen in eine gewisse Linearität, so fordert gerade dieser Zwang zur Suche nach Subversionsstrategien heraus. Schon E. T. A. Hoffmann führt in den LebensAnsichten des Katers Murr (1819/1821) eine angeblich versehentliche Kompilation unterschiedlicher Manuskripte virtuos vor. Die Kombination zweier unterschiedlicher Erzählungen und damit einhergehend auch verschiedener Erzählperspektiven entfaltet ihre besondere Irritation gerade in der Immobilität der buchdruckerischen Seitenfolge. Nutzt Hoffmann das Buch als mediale Basis für die Entwicklung von Schreibtechniken, die die materielle Linearität nutzen, um narrative Delinearität zu entwickeln, so sind die im 20. Jahrhundert zunehmenden literarischen Experimente häufig jenseits des Buches angesiedelt: Konrad Balder Schäuffelen verabschiedet sich etwa in seinen Lotterieromanen11 der 1960er und 1970er Jahre von den medialen Beschränkungen des Buches und torpediert jede narrative Stringenz durch kurze Texte, die auf kleine, vom Leser zu entfaltenden und beliebig anzuordnenden Papierröllchen gebannt werden. Das Modulare solcher Experimente, die in den 1960er Jahren und 1970er Jahren in verschiedensten Formen Konjunktur hatten, liefert nicht zuletzt ein Modell für die ersten computerbasierten literarischen Experimente der 1980er Jahre, die sogenannten Hyperfictions, die über die
10 Vgl. zu einer historischen Übersicht der Figurengedichte seit der Antike: Jeremy Adler u. Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim: VCH 1987. 11 Beispielsweise Konrad Balder Schäuffelen: Deus ex Skatola. Entwicklungsroman. O. O.: o. V. 1964 (Papierrollen in einer Holzbox, Auflage: 50 Stück).
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Linktechnologie eine Vielfalt von Kombinationsmöglichkeiten eröffnen12 und als Befreiung des Lesers von der Diktatur der vom Autor verordneten Linearität gefeiert wurden.13 De facto bezahlt allerdings der Rezipient mit einem fast zwangsläufig eintretenden Orientierungsverlust, da die narrativen Stränge häufig nicht mehr zurückzuverfolgen sind und ihn weitgehend hilflos in einem vom Autor erdachten Textmoduluniversum herumtappen lassen, ohne dass sich ein wirkliches Lesevergnügen einstellen könnte. So wundert es kaum, dass hypertextuelles Erzählen bis heute ein Nischendasein führt. Es greift narrative Techniken der Buchkultur auf, die sich nur entwickeln konnten, weil die Linearität und Beständigkeit des Mediums durch die Möglichkeit des Zurückblätterns und Wiederlesens eine Orientierung liefert. Der Transfer in die digitale Unbeständigkeit, die das wiederholte Lesen verhindert, lässt jedoch den nach narrativen, roten Fäden lechzenden Leser zumeist frustriert zurück. Im Zuge der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts entwickelt sich insgesamt ein neues Bewusstsein für die sinnliche Erfahrbarkeit von Literatur jenseits des Auges und der visuellen Wahrnehmung der Buchstabenschrift. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – als angesichts der sich rapide verändernden, immer stärker technologisierten und beschleunigten Umwelt die etablierten Ausdrucksformen der Literatur nicht mehr ausreichend erscheinen, um der zunehmenden alltagsweltlichen Komplexität gerecht zu werden – formieren sich die künstlerischen Avantgarden, um dem bürgerlichen Kunstbegriff, der das Imaginär-Geistige in romantischer Tradition für
12 Die Hyperfictions markieren nicht den Beginn der Experimente mit computerbasierter Literatur. Schon zu Beginn der 1960er Jahre gab es einige Versuche mit automatisch generierten Texten, beispielsweise in der Stuttgarter Schule um Max Bense. Vgl. für eine Übersicht zum Verhältnis von Literatur und Computer: Christiane Heibach: Literatur im Internet. Theorie und Praxis einer kooperativen Ästhetik. Berlin: dissertation.de 2000; auch: http://www.netzaesthetik.de/ inhalt/Aufsaetze/heibach_diss.pdf (24. Januar 2012). 13 Insbesondere im anglophonen Bereich, in dem diese Frühformen computerbasierter Prosa ihren Ursprung hatten, wurde unter Adaption poststrukturalistischer Topoi wie des Rhizoms und der Entmachtung des Autors eine derartige Hypostasierung betrieben. George P. Landow prägte im Zusammenhang mit der Hyperfiction den Begriff des »wreaders«, der nun eigenständig seine Geschichte zusammenstellen könne. Vgl. George P. Landow: What’s a Critic to Do? Critical Theory in the Age of Hypertext. In: Hyper / Text / Theory. Hrsg. von George P. Landow. Baltimore: John Hopkins University Press 1994. S. 1–47. S. 14.
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das höchste kulturelle Gut hielt, den Garaus zu machen. Der Dualismus von Geist und Körper, von Imagination und Sinnlichkeit scheint nicht mehr tauglich für die künstlerische Weltreflexion. Experimentell zu sein, bedeutet für die Avantgarden in erster Linie etablierte Grenzen zu überschreiten und historisch entstandene kulturelle Standardisierungen in Frage zu stellen. Der Experiment-Begriff impliziert natürlich mehr – je nachdem, in welchem Bereich er verwendet wird, haften ihm unterschiedliche Eigenschaften an. In den Naturwissenschaften, in denen das Experiment vom 17. Jahrhundert an zunehmend zur dominanten Methode wird,14 bezeichnet das Experiment eine nach definierten Rahmenbedingungen aufgebaute Laborsituation, in der eine Hypothese am Material überprüft werden soll. Kunst und Literatur dagegen orientieren sich im Kontrast zu diesem methodisch ›harten‹ Experimentbegriff am Alltagsverständnis des Experiments als einem unsicheren, im Ausgang ungewissen Prozess, der sich etablierten kulturellen Kategorien widersetzt, indem er neue Wege beschreitet – um etwa durch Grenzüberschreitungen neue Gattungen zu generieren, eine neue Künstler-Rezipienten-Beziehung zu erkunden oder die ästhetischen Potentiale neuer Medien auszuloten.15 Die unterschiedlichen Auffassungen
14 Bruno Latour hat diese Verschiebung vom Transzendenten zum Empirischen am Beispiel von Robert Boyles Vakuumpumpe mit Rekurs auf die Studie Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life (1985) von Steven Shapin und Simon Schaffer beschrieben, die nicht nur die naturwissenschaftliche Methode, sondern auch die Kategorien der Wahrheit neu definiert. (Augen-)Zeugenschaft wird zum Garant für die Richtigkeit von wissenschaftlichen Resultaten. Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Fischer 1998. S. 35. Für das 19. Jahrhundert diagnostiziert Lorraine Daston eine Verschränkung dieses Paradigmas der Augenzeugenschaft mit Aspekten des Expertentums der Wissenschaftlerperson: Deren von Institutionen und der Wissenschaftlergemeinde verliehene Autorität garantiert die Richtigkeit experimenteller Ergebnisse, selbst wenn sich diese nicht wiederholen lassen, obwohl die Wiederholbarkeit ein Definiens des naturwissenschaftlichen Experiments darstellt. Damit tritt neben die Beweiskraft der Empirie das Urteil der vernetzten und institutionalisierten Wissenschaftlergemeinschaft über die Person des Urhebers von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vgl. Lorraine Daston: Objektivität und die Flucht aus der Perspektive. In: Dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer 2001. S. 127–155. S. 144 f. 15 Vgl. Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. von Siegfried J. Schmidt. München: Fink 1978 (= Beiträge und Diskussionen der Karlsruher Tage für ex-
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von Experimenten in den Naturwissenschaften und den Künsten richten sich nicht zuletzt auch nach den jeweiligen Kontexten. Für die Kunst ist das Experimentelle in erster Linie mit der Infragestellung des Bestehenden verbunden und der Auslotung neuer Perspektiven für die ästhetische Produktion, Gestaltung und Rezeption. Beiden Experiment-Verständnissen haftet allerdings das Prozesshafte und, damit verbunden, auch ein gewisses Maß an Unvorhersehbarem, Zufälligem an. Die Avantgarden widmen sich allen drei hier erwähnten Aspekten (die selbstverständlich die Dimensionen des künstlerischen Experiments nicht erschöpfen). So werden auf der Materialebene in Abgrenzung von der visuellen Buchliteratur die akustischen Qualitäten der Literatur wiederentdeckt und damit semantische Verschiebungen vorgenommen, die sich von der Erschaffung imaginärer, literarischer Welten entfernen und auf ein experimentelles Erkunden der sprachlichen Sinnlichkeit abzielen. Sie verändern damit sowohl die Bedingungen für die Produktion und die Gestaltung von Sprache als auch die Rezeptionsmodi des Publikums. Berühmtestes Beispiel für die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der semantisch-sinngebenden Funktion der Sprache hin zur reinen Lautlichkeit ist Kurt Schwitters Ursonate (1923–1932), die sich allerdings in einer doppelten Materialisierung von schriftlicher Partitur und stimmlicher Performanz manifestiert: Entfaltet die gesprochene Variante in der Vielfalt der stimmlichen Gestaltung ihre Wirkung, so sind die auf die musikalische Sonatenform referierenden, strukturellen Elemente nur in der Partitur nachzuvollziehen. Gleichzeitig fehlen allerdings in der von Jan Tschichold gestalteten Typographie Angaben zu Stimmhöhe, Lautstärke und Tempo, für die zwar die Musiktheorie entsprechende Bezeichnungen hat, die hier aber ausgeklammert sind und zudem für die genaue Festlegung einer akustischen ›Umsetzung‹ ohnehin zu unpräzise wären.
perimentelle Kunst und Kunstwissenschaft 5). S. 8 f. Schmidt bezeichnet das Experimentelle in Kunst und Literatur mehr als »eine bestimmte Haltung/Einstellung zur Kunst, ihren Strukturen und Funktionen« (S. 10) denn als einen Prozess nach feststehenden und transparent zu machenden Bedingungen.
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Abb. 1: Kurt Schwitters: Ursonate (1922–1932)
Quelle: Partitur (Ausschnitt)16
Partitur und stimmliche Umsetzung übernehmen unterschiedliche Funktionen, indem erstere Auskunft über die Kompositionsstruktur gibt, während letztere die lautlichen Dimensionen der Sprache in den Mittelpunkt stellt – die Komplexität der Ursonate erschließt sich somit nur im Zusammenspiel von akustisch-stimmlicher Umsetzung und schriftlicher Fixierung. Diese Komplementarität verweist einerseits auf die jeweiligen Grenzen des Einzelmediums, die nur durch die intermediale Kombination aufgehoben werden können, und andererseits auf eine Sprachkunst, die mehrerer Medien bedarf, um ihre Wirkung voll zu entfalten. Eine Performance des Stimmund Sprechkünstlers Jaap Blonk macht diese Komplementarität von Optik
16 Kurt Schwitters: Die literarischen Werke. Bd. 1: Lyrik. Hrsg. von Friedhelm Flach. Köln: DuMont 1998. S. 214.
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und Akustik in einer Neuinterpretation der Ursonate fruchtbar und führt diese mit Hilfe der Computertechnologie in einen performativen, mehrsensoriellen Raum zusammen:17 Während Blonk seine Interpretation der Ursonate live präsentiert, wird seine Performance auf eine Leinwand projiziert und mit der Partitur gekoppelt, die in bewegter Schrift in das Video ›hineinmäandert‹. In der Tradition der visuellen Poesie variiert – je nach Lautstärke und Sprechtempo – die Größe der Buchstaben, deren Schnelligkeit sowie deren Positionierung auf der Leinwand. Eine derartige plakative Koppelung von Stimme und Partitur als ›Schrift in Bewegung‹ verflacht einerseits die Spannung zwischen schriftlicher Partitur und akustischer Manifestation. Andererseits verdeutlicht sie die Interpretationsbreite, die durch die mangelnde Festlegung der Vortragsweise gegeben ist: Da die ›Untertitel‹, wie man sie nennen könnte, in Relation zu den akustischen Kriterien der Lautstärke und Schnelligkeit des aktuell Gesprochenen stehen und in Echtzeit generiert werden, sind sie in ihrer Gestaltung inhärent an die Stimme gekoppelt und somit auch beliebig veränderbar. Eine andere Sprechweise hat demnach auch eine andere Visualisierung zur Folge. Die Fixierung der Partitur ist damit aufgehoben und geht in der performativen Dimension der Ursonate auf – das Stück wird zur ephemeren, in dieser Form nicht mehr wiederholbaren audio-visuellen Aufführung. In diesem Sinne wiederum könnte das Konzept von Ursonography, wie Blonk und Golan ihre Realisierung nennen, tatsächlich Schwitters Intentionen radikalisieren. Auch die konkrete Poesie der 1960er Jahre greift die Idee der sensoriellen Erweiterung der Sprachkunst auf und radikalisiert sie, indem sie durch den Transfer ins Akustische nicht nur, wie der Dadaismus, die Entsemantisierung der Sprache betreibt, sondern zu einer Dekonstruktion semantischer Spracheinheiten mit akustischen Mitteln übergeht, wie sie von Franz Mon in seinem sprachmusikalischen Stück da du der bist (1973) vorgeführt wird. Der Titelsatz wird in seine Einzelklänge zerlegt, die in unterschiedlichen, musikalisierten Variationen teilweise polyphon wieder zusammengesetzt und somit schließlich reiner akustischer Ausdruck werden – allerdings mit verschiedenen, durch Intonations- und Rhythmuswechsel markierten semantischen Implikationen. Diese sprachmusikalischen Metamorphosen
17 Vgl. Jaap Blonk u. Levin Golan: Ursonography (2005). http://www.flong.com/ projects/ursonography/ (24. Januar 2012).
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fächern die pragmatischen Ebenen des Satzes und seiner Variationen auf – als Frage der anderen, als Befehl, als Echo des eigenen Inneren, als Forderung der Umwelt, die zum Schluss das »da du der bist« in »du bist er«18 übergehen lässt und die Identitätsaussage durch klangliche Transformation grundlegend in Frage stellt. Die experimentelle Lautpoesie konzentriert sich auf die Stimme und die lautlichen Artikulationsvarianten. Alle sprachlichen Einheiten – Phonem, Wort und Satz – stellen die Materialien dar, die nach verschiedenen Prinzipien zu Klang-Clustern aufgebaut werden und – wie im Falle von Franz Mons da du der bist – der Vokalmusik nahestehen können. Diese Experimente zeigen kaum mehr Bezug zur Schriftsprache, die durch optisch klare Abgrenzung, Betonung der Distinktionsmerkmale und – zumindest im Normalfall – linear-sukzessive Buchstabenanordnung gekennzeichnet ist. Die Lautpoesie nutzt die sehr komplexen, aber durch die Fixierung der Sprache auf die Schrift kulturell bis heute vernachlässigten Eigenschaften des Stimmlich-Akustischen zur Entfaltung einer eigenen poetischen Ästhetik. Durch die Technologisierung – zunächst in Grammophon und Radio, ab den 1960er Jahren dann durch avanciertere Aufnahmegeräte bis hin zur heutigen Computertechnologie – nimmt das Akustisch-Experimentelle Dimensionen an, die die sinnlichen Kapazitäten des normalen Hörens häufig überschreiten. Für diese Komplexitätssteigerung, die ihre rein musikalische Entsprechung in den teilweise technisch sehr aufwändigen Experimenten der Neuen Musik, etwa von Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen, hat, steht John Cages 1979 aufgenommenes Stück Roaratorio. Cage arbeitet mit Mesostichen, die er aus James Joyces Finnegans Wake (1939) bildet. Kern des Mesostichons ist ›James Joyce‹: Aus einer zufällig gewählten Seite gruppiert Cage das erste Wort, das ein ›J‹, aber danach kein ›a‹ enthält in die erste Zeile, das nächste mit einem ›a‹ (aber keinem darauffolgenden ›m‹) etc., bis der Name mit Worten aus der Seite gebildet ist. Ein Beispiel:
18 Franz Mon: da du der bist [1973]. WDR, Köln 1974, auf: futura. POESIA SONORA. Antologia storico critica della poesia sonora a cura di Arrigo LoraTotino. Milano: Cramps Records 1978, außerdem im Web unter: http://u bumexico.centro.org.mx/sound/mon_franz/Mon-Franz_Da-du-der-bist.mp3 (24. Januar 2012).
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from his Jumping the older one is Erik SAtie he never stops sMiling and thE younger one iS joyce, thirty-nine he Jumps with his back tO the audience for all we know he maY be quietly weeping or silently laughing or both you just Can't tEll19
Auf diese Weise konstituiert Cage einen neuen Text aus dem Wortmaterial des Romans, der gleichzeitig auch als Wegweiser zur Erstellung des Klangraums dient. Die Geräusch- und Klangebenen wurden per Zufallsoperationen aus den im Roman erwähnten Orten und Geräuschen ausgewürfelt. Das Ergebnis ist ein nahezu kakophonischer, gleichwohl jedoch durchkomponierter Klangraum, in dem Cage den Text spricht. Die 2293 verwendeten Geräusche wurden, so schildert es Petra Maria Meyer in ihrer ausführlichen Analyse, in insgesamt 64 akustischen Schichten montiert, die die Komplexität des Klangraums erzeugen.20 Gleichzeitig integriert Cages Experiment die live gesprochene Sprache dergestalt, dass ihre Bedeutungsebene in der akustischen Ausdrucksdimension nahezu verschwindet. Die literarische Vorlage dient jedoch nicht nur als sprachliches Material, sondern liefert auch die topographische Landkarte, deren Orte in charakteristischen Klangkompositionen repräsentiert werden. Durch das Zusammenspiel von komplexer technologiebasierter Montage und LivePerformance erhält das Stück eine zusätzliche Erlebnisdimension, die im eigentlichen Aufführungsereignis verortet ist. Peter Greenaways Dokumentation FOUR AMERICAN COMPOSERS (GB 1983)21 zeigt eine Aufführung von Roaratorio, in der die Musiker auf
19 Beispiel aus: Marjorie Perloff: The Music of Verbal Space. John Cage’s »What You Say« (1996). http://wings.buffalo.edu/epc/authors/perloff/cage.html (24. Januar 2012). 20 Vgl. Petra Maria Mayer: Die Stimme und ihre Schrift. Die Graphophonie der akustischen Kunst. Wien: Passagen 1993. S. 199 f. 21 Zu Greenaways FOUR AMERICAN COMPOSERS vgl. auch den Beitrag von Nina Noeske in diesem Band.
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einer den Zuschauerraum umgebenden Balustrade verteilt sitzen und in stetiger Kommunikation miteinander ihre Einsätze und teilweise auch Improvisationen miteinander abstimmen.22 Durch die Gruppierung um den deutlich tiefer liegenden Zuschauerraum erhält man (als Zuschauer des Dokumentarfilmes über die Live-Performance) zumindest eine Idee von dem umfassend sinnlichen Eindruck, den das Arrangement erzeugt haben dürfte – nicht nur als audiovisuelles, sondern auch als gesamtphysisches Erleben. Ein derartiger Umgang mit einem literarischen Text erweitert dessen Welt um die Sinnlichkeit des Akustischen und führt uns die implizite sensuelle Komplementarität sprachgebundener Kunst vor Augen, auch und gerade weil er den Unterschied der visuellen und akustischen Wahrnehmung thematisiert. Das differentielle, auf Distinktion und Reflexion ausgelegte, visuelle Verarbeiten der geschriebenen Sprache steht Klang-Clustern gegenüber, die weniger auf bewusste Verständigung, sondern vielmehr auf die simultane Erfahrung eines Klangraums abzielen, in dem man zumeist eher die Gesamtheit und weniger die Einzelteile wahrnimmt. So entsteht eine Atmosphäre, deren Elemente kaum mehr kategorial unterscheidbar sind und die nicht nur akustisch, sondern in der Live-Performance nahezu gesamtkörperlich erfahrbar wird.
D ER » BEWEGTE B ETRACHTER «: 23 M EHRSENSORIELLE INTERAKTIVE S PRACHUMGEBUNGEN Fortgeführt werden solche sinnlichen Immersionsexperimente24 durch Räume, in denen der Rezipient sich nicht mehr nur einem fremd-erzeugten Sprachwerk gegenübergestellt sieht, sondern in eine Umgebung integriert wird, in der er sich selbst bewegt und die er mit seinem Körper beeinflusst.
22 Four American Composers (GB 1983). Regie: Peter Greenaway. Produktionsfirma: Trans Atlantic Films. 23 So lautet der Titel einer der ersten Untersuchungen zu den Veränderungen der traditionellen künstlerischen Kategorien durch Kunst mit neuen Medien: Annette Hünnekens: Der bewegte Betrachter. Theorien der interaktiven Medienkunst. Köln: Wienand 1997. 24 Unter ›Immersion‹ (lat. immersio – Eintauchen) versteht man ein Umfeld, das den Betrachter völlig umgibt und in eine artifizielle Welt hineinzieht. Der Ausdruck wird zumeist für virtuelle Welten verwendet.
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Digitale Technologien ermöglichen neuartige Erlebnisräume, in denen durch Rückkoppelungsbeziehungen zwischen bewegtem Betrachter und Installation das Sprachwerk erst entsteht – allerdings unter Voraussetzungen, die vorher von den Künstlern durch Programmierung und Einrichtung der technologischen Infrastruktur festgelegt wurden. Zumeist wird dabei mit bewegtem Text gearbeitet, der auf unterschiedliche Weise generiert und/oder projiziert wird. Die Komplexitätsgrade dieser intermedialen Räume variieren sowohl seitens der Installationsstruktur als auch seitens der vom Nutzer geforderten Aktivitäten. So steht die Installation TextRain (1999) von Camille Utterback und Romy Achituv25 für eine Gruppe interaktiver Kunst, die mit relativ einfacher Rückkoppelungsstruktur arbeitet: Der zwischen einer Leinwand und einem Projektor stehende Benutzer sieht sich einem virtuellen Buchstabenregen gegenüber, der durch den Schatten, den er selbst auf die Leinwand wirft, aufgehalten wird und sich sukzessive zu Wörtern bzw. Gedichtzeilen formt. Abb. 2: Camille Utterback und Romy Achituv: TextRain (1999)
Quelle: Ars Electronica Center26
25 Vgl. Camille Utterbeck u. Romy Achituv: TextRain (1999). http://camilleutter back.com/projects/text-rain/ (24. Januar 2012). 26 O. A. (Ars Electronica): TextRain (1999). http://www.aec.at/bilderclient_detail_ en.php?id=1988&iAreaID=49 (25. April 2010 | nicht mehr abrufbar).
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Die Bewegungen und spielerischen Interventionen des Benutzers können den Textregen auch in ständiger Dynamik halten, so dass dieser sich nicht sinnbildend auf den Konturen des Benutzerschattens niederlässt. Somit findet eine ›Verkörperlichung‹ des Textes in doppelter Hinsicht statt: Zum einen benötigt der Text den Körper des Betrachters, um seine Semantik wahrnehmbar werden zu lassen. Zum anderen erhält der Text durch die Volatilität der fallenden virtuellen Buchstaben eine zusätzliche visuelltaktile Dimension, die den Benutzer scheinbar physisch in den Text hineingehen und durch seine Bewegungen mit den Buchstaben spielen lässt. Dem klassischen Rezeptionsmodus des Lesens geht damit eine physische Tätigkeit voran, die eine sensuelle, visuell-kinästhetische Propriozeption zur Folge hat und den Fokus vom Lesen auf die körperliche Bewegung und das Spiel mit der Projektion verschiebt. Insofern stehen auch weniger die literarisch-poetischen Qualitäten des zu herabfallenden Buchstaben dekonstruierten Gedichts im Mittelpunkt, vielmehr wird die imaginäre Welt des Gedichts um die reale der physischen Bewegung im Spiel mit den Buchstaben erweitert und der Text somit auf mehreren Ebenen erlebt. Aufgegriffen wird dieser Transfer einer passiv-imaginären Leserezeption zu einer physisch-propriozeptiven Handlung in Experimenten des interaktiven Tanzes. Über Motion-Tracking, also Kameras, die dem Tänzerkörper folgen, werden dessen Bewegungen nach programmierten Parametern verarbeitet, als akustische und/oder visuelle Signale ausgegeben und wiederum durch den Tänzer steuerbar. Talking Bodies (2005), ein Stück der ›Palindrome inter.media Performance Group‹,27 steht für eine Reihe interaktiver Tanzstücke, bei denen der Körper als Schnittstelle fungiert, indem seine Bewegungen die akustischen und visuellen Effekte erzeugen. Aus der Koppelung von tänzerischer Körperbewegung und akustischen sowie visuellen Sprachfragmenten wird in diesen Experimenten ein neuer ästhetischer Interaktionsraum kreiert, in dem Sprache ein Resultat der körperlichen Bewegung ist. Für den Tänzer wiederum bedeutet das Bewusstsein über die transmediale Funktion seines Körpers, dass sich seine Bewegungen an die Möglichkeiten der Sprachgenerierung anpassen und er sich nach den vorgenommenen, progammiertechnischen Verbindungen von be-
27 O. A.: »Talking Bodies« (2005). http://www.palindrome.de/content/infos/stutt. htm (24. Januar 2012). Heute nennt sich die Kompanie »Palindrome Dance Company«.
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stimmten Bewegungen mit bestimmten Wörtern zu richten hat. Diese Form der Mensch-Maschine-Interaktion, innerhalb derer der Tänzer als Interface fungiert, verlangt somit eine hohe Disziplinierung des Körpers, gleichzeitig birgt sie aber auch eine gewisse Unvorhersehbarkeit in der Entwicklung des Stückes – der Tänzer hat immer die Möglichkeit, sich aus der intentionalen Worterzeugung zu lösen und die Textproduktion durch unwillkürliche Bewegungen dem Zufall anheim zu geben. Gegenüber dem klassischen Tanz, bei dem die Choreographie der Musik folgt, bedeuten derartige intermediale Koppelungen, dass die Aufmerksamkeit der Tänzer nicht mehr nur dem eigenen Körper gewidmet ist, sondern sich auf Raum, Akustik und Projektion gleichermaßen verteilen muss – eine Komplexitätsinduktion der sinnlichen Wahrnehmungsmodi und ihrer Verbindungen.28 Sprache kann jedoch nicht nur durch computergenerative Mechanismen in Wechselwirkung mit dem menschlichen Körper treten und somit Imagination als traditionelle ästhetische Rezeptionshaltung mit physischer Propriozeption koppeln, sondern sie kann – wie schon bei John Cages Roaratorio-Projekt zu sehen war – Literatur modifizieren und in andere Medien transformieren. Dabei handelt es sich um eine Form der Aneignung, die durch die Veränderung der medialen Basis völlig neue Dimensionen erhält. Daniela Alina Plewes Installation Ultima Ratio (1997) reduziert zunächst eine Vielzahl literarischer Quellen auf ihren Fundus an emotionalen Dilemmata, Paradoxien und Ambivalenzen. Plewe zerlegt literarische Textstellen mittels der Programmiersprache ›Prolog‹ in ihre logischen Sequenzen, hier etwa die Szene aus Hamlet, in der dieser überlegt, ob er den betenden Claudius töten darf: Hamlet Act 3, Scene 3 Hamlet. [approaches the entry to the lobby] Now might I do it pat, now a’ is a-praying – Fact: praying(claudius)
28 Zu einer detaillierten Untersuchung der theoretischen und praktischen Konsequenzen des interaktiven Tanzes vgl. Peter Purg: Körper im elektronischen Raum. Modelle für Menschen und interaktive Systeme (2004). http://www.dbthueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-4687/purgdiss.html (24. Januar 2012).
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And now I do ’t, [he draws his sword] and so a’ goes to heaven, Rule: in_heaven(Y)