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German Pages 376 [391] Year 1980
Dieter S Ohlenstedt
Wirkungsästhetische Analysen
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Dieter Schlenstedt
Wirkungs ästhetische Analysen Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur
Akademie-Verlag • Berlin 1979
Erschienen im Akademie -Verlag, D D R — 1080 Berlin, Leipziger Str. 3—4 2. Bindequote © Akademie-Verlag Berlin 1979 Lektor: Dr. Edelgard Schmidt Lizenznummer: 202 • 100/151/79 Gesamtherstellung.- IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5635 Bestellnummer: 752966 5 (2150/40) • LSV 8001 Printed in G D R DDR 12,-M
Inhalt
9
Einleitung Funktionswandel
zur Literatur kollektiver
Selbstverständigung
Einführung: Eine neue Phase unserer Literatur Veränderungen im Gegenstand „Gegenwart" Unruhe des freieren Blicks Zwei Aspekte neuer Funktionsspezifik Polemik im Literaturprozeß Die Leser im Spiel der
15 21 27 35 45
Schriftstellerreflexion
Einführung: Das Publikum - Bezugspunkt literaturprogrammatischen Denkens Entwicklungsschritte wirkungsästhetischer Überlegungen am Beispiel Anna Seghers Probleme der Literaturwirkung in der Übergangsperiode 54 - Probleme der Literaturwirkung im Aufbau des entwickelten Sozialismus 60
51 54
Kooperation von Leser und Autor im Literaturprozeß . . Das Bild vom Leser als Ko-Autor, Förderer und Kritiker der Literatur 68 - Das Konzept kollektiver literarischer Produktion - ein Zwischenspiel 74 - Demokratische Organisationsform sozialistischer Literatur 80
67
Exkurs: Realer und idealisierter Leser
86
Lektüre als eine Produktion Ideen vom offenen Werk 94 - Entwurf und Kritik der Lesepraktiken 102
92
Schreiben - Vorgang unter Leuten Unterhaltung oder ästhetische Emanzipation
110 der Le5
ser 111 - Die antirhetorische Wendung 118 - Literatur als Selbstzweck 128 - Eingreifende Literatur „nach Brecht" 139
Vorgangsfiguren - Organisationsformen sozialer Erfahrung I Einführung: Spektrum und Reihen von Vorgangsfiguren . Konzentrationspunkte literarischer Aufmerksamkeit 156 - Individualität und Kollektivität in der Strukturbildung 166 Geschichte der Vorgangsfigur „Einordnung in die Welt sozialistischer Praxis" Der unzuständige Held 177 - Exkurs: Poetisierte Industrielandschaft als pädagogische Provinz 184 - Gewinn von Dialektik und neue Wirkungsstrategie 192 - Umkehrung der konventionalisierten Figur 203 Probleme der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung"
149
173
209
Der positive Held im sozialistischen Spannungsfeld 213 - Hauptmomente eines neuen Wirkungspotentials 220 Exkurs: Die Leseranrede als Verfahren der Literatur sozialismusinterner Auseinandersetzung 230 - Gegensätze im Umbau der Vorgangsfigur 236 Entwürfe eines bergenden und offenen Lebens
249
Prosa schreiben - Organisationsformen sozialer Erfahrung II Einführung: Umbau des Gattungsfeldes Prosa
255
Freigesetzte Phantastik und intensive Wirklichkeitsbinduog . Träume und „gestellte" Kunst 259 - Objektive und subjektive Authentizität 263 - Kritik des „Üblichen" in der Literatur 271
259
Belebung von dokumentarischer Prosa und Kurzgeschichte . Ästhetische Gestalten am Material der Realität 276 Vorzeigen des Alltäglichen 283
274
Beispiel komplexer Form: Reflektierter Bericht und Erzählungsfragmente Problematisierung der Fiktionalität 290 - Vorgangsfigur „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" 293 - Angriffspunkte der subjektiven Authentizität 297
6
288
Beispiel komplexer Form: Episodik und Redefiktionen . Naives Erzählen und politische Arbeit 304 - Vorgangsfigur „Befragung eigener Geschichte" 306 - Der kritische Impuls des Geschichtenerzählens und der unrhetorischen Rhetorik 312
303
Prosa als energische Literaturart
317
Anmerkungen
331
Personenregister
373
7
. . . wir leben der besseren Gewißheit, daß unser Verein nur dann gedeihen könne, wenn seine Mitglieder nicht die Gegenstände einer noch so wohlgemeinten Erziehungskunst seien, sondern als freie Männer und Frauen prüfend und wählend, erobernd und erwerbend, und sei es auch manchmal tastend und irrend, die Geistesschätze der dramatischen Weltliteratur sich zu eigen machten. Franz Mehring 1893
Ein Roman hat nichts mit einem Leitartikel zu tun. Er macht Handlungen und Regungen von Menschen unter verschiedenen gesellschaftlichen Zuständen bewußt, oft ungeachtete und unbeabsichtigte Handlungen, oft geheime und verkappte Regungen. Der Autor und der Leser sind im Bunde: sie versuchen zusammen auf die Wahrheit zu kommen. Anna Seghers 1947
. . . unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen erwirken unterschiedliche Seh- und Denkweisen, aber die Literatur ist gerade eine Möglichkeit, durch Austausch von Erfahrungen zu mehr Gemeinsamkeit zu kommen. Hermann Kant 1973
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Einleitung
Der Beginn der sechziger Jahre machte auch in der Literatur unseres Landes Epoche. In dieser Ansicht sind sich fast alle Untersuchungen zum jüngeren Literaturprozeß der D D R einig. Ausgesprochene oder unausgesprochene Meinungsverschiedenheiten jedoch gibt es auf der Ebene der genauen Bestimmungen. Welchen Charakter haben die Veränderungen, und welches sind ihre Hauptmerkmale? Wo im weiten Felde der gesellschaftlichen Bedingungen haben sie ihren Grund? Wie muß der Vorgang präziser periodisiert werden, und von welcher Art ist der Einschnitt zwischen den Phasen und Stufen? Wie läßt sich der Wandel wissenschaftlich objektivierend erfassen? Auf diese Fragen werden in der hier vorgelegten Analyse - am Material vor allem der Schriftstellerreflexion und der Prosa 1 * - Antworten gesucht. Sie verstehen sich als Beitrag in einer Diskussion, die schon längere Zeit anhält und zweifellos noch längere Zeit fortdauern wird. Auf die Frage nach dem wissenschaftlichen Verfahren, das dem wirklichen Prozeß angemessen sein könnte, soll einleitend eingegangen werden. Hermann Kant resümierte 1973 die Ergebnisse der jüngsten Literatur. E r konstatierte einen „freieren Umgang unserer Literatur mit der Welt", mit deren äußerer Erscheinungsvielfalt und mit dem inneren Reichtum der Individualität. E r sah eine Literatur vor sich, die „nicht einfach weitgereister, sondern weiter gedacht ist, tiefer in die eigene Geschichte fragt und sehr auf die Stimme der Völker hört, unduldsamer gegen Versäumnisse und Vergehen wurde, aber auch empfänglicher für die komischen, grotesken und phantastischen Erscheinungen des Lebens". 2 Und was gleichzeitig damit beobachtet wurde, war der „Eintritt der DDR-Literatur in ein neues Selbstver* D i e mit einem Stern
gekennzeichneten
Anmerkungsziffern verweisen
auf
Sachanmerkungen.
9
ständnis", waren Neuakzentuierungen im Bild, das sich die „ L i t e r a t u r von sich selber, von ihren Möglichkeiten und Aufgaben, von ihrem Platz in der sozialistischen Gesellschaft" 3 macht. Gegenständliche und subjektive Faktoren der Veränderung, vor allem aber Momente des Zusammenhangs von Strukturwandel und Funktionswandel und seiner theoretischen Reflexion werden hier in ihrer Verflochtenheit aufgezählt - reagiert wird auf einen komplexen literarischen Vorgang, auf die Vielzahl seiner Aspekte und seiner Motivationen. Das Verfahren ist bemerkenswert: Unsere Literaturkritik verfolgte bei der Frage nach den Beweggründen des Literaturprozesses lange Zeit vornehmlich die Entwicklungen im Gegenstandsbereich der literarischen Aneignungstätigkeit, die Entwicklungen auch der hierin wirkenden gesellschaftlichen Subjektivität. Der „neue Gegenstand", das „neue Lebensgefühl" - das waren wichtige Stichworte bei der Erklärung literarischen Wandels und für die literaturpolitische Orientierung. Es wurde damit auf wesentliche Zusammenhänge gezielt, die Literatur in der Geschichte verwurzeln, aus denen sie Kräfte ihres Fortschreitens bezieht. Inzwischen ist deutlich geworden, daß ihre Veränderung nicht ausreichend erklärbar und produktiv anregbar ist, wenn nicht der Wandel des sozialen Zusammenhangs eingerechnet wird, in dem Literatur fungiert und den sie - als literarische Produktion, Distribution, Austausch und Rezeption - selbst bildet. In der Geschichte von Ästhetik und Literaturwissenschaft der D D R wuchs die Beachtung dieses Aspekts aus einem Neuakzentuieren der subjektiven Voraussetzungen und Momente der künstlerischen Produktion heraus, aus der „Anerkennung eines subjektiven Elements im Inhalt der Kunst" 4 . Die Einseitigkeiten einer dominant gegenständlichen Orientierung des literaturtheoretischen und literaturprogrammatischen Interesses sollten durch eine komplexere Vorstellung von der Literatur überwunden werden. Die Kritik galt Auffassungen, die die Kunst vorzüglich als Chronik der Gesellschaft, nicht jedoch als Tätigkeit begriffen, die die emotionale Wertung, die Beurteilung der Gegenstände nicht als funktional entscheidende Inhalte der Kunst verstanden. Was den Neuansatz mit der wirklichen Gesellschaftsbewegung verband - das wurde thematisiert, als aus der allgemeinen gesellschaftspolitischen Erkenntnis von der wachsenden Rolle des subjektiven Faktors auch für ästhetische Überlegungen eine methodologische Forderung abgeleitet wurde: „Das erfordert, auch in der Literatur die spezifische Funktion des subjektiven Faktors stärker zu 10
berücksichtigen und die besondere ästhetische Struktur der SubjektObjekt-Dialektik zu bestimmen." 5 * Der Aktivität, von der bei der Betonung des „subjektiven Faktors", der „Subjekt-Objekt-Dialektik" die Rede war, wurde nun bald ein •doppelter Charakter zugewiesen: Sie wurde als Tätigkeit in einem künstlerischen Widerspiegelungs- oder Gestaltbildungsprozeß betrachtet, als eine konstruktive Arbeit, in der die Wirklichkeit durch den Kopf des Autors hindurch muß, ehe sie zum Aneignungsprodukt, zur ästhetischen Figur wird. Zugleich aber wurde sie als Tätigkeit in einer praktischen Beziehung des Künstlers zu und in der Gesellschaft gesehen: „Als Subjekt der Praxis will der Schriftsteller wirken, nicht nur innerhalb der Kunst, sondern aufs Wirkliche bezogen." Sein Werk erschien so - in der Aneignungsbeziehung - als Zweck; zugleich erschien es - in der Gesellschaftsbeziehung - als „Mittel, durch das der Autor seine schöpferische Haltung zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt und eben diese Haltung zur Wirklichkeit in seinen Lesern anzusprechen und zu entwickeln sucht". 6 * Deutlich trat hier in der Geschichte der Kunsttheorie unseres Landes ein dritter Faktor hervor, der Literatur charakterisiert und als Motor ihres Wandels anzusehen ist. Die literarische Arbeit hat gesellschaftliche Praxis - so ließe sich dieses bewegende Moment im Literaturprozeß zunächst fassen nicht allein als einen Bereich v o r sich, aus dem sie die Gegenstände ihrer Zuwendungen auswählt, den sie in spezifischer Weise gestaltund modellbildend anzueignen sucht. Sie hat diese gesellschaftliche Praxis auch nicht allein i n sich, indem bei der Gegenstandskonstituierung und der Bildung ästhetischer Gestalten und Modelle gesellschaftliche Fähigkeiten wirken, Interessen sprechen, Einstellungen zu Wort kommen, die Momente des sozialen Verhaltens sind. Sie i s t zugleich T e i l der gesellschaftlichen Praxis selbst, insofern sie in einem kommunikativen Prozeß über Sinnfiguren und Modellierungen Einfluß nimmt auf die Ideen und Einstellungen, Wertkriterien und Normen, welche in das Verhalfen eingehen, in die „im historisch konkreten praktischen gesellschaftlichen Lebensprozeß erfolgende Erzeugung, Reproduktion und Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Menschen selbst"7. Es zeigte sich, daß auch die Einrechnung des „subjektiven Faktors" nicht ausreicht, den literarischen Veränderungsprozeß zu erklären, solange die dadurch ermöglichte „Objekt-Subjekt-Dialektik" auf das Verhältnis von abzubildender Wirklichkeit und aneignender Aktivität, also 11
auf den Werkherstellungsprozeß bezogen bleibt. 8 * Die genauere Analyse der Subjektivität in der künstlerischen Arbeit wies vielmehr auf eine weitere Beziehung: auf das Verhältnis von aneignender Aktivität und ihrer sozialen Wirkung. In den Blick kam ein Feld, in dem sich die literarischen Aktivitäten als soziale Aktivitäten vollziehen, auf das sich die literarische Arbeit mit ihren sozialen Zielen richtet, ein Feld, das seine Eigenart erhält durch das Zusammenspiel der Medien gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung, durch das Verhalten derer, die Literatur gebrauchen, durch ihre Bedürfnisse, Interessen, Meinungen. Dabei handelt es sich nicht um ein Verhältnis, das erst ins Spiel kommt, wenn jeweils der Schaffensprozeß - als subjektive Aneignung gegenständlicher Welt, als Vergegenständlichung aneignender Subjektivität - abgeschlossen, das Werk hergestellt ist und in den gesellschaftlichen Umlauf gelangt. Vielmehr geht es der literarischen Produktion als eine ihrer Bedingungen immer schon voraus, ist die literarische Arbeit in den Wirkungszusammenhang eingelagert nicht zuletzt dadurch, daß die an den Werken, Stil- und Gattungsformen sich ausprägende, durch Vermittlungsinstitutionen organisierte Art der literarischen Kommunikation auf den Prozeß der Produktion Einfluß hat und die Werke prägt. Die funktionalen Kontexte literarischer Arbeit wirken bereits als genetische Bedingungen der Werkproduktion. Eine präzisere Beachtung auch der Beziehung der literarischen Arbeit auf Leser und im weiteren Sinn auf die gesamten Verhältnisse, in denen sie sich abspielt, leitet also diesen zweiten Akzentwechsel der theoretischen Reflexion und der Kunstprogrammatik in der Geschichte der DDR-Literatur ein. Er ist seit Mitte der sechziger Jahre zu beobachten und wurde seither kontinuierlich ausgebaut. 9 Die funktionale Analyse zielt darauf ab, ihren Gegenstand - die Literatur nicht bloß objektiv, als Summe von Werken aufzufassen, auch nicht nur subjektiv, als eine schöpferische Tätigkeit (verstanden als Aktion eines Werkherstellungsprozesses, der Gestaltung und Umgestaltung der Wirklichkeit „im Bilde"; als ein Vorgang, der sich in den Beziehungen von abzubildendem Gegenstand, schöpferischem Subjekt und geschaffenem Produkt erschöpft und vollendet). Sie konstituiert ihren Gegenstand - die Literatur - als eine gesellschaftliche Praxis unter der Frage, wie ihre Arten der Organisation gesellschaftlichen Bewußtseins und Selbstbewußtseins „für die erweiterte Reproduktion der sozialistischen Gesellschaft wirken und was sie im geistigen Reproduktionsprozeß leisten" 10 *. Gerade in der Veränderung dieses 12
Zusammenhangs erblickt sie einen der großen Motoren der Kunstentwicklung.11 Diese Betrachtungsweise schließt bewußt die Beziehung der werkschaffenden Tätigkeit auf eine ihr zeitlich nachgelagerte Wirklichkeit ein. Sie faßt Literatur als Aktion zwischen Menschen, als Kommunikation, und interessiert sich deshalb auch für die Handlungen der Leser und der Vermittlungsinstitutionen, für die Tätigkeiten bei der Aneignung von Werken und beim Austausch über sie. Es geht dabei nicht um ein Negieren der anderen Aspekte der Literatur oder der sie erfassenden Methoden, sondern um die Entwicklung von Aspekten für eine umfassendere Theorie, in der Literatur entschieden als Vorgang zwischen Leuten aufgefaßt, das Werk nicht als Vergegenständlichung angestaunt, sondern gefragt wird, welche Aktivität es vermittelt. Auch dieser Aspekt ist in der marxistischen Theorie seit ihren Anfängen präsent, ist nicht etwa eine „Erfindung" der jüngsten Zeit. Betrachtet man die Überlegungen von Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Anna Seghers, so stößt man schnell darauf, daß in der Poetik sozialistischer Schriftsteller die skizzierten Fragestellungen seit langem eine entscheidende Rolle spielen.12 Es ergab sich aus der Praxis des Funktionswandels der Literatur im Zeitalter des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, aus der Orientierung der literarischen Arbeit auf die neuen Bedingungen des Kampfes der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, daß die Autoren einen komplexen Begriff von Literatur anstrebten. Auf dabei entwickelte Gedanken kann sich eine funktionale Betrachtungsweise heute ebenso stützen wie auf die Überlegungen früherer sozialistischer Kunsttheorie. Um nur einige Repräsentanten zu nennen: Plechanow um 1900, Medwedew in den zwanziger, Caudwell in den dreißiger Jahren haben lange schon entscheidende Ansatzpunkte für eine funktional orientierte Arbeit marxistischer Kunstwissenschaft geliefert. Aspekten vor allem des kommunikativen Zusammenhangs der Herausbildung einer Literatur des entwickelten Sozialismus ist die hier vorgelegte Arbeit gewidmet. In ihren allgemeinen Prinzipien schließt sie sich eng an das in Gesellschaft-Literatur-Lesen (1973) entwickelte Konzept an. Der Verfasser gehört zu dem Kollektiv, das mit dem genannten Buch einen Vorschlag zu einer kommunikationstheoretisch orientierten, auf Probleme der Funktion der Literatur konzentrierten literaturwissenschaftlichen Verfahrensweise unterbreitete und diese Richtung in der Folgezeit durch mehrere Publikationen, nicht zuletzt in Funktion der Literatur (1975), auszubauen suchte. Die vielfältige 13
Reaktion auf Gesellscbaft-Literatur-Lesen und das allgemeine Fortschreiten im Bereich kommunikationsthecretisch orientierter Literaturanalyse (einschließlich der rezeptions- und wirkungsästhetisch bestimmten Betrachtungsarten und der Literatursoziologie) verlangten im Zuge der Weiterarbeit auch Präzisierungen und Korrekturen des ursprünglichen Konzepts. Auffälligere Veränderungen wird der Leser von Gesellscbaft-Literatur-Lesen jetzt z. B. an dem Versuch bemerken, den Begriff „Funktion der Literatur" genauer zu fassen, die Adressatenbeziehung der literarischen Produktion zu differenzieren, die wirkungsästhetischen Zusammenhänge von Literaturprozeß und Literatursystem zu erhellen. Die Arbeit nähert sich ihrem Gegenstand - der Herausbildung und Entwicklung einer Literaturfunktion, die sich als Beitrag zur kollektiven Verständigung in unserer Gesellschaft konstituiert - auf vier Wegen, die Zugänge zu verschiedenen Materialien eröffnen. Zunächst geht es in einer zusammenfassenden Betrachtung um diese Literaturfunktion selbst, um ihre theoretische Bestimmung und ihren Gesamtkontext. In einem zweiten Teil soll gezeigt werden, wie intensiv sich das Nachdenken der Schriftsteller unseres Landes auf den Leserbezug der literarischen Produktion erstreckt und daß die Bestimmung von Platz und Rolle der Literatur von Entwicklungen im Publikum abhängig ist. Die beiden letzten Abschnitte lenken die Aufmerksamkeit auf jene Zusammenhänge der Gattungsentwicklung im Feld der Prosa, die von der Funktion kollektiver Verständigung geprägt werden. Im dritten Teil werden dabei wirkungsästhetische Aspekte der charakteristischen Vorgangsfiguren im Roman und in der großen Erzählung, im vierten Teil funktionale Gesichtspunkte der Formbildung, des Umbaus des Gattungsfeldes erörtert.
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Funktionswandel zur Literatur kollektiver Selbstverständigung
Einführung: Eine neue Phase unserer Literatur In den bisher vorgelegten Überblicksarbeiten wird der Beginn der neueren DDR-Literatur um 1960 angesetzt. Es tauchen aber, je nach den Kriterien für die literarische Periodisierung, 1959,1961 oder auch 1963 als eigentliche Einschnittsjahre auf. 13 Einigkeit besteht darin, daß die literarischen Neuerungen dieser Zeit ihre Wirklichkeitsgrundlagen wesentlich in den Gesellschaftsprozessen haben, die sich-im Zusammenhang der internationalen Entwicklungen, der Verschiebungen des Kräfteverhältnisses in der Welt, des sich abzeichnenden Endes der Nachkriegsperiode - mit dem Übergang zum Aufbau des entwickelten Sozialismus vollzogen. Diese Art des Übergangs prägte auch die Art der Literaturveränderung. Zwar lassen sich auf der Ebene wesentlicher ökonomischer, politischer, kulturpolitischer Vorgänge und Entscheidungen festere Daten 14 * angeben, nicht aber auf der Ebene der gesamten Erfahrungswirklichkeit, die für die Literatur von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die Veränderung dieser Wirklichkeit stellt sich dar als ein Zusammenhang von komplexen, Älteres fortsetzenden, Neues ankündigenden und schon beginnenden sozialen Prozessen einiger Jahre, von praktischen, die Arbeits-und Lebensweise betreffenden Entwicklungen, die auch von einem Wandel des gesellschaftlichen Bewußtseins begleitet waren. Indem die Literatur auf diesen Zusammenhang reagierte, indem sie in ihm zu agieren lernte, bildete sich schrittweise eine Literatur des entwickelten Sozialismus heraus. Sie kennt inzwischen selbst schon Stufen - im Verfolg eines Weges, auf dem sich die neuen Verhältnisse klarer gestalteten und ihre Probleme durchsichtiger wurden, auf dem sich zugleich die ihnen entsprechenden Arbeitsweisen der Literatur klärten und bewußter gehandhabt wurden. Im Verlauf der Literaturentwicklung wurden von der Kritik, von einzelnen Autoren solche Stufen an verschiedenen Punkten angemerkt. 15 Bedeutendere Veränderungen zeichnen sich jedoch wohl um 1962/63 und um 1968 ab. 15
Was in Übergangsprozessen am Anfang des Jahrzehnts sich anbahnte, kam bald in bis heute gültigen Werken zum Vorschein. Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) etwa, Der geteilte Himmel (1963) von Christa Wolf, Die Spur der Steine (1964) von Erik Neutsch, Die Aula (1965) von Hermann Kant unterbreiteten ein neues Angebot für unser Selbstverständnis. Neuartige Figuren- und Problemkonstellationen traten hier hervor, die weniger aus der Konfrontation mit der Vergangenheit der Klassengesellschaft, vielmehr aus Widersprüchen des Fortschreitens im Sozialismus entwickelt waren. Groß war die Resonanz, die dieses Angebot erfuhr. Das aufgeregte gesellschaftliche Interesse äußerte sich im Streit über Charakter und Wert der von der Literatur unterbreiteten Vorschläge. Viele spürten: Hier wurde unmittelbar von unseren Angelegenheiten in einer veränderten Welt gesprochen und von der Erfahrung der Veränderbarkeit der Welt. Unsere Prosaliteratur nahm - so läßt sich der Vorgang mit einem Stichwort kennzeichnen - eine Wende zur sozialismusinternen Auseinandersetzung. Die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die ein verändertes Publikum in den Literaturprozeß einbrachte, spielten in dieser Erneuerung bedeutend mit. Dafür spricht die Überzeugung vieler Schriftsteller, es bei der literarischen Arbeit zunehmend „mit ihresgleichen und Gleichgesinnten"16 zu tun zu haben. Literatur erschien unter diesen Bedingungen mehr und mehr als ein Sprechen von „uns zu uns"17. Die Wandlungen in den Figuren- und Problemkonstellationen, in den eingezeichneten ästhetischen Werten, in der Erzählweise zeigen sich in dieser Hinsicht als Wandlungen in der Wirkungsstrategie literarischer Arbeit. Alle diese Züge mochten zunächst nur als bezeichnende Momente bei einzelnen Werken in Erscheinung treten. Schnell aber verbreiteten sie sich im Ensemble der Prosa zu bestimmenden Linien. In Gemeinschaft mit vergleichbaren Veränderungen in anderen Gattungsbereichen transformierte sich, was wir „unsere Literatur" nennen. In ihr markierte sich dann in Werken, wie sie etwa von Günter de Bruyn mit Buridans Esel (1968), von Christa Wolf mit Nachdenken über Christa T. (1968), von Alfred Welltn mit Pause für Wanzka (1968) vorgelegt wurden, sichtbar ein Neuansaiz. Es zeigte sich nun deutlicher eine Neigung zu einer Prosa, deren Formen Ausdruck eines reflektorischen Wirklichkeitsverhältnisses und Anregung zu solchem Verhältnis sind, Formen der Befragung des Weges durch den Sozialismus, der drängender und kritischer werdenden Erkundung des 16
widersprüchlichen Zusammenhangs von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung. In einer größer werdenden Lebendigkeit der Formbildungsprozesse machte sich ein verschiedenartig ausgeprägtes Streben nach einer Literatur bemerkbar, die in der Lage sein kann, schon verfestigte Systeme der Erfahrungsverarbeitung aufzubrechen und verkrustetes Verhalten zu problematisieren: Das Bemühen galt nicht zuletzt einem undemonstrativen, analytischen Wirklichkeitszugriff, der „Authentizität" erreichen, unsere „Befindlichkeit" 18 diagnostizieren will. Vieles von diesen neuen Wandlungen liegt offenbar auf den Linien, die zu Beginn des vorigen Jahrzehnts abgesteckt wurden, zeugt von deren Verbreiterung und Vertiefung - in Hinsicht auf die Psychologie der Darstellung, ihre ästhetische Bewältigung, den sich äußernden staatsbürgerlichen Geist. Anderes kam aber erst mit der neuen Stufe in unsere Literatur: nicht zuletzt das schärfere Bewußtsein für einen Zeitensprung zwischen den großen Etappen sozialistischen Aufbaus und damit für alle sozialen und psychologischen Probleme, die mit der Einsicht in die Differenzen zwischen den Geschichtsabschnitten und in den gesamten geschichtlichen Verlauf aufgerufen wurden. Aber auch dieses neue Element weist mit seinen inhaltlichen Bezügen wieder auf den bedeutenderen Einschnitt im Übergang vom Aufbau der Grundlagen des Sozialismus zum Aufbau des entwickelten Sozialismus zurück: Dort ist das historische Feld, in dem sich eine phasenbildende Umwandlung des literarischen Struktur-FunktionsZusammenhangs vollzog, deren Konsequenzen in der weiteren Entwicklung gezogen werden. Diese Überzeugung von der relativen (vielleicht in mehrere Abschnitte gegliederten) Einheit der DDR-Literatur seit Beginn der sechziger Jahre schließt die Auffassung ein, daß sie als Ganzes durch grundlegende Merkmale von ihrer vorhergehenden Phase abgehoben ist. Unter dem Aspekt allgemeinster politischer, weltanschaulicher, ästhetischer Orientierungen und Wirkungsziele ist die neue Literatur in ihren zentralen Erscheinungen ein Entwicklungsschritt in der nun schon seit den zwanziger Jahren ununterbrochenen Folge deutscher sozialistischer Literatur, steht in ihrer Tradition, nimmt Problemstellungen ihrer früheren Entwürfe auf und ist insofern Teil ihrer Kontinuität. Doch ist diese Kontinuität nicht als ein rein evolutionärer Ausbau einer ein für allemal erreichten Qualität anzusehen. An Knotenpunkten im historischen Prozeß entstanden und entstehen beim Fortschreiten dieser Literatur mit neuen Wirkungszusammenhängen auch 2 Schlenstedt
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neue Qualitäten - und damit Diskontinuitäten. Genau solche Momente lassen sich in den hier zu charakterisierenden Veränderungen beobachten. Es handelt sich dabei um mehr als nur um einen „Prozeß des Reifer- und Reicherwerdens der sozialistischen Literatur auf der Basis der sozialistischen Gesellschaft", um mehr als nur um einen „subjektiven Reifeprozeß" von Schriftstellern, um mehr als einen Vorgang mithin, der a l l e i n im Ausbau schon früher erlangter Qualitäten bestand. In dem Kontinuitätskonzept, das solcherart argumentiert, muß notwendig die Vorstellung von einer diffusen, unveränderlichen Vielfalt herrschen, die Idee, daß in der „sozialistischen Literatur immer alles m i t e i n a n d e r" 19 vorhanden ist. Mißachtet werden hierbei nicht nur die ja unbestreitbar neuen, weil auf verändertem historischen Boden entstehenden Züge unserer jüngeren sozialistischen Literatur; es wird auch der Umstand verkannt, daß der jeweilige Zustand einer Literatur als strukturiert aufzufassen ist, dominante Linien ihm sein Gepräge geben. Es ist der Wandel von Dominanzen, den man im Literaturprozeß beobachten kann, sie geben der neuen Literatur den besonderen Charakter und begründen das Moment von Diskontinuität in ihrem Verhältnis zu Früherem. Literatur verhält sich in dieser Beziehung wie das gesellschaftliche Bewußtsein überhaupt, in dem sie wirkt. Gemeint ist folgender, von A. K. Uledow aufgedeckter Zusammenhang: Im gesellschaftlichen Bewußtsein, in seinen verschiedenen Arten des sittlichen, politischen, ästhetischen Denkens und in seinen verschiedenen Sphären des Alltagsbewußtseins, der Ideologie, der Wissenschaft liegen stets Verarbeitungsformen - gedankliches Durchdringen, Bewerten, Prognostizieren - von etwas historisch-sozial Bestimmtem vor, und es konstituiert sich das gesellschaftliche Bewußtsein in der Wechselwirkung seiner Arten und Sphären, in Abhängigkeit von der Sozialstruktur, dem System gesellschaftlicher Institutionen, der Medien und der Verfügungsgewalt über sie, den Kommunikationsbedingungen überhaupt stets auch in bestimmter historischer Form. Kennzeichnend für seinen Charakter als strukturierte Ganzheit ist, daß es in diesem Prozeß auch immer eine besondere emotionale, auf die Verhaltensmotive wirkende Färbung und Richtung erhält: eine eigenartige, seine Sphären und Arten übergreifende Qualität. „Ein Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins ist in der Regel nicht einfach die Gesamtheit dieser oder jener Ideen und Anschauungen, Vorstellungen und Empfindungen, sondern eine solche Situation dieser Komponenten, in der die einen Komponenten eine dominierende Stellung im Bewußtsein
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einnehmen und dessen ganzen Inhalt durchdringen." 20 Einen Wandel eben solcher Dominanzen im Bewußtseinszustand beobachtet Uledow auch in der sozialistischen Gesellschaft. Er sieht Unterschiede in den beständigsten, etappenbildenden Ausprägungen des Zustandes gesellschaftlichen Bewußtseins zwischen der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und der Periode des reiferen Sozialismus. Zentral ist für ihn der Wechsel von der Dominanz politischer Ideen, die mit dem historischen Prozeß der Übernahme gesellschaftsleitender Funktionen durch die neue Klasse entstand, zur Dominanz von Ideen und Gefühlen staatsbürgerlicher Gesinnung oder des Gesellschaftsbewußtseins, das sich vor dem Horizont der Entfaltung der schöpferischen Aktivität des ganzen Volkes bildet und auf die Vertiefung der Demokratie in allen Bereichen, auf die Verantwortung eines jeden Bürgers gerichtet ist. 21 Zweifellos sind damit - sowie mit der von Uledow ebenfalls genannten neuen massenhaften Einsicht in die Bedeutung der Wissenschaft für das Leben der Gesellschaft - noch keineswegs alle allgemeinen und besonderen Komponenten angeführt, die im Wandel gesellschaftlichen Bewußtseinszustandes von einer zur anderen Etappe sozialistischen Aufbaus wesentlich wurden. Allgemein gilt z. B. sicher, daß die genannten Dominanzen sich ja offenbar als produktive Züge in einem Widerspruchsfeld entfalten, das als Ganzes erst - auch mit dem, wogegen sich die positiv erwähnten Momente richten - einen Zustand gesellschaftlichen Bewußtseins bildet. Und besonders gilt z. B., daß es nicht zuletzt nationale Bedingungen sind, die für die Ausprägung von Dominanzen gesellschaftlichen Bewußtseins wesentlich werden. Zu ihnen gehört während der letzten zwei Jahrzehnte in der DDR sicher die Herausbildung eines sozialistischen Nationalbewußtseins. Ebenso zweifellos aber wird mit der Dominanz der aus dem Komplex der staatsbürgerlichen Gesinnung sich ergebenden Ideen ein wesentliches Charakteristikum auch jener Veränderungen benannt, wie sie sich in unserem Lande im gesellschaftlichen Bewußtsein durchsetzten. Der neue Zustand unserer Literatur kann dafür als Index betrachtet werden. Ist von Entsprechungen zwischen dem Zustand der Literatur und dem Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins überhaupt die Rede, so muß betont werden, daß sie sich weder allein aus den Parallelen orgeben, die in den verschiedenartigen direkten Verarbeitungen eines bestimmten historisch-sozialen Lebenspiozesses notwendig vorkommen, noch allein aus den Transformationen des allgemeinen Klimas 2*
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oder einzelner Sphären und Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins, die indirekte Wirkungen der Geschichte an die Literatur vermitteln. In der realistischen literarischen Arbeit stehen direkte und indirekte Faktoren der historischen Determination der Literatur - wegen ihrer Bindung an die individuelle und kollektive Erfahrung und ihrer Einbettung in die Arten und Sphären gesellschaftlichen Bewußtseins - in unaufhebbarer Wechselwirkung. Gerade dies macht sie zu einem historischen Prozeß und zu einem gesellschaftlichen Vorgang: Im Hinblick auf neue Erfahrungen, im Versuch, deren gespürte Wichtigkeit und Allgemeinheit genau zu fassen, findet in der literarischen Arbeit zugleich eine Auseinandersetzung statt mit Aneignungsresultaten, wie sie (auch durch die Literatur selbst) in der Geschichte diachronisch immer schon herausgebildet sind und in der Gesellschaft synchronisch miteinander streiten. Entsprechungen zeigen sich deshalb nicht allein in positiven Wiederholungen, sondern auch im Widerspruch, in jenen Momenten, da die Literatur als eigenständiger und eigenartiger Teil des gesellschaftlichen Bewußtseins von dem redet, was sonst verschwiegen wird; verneint, was sonst bejaht; betont, was sonst nebenbei vorgetragen wird. Literatur ist Resultat eines spannungsvollen dialogischen Verhältnisses. Am Prozeß der letzten zwei Jahrzehnte ist abzulesen, wie Literatur immer neu stellungnehmend in die Zustände des gesellschaftlichen Bewußtseins eingreift: Sie bringt herrschende Ideen und Vorstellungen, Wertkriterien, Einstellungen und Verhaltensnormen ins Spiel, sucht die darin geltenden Regeln für die Bildung von Gegenständen der Aufmerksamkeit und für die Bildung von Sinnfiguren zu bestärken, zu problematisieren oder zu verwerfen; sie erinnert an neue oder auch vergessene Ideen und Einstellungen, verdeutlicht diese an der Änderung und Neubildung von Weisen der Konstituierung der Gegenstände und Sinnfiguren und schlägt vor, sie anzunehmen oder weiter durchzusetzen. In solchem Beziehungsgefüge bildet sich die Literatur als eine besondere historisch-konkrete Funktion im System der Arten und Sphären des gesellschaftlichen Bewußtseins und in dessen ideologischen Orientierungen, im System der Weisen ideeller Wirklichkeitsaneignung und gesellschaftlicher Kommunikation. D i e Wende zur sozialismusinternen Auseinandersetzung, die in der neuen Phase als Dominanz zu beobachten ist, die Bildung einer Literatur, die sich als Weise kollektiver Verständigung versteht, ergibt sich aus dem W a n del des skizzierten Bezugsfeldes. D e r Hintergrund der literarischen Arbeit heute ist nicht der Gewinn eines für unser Land geschichtlich
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gänzlich Neuen, sondern der Zusammenhang von Stabilität und D y namik sozialistischer Verhältnisse, die bereits ihre eigene Geschichte haben; ist nicht der Prozeß, der im Massenbewußtsein und im Alltagsbewußtsein sozialistisches Denken gegen die Übermacht der Ideologien der alten Gesellschaft und der erlittenen Erfahrung ihrer Zerschlagung durchsetzte. Ihr Bezugsfeld ist der Vorgang einer differenzierten Kritik der fortdauernden ideologischen Überkommenheiten und der Entwicklung kommunistischen Denkens unter den Verhältnissen des realen Sozialismus selbst. Macht die Literatur ernst mit solchen Ausgangspunkten, so hat sie auch ihre Zielpunkte und damit ihre Methoden zu ändern: Es wandeln sich notwendig die dominanten Inhalte dessen, wogegen sich ihre Kritik richtet, was sie zu erreichen strebt, worauf sie ihre Hoffnungen setzt. In diesem Zusammenhang haben die neuen Versuche, die Schwierigkeiten und die Streitpunkte unserer neueren Literatur ihren Grund.
Veränderungen im Gegenstand Gegenwart" Auch jene literarischen Veränderungen, die vom neuen Gegenstand und von der neuen Subjektivität ihren Ausgang nahmen, erweisen sich bei einer komplexeren Betrachtung als wesentlich funktional bestimmt. Als ein Axiom unserer Theorie der Literatur ist die Aussage anzusehen, daß Literaturfortschritt an den Vorstoß zu einem neuen Gegenstand gebunden ist. „Die Kunst aller fortschrittlichen Epochen der Menschheitsentwicklung", so wurde etwa gesagt, „beginnt stets mit der Entdeckung des wahrhaft Neuen im Leben als neuen Gegenstand der Kunst." 2 2 Sozialistische Literaturentwicklung selbst war es, die die Einsicht in dieses Gesetz entstehen ließ. „Die rebellische Auflehnung der Arbeiterklasse gegen das Milieu der Unterdrückung, das sie umgibt, ihre Versuche - konvulsivisch, halbbewußt oder bewußt - , ihren Status als menschliche Wesen wiederzuerlangen", das Erstarken der organisierten Arbeiterbewegung, ihre Ausprägung zur selbständigen politischen Kraft, die Revolution, dann der Aufbau sozialistischer gesellschaftlicher Verhältnisse, einer Gesellschaft, die als ihr Entwicklungsprinzip die Freisetzung der produktiven Kräfte aller, die Entfaltung der Universalität unserer Beziehungen hat - dies trat nach und nach in die Geschichte ein und mußte darum „auf einen Platz im Bereich des Realismus Anspruch erheben". 2 3 Auch der Literaturprozeß in der D D R bestätigte das allgemeine 21
gänzlich Neuen, sondern der Zusammenhang von Stabilität und D y namik sozialistischer Verhältnisse, die bereits ihre eigene Geschichte haben; ist nicht der Prozeß, der im Massenbewußtsein und im Alltagsbewußtsein sozialistisches Denken gegen die Übermacht der Ideologien der alten Gesellschaft und der erlittenen Erfahrung ihrer Zerschlagung durchsetzte. Ihr Bezugsfeld ist der Vorgang einer differenzierten Kritik der fortdauernden ideologischen Überkommenheiten und der Entwicklung kommunistischen Denkens unter den Verhältnissen des realen Sozialismus selbst. Macht die Literatur ernst mit solchen Ausgangspunkten, so hat sie auch ihre Zielpunkte und damit ihre Methoden zu ändern: Es wandeln sich notwendig die dominanten Inhalte dessen, wogegen sich ihre Kritik richtet, was sie zu erreichen strebt, worauf sie ihre Hoffnungen setzt. In diesem Zusammenhang haben die neuen Versuche, die Schwierigkeiten und die Streitpunkte unserer neueren Literatur ihren Grund.
Veränderungen im Gegenstand Gegenwart" Auch jene literarischen Veränderungen, die vom neuen Gegenstand und von der neuen Subjektivität ihren Ausgang nahmen, erweisen sich bei einer komplexeren Betrachtung als wesentlich funktional bestimmt. Als ein Axiom unserer Theorie der Literatur ist die Aussage anzusehen, daß Literaturfortschritt an den Vorstoß zu einem neuen Gegenstand gebunden ist. „Die Kunst aller fortschrittlichen Epochen der Menschheitsentwicklung", so wurde etwa gesagt, „beginnt stets mit der Entdeckung des wahrhaft Neuen im Leben als neuen Gegenstand der Kunst." 2 2 Sozialistische Literaturentwicklung selbst war es, die die Einsicht in dieses Gesetz entstehen ließ. „Die rebellische Auflehnung der Arbeiterklasse gegen das Milieu der Unterdrückung, das sie umgibt, ihre Versuche - konvulsivisch, halbbewußt oder bewußt - , ihren Status als menschliche Wesen wiederzuerlangen", das Erstarken der organisierten Arbeiterbewegung, ihre Ausprägung zur selbständigen politischen Kraft, die Revolution, dann der Aufbau sozialistischer gesellschaftlicher Verhältnisse, einer Gesellschaft, die als ihr Entwicklungsprinzip die Freisetzung der produktiven Kräfte aller, die Entfaltung der Universalität unserer Beziehungen hat - dies trat nach und nach in die Geschichte ein und mußte darum „auf einen Platz im Bereich des Realismus Anspruch erheben". 2 3 Auch der Literaturprozeß in der D D R bestätigte das allgemeine 21
Gesetz. Die Herausbildung der Literatur des sich sozialistisch verändernden Landes war wesentlich daran gebunden, daß die gesellschaftlichen Veränderungen, die revolutionären Geschichtsvorgänge in der konkreten Bestimmtheit ihrer Gegenständlichkeit erfaßt wurden. Eduard Claudius' Menschen an unserer Seite (1951), Erwin Strittmatters Tinko (1954), Hans Marchwitzas Roheisen (1955) oder Anna Seghers' Entscheidung (1959) - bedeutende Zeugnisse einer fortschreitenden Literatur in der Prosa der fünfziger Jahre - verdeutlichten zugleich den funktionalen Aspekt im genannten Anspruch des Realismus: Das Bestreben, literarische Gegenstände aus jenem Bereich des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu wählen, der nun für unser Land entscheidend geworden war, zielte darauf, einen Geschichtsvorgang, durch den eine wirkliche Heimat von vielen gewonnen wurde, kollektive Beziehungen der Menschen untereinander hergestellt, produktive Kräfte im Prozeß der Befreiung der Arbeit entfaltet werden konnten, an ihm selbst bewußtzumachen und dadurch befördernde Impulse in den gesellschaftsbildenden Kämpfen zu vermitteln, die neuen historischen Erfahrungen zu organisieren. Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Bewußtseins, das sich als Alltagsbewußtsein wie als Massenbewußtsein erst langsam mit dem Neuen vertraut machte, waren die genannten Gegenstandsbildungen bedeutende und umkämpfte Provokationen. Sie standen darin auch gegen die Üblichkeiten der gewohnten Literatur. Von solchen Erfahrungen ausgehend, wurde nun auch beim Eintritt in die neue Entwicklungsetappe des Sozialismus als Grundfrage des Kunstschaffens angesehen, daß ein neuer Gegenstand, nämlich aus „der u n m i t t e l b a r e n G e g e n w a r t d e s S o z i a l i s m u s ins Blickfeld der künstlerischen Gestaltung" 2 ' gelangt. Es konnte gesagt werden, „daß der künstlerisch-geistige Vorstoß in Neuland nur über ein tiefes Erfassen des Ringens und Kämpfens an den ,Hauptfronten' des jeweiligen revolutionären Gegenwartsprozesses gewonnen und gesichert" werden könne, daß es gelte, „heutige Vorgänge von großer geschichtlich-menschlicher Gewichtigkeit" einzufangen und sich auf neue und neueste „Wirklichkeitsbereiche von großer gesellschafts-politischer oder auch volkswirtschaftlicher Bedeutung" zu richten.25 Wesentliche Orientierungen der Kulturpolitik dieser Zeit basierten genau auf dieser Theorie. Ohne Zweifel spielte auf dem Weg zur Literatur der entwickelten sozialistischen Gesellschaft der Bezug auf die unmittelbare Gegenwart als Gegenstandsfeld literarischer Aneignungstätigkeit wieder 22
eine entscheidende Rolle. In der Prosa - sie vor allem mit ihrer relativen Extensität in der Aufnahme von geschichtlich bestimmter Wirklichkeit zeigt die Bedeutung des genannten Faktors - wurden Materialien, Beziehungen, Abläufe und Probleme gesellschaftlichen Lebens aufgegriffen, die sich als historisch neu darstellten. Es wurden Bilder von Anstrengungen und Kämpfen entworfen, wie sie mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse, der Sicherung der Staatsgrenze, der praktischen Lösung der nationalen Frage 1961, dann mit dem neuen System der Leitung und Planung der Volkswirtschaft, der Verbindungen von sozialistischer und wissenschaftlichtechnischer Revolution verbunden waren. Arbeiten wie Der geteilte Himmel von Christa Wolf oder Erik Neutschs Die Spur der Steine brachten, am Punkte des Übergangs, die genannten Prozesse jeweils am paradigmatischen Ausschnitt zum Vorschein. Und allgemeiner: Vielfältiger wurden die mit der neuen Phase sozialistischer Kulturrevolution sich einstellenden Notwendigkeiten qualifizierter Arbeit auf allen Gebieten, die im gesellschaftlichen Reifeprozeß sich ergebenden Probleme beim bewußten Ausbau der sozialistischen Demokratie erfaßt; stärker gerieten in die Literatur neue Arten von Widersprüchen auf dem Wege zur sozialistischen Gemeinschaft, Widersprüche zwischen Gleichberechtigten und doch verschieden Befähigten, zwischen Kampfgenossen und doch verschieden Denkenden; wesentlich wurde der neue Zusammenhang von Dynamik und Stabilität im Prozeß der Veränderung der sozialistischen Beziehungen insgesamt und auch der erfahrbaren Lebensbereiche. Neue Beziehungen in den Kollektiven und zwischen ihnen, zwischen den einzelnen und der Gesellschaft, neue charakteristische Geschehensabläufe, neue Problemlösungsarten in der Gesellschaftsbewegung und in den Anstrengungen der Kollektive, neue „Prozeßqualitäten"26 bildeten sich und stellten die Literatur vor neue Schwierigkeiten. Als Aufgabe ergab sich die Aneignung auch des neuentstehenden Intim- und Gemeinschaftsverhaltens, der ihm zugrunde liegenden Einstellungen und Fähigkeiten als subjektiver Seite der sich verändernden Verhältnisse, der neuen Inhalte von Lebensanspruch und Lebenserfüllung, des neuen Verhältnisses zwischen ihnen und damit der neuen Bedingungen dafür, was Glück für Menschen sein kann. Zu betonen ist nun aber, daß die Gegenstandswahl aus der unmittelbaren Gegenwart in der literarischen Entwicklung der Zeit des Aufbaus des entwickelten Sozialismus nicht den gleichen Stellenwert haben konnte wie in der vorhergehenden Geschichtsetappe. Aus zwei
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Gründen: Die Orientierung auf Gegenwart war in der Phase zuvor identisch mit der Orientierung auf sozialistische Wirklichkeit überhaupt - Kernstück im Versuch, eine Literatur zu schaffen, die die gesellschaftliche Verständigung über eine neue Epoche betreiben konnte. In der späteren Phase des Sozialismus konnte, was nun Gegenwart war, nicht mit dem weltgeschichtlich Neuen identisch sein, es mußte sich als Teil in einem größeren geschichtlichen Prozeß des Sozialismus darstellen. Und zweitens vollzog sich das Vorzeigen der neuen Gegenwart nunmehr vor einem gesellschaftlichen Bewußtsein, in das schon langjährige sozialistische Erfahrungen eingegangen waren, in dem sich ein neues Zeitempfinden ausprägte, für das Vergangenheit nicht mehr ausschließlich die Zeit des Krieges und des Imperialismus, sondern mehr und mehr die Zeit des Sozialismus selbst war. Diesen Zusammenhängen folgend, bildete auch die Literatur eine neue Vorstellung vom Ganzen der Zeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, legte sie Wert darauf, die Prozesse in der Einheit und Verschiedenheit ihrer Phasen zu erhellen. Aus d i e s e m Verhältnis holte sie nun ihre Provokationen. Zur Erscheinung gebracht wurde, was in dem entwickelteren Gesellschaftsgefüge erreicht worden war und was zu tun blieb, was für den einzelnen und die Kollektive nun als revolutionäres Handeln und was als Verlust so bestimmten Verhaltens, was als echte Eingliederung in den Gesellschaftsprozeß und was als bloße Anpassung gelten muß. In dem Maße, wie die neuen Entwicklungen im Sozialismus schon von sozialistischen Bedingungen ausgingen, sich auf bereits sozialistischen Grundlagen entfalten konnten, prägte sich in der Literatur der DDR die Tendenz zu einer neuen Geschichtlichkeit aus.27 Drei Momente zeigen diese neue Geschichtlichkeit in der Prosa unseres Landes deutlich an. Erstens fällt auf, daß in die bedeutenden Literaturwerke eine neue Art von Zeiten Wechsel eingeschrieben wird, ein Wechsel der Zeiten nicht des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, sondern eines wichtigen Übergangs innerhalb des Sozialismus.28* Zuerst, am Punkte des Neueinsatzes, werden in die erzählten Welten deutliche Signale für einen unwiderruflichen, tief- und weitgreifenden Einschnitt gesetzt. Eine Gruppe solcher Signale, die auf ein Ende und einen neuen Anfang verweisen, haben wir z. B. in dem Aufruf einer „Stunde zwischen Hund und Wolf" 29 und der Motivik von der Möglichkeit eines vollen Lebens nach der Abwendung tödlicher Gefahr in Christa Wolfs Der geteilte Himmel; eine andere im dargestellten Ende der „Goldsucher"30*, der ihre Aben-
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teuerlichkeit fordernden Arbeitsweisen auf den großen Baustellen und der in Szene geset2ten Wendung zu einer von Wissenschaft immer stärker durchzogenen, komplexer organisierten Produktion in Erik Neutschs Die Spur der Steine; eine weitere Gruppe von Signalen etwa in der Nachricht von der Schließung der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät allgemeiner: der erledigten Aufgabe einer bedeutenden Einrichtung der sozialistischen Kulturrevolution der vorhergehenden Zeit - und dem Beginn einer erzählbaren, neu zu ergründenden Vergangenheit im Sozialismus in Hermann Kants Aula. Dieses Buch kündigt zugleich ein vertieftes Bewußtsein von den zunächst signalisierten Vorgängen an: Der Zeitenwechsel schlägt sich hier zum erstenmal auch strukturell nieder, wird in der Vervielfachung der Zeitebenen sichtbar gemacht, im ausgestellten Nachdenken über die Vergangenheit, im gestalterischen Nachweis von Zusammenhang und Verschiedenheit heutiger Welt und ihrer unmittelbaren Vorgeschichte in den ersten Etappen des Sozialismus. In der späteren Prosa werden solche Signale und solche Strukturen immer wiederkehren, sich verdeutlichen und, erkundend, auf immer weitere Aspekte des Lebens bezogen sein. Sie finden sich in Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. ebenso wie in Erik Neutschs Auf der Suche nach Gatt (1973) oder in Hermann Kants Impressum (1969), in Günter de Bruyns Buridans Esel nicht weniger deutlich als in Werner Heiduczeks Abschied von den Exigeln (1968) oder in Alfred Wellms Pause für Wanzka, in Karl-Heinz Jakobs Pyramide für mich (1971) ähnlich wie in Gerti Tetzners Karen W. (1974). Aus den gleichen Quellen wie die Neigung zur Zeitenschichtung in der neueren Prosa der D D R rührt zweitens das Bemühen her, das Land des sozialistischen Anfangs neu zu entdecken, auf frühere Etappen des Sozialismus, auf die Zeit des Epochenumbruchs wiederum zurückzugehen. Es zeigt sich dies etwa in der Darstellung zweier historischer Knotenpunkte in Erwin Strittmatters Ole Bienkopp, in dem erneuten Zugriff zum Stoff der frühen fünfziger Jahre bei Joachim Knappe in Mein namenloses Land (1965) oder bei Anna Seghers in Das Vertrauen (1968). Das sich verstärkende Interesse für die Zeit unmittelbar nach der Zerschlagung des Faschismus - erinnert sei nur an neuere Arbeiten von Alfred Wellm, Günter Görlich, Hermann Kant - offenbart eine weitere Dimension der Anstrengung, Vergangenheit für uns heute durchzuarbeiten. Und drittens wuchs aus diesen Bemühungen um den Nachweis von Zusammenhang und Unterschiedlichkeit der Etappen des Sozialis25
mus, um eine Neuentdeckung des Beginns sozialistischer Entwicklung und ihres Verlaufs auch der Versuch, die Zeit von der Zerschlagung des Faschismus an in neuen Formen des Romans mit Entwicklungsdarstellungen zu umfassen. Dies läßt sich in Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand (1974) ebenso erkennen wie in Helmut Sakowskis Daniel Druskat (1976), in der Weiterführung des Romans Der Wundertäter (1973) durch Erwin Strittmatter ebenso wie in Erik Neutschs begonnener Folge Der Friede im Osten (1974). An dem skizzierten Prozeß ist abzulesen: Der Vorstoß zum neuen Gegenstand ist nicht eine Annäherung an etwas, dessen bedeutende Eigenschaften, Beziehungen, Verhältnisse ein für allemal gegeben und nur immer tiefer zu erkennen wären. Was in der Tat vorliegt, ist eine zweifache Bewegung: Aneignung eines geschichtlichen Prozesses, in dem Neues, in der Entwicklung Höherstehendes oder auch Anderes entsteht; Aneignung eines geschichtlichen Prozesses aber auch, in dem die neuen Vorgänge zugleich die älteren interpretieren, die dort liegenden Möglichkeiten und Zwangsläufigkeiten, die veränderliche Bedeutung des rein Faktischen aufdecken. Beides ist für die Literatur von entscheidender Wichtigkeit. Bekanntlich ist es nicht möglich, a priori zu bestimmen, was von der geschichtlichen Wirklichkeit bleibt - es resultiert dies immer erst aus dem wirklichen Prozeß. Die Literatur aber gibt für die Gegenwart in exemplarischen Gestalten Vorschläge und Hypothesen des Bleibenden (ob sie angenommen werden bzw. sich bestätigen, begründet wesentlich den dauernden Wert von Werken), und sie arbeitet - angesichts der im Geschichtsprozeß aufgedeckten Möglichkeiten und Zwangsläufigkeiten der Vergangenheit, angesichts der aus ihr in die Gegenwart reichenden Folgen, des wirklich Gebliebenen - an einer neuen Verständigung über die Bedeutung des Vergangenen mit. Die exemplarischen Gestalten solcher Bedeutung, die jetzt über dem Gegenstandsfeld einer früheren Wirklichkeit gebildet werden, müssen sich notwendig von denen unterscheiden, die die ehemaligen Zeitgenossen über der gleichen Wirklichkeit bildeten, wenn zwischen beiden Zeiten ein Wechsel stattfand, in dem Folgen sichtbar und Möglichkeiten aufgedeckt wurden, die die Bedeutung des Älteren klärten oder auch veränderten. Daß dies in unserer Literatur der Fall ist, daß ihr neue Entdeckungen an einer literarisch schon längst zum Gegenstand gemachten Wirklichkeit gelangen, daß sie deren Bekanntheit als unvollständig, als scheinbar enthüllte - das ist wiederum ein sicherer Hinweis auf einen Einschnitt im literarischen Prozeß. 26
Die Literaturkritik reagierte auf den skizzierten Vorgang mit Verzögerung. Die zunächst anhaltende, aus der vorangegangenen Zeit einfach weitergeführte Forderung, die literarische Tätigkeit möge sich der unmittelbaren Gegenwart, neuester Wirklichkeit zuwenden, erwies sich dabei nun als kurzschlüssige? Verfahren, als Versuch, aus dem allgemeinen epochenbezogenen Axiom von der literaturbestimmenden Rolle des neuen Gegenstandes ein an neueste Gegenstände gebundenes spezielleres Gesetz zu deduzieren. Das mit der genannten Forderung operierende Konzept hatte zweifellos aber einen geschichtstheoretischen Hintergrund: die Verselbständigung von Besonderheiten des entwickelten Sozialismus zur eigenen Formation, die damit im Zusammenhang stehende Harmonisierung der widersprüchlichen geschichtlichen Bewegung zu einer schönen Menschengemeinschaft, die Vorstellung, schon erreichte Übereinstimmung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen mache nun eine gänzliche Neuheit aus. In dem Maße, wie diese Vorstellung sich als theoretisch inadäquat erwies, mußte auch deutlicher werden, daß die These, die unmittelbare Gegenwart sei der bestimmende Gegenstandsbereich unserer Literatur, den Blick verengte. Schriftsteller signalisierten dies früh, und schließlich führte auch die Theorie einen entschieden auf die Epoche bezogenen Begriff „neuer Gegenstand im historischen Sinne" ein. Er umfaßt „das für die Kunst Wichtige und Spezifische im gesellschaftlichen Leben während des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus und vor allem in der Etappc . . ., in welcher der entwikkelte oder reife Sozialismus gestaltet wird" und insofern nun im weiteren Sinn die dem Sozialismus eigenen und für den Sozialismus charakteristischen Beziehungen, Verhältnisse, Prozesse.31 Älteren sozialistischen Traditionen gemäß arbeitet unsere Literatur inzwischen verstärkt daran, dieses Eigene des Sozialismus in den Gesamtzusammenhang der großen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu stellen.
Unruhe des freieren Blicks Der Vorgang, in dem sich eine vertiefte Geschichtlichkcit unserer Literatur herausbildete, verdeutlicht zugleich, daß der Gesellschaftsprozeß nicht nur dadurch verändernd auf die künstlerische Tätigkeit Einfluß nahm, daß er ihr neue Wirklichkeiten zur Aneignung aufgab, vielmehr wirkte er auch in ihr selbst, in der Veränderung der Subjektivität, die sich in dieser Aneignung betätigt. 27
Die Literaturkritik reagierte auf den skizzierten Vorgang mit Verzögerung. Die zunächst anhaltende, aus der vorangegangenen Zeit einfach weitergeführte Forderung, die literarische Tätigkeit möge sich der unmittelbaren Gegenwart, neuester Wirklichkeit zuwenden, erwies sich dabei nun als kurzschlüssige? Verfahren, als Versuch, aus dem allgemeinen epochenbezogenen Axiom von der literaturbestimmenden Rolle des neuen Gegenstandes ein an neueste Gegenstände gebundenes spezielleres Gesetz zu deduzieren. Das mit der genannten Forderung operierende Konzept hatte zweifellos aber einen geschichtstheoretischen Hintergrund: die Verselbständigung von Besonderheiten des entwickelten Sozialismus zur eigenen Formation, die damit im Zusammenhang stehende Harmonisierung der widersprüchlichen geschichtlichen Bewegung zu einer schönen Menschengemeinschaft, die Vorstellung, schon erreichte Übereinstimmung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen mache nun eine gänzliche Neuheit aus. In dem Maße, wie diese Vorstellung sich als theoretisch inadäquat erwies, mußte auch deutlicher werden, daß die These, die unmittelbare Gegenwart sei der bestimmende Gegenstandsbereich unserer Literatur, den Blick verengte. Schriftsteller signalisierten dies früh, und schließlich führte auch die Theorie einen entschieden auf die Epoche bezogenen Begriff „neuer Gegenstand im historischen Sinne" ein. Er umfaßt „das für die Kunst Wichtige und Spezifische im gesellschaftlichen Leben während des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus und vor allem in der Etappc . . ., in welcher der entwikkelte oder reife Sozialismus gestaltet wird" und insofern nun im weiteren Sinn die dem Sozialismus eigenen und für den Sozialismus charakteristischen Beziehungen, Verhältnisse, Prozesse.31 Älteren sozialistischen Traditionen gemäß arbeitet unsere Literatur inzwischen verstärkt daran, dieses Eigene des Sozialismus in den Gesamtzusammenhang der großen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu stellen.
Unruhe des freieren Blicks Der Vorgang, in dem sich eine vertiefte Geschichtlichkcit unserer Literatur herausbildete, verdeutlicht zugleich, daß der Gesellschaftsprozeß nicht nur dadurch verändernd auf die künstlerische Tätigkeit Einfluß nahm, daß er ihr neue Wirklichkeiten zur Aneignung aufgab, vielmehr wirkte er auch in ihr selbst, in der Veränderung der Subjektivität, die sich in dieser Aneignung betätigt. 27
Wandten sich viele Autoren der jüngeren oder jüngsten Vergangenheit erneut zu, so ging ihre Arbeit von Standpunkten aus, die in einer entwickelteren sozialistischen Gesellschaft gewonnen werden konnten, von vergrößerter Geschichts- und Menschenkenntnis, von vertiefter Einsicht in den historischen Prozeß, von neuen Interessen. Was sie aus der Realität zum Gegenstand machten und wie das geschah das war auch abhängig von der so veränderten subjektiven Kraft der literarischen Tätigkeit. Die neuen literarischen Gestalten waren Resultat einer veränderten Art, gesellschaftliche, kollektive und individuelle Beziehungen, Verhältnisse, Prozesse zu werten, an ihnen Wichtiges und Bedeutendes zu erfassen, Resultat veränderter Möglichkeiten, sich auf die Vergangenheit zu beziehen. Der aufhellende Ton mit seinen komisch-distanzierenden Akzenten, in dem Johannes Bobrowski in Levins Mühle (1964), Jurek Becker in Jakob der Lügner (1968) ihre Geschichten erzählen - ist abhängig von dem „Ort, wo man sich befindet"32, und gleiches gilt für den Ton der heiteren Distanz oder der tragischen Erkenntnis im Versuch, die eigene Geschichte durchzuarbeiten, wie er bei Hermann Kant in der Aula oder bei Christa Wolf in Nachdenken über Christa T. zu finden ist. In aufschlußreicher Weise hat Alfred Kurella33* schon früh auf Momente der neuen Subjektivität im Literaturprozeß aufmerksam gemacht, als er 1961 Veränderungen in der Literatur der Zeit mit einer „ V e r s c h i e b u n g d e r E m p f i n d s a m k e i t s w e r t e " begründete, mit einer „Verschiebung in den Werten des Lebensgefühls" nicht allein im Gegenstandsfeld künstlerischer Tätigkeit, sondern in ihr selbst, in der literarischen Arbeit, die sich „mit alten wie mit neuen Gegenständen" beschäftigen mag. Wie für marxistische Theorie selbstverständlich, war hier von einem gesellschaftlich bedingten, nicht willkürlichen, einem gemeinschaftlichen und nicht bloß individuellen Faktor des Literaturprozesses die Rede. Dies geschah mit der von André Malraux übernommenen Formel von dem „déplacement des valeurs de sensibilité" (zumal in der freien Übersetzung) sicher etwas einseitig: Der größere Zusammenhang der Ideen und Werte, des ideologischen Interesses, der Denk- und Sichtweise, des Zeitbewußtseins konnte mit dem Terminus „Lebensgefühl", der dann für eine Weile unreflektiert durch unsere Kritik geisterte, nicht erfaßt werden. Aber entschieden wurde nach dem neuen Subjekt künstlerischer Tätigkeit gefragt, dessen „Gefühle" aus dem Kontrast zu alten Gefühlen unseres Lebens entstehen, vor dem „alte Grenzen und Tabus schmelzen", das neue Gegenstände „kunstfähig" macht. Die These 28
wurde aufgestellt, daß erst solches Lebensneue den Stoff der Kunst in seinem spezifischen Gewicht verändert, neue ästhetische Werte bildet und neue Kunstwirkungen hervorbringt. Das Material, an dem Kurella seine Thesen gewann - in der Dramatik: Helmut Baierls Frau Flinz (1961); in der Prosa: Christa Wolfs Moskauer Novelle (1961), Karl-Heinz Jakobs Beschreibung eines Sommers (1961), Armin Müllers D« wirst dir den Hals brechen (1961) - war zu dieser Zeit unentwickelt. Das neue Gedicht, wie es wenig später in den ersten großen Lyriklesungen vorgestellt wurde, war noch nicht da; die kommende bedeutende Dramatik der DDR zeigte sich erst in Ansätzen; die Prosa befand sich im Umbruch. An Momenten neuen „Lebensgefühls" aber wurde schon sichtbar: das Selbstverständlicherwerden von „realen Kategorien unseres praktischen Lebens", ein Sprechen von innen her, mit der eigenen Stimme des Neuen, die nun nicht mehr von „außen her" schildert, darstellt, konstruiert und deklariert.34 Gerade dies das neue Zeitbewußtsein, der vertraute Umgang mit der uns gehörenden Wirklichkeit, ein Sprechen aus seiner Mitte - waren wesentliche Entwicklungsmomente der Subjektivität, die nun in der Literatur immer stärker zum Vorschein kommen sollte. Auf ihre kommunikativen Intentionen machte ein späterer Satz von Volker Braun aufmerksam: „Wir gehen nicht mehr von außen an die Gesellschaft heran, sondern wir versuchen, immanent zu arbeiten."35 Drei Prosa-Autoren haben die veränderte Subjektivität und deren kommunikative Intentionen als Grund eines Neueinsatzes unserer Literatur, wie er mit den sechziger Jahren zu beobachten ist, genauer charakterisiert: Jurij Brezan, Hermann Kant und Christa Wolf. Diese Autoren markieren zugleich bedeutende Unterschiede im Feld der veränderten literarischen Subjektivität. Was sie theoretisch aussagen, läßt sich unschwer als Bestandteil der immanenten Ästhetik von Brezans Krabat (1976), Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., Kants Aula ausmachen. Für Jurij Brezan war Grunderlebnis die Gründung der DDR, die ihm, dem Heimatlosen, ein Vaterland gab. Sie machte ihm „nicht nur die durchlebte Zeit wägbar durch gültige Gewichte, sondern legte auch für die noch zu durchlebenden Zeiten Maß- und Gewichtseinheiten fest, nach denen jede Tat und jede Untat zu messen und zu wägen war - und bestimmte Ziele und Inhalt eigener Anstrengungen". Das Neue jedoch, das im geschichtlichen Vorgang lag, wurde zum „festbegründeten, selbstverständlichen Besitz" - und Jurij Brezan sieht hierin eine Gefahr: „Wo das Grunderlebnis stagniert, wird es 29
am Ende unfruchtbar." Seine Folgerungen liegen genau auf der Linie der wirklichen Literaturentwicklung. Im Einklang zu leben mit der Zeit heißt für ihn: immer neu Maß zu nehmen, sich der Welt und ihrer Geschichte zu bemächtigen. Dabei gilt als Voraussetzung, „das Grunderlebnis so durch die eigenen Jahre und die objektive Zeit mitzunehmen, daß es aus seiner ursprünglichen, durchaus natürlichen Enge hinüberwächst in das neue Abenteuer, das erregendste, das umfassendste, das man sich nur denken kann: den die ganze Welt umfassenden Kampf einer versteinerten alten und einer lebendigen jungen Welt, in dem es nicht mehr um Sieg und Niederlage an dem einen Ort, in dem einen Abschnitt geht, . . . sondern um Kopf und Kragen der Menschheit überhaupt". 36 Was bei Jurij Brezan als die in eine neue Zeit hinüberwachsende Erweiterung des Grunderlebnisses, als eine mit der Zeit fortschreitende Vertiefung des Epochenverständnisses erscheint, faßt Hermann Kant vergleichbar - doch mit entschiedenerer Akzentuierung des Neuen - als das Entstehen der Möglichkeit eines freieren Blicks. Die Gesellschaft, sagt er, hatte Abschied genommen von der Vergangenheit; in einem schwierigen Vorgang war etwas Neues gewachsen; gesellschaftlich war ein Punkt erreicht, der einen ersten Uberblick ermöglichte: „Der Blick zurück in Zorn und Schuld blieb, aber wir waren auch schon in der Lage, mit Genugtuung zurückzublicken, mit Freude über einen erfolgreichen Neubeginn, was sich selbstverständlich zum allgemeinen und individuellen Selbstbewußtsein formte." Und aus dem geschichtlich hervorgebrachten Bewußtsein von der Lösbarkeit schwierigster Aufgaben, der Veränderbarkeit der Gesellschaft sah er eine innere Freiheit hervorwachsen, „über sich selbst und sein Leben in der Gesellschaft unbefangener nachzudenken, zu summieren und festzustellen, was denn da mit einem geschehen war und was man hat geschehen lassen und wie man zu neuen Positionen vorgestoßen war" - damit aber auch eine Fähigkeit zur Umverteilung gesellschaftlicher Erfahrung. 3 7 Umverteilung gesellschaftlicher Erfahrung als Grund und Ziel der neuen literarischen Arbeit meint auch Christa Wolf, wenn sie sagt: „Das Bedürfnis, auf eine neue Art zu schreiben, folgt, wenn auch mit Abstand, einer neuen Art, in der Welt zu sein." Verwiesen wird hier aber auf Veränderungen der Subjektivität, die die Weise der Weltbegegnung grundsätzlicher wandeln. Sie können deshalb auch nicht mit dem vorsichtigen Komparativ beschrieben werden, den Kant zu ihrer Charakterisierung benutzte. Christa Wolf gebraucht den Aus-
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druck „Wechsel": „In Zeitabständen, die sich zu verkürzen scheinen, hört, sieht, riecht, schmeckt ,man* anders als noch vor kurzem. Ein Wechsel der Weltempfindung ist vor sich gegangen, der sogar die unantastbare Erinnerung antastet; wieder einmal sehen wir ,die Welt' aber was heißt das: die Welt? - in einer anderen Beleuchtung; auch Lebensgefühle scheinen heutzutage weniger dauerhaft als in früheren Zeiten: die Unruhe ist beträchtlich." Zwar ist die Versuchung mächtig, so notiert Christa Wolf, diese Unruhe nicht zur Kenntnis zu nehmen, mit der großen Gebärde erprobter Manier ins Leere zu greifen; doch glaubt sie, daß auf die Dauer das Bedürfnis mächtiger ist, die neue Weltempfindung zu artikulieren. 38 Für sie - und das charakterisiert symptomatisch Teile der Literatur am Ende des vorigen Jahrzehnts - hat die veränderte Subjektivität ihr Zentrum im Versuch, die Schwierigkeit zu bewältigen, nach dem „Lichtwechsel" der Zeit „in das nüchterne Licht wirklicher Tage und Nächte zu sehen", den Dingen sich zuzuwenden, wie sie wirklich sind, den Ereignissen, wie sie jenseits ihres Abglanzes in Wünschen, Glaubenssätzen und Urteilen wirklich passieren, und dabei auch auf den Gestalten der Trauer hartnäckig zu bestehen.39 Der Gewinn einer Haltung, die „spontanes, direktes, rücksichtsloses Reagieren, Denken, Fühlen, Handeln, ein unbefangenes . . . , ungebrochenes Verhältnis zu sich selbst und zu seiner persönlichen Biographie" erlaubt - das scheint ihr Voraussetzung für die „realistische Seh- und Schreibweise",40 die hier verlangt wird. Was Literatur uns aneignet, was sie uns zur Verfügung stellt davon sprechen die zitierten Überlegungen - , ist nicht allein etwas, „was dem künstlerisch erkennenden und gestaltenden Subjekt entgegensteht' " 41 , es ist ebenfalls die Art dieser Aneignung selbst, die Weise des Sehens, Vorstellens, Fühlens, Wertens, des ästhetischen Verfahrens, an Gestalten etwas für uns Wichtiges und Wesentliches zu erfassen, der sinnlichen, nichttheoretischen Organisation unserer Erfahrungen, wie sie auch im Alltag gilt. Die Rolle des damit umschriebenen Moments wird nur dann verkannt, wenn ein an Verfahren der Wissenschaft geschultes Denken die literarische Produktion als eine vornehmlich gegenständlich orientierte Abbildung von Realität (Dingen, Menschen, Verhältnissen, Prozessen) auffaßt und meint, daß die Wirkung von Kunstwerken dominant von den aufgefaßten Objekten getragen wird. Die Literatur aber gibt in ihren Gestalten nicht nur so oder so gesehene Gegenstände, sie zieht uns auch in eine bestimmte Weise des Sehens, Vorstellens, Fühlens, Wertens, des ästhe31
tischen Verhaltens hinein. Gerade in der Art, wie sie unsere Erfahrungsweise klärt, bestärkt, korrigiert, wie sie unsere Wertbeziehungen und die Arbeit mit deren Kriterien trainiert, hat sie ihre gesellschaftliche Wirkung. Und genau in dieser Wirkung, in ihrer Orientierung darauf hat sie auch einen ihrer Ausgangspunkte. Die Formulierungen bei Brezan, Kant, Christa Wolf weisen darauf hin, daß sich neues Zeitempfinden in der Auseinandersetzung mit einem Weltverhältnis ausformte, in dem der Wandel, die Notwendigkeit, „neu Maß zu nehmen", die Möglichkeit eines „freieren Blicks", der „Wechsel der Weltempfindung" nicht bemerkt wurden und von dem aus infolgedessen von der Literatur die „Gebärde der erprobten Manier" erwartet wurde. Es ist kein Zufall, daß das bedeutungsuchende und bedeutungerkennende, das werterfassende und wertsetzende Verhalten, das der literarischen Tätigkeit - als Form des ästhetischen Denkens im Alltag - zugrunde liegt, das durch sie gesteigert, in konzentrierter Weise erprobt wird, von den Schriftstellern selbst auch verstärkt zum G e g e n s t a n d gemacht wurde. So wurde in unserem Zeitraum bei nicht wenigen Prosa-Autoren die neue Art der Wirklichkeitssicht, die Aktion des Erfahrungsgewinns im erneuten Durcharbeiten der Vergangenheit usw. auch direkt thematisiert. (Die Häufung von Künstlergestalten, von Gestalten verwandter reflektierender Berufe in unserer Romanliteratur hat hier ihren wichtigsten Grund.) Immer wieder traten z. B. Figuren auf, die früherem Erleben nachdenkend begegnen; ein Erzähler wurde ins Spiel gebracht, der sich über das Erzählte oder das Erzählen in kritischer Distanz zu äußern hat. Kants Aula oder sein Impressum, Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. oder die Kindheitsmuster (1976), Erik Neutschs Auf der Suche nach Gatt - es sollen wieder nur Beispiele genannt werden - ließen gerade deshalb aufhorchen. Hier wurde die neue Weise der Aneignung ausdrücklich besprochen. Und Vergleichbares findet sich auch da, wo als Gegenstandsfeld die unmittelbare Gegenwart gewählt wurde: Auch hier zeichnete sich am Bild subjektiver Beziehungen und Vorgänge - etwa der Zeitenschichtung im individuellen Bewußtsein, differenzierter psychischer Prozesse, der möglichen Ambivalenz des Verhaltens - neues Vermögen nicht nur in allgemeiner Form ab; es wurde vielmehr häufiger auch, so etwa von Karl-Heinz Jakobs in seinem Buch Die Interviewer (1973), das Prinzip ausgestellt, w i e Erfahrung organisiert wird. Die in der Literatur zu Wort kommende neue Subjektivität war in solchem Fall Gegenstand u n d Aktionsform 32
der literarischen Tätigkeit zugleich. D a ß sie zum Gegenstand gemacht, ausdrücklich mit ihren veränderten Aufmerksamkeits- und Interessenrichtungen benannt, vielleicht diskutiert wurde, war Teil der Veränderung dieser Richtungen selbst: Die genannte Gegenstandsbildung ergab sich aus dem Verlust von Selbstverständlichkeiten der Verfahren, aus dem Zwang zur Verständigung über unsere Art, der Wirklichkeit Sinn abzugewinnen; sie resultierte daraus, daß alte Prinzipien des Sehens und Wertens ungültig, neue begründet wurden. Für unseren jetzigen Zusammenhang aber ist entscheidend, daß die Schriftsteller die Beziehung, in der Bedeutung und Wert von Erscheinungen des Lebens erfaßt werden, keineswegs allein als Gegenstand vorfinden und behandeln können. Sie treten vielmehr bei ihrer literarischen Tätigkeit in die Beziehung ein, durch die sich Bedeutung und Wert von Erscheinungen des Lebens klären, und erarbeiten an exemplarischen Gestalten und Modellen sich und uns diese Bedeutung, diesen Wert. Ihr Werk ist in dieser Relation nicht ein Abbild der genannten Beziehung, sondern deren Ausdruck, Resultat der Aktion, in der das bedeutungerfahrende, wertsetzende, sprachsuchende Verhältnis sich betätigt. In ihrer Tätigkeit finden die Schriftsteller (wie die Leser) immer schon gesellschaftlich geprägte kollektive Gemeinsamkeiten, allgemeinere Weisen solchen Verhaltens vor. Die Kriterien und Normen dessen, was als typisch gelten kann, was zu bejahen und zu verneinen, was als schön oder erhaben, als tragisch oder komisch, als interessant oder als banal zu werten ist, charakterisieren wesentlich den Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins. Es handelt sich hierbei, obwohl Konventionalisierung mitspielt, keineswegs um bloße Konventionen: Die Kriterien nämlich, die das Bedeutende und Bedeutsame, Wichtige, Wertvolle, Interessante an der Wirklichkeit oder an ideellen Gestalten bestimmen lassen, sind verallgemeinerte Resultate von Erfahrungen, die den natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Menschen, den von ihren Interessen geregelten Beziehungen zu ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt, zu anderen Menschen und zum eigenen Ich folgen und so selbst weder bloß willkürlich sind noch bloß individuell. Und sie sind an Beispielen gelernt in einem Prozeß gesellschaftlicher Kommunikation, Bewertung und Selektion, in dem sich klärt, was für wen gültig ist. In den Weisen des ästhetischen Verhaltens haben wir eine Form der sozial organisierten und organisierenden Erfahrung vor uns. Im 3
Sellenstedt
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Vorgang dieser Organisation setzt Literatur wesentlich ihre Wirkung an. Was sie in den Werken übermittelt, sind Anregungen für den Leser, in den Prozeß des Sich-Beziehens, eines bestimmten ästhetischen Verhaltens einzutreten. Mitunter wird die rezeptive Aktivität als eine Vorstellungstätigkeit erklärt, in der sich die Leser phantastisch in das Leben der dargestellten Figuren hineinversetzen, es miterleben, das eigene Dasein darin erweiternd. Was so beschrieben wird, ist jedoch nur e i n e M ö g l i c h k e i t rezeptiven Geschehens. Genereller gilt, daß die Leser in ein ästhetisches Verhalten geraten, welches die Werke über alle Ebenen und Komponenten ihres Aufbaus anzuregen imstande sind: über den T e x t ; über die dargestellte Welt der Figuren, Handlungen, Milieus; über den Erzähler, die Komposition, die Gattungsausprägung; über die Entsprechungen und Widersprüche zwischen diesen Ebenen und Komponenten. Wir werden eingeladen, über die von den Werken zur Verfügung gestellten exemplarischen Gestalten das Verhalten zu teilen, das ihnen diese und nicht jene Akzentuierungen, Beleuchtungen, Widersprüche, Perspektiven verlieh; wir werden angestoßen, die Art, wie hier gesehen, empfunden, gewertet wurde, mit unserer Seh-, Empfindungs-, Wertungsweise zu vergleichen; wir werden zur Einsicht in beider historische, soziale und individuelle Relativität und damit sowohl zur Ich-Erweiterung wie zur Selbsterkenntnis gedrängt. So nimmt Literatur Einfluß auf die Art, wie wir eine Bedeutung, einen Wert von Erscheinungen des Lebens auffinden, klären, problematisieren, verwerfen, neu begründen. D i e literarische Tätigkeit hat dadurch in Produktion und Rezeption nicht nur formal die Merkmale von Aktivität - indem sie etwa bloß die schon vorhandenen Kriterien und Normen in Bewegung setzt, nach denen wir uns ästhetisch verhalten - : Sie vermag produktives Moment in dem Gesellschaftsprozeß zu sein, in dem wir die Prinzipien des ästhetischen Verhaltens bilden und umbilden, wenn sie mit den bestehenden sich auseinandersetzt und neue Vorschläge erprobt. Parteinehmend und aktiv steht die literarische Arbeit dann mitten in dem Vorgang, in welchem die Bezüge zwischen den uns betreffenden Eigenschaften der Dinge, Menschen, Verhältnisse, Prozesse und unseren Einstellungen, Bedürfnissen, Interessen geklärt werden. D i e Kriterien und Normen dafür findet sie in den sozial differenzierten Gesellschaften wohl mitunter im Spiegel bestimmter Ideologie vereinheitlicht, niemals aber in wirklicher Einheit, in dynamischen Gesellschaften wohl mitunter fixiert, niemals aber unbeweglich vor. Will die literarische Arbeit produktiv
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sein, kann sie die bisher gültigen Kriterien und Normen nicht einfach als allgemein verbindliche, unveränderliche Raster gebrauchen, die einfach vor die wechselnden Objekte gehalten werden können. Hermann Kant bezeichnete den Vorgang, in dem sich neue Einsichten und neue Blickweisen in unserer Literatur durchsetzten, als Bestätigung für die These, daß das gesellschaftliche Sein, die gesellschaftliche Entwicklung sich ständig in Literatur reflektiert. 42 Tatsächlich: Auch der Niederschlag veränderten Lebensgefühls, der Verschiebung der „Werte der Empfindsamkeit", des Wandels der Interessen und Aufmerksamkeiten, wie er sich in neuen stofflichen Orientierungen, in neuen Konstellationsbildungen, in neuen Wertakzentuierungen, perspektivischen Beleuchtungen, Themen zeigt, läßt sich als Reflexion der Wirklichkeit, als Widerspiegelung auffassen. Wir haben jedoch bei solchem Begriffsgebrauch die hier gemeinte Spezifik zu beachten. Gesellschaftliches Leben wird in diesem Zusammenhang in Form des Ausdrucks der literarisch arbeitenden Subjektivität, ihrer Gesellschaftlichkeit und ihrer Individualität widergespiegelt. Diese Art von Widerspiegelung zeigt sich an dem, was zur Abbildung ausgewählt wird, an der Enge oder Weite, an den Perspektiven und Kontrasten, die den entworfenen Gestalten eingezeichnet sind, offenbart sich im Vergleich mit den bekannten Inhalten und Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins. E s kann sich unsere lesende Aufmerksamkeit so auch auf diesen Aspekt der literarischen Gestalten - auf die Art, wie sie Erfahrung organisieren kritisch erkennend beziehen. D a ß die Literatur gerade mit solchem Interesse rechnet, daß sie es anregen und dadurch ein ästhetisches Verhalten zweiter Stufe erzeugen will, zeigt sich in der Häufung jener Verfahren in unserer Prosa, die das „Nachdenken", die „Suche", das „Erinnern" selbst uns zur Einsicht anbieten.
Zwei Aspekte neuer FunktionsSpezifik, Viele der Probleme, die im Kontext der gegenständlichen und subjektiven Beziehungen unserer Literatur aufgeworfen wurden, verweisen auf den neuen kommunikativen Zusammenhang der literarischen Arbeit, auf ihr sich veränderndes Wirkungsfeld. E s ist an der Zeit, diesen neuen Zusammenhang selbst in einigen seiner Hauptzüge zu charakterisieren. Rosa Luxemburg nannte die Kunst ,.eine wichtige geschichtliche 3»
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sein, kann sie die bisher gültigen Kriterien und Normen nicht einfach als allgemein verbindliche, unveränderliche Raster gebrauchen, die einfach vor die wechselnden Objekte gehalten werden können. Hermann Kant bezeichnete den Vorgang, in dem sich neue Einsichten und neue Blickweisen in unserer Literatur durchsetzten, als Bestätigung für die These, daß das gesellschaftliche Sein, die gesellschaftliche Entwicklung sich ständig in Literatur reflektiert. 42 Tatsächlich: Auch der Niederschlag veränderten Lebensgefühls, der Verschiebung der „Werte der Empfindsamkeit", des Wandels der Interessen und Aufmerksamkeiten, wie er sich in neuen stofflichen Orientierungen, in neuen Konstellationsbildungen, in neuen Wertakzentuierungen, perspektivischen Beleuchtungen, Themen zeigt, läßt sich als Reflexion der Wirklichkeit, als Widerspiegelung auffassen. Wir haben jedoch bei solchem Begriffsgebrauch die hier gemeinte Spezifik zu beachten. Gesellschaftliches Leben wird in diesem Zusammenhang in Form des Ausdrucks der literarisch arbeitenden Subjektivität, ihrer Gesellschaftlichkeit und ihrer Individualität widergespiegelt. Diese Art von Widerspiegelung zeigt sich an dem, was zur Abbildung ausgewählt wird, an der Enge oder Weite, an den Perspektiven und Kontrasten, die den entworfenen Gestalten eingezeichnet sind, offenbart sich im Vergleich mit den bekannten Inhalten und Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins. E s kann sich unsere lesende Aufmerksamkeit so auch auf diesen Aspekt der literarischen Gestalten - auf die Art, wie sie Erfahrung organisieren kritisch erkennend beziehen. D a ß die Literatur gerade mit solchem Interesse rechnet, daß sie es anregen und dadurch ein ästhetisches Verhalten zweiter Stufe erzeugen will, zeigt sich in der Häufung jener Verfahren in unserer Prosa, die das „Nachdenken", die „Suche", das „Erinnern" selbst uns zur Einsicht anbieten.
Zwei Aspekte neuer FunktionsSpezifik, Viele der Probleme, die im Kontext der gegenständlichen und subjektiven Beziehungen unserer Literatur aufgeworfen wurden, verweisen auf den neuen kommunikativen Zusammenhang der literarischen Arbeit, auf ihr sich veränderndes Wirkungsfeld. E s ist an der Zeit, diesen neuen Zusammenhang selbst in einigen seiner Hauptzüge zu charakterisieren. Rosa Luxemburg nannte die Kunst ,.eine wichtige geschichtliche 3»
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Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander" 43 . Und sie charakterisierte mit Berufung auf Tolstoi die Widersprüche dieses Verkehrs in der entwickelten Klassengesellschaft: Künstler, die nicht das normale Leben eines arbeitenden Gesellschaftsgliedes führen; Mangel an Kultur und Entwicklung des gemeinen Menschen; eine Kunst, die - als Ausdrucksmittel herrschender Minderheiten - der großen Masse der Gesellschaft unverständlich ist; eine Kritik, die allein in der Erziehung der Menschen zum Verständnis der vorliegenden Kunst den Ausweg aus diesen Widersprüchen sieht. In der Revolutionierung des ganzen „falschen" Zusammenhangs, des ganzen Verhältnisses, als das Kunst sich darstellt, mußte der Weg der sozialistischen Auflösung dieser Widersprüche liegen, in einer Revolutionierung, die den Status des Künstlers und seine Arbeit, die Art der Tätigkeit der Distributionsinstitutionen und des Austauschs, die Stellung der Kunstgebrauchenden und ihre Fähigkeiten gleichermaßen betrifft, die daher nur in einer sozialistischen Kulturrevolution gelingen kann. Der mit der sozialistischen Gesellschaftsumgestaltung ermöglichte Prozeß dieser Revolutionierung der Kunstverhältnisse steht in unserer Zeit noch immer an seinem Beginn. Ausgehend von den bedeutenden Ergebnissen der historisch-sozialen Veränderung kann Literatur als Form des gesellschaftlichen Verkehrs von Menschen untereinander aber schon in einer neuen dialektischen Gesellschaftlichkeit aufgefaßt werden. Vieles von solcher Vorstellung ist projektiv, sie hat jedoch ihre Realität. Auf das charakteristische Moment im Neuansatz wies Brézan hin, als er sagte, Literatur könne und müsse damit rechnen, „daß der Leser, der Zuschauer, der Zuhörer von heute und noch mehr der von morgen, völlig andere Voraussetzungen für das Lesen, das Zuschauen, das Zuhören mitbringt" 44 . Genau auf diesen Veränderungsprozeß stützen sich die praktischen Anstrengungen und die poetologischen Reflexionen nicht weniger Schriftsteller in unserem Zeitraum. Erst von diesem Prozeß aus, der eine veränderte kommunikative Situation für die literarische Arbeit schuf, sind auch die Wandlungen in der gegenständlichen und subjektiven Orientierung der literarischen Produktion erklärbar, die beobachtet werden konnten. Sie hatten ihren Grund nicht nur in der prinzipiellen Übereinstimmung der Subjektivität literarischer Aneignungstätigkeit mit der Gesellschaft oder dem Klassenbewußtsein, sondern in dem konkreteren Einvernehmen der Schriftsteller mit den Partnern, zu denen sie sich in Beziehung setzten.
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Kennzeichen dieses Vorgangs, in dem nicht nur der Charakter von Literatur als gemeinschaftsbildender Austausch hervortrat, sondern sich ein besonderer geschichtlich-gesellschaftlicher Charakter dieses Austauschs formte, ist das Erscheinen des neuen Stichwortes von der Literatur als Selbstverständigung. Daß Literatur „nach .innen' zu einer sozialistischen Selbstverständigung anregen" 45 kann, daß sie als eines der „Organe der großen gesellschaftlichen und internationalen Selbstverständigung" 46 betrachtet werden muß, daß in ihr eine Möglichkeit liegt, durch den Austausch verschiedener Erfahrungen zu mehr Gemeinsamkeit zu kommen/'7 daß sie als ein kollektiver Vorgang zu sehen ist, in dem sich viele Werke zueinanderstellen, einander ergänzen, widerlegen, korrigieren, ein Prozeß, der die ganze Gesellschaft betrifft und in dem sich unsere gemeinsame Wahrheit bildet 48 - das waren wichtige Züge der Neubestimmung der Funktion der Literatur, wie sie besonders auch während des VII. Schriftstellerkongresses der DDR (1973) zum Ausdruck kamen. Selbstverständigung - dieser Begriff schließt hier und heute mehr und mehr den Gedanken an eine kollektive Aktivität ein, eine Aktivität, die sich nicht nur auf uns selbst, unser Verhalten und unsere Verhältnisse, unsere Wirklichkeit, unsere Gefährdungen und unsere Möglichkeiten bezieht, sondern sich auch unter uns selbst, unter Ebenbürtigen abspielt. Für die Interpretation dieses Zusammenhangs hat schon früh die sozialistische Literatur stellt genügend Vorrat an weit vorgreifenden Ideen bereit - Anna Seghers eine Formel gefunden: „Der Autor und der Leser sind im Bunde, sie versuchen zusammen auf die Wahrheit zu kommen."49 In der funktionellen Vielschichtigkeit, die der Literatur als historisch gewachsener komplexer Erscheinung und auch ihren Werken als im allgemeinen polyfunktionalen Gebilden zukommt, gewinnt die Leistung der kollektiven Selbstverständigung eine Dominanz. Es wurde bereits angemerkt, daß die literarische Tätigkeit stets in einem zweifachen Beziehungszusammenhang steht. Sie ist auf der einen Seite eine der Weisen, in denen sich die Menschen Wirklichkeit aneignen, indem sie sie gestaltbildend aufhellen, von ihren Interessen her beleuchten und die Resultate dieser Aktivität mitteilbar machen. So läßt sich Literatur als eine Sphäre ideeller Produktion ansehen, die einen bestimmten Gegenstandsbereich der Wirklichkeit mit bestimmten Verfahren und Formen unter bestimmten Zielen verfügbar macht. Sie gewinnt diesen Aspekt ihrer Funktion - ihre Aneignungsspezifik - im System der Aneignungsweisen insgesamt. Und 37
sie ist auf der anderen Seite eine der Weisen des gesellschaftlichen Verkehrs, in dem Menschen untereinander bestimmte Beziehungen eingehen, miteinander kooperieren oder ihre Kämpfe austragen, ihre Verhältnisse bilden. Sie stellt sich dar als Sphäre einer ideellen Kommunikation, in der über Produkte sui generis eine besondere Einwirkung der Menschen aufeinander stattfindet und über sie auch das soziale Verhalten beeinflußt wird. D i e literarische Tätigkeit gewinnt diesen Aspekt ihrer Funktion - ihre Kommunikationsspezifik - im System der Verkehrsweisen, der Organisation des sozialen Verhaltens und ihrer Institutionen. D i e beiden Aspekte der Funktion der Literatur - ihre Aneignungsspezifik und ihre Kommunikationsspezifik - sind nicht unmittelbar aufeinander zurückführbar. Versuche, dies doch zu tun, führen notwendig zu einer ahistorischen Vorstellung vom „Wesen der Literatur" (indem dann etwa gesagt wird, daß die Formen der gesellschaftlichen Funktion der Literatur „Erscheinungsformen" „der grundlegenden Funktion des künstlerischen Bildes im gesellschaftlichen Erkenntnisund Entwicklungsprozeß" 5 0 seien) oder zur Auflösung eines überhaupt noch mit allgemeinen Merkmalen ausgestatteten Literaturbegriffs (indem dann die jeweilige historische gesellschaftliche Formbestimmtheit der Literatur absolut gesetzt wird 5 1 ). Tatsächlich herrscht Wechselwirkung. Im Prozeß der Teilung der Arbeit und auch der ideellen Tätigkeit läßt sich eine Tendenz der Spezialisierung aneignungsspezifischer Zusammenhänge beobachten, die auch das betraf, was wir heute Literatur im engeren Sinne nennen: D e r Prozeß einer relativen funktionsbestimmten Verselbständigung einer Gruppe von sprachlichen Verfahren und Formen (von deren Produzenten und ihren Gegenständen und Zielen) ließ dabei auch erst die Einsicht in die Einheit der literarischen Gattungen entstehen. D i e Tendenz umschreibt das Entstehen einer ästhetischen Aneignungsform, die vorzugsweise subjektive Erfahrung und erfahrene Welt, individuelles Geschehen, das Handeln bestimmter Gruppen unter konkreten Verhältnissen ideell verfügbar zu machen bestrebt ist. Dies geschieht in Texten, die bedeutungsvermittelnde Gestalten und Modelle inneren oder äußeren Geschehens, individuellen oder kollektiven Verhaltens bereithalten, in Gestalten und Modellen, die in ihrer auf Wesentliches und Wichtiges, Werte weisenden Konzentration das bloß Einzelne und Faktische immer schon überschreiten. W i e sich aber diese Tendenz historisch-konkret entfaltet, in welcher Nähe oder Ferne die literarischen Produktionen zu anderen sprachlichen bzw. künst-
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lerischen Aneignungsformen gehalten werden - das ist von der genannten Spezialisierung als einem auch literarischen Tradierungszusammenhang nur von einer Seite her festgelegt. Die literarische Arbeit ist andererseits immer von den Entwicklungen im gesamten System der Aneignungsweisen, im Ensemble der Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins, von den in ihm geltenden Spezialisierungen und Dominanzen abhängig. Und sie ist abhängig von der gesellschaftlichen Einbettung aller dieser Formen, von ihrer Verbreitung in der Gesellschaft, ihrer Zugänglichkeit für die verschiedenen Gruppen und Klassen, von ihrer inhaltlich-sozialen Orientierung, vom Grad der Entwicklung der Medien und der sozialen Verfügung über sie, von den Interessen, Bedürfnissen, Fähigkeiten der Leute, abhängig vom Gefüge, in dem - gemäß einem gegebenen Entwicklungsstand von Arbeits- und Lebensweise - der Platz bestimmt wird, den in den Tätigkeiten der verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen die Beschäftigung mit den einzelnen Aneignungsweisen erhalten kann. Als Wesen der gesellschaftlichen Funktion sozialistischer Literatur im Sozialismus, ihrer notwendigen Rolle in den gesellschaftlichen Verhältnissen wurde ihre konstruktive Mitarbeit in der Gesellschaft erkannt. 52 Dies gilt übergreifend für die verschiedenen Etappen sozialistischen Aufbaus und bedeutet die Abgrenzung von einer bloßen Affirmation des Bestehenden wie von einer bloßen Destruktion des Gegebenen. Eine produktive sozialistische Literaturfunktion konstituiert sich jenseits dieser unter antagonistischen Verhältnissen entstandenen Dichotomie. Ihr Gesetz ist, daß sie - wie es Jurij Brezan formulierte - „zum erstenmal in ihrer ganzen Geschichte im Einvernehmen mit der Gesellschaft an der V e r ä n d e r u n g der Wirklichkeit wirkt" 53 *, in einem Prozeß also, der Bestärkung und Kritik gleichermaßen verlangt und nur in dem Maße erlangen kann, wie sich die Gesellschaft erfahrbar verändert. Doch hat das mit „Konstruktivität" bezeichnete Prinzip in den verschiedenen Zeiten der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung nicht stets genau die gleichen Voraussetzungen und Implikationen. Die Gesellschaft ist es, darauf wurde von Volker Braun in Kritik eines formalisierten Traditionsverständnisses verwiesen, die Literatur „als K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß revolutioniert" 54 . In den Formeln, die Literatur als kollektive Selbstverständigung bestimmen, zeigt sich die neue Art der K o m m u n i k a t i o n s s p e z i f i k sozialistischer Literatur deutlich. In ihnen kehren frühere Überlegungen wieder, doch erhalten sie einen neuen Stellenwert und 39
neue Inhalte. Der Grußadresse des ZK der SED an den VI. Schriftstellerkongreß (1969) z. B., in der es hieß, daß eine der Garantien für das Fortschreiten unserer Literatur in der Beziehung der Autoren zu einem „sachkundigen, kritischen" Publikum zu sehen sei, einem Publikum, das „fortwährend wachsende Ansprüche an die ideelle und emotionale Wirksamkeit unserer Bücher stellt", das „Literatur als Organ seiner Selbstverständigung und Bewußtwerdung" will, lag ein Zitat zugrunde.55 Aufgegriffen wurde ein Gedanke Johannes R. Bechers, in dem er Literatur als „Frage auf Leben und Tod" charakterisiert hatte: „Literatur ist das höchstentwickelte Organ eines Volkes zu seiner Selbstverständigung und Bewußtwerdung. In den Werken der Literatur verfügt ein Volk über seine feinsten Fühl- und Tastorgane, mit denen es sich in sich selbst einfühlt und sich bis in das Tiefste seines Wesens abtastet, daß ihm die geringsten Unregelmäßigkeiten seiner Herztöne offenbar werden und es tastend alle die Möglichkeiten vorzufühlen vermag, die ihm zum Guten oder zum Schlechten dienen." Doch wird dieser Gedanke im neuen Kontext verwandelt: Bei Johannes R. Becher bestimmte nämlich der Dichter den Gedankenkreis dieser Bewußtwerdung und Selbstverständigung. Übergreifendes, überragendes Moment, von dem das literarische Maß bestimmt wird, ist für ihn, welche geschichtliche Gestalt der Dichter in seiner Zeit repräsentiert, was er als „Verkörperung, als Gestalter und Künder der großen geschichtlichen beziehungsweise nationalen Tendenzen"56 bedeutet. Und diese Gestalt schließt auch den Leser ein. In den Umkreis dessen, was Becher „Literaturgesellschaft" nennt, gehören auch die Leser. Sie sollen dem Dichter nicht als Konsumenten, aber auch nicht als Partner gegenüberstehen, sie sollen ihm als sein besonderer Teil, als seine Korrektur, als sein Gewissen immanent sein.57 Genau hier setzt die Veränderung ein. Der Blick auf ein sachkundiges und kritisches Publikum läßt zunächst eine andere Vorstellung vom Status des Schriftstellers entstehen: Er wird kaum mehr als „Verkörperung" der Geschichte, seine Werke werden kaum mehr als „Verkündigung" der gesellschaftlichen Tendenz selbst angesetzt. Auch in unserer Literatur ist der Ausdruck „Dichten" dem des „Schreibens" weithin gewichen, eher wird vom „Stückeschreiber", „Prosa-Autor", „Gedichtemacher" als vom „Dichter" gesprochen; nüchtern wird der Autor als Teil und nicht als unmittelbarer Repräsentant des Ganzen begriffen, als Träger einer „Teilfunktion" (um dieses Wort in der Interpretation von Franz Fühmann58 hier aufzugreifen). In diesem Beziehungsgefüge erhalten dann auch die Werke 40
ihren Charakter. Sie erscheinen nicht von vornherein als Stimme des Volkes selbst, in die es sich kraft der vom Dichter vollzogenen Tat wiederum einzufühlen hat, sondern als ein Angebot, dessen Wert sich erst in der Mitwirkung der Leser entscheidet. Indem die Leser als Partner eingerechnet werden, als Akteure in einem vielstimmigen Verhältnis, wird die Vorstellung vom gesamten literarischen Verkehr umgeformt. Struktur und Funktion des Verhältnisses - die Art der ihm zugehörigen Momente, ihrer wechselseitigen Beziehungen einerseits und seiner gesellschaftlichen Leistung, der Aufgabe, die es im Gesamt der sozialen Tätigkeiten wahrzunehmen hat, andererseits - sind in dieser Vorstellung von der Literatur als kollektiver Verständigung, von Selbstverständigung deutlich aufeinander bezogen. Es handelt sich um den Entwurf eines demokratischen Wirkungskreises sozialistischer Literatur. Sie wird als ein Verhältnis aufgefaßt von zunehmend gleichberechtigten und auch - was Zentren ihrer sozialen und historischen Erfahrung und Interessen angeht - gleichartigen Partnern aus dem gesamten Umkreis der Gesellschaft, als Verhältnis von gleichermaßen aktiven Subjekten, von verantwortlichen Autoren und zuständigen Lesern. Und als die Funktion dieser Struktur, als ihre Leistung erscheint der von vielen getragene, in ihrer Auseinandersetzung und Diskussion sich vollziehende Vorgang der Bildung von mehr Gemeinsamkeit im Selbst- und Weltbewußtsein, ein Vorgang gegenseitiger Bereicherung durch Austausch. Das notwendige Gesetz für die Entwicklung dieses Verhältnisses ist die Verstärkung seiner Öffentlichkeit in allen ihren Dimensionen: im verantwortlichen Bestreben, all das gestaltend zum Vorschein zu bringen, was die Menschen dieser Gesellschaft zutiefst angeht; in der Zugänglichkeit aller literarischen Produktionen, wie sie nur ein Ergebnis der Kulturrevolution sein kann; in der Entfaltung des Literaturgesprächs, der diskursiven Rede über Literatur von Produzenten, Vermittlern und Publikum, die als bewußtes Moment im Bildungsprozeß gesellschaftlicher Werte dient. „Wir wollen eine Kunst", so hieß es daher auf dem IX. Parteitag der S E D (1976), „die zum Nachdenken und zum Dialog, zum Meinungsstreit über Gemeinsames und Unterschiedliches, über Haltungen und Verhalten herausfordert . . . Öffentlichkeit in Kunstfragen, Meinungsstreit und Diskussionen über Kunst als ein öffentliches Nachdenken über weltanschauliche und ethische Fragen des heutigen persönlichen und gesellschaftlichen Lebens . . . liegt in der Logik unserer Gesellschaft wie in der Logik 41
der Künste selbst. Davon hängt ganz wesentlich der weitere Fortschritt unseres Kunstschaffens ab, hängt wesentlich ab, daß die Künste ihre unersetzbare Funktion in der Gesellschaft realisieren." 59 Das hier gebrauchte Wort vom „Unersetzbaren" führt auf die andere Ebene, auf der sich die Funktion von Literatur bestimmt, auf die Ebene ihrer A n e i g n u n g s s p e z i f i k . Speziell wurde im zitierten Text auf einen Aspekt der kulturpolitischen Programmatik des 6. Plenums des ZK der S E D (1972) zurückgegriffen, in der den Künsten - als besonderer Weise der Ausbildung der Sinne und des Formempfindens, der ethischen und ästhetischen Anlagen, der geistigen Aneignung, der Entdeckung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Zukunftsmöglichkeiten, der Einwirkung auf das Leben - ein eigenständiger und eigentümlicher, unentbehrlicher und unersetzbarer Wert zuerkannt worden war. 60 Allgemeiner war zugleich eine charakteristische Diskussion der Literaturentwicklung der letzten zehn Jahre aufgerufen, in der - vielfach gerade unter dem Motto der Suche nach dem Unersetzbaren - die Frage nach der spezifischen Leistung von Literatur gestellt wurde. Diese sah man immer deutlicher in einer ästhetischen Wirklichkeitsaneignung und unterschied sie auch in ihrer sprachlichen Besonderheit von anderen Weisen ideeller Wirklichkeitsaneignung und gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung energischer: von der Sprache der Gesellschaftstheorie, Geschichtswissenschaft und Soziologie, der Information im Sinne einer reflektierenden oder berichtenden Publizistik, der Propaganda und der politischen Agitation und, im Zusammenhang mit der Entwicklung des Fernsehens in unserer Zeit, auch vom Film. In der neueren poetologischen Reflexion werden immer wieder gesellschaftliche Zusammenhänge angeführt, die diese Abgrenzungen erklären und begründen, vor allem: die reiche Entfaltung und vergrößerte Zugänglichkeit einer Menge von Aneignungsformen, die auf Feldern arbeiten, die ehedem auch von Literatur besetzt waren; die massenhafte Verbreitung von Wissen und Denkprinzipien des Marxismus durch eine Vielfalt funktionierender Institutionen des neuen Staates, die für die Literatur eine neue kommunikative Situation schuf; die aus beiden Kontexten sich ergebende Möglichkeit und Notwendigkeit, daß Literatur gerade dort operiert, wo die anderen Institutionen bzw. Aneignungsweisen nicht hinreichen, durch Wirkungen auf den ganzen Menschen, der Organisation der individuellen und kollektiven Erfahrungen, der Werte des Interessanten, Wichtigen und Gemäßen, des konkreten Verhaltens unter ethischen Maximen. 42
„Die Kunstpositionen", so kündigte es schon 1962 Hanns Eisler bei Betrachtung der Bitterfelder Konferen2 an, „die wir theoretisch haben - und heute in unserer lieben Republik, ich darf sagen, sektiererisch haben, also links von Brecht - , die gehen für eine bestimmte Periode. Die werden geändert werden müssen. Sie werden geändert werden müssen nicht auf Grund einer Diskussion, sondern auf Grund der allgemeinen Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse."61 Eisler berief sich in seiner Prognose positiv auf die letzte Kunstprogrammatik Brechts, auf dessen dialektische Rückkehr zur Ästhetik, wie sie zusammenfassend etwa im Kleinen Organon (1948) vorgestellt worden war. Was Eisler problematisierte, war die Unterstellung der Kunst unter die Aufgabe, der Produktionssteigerung in agitatorischer Form als „Kartoffel-Kantate" direkt zu dienen. Erwartet wurde für eine spätere Zukunft, als Negation der Negation, eine „Neu-Umfunktionierung der Kunst", welche große, aber von den kämpferischen Kunstrichtungen notwendig negierte Prinzipien aufheben könnte. Im Zusammenhang mit einer Gesellschaft, die sich von den Tagesnöten befreit, sich zu einer vollendeten, echt freien Gesellschaft entwickelt, sah Eisler eine Veränderung voraus, „in der die Kunst das wirklich wird, was sie heute nur in den niedrigsten Formen ist: Spaß, Vergnügen und Zerstreuung", „Kunst um der Kunst willen". Und im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung von Wissenschaft und Technik vermutete er, daß künftige Kunst mit der naiven Spontaneität, dem holden Blick des Künstlers immer weniger anfangen kann, daß sie Teil eines Prozesses wird, in dem die „gesellschaftlichen Kräfte auch der geistigen Produktion, des Gehirns . . . raffinierter" werden. Für Eisler verbot sich angesichts der realen Situation der Klassenkämpfe in damaliger Zeit eine Verwirklichung solcher Gedanken in der Praxis, doch vermochte er von hier aus Einengungen damaliger Kunstprogrammatik kritisch zu erfassen. Was sich seither in ihrer Überwindung vollzog, wurde mit Formeln wie „Neuentdekkung der Kunst und die Wiederaufnahme der größten ästhetischen Fragen"62 oder „ästhetische Emanzipation der sozialistischen Literatur" 63 bereits theoretisch festgehalten. In dieser Wendung vereinigen sich verschiedene und auch gegensätzliche Motive (auf die später ausführlicher einzugehen ist). Es wirken - aus der ideologischen Tradition und aus spontaner Neuproduktion - antitechnische, antiutilitaristische, antirationalistische Momente mit; es kann von einigen Autoren die Idee von einer Kunst als Selbstzweck gegen das Programm einer eingreifenden Kunst ge43
stellt werden; es zeigt sich mitunter auch ein Streben zu artistischem Raffinement. Charakteristischerweise aber geht es in der Wendung im allgemeinen weder um die Etablierung einer Kunst als „Spaß, Vergnügen und Zerstreuung" noch überhaupt um die Restitution eines allgemeinen Wesens der Literatur. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wird die Aneignungsspezifik der Literatur, ihr ästhetischer Charakter vielmehr in einer Richtung gesucht, die es gerade mit dem Moment von Austausch zu tun hat, das sich in der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Literatur, ihrer Kommunikationsspezifik durchsetzte. Die geschichtliche Besonderheit in der Ausprägung der Aneignungsspezifik unserer Literatur gründet in der Überzeugung, daß in der sozialistischen Gesellschaft ein Spannungsfeld von bereits Erreichtem und noch zu Erreichendem existiert, die Tagesnöte und die komplizierten Kämpfe zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen keineswegs beendet sind, daß die fortwirkende Arbeitsteilung notwendig verschiedene soziale Standorte, Blickwinkel und Sehweisen erzeugt und der auf Herstellung von mehr Gemeinsamkeit und Gleichheit angelegte sozialistische Prozeß den wechselseitigen Austausch nötig hat. Die charakteristischen Verzweigungen dieser Aneignungsspezifik lassen sich kurz folgendermaßen beschreiben: Unterbreitung von authentischer, weitgehend auch selbst gewonnener Erfahrung, Konsequenz im Vortrag eigenen Denkens und Anerkennung der Partialität dieser Arbeit sowie umgekehrt Kritik an Formen der Demonstration schon stabilisierter gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis; Orientierung auf Sinnfiguren großer geschichtlicher Lagen, bedeutender, den weiten Menschheitsprozeß umfassender ethischmoralischer Problematik, auf Verhaltensmodelle, die indirekt über die Vermittlung von Selbstbewußtsein gesellschaftlich wirken sowie umgekehrt Kritik an Formen einer literarischen Wirksamkeit, die sich auf einzelne Praxis oder besondere Zielgruppen richtet; Ermöglichung einer wirklichen (das notwendig Formale des Rezeptionsaktes überschreitenden) Selbsttätigkeit der Leser sowie umgekehrt Kritik an allen literarischen Anlagen, die - wie etwa die pädagogisch operierende Literatur - aus einem rhetorischen Verhältnis zwischen Autor und Leser entspringen; Übermittlung von Materialien, die Vergleich, Reflexion und Selbsterkenntnis ermöglichen sowie umgekehrt Kritik an geschlossenen Formen, deren Ziel etwa die einfache Unterhaltung, die problemlose Identifizierung ist. Was im Kontext der Kommunikationsspezifik unserer neueren Literatur als ihr demokratisches Wirk44
saniwerden, als Leistung des Austausche von Ansichten und der Bildung von Gemeinsamkeit erscheint, hat solcherart in der Ausprägung neuer aneignungsspezifischer Funktion deutliche Entsprechungen.
Polemik im Literaturp ro^eß Die für den Zustand der Literatur charakteristischen Dominanzen sind keine Größen, die an statistischen Werten abgelesen werden können. Die Feststellung der zeit- und entwicklungsbestimmenden Momente verlangt vielmehr die Reflexion auf die geschichtlichen Bedingungen und Möglichkeiten produktiver literarischer Arbeit. Der Zustand der Literatur ist daher - wie auf jeder Stufe geschichtlichen Prozesses auch in der Gegenwart ein Streitobjekt. Seine Charakterisierung hat stets die Einschätzung der gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten in sich, drückt eine Stellungnahme zu ihnen aus, ist wertendes Urteil angesichts von Spannungsverhältnissen zwischen Literatur- und Gesellschaftsbewegung. Es ist zu betonen: In der Konstituierung einer Funktion kollektiver Selbstverständigung wird nur e i n e Tendenz beschrieben. Sie läßt sich in divergierenden individuellen und kollektiven Positionen in unserer Literatur tatsächlich finden; sie macht aber die Gesamtheit dieser Literatur nicht aus. Es handelt sich hier nur um einen von verschiedenen Funktionstypen, die in der sozialistischen Literatur mit- und gegeneinanderwirken. So findet sich in unserer literarischen Gegenwart z. B. ein Konzept, in dem das Soziale als entfremdeter Raum einer Funktionalisierung und Partikularisierung „des Menschen" gedacht wird. Literatur wird infolgedessen aus der Bindung an die bestimmten Zwecke dieser Gesellschaft herausgenommen und auf ein Ästhetisches verwiesen, das - in einer eigenartigen, auf eine weltgeschichtliche Skepsis gestützten Transformation klassisch-idealistischen Kunstprogramms - dann als einziger Aufruf einer unzerstückelten Totalität „des Menschen" erscheint. Oder es findet sich ein Literaturkonzept, das unmittelbar an vorangegangene sozialistische Tradition anknüpft, insofern als es der Literatur die effektivsten Möglichkeiten zum direkten Einwirken auf die Bewußtseinsbildung zurechnet. Die These lautet hier, daß Veränderungen rascher im Wirtschaftlichen als im Bewußtsein der Menschen erreichbar wären und daß Literatur infolgedessen die Aufgabe habe, repräsentative Helden vorzustellen, denen eine Vor- und Leitbildfunktion zukommt. 45
saniwerden, als Leistung des Austausche von Ansichten und der Bildung von Gemeinsamkeit erscheint, hat solcherart in der Ausprägung neuer aneignungsspezifischer Funktion deutliche Entsprechungen.
Polemik im Literaturp ro^eß Die für den Zustand der Literatur charakteristischen Dominanzen sind keine Größen, die an statistischen Werten abgelesen werden können. Die Feststellung der zeit- und entwicklungsbestimmenden Momente verlangt vielmehr die Reflexion auf die geschichtlichen Bedingungen und Möglichkeiten produktiver literarischer Arbeit. Der Zustand der Literatur ist daher - wie auf jeder Stufe geschichtlichen Prozesses auch in der Gegenwart ein Streitobjekt. Seine Charakterisierung hat stets die Einschätzung der gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten in sich, drückt eine Stellungnahme zu ihnen aus, ist wertendes Urteil angesichts von Spannungsverhältnissen zwischen Literatur- und Gesellschaftsbewegung. Es ist zu betonen: In der Konstituierung einer Funktion kollektiver Selbstverständigung wird nur e i n e Tendenz beschrieben. Sie läßt sich in divergierenden individuellen und kollektiven Positionen in unserer Literatur tatsächlich finden; sie macht aber die Gesamtheit dieser Literatur nicht aus. Es handelt sich hier nur um einen von verschiedenen Funktionstypen, die in der sozialistischen Literatur mit- und gegeneinanderwirken. So findet sich in unserer literarischen Gegenwart z. B. ein Konzept, in dem das Soziale als entfremdeter Raum einer Funktionalisierung und Partikularisierung „des Menschen" gedacht wird. Literatur wird infolgedessen aus der Bindung an die bestimmten Zwecke dieser Gesellschaft herausgenommen und auf ein Ästhetisches verwiesen, das - in einer eigenartigen, auf eine weltgeschichtliche Skepsis gestützten Transformation klassisch-idealistischen Kunstprogramms - dann als einziger Aufruf einer unzerstückelten Totalität „des Menschen" erscheint. Oder es findet sich ein Literaturkonzept, das unmittelbar an vorangegangene sozialistische Tradition anknüpft, insofern als es der Literatur die effektivsten Möglichkeiten zum direkten Einwirken auf die Bewußtseinsbildung zurechnet. Die These lautet hier, daß Veränderungen rascher im Wirtschaftlichen als im Bewußtsein der Menschen erreichbar wären und daß Literatur infolgedessen die Aufgabe habe, repräsentative Helden vorzustellen, denen eine Vor- und Leitbildfunktion zukommt. 45
Deutlich wird so an einer vereinfacht gedachten erzieherischen Literaturfunktion und deren gesellschaftlichen Implikationen festgehalten. Es existiert ferner ein Konzept, demzufolge der Umgang mit Literatur eine Freizeitbeschäftigung ist, Erholung von angestrengter Arbeit und Konkurrenz zur Zerstreuung durch Fernsehen. Es geht bewußt von dem Bedürfnis nach Unterhaltung einerseits, Kenntniserwerb andererseits aus und will die literarische Qualität der gelieferten spannenden Geschichten auf die mitgegebene dokumentarische Information, die Vermittlung von gesellschaftlichem Wissen gründen. 64 Jedes dieser Konzepte beruht, so ist offenbar, auf einer bestimmten Einschätzung der gesellschaftlichen Situation im Sozialismus und dominanter Züge im gesellschaftlichen Bewußtsein, der Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten und Lagen eines zu erwartenden Publikums und bindet besondere Ausprägungen der Kommunikations- und der Aneignungsspezifik von Literatur zusammen. Unter den Lesern unseres Landes ist am stärksten der zuletzt in einer seiner Varianten genannte Kommunikationstyp der Unterhaltungsliteratur favorisiert. Alle literarischen Konzeptionen haben sich deshalb mit den von ihm aufgeworfenen Problemen auseinanderzusetzen. Vom Gesichtspunkt einer kritischen Beurteilung der Bedingungen und Möglichkeiten heutiger Literatur, des Versuchs, ihre mögliche Produktivität im Prozeß geschichtlichen-gesellschaftlichen Fortschreitens zu bestimmen, erweist sich jedoch der Funktionskreis der Literatur der kollektiven Selbstverständigung als dominant. Alle literarischen Konzepte haben sich deshalb auch mit dieser Literatur auseinanderzusetzen. Es zeigt sich dabei, daß ihr charakteristisch zugehörige Ideen zunehmend in andere Funktionstypen übergehen. In welcher Richtung die mit dieser „Vielfalt" entstehenden Probleme, die Widersprüche zwischen Angebot und Gebrauch von Literatur im literarischen Verkehr aufgelöst werden können, entscheidet sich, wie betont, nicht einfach durch theoretische Diskussion. Wirkliche literarische Funktionen bilden sich ja im Wechselspiel von Angebot und Gebrauch, von innerer Organisation der Literatur, die eine bestimmte Leistung anbietet und ermöglicht, und ihren äußeren Bedingungen, die bewirken, daß von den Individuen und Gruppen bestimmte Leistungen in Anspruch genommen werden. Doch vollzieht sich dieser Prozeß heute keineswegs wortlos. In der Literatur äußert sich nicht zufällig das Bedürfnis zur programmatischen Erklärung literarischer Arbeit, dabei auch das Bedürfnis, mit dem Publikum 46
über die Arbeitsweisen, Voraussetzungen und Zielstellungen der Literatur zu einer neuen Verständigung zu gelangen. Wir finden es als Niederschlag in den Darstellungen nicht weniger Erzählwerke der letzten Jahre ebenso wie in essayistischen Formen, die während dieser Zeit erneut zu einem selbständigen und wichtigen Teil unserer Literatur wurden. Deutlich zeigt sich hier in der Diachronie das Bemühen um eine klarere Abgrenzung der neuen von der vorhergehenden Literatur, darunter auch von den noch unentschiedenen Elementen des Neuen selbst. Und nicht weniger deutlich zeigt sich in der Synchronie das Bemühen um eine klarere Behauptung der eigenen Position in den um allgemeinere gesellschaftliche Anerkennung ringenden Literaturkonzepten: Frontenbildung ist ein charakteristisches Merkmal unserer jüngeren Literatur. Der Geschichtsverlauf brachte mit sich, daß sich das Bewußtwerden veränderter Möglichkeiten und Notwendigkeiten der literarischen Arbeit nicht nur zu Beginn der neuen Phase, sondern bis heute polemisch manifestiert. Vor allem jüngere Schriftsteller, die den ihr zugrunde liegenden Wandel mit zeitlicher Verzögerung, mitunter in abgekürzt-forcierter Form und mit kürzerer Erfahrung durchliefen, oder noch jüngere, die bereits im Bewußtsein eines Neueinsetzens antraten, nahmen den neuen Funktionszusammenhang und die daraus ableitbaren Konsequenzen für das literarische Schaffen nicht selten kontrastierend für sich in Anspruch. Sie akzentuierten Gegensätze auch dort, wo im gesamtliterarischen Verlauf die neue Qualität eher in einem vielschichtigen Übergangs- und Aufhebungsprozeß erreicht wurde; sie sahen grundsätzlich Neues auch dort, wo auf Entwürfe der früheren sozialistischen Literatur zurückgegriffen werden konnte und zurückgegriffen wurde. Diese Art der Argumentation sowie auch die Forciertheiten in der Behauptung neuer „Selbstverständlichkeiten", die jedoch nicht mit dem Gestus des Selbstverständlichen vorgebracht werden, sind wichtige Kennzeichen für die Veränderungen in den gesellschaftlichen Wirkungsbedingungen der Literatur. Sie sind auch historisch notwendige Form, das Verständnis für das Neue zu erweitern und durchzusetzen, notwendige Form im Ausdruck des Bedürfnisses, die neue Epoche der Literatur mit einem neuen theoretischen Selbstverständnis zu versehen. Die anhaltende Entgegensetzung von „alt" und „neu", von dem, was „nicht mehr geht", und dem, was jetzt möglich und notwendig ist, gewinnt ihre Schärfe nicht zuletzt aus dem theoretischen Begleittext der Verläufe. Erst nach und nach nämlich - in Vorgängen, die bis 47
heute nicht beendet sind, - traten die Konsequenzen des neuen Funktionszusammenhangs für die literarische Produktion, für die Positionsbestimmung der Schriftsteller hervor, erzwangen sie kritische Rückblicke und ein immer tieferes Durchdringen des gedanklichen Systems einer Literatur der kollektiven Verständigung. Hemmend machte sich dabei ein formalisiertes Traditionsverständnis bemerkbar: Die Diskussion verlängerte und verhärtete sich durch ein nur zögerndes Mitgehen der Literaturkritik und Literaturtheorie, die zugleich in ihren älteren Positionen verunsichert waren. So ergab sich ein eigenartiger Widerspruch von Entschiedenheit der literaturprogrammatischen Selbstverständigung vieler Schriftsteller und der Unentschiedenheit in der literaturkritischen Verarbeitung ihrer Ergebnisse. Die Kluft zwischen Literatur und Literaturtheorie wurde tiefer. Lange Zeit nämlich konnte die Literaturkritik den neuen Funktionszusammenhang in seinen Folgen - und neuen Problemen - nicht recht begreifen, und noch länger mißtraute sie auch wohl der Funktionssicherheit der mit ihm verbundenen Literatur, ihrer Wirkung im Interesse sozialistischer Gesellschaftsentwicklung. Verbreitet herrschte die Vorstellung, an das Erbe anknüpfen heiße vor allem, an die schon zur Verfügung stehenden literarischen Themen, Motive, Figurentypen, Verfahren direkt anzuschließen sowie bereits gewohnte Verkehrsweisen und die ihnen entsprechenden Haltungen literarischer Produktion einfach fortzuführen: Zu wenig wurde daran gedacht, daß es darauf ankommt, die in aller produktiven Literatur ausgebildete Art fortzuführen, sich erneuernd und wirksam der veränderten Wirklichkeit im Feld der Aneignungstätigkeit und im Feld der sozialen Praxis zu stellen. Zwischen der neuen und der älteren Literatur unseres Landes gibt es eine - nicht mit Jahr und Monat datierbare, doch deutliche - Zäsur. Nicht wenige Schriftsteller empfanden sie später als sehr tiefgreifend. Diese Ansicht pauschal zurückzuweisen, gibt es keinen Anlaß: Die Kontinuität sozialistischer Literatur ist nicht von der Art, daß ein nahtloses Fortsetzen des je Vorhergehenden oder gar eine Verpflichtung der Gegenwart auf die Vergangenheit verlangt werden kann. Es geht um Dialektik: Das Hauptgesetz der hier waltenden Tradition ist Treue im großen revolutionären Vorgang der Emanzipation, im Kampf um die Entfaltung der Produktivität und Universalität aller Beziehungen der gesellschaftlichen Menschen. Diese Treue schließt heute die Aufgabe ein, die Prinzipien der literarischen Tätigkeit aus den veränderten Bedingungen des Kampfes abzuleiten und deshalb auch den Mut, das inadäquat Gewordene abzustreifen.
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Die hypertrophierte Form, die die Entgegensetzung von alt und neu mitunter annahm, die sich darin andeutende Gefahr einer fortschreitenden Geschichtslosigkeit und einer allzu leichtfertigen Gepäckerleichterung, wurde zu Recht zurückgewiesen. 65 Allzuleicht jedoch stellte sich dabei auch eine Unterschätzung des Momentes von Diskontinuität ein, das den wirklichen Prozeß kennzeichnet und zugleich eine theoretische Nivellierung der Gegensätze in der Literatur der Gegenwart. Das Moment von Erneuerung umfaßte ja nicht das Ganze der entstehenden Literatur, in ihr vermischten sich Altes und Neues, wirkten Konzeptionen weiter, die in sehr verschiedenen Zeiten gebildet wurden. Die gesellschaftliche Bewertung der zeitcharakteristischen und entwicklungsbestimmenden Linien steht bis heute auf der Tagesordnung. Diese Linien sind es, die das Ganze verändern, auch wenn in ihm Altes scheinbar unberührt fortlebt. Mit Marx zu reden: „In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und [welche] sie in ihrer Besonderheit modifiziert." 66 Die charakteristischen Züge der Literatur der Selbstverständigung, die unserer Literatur das Gepräge geben, können nicht der Literatur überhaupt zugerechnet, aus ihrem allgemeinen „Wesen" abgeleitet werden, das nunmehr nur in Freiheit zu setzen wäre: An der historischen Bedingtheit der zweiseitigen Aktivität im literarischen Verkehr - des verantwortlichen Autors und des zuständigen Lesers wird die historische Spezifik, der spezifisch sozialistische Charakter dieser Art literarischer Tätigkeit deutlich. Doch haben wir zu präzisieren: Ist auch diese Literatur - als Organ der gesellschaftlichen Verständigung, als Verhältnis des Bundes, als gemeinsam unternommene Anstrengung, auf die Wahrheit zu kommen - an das Fortschreiten des Sozialismus unabtrennbar gebunden, so heißt das doch nicht, daß die mit ihr hervortretenden Merkmale nur im Sozialismus auftreten, und auch nicht, daß die gesamten literarischen Verkehrsverhältnisse im Sozialismus von ihnen bestimmt sind. Was mit der Beziehung der kollektiven Selbstverständigung umschrieben wird, gehört zur „Logik der Kunst", es spielt seine Rolle in der Ästhetik spätestens seit der Aufklärung, wo mit dem Aufbrechen der Ständeschranken auch der Charakter der ästhetischen Kommunikation als Konsensusbildung problematisch wurde. 67 * Doch konnte es geschichtlich unter dem Dach anderer Verhältnisse und anderer Kunstvorstel4
Schiensted t
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lungen existieren, kam es in verschiedener historischer Gewichtigkeit zum Tragen, umgriff verschieden große Teile der Gesellschaft. Auch für unseren Zusammenhang gilt, daß die entwickeltere Organisation - Literatur als kollektiver Verständigungsprozeß tritt durch die Entfaltung aller seiner Faktoren heute klarer hervor und gewinnt eine bestimmende Rolle in den Literaturverhältnissen insgesamt - zugleich „Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangnen Gesellschaftsformen" gewährt, „mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundne Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben". 68 Zugleich ist zu betonen, daß das in der kollektiven Selbstverständigung gesetzte Verhältnis zwischen Autoren und Lesern, zwischen literarischer Produktion und Rezeption nicht alle Widersprüche in den literarischen Beziehungen und Tätigkeiten löst. Was sich im Prozeß der Bewußtwerdung der Möglichkeiten neuer Literatur und ihrer volleren Realisierung andeutet, sind Wege, die dazu führen, die im historischen Prozeß der Klassengesellschaft entstandene Fremdheit der zusammengehörigen Momente der Literatur, ihr Auseinanderfallen in gegensätzlich formierte Sphären - literarische Produktion, Distribution, Rezeption - aufzuheben. Diese Aufhebung bedeutet nicht die Herstellung beruhigter Harmonie, sondern einer neuen Art produktiv bewegender Widersprüche.
Die Leser im Spiel der Schriftstellerreflexion
Einführung: Das Publikum — Bezugspunkt literaturprogrammatiscben Denkens In den Überlegungen zur Literatur, die von Schriftstellern unseres Landes in den letzten Jahren unterbreitet wurden, findet sich ein charakteristisches Feld, dem immer wieder die Aufmerksamkeit gilt: die sozialen Veränderungen des Publikums, die neuen Ansprüche und Fähigkeiten der Menschen, die Literatur gebrauchen. Zweifellos ist dies nicht die einzige Orientierung der jüngeren schriftstellerischen Reflexion. Ebenso wichtig sind etwa die Versuche, allgemeiner im Licht der Epoche die Aufgaben der heutigen Literatur zu erkunden, sie aus dem Entwicklungsstand der sozialistischen Revolution abzuleiten; 69 ist das Bemühen, Fragen des Realismus unserer Literatur im Blickwinkel neuer historischer Erfahrungen aufzuwerfen, dies strikter auf die spezifische Aneignungsart von Poesie zu beziehen.70 In vielfältiger Weise verbinden sich aber auch diese Problemstellungen mit dem Nachdenken über die neuen Aspekte im Autor-Publikum-Verhältnis: In ihm haben wir einen Kern neueren literaturprogrammatischen Denkens vor uns. Aus der Vielzahl der Beziehungen, in denen sich der Platz der Leser im literarischen Verkehr bestimmt - Verhältnis von Lesern und Werken, von Lesern und Literaturensembles, von Lesern und Autoren einschließlich Adressatenbeziehung, von Lesern und den Vermittlungsinstitutionen des literarischen Verkehrs, von Lesern untereinander - werden vor allem drei zur Erörterung ausgewählt. Erstens das V e r h ä l t n i s v o n L e s e r n u n d A u t o r e n : Hierbei zeigt sich eine neue Beachtung der kritischen und produktiven Mitarbeit der Leser am literarischen Produktionsprozeß, zeigen sich umgekehrt neue Akzente bei der Bestimmung des Status des Schriftstellers in seiner Beziehung zum sozialistischen Publikum. Zweitens das V e r h ä l t n i s v o n L e s e r n u n d W e r k e n : Dabei zeigt sich ein neues Interesse für die Möglichkeiten eines schöpferischen Umgangs der Leser mit den Werken und umgekehrt für die Potenzen der Offen4»
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heit der Werke, für den Charakter des literarischen Werkes als Raum ästhetischen Erfahrungsgewinns. Hinzu tritt drittens die Diskussion der A d r e s s a t e n b e z i e h u n g 71 * in der literarischen Tätigkeit, einer Beziehung, in der die Leser nicht als wirkliche Leser vorkommen, die in Wechselwirkung zu den Werken treten, mit einem Literaturensemble verkehren, sich zu einem Publikum zusammenschließen, auf die Autoren einreden, in bestimmter Weise von den Vermittlungsinstitutionen (Verlagen, Buchhandel, Bibliotheken, aber auch Literaturkritik, Literaturwissenschaft, Schule) abhängig sind und auf diese wirken - sondern als ein ideelles Moment bei der Bildung und Verbreitung von Werken, als gemeinter Gegenstand von literarischer Praxis. Die Adressatenbeziehung entsteht im Prozeß einer hypothetisch operierenden Verallgemeinerung und Selektion von Tendenzen im gesellschaftlichen Bewußtsein, speziell der literarischästhetisch-ideologischen Horizonte 72 * einerseits und andererseits in Vorgängen der Bewertung der vorgefundenen oder vermuteten Denkund Verhaltensweisen im Publikum durch den Autor, von den Interessen der Gruppe, der er angehört. Sie ist Orientierung auf Ansatzpunkte möglicher Wirksamkeit literarischer Arbeit in den widersprüchlichen Prozessen gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung, der Bildung von Verhaltensweisen, speziell in der Organisation ästhetischer Erfahrung und der Lesepraktiken. Im Zusammenhang mit dieser Adressatenbestimmung nun zeigt sich heute das Bemühen um eine Wirkungsstrategie, die mit der kritischen Aktivität der Leser rechnet, aber auch mit der Notwendigkeit einer fortschreitenden ästhetischen Emanzipation der Leser, die sich auf eine sozialistisch geprägte Art des literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizonts gründet und auf dessen Ausdehnung produktiv gerichtet ist. Die Aufzählung zeigt, daß jene Leser-Beziehungen im Literaturgefüge hervorgehoben werden, die für die Statusbestimmung des Schriftstellers, für das konkrete literarische Schaffen, für die Beurteilung von Werkstrukturen, für die Anlage von Wirkungsstrategien von besonderer Bedeutung sind. Das Ganze der Literaturverhältnisse erscheint so zugleich auf charakteristische Weise verkürzt - auffällig wenig werden z. B. Probleme diskutiert, die mit der Distribution von Literatur im allgemeinen, der Art des wirkenden Literaturensembles, mit der Literaturvermittlung durch Kritik und Schule im besonderen verbunden sind. Die Aufzählung zeigt weiter, daß innerhalb der drei beobachteten Beziehungen eine gleichartige Erscheinung hervorgehoben wird 52
die Aktivität der Leser. Angesichts der bekannten Tatsache, daß die Autoren Werke schaffen und über sie auf die Leser wirken, wird die nicht so bekannte Tatsache betont, daß auch die Leser auf die literarische Produktion wirken, daß auch die Leser bestimmen, was die Werke sein können, daß die Autoren in ihrer Absicht zu wirken, mit zuständigen, ihnen ebenbürtigen Lesern zu rechnen haben. Und mehr: Wiederholt drückt sich in der jüngeren Essayistik der Gedanke aus, für den Sinn der sozialistischen Literatur werde es geradezu entscheidend, daß sich die Leser als Subjekte des kommunikativen Vorgangs Literatur betätigen, daß sie sich nicht selbst in die Rolle von Objekten eines von anderen getragenen Zusammenhangs begeben und sie von den Autoren und den Werken nicht in diese Rolle gedrängt werden dürften. Dieses Moment ist charakteristisch: Es gehört wesentlich zur Vorstellung von einer Literatur, die wir mit der Formel vom Beitrag zur kollektiven Selbstverständigung zu fassen suchen. Das Nachdenken über die Leser ist konkretisierender Bestandteil des Nachdenkens über die mögliche und notwendige Kommunikationsspezifik der sozialistischen Literaturfunktion heute. Unmittelbar und mittelbar hat es zugleich tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis und die Orientierung der Aneignungsspezifik gegenwärtiger literarischer Arbeit. All dies ist ein deutlicher Ausdruck der neuen Literaturphase, Produkt eines bestimmten historisch-gesellschaftlichen Prozesses. Die neue Bestimmung der Leser-Literatur-Beziehungen hat ihre Geschichte: Am Beispiel von Anna Seghers kann gezeigt werden, wie sich das heute geltende Verhältnis in den Etappen der sozialistischen Entwicklung herausbildete. Und in den Versuchen, das gegenwärtige Verhältnis aufzuhellen, gibt es zeitcharakteristische Widersprüche: In der Schriftstellerreflexion - wiewohl sie sich gemeinsam in einer dem historischen Gang dialektisch entsprechenden Richtung bewegt zeichnen sich auch große Unterschiede ab: sie hängen mit differierenden Einschätzungen der der Literatm zugrunde liegenden Bewegungen im Publikum und verschiedenen Konsequenzen zusammen, die aus den Beobachtungen gezogen werden. An den drei genannten, in jüngerer Zeit besonders hervortretenden Diskussionskreisen können solche Verschiedenheiten erörtert werden. D a ein solcher Zugang zu unserer Literatur bisher nicht versucht wurde, ist in den folgenden Abschnitten - die zunächst den Herausbildungsprozeß der neuen Leserbeziehungen der literarischen Produktion verfolgen und dann die im letzten Jahrzehnt häufiger disku53
tierten Probleme dieses Verhältnisses systematisierend kritisch behandeln - eine gewisse Extensität angebracht: D i e Vielfalt und Menge des Materials überrascht.
Entwicklungsscbritte wirkungsästhetiscber Überlegungen am Beispiel Anna Segbers Das Verhältnis von Schriftsteller und Leser ist ein durchgehendes Problem in den Überlegungen von Anna Seghers. O f f e n b a r gehörte das Durchdringen des Zusammenhangs für diese Autorin so wesentlich zu den Voraussetzungen der sich entwickelnden sozialistischen Literatur, daß sie sich veranlaßt sah, stets erneut über seine Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Notwendigkeiten nachzudenken. Charakteristisch ist dabei das hartnäckige Bestreben, dem Wandel der Beziehungen auf der Spur zu bleiben. Anna Seghers beobachtet eine sich bewegende historische Konstellation, die abhängig ist von den großen gesellschaftlichen Veränderungen, von den sozialen, politischen und weltanschaulichen Prozessen im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. In der Zeit nach 1945, auf die wir uns hier beschränken, zeichnen sich in diesen Überlegungen zwei Phasen ab. Die Scheide liegt im Wandel von den fünfziger zu den sechziger Jahren.
Probleme der Literaturwirkung
in der
Übergangsperiode
Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf einen zeitcharakteristischen Widerspruch in der Zugänglichkeit von Literatur. Auf der einen Seite bemerkt Anna Seghers eine große Offenheit der Leser für Literatur. Sie ergab sich aus der besonderen historischen Situation nach der Zerschlagung des Faschismus, aus dem geschichtlichen Gang des Aufbaus einer neuen Gesellschaft, aus Prozessen, die die allgemeinen und persönlichen Beziehungen vieler Menschen umwälzten, die Erstarrungen der Vergangenheit lösten, den Zwang zu neuem Denken mit sich brachten. Genau in diesen Wandlungen siedelt Anna Seghers die Funktion der Literatur an: „Aber es gab auch Menschen, die nicht vom Elend betäubt waren und zum erstenmal Fragen aussprachen, die auf alle drückten: Was ist geschehen? 54
tierten Probleme dieses Verhältnisses systematisierend kritisch behandeln - eine gewisse Extensität angebracht: D i e Vielfalt und Menge des Materials überrascht.
Entwicklungsscbritte wirkungsästhetiscber Überlegungen am Beispiel Anna Segbers Das Verhältnis von Schriftsteller und Leser ist ein durchgehendes Problem in den Überlegungen von Anna Seghers. O f f e n b a r gehörte das Durchdringen des Zusammenhangs für diese Autorin so wesentlich zu den Voraussetzungen der sich entwickelnden sozialistischen Literatur, daß sie sich veranlaßt sah, stets erneut über seine Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Notwendigkeiten nachzudenken. Charakteristisch ist dabei das hartnäckige Bestreben, dem Wandel der Beziehungen auf der Spur zu bleiben. Anna Seghers beobachtet eine sich bewegende historische Konstellation, die abhängig ist von den großen gesellschaftlichen Veränderungen, von den sozialen, politischen und weltanschaulichen Prozessen im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. In der Zeit nach 1945, auf die wir uns hier beschränken, zeichnen sich in diesen Überlegungen zwei Phasen ab. Die Scheide liegt im Wandel von den fünfziger zu den sechziger Jahren.
Probleme der Literaturwirkung
in der
Übergangsperiode
Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf einen zeitcharakteristischen Widerspruch in der Zugänglichkeit von Literatur. Auf der einen Seite bemerkt Anna Seghers eine große Offenheit der Leser für Literatur. Sie ergab sich aus der besonderen historischen Situation nach der Zerschlagung des Faschismus, aus dem geschichtlichen Gang des Aufbaus einer neuen Gesellschaft, aus Prozessen, die die allgemeinen und persönlichen Beziehungen vieler Menschen umwälzten, die Erstarrungen der Vergangenheit lösten, den Zwang zu neuem Denken mit sich brachten. Genau in diesen Wandlungen siedelt Anna Seghers die Funktion der Literatur an: „Aber es gab auch Menschen, die nicht vom Elend betäubt waren und zum erstenmal Fragen aussprachen, die auf alle drückten: Was ist geschehen? 54
Wodurch geschah es? . . . Was muß geschehen, damit das Grauen nie mehr wiederkommt? Das war der Augenblick, in dem die deutschen Schriftsteller auf den Plan treten mußten, um so klar und vernehmlich wie möglich Rede und Antwort zu stehen. Durch die Mittel ihres Berufes mußten sie helfen, ihr Volk zum Begreifen seiner selbstverschuldeten Lage zu bringen und in ihm die Kraft zu einem anderen, einem friedvollen Leben zu erwecken." Die sozialistische Literatur hatte sich von ihren Voraussetzungen her in die „Erziehungsarbeit im Osten von Deutschland" einzugliedern. Sie konnte zum erstenmal in der deutschen Geschichte im Einklang mit den herrschenden Mächten der gesellschaftlichen Organisation und Bewegung operieren. „Unser Leben und unsere Arbeit war von Anfang an ein Kampf m i t unserem Staat und f ü r unseren Staat." 73 Anna Seghers hebt hervor, daß alle anderen Fragen der literarischen Tätigkeit davon abhingen: Das Leben im neuen Staat gab mit der Veränderung der Menschen den wichtigen neuen Stoff, gab auch die Möglichkeit, gerade diesen Stoff zum zentralen Gegenstand zu machen, die politischen und sozialen Bedingungen des Schreibens bis hin zur materiellen Existenz der Schriftsteller, 74 gab vor allem aber auch ein neues Wirkungsfeld. Anna Seghers konstatiert zunächst eine neue Intensität literarischer Wirkung. Die Schriftsteller konnten des allgemeinen Interesses sicher sein: „Hier, wo Entscheidungen von höchster Tragweite fielen, die die Menschen und alle Beziehungen umstülpten, folgten die Leser den Darstellungen je nach ihrem Charakter, mitgerissen oder mißtrauisch, Rat oder Bestätigung suchend" 75 - auf jeden Fall, wenn sie mit Literatur zu leben gelernt hatten, mit erneuerter Aufmerksamkeit. Unter diesen Bedingungen hatte der Schriftsteller dafür zu sorgen, daß „jedes Wort unserem Aufbau dient", ebenso aber auch dafür, daß er von Menschen mit einer gewissen Liebe gelesen wird und er ihnen bei der komplizierten Transformation auch die Möglichkeit zum „Atmen" gibt.76 Er konnte in dem Bewußtsein arbeiten, die Kraft seiner Stimme würde gerade dadurch verstärkt, daß er an der Seite, ja inmitten der gesellschaftsbewegenden Kräfte zu wirken vermochte. Anna Seghers schreibt: „Und mein Staat, der mit mir einen Standpunkt und eine Richtungslinie einnimmt, hilft meinen Büchern." 77 Die Verwurzelung der schriftstellerischen Arbeit in der Geschichte, ihr Wirken als Teil ihrer Bewegung selbst, die sich anbahnenden Veränderungen im politischen Bewußtsein der Menschen, die Offen-
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heit der Leser für Literatur, das Gebrauchtwerden von Literatur all das bildete für Anna Seghers einen zusammenhängenden Komplex neuer literarischer Funktionsbedingungen. Dazu kam noch die Beobachtung einer neuen Extensität literarischer Wirkung - ein weiterer Aspekt ihrer Zugänglichkeit. Bereits 1950 bemerkte die Schriftstellerin eine verbreiterte Wirksamkeit von Literatur: „Es ist ein Glück, daß jedes Wort, was wir sagen und schreiben, jetzt seinen Lauf durch die arbeitende Bevölkerung" 78 nimmt. In der Folge der einschneidenden kulturellen Veränderungen im Aufbau der neuen Gesellschaft wußte sie den Leserkreis ungeheuer verbreitert. Viele der sozialen und politischen Barrieren, die früher oder in anderen Ländern die Schriftsteller und Leser trennten, sah sie gefallen. Später merkte sie an, daß in der ersten Zeit die Wirkung der neuen Maßnahmen besonders deutlich war: „Durch die Kulturmaßnahmen, zuerst der sowjetischen Besatzungsmacht und dann der Regierung, wurde das Schulsystem von Grund auf verändert . . . In der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät wurde es den Söhnen der Arbeiter und Bauern möglich, sich auf ihre Berufe an den Universitäten vorzubereiten. An allen Arbeitsstätten entstanden Bibliotheken. In den Betrieben und in den Maschinenstationen auf dem Land. Manche MTS schlug Bücherstände in den Dörfern auf. Diese Maßnahmen bekamen Kraft und Saft durch die Urteile und Fragen der neuen Leser." 79 Die Literatur, so wird in den Überlegungen von Anna Seghers immer wieder sichtbar, stand vor neuen Möglichkeiten von Tiefenund Breitenwirkung zugleich. Aus beiden leitete sie die neuartige Verantwortung der Schriftsteller als Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Bewegung ab. „Ich war ganz kurz hier, da ist mir schon bewußt geworden, was für eine ungeheure Tragweite das Wort des Schriftstellers bei uns hat" - eine Tragweite, begründet in hoher Auflage, gesellschaftlicher Bestätigung und Unterstützung, Leserresonanz, vor allem aber in der dadurch gegebenen Möglichkeit für den Schriftsteller, „auf sein Volk so zu wirken, daß er an seinem Leben verändernd teilnehmen" 80 und direkt „durch sein Werk in das Leben eingreifen" 81 kann. Es ging hierbei nicht allein um politische Fragen. Anna Seghers lenkte die Aufmerksamkeit darauf, daß die neue Verantwortung der Schriftsteller künstlerische, ästhetische Probleme umschließt, die auch ein verschärftes wirkungsästhetisches Bewußtsein verlangen. Es heißt daher: „ . . . zugleich war ich genötigt, in viel höherem Maß, als ich 56
es bis jetzt erfahren hatte, mir Rechenschaft abzulegen, ob und wie mein Buch auf Menschen wirkt." 82 Und nicht nur Rechenschaft, sondern auch Vorausschau: Aus dem Feld von Wirkungsbedingungen war eine entsprechende Wirkungsstrategie zu entwickeln: „Wer auf Menschen einwirken will", so erläuterte Anna Seghers später dieses Prinzip ihrer Arbeit, „muß von den Menschen, an die er sich wendet, verstanden werden. Es gibt keinen Befehl in der Kunst: du mußt mich verstehen. Ich muß als Künstler die Mittel finden, um mich verständlich zu machen." 83 Betont wurde in diesem Zusammenhang, der Schriftsteller müsse hierfür viele methodische Versuche machen, auch experimentell arbeiten, dabei sehr viel lernen und brauche dazu die Hilfe von jedem einzelnen Leser. Letzteres allerdings nicht unbesehen. Anna Seghers hob hervor, daß es für die guten und anständigen Schriftsteller schon früher selbstverständlich gewesen war, „mit den Lesern, mit den arbeitenden Menschen, die mit unserer Arbeit zu tun hatten, zusammengearbeitet" zu haben. Sie betont: „ . . . ja, ich schätze bestimmt nicht meinen Leser gering." Doch konnte sie während einer gewissen Zeit nicht ohne weiteres „den allgemeinen Leser auch zum gültigen Kritiker" machen. 84 Es ist dies eine Position, die mit der Festlegung der Funktion von Literatur als Teil der allgemeinen Erziehungsarbeit zusammenhing, mit dem Empfinden für den Niveau-Unterschied in historischer Einsicht und historischer Handlungsfähigkeit zwischen sozialistischen Schriftstellern und der Mehrheit der Menschen. Hier sind wir bei der zweiten Seite des aufgeworfenen Problems der Zugänglichkeit von Literatur - sie erst macht die Akzentuierung der Notwendigkeit wirkungsästhetischen Bewußtseins voll verständlich. Anna Seghers sieht die schriftstellerische Arbeit in einen widersprüchlichen Prozeß gestellt. Beobachtet wurde, daß sich die neuen Möglichkeiten literarischer Wirkung nicht auf glattem Wege realisierten: Nicht alle Menschen legten auf Bücher Gewicht (die „Zeit der Ausbeutung und des Faschismus hat ihr Fühlen und Denken abgestumpft. Sie wurden nicht nur um materielle Güter betrogen, sondern auch um die Fähigkeit, diesen Teil der Menschheitskultur in sich aufzunehmen" 85 )! Und auch bei den Lesern kam es immer wieder vor, „daß ein Werk, das unsere Ansprüche ganz erfüllt, . . . nicht ankommt"8®. Ungleichmäßigkeiten der Wirkung fielen auf, das manchmal unerwartet starke, das manchmal unerwartet geringe Echo auf die neuen Bücher, beides „oft an unerwarteten Stellen". Als quä57
lend wurde empfunden, daß ein Teil der Jugend sich „ehrlieh, aber umsonst anstrengte, uns zu verstehen". Wie leicht zu sehen ist, wurde das Problem der Zugänglichkeit der Literatur von Anna Seghers nicht als abstrakte Forderung nach einer Volkstümlichkeit aufgeworfen, für die allein die Literatur zuständig ist, sondern als Frage nach den konkreten politischen und sozialen Bedingungen für eine Verbreitung und Vertiefung der Wirkung von Literatur, nach den historischen Voraussetzungen für den Einklang von Schreibweise und Leseweise in einer Gesellschaft. Anna Seghers konstatiert: „Aber wir hatten die Lücken in ihrer (der Leser - D. S.) Aufnahmefähigkeit nicht gekannt, Lücken, an denen weder sie selbst noch die Darstellung schuld" waren. 87 Und sie spricht mehrfach von der Verschiedenheit der Assoziationen und Ideenverbindungen in der Gedankenwelt des Publikums und der Schriftsteller. Gerade dieses Moment ist im Denken der Schriftstellerin wichtig. Anna Seghers charakterisierte 1947 die Gemeinschaft, wie sie sich unter Schriftstellern in der Zeit der faschistischen Diktatur, der Emigration gefestigt hatte: „ . . . eine Art Gemeinschaft, die eben geeint ist durch dieselben Sorgen um die Zukunft und um das Volk, in dessen Mitte wir leben" 88 , geeint auch durch die Erfahrungen der Vergangenheit, des Kampfes, geeint durch die Sprache, die sie spricht. Und sie schloß die Frage an: „Wie war es möglich, daß andere nicht dieselben Assoziationen bilden, nicht dieselben Lasten eines Erbes mit sich herumtragen wie wir?" 89 * Eine bedeutende Schwierigkeit der literarischen Arbeit nach der Rückkehr aus der Emigration wurde gerade hierin erblickt. Anna Seghers hat die Situation eines Landes im Auge, das über viele Jahre Exerzierplatz des Faschismus gewesen ist, in dem nach so kurzer Zeit großer Aufbauarbeit im Bewußtsein der Menschen die Verwüstungen der Vergangenheit, die Verödung auch der Plätze von Geschichtskenntnis und Geschichtsbewußtsein noch enthalten sind, in dem die Sprachverwirrung - Spiegel der Verwirrung im Inneren - noch andauert. Der antifaschistische Schriftsteller, dessen Denken sich im Kampf, unter den Bedingungen des Exils, auch im Blick auf die Welt formte, mußte erleben, nun in einer Gruppe von Menschen zu sein, die sich erst „nach und nach, langsam ein wenig über den Sozialismus" aneignet, Unwissenheit und Widerstand überwindet, nicht seine Sprache spricht, andere Ideenverbindungen hat als er. Anna Seghers übersieht nicht - es ist das Jahr 1950 - die geschichtliche Bewegung, sie weist auf den Veränderungsprozeß hin, auf die in dieser Art noch nie dagewesene Trans58
formation in unserem Volk, für die die Befreiung durch die Rote Armee, die fünf Jahre großartigen gesellschaftlichen Neuaufbaus die Voraussetzung waren. Aber sie übersieht auch nicht die Langsamkeit der Veränderungen in dem Bereich, um den es hier geht: den des Alltags- und Massenbewußtseins, sie übersieht vor allem nicht die Uneinholbarkeit und die Nichtkorrigierbarkeit der unmittelbaren die Ideenverbindungen wesentlich begründenden - Erfahrungen. Deshalb bleibt als Aufgabe für die Zukunft formuliert, was Anna Seghers offenbar als wichtige Grundlage für eine organische Funktion der Literatur ansah: „Damit aber die Menschen die gleichen Assoziationen, die gleichen Ideenverbindungen mit den Schriftstellern haben, ist ein gemeinsames Leben nötig, das Leben in einem Volk, auf einem Grund und Boden, eine gemeinsame Geschichte, welche uns aufs grauenhafteste auseinandergerissen hat." 90 Die Rede ist von grundlegenden Verschiedenheiten im literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizont, im Horizont der Richtungen, in denen - auf der Basis von Erfahrungen und Interessen, der Bindung an ein bestimmtes Erbe und an bestimmte Ideale - die Gehalte von Bedeutung und Bedeutsamkeit an Gestalten des Lebens wie an Gestalten der Literatur bestimmt werden, und von einem Prozeß der Aufhebung solcher Divergenzen, die die Wirkung von Literatur wesentlich betreffen. In einer neuen Situation, 1961, hat Anna Seghers die Rolle dieses Faktors, der bedeutungvermittelnden Komponente der Schreibund Leseweise, im Leben der Literatur näher erläutert. Sie charakterisiert ihn als ein auf Konvention, wesentlich aber auf Erfahrung beruhendes Moment der sozialen Psyche, als „die allen gemeinsamen Gedankenverbindungen, das .stillschweigende Übereinkommen', das es dem Dichter ermöglicht, mit Andeutungen, mit verkürzenden Symbolen zu arbeiten, da alle Leser oder Betrachter . . . wissen, was gemeint ist" 91 *. Worauf diese Beschreibung zielt, ist klar: Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein solcher „stillschweigender Übereinkommen" - mögen sie nun auf Konvention oder Erfahrung beruhen - , das Maß und die Art von Gleichgerichtetheit oder Ungleichgerichtetheit der Assoziationen und Gedankenverbindungen ist für die Wirkung von Literatur von ausschlaggebender Bedeutung und ebenso für den Aufbau der wirkungsästhetischen Konzeption. Es bestimmt die literarische Produktion wesentlich mit - den Gestus ihrer Wendung an den Leser, ihre Verallgemeinerungsverfahren und symbolischen Verkürzungen, die didaktische oder appellative Di59
rektheit, die Methoden ihrer Verfremdung und des Schocks, den Aufbau von Komik oder Satire usw. wie diese Komponenten gesellschaftlichen Bewußtseins und die Bedingungen ihrer Veränderung eingeschätzt werden. Das leichte Hinübergleiten zu didaktischer Direktheit und appellativer Intonation, der Versuch, dem Mangel an „stillschweigendem Übereinkommen" mit Verfahren „ausgesprochener" Erklärung und Explizierung zu begegnen, der Niederschlag der Erfahrung von einem historischen Niveau-Unterschied im Verhältnis zwischen den Autoren und vielen ihrer Leser in einer didaktischen Haltung - das sind nicht zufällig wesentliche Merkmale in der Literatur jener Zeit. Anna Seghers allerdings, das zeigen ihre Romane und Erzählungen, agiert in der von ihr beschriebenen Situation, die den Zwang mit sich brachte, die Richtung der Assoziationen und Ideenverbindungen festzulegen, vorzüglich durch Verfahren der Herstellung klarer Historizität, der demonstrierenden Aufhellung der gesellschaftlichen Struktur, der deutlichen Einzeichnung von Perspektive als Entwicklung, als „Richtungslinie": „Und die Wirkung auf den Leser hängt davon ab, wieweit er das miterlebt und die Lösung zu seiner macht." 92 Mit langer literarischer Erfahrung, auch der, daß das „Erklären der Wirklichkeit . . . ein anderer Vorgang [ist] als die künstlerische Gestaltung" 93 , wurde hier auf der Darstellung der ganzen Kompliziertheit der Entwicklung bestanden. Überzeugen - es sollte hier durch die Gestaltung auch der Widerstände gegen das neue Leben, des schwierigen Weges ihrer Überwindung gewährleistet werden, durch eine Methode, die es vermeidet, den Leser in eine konfliktlose Kunstwelt zu stellen, die aber auch vermeidet, ihn ratlos zu lassen.94 Von dieser wirkungsästhetischen Konzeption aus konnte Anna Seghers die Erscheinungen von Schematismus, von leerem Lob und leerem Optimismus in der Literatur wirkungsvoll politisch kritisieren.
Probleme der Literaturwirkung im Aufbau des entwickelten Sozialismus Ein besonderer Ausgangspunkt für eine Literaturentwicklung wird hier umschrieben, deren Gesetz nur Wechselwirkung heißen konnte: Ein Vorgang wird ins Auge gefaßt, der „vom Autor her auf den Leser wirkt und vom Leser her auf den Autor" 95 . Und indem die a u ß e r o r d e n t l i c h e Situation der Literatur in einem vom Fa-
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schismus befreiten Lande reflektiert wurde, erscheint bei Anna Seghers i m m e r zugleich die a l l g e m e i n e r e der Herausarbeitung einer neuen Literatur als sozialistischer Nationalliteratur, als sozialistischer Weltliteratur. Dieser Gedanke liegt schon in der Andeutung jener zukünftigen Übereinstimmung der Ideenwelt, die sich mit gemeinsamer Geschichte herstellt, und er tritt in der Folgezeit immer deutlicher hervor. Für Anna Seghers bildet die spezifische wirkungsstrategische Orientierung („Der Schriftsteller muß wissen, auf wen er mit seiner Darstellung einwirken will", 96 er muß die besonderen Ansatzpunkte von Wirkung auffinden und ersinnen 97 ) keinen Gegensatz zur nationalliterarisch-internationalistischen Orientierung. {„Wir vereinen durch unsere Arbeit alle Menschen, auch die, die sich mehr oder weniger noch etwas abseits stellen sollten, und die in den demokratischen Ländern." 98 ) Die Berücksichtigung der besonderen Funktionsbedingungen schloß für sie keine territoriale, keine soziale und keine politische Begrenzung des Publikums ein, keine Adressatenbeziehung, die sich strikt auf so bestimmte „Zielgruppen" 99 konzentrierte. Ihr Adressat war das Feld widersprüchlicher Bewußtseinsentwicklung im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, wie es sich unter dem Einfluß der kommunistischen Bewegung umbildete, und dabei galt das Programm einer gesamtgesellschaftlichen sozialistischen Literatur, ja sozialistischen Weltliteratur. Anna Seghers stellt die Frage: „Für wen schreibt der Schriftsteller?" Für sie ist die Antwort klar: nicht allein für eine Gruppe von Menschen, die, weil sie ihm ähnlich ist, seine Sprache versteht, auch nicht nur „für ein ganzes Volk - zu dem übrigens auch die Gruppe gehört . . . Man soll nicht vergessen, unser Staat wäre nicht, was er ist, würden aus ihm nicht vielerlei Gruppen hervorgehen . . . alle mit spezifischen Fragen und Fordernissen"; vielmehr für alle Menschen: „Aber sie sollen ihn (den Schriftsteller - D. S.) verstehen lernen." 100 Eine solche Literatur freilich hat Voraussetzungen, die über die bloße Absicht und auch über die Arbeit der Schriftsteller weit hinausgehen. Immer werden daher von Anna Seghers die objektiven Bedingungen ihres Entstehens und Sich-Entwickelns überdacht. Die Gegenwart, in der die beschriebene Trennung von Schriftsteller und Leser - noch, allerdings abnehmend - wirkt, wird als Prozeß gesehen. In ihm geht es darum, die Grundlage für eine Literatur herauszuarbeiten, die in ihren gegenständlichen und subjektiven Bezügen, aber auch in ihrem Wirkungsfeld immer stärker mit Gemein61
samkeiten in der sozialen Psyche, des literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizonts rechnen kann. Und diese Gemeinsamkeiten bestehen nach Anna Seghers nicht in der Einheit eines allgemein Nationalen oder Gattungshaften, das sich über die auseinanderreißenden Klassengegensätze abstrakt hinlagert, sondern sie bestehen in der Einheit eines konkret Sozialen, das sich aus wirklich gemeinsamem Leben und gemeinsamer Geschichte bestimmter Kollektive ergibt. Schon Anfang der sechziger Jahre bietet sich in den Überlegungen von Anna Seghers ein in dieser Richtung gewandeltes Bild. Das „Verhältnis vieler Menschen zur Literatur [hat sich] verändert . . . An der Bewußtseinsveränderung der Leser hat die Literatur ihren Anteil, den wir weder übertreiben noch untertreiben wollen." Die Schriftstellerin notiert, daß die lesenden Menschen, jene, die ohne Bücher nicht leben wollen, aufgeschlossener geworden sind und präzisere Wünsche hinsichtlich der Aufhellung des Sozialismus, seiner Geschichte äußern: „Sie fordern Bücher, die ihnen helfen, die Welt zu verstehen, in der sie leben; die Bücher sollen ihnen auch helfen, Fragen zu lösen, die jahrelang weggeschoben wurden." 101 Auch jetzt und später gilt noch, daß mit einem einheitlichen Publikum nicht zu rechnen ist: Anna Seghers weiß, daß die Bildung des kulturellen Überbaus nach der Revolution ein langer und widerspruchsvoller Prozeß ist. Verschiedenheiten gelten in sozialer Richtung: Angemerkt werden die unterschiedlichen Verhältnisse zur Literatur, die auf der Grundlage von Bildungsunterschieden weiterwirken. Als Aufgabe auch der Literatur wird die ständige Erweiterung des ästhetischen Aufnahmevermögens bestimmt. Verständnisschwierigkeiten auf einer höheren Stufe der Entwicklung sind für Anna Seghers vor allem Fragen der Form: „Ein Schriftsteller hat das Recht, sogar die Pflicht, nach Ausdrucksmitteln zu suchen, wenn es sein Ziel ist, die Menschen weiterzubringen und darum ihre Aufnahmefähigkeit zu steigern." 102 Daß immer mehr Menschen „aufnahmefähig werden für wirkliche Kunst" 103 , sieht sie als Aufgabe an. Verschiedenheiten gelten aber auch in politischer Richtung: Mitte der fünfziger Jahre beobachtet Anna Seghers die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung. („Viele sind bereits mit Kopf und Herz auf dem Weg zum Sozialismus. Einige nur mit einem Teil ihres Ichs. Einige zögernd, einige klammern sich an das Alte." 1 0 4 ) 1961 wird festgestellt: „In einem Land, das gespalten ist wie Deutschland, ist die Spaltung in vielen Gedankenverbindungen, in Erfahrungen und Erinnerungen bis in die Sprache hinein zu spüren." 105 1966 merkt Anna
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Seghers an - in Variation eines früheren Gedankenganges von Brecht 106 daß es Aufgabe des Schriftstellers sein kann, „dem Unwissenden Einsicht in seine Lage", dem „Einsichtigen das Klassenbewußtsein", dem „Klassenbewußten die Erfahrungen der Revolution" zu bringen. 107 In den Widersprüchen wieder - bei aller Beachtung der tiefgehenden Wandlungen in der sozialistischen Gesellschaft und der mit ihnen sich herausbildenden politisch-moralischen Einheit des Volkes - wird hier weiter die gesellschaftliche Funktion von Literatur angesiedelt, und dies bildet eine wesentliche Basis für die Kontinuität der wirkungsästhetischen Konzeption. Doch stellen sich mehr und mehr die Probleme anders dar. Anna Seghers' Überlegungen zeugen von der allgemeinen Wendung unserer Literatur zur Funktion kollektiver Selbstverständigung. Erstens. „Bei der Beurteilung von künstlerischen Arbeiten soll man nicht vergessen", heißt es 1966, „daß sich Verständnis und Aufnahmefähigkeit ständig ändern, fortschreiten. Kurz nach dem Krieg bekam ich empörte Briefe über Novellen, die von Sabotage gegen die Nazis handelten. Was für mich die Voraussetzung war, die Vernichtung des Faschismus und die Beendigung des Krieges, hatte damals viele zurückgeschreckt. Heute ist so etwas bei uns nicht mehr möglich. Viele Probleme haben hier bei uns aufgehört, Probleme zu sein. Man braucht keine Lösung mehr anzudeuten. Die Geschichte hat sie bereits bei uns vollzogen" 108 Ein Wandel im Wirkungsfeld von Literatur wird konstatiert, der neue Aufgaben und neue Möglichkeiten mit sich brachte. Historisch war die Möglichkeit entstanden, mit einer größeren Übereinstimmung im Publikum operieren zu können. Dies wird nun eine wichtige Grundlage literarischer Wirkungsstrategie. „Autor und Leser, sobald sie im Bund sind . . . sind sich der Richtung der Handlung bewußt, wenn auch seitenlang und in der Fabel tagelang das Ziel verdeckt zu sein scheint - wie auf dem Weg durch ein unbekanntes, vielleicht phantastisches Gebirge." 109 Anna Seghers nimmt hier eine Formulierung auf, die sie - werbend, vorgreifend, wie sich dann zeigen sollte - bereits im Vorwort zur Rettung von 1947 geprägt hatte: „Der Autor und der Leser sind im Bunde: sie versuchen zusammen auf die Wahrheit zu kommen." 110 Nun aber, im Übergang zur Entfaltung des Sozialismus, konnte dieses Verhältnis des Bundes auf eine breitere soziale Basis gestellt sein. Freilich hat Anna Seghers die Gefahr der Einseitigkeit gesehen, die in der These liegt, viele Probleme seien bereits keine mehr, und 63
sich später korrigiert. Die Schriftstellerin wies darauf hin, wie problematisch es ist, wenn die Jüngsten unter uns glauben, sie „seien gar nicht mehr an Fragen beteiligt, um die wir Alte uns die Köpfe zerbrechen", wenn sie allzu leichtfertig davon ausgehen, „der Aufbau des Sozialismus selbst sei entschieden", es „sei jedem längst klar, wohin wir steuern", man könne die Vergangenheit „bereits rein historisch werten". Anna Seghers betont, „daß längst nicht alle den Sozialismus verstehen", und sie fragt: „ . . . haben denn die Jungen, die Jüngsten, nicht geradezu das Bedürfnis zu wissen, wie sich der Sozialismus mit allen Triumphen und Mängeln in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte?" 111 Gerade dies verdeutlicht aber zugleich, wie sich das Problemfeld des „stillschweigenden Übereinkommens" im Alltags- und Massenbewußtsein verändert hatte. Wenn zu dieser Zeit mehrere Autoren erneut auf die Darstellung jüngerer Vergangenheit zurückkamen, so hatte das seinen Grund gerade darin, daß die damit verbundenen Probleme im Alltagsbewußtsein aufhörten, Probleme zu sein, daß nicht weniges von dem, was selbstverständlich geworden war, neu befragt werden mußte. Die Literatur hatte unter den Bedingungen eines veränderten gesellschaftlichen Bewußtseins neue Angriffspunkte ihrer Wirksamkeit. Je mehr die Erkenntnis des Autors zur allgemeinen Erkenntnis geworden ist - so überlegt Anna Seghers - desto mehr ist auch seine Parteilichkeit selbstverständlich für alle. Sie kann sich dann nicht in der Wiederholung äußern, sondern nur darin, daß „das Problem, das heute ein Autor aufwirft, den Leser" intensiv angeht, ihn zusammenzucken läßt, ihn in seiner Lust zur Entspannung stört und zur Entscheidung verpflichtet. 112 Und der Autor kann das neue Problem sicherer aufwerfen, wenn er sich auf die Übereinkunft in der Parteilichkeit stützen kann: „Wir müssen den Lesern vertrauen können, daß sie nicht an Mißverständnissen klebenbleiben; denn sie sind in unseren Schulen, in unseren Theatern, mit unserer Literatur aufgewachsen." 113 Gerade dieses Wirkungsprogramm, das davon ausgeht, daß der Autor zu seinesgleichen spricht, ist nun charakteristisch. Zweitens. Mit dem vergrößerten politischen und weltanschaulichen Einverständnis im Wirkungsfeld von Literatur wird ihr selbst, den Autoren und den Lesern ein immer höherer Grad von Differenziertheit eingeräumt. Die wirkungsästhetische Orientierung („Ich muß als Künstler die Mittel finden, um mich verständlich zu machen") wird schon früh ausdrücklich eingeschränkt durch einen Gedanken, der sich dann vielfach variiert durch das spätere poetologische
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Werk von Anna Seghers ziehen soll. Sie spricht davon, daß ein n u r wirkungsästhetisches Konzept der Literatur einseitig sei und die Einwände dagegen richtig seien: „Denn der Schriftsteller kann nicht jedes Thema beherrschen. Er braucht nicht auf alle Menschen, auf alle Schichten und Gruppen, auf jeden einzelnen gleichmäßig stark zu wirken. Das braucht er ebensowenig, wie jeder Leser jede Art von Buch zu seiner Entwicklung braucht und wünscht."114 Wie man sieht, wird die Gültigkeit der wirkungsästhetischen Orientierung mit Hinweisen sowohl auf die Eigenart der schriftstellerischen Produktion als auch auf Besonderheiten der literarischen Rezeption eingeschränkt. Anna Seghers geht von eigenen Leseerfahrungen aus, wenn sie die Differenziertheit begründet: „Nicht zu jeder Zeit half mir dasselbe Buch. Nur selten war ein ganz besonderes Buch wie ein Schlüssel, der die Tür aufschließt, hinter der der Weg sich zeigt."115 Und zum anderen wird in den Bedingungen schriftstellerischer Arbeit das innere Bedürfnis, der innere Auftrag akzentuiert: „Wir schreiben von innen heraus auf Grund unserer Natur und unseres Charakters und unserer spezifischen Fähigkeiten, und wir werden auch von außen dazu gebracht. Manchmal durch ein dauerndes Klopfen an die Tür: Kannst du nicht für mich eintreten? Manchmal hören wir dieses Klopfen, ohne daß man geklopft hat."116 Die Lösung der damit aufgeworfenen Probleme heißt nicht eine utopische Totalität in der Person und Tätigkeit des einzelnen Schriftstellers, sondern sozialistische Vielfalt im wirkenden Literaturensemble der neuen Gesellschaft, in der Gesamtarbeit der Literatur. Die Bindung der schriftstellerischen Arbeit an das innere Bedürfnis erscheint dabei zunehmend als Vorbedingung für die Erfüllung des Auftrags, bei der Veränderung der Wirklichkeit zu helfen. Die Verantwortung des Schriftstellers wird jetzt geradezu im Hinblick darauf definiert, ob er seinem inneren Auftrag - der vom äußeren bei Anna Seghers nicht getrennt ist - wirklich folgt. Der Schriftsteller, so heißt es 1973, „muß den heftigen Wunsch haben, sich selbst und seinen Mitmenschen etwas klarzumachen, wovon er zutiefst überzeugt ist", einen Wunsch, „so heftig geworden wie Hunger und Durst"117. Sich selbst und seinen Mitmenschen etwas klarmachen - das ist die wirkungsästhetische Formel der neuen Literatur. Drittens. Damit ist nun aber auch auf neue Weise bestimmt, w i e dem Leser Zugang zur Dichtung eröffnet werden soll. Geht der Autor einer Sache auf den Grund, dann, so heißt es 1961, stellt der Leser erstaunt fest, „daß sein Autor etwas entdeckt hat, was ihn, 5
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den Leser, zutiefst angeht. Dem Leser geht ein Licht auf, wenn er im Kunstwerk auf seinen Anteil Wirklichkeit stößt, diese Begegnung packt ihn. Stärker als bisweilen im Leben. In dem gedichteten Leben ist etwas einmalig da, was der Leser in Wirklichkeit nicht begriffen hat, sogar übersehen. Es ist plötzlich unübersehbar, unausweichlich da, durch die Macht der Kunst, komprimiert, abgelöst von unwichtigen Einzelheiten. Der Leser kann es jetzt klar erkennen, es prüfen und sich entscheiden." 118 Auffällig sind hier die besitzanzeigenden Fürwörter der Intimität: s e i n Autor, s e i n Anteil Wirklichkeit; auffällig sind die Vokabeln der Aktivität: e r k e n n e n , p r ü f e n , s i c h e n t s c h e i d e n . Treffen die Erfahrungen aufeinander, wird die Erfahrung des Lesers durch die des Autors produktiv erweitert das ist der Grundgedanke - , so ist der Autor des Lesers Autor, ist die Welt des Autors die Welt des Lesers. „Tiefe" der Lebenserfassung ist deshalb hier die Voraussetzung für „Breite" der Wirksamkeit. Die großen realistischen Meister stehen als Vorbild da: „In ihren Werken gibt es eine solche Tiefe und Breite, solch einen Spielraum für alle Arten von Erfahrungen und Gefühlen, so viel Buntheit, so viel Trauer und Heiterkeit, daß darin jede Art Mensch eine Nahrung findet. Die Breite und Tiefe ihrer Wirkung entspricht der Breite und Tiefe des Werkes." 119 Anna Seghers fordert die Gestalt des „ganzen Menschen", und sie polemisiert gegen eine literarische Methode, in der die vielen Elemente, die auf die Menschen wirken, künstlich in Sektoren getrennt und damit sie selbst in ihren Beziehungen zur Arbeit, zur Politik, zur Liebe, zur Freundschaft 120 aufgespalten werden. Beides hat genau die Merkmale des neuen, wirkungsästhetischen Programms. Und diese Merkmale zeigen sich auch in der Art, in der hier der Leser gedacht ist: nicht als ein Konsument von Literatur, der sich nur erholt und entspannt, nicht als jene Wachsplatte der psychologischen Ästhetik, auf die der Griffel Autor seine Zeichen drückt, nicht als Material eines Ingenieurs, der funktionierende Maschinen baut, sondern als ein Akteur, der zur Prüfung und zur Entscheidung fähig ist. Mehr und mehr, so läßt sich beobachten, tritt in den Überlegungen von Anna Seghers die Erfahrung von einem wesentlichen Einverständnis zwischen Autoren und Lesern hervor. Das Motiv des Vertrauens, das die erzählerische Arbeit der Schriftstellerin so nachhaltig prägt, hat in der theoretischen Reflexion eine Entsprechung. Einverständnis von Autoren und Lesern - das ist mehr oder Konkreteres als die widersprüchliche Übereinstimmung zwischen Literatur und
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Gesellschaft, jenes bekannte Prinzip der sozialistischen Literatur. Nicht nur der Einklang von literarischer Tätigkeit mit den bestimmenden Gesellschaftsbeziehungen, historischen Bewegungen der sozialistischen Gemeinschaft ist hier aufgerufen; die Aufmerksamkeit wendet sich den Möglichkeiten zu, die aus dem Einklang mit den Leuten herrühren, aus der wachsenden Gemeinsamkeit ihres Wollens in der Entfaltung des Sozialismus, in der Bewegung seines Werdens. Das Verhältnis des Bundes, das Anna Seghers feststellt, fördert und fordert, ist ein Verhältnis des Vertrauens. Es setzt das Vertrauen des Publikums in die verantwortliche aufrichtige Arbeit des Schriftstellers und das Vertrauen der Schriftsteller in die zuständige, aktive Aufnahmekraft des Publikums voraus.
Kooperation von Leser und Autor im
Literaturpro^eß
Anna Seghers' theoretische Bemühungen begleiteten den Entwicklungsprozeß des Bundes zwischen Autor und Leser in unserer Literatur über die Jahre des Aufbaus des Sozialismus in der D D R bis in die Gegenwart und hatten selbst bedeutenden Anteil an seiner Bildung. Für den Gang, in dem der neue Struktur-Funktionszusammenhang des literarischen Verkehrs bewußt wurde, stehen sie weithin repräsentativ. Was sich im Verlauf dieses Denkens - im Zusammenhang mit den neuen gesellschaftlichen Bedingungen - nach und nach herausbildete, kann heute bereits Ausgangspunkt des Nachdenkens werden. Daß die Schriftsteller als Teil des Volkes „Schulter an Schulter mit den Arbeitern, den Genossenschaftsbauern, der Jugend" 121 tätig werden und d a ß viele Menschen auf zuständige Art im Literaturprozeß mitwirken 122 - das wird immer mehr als der zweifache Ausgangspunkt der neuen Literatur und ihrer Leistung in der gesellschaftlichen Realität angesehen. In dem Maße, wie sich die Veränderungen im sozialistischen Publikum, die Anna Seghers beobachtet, deutlicher durchsetzten, mußte auch die Mitarbeit der Leser im Literaturprozeß als wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Produktivität der literarischen Tätigkeit aufgefaßt werden. Um den Gedanken, daß ein wesentlicher Grund für das Fortschreiten der Literatur in der wechselseitigen produktiven Einwirkung von Autoren und Lesern zu suchen ist, bildete sich einer der Schwerpunkte in der neueren Schriftstellerreflexion. Fritz Selbmann z. B. - der selbst eher als ein Repräsentant 5*
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Gesellschaft, jenes bekannte Prinzip der sozialistischen Literatur. Nicht nur der Einklang von literarischer Tätigkeit mit den bestimmenden Gesellschaftsbeziehungen, historischen Bewegungen der sozialistischen Gemeinschaft ist hier aufgerufen; die Aufmerksamkeit wendet sich den Möglichkeiten zu, die aus dem Einklang mit den Leuten herrühren, aus der wachsenden Gemeinsamkeit ihres Wollens in der Entfaltung des Sozialismus, in der Bewegung seines Werdens. Das Verhältnis des Bundes, das Anna Seghers feststellt, fördert und fordert, ist ein Verhältnis des Vertrauens. Es setzt das Vertrauen des Publikums in die verantwortliche aufrichtige Arbeit des Schriftstellers und das Vertrauen der Schriftsteller in die zuständige, aktive Aufnahmekraft des Publikums voraus.
Kooperation von Leser und Autor im
Literaturpro^eß
Anna Seghers' theoretische Bemühungen begleiteten den Entwicklungsprozeß des Bundes zwischen Autor und Leser in unserer Literatur über die Jahre des Aufbaus des Sozialismus in der D D R bis in die Gegenwart und hatten selbst bedeutenden Anteil an seiner Bildung. Für den Gang, in dem der neue Struktur-Funktionszusammenhang des literarischen Verkehrs bewußt wurde, stehen sie weithin repräsentativ. Was sich im Verlauf dieses Denkens - im Zusammenhang mit den neuen gesellschaftlichen Bedingungen - nach und nach herausbildete, kann heute bereits Ausgangspunkt des Nachdenkens werden. Daß die Schriftsteller als Teil des Volkes „Schulter an Schulter mit den Arbeitern, den Genossenschaftsbauern, der Jugend" 121 tätig werden und d a ß viele Menschen auf zuständige Art im Literaturprozeß mitwirken 122 - das wird immer mehr als der zweifache Ausgangspunkt der neuen Literatur und ihrer Leistung in der gesellschaftlichen Realität angesehen. In dem Maße, wie sich die Veränderungen im sozialistischen Publikum, die Anna Seghers beobachtet, deutlicher durchsetzten, mußte auch die Mitarbeit der Leser im Literaturprozeß als wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Produktivität der literarischen Tätigkeit aufgefaßt werden. Um den Gedanken, daß ein wesentlicher Grund für das Fortschreiten der Literatur in der wechselseitigen produktiven Einwirkung von Autoren und Lesern zu suchen ist, bildete sich einer der Schwerpunkte in der neueren Schriftstellerreflexion. Fritz Selbmann z. B. - der selbst eher als ein Repräsentant 5*
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älteren Kunstkonzepts zu charakterisieren wäre, der sich aber der dominant werdenden Vorstellung von der Literaur kollektiver Selbstverständigung nicht entziehen konnte - entwirft vom neuen Funktionszusammenhang folgendes Bild: „Im Sozialismus, der nicht mehr von antagonistischen Gegensätzen aufgerissen ist, können Schriftsteller und Leser, Dramatiker und Zuschauer, Literaturproduzent und -konsument sich zum einheitlichen Literaturprozeß verbinden. Diese Literaturgesellschaft ist seit der ersten Bitterfelder Konferenz zu einem festen Kern unserer ganzen Gesellschaft geworden. Diese Literaturgesellschaft ist selbstschöpferisch, sie schafft selbst literarische Neuwerte. Aus ihren Manifestationen, den unzähligen Foyergesprächen, Leserdiskussionen, Kulturplangesprächen, Volkskunstabenden, den Zuschriften an Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, ergeben sich unablässig Anregungen und Anstöße für den Literaturschöpfungsprozeß." 123 Einige Probleme dieser Mitwirkung an der Literatur, die bei Fritz Selbmann in idealisierter Form erscheinen, sollen nun näher betrachtet werden. Das Bild vom Leser als Ko-Autor, Förderer und Kritiker der Literatur Wir sind, betont Hermann Kant anläßlich eines Vergleichs der literarischen Situation früher und heute, längst zu neuen Selbstverständlichkeiten im Verhältnis der Mehrheit der Menschen und der Literatur übergegangen. „Eine davon ist die, daß seither die Arbeiter nicht nur sehr zuständige Leser geworden sind, sondern auch, was die DDR-Literatur angeht, recht zuständige Schreiber."124 Bleiben wir bei den Lesern: Für Kant setzt die Zuständigkeit von immer mehr Lesern Fähigkeiten voraus, die sie erst im Ergebnis der ersten Stufen der Kulturrevolution erwerben konnten. Diese Fähigkeiten umgreifen zunächst die besonderen Voraussetzungen für einen produktiven Literaturumgang: Literaturkenntnis und literarischen Sinn, welche nur über eine auch darauf gerichtete Ausbildung und einen lebendigen Verkehr mit Literatur der Gegenwart und Vergangenheit, der eigenen Nation und anderer Länder erlangbar waren - unter Bedingungen, die erst der neue Staat, die Realisierung seiner „Kulturpläne" schuf. Sie umgreifen aber, im Zusammenhang mit der allgemeinen Entfaltung sozialistischer Persönlichkeit in der Arbeit, in der politischen Aktivität und im gesamten gesellschaftlichen Leben, 68
vor allem das Wachsen eines Selbstbewußtseins, welches vielen Lesern ermöglichte, das bis dahin herrschende einseitige Verhältnis zur Literatur zu durchbrechen. „Die Literatur oder das, was dafür galt", so charakterisierte Hermann Kant seine frühere persönliche und darin eine sehr allgemeine Ausgangssituation, „wirkte auf mich, aber nie wäre ich auf die Idee verfallen, ich könnte - und sei es nur mit Hoffnungen oder Wünschen - auf die Literatur wirken."125 Das Entstehen eines neuen, repräsentativen Typs des Schriftstellers einerseits - Hermann Kant bezeichnet seine Art mit Brechts Formel von den Autoren, die „nicht aus dem Volke aufgestiegen sind, sondern mit ihm"126 - und andererseits das Entstehen eines Publikums, das lernt, als aktiver Partner der Schriftsteller in den literarischen Prozeß einzutreten, sind die neuen Züge des literarischen Verkehrs, die akzentuiert werden. Von hier aus gab es auch Überlegungen zu einer spezielleren Kooperation zwischen Autoren und Lesern: „Immer mehr", sagte einer unserer Prosa-Autoren, Martin Viertel, „spürt unser Publikum nun auch der Literatur auf den Grund. Der Leser, der Zuschauer, kommt uns als ein Partner entgegen, der mehr fordert, als wir ihm zur Zeit geben, er kommt als Verstehender, der Verständnis für sich verlangt, als unbequemer Dränger, der den Schritt angibt und in uns den Verbündeten sucht und sieht."127 Täglich, bekundete Erik Neutsch, kommen ihm Briefe ins Haus: „Leser sagen ihre Meinung, üben Kritik und Anerkennung und üben so auch Macht in Kunstdingen aus." Neutsch wies darauf hin, daß der Autor „nicht nur seine Leser hat, sondern auch in dem, was die Leser schreiben, lesen kann". Er beobachtete eine Literarisierung der Leser, die damit aufhören, bloß „Leser" zu sein; er sah neue Möglichkeiten zur Vertiefung der Kollektivität des Literaturprozesses und folgerte: „Und ich persönlich sehe länger nicht ein, warum nicht bei solchem Verständnis für die Theorie und Praxis, auch für die Theorie und Praxis des Schreibens und des Schreibenden, die Literatur sich nicht befleißigen sollte, künftig gemeinsam mit ihren Lesern neue Werke zu schaffen."128 Die Vorstellung von einer anregenden Wirkung der Leser auf die literarische Produktion einerseits, die Anerkennung der Leser als „Kontrollinstanzen"129 für die Adäquatheit der von der Literatur entworfenen Bilder gesellschaftlicher Entwicklung, der von der Literatur gezeichneten Ideale andererseits sind wesentliche allgemeine Grundelemente neuerer literarischer Programme. Sie weisen auf deren demokratischen Charakter. 69
Was aus den Schriftstellerreflexionen bisher entnommen wurde, ist nun aber noch sehr allgemein. Es zeigt noch zu ungenau die speziellere Art des unterstellten Bezugs in der literarischen Kommunikation, eine soziale Qualität. Dies ist zu präzisieren. Erstens. Erwin Strittmatter verweist ausdrücklich auf die Bedeutung direkter Kommunikation zwischen Autoren und Lesern: „Interessant ist der Kontakt, den unsere Leser mit ihren Schriftstellern pflegen . . . Ich erhalte viele, viele Leserbriefe und Einladungen, aber nur etwa tausend deutschsprachige Briefe kann ich jährlich beantworten." 130 In vielfältiger Form, in Leserbriefen, Buchbasargesprächen, Buchlesungen, öffentlichen Literaturdiskussionen usw. treten Leser in direkte Beziehung zu den Schriftstellern. Dies ist in einem literarischen Verkehr, der gesellschaftlich hochvermittelt ist, eine auffällige Erscheinung. Leser geben Urteile über vorliegende Bücher und ihre Gestalten ab, artikulieren neue Ansprüche und Wünsche an Literatur. Die Direktheit dieser Formen der Kommunikation ist charakteristischer als ihre Öffentlichkeit - und das ist in doppelter Weise aufschlußreich. Zunächst ist zu betonen: Sicher verläuft auch im Sozialismus der literarische Kommunikationsprozeß, von der Seite der Leser her, dominant in stummen Vorgängen, die sich dann nur an Verkaufserfolgen, Auflagenhöhen, Ausleihziffern usw., in den Bewegungen des wirksamen Literaturensembles oder in den Erkundungen der Soziologen offenbaren. Es fällt auf, daß dies in den Überlegungen der Schriftsteller kaum eine Rolle spielt, daß nicht selten sogar für die Poetik - der Wert statistischer Analysen bezweifelt wird. Ähnliches gilt für den Wert der Literaturkritik. Der literarische Kommunikationsprozeß wird ja wesentlich durch eine Repräsentation der Leser, durch die Literaturkritik und Literaturpolitik vermittelt. Für einen gesellschaftlich relevanten und für die Autoren auch erlebbar werdenden Bereich organisiert sich jedoch der literarische Austauschprozeß im Sozialismus - Kennzeichen seiner wachsenden demokratischen Gesellschaftlichkeit, seiner größer werdenden Bewußtheit, Kennzeichen aber auch unausgeschöpfter Möglichkeiten seiner Öffentlichkeit - über Ergebnisse des literarischen Nachdenkens, die von den Lesern selbst formuliert werden, über ihre Urteile zu Wirkung und Wert von Literatur. Nicht total, aber doch paradigmatisch, hebt sich im literarischen Verkehr der sozialistischen Gesellschaft die durch den bürgerlichen Literaturmarkt entstandene Anonymität des Publikums auf, die Schriftsteller begegnen ihren Lesern
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direkt. Das Literaturgespräch 131 * ist inzwischen in den Rang einer (informellen) Vermittlungsinstitution des literarischen Verkehrs im Sozialismus aufgestiegen. Die Erweiterung des Begriffs von Literaturkritik, der jetzt oft nicht nur den Bereich der professionellen literaturkritischen Arbeit, sondern alle Formen gesellschaftlicher Reaktion auf die Literatur meint, ist ein deutlicher Ausdruck dieses Prozesses.132 Ferner enthält die Berufung auf erfahrene Erwartungen und Fähigkeiten der sozialistischen Leser offenbar den Anspruch der literarischen Produzenten, mit ihrer sozialen Praxis direkt in Verbindung zu stehen. Es ist dies zugleich ein Argumentationsverfahren, das den mitunter sich äußernden Anspruch der (formellen) Vermittlungsinstitutionen korrigiert, sie vor allem könnten die Wahrheit über die Interessen der Leser oder das, was ihnen nottut, aussagen. So betont Fritz Selbmann - den Gedanken von der selbstschöpferischen Kraft der Literaturgesellschaft im Sozialismus ergänzend daß es der Autor sei, der sich, kraft seines lebendigen Kontaktes mit den Leuten, den gesellschaftlichen Auftrag selbst definiere; daß man nicht denken solle, es könne „die Gesellschaft durch autoritäre Organe ihre Befehle an Schriftsteller, Dramatiker oder Komponisten zur Schaffung und termingemäßen Lieferung von Kunstwerken vorgeschriebenen Inhalts und womöglich auch noch nach einem kunstfremden Formdiktat" 133 erteilen. Zweitens. Mit der Vorstellung von einem Direktkontakt zwischen Autoren und Lesern verbindet sich deshalb oft auch eine auffällig gemachte Geringschätzung der (meist pauschalierend „Germanistik" genannten) Literaturkritik. Ihr wird, nicht selten heftig, ein Verkennen der Spezifik der Literatur nachgesagt und damit auch ein Verkennen ihrer Aufgabe, den literarischen Verkehr unabgetrennt von den lebendigen primären Prozessen der Produktion und Rezeption zu organisieren. Provozierend wird mitunter ein vollendeter Funktionsverlust der Literaturkritik konstatiert. Erwin Strittmatter weist auf ihre Wirklichkeitsunkenntnis und ihre Verblümtheit hin: „Ich warte auf die Zuschriften von Lesern, sobald ein neues Buch von mir herausgekommen ist . . . Ohne die berufsmäßigen Kritiker schmähen zu wollen . . ., sage ich, daß mir Leserbriefe lieb sind, weil die Leser unverschlüsselt mit mir sprechen und bei ihrer Kritik von der Wirklichkeit ausgehen, was einige Kritiker absolut nicht tun. Außerdem gibt's bei den Lesern kein Sowohl-Als-auch. Natürlich ist vieles in Leserbriefen zu subjektiv gesehen, aber das weiß ich zu veran71
schlagen. Die Pseudo-Objektivität, hinter die manche unserer Kritiker aus Mangel an Wirklichkeitskenntnis kriechen, ist mir widerlicher."134 - Nicht unabhängig von den aktuellen Schwächen der Literaturkritik wird so wiederholt die etablierte Art der von wenigen Professionellen getragenen Institution Literaturkritik problematisiert. Dagegen soll hier keineswegs polemisiert werden. Freilich kann die öffentliche Literaturkritik nicht durch den unpublizierten Leserbrief und nicht durch das direkte Gespräch ersetzt werden. Eine verbreiterte öffentliche Literaturdiskussion allein, das, was in früherer sozialistischer Literatur Massenkritik genannt wurde, könnte ihre zukunftsträchtige Form sein. Drittens. Werden die Leser als aktive Momente in den Literaturprozeß hineingedacht, bilden sich Vorstellungen, die die traditionelle Idee von der Schöpferrolle des Autors, seiner Rolle als Spender von Schau, Aufklärung oder Unterhaltung negieren; sie führen allgemein zur Installation der Leser als Auftraggeber und Anreger der literarischen Arbeit 135 *; sie führen mitunter auch zu Auffassungen, in denen die Leser als Ko-Autoren oder gar als eigentliche Produzenten auftreten. Die Mitwirkung der Leser an der literarischen Produktion wird allerdings keineswegs stets so direkt vorgestellt wie bei Erik Neutsch, der die Idee einer unmittelbaren Kooperation vortrug; und keineswegs wird dabei stets eine „Machtausübung" der Leser über die Literatur behauptet. In der Regel, so betonte z. B. Hermann Kant, wird sich kein Autor hinsetzen können, um die in Gesprächen mit dem Publikum vernommenen Bedürfnisse und Wünsche zu bedienen, und noch weniger ist er etwa „sklavisch an solche Erwartungen"136 gebunden. Was der Schriftsteller erfährt, sind Interessenrichtungen: „Die Gesellschaft meldet ihre Bedürfnisse an und sagt, welche Probleme und Wünsche, welche Sehnsüchte und Vorstellungen sie hat, sie fordert uns auf, davon in unseren Büchern vorkommen zu lassen."137 Daß sich in solchen Gesprächen das Gebraucht-Werden von Literatur zeigt und daß allgemeinere Interessenorientierungen sichtbar werden - das schien diesem Autor wichtiger als etwa der spezifische Vorschlag, dem zu folgen wäre. Es gibt dem Schriftsteller Material zur Bildung von Verallgemeinerungen zur Aufgabe der Literatur, und zwar konkreteres, weil verbalisiertes Material, als er es aus der Beobachtung der stummen Vorgänge der Rezeption und überhaupt der Äußerung von Interessen gewinnen könnte.138 Zwar mag der einzelne Schriftsteller diese oder jene Anforderung als ihm ungemäß empfinden, auch als „Belästigung", insgesamt aber bringt 72
die sich äußernde Aktivität der Leser ein zusätzliches, produktives Spannungsmoment in den Literaturprozeß, das vergesellschaftend wirkt. Es wird anerkannt, daß der Schriftsteller sich der Forderung zu stellen hat: „Wer sich hier ans Schreiben macht, gründet - im Verständnis der Öffentlichkeit - einen volkseigenen Betrieb, wird von der Gesellschaft als eine Institution im Besitze der Gesellschaft verstanden, und das hat Folgen."139 Hermann Kant beschreibt ein dialogisches Verhältnis: Er sieht die literarische Arbeit einem Auftrag der Öffentlichkeit unterstellt; er denkt sie gleichzeitig aber als einen Vorgang, der Verallgemeinerung, darin notwendig Selektion und Bewertung der Ansprüche dieser Öffentlichkeit durch den Autor einschließt. Mit den verschiedenen Anforderungen aus dem Publikum werden gesellschaftliche Differenzierungen ins Spiel gebracht, gesellschaftliche Widersprüche, in denen der Schriftsteller seinen Platz bestimmen muß. Viertens. Diese Widersprüche schwinden oft auch aus der Reflexion: Nicht selten nämlich wird das Bild des zuständigen Lesers, das die Realität des Publikums tatsächlich nur zum Teil decken kann, absolut gesetzt. Es wird dann personifizierte Form eines idealisierten Publikums, wie das idealisierte Publikum dann als eine Art Plural des idealisierten Lesers erscheint. Nur von hier aus läßt sich verstehen, warum im Nachdenken vieler Schriftsteller ein Faktor „der Leser" auftreten kann, der sowohl die individuellen Leser wie das Publikum meint. Bei der Konstruktion dieses Lesers spielte, wie besonders die angeführten Überlegungen Martin Viertels zeigen, die Schrittmacher-Idee vom Ende der sechziger Jahre mit. Ihre Übertragung auf die Literatur war von Überschwenglichkeit nicht frei; die These von der Wirkung der Leser in der literarischen Produktion nahm dabei den Charakter einer Beteuerung an, die die wirklichen Verhältnisse überspielte: Tatsächlich fungierten hier nämlich nicht die realen Leser der sozialistischen Gesellschaft, sondern ein ihnen allen zugeschriebenes Bewußtsein und Verhalten als Instanz der Erziehung der Schriftsteller. Der widersprüchliche Prozeß wird dagegen eher dann erfaßt, wenn anerkannt wird, daß keineswegs a l l e Leser in ein schöpferisches Verhalten zur Literatur eintreten, nicht alle von Literatur mehr verlangen, als sie gibt, daß alte und neue Ansprüche verschiedener Art sich auf eine Weise durchdringen, die die Aktivität des Schriftstellers herausfordert.
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Das Konzept kollektiver literarischer Produktion - ein Zwischenspiel Die Einführung der Leser in die Vorstellung von der literarischen Produktion, die Auffassung, sie seien Auftraggeber, Ko-Autoren, anregende Partner und Kontrollinstanzen, gehört zu einem Konzept für einen Weg, auf dem die sozialistische Vergesellschaftung der Literatur schon von der Seite der Produktion her demokratisch gesichert werden könnte. Daß es hier um den Prozeß der Vergesellschaftung der Literatur geht, zeigt auf andere Weise eine Reihe von Gedankengängen, in denen eine Gruppe von Autoren Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre effektvoll die Idee der Kollektivität literarischer Arbeit vortrug und umgekehrt spöttisch vom „Stubengeruch der individuellen Heimarbeit des .werktätigen Einzelschriftstellers' "14° sprach. Einerseits herrschte hier ein Bestreben nach Verwissenschaftlichung der künstlerischen Arbeit, nach einer Kunst allgemein als „Wissenschaft vom Menschen" heute, „von seinen zentralen Problemen, seinen Beziehungen zur Zukunft, von seinen Interessen, Neigungen, seinen Berührungspunkten mit der gesellschaftlichen Totale", 141 nach einer Kunst speziell als „Bereich der Planung und Leitung geistig kultureller Prozesse", einer Kunst, die sich durch ein „disponibles prognostisches Wissen" auszeichnet und von ihm aus „Stoffwahl, Heldenwahl, Konzeption, Struktur, poetische Idee und in Hinsicht auf tiefe und breite Wirkung" auch „die Wahl der Form der ästhetischen Mittel" bestimmt.142 Max Walter Schulz zog die Konsequenz solcher Prämissen: „Hier hilft nur eines: sozialistische Gemeinschaftsarbeit, festen Anschluß an wissenschaftliche Kollektive gewinnen und innerhalb des Kollektivwesens Literatur selber wissenschaftliche schöpferische Kollektive bilden. Wir brauchen eine Schale schöpferischer Wissenschaft für unsere Literatur als eine dauernde Einrichtung mit Vorplanung in Jahreszeiträumen, bezirklich und überbezirklich eingerichtet, mit Erfahrungsaustausch und Beschlußfassung im Zentralen Vorstand." 143 Andererseits ging es darum, einen Prozeß zu befördern, in dem die Schriftsteller sich - Erik Neutsch gebrauchte wohl bewußt kybernetische Termini - in den Aufbau eines gesellschaftlichen Gesamtsystems „einregeln", und zwar so, daß sie, wie in der „Großforschung" die Wissenschaftler, sich ethische Züge der Arbeiterklasse aneignen: „Arbeitsdisziplin, Arbeit im Kollektiv, Komplexität des Denkens und Effektivität in der Arbeit" und zugleich, was nur im Kollektiv 74
möglich ist, die Fähigkeit, „die Kompliziertheit unserer Welt zu durchschauen". Für Erik Neutsch ging es hier vor allem um das Ganze des Literatursystems und seine Einbettung in die Gesellschaft: „Bis jetzt macht der Schriftsteller dem Verlag noch immer seine zufälligen Angebote. Der Verlag nimmt das Angebot oftmals noch recht zufällig an. Es findet sozusagen ein Austausch auf der Ebene der einfachen Warenproduktion statt. Aber von dem zufälligen Angebot des einzelnen Schriftstellers kann nicht die gesamte Literatur leben, kann nicht die Literaturgeseüschaft leben. Wir müßten Wege und Leitungsmethoden finden, die das in Rechnung setzen, -die uns befähigen, kollektiv zu arbeiten, und die Notwendigkeiten heute bereits schaffen für Anforderungen, die die Zukunft auch an unsere Literatur stellen wird." 144 Es soll betont werden: Die Probleme, die hier benannt wurden, erledigen sich nicht gleichsam von selbst dadurch, daß sie an den Thesenkreis des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus gebunden waren (wozu die kybernetische, organisationswissenschaftliche Terminologie ebenso gehört wie die Idee einer durch Einregeln herstellbaren Übereinstimmung von schriftstellerischer und gesamtgesellschaftlicher Tätigkeit), und auch nicht dadurch, daß man auf enthusiastische Weise einem zu organisierenden Erfolg sich verpflichtete (wozu die Idee gehört, durch entsprechende Leitungsmethoden könne das literarische Talent wie ein Sportler „aufgebaut" 145 , könne die Wahrscheinlichkeit künstlerischer Qualität erhöht werden). Sowohl das eine wie das andere führte zu heute geradezu grotesk klingenden Formulierungen. Doch bleibt die Frage, wie es möglich ist, den Umgang mit Literatur in der sozialistischen Gesellschaft anders zu formieren als über den Austausch der „Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten" 1 '' 6 , ein anderes als das literarische Austauschgesetz des liberalisfischen Kapitalismus wirken zu lassen, in dem nach einem Wort Lenins der Schriftsteller schreibt, wie es kommt, und der Leser liest, wie es kommt. 147 Die ökonomische Argumentation, die in der Polemik gegen die literarische Einzelproduktion gebraucht wurde, war deshalb mehr als metaphorisch. Im - nicht selten leidvollen - Stolz auf die Individualität der literarischen Produktion wirken nicht nur Momente eines traditionellen Humanismus mit, sondern auch Momente, die aus der aktuellen sozial-ökonomischen Situation von Autoren herrühren, welche als Einzelproduzenten oder genauer: als Zulieferer eines (historisch sonst überholten) Verlagssystems arbeiten, unter Be75
dingungen, durch die sie in der Arbeit vereinzelt sind 148 und durch die sie - in der vermittelten ökonomischen Abhängigkeit vom Markt, so auch von der Konkurrenz - veranlaßt werden, ihre Besonderheit hervorzuheben. Gegen die zitierte Polemik ist jedoch anzuführen, daß dies keinen Zwangsmechanismus durchgreifenden Charakters bildet, der nun auch die Erfahrungsbreite und die Ideologie des Autors bestimmen muß. Indem er sich als öffentliche Person etabliert, stellt er sich in mehr als nur spezielle ökonomische Zusammenhänge: in Kontexte des Zwangs zur politischen, weltanschaulichen, ästhetischen Profilierung, Anschluß- und Gegensatzbildung, und dies ist wesentliche Vermittlung seiner ideologischen Intention. In welchem Maß gerade dieses Moment wirksam ist, wird auch auf der Gegenseite der kollektiv organisierten künstlerischen Produktion deutlich. Sie gibt es - als Resultat vergleichbarer technischer und verschiedener politisch-ökonomischer Bedingungen - im Bereich bürgerlichen Unterhaltungsbetriebs wie in den sozialistischen Medienkünsten. Nicht dies macht schon ihre Funktion: Kollektive sind gegenüber der Gesellschaft oder den kämpfenden Klassen der Gesellschaft noch immer etwas Partikulares, und sie können wie Individuen gesonderten Interessen folgen. Die kollektive Produktion löst noch nicht das Problem. Technische Produktionsbedingungen der Medienkünste, die Bedingungen ihrer materiellen Distribution, aber auch ideologische Bedingungen, die sich aus der konzentrierenden Wirkungsart und großen Reichweite dieser Künste ergeben, weisen jedoch eindeutig auf den historischen Charakter der künstlerischen Einzelproduktion: Diese kann und darf nicht als allgemeine Norm künstlerischer Arbeit aufgefaßt werden. Umgekehrt wäre es falsch, die am Modell der Medienkünste im Sozialismus gewonnene Idee der Kollektivität künstlerischen Schaffens allen anderen Künsten als Norm aufzudrängen. Dies würde notwendig dazu führen, die historisch herausgebildete Vielfalt der künstlerischen Weltaneignung zu reduzieren: Jene Künste, zu deren gattungsmäßiger Besonderheit die individuelle Produktion unabdingbar gehört, müßten verworfen oder doch wenigstens um wesentliche Dimensionen ihres gesellschaftlichen Wertes verkürzt werden. Gerade letzteres war ein Effekt der Kritik an der individuellen künstlerischen Arbeit. Die Anhänger der kollektiven literarischen Produktion verschoben die Schwerpunkte der literarischen Arbeit. Sie legten den Akzent auf den Bereich der Vorbereitung des Schreib76
Prozesses, auf den Bereich der Materialaufbereitung, der Konzeptionsbildung, auf Gebiete also, die dem „gesellschaftlichen Lektor"149 zugänglich sind. So, wohl vorbereitet, am Ende einer die Produktion verallgemeinernden und objektivierenden literarischen „Kooperationskette", erschien dann die Arbeit an der Formgebung und Sprache nur als sekundär. Auch für den Roman sollte gelten, daß der „Schreibtisch nur den Werktisch für die Textgestaltung"150 abzugeben hat. Der politische Hauptinhalt der Forderung nach kollektiver literarischer Produktion kommt mit der Figur des „gesellschaftlichen Lektors" deutlich zum Vorschein. Charakteristisch für die Ende der sechziger Jahre vorgetragenen Überlegungen dieser Art war die Idee einer wohlorganisierten Literatur, die eine leitende Funktion in der Gesellschaft wahrnehmen sollte und deshalb auch selbst der Leitung unterstellt wurde. Die Kritik an der Individualität der literarischen Produktion war im Kern eine Kritik an ihrer Spontaneität. Zu den auffälligen Merkmalen des Verständigungsprozesses über unsere Literatur, wie er sich mit Beginn der siebziger Jahre äußerte, gehört nun die entschiedene Rehabilitierung einer individuellen und individuell verantworteten Arbeit des Schriftstellers. Die anders lautenden Vorschläge der Jahre zuvor wurden still beiseite gelegt, mitunter auch der Kritik unterzogen. Dafür ist eine Gedankenkette im Referat von Anna Seghers auf dem VII. Schriftstellerkongreß repräsentativ: „Mag der Schriftsteller einzelne oder viele Menschen in ihren Handlungen und Gefühlen darstellen . . ., mag er sich noch so gründlich mit seinen Freunden beraten haben, mit dem Kollektiv, zu dem er gehört, einmal kommt für ihn der Moment . . ., in dem er allein ist. Wenn er endlich den richtigen Ausdruck findet und niederschreibt, ist er allein, die ganze Verantwortung liegt auf ihm . . . Auch die höchste Wissenschaft, die Begabung zu den schwierigsten technischen Arbeiten ersetzt die Kunst nicht. Denn die Wissenschaft hat ein anderes Ziel . . . Wie aber kommt der Schriftsteller, der durch echte Begabung zu seinem Beruf gewissermaßen genötigt wurde, zu seinem Thema? Was hat ihn dazu gebracht, gerade diesen besonderen Stoff und keinen anderen zu nehmen? Es ist in jedem Fall ein Zusammenspiel von Emotion und verstandesmäßigem Suchen."151 Wie man sieht, beantwortet Anna Seghers - gestützt auf eigene in langen Jahren erprobte Erfahrungen - die im Konzept einer kollektiven literarischen Arbeit vorgetragenen Ideen alternativ. Thesenhaft zusammengefaßt: Die Generallösung für das aufgeworfene Problem der Vergesellschaftung der Literatur ist hier der verantwort77
liehe Schriftsteller, der die Wirklichkeit vom sozialistischen Standpunkt aus betrachtet und der aus innerem Bedürfnis heraus schreibt. Aus dem Begriff des sozialistischen verantwortlichen Autors schließt Anna Seghers alle die Schreibenden aus, die ohne wahres Bedürfnis, so auch ohne eigene Form dahinschreiben, weil sie sich Vorteile davon versprechen, Annehmlichkeiten des Lebens, Verdienste usw. Aber mehr: Zum Begriff dieses Schriftstellers zählt sie, daß das wahre Bedürfnis nicht allein äußeren Notwendigkeiten folgt, auch wenn diese substantiell sind, daß äußeres und inneres Bedürfnis vielmehr eine Einheit bilden. Entscheidend ist deshalb nicht die Vorarbeit des Schreibens, sondern der Augenblick, in dem der Schriftsteller schreibt, er endlich den richtigen Ausdruck findet. Und schließlich kann Kunst nicht der Technik oder Wissenschaft untergeordnet werden: Beide Aneignungsweisen sind verschiedenen Funktionen unterstellt, unersetzbar und relativ autonom. Literatur ist nicht Ausfluß einer wissenschaftlichen Prognose oder Illustration von Theorie; die innere Nötigung zum Schreiben umfaßt von Stoffwahl und Themenbestimmung an ein Zusammenspiel von Emotionalität und Verstand, sie ist an die Subjektivität des Schreibenden gebunden. Sicher erfolgt allgemein die Rehabilitierung der individuell verantworteten literarischen Arbeit in unserer Literatur aus vielfältigen Gründen. Sie ist bei denen, die sie vortragen - etwa Anna Seghers oder Hermann Kant, Christa Wolf oder Volker Braun, Franz Fühmann oder Günter Kunert jeweils in besondere poetische Konzepte eingeordnet, und nicht alle diese Konzepte haben die gleiche Produktivität. Es machen sich in der Polemik gegen die früheren Einseitigkeiten nun mitunter wieder andere Einseitigkeiten bemerkbar - wie sie theoretisch etwa in dem unbedingten Vertrauen auf die individuelle subjektive Erfahrung, in einer verallgemeinerten Theoriekritik, in der Behauptung eines prinzipiell irrationalen Charakters der Poesie, in dem Beharren auf einer unvermittelten Spontaneität zum Ausdruck kommen. Diese Einwürfe bringen kaum neue Argumente; es werden hier - auch wenn Vorgänge im Sozialismus ihr Anlaß waren - oft nur Thesen reproduziert, die der bürgerliche Literaturprozeß produzierte. Die Diskussion insgesamt aber ist ein aufschlußreiches Zeugnis für Klärungsvorgänge, die mit der Herausarbeitung der kommunikativen Dialektik der Literatur in unserer Gesellschaft verbunden sind. Sie verdeutlicht, daß es unter den konkreten historischen Bedingungen der Literaturverhältnisse im Sozialismus darauf ankommt, den „Widerspruch zwischen der Notwendig78
keit, vereinzelt zu schreiben, und der Notwendigkeit des Austauschs, der Gemeinschaft" 152 bewußt produktiv zu machen. Literarische Tätigkeit löst sich in der z. B. von Hermann Kant repräsentierten Orientierung auf eine solche Dialektik weder in einer Vorstellung von Poesie auf, in der der Dichter unmittelbar verkündende Stimme des Volkes oder eines jeden einzelnen ist, noch in einer Vorstellung von Literatur, in der als Garantie ihrer Gesellschaftlichkeit die Kollektivität der Produktion oder ihre wissenschaftliche Leitung gesetzt ist oder in der die Autoren als Ausführungsorgane eines stilisierten Leserwillens wirken. Es geht Kant darum, Literatur in einen Prozeß einzuordnen, der Gemeinsamkeit nicht lediglich zu bestätigen, sondern in vielstimmigen Vorgängen zu produzieren hat. Mitunter wird noch fast entschuldigend konstatiert: „Solange wir die Grundtatsache nicht aufheben können, daß bei aller Gesellschaftlichkeit der Schreibprozeß eine höchst individuelle Angelegenheit ist, solange werden wir Reibungen zwischen dieser Tatsache und dem Verlangen nach mehr Gemeinschaftlichem haben." 153 Kant setzte den Widerspruch aber ausdrücklich auch in eine gewollte Bewegung. Auf dem VII. Schriftstellerkongreß bezeichnete er die - für unsere Epoche unbedingt geltende - Verschiedenheit der Erfahrungen als treibende Kraft des literarischen Austauschs. D a ß der Schriftsteller in einer größeren Gemeinschaft als Bundesgenosse, Klassengenosse, als Genosse tätig wird, ist Ausgangspunkt, wenn Kant es als eine kardinale Aufgabe ansieht, nie die Fühlung zur Arbeiterklasse, zu ihrem Kampf, ihren gesellschaftlichen Zielen zu verlieren. Dies ist für ihn aber nicht etwas, was ein für allemal zu erledigen wäre, sondern ein „bewegliches, ständig mitgehendes Problem". Bei dessen Lösung kann kein gesellschaftlicher Mechanismus walten, der die Schriftsteller immer klassenverbundener, die Arbeiterklasse immer literaturverbundener macht, weil ihr Verhältnis nicht allein durch ihre allgemeine ideologische Verbundenheit, sondern auch durch spezielle Bedingungen der in unserer Gesellschaft fortwirkenden Arbeitsteilung bestimmt ist. Um die Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen Hauptaufgabe heute zu erfüllen, so wird gesagt, bedarf es unterschiedlicher Formen der Arbeit - „unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen erwirken unterschiedliche Seh- und Denkweisen" 154 , „verschiedene Arbeits- und Kampfplätze machen verschiedene Blickwinkel". Hier nun wird die Funktion von Literatur vorzugsweise angesetzt 155 : Haltbare Beziehungen „stellen sich nicht zuletzt durch den Austausch sehr unterschiedlicher Ansichten her" 156 . 79
Die Vorstellung von der „Notwendigkeit, vereinzelt zu schreiben", gründet hier - und das ist ein allgemeiner Zug in der Herausarbeitung der kommunikativen Dialektik unserer Literatur - nicht allein in der individuellen Notwendigkeit des authentischen, aus innerem Bedürfnis, aus Zwang schreibenden Schriftstellers, sondern in der gesellschaftlichen Notwendigkeit, die Verschiedenheit der Ansichten zum Ausdruck zu bringen. Aufrichtigkeit im Vorweisen der wirklichen Erfahrungen, Unbestechlichkeit und Konsequenz des eigenen Denkens gehören zu den Voraussetzungen solcher Gedankengänge ebenso wie die Wahrnehmung sozialer, politischer und ethischer Verantwortung: Beide fallen für viele Autoren nun zusammen.157 Für die aus solcher - von Spontaneität keineswegs freigehaltener - Tätigkeit stammenden literarischen Gestalten gilt folgerichtig weniger der Anspruch auf unmittelbare Allgemeingültigkeit als der Anspruch auf allgemeine Brauchbarkeit im Rahmen der Aufklärung der gesellschaftlichen Subjektivität, auf Vermittlung individuellen und kollektiven Selbstbewußtseins, die sich im Ergebnis rezeptiver Auseinandersetzung des zuständigen Lesers mit dem Angebot des Autors realisieren soll. Und mitunter gilt auch der Anspruch auf Lieferung eines gesamtgesellschaftlich offenen Diskussionsgegenstandes. Eine direkt leitende Funktion wird solcher Literatur nicht zugemessen: Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind nicht immer gleich zu „kassieren", so sagte Johannes Bobrowski. Was hier getan wird, geschieht „nur auf Hoffnung". Kunst als „Kommunikationsmittel" ist geeignet „zu befragen und dringlich zu befragen"; 158 ihre Wirksamkeit heißt Anregung und Vorschlag.
Demokratische Organisationsform sozialistischer Literatur Sowohl die Überlegungen, die auf einen engen Kontakt von Autoren und Lesern zielen, wie die Thesen zum verantwortlichen, mit dem Publikum dialogisch verbundenen Autor lassen sich als Antworten auf das Programm einer wohlorganisierten Literatur verstehen. Wurde dort etwa die „Schale der Wissenschaft" und die „Beschlußfassung im zentralen Vorstand" als möglicher Mechanismus der ideologischen Organisation der gesamtgesellschaftlichen Wirkung von Literatur betrachtet, so blieb hier die Frage nach den konkreten Bedingungen solcher Organisation nicht selten aus dem Spiel. Sie löste sich gleichsam von selbst in dem Idealbild der „selbstschöpferischen" Regu80
larion der Literaturgesellschaft, in der vorgestellten Identität von individuellen und gesellschaftlichen literarischen Interessen. Wir finden deshalb auch mehr Hinweise auf einen möglichen anderen Mechanismus der ideologischen Organisation literarischer Wirkungen als dessen genaue Begründung. Hier wirkten sich Tabuisierungen der Vermittlungsinstitutionen des literarischen Verkehrs ebenso aus wie ein ästhetisches Denken, dem als zentrales Moment der Produktion, als Identifikationsfläche für Wirkung und als Wertkriterium der Literatur der allgemeine Mensch erscheint. In beiden Zusammenhängen werden die widersprüchlichen Beziehungen der gesellschaftlichen Kommunikation, die konkreten gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge der Literatur übersprungen. Das mythische Konzept vom ästhetischen Charakter der Literatur, das Franz Fühmann uns darbietet, kann für die Diskussion der hier zu erörternden Probleme einen Ausgangspunkt bilden. „Der Mensch" in Fühmanns Vorstellung ist von der Gesellschaft wie von der Natur bestimmt, sein Wesen ist die Einheit von Naturund Gesellschaftswesen. Ich und Wir sind dabei wohl „ a u c h historische Kategorien"; wesentlich aber ist in ihnen das Allgemeine einer Gattung, die als Naturgattung der Natur gegenübergestellt ist, so auch ein Ich-Empfinden ausbildet, damit auch ein Sich-Entgegengesetzt-Fühlen der Individuen zu den anderen der Gattung (Fühmanns Prometheus, 1975, spielt im Umkreis der Herausbildung dieses Verhältnisses). V o n dem Menschen, der als Gattung der Natur ein individuelles Ich ist, spricht die Literatur, und z u diesem Menschen spricht sie auch: Was in der Literatur wesenhaft, überwältigend, als ihr Geheimnis auf uns wirkt, ist dieses „mythisch" genannte Element, der untheoretisierte, im Gleichnis ausgesagte Ausdruck oder die Abbildung dieses elementaren Grundwiderspruchs. Als Kunstaufnehmender in das Gleichnis eintretend, vermag ich deshalb „mein Ich um das Ich eines Anderen" zu erweitern: „Das Gleichnis überzeugt mich, daß ich nicht allein bin, und zwar eben nicht dadurch, daß es beteuert, es gehe allen Menschen so wie mir, noch gar, daß es mich um meine Erfahrung zu bringen versucht, indem es mir einreden wollte, sie sei ja gar nicht so hart und es gebe sich schon, am besten mit gehörigem Bewußtsein." Drei Bedingungen gelten hier für Literatur: die Existenz von Sprachgebilden mit Symbolcharakter, von Vergleichen, Gleichnissen, die offen sind für Identifikation; die Existenz eines Menschen, der solche Gleichnisse der subjektiven Erfahrung schaffen, und die Exi6 Schlenstcdt
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Stenz eines Menschen, der sie auf seine Erfahrung beziehen kann. Fühmann beruft sich auf Barlach: „Zur Kunst gehören zwei - einer, der sie macht, und einer, der sie braucht." Betont wird, daß dieses Gebraucht-Werden sicherlich viele Aspekte hat, Kunst nicht nur in einer Richtung wirksam ist, daß aber als ein allgemeines Kriterium ihrer Mächtigkeit die Möglichkeit des Ubereinstimmens der Erfahrungen anzusehen ist. Die Möglichkeit schafft der Autor, sie hängt von der Kraft seines Sehens, Fühlens und seiner Sprache ab, von der Tiefe seiner Erfahrung, von dem, was Franz Fühmann ihren Gehalt an „Menschheitssubstanz" nennt: „... wobei diese Erfahrung auch vorweggenommen, aus Verallgemeinerung erst einiger weniger verborgener oder tabuierter Züge des Lebens erahnt sein kann." 159 * Doch unterliegt die so übermittelte Erfahrung der Prüfung: Zunächst ist das symbolische Gebilde eine „subjektive Aussage", wenig unterschieden vielleicht von der eines Wahnsinnigen oder eines Zwecklügners; es kann erst durch einen Dritten, den Leser, in den Rang eines Gedichtes erhoben werden, denn nur dadurch, daß ein anderer die Erfahrung des (schreibenden oder geschriebenen) Ichs als eigene betrachtet und für sich ausgedrückt sieht, gewinnt seine „Hervorbringung gesellschaftlichen Charakter, und ohne den ist Literatur nicht Literatur". 160 Es kann bezweifelt werden, ob es sich in der Beschreibung dieser auf den allgemeinen Menschen gegründeten Überindividualität tatsächlich um den „gesellschaftlichen Charakter" von Literatur handelt. Gerechnet wird zwar mit einer Wechselbeziehung zwischen Machen und Gebrauchen von Kunst, aber deren Wert entsteht hier im Raum der Begegnung je einzelner Individuen mit je einzelnen Werken. Der gesellschaftliche Wertbildungsprozeß, der viele Autoren, Werke und Leser zusammenschließt, der unter Mitwirkung von Vermittlungsinstitutionen vonstatten geht; dessen Ergebnis nicht allein einzelne bewertete Werke sind, sondern auch die Bildung von Prinzipien, nach denen wir Werte erfassen und setzen; in dem gesellschaftlich zur Verfügung gestellte Literaturensembles geschaffen werden; der auf gesellschaftliche Interessen bezogen ist und sich gesellschaftlich formiert - dieser Prozeß bleibt tendenziell außerhalb der Betrachtung: Die Kommunikation erscheint als unmittelbar. Zur Begründung dieser Unmittelbarkeit - zu der auch die Idee gehört, daß jeder Schriftsteller gerade „jenes Stückchen Literatur, das nur er und kein anderer schreiben kann" 161 , in die Gesellschaft als Unersetzbares einzubringen hat - wurde mitunter, auch von Füh82
mann, die Zielidee des Kommunistischen Manifestes herangezogen, die Idee von einer die bürgerliche Gesellschaft ablösenden „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist"162. Die Kunst - so der Gedanke spielt diesem Verhältnis vor: Das Zur-Verfügung-Stellen der Produktivität und Betroffenheit des Autors ist für alle wichtig; der Autor gibt sich preis und hofft, daß seine Worte als Möglichkeit von Erfahrung und Verhalten angenommen werden - von Menschen, die die übermittelte Subjektivität als Ergänzung, als notwendigen Teil ihrer selbst brauchen. Doch eher als das Kommunistische Manifest entspricht der so vorausgesetzten kommunikativen Unmittelbarkeit eine Vorstellung des frühen Marx, die von der „ v e r m i t t e l n d e [n] T ä t i g k e i t " handelt, wie sie sich in einer menschlich organisierten Welt abspielen wird, von dem „A u s t a u s c h . . . der m e n s c h l i c h e n P r o d u k t e gegeneinander" 163 , da die individuelle Lebensäußerung des einen unmittelbar die Lebensäußerung des anderen schafft und beide sich in der Begegnung als Gattungswesen bestätigen. Das Vertrauen gilt hier - der ökonomische Text ist deutlich ästhetisch fundiert - einem Verhältnis, in dem wir gelernt haben, eine „menschliche Sprache" zu verstehen, in dem sie nicht auf der einen Seite als „D e m ü t i g u n g " empfunden und von der anderen Seite als „ U n v e r s c h ä m t h e i t oder W a h n w i t z " zurückgewiesen wird, in dem unsere „Produktionen . . . ebensoviele Spiegel [wären], woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete" 164 *. Schönheit und Utopie gehen in diesem Gedankengang Hand in Hand. In der schönen Welt, in der „der wirkliche individuelle Mensch . . . in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, G a t t u n g s w e s e n geworden ist", er „seine ,forces propres' als g e s e l l s c h a f t l i c h e Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der p o l i t i s c h e n Kraft von sich trennt", in der über die politischen Emanzipationen hinaus die „menschliche Emanzipation" vollbracht ist165, mag die Notwendigkeit einer politischen Organisation der von einzelnen auf viele ausgehenden Impulse nicht mehr bestehen. Man kann annehmen, daß auf so anderem Boden ganz andere Regulatoren wirken könnten. Aber solche Bedingungen gelten nicht für den Sozialismus als eine Klassengesellschaft; keineswegs gilt in ihr, daß die individuelle Lebensäußerung eines jeden unmittelbar produktiv zur Lebensäußerung aller wird. é*
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Nicht allein, daß die sozialistischen Gesellschaften in scharfen ökonomischen und ideologischen Kämpfen gegen eine kapitalistische Welt sich zu behaupten haben, auch ihre eigenen Widersprüche verlangen nach einer die Kräfte und Anstrengungen zusammenfassenden, im Interesse der Erhaltung des Sozialismus und der Freisetzung seiner kommunistischen Möglichkeiten wirkenden politischen ideologischen Organisation des Verhaltens und der Einstellungen, die in das Verhalten eingehen. In diesem von der Partei der Arbeiterklasse geführten Prozeß - der nicht nur das für die Ökonomie der Gesellschaft oder ihre politischen Verhältnisse wichtige, sondern a l l e s Verhalten umgreift, das für die gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidend wird - steht auch die Literatur. Und zwar als aktives und als passives Moment: Sie ist selbst Teil der Organisation des Verhaltens, als Teil aber ist sie vom Ganzen abhängig. Konkreter: Im Sozialismus greift die öffentliche Gewalt als politische in sie ein und organisiert über ihre Kultur- und Bildungspolitik und deren Institutionen (Verlage, Buchhandel, Bibliotheken, Schulen, Literaturkritik) das Literaturensemble, das in der Gesellschaft wirksam gemacht wird. D i e Regulationen des Ganzen vollziehen sich auf diesem Gesellschaftsgebiet wesentlich in der Sphäre der Distribution; über sie wird praktisch auf die Produktion und Rezeption von Literatur Einfluß genommen. Dies m u ß geschehen, weil Produktion und Rezeption unter heutigen Gesellschaftsund Kunstbedingungen bei Strafe einer wirkungslosen Literatur von der individuellen Spontaneität nicht befreit werden können; und dies k a n n geschehen, weil es im allgemeinen nicht unmittelbar der Autor ist, aus dessen Hand der Leser die Werke empfängt, und im allgemeinen nicht unmittelbar der Leser, der dem Autor die Resultate des gesellschaftlichen Wertbildungsprozesses nahebringt. Literaturaneignung heißt daher auch Aneignung dieses Bereichs. Solange in der literarischen Reflexion dieser Zusammenhang und seine ideologische Funktion - aus welchen Gründen auch immer - nicht mitbedacht wird, werden sich die Autoren den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß sie das notwendige Moment von Spontaneität im Gesamtprozeß verabsolutieren. Im J a oder Nein zur politischen Vermittlung des Vergesellschaftungsprozesses von Literatur entscheidet sich auch heute der spezifisch sozialistische Charakter einer schriftstellerischen Position. D i e Art, wie Brecht sich in früherer Zeit dieser Frage stellte, liefert ein bis heute gültiges methodisches Modell zur sozialistischen Lö-
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sung des komplizierten Problems. E r wandte sich entschieden gegen die „unmusischen administrativen Maßnahmen" in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, gegen die „unglückliche Praxis der Kommissionen, ihre Diktate, arm an Argumenten", gegen die Zumutungen und Gefahren, die ein „oberflächlicher Optimismus" mit sich brachte. Und zugleich forderte er eine Vorgehensweise, in welcher über den gesellschaftlichen Wert vielleicht „leichtsinniger oder törichter Meisterschaft", des Ausdrucks vielleicht „ausweglose [r] Verzweiflung" oder „sogar asoziale [r] Kunstwerke" mit strengem Bezug auf den Stand der Gesellschaftsentwicklung, ihre Produktionsart und den Stand des politischen Bewußtseins, der Kunstkennerschaft entschieden wird. Dafür wurden zwei offene Regeln formuliert: „Jede Epoche muß wenigstens soviel historischen Sinn aufbringen, daß sie auf weitere Entwicklung gefaßt ist und Werke, die rein technische Merkmale der Kunstfertigkeit aufweisen, aufhebt." (Es ist der Zusammenhang der Formalismus-Diskussion, der letztere Wendung hervorbringt; die Forderung Brechts, daß unser „sozialistischer Realismus . . . zugleich ein kritischer Realismus sein" muß, zeigt, daß der historische Sinn mehr einzubeziehen hat als Neuerungen der Kunstfertigkeit.) Und: „Keine Regierung darf sich durch den Kunstwert eines Werkes einschüchtern lassen, sein Gift freizusetzen. Wehe ihr allerdings, wenn sie Medizin für Gift hält!" 1 6 6 Ebenso entschieden, wie auf der Notwendigkeit einer ideologischen Organisation der Wirkungen von Literatur im Sozialismus bestanden werden muß, muß deshalb auf dem historischen Sinn bestanden werden, der ihr zugrunde zu liegen hat. D i e Kriterien solcher Organisation - Stärkung des Sozialismus und Sicherung seiner Entwicklung zum Kommunismus - sind in ihren spezielleren Inhalten historisch veränderlich. Dies gilt auch für die Art der Organisation - wie sie sich etwa aus der Größe des über Literaturpolitik entscheidenden Personenkreises ergibt oder aus dessen mehr oder weniger öffentlicher und diskussionsbereiter Arbeitsweise. D a die Interpretation der jeweiligen notwendigen Inhalte der Organisation und der Art ihrer notwendigen Gestaltung in der Hand von Menschen liegt, die stets so weit gehen, wie Einsicht und Zielstellung es gestatten, ist sie der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, der K r i tik und dem Streit zugänglich. In diesem historischen Verlauf haben auch die verschiedenen Vorstellungen von einer wohlorganisierten Literatur einerseits, von dem Kontakt zwischen Autor und Leser oder vom verantwortlichen Autor andererseits ihren Platz. Ihr ge-
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meinsamer Bezugspunkt ist die Frage nach der Art der sozialistischen Demokratie im Kunstprozeß. In den skizzierten jüngeren Überlegungen zeichnet sich die Idee eines neuen gesellschaftlichen Mechanismus der ideologischen Organisation sozialistischer Literatur ab: Es ist der Mechanismus einer öffentlichen, streitbaren, parteilichen Auseinandersetzung über einzelne Werke und literarische Tendenzen, einer Auseinandersetzung, in der wir im Austausch unsere Werte klären, die als Diskussion zwischen Autoren, Repräsentanten der Distributionsinstitutionen und Lesern den gesellschaftlichen Wertbildungsprozeß vor vielen Augen bewußt macht, durch die entscheidender Einfluß auf die Gestalt des wirksamen L i t e r a t u r e n s e m b l e s genommen wird, das die dauerhafteren und breiteren Wirkungen der Literatur übermittelt. Die öffentliche Literaturdiskussion, die auch die Art zu betreffen hat, in der wir unsere Werte, ein wirkendes Literaturensemble bilden, das streitbare, parteiliche Durcharbeiten des im Wertbildungsprozeß immer neu sich herstellenden Verhältnisses von Spontaneität und Bewußtheit - das ist der, freilich oft ungenannte, Schlüssel zum Verständnis des vorgetragenen Gedankenansatzes. Es geht hier um einen Beitrag zur sozialistischen Demokratisierung von Distribution und Austausch und der mit ihnen verbundenen Wertbildungen. Die Ansicht von der notwendigen Mitwirkung der Leser im Literaturprozeß hat hier ihren ersten Ausgangspunkt. Was Lenin als Aufgabe einer freien, offen mit dem Proletariat verbundenen Literatur ansah 167 das Herbeiführen einer ständigen Wechselwirkung zwischen der Erfahrung der Vergangenheit und der Erfahrung der Gegenwart, zwischen dem letzten Wort des revolutionären Denkens der Menschheit und der lebendigen Arbeit des sozialistischen Proletariats ist nicht allein eine Forderung an ihre Inhalte, es stellt heute neue Forderungen auch an ihre Organisationsform.
Exkurs: Realer und idealisierter Leser Beinahe einmütig sprechen die Autoren von ihren Lesern jetzt mit großer Hochachtung. Erwin Strittmatters Urteil ist eines unter vielen: „Wir haben, neben den Lesern in der Sowjetunion, den besten Leser der Welt . . . Ich muß unsere Leser loben, und ich sehe in diesem Lesedrang und in dieser Leselust einen geistigen Erfolg, der nicht zuletzt unserer Kulturpolitik zuzuschreiben ist, ein Erfolg, auf
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meinsamer Bezugspunkt ist die Frage nach der Art der sozialistischen Demokratie im Kunstprozeß. In den skizzierten jüngeren Überlegungen zeichnet sich die Idee eines neuen gesellschaftlichen Mechanismus der ideologischen Organisation sozialistischer Literatur ab: Es ist der Mechanismus einer öffentlichen, streitbaren, parteilichen Auseinandersetzung über einzelne Werke und literarische Tendenzen, einer Auseinandersetzung, in der wir im Austausch unsere Werte klären, die als Diskussion zwischen Autoren, Repräsentanten der Distributionsinstitutionen und Lesern den gesellschaftlichen Wertbildungsprozeß vor vielen Augen bewußt macht, durch die entscheidender Einfluß auf die Gestalt des wirksamen L i t e r a t u r e n s e m b l e s genommen wird, das die dauerhafteren und breiteren Wirkungen der Literatur übermittelt. Die öffentliche Literaturdiskussion, die auch die Art zu betreffen hat, in der wir unsere Werte, ein wirkendes Literaturensemble bilden, das streitbare, parteiliche Durcharbeiten des im Wertbildungsprozeß immer neu sich herstellenden Verhältnisses von Spontaneität und Bewußtheit - das ist der, freilich oft ungenannte, Schlüssel zum Verständnis des vorgetragenen Gedankenansatzes. Es geht hier um einen Beitrag zur sozialistischen Demokratisierung von Distribution und Austausch und der mit ihnen verbundenen Wertbildungen. Die Ansicht von der notwendigen Mitwirkung der Leser im Literaturprozeß hat hier ihren ersten Ausgangspunkt. Was Lenin als Aufgabe einer freien, offen mit dem Proletariat verbundenen Literatur ansah 167 das Herbeiführen einer ständigen Wechselwirkung zwischen der Erfahrung der Vergangenheit und der Erfahrung der Gegenwart, zwischen dem letzten Wort des revolutionären Denkens der Menschheit und der lebendigen Arbeit des sozialistischen Proletariats ist nicht allein eine Forderung an ihre Inhalte, es stellt heute neue Forderungen auch an ihre Organisationsform.
Exkurs: Realer und idealisierter Leser Beinahe einmütig sprechen die Autoren von ihren Lesern jetzt mit großer Hochachtung. Erwin Strittmatters Urteil ist eines unter vielen: „Wir haben, neben den Lesern in der Sowjetunion, den besten Leser der Welt . . . Ich muß unsere Leser loben, und ich sehe in diesem Lesedrang und in dieser Leselust einen geistigen Erfolg, der nicht zuletzt unserer Kulturpolitik zuzuschreiben ist, ein Erfolg, auf
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den wir nicht genug stolz sein können." 168 Und mehr als „Lesedrang" und „Leselust": auch eine gewachsene Lesefähigkeit wird immer wieder konstatiert. Unsere Literatur, so etwa wird gesagt, hat es mit gescheiter gewordenen 169 , mit denkenden 170 , mit anspruchsvollen Leuten zu tun. Das Bild eines kritischen sozialistischen Publikums prägt sich in diesen Überlegungen aus und zugleich das eines zuständigen Lesers als bestimmenden Typs dieses Publikums. 171 Freilich begegnen wir mitunter auch dunkleren Bildern vom Publikum und vom bestimmenden Typ des Lesers. Die Gegenwart kann als Zeit erscheinen, „die dem Massenkonsum von Kunst förderlich ist und die daher Kunst fördert, die leicht konsumiert werden kann." 172 Die Medienkünste haben danach mit ihrer bis dato unbekannten Suggestionskraft die passive Rezeption im Publikum gesteigert, eine bisher nicht vorhandene Suggestibilität des Publikums hervorgerufen, in dem nur noch kleine, soziologisch nicht mehr zu definierende Gruppen die Empfänglichkeit für Kunst größerer Beanspruchung, das Verlangen nach geistiger und emotionaler Aktivität produzieren können, in dem der Typ des „Konsumenten" wenn nicht bestimmend ist, so doch als akute Gefahr erscheint - der Typ eines Rezipienten, der „unter Ausschaltung jeder Reflexion", „zu Passivität verpflichtet", das Dargebotene konsumiert. 173 Wir haben ein Feld widersprüchlicher Erscheinungen und Entwicklungen anzunehmen, aus dem diese Urteile gewonnen wurden. Auch diese Widersprüchlichkeit wird in Überlegungen von Schrifstellern mitbedacht. So heißt es etwa: „Es ist unverkennbar, daß sich der Leser entwickelt, aber es ist nicht nur einer, es sind eine ganze Menge. Das heißt, wir haben einerseits Menschen, die anspruchsvoller geworden sind, die mitgegangen sind, die lesen gelernt haben, und wir haben auf der anderen Seite Leute, die immer noch nicht lesen, die bisher, und das sind nicht wenige, keinen Zugang zum Buch gefunden haben."17,4 Oder es wird - wieder mit deutlich kritischem Hinweis auf die Unzulässigkeit der Bildung eines einzigen Lesertyps gesagt: „Denn bekannt dürfte sein, daß es d e n Leser nicht gibt. Immer werden - zum Glück für uns Schriftsteller! - die unterschiedlichen Leser unterschiedliche Leseerwartungen haben." 175 Freilich wird dies keineswegs immer als Glück erfahren: Die Hoffnung auf den zuständigen Leser bleibt auch dort als Entwurf erhalten, wo stärker differenziert wird - in den Warnbildern von einem passiven Publikum. Angesichts der Idealisierungen, die bereits angemerkt wurden und die auch in noch zu charakterisierenden Überlegungen von Schrift87
stellern eine Rolle spielen, ist genauer nach der Realität des gedachten bestimmenden Lesertyps im sozialistischen Publikum zu fragen. Dies um so mehr, als dieser Typ - von der Leserseite her - für die Literatur kollektiver Selbstverständigung unabdingbare Voraussetzung ist. Soziologische Studien, die in unserem Zeitraum angestellt wurden, geben Aufschluß über die tatsächlichen Widersprüche im Publikum. Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen 176 seien deshalb hier - unter der gewählten Fragestellung zusammengefaßt und vereinfacht referiert und kommentiert. Zunächst erfahren wir von einer tatsächlichen Zunahme von „Leselust" und „Lesedrang" - jedoch innerhalb einer Vielfalt insgesamt wachsender Bedürfnisse, die durch ästhetische Weisen der Weltaneignung befriedigt werden: Gegenüber solcher Differenzierung der ästhetischen Bedürfnisse ist zu betonen, daß der Umgang mit Literatur keineswegs als absoluter Ausweis der Fähigkeit zu ästhetischem Denken und noch weniger als absoluter Kulturausweis zu betrachten ist. l 7 i * Die Recherchen hinsichtlich der subjektiven Einstellung zum Lesen ebenso wie die Erkundung des Lesequantums, des Buchbesitzes, des Bibliotheksbesuchs usw. belegen aber die große Rolle, die Literatur im Leben vieler Menschen hat. Allerdings zeugen sie zugleich davon, daß man in bezug auf unsere Bevölkerung nicht etwa von einem „Volk von Lesern" sprechen kann - wenn man unter „Leser" nicht den Lesefähigen überhaupt, sondern den „zuständigen Leser" versteht. Darunter läßt sich ein Typ des Verhaltens verstehen, in dem dem Lesen ein hoher Wert beigemessen, in dem regelmäßig ein größerer Teil der Freizeit dem Lesen gewidmet wird, in dem differenzierende Lesebedürfnisse und Literaturinteressen, so auch Urteilsfähigkeiten ausgebildet werden, zu dem die mindestens passive, vielleicht aber auch aktive Teilnahme am öffentlichen Literaturgespräch gehört. Die erhobenen Daten weisen darauf hin, daß der Kreis solcher Leser, den man „Kern der Leserschaft" nennen könnte, höchstens 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Der Erfolg sozialistischer Kulturpolitik, von dem bei Erwin Strittmatter im Zusammenhang mit dem „besten Leser der Welt" die Rede ist, bezieht sich mithin erstens auf das allgemeine Wachsen literarisch-ästhetischer Bedürfnisse im größeren Publikum, in dem der Typ des Wenig-Lesers einen sich verringernden Stellenwert hat. (Immerhin gaben 30 Prozent der in der repräsentativen Erhebung von 1970 Befragten an, daß sie dem Lesen von Literatur eine unterdurchschnittliche bis
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keine Bedeutung zumessen; 37 Prozent der Befragten bekannten, zwei bis keine Bücher im Jahr zu lesen, und 47 Prozent, die öffentliche Diskussion über Literatur nicht zu verfolgen.) Dieser Erfolg bezieht sich zweitens aber auch auf die Größe und die soziale Zusammensetzung der Gruppe, die wir „Kern der Leserschaft" nannten. Sie - und das ist für die Struktur des Publikums im ganzen entscheidend - unterscheidet sich in beiden Hinsichten deutlich von vergleichbaren Gruppen in nichtsozialistischen Gesellschaften (auch dann, wenn die angeführte Schätzung sich als allzu optimistisch erweisen sollte). Sodann vermitteln die soziologischen Studien einen Einblick in die Entwicklung des Publikums, wie sie sich allgemein im Zusammenhang mit der sozialistischen Kulturrevolution vollzieht. Die Recherchen offenbaren, daß die Entfaltung der literarisch-ästhetischen Bedürfnisse und die Differenzierung der literarischen Interessen u. a. (nur einige Faktoren seien herausgegriffen) von der allgemeinen Bildung und Qualifikation abhängig sind, daß sie im Zusammenhang stehen mit der Art der Aktivität im Arbeitsprozeß und mit speziellen Aspekten der Bewegung der Kollektive sozialistischer Arbeit, der gesellschaftlichen Tätigkeit der Individuen. Das in den gesamten Komplex der Lebens- und Arbeitsweise eingebundene Verhalten Kunst und Literatur gegenüber verändert sich nicht schnell. Doch ist eine sichere Veränderungstendenz auszumachen: Angesichts der Zunahme von Bildung und Qualifikation im Bevölkerungsdurchschnitt, der Veränderung im Charakter der Arbeit, der Entwicklung sozialistischer Beziehungen im gesellschaftlichen Leben bestehen Möglichkeiten, den Umgang mit Kunst und Literatur quantitativ und qualitativ zu fördern. Die Zuversicht, mit der in den zitierten Schriftstellerüberlegungen vom zuständigen Leser gesprochen wird, kann auch in dieser Veränderungstendenz ihren realen Grund finden. Weiter machen die Studien klar, und sie bestätigen dabei die in der Schriftstellerreflexion hörbar werdenden Warnungen vor voreiliger Vereinheitlichung, daß die auf Literatur bezogenen Bedürfnisse, Erwartungen und Motivationen sowie die ihnen zugrunde liegenden Einstellungen in unserer Gesellschaft stark differenziert sind entsprechend dem Umstand, daß diese Gesellschaft überhaupt, trotz der Annäherung der Klassen und Schichten, keine homogene Einheit bildet. Die Frage, was die Leser von der Literatur erwarten, welche Motive sie zum Lesen führen, ergab deshalb verschiedene Arten unterschiedlicher Bedürfnisstrukturen (die für die Indivi89
duen jedoch jeweils nur als eine Art Grundmuster gelten können, von dem erhebliche Abweichungen möglich sind). „Beruhigung und Entspannung", „Spannung und Aufregung", mit einigem Abstand „geistige Auseinandersetzung" dominieren im Feld der Erwartungen innerhalb der Gesamtbevölkerung; unter den Motiven dominieren der Wunsch nach Erkenntnissen, nach einem das eigene Dasein überschreitenden Erleben und - mit Abstand - die Vorstellung, daß Literatur beim Studium, bei der Arbeit, bei der Weiterbildung dienlich sein kann. Sichtbar wird ein Spektrum von allgemeinen Bedürfnissen, in dem vornehmlich physische und psychische Regenerationsbedürfnisse zugleich mit dem Streben nach Erkenntnisgewinn, transzendierendem Erleben und geistiger Auseinandersetzung auftreten. In seinen sozialen oder soziodemograpischen Spezifizierungen ist dieses Spektrum weniger durch das Vorhandensein bzw. Fehlen bestimmter Bedürfnisse, als vielmehr durch die Stärke ihrer Ausprägung und durch das damit sich einstellende Verhältnis zwischen ihnen gekennzeichnet. Das Verlangen nach geistiger Auseinandersetzung - von 17 Prozent der Gesamtbevölkerung im Rang der Erwartungen als erstes genannt - erwies sich in dieser Spezifizierung als wesentliches Unterscheidungsmerkmal. Festgestellt wurde nämlich, daß das sich so äußernde Bedürfnis bei Lesern mit höherer Bildung (Abitur, Fach- und Hochschule) überdurchschnittlich dominiert, aber gerade bei statistischen Gruppen mit diffuser Bedürfnisstruktur gering ausgebildet ist - ein aufschlußreiches Phänomen, wenn man bedenkt, daß gerade die Gruppen, die überhaupt ausgeprägte literarisch-ästhetische Bedürfnisse zeigen, auch über eine konturierte Bedürfnisstruktur verfügen. Schließlich vermitteln die soziologischen Studien ein differenziertes - die verschiedenen Vorurteile korrigierendes - Bild von den literarischen Interessen, wie sie sich in der bevorzugten Hinwendung zu bestimmten Darstellungsarten und -räumen äußern. So ergab sich, daß Arbeiter und Angestellte insgesamt - mit überwiegendem Interesse für Prosaliteratur - Darstellungen bevorzugen 1., die Kenntnisse über das Leben in anderen Ländern vermitteln (Reisebeschreibungen, Lebensschicksale in anderen Ländern); 2., die aktionsbetonte und spannungsreiche Handlungen enthalten (Abenteuer- und Kriminalliteratur) ; 3., mit deutlicherem Abstand, die historische Kenntnisse oder Einblicke in die Geschichte ermöglichen (historische Romane, Biographien, Bilder von Befreiungskämpfen); 4., die im weitesten Sinne gesellschaftliche Probleme zum Inhalt haben (Gesell-
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scbaftsromane, Gegenwartsromane); 5., die Probleme der sozialistischen Gegenwart und der revolutionären Tradition vorstellen (Gegenwartsromane, Darstellungen revolutionärer Arbeiterbewegung). Die Rangfolge der Interessen prägt sich bei den verschiedenen sozialen Gruppen verschieden aus, und dabei zeigt sich, daß - etwa der Rolle entsprechend, die die Erwartung geistiger Auseinandersetzung als wichtiges Unterscheidungskriterium der Bedürfnisstrukturen spielt - das Interesse für Literatur, die im weitesten Sinne gesellschaftliche Probleme oder Probleme der Gegenwart zum Gegenstand macht, ein wesentliches Differenzierungsmerkmal bildet. Es äußert sich dies, um nur einige Ergebnisse der Recherchen hier zu nennen, schon im Vergleich der Acht-Klassen-Absolventen mit den ZehnKlassen-Absolventen. Während die erste Gruppe Gesellschafts- und Gegenwartsromane eher ablehnt, bevorzugt die zweite Gruppe diese Literatur. Dieses Phänomen ist Ausdruck eines entscheidenden Profilwandels im gesellschaftlich-ästhetischen Anspruchsniveau, wofür nicht formal die höheren Bildungsstufen, sondern die revolutionären Veränderungen durch das sozialistische Bildungssystem verantwortlich sind. Es äußert sich dies auch bei der Intelligenz, bei der das Interesse für das Leben in anderen Ländern an erster Stelle steht, an zweiter und dritter das Interesse für Einblicke in die historische Tradition bzw. die Probleme der sozialiftischen Gegenwart, während das Interesse für Abenteuer- und Kriminalliteratur an die letzte Stelle rückt. Vor allem jedoch zeigt sich - unter anderem Aspekt, der wieder auf den Kern der Leserschaft verweist - ein deutliches Korrelationsverhältnis zwischen der Art der Bedürfnisstruktur und der Interessendominanz: Ist die Bedürfnisstruktur wenig konturiert, ist das Interesse für eine Literatur stark, die - charakterisiert durch solche vagen Stichworte wie „Liebes- und Eheroman", „Heimat- und Bauernroman", „Berg- und Dorfgeschichte", „Tier- und Jagdgeschichte", „Abenteuer-, Kriminal-, Spionage- und utopischer Roman" tendenziell in den Bereich einer Literatur der einfachen Unterhaltung178 gehört; umgekehrt gilt, daß fast ausschließlich von Lesern mit einer klaren konturierten Bedürfnisstruktur (die im übrigen ein weitgespanntes Interessenspektrum zeigen) Darstellungen zur sozialistischen Gesellschafts- und Persönlichkeitsentwicklung in der Gegenwart, zur revolutionären Arbeiterbewegung, zum antifaschistischen Widerstand, zu den Befreiungsbewegungen bevorzugt werden. Es ergibt sich: Die soziologischen Studien lassen einige der tatsächlichen Differenzierungen im literarischen Leben sichtbar wer91
den. Sie verdeutlichen damit auch die Relativität jener Urteile von Schriftstellern, die sich jeweils nur auf e i n e Seite der wirklichen Widersprüche stützen. Gekennzeichnet wird zugleich ein Prozeß, in dem sich - abhängig von der sozialistischen Kulturrevolution und der Veränderung der Lebens- und Arbeitsweise im Sozialismus - die literarisch-ästhetischen Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten genau in die Richtung entwickeln, die durch den Typ vom zuständigen Leser angegeben wird. Man kann sagen, daß in diesem Typ beobachtbare Bewegungstendenzen, Entwicklungsmöglichkeiten des Publikums zusammengefaßt werden - insofern sie dem sozialistischen Menschen- und Gesellschaftsbild, insofern sie sozialistischen Wertvorstellungen entsprechen. E r beruht also auch auf angenommenen Notwendigkeiten künftiger Entwicklung aller, auf Zielvorstellungen, und ist in dieser Hinsicht ein Ideal. 179 * Es ergibt sich weiter: In unserer Gesellschaft bewirken die sozialen Unterschiede Verschiedenheiten der literarischen Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten der Leser. Dies schließt die Möglichkeit besonderer Zuordnungen zwischen einer - ästhetisch - bestimmten Literaturart, deren Produzenten und einem bestimmten Publikum nicht aus (z. B. einen besonderen Kommunikationskreis der Unterhaltungsliteratur). Doch läßt sich mit Sicherheit vom Entstehen eines neuen Typs von Literatur sprechen. Es ist eine Literatur, die - zumindest mit einigen ihrer herausragenden Arbeiten - ein aus der gesamten Gesellschaft stammendes Publikum mit der anspruchsvollen, in der gesellschaftlichen Selbstverständigung wirkenden Literatur verbindet. Das so oder so in der Schriftstellerreflexion entworfene Bild vom zuständigen Leser erweist sich in diesem Zusammenhang als ein Konstruktionselement im Aufbau eines Modells von der Literatur, das diesen Prozeß befördern will: Es zielt darauf, eine produktive gesamtgesellschaftliche Literaturfunktion heute weiter durchzusetzen.
hektüre als eine Produktion Schöpferische Aktivität der Leser - diese Beziehung wird im neueren essayistischen Nachdenken unserer Schriftsteller immer stärker auch in dem speziellen Verhältnis beobachtet, welches sich bei der Aufnahme literarischer Werke einstellt. D a ß es sich hierbei um eine Verallgemeinerung handelt, die vom Typ des zuständigen Lesers aus-
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den. Sie verdeutlichen damit auch die Relativität jener Urteile von Schriftstellern, die sich jeweils nur auf e i n e Seite der wirklichen Widersprüche stützen. Gekennzeichnet wird zugleich ein Prozeß, in dem sich - abhängig von der sozialistischen Kulturrevolution und der Veränderung der Lebens- und Arbeitsweise im Sozialismus - die literarisch-ästhetischen Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten genau in die Richtung entwickeln, die durch den Typ vom zuständigen Leser angegeben wird. Man kann sagen, daß in diesem Typ beobachtbare Bewegungstendenzen, Entwicklungsmöglichkeiten des Publikums zusammengefaßt werden - insofern sie dem sozialistischen Menschen- und Gesellschaftsbild, insofern sie sozialistischen Wertvorstellungen entsprechen. E r beruht also auch auf angenommenen Notwendigkeiten künftiger Entwicklung aller, auf Zielvorstellungen, und ist in dieser Hinsicht ein Ideal. 179 * Es ergibt sich weiter: In unserer Gesellschaft bewirken die sozialen Unterschiede Verschiedenheiten der literarischen Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten der Leser. Dies schließt die Möglichkeit besonderer Zuordnungen zwischen einer - ästhetisch - bestimmten Literaturart, deren Produzenten und einem bestimmten Publikum nicht aus (z. B. einen besonderen Kommunikationskreis der Unterhaltungsliteratur). Doch läßt sich mit Sicherheit vom Entstehen eines neuen Typs von Literatur sprechen. Es ist eine Literatur, die - zumindest mit einigen ihrer herausragenden Arbeiten - ein aus der gesamten Gesellschaft stammendes Publikum mit der anspruchsvollen, in der gesellschaftlichen Selbstverständigung wirkenden Literatur verbindet. Das so oder so in der Schriftstellerreflexion entworfene Bild vom zuständigen Leser erweist sich in diesem Zusammenhang als ein Konstruktionselement im Aufbau eines Modells von der Literatur, das diesen Prozeß befördern will: Es zielt darauf, eine produktive gesamtgesellschaftliche Literaturfunktion heute weiter durchzusetzen.
hektüre als eine Produktion Schöpferische Aktivität der Leser - diese Beziehung wird im neueren essayistischen Nachdenken unserer Schriftsteller immer stärker auch in dem speziellen Verhältnis beobachtet, welches sich bei der Aufnahme literarischer Werke einstellt. D a ß es sich hierbei um eine Verallgemeinerung handelt, die vom Typ des zuständigen Lesers aus-
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geht, bedarf nach dem Gesagten keiner Erörterung. Jedoch werden hier auch generelle Verhältnisse der Rezeption erfaßt. Nicht allein das Werk - so wäre in einer ersten Annäherung an solche Überlegungen zu sagen - bestimmt die Begegnung mit seinen Lesern; diese haben die Möglichkeit eines Zugriffs, der von ihren eigenen Interessen, Einstellungen, Fähigkeiten her formiert ist, und sie sind zu dieser Aktivität gezwungen, wenn sie die produktiven Potenzen von Literatur freisetzen wollen: Die Werke sind offen für „Interpretation" 180 , sind „deutungsfähig"181. Diese Vorstellung verbindet sich folgerichtig mit der Anerkennung einer möglichen Differenziertheit der Rezeptionsergebnisse. Nicht jedes Buch, darauf hat Anna Seghers hingewiesen, kann für alle gleich wichtig sein. Aber mehr: Anna Seghers machte ebenso deutlich auf den Bedeutungsspielraum reicher literarischer Produktionen aufmerksam, der sich in der verschiedenartigen Aktivität der Leser enthüllt: „Es ist auch möglich, daß verschiedene Leser aus einem Buch etwas Besonderes herauslesen, jeder etwas anderes." 182 Heute wird öfter auf „Eigentümlichkeiten von Literaturwirkung" hingewiesen, „die sich so gut wie jeder Berechnung entziehen". Gemeint sind jene merkwürdigen Offenbarungen, die ein Buch gibt, wenn es wie für den gerade Lesenden geschrieben scheint, die Geheimnisse, die ein Leser mit einem Buch haben kann, über die er nicht spricht, weil er sie nicht aussprechen kann oder mag, die Entdeckungen, die ein Leser an einem Werk auch über das vom Autor hinaus Gemeinte machen kann - Dimensionen, die zu beachten auch von der literarischen Arbeit gefordert wird. 183 Weniger die statistisch erfaßbaren Größen, die auf die Wirksamkeit literarischer Arbeiten verweisen, sind für diesen Bezug wichtig, sondern gerade die kleinen Wirkungen, die „tausendmal einen Leser" angehen, die seine „Betroffenheit im vollständigen Sinne des Wortes ausgelöst" haben, „schöne Aufregung". 184 Freilich sind in den Schriftstellerüberlegungen die Zeugnisse dafür, daß die hier umschriebenen Verhältnisse konkret eingerechnet werden, nicht sehr zahlreich. Doch haben wir wieder eine für die neuere Literatur charakteristische Tendenz im poetologischen Denken vor uns. Sie fordert unsere Aufmerksamkeit: Hier bildet sich nämlich ein Begriff des literarischen Werkes und der Beziehungen zu ihm, der von einer verdeutlichten Einsicht in das Funktionieren von Literatur spricht. Dabei haben Erkenntnisse von Kommunikationstheorie, Semiotik, Linguistik sicher anregend mitgewirkt. Un-
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schärfen im Begriffsgebrauch und der Interpretation der Beziehungen weisen aber darauf hin, daß dabei doch wohl mehr eine Art Hörensagen im Spiele war. Entscheidender als die spezifisch theoretische Erörterung ist immer die praktische Erfahrung mit Lesern, mit dem eigenen Literaturumgang und das vorausgesetzte Menschenund Gesellschaftsbild. Man kann sagen, daß dem Akzent, der auf die zuständige Aktivität der Leser im Literaturprozeß, auf ihre Gleichberechtigung mit den Autoren, ihren Einfluß auf die literarische Produktion fällt, im anderen Kontext der Akzent entspricht, der auf die kritischen Fähigkeiten der Leser in ihren Lektüren gesetzt wird. Beides hat mit grundsätzlichen Auffassungen von einem dialektischen Verhältnis zwischen den Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Subjektivität und Vergegenständlichung, individuellem, kollektivem Tun und gesellschaftlichem Verhältnis zu tun. Ideen vom offenen Werk Wählen wir zunächst ein Beispiel zum Verdeutlichen. Karl-Heinz Jakobs geht von der Erkenntnis eines Widerspruchs aus. Schriftstellerische Arbeit entspringt für ihn aus einer ursprünglichen Lust abzubilden, spezifischer noch aus dem Drang, anderen etwas mitzuteilen. Das Kommunizieren ist diesem Autor auch als Intention wichtig, er will Wirkungen auslösen. E r sieht aber, daß das, was er wirklich vermittelt, nicht allein von ihm bestimmt ist: „Jeder Mensch hat andere Erfahrungen und Empfindungen. Ich kann nicht mehr kontrollieren, ob meine Mitteilung ihre Aussage behält. Meine Mitteilung verliert den Sinn, den ich ihr gegeben habe, weil ich es mit denkenden Menschen zu tun habe . . . Der Schriftsteller will Wirkungen auslösen, aber was er auslöst, das kann er nicht mehr überschauen."185 Zwar gibt es einen technisch zu behandelnden Bereich, Stellen eines Romans z. B., die auf Weinen oder Lachen „berechnet" sind und durch die ein erfahrener Autor die zum Weiterlesen nötige Rührung oder Heiterkeit tatsächlich erzeugt - unberechenbar aber bleibt der Leser doch bei den wesentlicheren Stellen, etwa dort, „wo der Autor aus Verzweiflung sich selbst in die Handlung hineinwirft" 186 . Die Kommunikation wird so zur Auseinandersetzung. Zwischen dem Schriftsteller, heißt es, der ein elementares Bedürfnis hat, seine „Erlebniswelt anderen aufzuzwingen"187, und Lesern, die sich „nicht mehr manipulieren lassen wollen" 188 , findet ein Duell statt. Dessen Ausgang ist ungewiß. Der Leser zudem vermag möglicher-
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weise das Werk „besser und tiefer zu begreifen als der Verfasser selbst". Karl-Heinz Jakobs meint, der Leser wolle nicht Meinungen erklärt, er wolle überhaupt „nichts erklärt, sondern etwas vorgeführt bekommen"189. Nicht der Autor, der das Vorführen zu leisten hat, sondern die Leser entscheiden, ob und wie auf Grund der am Werk gewonnenen Einsichten gehandelt werden muß - so der Gedankengang. Halten wir fest: In dieser Vorstellung verleihen die Leser den Werken nicht nur allgemein gesellschaftlichen Wert, sie vollenden vielmehr die Werke. Sie sind es, die „Mitteilungen" einen „Sinn" geben, an „Mitteilungen" „Aussagen" erfassen, die sich „Vorgeführtes" „erklären". Umgang mit den Werken heißt hier, in einen Vorgang einzutreten, der vom Autor niemals völlig bestimmt sein kann und soll, der die eigenen Erfahrungen der Leser braucht, ihre Vorstellungskraft, ihre bedeutungssuchende Tätigkeit und, aus ihrer eigenen Entscheidung, ihre praktische Tat. Denn es „erhalten" die Leser auch nicht einen vom Autor ein für allemal bestimmten Handlungsimpuls, sondern sie gewinnen ihn, indem sie ihre eigenen Interessen mitsprechen lassen, sich mit allgemeinen Interessen auseinandersetzen. Und diese Tätigkeit der Leser ist nicht nur formell gedacht, so, als ob sie nur eine von ihnen zwar zu leistende, doch durch Normenzusammenhänge des Werkes im literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizont gänzlich vorgeschriebene Subjektivität einzubringen hätten, um den poetischen Vorgang aus dem Werkzustand, aus der Ruhe zu erwecken. Bei der aufmerksamen Beobachtung des Verhältnisses von Werk und Leser wird die Möglichkeit eines schöpferischen Charakters der Aktivität der Leser eingerechnet. Solche Überlegungen differenzieren nicht nur das Konzept von der Wirkung der Literatur, zeigen deren Abhängigkeit vom Denken und Tun der Leser, sondern auch die Vorstellung von dem, was das literarische Werk selbst ist: Sie erlösen es aus der Dinghaftigkeit, in welcher es sich scheinbar anbietet. Und charakteristischerweise setzt diese Überzeugung sofort das Kategoriensystem der Literaturtheorie in Bewegung. Zwei weitere Stimmen seien angeführt, die gerade auf diesen Aspekt hinweisen. Günter Kunert z. B. schreibt: „Wir wissen - und dies ist eine Binsenwahrheit daß der Leser (eine hypothetische Figur) das Gedicht beim Lesen neu schafft oder nachschafft. Er füllt es aus mit seinem Eigenbesitz an Erfahrung, Gefühl, Haltung. Voraussetzung für das Gelingen solcher Identität ist eine gewisse Sen95
sibilität des Lesers und eine gewisse Uneindeutigkeit des Gedichts, was aber nicht heißt, es müsse ,2eitlos' oder verschwommen sein, bloß scheint mir, daß selbst ein Gedicht, welches gegenständliche Realität ausspricht, mehr als das zu tun hat. Es muß die verbal evozierte Wirklichkeit überschreiten, um seine Funktion . . . zu erfüllen." 190 - „Das Gedicht", heißt es bei Volker Braun, „ist eine Notierung." Solche Notierungen aber - bei Braun erscheinen in diesem Zusammenhang der Text und das eine scheinbare Wirklichkeit entwerfende Bild - sind für ihn noch nicht Poesie. Poesie sieht er erst im Raum einer Aktion, in der die Subjekte mittels des Textes Bedeutungen produzieren, in der sie das Bild als Zeichen nehmen, sich zum Wirklichen zu verhalten - und so in einen „poetischen Vorgang" eintreten. 191 Im Werk - so ließen sich diese Beobachtungen verallgemeinern erhalten die Leser mit dem Text, mit der Abbildung bestimmter Wirklichkeit bzw. Gestalt vom Charakter der Wirklichkeit, mit der Darstellung ein Potential, das sie in einem gestaffelten Prozeß zu erarbeiten, zu entziffern und mitzuvollziehen haben, das sie erst durch ihre eigene Tätigkeit zu konstituieren haben. Poesie, so wird hier gesagt, ist kein Ding, es ist eine Tätigkeit; Lektüre ist eine Produktion; die Werke sind offen. In der Erkenntnis der poetischen Aktion wird nun auch die Starre der Vorstellung von den Form-Inhalt-Relationen der Literatur dynamisiert. Auf der Formseite erscheinen bei den bereits genannten Schriftstellern (mit ihren Worten) „Mitteilung" und „Vorgeführtes", „Aussprechen gegenständlicher Realität", „verbal evozierte Wirklichkeit", „Text" und „ B i l d " - also mit verschiedenen Termini verschieden aufgefaßte, doch vergleichbare Kategorien aus dem Bereich sowohl der sprachlichen Gestalten wie der Gestalten der Darstellung. Es handelt sich hier also um „Formen" auf verschiedener Höhe der Hierarchie der Werke (unter denen, wie zu erkennen, selbst wieder Form-Inhalt-Beziehungen bestehen). Auf der Inhaltsseite erscheinen Komplexe wie „Sinn" und „Wirkung", „Überschreiten von Wirklichkeit" und „Funktion", „Bedeutung" und „poetischer Vorgang", d. h. - mit verschiedenen Bezeichnungen und mit verschiedener, doch vergleichbarer Orientierung - Kategorien aus dem Bereich sowohl der durch die Formen vermittelten semantischen Relationen wie der poetischen Operationen. Der interessante Punkt dieser Überlegungen liegt weniger in der Erkenntnis des Doppelcharakters dessen, was man „Form" nennen kann, in der Erkenntnis, 96
daß die sprachlichen Formen als ihre Inhalte gegenständliche Darstellungen, Gestalten subjektiver Verläufe bereithalten, welche zugleich wieder Formen sind von Inhalten, die wiederum durch sie vermittelt werden. Das ist theoretisch längst bekannt. 192 * Aufschlußreich ist vielmehr die Akzentuierung des Doppelcharakters dessen, was man „Inhalt" nennen kann. Es erscheinen hier auf neue Weise zwei Momente: das Moment der semantischen Relationen und das der Tätigkeit dessen, der diese Relationen realisiert, der aber zu mehr als zur einfachen Reproduktion bewegt wird. „Aussage", „Sinn", „Bedeutung" der durch den Text übermittelten literarischen Gestalten werden hier nicht als ein im Werk oder im kollektiven Bewußtsein schwebender Geist gedacht, den es als statische Idealität anzustaunen gilt, sie werden vielmehr als von der Tätigkeit der Subjekte abhängig aufgefaßt, als bewegliche Bezüge von Tätigkeiten, die sich auf die ästhetische Bedeutsamkeit der übermittelten Gestalten richten und über sie auf die objektive und subjektive Wirklichkeit des Lesers. Auf das Verhalten, das diesen Sinn erfassen, ihn zum erlebten Sinn werden läßt, auf den poetischen Vorgang wird immer wieder die Aufmerksamkeit gelenkt. Als allzu einseitig zeigt sich hier zugleich die Vorstellung, es handele sich in der Literaturrezeption um Übernahme fertiger Ideen, die dann nur ins Wissen eingehen. Hervorgehoben wird der in der Rezeption in Gang gesetzte Prozeß ästhetischen Verhaltens, der als Übung solchen Verhaltens, als probender Eintritt in eine bestimmte Verhaltensart, in ihre Blickwinkel, Wertkriterien und vorgeschlagenen Problemlösungen, als Prozeß auch der Selbsterkenntnis auf das allgemeine Verhalten, auf die ihm zugrunde liegenden Einstellungen zu wirken vermag. Und dies in einem dialogischen Vorgang: Die Vorstellung vom „Duell" zwischen Autor und Leser oder von einem dialektischen Verhältnis der Identität und Nichtidentität zwischen Werk (den von ihm vorgeschlagenen Blickwinkeln, Wertkriterien, Perspektiven) und den Lesern (die ihre eigenen Systeme der Sinnerfassung mitbringen) umschreibt eine Wechselwirkung. In ihrer Erkenntnis ist zugleich ohne daß diese Konsequenz in den genannten Überlegungen gezogen wird - ein Vorschlag zur Lösung einer seit dem Beginn des ästhetischen Denkens am Anfang der Klassengesellschaften bekannten Problematik enthalten: ein Impuls zur Überwindung der zweigeteilten ästhetischen Sinnlichkeit im Kunstumgang, des Widerspruchs zwischen den - auch sozial verschieden zugeordneten - Feinheiten der geistigen Schau und den Grobheiten der mimetischen Katharsis. 7
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Wird nämlich in der Rezeption ein dialogisches Verhältnis hergestellt, so kann auf der einen Seite das darin zur Geltung kommende symbolische Denken nicht einfach als eine Kontemplation von in die poetischen Gestalten, Prozeßfiguren eingesenkten Ideen (des Guten, Wahren, Schönen) aufgefaßt, und es kann auf der anderen Seite das in den Rezeptionsakten vor sich gehende Hineinversetzen in das Werk nicht als ein bloß leibhafter Nachvollzug dargestellten Verhaltens interpretiert werden. 193 Der bedeutende Gehalt des in der neuen poetologischen Reflexion entworfenen demokratischen Verhältnisses von Autor und Leser, der angestrebten aktiven Wechselwirkung zwischen offenem Werk und zuständigem Leser tritt an dieser Stelle in Erscheinung. Geöffnet wird der Blick auf eine Kunst, die von den idealistischen Überspanntheiten in der Idee des Ästhetischen ebenso frei ist wie von den sozial-therapeutischen Implikationen kathartischer Identifikationskunst, auf eine Kunst, die als freie Kommunikation von Menschen untereinander auch ein freies ästhetisches Verhältnis herstellt, indem es die Lust des Denkens anregt. Und geöffnet wird der Blick auf eine Theorie, die die Spezifik ästhetischer Aneignungsweise nicht aus einem ahistorischen Wesen, sondern in Verbindung mit ihrer gesellschaftlich-geschichtlich bestimmten Kommunikationsspezifik begreift. An den Überlegungen der exemplarisch herangezogenen Autoren wird der Zusammenhang der beiden Aspekte in der Bestimmung der Funktion von Literatur sehr deutlich. Das von ihnen jeweils eingesetzte ästhetische Verhalten ist von der Auffassung des sozialen Verhältnisses abhängig, dem es funktional zugeordnet wird. Karl-Heinz Jakobs z. B. bindet die Vorstellung vom offenen Werk und von der Aktivität des Lesers in ein forciert antipädagogisches Programm ein. Der Schriftsteller, so heißt es, ist kraft seines öffentlichen Amtes zwar aufgerufen, freimütig seine Meinung zu sagen, doch soll er nicht der „Besserwisser der Nation" 194 sein. Karl-Heinz Jakobs sagt sich: „Ich stelle mich als Verfasser von Büchern nicht über die anderen und erziehe an ihnen herum." 195 In seiner Sicht hat der Autor den denkenden Leser einzurechnen - und die Art seines Partners prägt auch ihn. Er hat in den Zustand der Kommunikation als jemand einzutreten, der selbst auf der Suche ist nach Wegen in weglosen Gebieten. Und er hat dabei - ein „Fachman der Beschreibung" 196 - nicht zu kritisieren, er hat darzustellen, er hat Zustände zu signalisieren. Der glückliche Zustand der Literatur tritt dann ein und dementsprechend proklamiert Karl-Heinz Jakobs ein „System
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von einander ergänzenden und widersprechenden Verstellungen als Romanstruktur" (es ist die seines Buches Die Interviewer) - , wenn Verfasser und Leser einander ebenbürtig dem Werk preisgegeben sind.197 Entscheidend ist hier nicht, daß Literatur immer und überhaupt sich in Kommunikation realisiert und damit vieldeutig ist. Das Besondere dieser Überlegungen - in denen man leicht einen objektivistischen Grundzug erkennen kann - macht, daß Literatur von vornherein eine offene Kommunikation198 sein soll. Entschlossen wird diese Offenheit bejaht, wird der Versuch proklamiert, ihr durch entsprechende Strukturen entgegenzukommen. Der Leser soll angestachelt werden zum Arbeiten am Sinn des Werkes, und ihm soll auch deutlich gemacht werden, daß solche Arbeit zu leisten ist. 199 * Es zeigt sich hier, wie stark eine bestimmte Vorstellung von den Kommunikationsbeziehungen auf die Bildung des gesamten methodischen Konzepts Einfluß gewinnt. Jedes Moment des Zusammenhangs wird bewußt unter das Gesetz der charakterisierten Offenheit gestellt: Deutlich korreliert das Bild, das Karl-Heinz Jakobs vom Autor entwirft (selbst auf der Suche, kein Besserwisser, kein Erziehet, Fachmann der Beschreibung), mit dem Leser, den er voraussetzt (dem Autor ebenbürtig, denkend, kein Objekt der Manipulation, begierig auf Vorgeführtes), und beide stehen in Korrelation mit der angestrebten Art von Werk (keine Erklärung von Meinungen, objektive Darstellung, ironisch mehrdeutige, auf Sinn hin offene Anlage). Es sei betont, daß die vorgestellte These vom offenen Charakter literarischer Kommunikation und mit den daraus folgenden Ableitungen in unserer Literatur nicht allgemein ist. Dies zeigt sich klar, wenn wir die Überlegungen von Günter Kunert oder Volker Braun genauer betrachten. Der Leser gehört für Günter Kunert „unabdingbar zum Gedicht dazu" - er erst befreit das poetische Gebilde „aus seinem Fürsichsein, indem er es .übernimmt' " 2 0 0 ; es kann nichts anderes sein als „der verbale Anlaß zur Selbsterkenntnis", zu Einsichten, die gleichermaßen Aufstandssignale wie Resignationsanlässe sein können. Das Gedicht nämlich ist ambivalent. Was an ihm hervortritt, hängt von der gesellschaftlichen Situation ab, vom historischen Augenblick, vom Wandel der Zeit und der Person des Lesers. Wirkung entsteht nur durch „Zeit-Zündung", und - merkt Günter Kunert an - „insofern wandeln sich Gedichte unter wechselnden historischen Bedingungen"201. In die Offenstellen des Gedichts sieht dieser Autor den Leser seine Erfahrungen, seine Selbstsicht einfügen - doch setzt er kei7«
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nen Vorgang v ö l l i g e r Offenheit: Das spannungsträchtige lyrische Ich und das Leser-Ich sollen vielmehr in einem Verhältnis der Identität und Nichtidentität stehen, der gegenseitigen Verfremdung und Einfärbung, und der in Gang gesetzte Prozeß soll eine Richtung haben, soll zur Entgröberung, Sublimierung, Humanisierung des Lesers führen. Ein dialektischer Vorgang der Wechselwirkung bei der Aufnahme von Literatur kommt hier in Sicht. Nur „bis zu einem gewissen Grade" erschließen sich nach Günter Kunert die Leser das Gedicht selber. 202 Im zugrunde gelegten Konzept der allgemeinen Entfremdung, aus der allein die Poesie eine Befreiung weiß, kann das auch nicht anders sein: Der Leser nämlich ist vor sich selbst nicht vorhanden, seine Empfindung nebulos, seine Erkenntnis ungeformt, unformuliert, sein Selbstgefühl indifferent, sein mentaler Inhalt diffus, seine Persönlichkeit instabil. Es ist das Gedicht, das ihm in dieser Lage eine Gestalt gibt, in die er schlüpfen, die er über sich stülpen kann, in der er sich selbst bewußt wird - in einem Vorgang, den „das Gedicht vorschreibt und vorexerziert" 203 . Letztlich ist es der Autor, der den Leuten eine Stimme gibt. Wieder anders stellt sich für Volker Braun das Problem. Auch er geht davon aus, daß in der Kommunikation erst die „Bedeutung" von „Notierungen" produziert wird, daß sich zwischen Werk und Leser ein Wechselverhältnis herstellt, welches die Wirkungen von Literatur im Leben bestimmt. Für diesen Autor sind die Menschen in der Gesellschaft und in der Literatur - nicht Objekte, z. B. der Moral, sondern Subjekte ihres Lebensprozesses. Hier nun setzt aber zugleich seine besondere Interpretation der kommunikativen Beziehung an. Er will nicht Beschreibungen übermitteln, sondern Verhalten: Nicht das bloße „Ansehn von .Abbildern'" 204 ist wichtig, sondern daß wir in einen Prozeß eintreten, uns aus unserer alten Erstarrung lösen, daß wir an einem Vorgang teilnehmen, der uns reicher macht, wesentlicher und somit verändert. Braun meint: Verzichtet der Autor auf das Exemplarische der eigenen sinnlichen Erfahrung, bezieht sein Werk die Leser nur äußerlich, als Objekte ein. Es verfehlt dann die Möglichkeit, daß in der Poesie die Leute, zu denen auch der Autor gehört, sich aus- und zusprechen. 205 Es läßt dann den poetischen Vorgang nicht zu, der erst den Leser ins Werk bringt, den Vorgang, in dem der „Angesprochene erfährt, worauf der Sprecher hinaus will b e i i h m und d e r a r t und j e t z t " , den Vorgang, der „vom Besonderen ins Kollektive, vom Ausschnitt in den Prozeß, vom einzelnen Gefühl und Tun und Willen zur Totalität der Gefühle 100
und der Taten und des Wollens" 206 führt, den Vorgang, der - hier nun über die Introspektion hinaus - uns eine andere, experimentelle Wirklichkeit verschafft, in der wir andere sein können und doch wir selber, in der wir unsere Möglichkeiten durchspielen und mit uns umgehen, Ungewohntes erproben und andere Bedürfnisse mitleben. Auch dieser Vorgang kann als offener gedacht werden. Volker Braun schreibt: „Der Satz, der Dichter solle bis ans Ende gehn, besagt nicht, das Gedicht solle bis ans Ende gehn: es kann dem Leser, der zum Gedicht gehört wie der Fahrer zum Wagen, den Schluß überlassen." Gerechnet wird mit einem wachsenden Bedürfnis nach „unfertigen" Arbeiten, die die Leser, in vielleicht individueller Weise, je nach Vermögen und Notwendigkeit, mit einem Spielraum für das Resultat, vollenden können, die die Leser „in eine andere, vordere Position bringen als in den gedichteten Vorgang". Volker Braun entwirft die Möglichkeit einer Literatur, die nicht „lediglich nachempfunden werden soll von anderen Leuten, die selber empfindlich genug sind", die vielmehr poetisches Material zur Verfügung stellt, das von den Lesern verschieden montiert und optimiert werden kann, „Ketten von poetischen Informationen, nicht mehr, als daß sie zu funktionieren beginnen und selbst gesteuert werden können, wie ein Wagen. Sie müssen sauber, intakt und verläßlich sein - und dem Käufer viel an Konzentration und Geschicklichkeit abverlangen. Die Kunst ist keine Trambahn auf sturen Gleisen, für halbblinde Passagiere!" 207 D a jedoch Volker Braun den poetischen Vorgang konsequent einbetten will in die Emanzipation aller Sinne und Eigenschaften, in den historischen Prozeß sich vergrößernder Universalität der Menschen, die Idee von Offenheit eine Richtung hat, die er bewußt befördern will, hält er eher an Verfahren fest, die die „Konkretheit der B e w e g u n g " schon in den Notierungen sichtbar und an ihnen erlebbar zu machen gestatten, 208 die durch den Text, durch die Gestaltbildungen und Vorgangsmodelle den Prozeß sicherer vermitteln. Braun will auf eine „Literatur der praktischen Haltung" 200 hinaus. Selbst wenn mit der Bestimmung der Aktivität der Leser diese Konzepte einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben, unterscheiden sie sich doch stark voneinander. Und das liegt nicht allein an den Differenzen der individuellen Temperamente oder der allgemeineren Bestimmungen von Geschichts-, Gesellschafts- und Menschenbild, die in die Theorie einfließen. Diese Verschiedenheiten - und Beobachtungen, die von den einzelnen Positionen aus gemacht wer101
den - prägen vielmehr auch Verschiedenheiten in der Vorstellung von der Interaktion zwischen Werk und Leser, und diese Vorstellung geht als wichtiger Faktor in die poetische Konzeption ein: Sie läßt bestimmte Forderungen an die Werke entstehen, an das, was diese als Rezeptionsvorgabe bereitzuhalten haben, um die als produktiv angenommene Rezeptionsart zu sichern.
Entwurf und Kritik der Lesepraktiken Wird die Beziehung zwischen Werk und Leser als eine Wechselbeziehung gefaßt, in der die Leser nicht nur formell, sondern hervorbringend - bedeutungserkennend und wertsetzend, sich selbst bestimmend - tätig sind, so muß auch eingeräumt werden, daß die über den Text vermittelten Impulse im kommunikativen Akt sich nicht „prompt" nach den Absichten der Autoren realisieren, daß die über den kommunikativen Akt hinausreichenden Wirkungen von der Subjektivität abhängig sind, die die Leser in der Lektüre betätigen. In der neueren poetologischen Reflexion wird die mögliche Individualität der Werkverarbeitungen, werden die möglichen Unterschiede in den Lektüren der einzelnen Leser deutlich akzentuiert. Auf die relative Neuheit der positiven Bewertung dieses Verhältnisses in unserer Literatur sei ausdrücklich hingewiesen. Am Beginn des Weges in den Sozialismus hatte sich, wie betrachtet, Anna Seghers irritiert gezeigt angesichts der Verschiedenheit von Literaturwirkung, und sie hatte darüber nachdenken müssen, wie diesem Auseinanderstreben der Leser mit literarischen Mitteln zu begegnen wäre, sie hatte ihre Hoffnung auf eine Zeit gesetzt, da gemeinsame Erfahrungen, Einstellungen, Sprache auch gleiche Assoziationen und Ideenverbindungen über den Gestalten eines Werkes hervorbringen würden. Dies geschah, weil die beobachteten Divergenzen in den Leseergebnissen, dabei auftretende Unverständnisse oder Mißverständnisse grundsätzliche Werte des sozialistischen Humanismus, des humanistischen Denkens überhaupt betrafen, weil sie auf grundsätzlichen Divergenzen in der Art zu lesen beruhten, auf unüberbrückbaren Verschiedenheiten der politischen, ideologischen, weltanschaulichen Orientierung. Mit der Entwicklung des Sozialismus, der sozialistischen Kulturrevolution aber, mit der wachsenden Einheit des Volkes schwand das alte Problem. Eine grundsätzliche Übereinstimmung der Assoziationen und Ideenverb in düngen bei vielen scheint ge102
währleistet. D a ß Grundsätze des Humanismus und mehr und mehr auch des sozialistischen Humanismus die Lesepraktiken vieler bestimmen, daß mit ihnen ein neuer allgemeiner literarisch-ästhetischideologischer Horizont aufgespannt ist, vor dem Sinn und Bedeutsamkeit literarischer Gestalten gewonnen werden, daß sich solchferart eine sozialistische Leseweise entwickelt - diese Annahme ist es, die zunächst den Weg freimacht, die Differenziertheit in der Literaturwirkung zu bejahen, die Ungleichheit von Rezeptionsergebnissen neu zu bewerten. Und sie ebnet zugleich den Weg zu einer höheren Wertschätzung der offenen literarischen Formen. Die andere Voraussetzung dieses Umwertungsprozesses ist ein zunehmendes Bewußtsein darüber, daß sozialistische Leseweise keine Uniformität verlangt. Mit ihren allgemeinen Zügen ließe sich diese Leseweise etwa folgendermaßen charakterisieren: Interesse für Zeugnisse aufsteigenden Geschichtsprozesses, der Erweiterung menschlicher Produktivität und Universalität der Beziehungen, der Emanzipation von allen Bedingungen, in denen die Menschen degradierte Wesen sind, für Zeugnisse der Revolution; Aufmerksamkeit für das Aufhellen gesellschaftlichen Zusammenhangs, für das Aufdecken der wirklichen Verhältnisse menschlichen Lebens, der wirklichen Motive des Handelns, für die Zerstörungen der Illusionen über den Prozeß der Bildung von Gesellschaft und Geschichte. 216 * Es handelt sich hier um kein geschlossenes, sondern historisch offenes System. Historischer Blick und aktueller Bezug, Parteilichkeit der Wertung und Verlangen nach Authentizität gehören zu dieser Leseweise ebenso wie die Bereitschaft, sich der Erfahrung offenzuhalten, die Bereitschaft zu einer Aktivität, in der als starkes Vergnügen ein intensives Weltverhältnis und Selbstbewußtsein entsteht. Auseinandersetzung mit dem Angebot des literarischen'Werkes ist als allgemeines Postulat in diese Leseweise eingeschlossen. Die in unserer Literatur zu solcher Leseweise entwickelten Vorstellungen setzen sich von denen neuerer relativistischer Literaturtheorien in kapitalistischen Ländern ab. Diese haben als Ausgangsund Zielpunkt die berechtigte Kritik der durchgehenden Manipulation des Bewußtseins, zu der nicht zuletzt die von Literatur und Literaturkritik, Schule und Medien erzeugten und konservierten Leseweisen gehören, und zugleich die illusionäre Sehnsucht nach der Freiheit des Ich, die sich im Feiern von Vielfalt beim Umgang mit Literaturwerken äußert, die gerade in und von der in diese Vielfalt eingeschlossenen Beliebigkeit garantiert werden soll.211 Die Litera103
turvorstellungen von Sozialisten dagegen umschließen einen Prozeß, in dem sich eine Verständigung als Herstellen von erweiterter Gemeinsamkeit, gemeinsamer Wahrheit durchsetzt und dazu auch den Austausch der individuellen Aneignungsergebnisse nicht nur zuläßt, sondern braucht. Wenn in den Schriftstellerüberlegungen hervorgehoben wird, daß über den Intimbereich der individuellen Beziehungen eines Lesers in seiner Lektüre nicht geredet werden kann oder nicht geredet zu werden braucht, wenn Akzente auf der möglichen individuellen Verschiedenheit der Leseergebnisse liegen, so läuft der gedachte Grundprozeß - trotz einiger Formulierungen, die in andere Richtung weisen - nicht auf eine unbestimmte Partikularisierung der Leser in ihrem Umgang mit der Literatur hinaus. In Anbetracht der bei uns durchaus herrschenden Vorstellung von einer einfachen, linear-kausalen Vermittlung literarischer Inhalte - kommunikativer Bedeutungen, evozierter poetischer Vorgänge - wird zu Recht mehr und mehr deren Vermittlung in Wechselwirkungen betont, wie sie sich im Zusammenhang der Aktivitäten der Leser notwendig ergeben und Verschiedenheiten der Inhalte entstehen lassen. Gälten diese aber absolut, so hätte die Rede vom Werk und von einem durch das Werk ausgelösten gesellschaftlichen Verständigungsprozeß allen inhaltlich bestimmten Sinn verloren. Es bliebe unter den angezeigten Bedingungen dann nur die „Notierung", das Formgefüge von „Text" und „Bild", über dem sich in der Hand der vielen Leser ebenso viele Bedeutungen und poetische Vorgänge erhöben, die wiederum von denen des Autors, seinen Intentionen verschieden wären. Der Umgang mit Literatur löste sich dann in eine Privatheit auf, in der der Autor ausspricht, was niemand verstehen kann, in der die vereinzelten Leser immer nur sich selber lesen könnten. Demgegenüber setzt jedoch die Vorstellung von einem Duell - von einer Auseinandersetzung der Leser mit dem, worauf der Schreibende hinauswill - eine Beziehung voraus, in der die literarischen Gestalten in der Rezeption den Individuen Bestimmtes, Anderes und Allgemeines zu vermitteln in der Lage sind. Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden, daß den Werken diese Qualität von Bestimmtheit tatsächlich zukommt. 212 Sie gründet darin, daß uns hier „Relevanzfiguren" übermittelt werden 213 * - Figuren, an denen ein Allgemeines, Wesentliches, Gesetzmäßiges, zugleich ein Wichtiges, Interessantes, Bedeutendes akzentuiert, ausgestellt ist 214 und die es mit ihrem Bezug auf Hintergründe
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des gesellschaftlichen Bewußtseins auch ermöglichen, über die Werke nicht nur zu „streiten", sondern auch zu „disputieren". 215 Doch bleibt bei allen literarischen Werken stets ein Raum, mögliche Bedeutungsbeziehungen auf verschiedene Weise zu akzentuieren, Implikationen von Bedeutungszusammenhängen anzunehmen und in der Lektüre zu aktualisieren. Die endliche Bedeutungs- und Bezugsvielfalt ergibt sich aus dem Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit der individuell und kollektiv formierten Lesepraktiken, den klassen-, epochen- und weltanschauungsbedingten Zügen der gesellschaftlichen Leseweisen, die den Lesepraktiken zugrunde liegen. Der Kampf, der sich um Interpretation und Bewertung von literarischen Werken abspielt, ist deshalb auch stets ein Kampf um die Gültigkeit des Beziehungssystems, des Implikationsrahmens, des Wertrasters, in dem die Formen ihren Sinn erhalten, ein Streit um die Praktikabilität der Orientierungen der Lesepraktiken bzw. der gesellschaftlichen Leseweise, zu denen sie gehören. Zu diesem Kampf trägt jede produktive Lektüre bei. Die Individuen und Gruppen vermögen die Werke im Rezeptionsprozeß mit einem Besonderen anzureichern, das seinerseits wert ist, in das allgemeine Bewußtsein von dem gerade vorliegenden Werk, von der Literatur und dem Umgang mit ihr, in den literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizont einzugehen. Die große Rolle, die dem Literaturgespräch in den Überlegungen der Schriftsteller eingeräumt wird, hat hier ihren zweiten systematischen Ort im neuen literarischen Denkgefüge: Sie wird auch in der Notwendigkeit des bewußten, Werte und Wirkungen bewußtmachenden, verallgemeinernden, vergesellschaftenden Kontakts zwischen Leser und Leser begründet. Voraussetzung dafür ist eine Lektürepraxis, die von jener Leseweise bestimmt ist, welche wir die sozialistische nannten: die Fähigkeit der Leser vor allem, in den über literarische Werke vermittelten Prozeß gesellschaftlicher Verständigung einzutreten; die Bereitschaft, sich der in einem Werk ausgesprochenen Erfahrung oder angeregten Erkenntnis offenzuhalten und sie - was erst eine folgenreiche Lektüre sichert - auf das eigene Leben zu beziehen; die Kraft zur eigenen Vollendung des Werkes, zur Arbeit an seinem Sinn, zu kritischem Urteil und zur Auseinandersetzung mit seinem Angebot. Es sind dies Merkmale einer Leseweise, die an den Lesepraktiken vieler abgelesen werden können, Merkmale, die sich als bestimmende in der Lesepraxis bei einer wachsenden Zahl von Lesern durchsetzen, Merkmale zugleich, die jedoch keineswegs die Lesepraktiken aller 105
und immer bestimmen.216* Vielmehr werden am Lesen auch Züge beobachtet, welche - wie ein Lesen etwa unter dem Gesetz der einfachen Unterhaltung, des Wunsches nach der Gestalt einer harmonisierten Welt, nach Figuren, die keine Probleme aufwerfen usw. - der charakterisierten Leseweise gerade entgegenstehen. Mehr und mehr werden diese Züge von Lesepraktiken einer Kritik unterzogen, die sich in zunehmendem Maße auch auf Momente bezieht, die ehedem sozialistischer Leseweise zugerechnet wurden. In die Polemik ist die Auseinandersetzung mit solchen Werkstrukturen oder Werktypen eingeschlossen, die mit ihrer Art von Lektüreanforderungen wenig imstande scheinen, die angestrebte Leseweise zu erzeugen. Werner Heiduczek 217 machte darauf aufmerksam: „Die Forderung, die an unsere sozialistische Gegenwartsliteratur gestellt wird, ist hoch. Nicht geringer jedoch ist die Forderung der Literatur an den Leser. Anspruch fordert Leistung heraus, Leistung neuen Anspruch." In der solcherart im Verhältnis von literarischer Produktion und literarischer Rezeption wechselseitig sich steigernden Dynamik wird aber ein Hemmungsfaktor beobachtet: „So wie es Schreibgewohnheiten gibt, gibt es Lesegewohnheiten. Gewohnheit an sich ist nun ganz und gar nichts Negatives . . . Der Gewohnheit liegt jedoch auch die Gefahr nahe, mich träge zu machen, routiniert, kritiklos mir selbst und anderen gegenüber." Zum sozialistischen Menschen rechnet Werner Heiduczek die Fähigkeit, die eigene Leistung immer wieder in Frage zu stellen. Diese Fähigkeit fordert er auch im Umgang mit Literatur. Wie für die Produktion von Literatur setzt er auch hier die Notwendigkeit ständiger Entwicklung an. Sie betrifft Residuen älterer Leseweisen in der sozialistischen Gesellschaft und auch inadäquate Momente einer schon sozialistisch geprägten Leseweise, vor allem das Moment einer verbreiteten Bequemlichkeit. Der Autor führt als Beispiel Diskussionen mit Lesern über die Frage an, ob der Schriftsteller seinen Helden (besonders den sympathisch geschilderten Helden) in unserer Gesellschaft sterben lassen darf. Tatsächlich handelt es sich hier um einen allgemein aufschlußreichen Punkt der literarischen Debatten: Erfahrungsgemäß ist der Widerstand gegen die Gestalt solchen Scheiterns bei vielen Lesern groß und wird von Teilen der Literaturkritik nicht nur im einzelnen Fall, sondern auch durch verallgemeinernde theoretische Argumente gestützt. (Daß umgekehrt ein Teil der poetologischen Reflexion das Recht auf den Ausdruck von Schmerz und Trauer, die Notwendigkeit tragischer und elegischer Gestalten hartnäckig verteidigt, hat gerade 106
mit dieser Praxis und Theorie zu tun.) Werner Heiduczek nun - und ähnliches läßt sich in vergleichbaren Überlegungen auch anderer Schriftsteller immer wieder vernehmen - wehrt sich dabei vor allem gegen eine Bequemlichkeit, die von Literatur verlangt, daß in ihr die dargestellte Welt in Ordnung ist, aber nicht, daß die Darstellung Impulse vermittelt, die wirkliche Welt in Ordnung zu bringen. Es geht speziell um zwei Arten solcher Bequemlichkeiten. Einerseits wird Kritik an Vorstellungen vorgetragen, die erwarten, daß die literarischen Gestalten das Bild eines Allgemeinen und Wesentlichen sind und die, von diesem Begriff des Typischen ausgehend, fordern, daß die soziale Gesetzmäßigkeit und/oder die allgemeine Verbreitung einer Erscheinung sich unmittelbar in der literarischen Gestalt niederschlagen müsse. Gegen diese Idee, die auch in der Literaturtheorie ausgemacht werden kann, die überhaupt durch die Theorie, von unserer Schule und Kritik vermittelt, in die Lesepraktiken eingebracht wurde, wird mehr und mehr eine andere Vorstellung von den Aufgaben literarischer Gestalten und von ihrem Wert gesetzt. Die Dimension der Bedeutsamkeit des dargestellten individuellen Falles wird hier dem lesenden Interesse empfohlen. Der Akzent liegt auf dem Impuls, vielleicht auch der Warnung, die die Darstellung auszulösen vermag, auf dem Wert von Gestalten, die der Leser kritisch und selbstkritisch zu verarbeiten hat, indem er sie auf seine eigene Praxis bezieht. Für die verteidigte Gestaltungsart der eine bestimmte Vorstellung literarischer Wirksamkeit innewohnt - ist nicht entscheidend, daß die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung sich direkt in der Fabelgestalt wiederfindet und dies den Leser, der sie mitvollzieht, mit Gewißheit erfüllt. Entscheidend ist vielmehr, daß die Gestalten historisch und für menschliches Leben Bedeutsames offenbaren, daß die hergestellte Spannung zwischen den Gestalten im Werk sowie zwischen den Gestalten und den Werten im gesellschaftlichen Bewußtsein dem kritischen Leser Impulse vermittelt, die den produktiven gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechen. Werner Heiduczek betont: „Wenn einer meiner Helden scheitert, ist in der Welt gar kein zusätzliches Unglück geschehen. Dieser Mensch lebt nur in der Phantasie. Und wenn sein ,Phantasie-Tod' bewirkt, daß der Leser aktiviert und vorm wirklichen Untergang bewahrt wird, dann mag er ruhig sterben." 218 * Andererseits geht es, wie schon angedeutet, um die Kritik an einer Vorstellung, die die Wirkung der Literatur vor allem über den Mechanismus einer begeisternden Identifikation garantiert sieht, für 107
die der Mitvollzug literarischer Figuren durch die Leser d i r e k t praktische Auswirkungen hat - was dann auch zu entsprechenden Forderungen an diese Gestalten, an ihre Positivität führt, zu einem Verlangen nach Gestalten als der Wirklichkeit abgeschriebene oder ihr vorausgeschickte Leitbilder, denen der Leser einfach folgen kann. Auch diese auf die Lesepraxis und die Bewertung literarischer Werke einwirkende Idee ist - vielleicht nicht theoretischer, doch praktischer - Bestandteil unserer Literaturkritik. Wenn Werner Heiduczek dagegen betont, daß der „Leitbildcharakter" von literarischen Gestalten beispielsweise den „Warncharakter" nicht ausschließt, so verbindet er mit der Forderung nach größerer Vielschichtigkeit der Darstellung - auf das selbstkritisch-kritische Vermögen der sozialistischen Leser bauend - auch die Forderung nach einer größeren Vielschichtigkeit der Lesepraxis. Er verfolgt die Idee einer durch die Aktivität des Lesers vermittelten Wirkung des Werkes, das in sich viele Möglichkeiten tragen kann: „Ein wirkliches Kunstwerk hat einen breiten Assoziationsfächer." Werke, die eine solche Aktivität ermöglichen, verlangen und so auch in der Lesepraxis hervorbringen, die die Auseinandersetzung des Lesers anregen, ihn vor Probleme stellen, die seine Entscheidung aufrufen, die ihm nicht alles servieren, sondern sein Weiterdenken fordern, erhalten von hier aus einen positiven Wert. Werner Heiduczek wies auf Scholochows Roman Der stille Don hin. Das Buch diente mehrfach als Beispiel eines Werkes, das der entwickelten Aktivität sozialistischer Leser adäquat sein kann. An ihm demonstrierte z. B. auch Karl-Heinz Jakobs eine Lesepraxis: „Das Buch ,Der stille Don' habe ich mehrfach gelesen. Jedesmal unter einem neuen Aspekt. Jedesmal wollte ich etwas mehr herausbekommen, was da in dem Buch, als Geheimnis verschlüsselt, behutsam und empfindsam, nicht ausgesprochen, mir als Ermutigung, mir als Warnung dienend oder mein Mitleid erbittend, gegeben werden soll. Vieles habe ich inzwischen begriffen von Lebenskraft und Lebensweisheit in den Zeiten revolutionärer Umwälzung. Das letzte aber und das entscheidende Lebensrätsel, das dieses Buch mir aufgibt, ist bisher ungeklärt geblieben. Das Buch klärt es mir nicht auf, und ich bin aus eigener Kraft nicht imstande, es zu lösen. Was wird weiter geschehen mit Grigori Melechow, der Schwert und Schild endgültig am Ufer des Flusses niedergelegt hat und Schluß macht mit dem Krieg. Ich will es wissen. Denn ein großer Teil meines eigenen Lebens ist innig verstrickt und verknotet mit dem Schicksal Grigori Melechows . . . So sehr
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ich aber auch aufgeklärt werden soll über das Lebensrätsel des Grigori Melechow, ich würde es bedauern, wenn der Verfasser es mir aufgelöst hätte." 219 Auch bei Karl-Heinz Jakobs verbindet sich die positive Vorstellung notwendiger Lesepraxis mit der Kritik an Lesegewohnheiten. Auch er rückt dabei jene Züge bereits sozialistisch bestimmter Lesepraktiken in den Mittelpunkt, die nach seiner Meinung ihre Entfaltung hemmen. „Bequemlichkeit" erscheint bei ihm als geheimes Zeichen für den Wunsch nach Konfliktlosigkeit: „Diese Vorstellung von einer Literatur, die Konflikte darstellt, aber die Konflikte sollen nicht schmerzen, und die Konflikte sollen sich am Ende erfreulich auflösen, finden wir oft in Leserversammlungen. Wenn gefordert wird: Schreibt unterhaltende Bücher, schreibt Bücher mit Humor. Denn wenn wir von der Arbeit nach Hause kommen, wollen wir nicht noch mit Problemen behelligt werden. Und vor allem, entlaßt uns nicht am Ende des Buches mit nichtgeklärten Fragen." 220 Die Kritik an jenen Institutionen, die das Lesen zu lehren haben, hier vor allem wieder an der Schule, die Aufforderung an die Schriftsteller, über den Rahmen ihrer literarischen Arbeit hinaus zum besseren Verständnis von Kunst und Dichtkunst beizutragen, ist auch hier die Konsequenz. Eine ausführliche Analyse der Kritik von Lesegewohnheiten und ihrer u. a. aus der Literaturtheorie bezogenen Kriterien kann hier nicht erfolgen. In der Skizzierung der mit dem Typischen, der unmittelbaren Wirkung, der Konfliktgestaltung verbundenen Probleme sollten einige ihrer Richtungen nur exemplarisch verdeutlicht werden. Ebenso wichtig - auch hier zeigen sich allgemeine Bewegungstendenzen unserer Literatur höchst aufschlußreich - ist z. B. die Auseinandersetzung mit dem allgemein und akzentuiert hervorgetretenen Interesse für Sachinformation, ist die Kritik an der Neigung, das an Literatur sich zeigende Allgemeine und Bedeutsame vorwiegend im Zusammenhang der politischen Beziehungen zu bestimmen, Literatur der Vergangenheit als Geschichtsillustration zu benutzen usw. Nicht selten wird in alldem die Kritik der Lesegewohnheiten mit der Kritik an Schule und Literaturkritik verknüpft - der Faktor der Vermittlungsinstitutionen im literarischen System tritt dann deutlicher in die Reflexion ein, und dies zeigt, daß auch die Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Lesern und Werken in den Umkreis der Überlegungen zum literarischen Verkehr insgesamt gehören.
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Schreiben — Vorgang unter heuten Ein dritter, wichtiger Problemkreis unserer Literaturdiskussion bildete sich um die Frage nach den Beziehungen, die der Schriftsteller unmittelbar in seiner Arbeit zu seinem Wirkungsfeld eingeht - um die Frage nach dem Zweck der literarischen Tätigkeit, insofern sie eine Produktion und eine gesellschaftliche Praxis ist, nach ihrem Adressaten, insofern sie eine Kommunikation ist. Die Divergenzen in der poetologischen Reflexion sind hier wieder beträchtlich. Am Punkt der Zweck- und Adressatenbestimmung schließt sich eine Reihe von Problemen der Funktion der Literatur konkreter zusammen, kulminiert auch die Frage des einzelnen Autors, wie er die seine Arbeit bewegenden Gegensätze - zwischen dem Andrang neuer Wirklichkeit und Erfahrung, dem Zwang zur Stellungnahme und zum Ausdruck von Subjektivität, den Bedingungen im allgemeinen Feld gesellschaftlichen Bewußtseins, dem Gebrauch der Literatur durch die Leser - in einer Wirkungsstrategie auflösen soll, die eine produktive Leistung der literarischen Tätigkeit beim Erarbeiten einer menschlichen Welt gewährleistet. Doch setzt sich auch hier eine dominante Linie durch. Sie steht im Zusammenhang mit der Überzeugung von der aktiven Rolle der Leser im literarischen Prozeß und im Umgang mit den literarischen Werken, von der Möglichkeit literarischer Tätigkeit in der Mitte einer Gemeinschaft; in ihr wird das Verhältnis der Ebenbürtigkeit von Autoren und Lesern als Voraussetzung aller spezielleren Bestimmungen von Zweck und Adressaten anerkannt. Von der hier mitsprechenden Polemik aus gedacht: Zunehmend werden alle die wirkungsästhetischen Konzepte problematisiert, die von einem bewußt gehaltenen Gefälle zwischen Autoren und Lesern ausgehen, die denjenigen, der literarische Wirkungen vermittelt, nicht nur methodisch, sondern auch sozial von demjenigen abheben, für den die Wirkungen bestimmt sind. Die Ethik einer literarischen Arbeit in der Mitte der Gemeinschaft schließt die Auffassung ein, daß Autoren und Leser nicht voneinander abgesonderte Teile der Gesellschaft sind, von denen ein Teil über den anderen erhaben ist. Sie verbietet solche Zweiteilung als Störung des für diese Literatur unabdingbaren Vertrauens und der in ihr möglichen Dialektik gesellschaftlicher Kommunikation. Es liegt in der Konsequenz dieser Grundsätze, daß von ihnen aus auch viele der Vorstellungen negiert werden können, die Kunst als eine soziale Technik - sei es der operativen Agitation, 110
sei es der moralisch-politischen Erziehung, sei es der Unterhaltung zu verstehen vorschlagen, und daß nicht nur ein bestimmtes wirkungsästhetisches Konzept, sondern alle literarische Tätigkeit abgelehnt werden kann, in der der Autor „zum Zweck bestimmter Wirkung sein Werk hervorbringend" 221 gedacht wird.
Unterhaltung
oder ästhetische Emanzipation
der Leser
Wolfgang Kohlhaase 222 griff auf einen zentralen Satz des wirkungsästhetischen Konzepts von Brecht zurück, als er auf dem VII. Schriftstellerkongreß sagte, schreiben heiße, jemandem zu schreiben. Seine Fragen zielen auf Differenzierung. Am Publikum wird beobachtet, wie sich auf „mannigfaltigen Bildungswegen und Umwegen . . . neuer Anspruch und alter Anspruch und alte Anspruchslosigkeit" mischen, „die sich manchmal auch mit neuem Stolz ausrüstet". Zum Problem wird, wie und wem zu schreiben ist: „Politisch Gleichgesinnten, die doch aber ästhetisch verschieden oder überhaupt nicht gesinnt sein können? Allen? Solche Fragen ergeben sich, weil unser Publikum gerade durch Ungleichheit in Bewegung geraten ist." Wolfgang Kohlhaase weist beim Versuch, die damit aufgeworfenen Probleme zu lösen, nicht nur auf die mögliche Vielfalt sozialistischer Literatur hin. Es geht ihm wie anderen Autoren um die tatsächlichen Bedürfnisse, die nicht einfach übersprungen werden können, aber auch um die möglichen Bedürfnisse, die Entwicklung der Bedürfnisse, des gesellschaftlichen Kunstanspruchs. Seine These ist, daß Literatur, die möglichst viele erreichen will, ihren Leser auch immer ästhetisch emanzipieren muß. Diese Idee gründet in der Überzeugung, daß die „Änderung der Leseweise und der Lebensweise" in der sozialistischen Gesellschaft miteinander verbundene Prozesse sind. In der soziologischen Analyse der wirklichen literarisch-ästhetischen Bedürfnisse in unserem Lande stellte sich ein favorisiertes Verlangen nach „Beruhigung und Entspannung", nach „Spannung und Aufregung" heraus - nach Leistungen der Literatur, die, wie mit einem von Brecht vorgeschlagenen Terminus gesagt werden soll, sich auf die „einfache Unterhaltung" erstrecken. Literatur hat in diesem Gebrauch ihren Sinn zunächst als Sphäre einer vergnüglichen Tätigkeit, deren weiterreichende Wirkungen im Bereich einer einfachen Reproduktion der allgemeinen Arbeitskraft liegen, die als Erholung, aber auch als Entlastung und Kompensation wirken (und so mög111
licherweise gerade der Reproduktion der Verhältnisse dienen, die diese Bedürfnisse hervortreiben). Im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Literatur zur „einfachen Unterhaltung" steht das Interesse für Genres, die aktionsbetonte Handlungen oder gemütvolles Geschehen übermitteln, für Gestaltungsarten, die innerhalb konventionalisierter Formen liegen und somit geringe Forderungen an die rezeptive Tätigkeit stellen. D a solche Literatur in unserem Lande angeboten wird, könnte vermutet werden, der bekannte Teufelskreis der Massenliteratur schlage auch uns in Bann. Jedoch wurde durch die soziologische Analyse das sprengende Moment von seiten des Publikums im Sozialismus aufgedeckt. Es konnte gezeigt werden, daß die genannten Bedürfnisse - mit verschiedener Akzentuierung bei den verschiedenen sozialen Gruppen - innerhalb eines weitergespannten Spektrums von Bedürfnissen auftreten, welches das Verlangen nach Information und Kenntnis ebenso umschließt wie das Verlangen nach ästhetischen Formen der Weltaneignung. Man kann von diesen Befunden aus - vorsichtig auf die Fähigkeiten schließend, die bei der Lektüre ins Spiel kommen, die von ihr erzeugt werden wohl sagen, daß der Typ des Verhaltens, der sich auf „einfache Unterhaltung" beschränkt, wirkliche Leser nur in extremen Fällen gänzlich bestimmt, sozusagen habituelle „Konsumenten" (im üblichen pejorativen Wortgebrauch) erzeugt. Für die Klärung des Problems adäquater Adressatenbeziehungen heutiger Literatur ist dieser Zusammenhang von elementarer Bedeutung. Es besteht nämlich die Möglichkeit, daß die literarische Produktion sich auf das Verhaltensmoment konzentriert, das mit dem Begriff des „Konsumenten" umschrieben ist, daß sie die hiermit gemeinten Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten zum Adressaten macht, und - um diesen Adressaten zu erreichen - auf Werkstrukturen und Inhalte abzielt, die den Leistungen der „einfachen Unterhaltung" entsprechen. Helmut Sakowski hat darauf hingewiesen, daß der künstlerische Prozeß im Sozialismus bei vielen Lesern das Interesse an Kunst vergrößert, neue Ansprüche geweckt hat. E r verweist auch auf das Bedürfnis nach Abenteuer, Aufregung, Liebesgeschichten, nach einfacher Unterhaltung eben, und fährt fort: „Bedürfnisse werden angemeldet. Man kann hin und her diskutieren, ob das in jedem Falle die richtigen sind, man kann aber Bedürfnisse nicht wegdiskutieren." 223 Die Existenz der genannten Bedürfnisse steht tatsächlich nicht zur Diskussion. Es geht vielmehr gerade um die Frage, ob es 112
„die richtigen sind", denn nur dies entscheidet darüber, ob ihre Befriedigung als sozialer Zielpunkt literarischer Arbeit des verantwortlichen Schriftstellers gesetzt werden kann. Unsere Schriftsteller sind sich weithin einig darin, daß auf die genannte Frage nicht einfach mit ja geantwortet werden kann, daß die Allgemeinheit von Leseransprüchen nicht einen absoluten Wert darstellt. Helmut Preißler verdeutlichte dies, als er sagte, daß er sich keinen ernsthaften Schriftsteller vorstellen könne, „der Thema oder Stil nach einer erkundeten Mehrheit der Lesererwartung wählt"22'*. Es geht um die Frage, wie in dem Spannungsfeld der verschiedenen Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten, der wirklichen Leseransprüche in der sozialistischen Gesellschaft zu operieren, eine Literatur zu machen ist, die mehr sein kann als bloß etwas von der Art der „circenses". Wählen wir ein Beispiel zur Verdeutlichung. Bei Wolfgang Schreyer, einem Repräsentanten des Abenteuerromans in der DDR-Literatur, erscheint „der Leser" - auch wenn anerkannt wird, daß der „vielseitige Leser, der Qualität auf mehreren Literaturgebieten schätzt", „im Kommen" ist - durchaus als ein „zähes Medium". Dieser Autor rechnet mit einem „passiven Widerstand der Leute, die nach anstrengender Arbeit doch eher das Fernsehgerät" einschalten, die „gefesselt" sein wollen 225 und verlangen, was „mitreißt, an den Nerven zerrt" 226 , was man verschlingen kann - und was zugleich Informationen liefert. Auf solche Leser ist - in betonter Kritik einer Spaltung des Lesestoffes in eine hohe und niedere, in eine Literatur für die „Elite" und für das „Volk" - das Programm literarischer Konstruktionen gerichtet, die als Kompromiß zwischen literarischer Tragfähigkeit und packender Aktion aufgefaßt werden. Es zeigt sich hier, daß mit den Bedürfnissen, die sich in der Erwartung von Spannung und Aufregung äußern, in vollem Ernst gerechnet werden kann (der Repräsentant der Abenteuerliteratur hat gerade diese, signifikant besonders bei jugendlichen Lesern stark ausgeprägten Erwartungen im Auge und verabsolutiert sie; im Spektrum vergleichbarer Leistungen von Literatur steht auch, was als „Beruhigung und Entspannung" umschrieben wurde und was als Erwartung eher ältere Leser prägt). Zugleich aber werden sie vom Autor, der erkennend über diesen Bedürfnissen steht, nur als Ausgangsbedingungen angesehen. Dies insofern zu Recht, als die genannte Unterhaltungsleistung der Literatur zwar möglich, aber keineswegs spezifisch ist. Was Wolfgang Schreyer z. B. in dieser Hinsicht an Kunsterwartung beobachtet, wird von Formen der Massen8
Schlenstedt
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Unterhaltung, wie etwa dem Fußball, auch geliefert. Literarische Tragfähigkeit - als Seite in einem Kompromiß - wird deshalb auf Komponenten wie Vermittlung von Kenntnissen über die Welt, Vermittlung von historischem und gesellschaftlichem Bewußtsein gegründet. Dafür werden zur Verfügung stehende, zur Konvention gewordene, ehemals große Erfindungen des Realismus verwandt vorzüglich Darstellungen, in denen individuelles Geschehen vor historischem Hintergrund abläuft. Wie wir gesehen haben, sind auch diese Komponenten auf Massenbedürfnisse und Masseninteressen bezogen - es handelt sich hier aber um literarische Leistungsfähigkeiten, die wieder nur zum Teil der Literatur als ästhetischer Aneignungsform spezifisch sind: Das Bedürfnis nach Information im genannten Sinn wird ja keineswegs nur und auch nicht etwa am besten durch Literatur als Kunst befriedigt. Mit der Definition der Leistungen von Literatur als Nervenzerrung und als Information wird theoretisch eine Funktion begründet, die ästhetisches Denken nur residual - in dieser Form aber durchaus - vermittelt. Eine Auflagenhöhe von fast zwei Millionen, die dieser Autor erreicht hat, bestätigt die Richtigkeit seiner Kalkulation, die zugleich zu einem neuen Typ des Abenteuerromans, zu einem zweifellos hohen literarischen Niveau dieses Literaturtyps führte. Solches Konzept ist anderen Autoren ein Ärgernis. Nicht allein deshalb, weil sie es in bezug auf ihr eigenes Schaffen und dessen innere Antriebe für unmöglich halten, von den genannten Ausgangsbedingungen auszugehen, 227 * sondern auch deshalb, weil sie nicht glauben, daß auf solchem Wege eine erweiterte Produktivität im Umgang mit Literatur erreicht werden kann. Sie sehen im Versuch besonders der Prosa, angesichts bestimmter Rezeptionsbedürfnisse „als Krimi, als Reißer" ums Leben zu kämpfen, eine Mimikry, in der das Spezifische der Leistungsfähigkeit poetischer Arbeit aufhört zu existieren.228 Es gibt Bücher, schrieb Werner Heiduczek, „die leben von ihrer äußeren Turbulenz. Es geht unmittelbar und für jeden sichtbar um Tod oder Leben. Nichts gegen solche Bücher, wenn ihre .Spannung' nicht als Selbstzweck gesetzt wird. Wer das als Autor tut, spekuliert mit der Emotion des Lesers. Er nimmt ihn nicht als Subjekt, sondern als Objekt und spielt sozusagen mit ihm ,Lohn der Angst'." 229 - Die hier angestellte Überlegung ist für unseren Zusammenhang aufschlußreich, weil durch sie die sozialen Implikationen der „Spannungsliteratur", die kommunikationsspezifischen Inhalte dieser Aneignungsform enthüllt werden und gezeigt wird, 114
daß in dieser Literatur eine Tendenz besteht, Autor und Leser nicht als auf einer Ebene stehend zu denken, den Leser als Objekt der schriftstellerischen Aktion aufzufassen. (Dieses Verhältnis wird in Konzepten einer pädagogisch verstandenen Literatur wiederkehren - es ergibt sich hier eine charakteristische Ergänzung und Entsprechung.) Kritisch werden daher von der Gegenseite Züge einer veräußerlichten, verflachten, gerade durch den Roman des zitierten Typs, aber auch durch Kino- und Fernsehfilm erzeugten oder reproduzierten Rezeptionsweise notiert, die es mit sich bringt, daß zu intensivem Nachvollzug anhaltende poetische Gebilde nicht aufgenommen werden können. 230 Daher kritisierte Anna Seghers nicht zufällig auch sie geht von der Aufgabe aus, die Aufnahmefähigkeit für Literatur ständig zu erweitern - eine vorsätzliche Reduktion der literarischen Arbeit. 231 Es ist hier anzumerken, daß es in der mitunter polarisierenden Diskussion wesentlich um das Maß und die Art geht, wie den favorisierten Literaturbedürfnissen und -interessen entgegenzukommen ist. Ihnen gegenüber eine Haltung der Verachtung einzunehmen, würde einem oberflächlichen ästhetischen Subjektivismus gleichkommen. Die genannten Bedürfnisse und Interessen sind nämlich nicht Momente innerhalb einer irgendwie zu isolierenden Geschmacksbildung, sondern Momente innerhalb einer historisch-gesellschaftlich bestimmten Arbeits- und Lebensweise und nur mit deren Veränderung zu überwinden. Und genauer gesehen sind sie auch gar nicht zu „überwinden", sind die Momente des Verlangens nach dem Spielerischen, der sinnlichen Fülle, dem Vergnüglichen, die ihnen eigen sind, vielmehr (wie Eisler forderte) „aufzuheben". Ein Prozeß ist denkbar, in dem immer mehr Menschen die Möglichkeit haben und lernen, Genuß nicht vor allem aus den blutvollen Reizen des Abenteuers oder aus den sanften Reizen humorvoller Trivialität zu ziehen, sondern - vielleicht - aus Gestalten kräftiger Empfindung, intensiver Gedankenarbeit, sprachlicher Dichte; in dem sie die Möglichkeit haben und lernen, einen Unterschied zu machen zwischen dem, was etwa Brecht „schwache (einfache) und starke (zusammengesetzte) Vergnügungen" nennt. Zwischen beiden Formen sieht Brecht im letzten Entwurf seiner Ästhetik (in dem er betont Genuß und Unterhaltung als Funktion seiner Arbeit in Anspruch nahm und das Vergnügen als „nobelste Funktion" des Theaters erkannte) ein Verhältnis nicht des Gegensatzes, sondern der Steigerung: Die starken Vergnügungen „sind verzweigter, reicher an Vermittlungen, widersprüchlicher und 8»
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folgenreicher". In welchem Maße aber gerade sie sich durchsetzen können, hängt von historischen Bedingungen ab, denn: die Art der Vergnügungen ist bestimmt von „der jeweiligen Art des menschlichen Zusammenlebens". 232 Das starke Vergnügen gültiger zu machen, setzt einen Wechsel des Platzes voraus, an dem der Umgang mit künstlerischen Produkten in das System der Gesamttätigkeiten eingefügt wird; einen auf der Entfaltung der Produktivität in revolutionierten sozialen Beziehungen gegründeten Platzwechsel, der es allen erlaubt, künstlerische Tätigkeit aus der Sphäre der Regeneration der Arbeitskraft mehr und mehr in die Sphäre der allgemeinen Arbeit zu setzen, einer „menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt" 233 . D a ß die Kunst - oder anders auch die Wissenschaft - diesen Platz im Leben vieler Menschen noch relativ selten einnehmen kann, weist auf die Stufe, die unsere Gesellschaft auf dem Wege zu einem Reich solcher Kraftentwicklung augenblicklich erlangt hat, und speziell auf die vorläufige Art, wie sie die ständige erweiterte Reproduktion der Persönlichkeit organisiert. Die Kunst selbst kann die damit entstehenden Widersprüche nicht lösen. Am gegebenen historischen Ort bleibt ihr nur ein Operieren in ihnen. Dabei kann man sich unter besonderen Zielsetzungen dazu entschließen, Einbußen an Breite der Wirkung bewußt in Kauf zu nehmen. Das betrifft z. B. eine Strategie, die im Wecken von Sensibilität den wichtigsten Ansatzpunkt der literarischen Arbeit heute sieht und sich deshalb auch gegen die starken Reize wendet, welche breiterer Aufnahme entgegenkommen. Eine solche Strategie besteht auf einer rein ästhetisch formierten Literatur und damit auch auf Formen, die die Rezeption zur Anstrengung anhalten, die es in ihrem Ernst auch wohl verhindern, ästhetische Absicht über das Vergnügliche zur Wirkung zu bringen. Die Möglichkeit liegt hier nahe, eine Kunst für die Intelligenz zu machen; sie liegt um so näher, wenn man, wie Peter Hacks schreibt, „deren Sonderbegabung - schneller Überblick, ästhetische Übung und geistiges Durchhaltevermögen . . . irrtümlich für eine menschliche Fähigkeit" hält und dann die Kunst, einen Abend mit höchstmöglicher Wirkung zu füllen, den „Zunftbrüdern vom minderen Fach" überläßt. 234 Und mehr: In problematischer Weise wird dann mitunter die Aufgabe der einfachen Unterhaltung an Film und Fernsehen oder auch an den Roman verwiesen (während dem ästhetischen Denken Lyrik und reflektierte Prosaformen vorbehalten bleiben), wird also ein nach ästhetischen Werten hierarchisiertes Kunstgefüge vorgeschlagen. Freilich regiert 116
in diesen Konzepten im allgemeinen nicht der Stolz einer ästhetischen Absonderung, eher das bittere Gefühl, sich in einer „paradoxen" Situation zu befinden, oder die tragisch gestimmte Erkenntnis, daß, was hier erreicht werden soll - ein schärferes Gefühl - , kaum erreicht werden kann, weil es schon Voraussetzung der für unabdingbar gehaltenen Rezeptionsart ist.235 In der Kritik an diesem Gedankenkreis bleibt zu bedenken, was Anna Seghers schon früher betonte - daß man sich die Antwort auf die Frage, ob es einen „besseren Maßstab geben [kann] als die Wirkung auf breite Massen", nicht leicht machen kann: „Das ist aber vorerst ein Ziel, eine Aufgabe, die wir uns stellen." Zu diesem Ziel gehört die Gewißheit: „Wenn die meisten Menschen ein Bedürfnis nach echter Kultur haben werden, wenn Unechtes, Kulturersatz, unweigerlich ihren Spott, ihren Widerwillen hervorruft, dann wird niemand mehr in einem Kulturprogramm, in einem Theater oder in einem Kino oder in der Literatur etwa: Süßliches, Hohles anbieten oder gar etwas, was schlau vom Richtigen, Wichtigen ablenkt."236* Dazu gehört aber auch die Möglichkeit, „daß eine Arbeit zunächst nur auf eine kleine Gruppe von Menschen wirkt. Und durch diese pflanzt sich dann der Impuls mächtig fort."237 Von solcher Überzeugung238 aus können andere Wege wirkungsvoller literarischer Tragfähigkeit gefunden werden, als sie in den Versuchen vorliegen, Spannungselemente mit Elementen der Information zu verbinden. Das Beispiel des Romans Die Aula, auf dessen gesellschaftliche Rezeption sich nicht zuletzt das von Hermann Kant entworfene Bild des zuständigen Lesers gründet, bestätigt im übrigen die Richtigkeit auch einer auf die Bewegungstendenz im Umgang mit Literatur vertrauenden Kalkulation. Hermann Kant hat betont, daß er darauf aus war, ein lesbares Buch zu schreiben. Dieser Versuch wurde aber nicht in der Kombination etwa von Abenteuer und Sachinformation, sondern in einer ästhetischen Weise realisiert: durch das Erzählen ernster und heiterer Geschichten, durch den Versuch, historisches Selbstbewußtsein in vergnüglicher Weise anzuregen (für welchen Doppelansatz das Komische zeugt), durch Einführung einer Kommentarebene, die das Reflektieren ermöglicht und ästhetisches Denken alltagsnah und in Bewegung zeigt, indem Geschichte neu befragt wird. Dieses Bemühen um „ästhetische Emanzipation" der Leser bewirkte zunächst, daß das Buch keineswegs reibungslos rezipiert wurde: Es wurde beim Erscheinen, wie die damalige Kritik bezeugt, durchaus als schwierig empfunden, vermochte 117
aber offenbar auch einen Lernprozeß in Gang zu setzen: Die Aula wurde mit einer Auflagenhöhe von etwa 800 000 in Breite und Tiefe der Wirkung zu einem der größten Erfolge unserer Literatur. Die Idee des zuständigen Lesers, die im Denken vieler Schriftsteller eine Rolle spielt, erweist unter diesen Gesichtspunkten ihre literarische Produktivität: Sie bindet die literarische Produktion an eine schon vorhandene und entfaltbare Bewegungs t e n d e n z im Publikum der sozialistischen Gesellschaft und trägt dazu bei, mit entsprechenden Mittein diese Tendenz zu verstärken.
Die antirhetorische
Wendung
Genauer zeigen sich die Orientierungen der Ethik des verantwortlichen Schriftstellers erst, wenn die Spezifik beachtet wird, in der sich das auf die Erweiterung der Produktivität des Lesers gerichtete Moment der literarischen Arbeit ausprägt. Von der Ebenbürtigkeit der Autoren und der Leser ausgehend, verbindet es sich heute bei vielen Schriftstellern mit der Kritik an einem pädagogischen und agitatorischen Funktionsverständnis der Literatur und dementsprechenden Wirkungsstrategien. Ehemals, so äußert sich Jurij Brezan in seiner Art der ironischen Verdeutlichung, sei er der Ansicht gewesen, der „Schriftsteller müsse Erzieher und Lehrer sein, Prophet und Gouvernante", eine Art Bibelverfasser oder Architekt für das „Haus Menschenglück". Inzwischen aber sei er „bei jedem Buch eine Stufe vom Lehrerkatheder hinabgestiegen", habe er eine bescheidenere Zielsetzung gewonnen. Heute will er „kein Lehrer mehr sein, schon gar nicht Gouvernante oder Prophet", nur noch „Ohr, Auge und Zunge . . . des einzig legitimen Erziehers der Menschen auf ihrem Weg zum immer menschlicheren Sein: nämlich Ohr, Auge und Zunge des Lebens selbst". Für Brezan heißt diese Idee keineswegs, daß der Schriftsteller sich nun als Spiegel an den Weg des Lebens zu postieren hätte. Er verlangt einwirkende Tätigkeit, und er verlangt Wertung: „Den den Menschen abwertenden Kräften sich entgegenzustellen, halte ich für die w i r k l i c h e Aufgabe des Schriftstellers in unserer Zeit." Er will eine Kunst, „die dem Menschen hilft, und sei es um das Geringste, zu wachsen". So bleibt hier das Programm des Schriftstellers als Mittler des Lebens geprägt von sozialer Aktivität und ist durchaus von der bewußten Intention getragen, anregende Impulse ver118
mittein zu wollen. Es schließt an Früheres an und stellt sich ihm nicht so strikt gegenüber, wie die Formulierungen zunächst vermuten lassen - und Ähnliches läßt sich beinahe immer beobachten, wenn die These von der notwendigen Aufhebung einer pädagogischen Arbeitsweise des Autors vorgetragen wird. Der Schriftsteller hat - Brezan zufolge - Röntgenaugen, er ist fähig, „den AriadneFaden zu finden, an ihm den Leser zu führen und ihm sichtbar zu machen, daß auch die Verworrenheit der sinnvollen Ordnung unterworfen werden kann, daß der Mensch nicht hilflos und verloren Objekt unbekannter und unerkennbarer Kräfte ist." Aber in „bescheidenerer Zielsetzung" wird nun der Platz des Autors, seine Aufgabe, Erkenntnis und Impulse zu vermitteln, festgelegt: „Es gibt keine Heroen, die das Paradies für alle in ihrer Hosentasche herumtragen." 239 Mag die Idee vom Autor als Auge, Ohr, Zunge des Lebens nur eine Sonderform der Rollenbestimmung des Autors sein - allgemeiner ist sicher die darin enthaltene Vorstellung vom Schriftsteller als einem verantwortlichen Mittler. Sie läßt sich mit jeweils bedeutenden Unterschieden auch in den erwähnten Überlegungen Anna Seghers', Hermann Kants, Christa Wolfs, Volker Brauns, Franz Fühmanns und anderer ablesen. Nicht pädagogische Programme wollen diese Autoren abarbeiten, sondern exemplarische Erfahrungen so unterbreiten, daß die Leser durch ihre eigene Aktivität ein erweitertes Selbstbewußtsein erlangen. Die Energie, mit der vielfältig in unserer Literatur gegen eine pädagogisch formierte Literatur und gegen das Konzept des Schriftstellers als Erzieher des Volkes polemisiert wird, richtet sich im allgemeinen nicht gegen eine im weiteren Sinn verstandene, kollektiv sich organisierende erzieherische Aufgabe und Leistungsfähigkeit der Literatur. Sie wendet sich vielmehr gegen Vorstellungen, in denen die Idee von Kunst als Selbsterziehungsmittel des Volkes nicht präsent ist, in denen die Schriftsteller über die Leser erhaben gedacht werden und nicht die Frage aufgeworfen wird, wer die Erzieher erzieht. 240 * Repräsentativ für eine solche Interpretation der Erziehungsfunktion der Kunst, wie sie die sozialistische Ästhetik z. B. der fünfziger Jahre durchaus allgemeiner bestimmte, sind etwa G. A. Nedoschiwin und A. I. Burow. Nedoschiwin setzte zwei Funktionen der Kunst a n : die Erkenntnis der Wirklichkeit und die Erziehung der Menschen. Das Verhältnis der beiden Funktionen wurde folgender119
maßen beschrieben: „Der Künstler erkennt die Wirklichkeit und verkörpert das Resultat seiner Erkenntnis letzten Endes im Kunstwerk. Dieses wirkt auf den Verstand, die Gefühle und den Willen der Menschen ein und formt dadurch ihr Bewußtsein, und zwar in bestimmter Richtung." Die Rolle eines - in klassischer Formel „Ingenieurs der menschlichen Seelen" erreicht der Künstler, die bewußtseinsformende Funktion erlangt die Kunst durch die parteiliche Handhabung des ideologischen Aspekts der Erkenntnis: „Die Kunst erzieht die Menschen, indem sie bestimmte Ideen, bestimmte Ansichten vom Leben einführt und propagiert, indem sie sich auf den Standpunkt einer bestimmten sozialen Gruppe stellt" - und in deren Interesse „das Moment der künstlerischen Idealisierung", der „Übertreibung, Unterstreichung des Wesentlichen, Bedeutungsvollen" anwendet, das Abbild, die künstlerischen Gestalten auf die Stufe der Vorbildlichkeit emporhebt und so den Massenerscheinungen vorauseilt. Wenn der Künstler seine Gestalt solcherart idealisiert, gestaltet er in seinem Werk die Welt um, indem er „direkt oder mittelbar bestimmte Gestalten zur Nachahmung gibt". 241 * Das in kommunikationsspezifischer Hinsicht auffällige Moment ist, daß hier zwischen der Umgestaltung der Welt im Bilde der Kunst und der Umgestaltung der Welt durch die Bilder der Kunst fast ein Gleichheits2eichen steht. Der gedachte Mechanismus der Kunstwirkung - die Nachahmung künstlerischer Gestalten durch den Leser - versperrt den Blick auf die Wechselwirkung, die sich in der Rezeption einstellt, auf den Unterschied der beiden „Umgestaltungen"und damit auf die wirkliche Praxis von Literatur. Diese Theorie hat deutlich eine soziale Grundlage: D i e Kunst eilt dem Konzept zufolge den Massenerscheinungen voraus. Bei A. I. Burow erscheint dieser Aspekt noch deutlicher: Der Künstler ist berufen, „menschliche Charaktere zu .konstruieren' und zu .rekonstruieren' " ; er ist Pädagoge „im .großen', im .wahrhaften' menschlichen Leben, dazu berufen, die Seele, den Charakter, das Antlitz des Menschen geduldig und beharrlich zu erziehen und zu formen". In diesem pädagogischen Optimismus ist der Mensch „Objekt der Umgestaltung" gemäß einem Ideal - und das muß so sein, weil „das Bewußtsein der Menschen hinter der Entwicklung der materiellen Grundlagen des Lebens zurückbleibt". 242 Der Klartext solcher Sätze enthält offenbar die Aussage, daß es nur das Bewußtsein der anderen Menschen, der Nichtkünstler ist, nicht aber das der mit der Zukunft vertrauten Künstler und all derer, die das Ideal kennen, welches da zurückbleibt. 120
D i e entscheidende theoretische Stelle des pädagogisch zu nennenden Kunstprogramms soll verdeutlicht werden: Der Leser erscheint im kommunikativen Akt als Objekt der Aktion des über ihn erhabenen Autors. E r erhält in dem so verstandenen Verhältnis nur eine formale Aktivität zugeordnet, die der „Konsumierung" 2 4 3 des Werkes, die rezeptive Tätigkeit kann daher in den hierher gehörenden Überlegungen vernachlässigt werden. Das Werk erscheint als unbezweifelbar eindeutig - Polyvalenzen seiner Bedeutung kommen in der Verpflichtung des ästhetischen Gebildes auf Erkenntnis und Ideale nicht vor - , und es erscheint als eindeutig wirksam: D i e über den kommunikativen Vorgang hinausreichenden Wirkungen werden nicht als Resultat der Selbstverständigung der Leser, sondern als direkte Charakterkonstruktionen des Autors gedacht. Die Ausklammerung des Lesers als Subjekt des kommunikativen Verhältnisses ist der Punkt, von dem aus das ganze Verhältnis und seine Elemente die bestimmte soziale Form erhalten. Deutlich ist, wie das theoretische Konzept mit dem Gesellschaftsdenken überhaupt verknüpft ist. D i e in unserer Gegenwart an solchen Überlegungen geübte Kritik bezieht sich auf die Idee und Theorie, der zufolge der Künstler kraft welcher besonderer Eingebungen und Einsichten in das „große", „wahrhafte" Leben? - über den anderen Menschen stehen und ihnen Ideale vorhalten könnte. Sie bezieht sich auf die Idee, die Kunstaufnehmenden seien Objekte einer vom Menschengestalter in G a n g gesetzten Maschinerie, und damit auf die Idee, die literarischen Verhältnisse seien eine von den „Heroen" und „Propheten" linear bewirkte Kausalbeziehung. Die polemische Forciertheit, mit der mitunter jetzt eine pädagogische Positionsbestimmung des Autors abgelehnt wird, hat hier ihren wichtigsten Grund. D i e Allgemeinheit nun allerdings, in der solche Kritik vorgebracht werden kann, erweist sich vom Standpunkt einer historischen Betrachtung, vom Standpunkt konkreter geschichtlicher Interessen sozialistischer Umgestaltung als problematisch. Nicht die Frage, ob überhaupt eine pädagogische Position des Autors im literarischen Verhältnis adäquat ist, kann zur Diskussion stehen: Die Entscheidung darüber ist stets auf ein gesellschaftlich und historisch konkretes Verhältnis zwischen Autoren und Lesern bezogen. Wie z. B. die skizzierten Überlegungen von Anna Seghers zeigten, stellt sich ein akzentuiert aufklärerisches und erzieherisches Verhältnis des Autors zu den Lesern und eine von diesem Verhältnis geprägte 121
Literaturfunktion unter bestimmten historischen Bedingungen notwendig ein - wobei heute leichter zu erkennen ist, daß die Wechselwirkung zwischen Werk und Leser prinzipiell gilt und nicht durch die andere Beziehung eines linearen Kausalverhältnisses ersetzt werden kann. Gerade diese Wechselwirkung produktiv zu machen, war das Anliegen der bedeutenden Autoren auch in einer Zeit, in der eine pädagogisch orientierte Literaturfunktion dominant galt. Gezeigt wurde ebenfalls, daß in der gegenwärtigen Wirklichkeit keineswegs alle Bedingungen aufgehoben sind, die eine betonter gesetzte erzieherische Kunstfunktion und ein entsprechendes Autor-Leser-Verhältnis auf den Plan rufen können - auch über den Raum der ja immer sich intentional begrenzenden Kinder- und Jugendliteratur hinaus. (Nur angemerkt werden soll, daß diese Literatur ebenfalls der allgemeinen Tendenz folgt, insofern die besten Arbeiten den jungen Leser auf neue Weise ernst nehmen.) Unter den Bedingungen jedoch eines wachsenden Einverständnisses zwischen Autoren und Lesern muß solches Verhältnis notwendig seine dominante Rolle verlieren und sich in seinem Charakter wandeln. Es verändert sich nämlich historisch im Zusammenhang mit den Entwicklungstendenzen des gesellschaftlichen Bewußtseins, was als „erzieherisch" aufgefaßt wird. 2 '' 4 * Die Schwelle dafür - und dies hat seinen Grund auch in den ideologischen Prozessen der letzten zwanzig Jahre - liegt heute offenbar niedriger als in früheren Phasen sozialistischer Literatur. In welchem Maß und in welcher Richtung dies die Positionsbestimmung und die Adressatenbeziehung von Schriftstellern beeinflußt und welche Folgerungen sich daraus für die Anlage von Themen und Strukturen literarischer Werke ergeben, zeigt am deutlichsten vielleicht für die Prosa die Kritik der eigenen Anfänge, wie sie Christa Wolf, Irmtraud Morgner und Günter de Bruyn vortrugen. Deutlich äußert sich hier das Empfinden von einer funktionell begründeten, wesentliche Bezüge der literarischen Arbeit betreffenden neuen Stufe unserer Literatur während der sechziger Jahre, ein Empfinden, das sich in Eduard Claudius' Wintermärchen auf Rügen (1965) zum erstenmal ankündigte. Die neuen Kennwerte heißen: Realismus im erweiterten Zugriff zur Wirklichkeit und Einverständnis mit dem Leser. Der Zusammenhang von aneignungs- und kommunikationsspezifischen Aspekten des Funktionswandels tritt in der Kritik und neuen Programmbestimmung klar hervor. Als streng problematisierter Hauptpunkt früherer Arbeiten er122
scheint nun, daß dort statt der wirklichen Erfahrung nur ein vorgegebenes Schema bewegt wurde, daß Konstruktionen entstanden aus der „Hemmung, sich selbst zu offenbaren", aus „Angst, Falsches, Unerwünschtes oder Mißverständliches zu sagen",245 daß eindämmende Erfindungen, Fabeln gemacht wurden aus „Angst vor schwer kontrollierbaren Sprengkräften", aus Mißtrauen gegen sich selbst, gegen ein „spontanes, direktes, rücksichtloses Reagieren, ein . . . ungebrochenes Verhältnis zu sich selbst und zu seiner persönlichen Biographie". 246 Mit den Verfahren steht die ehemalige Position des Autors unter Kritik - eine Haltung, in der sich der Schreibende auf der einen Seite als unselbständiger Teil eines Veröffentlichungsapparates verstand und itv der er, auf der anderen Seite, dem Leser gegenüber einen pädagogischen Eifer an den Tag legte.2''7 Polemisch erscheint dies nun als Intoleranz, aus der heraus der Autor der Gesellschaft vorenthält, was er von ihr weiß, und sich statt dessen der Verbreitung frommer Ansichten widmet.248 Sie wird als eine Haltung bewertet, die den „Prozeßcharakter der Wahrheitsfindung negiert", eine „autoritär-didaktische, besserwisserische, überhebliche Haltung, die mit dem Vorgang der Diskussion unvereinbar ist", die die schöpferischen Kräfte des Publikums lähmt, dem Leser wenig Material gibt, darin er „seine Erfahrungen, Kenntnisse, Phantasie" zum Zwecke poetischer Wahrheitsfindung spielen lassen kann. Unter Kritik gestellt werden schließlich spezieller die damit verknüpften ehedem „im Lande kursierenden Ratschläge", Literatur zu machen2® (etwa: das Verlangen nach dem Entwicklungsroman, nach einem positiven Ausgang, nach Totalität, nach einem Heldentyp vom Schlage des Wilhelm Meister, nach Geschlossenheit der formalen Grundstruktur, nach dem allwissenden Autor, nach Erzeugung einer handlichen Moral usw.). Die kontrastierende Argumentation - sie bezieht sich bei de Bruyn auf den Roman Der Hohlweg (1963), bei Christa Wolf auf die Moskauer Novelle (1961), bei Irmtraud Morgner auf die Erzählung Das Signal steht auf Fahrt (1959) - produziert, wie sichtbar wird, überdeutliche Akzentuierungen, dabei zweifellos Übertreibungen im Negativen wie im Positiven. Jedoch: Hier liegen keine objektivierten Urteile, sondern Meinungsbildungsprozesse vor. Was als neu erscheinen sollte, war gerade das Autor-Leser-Verhältnis. „Meine erste Erzählung", so konstatiert Irmtraud Morgner, „ist nicht im Einverständnis mit dem Leser geschrieben." Verständliche Furcht, so sieht sie es heute, sprach damals mit, „die Gedanken der Leser 123
könnten in eine von der revolutionären Linie abweichende Richtung laufen und teuer erkämpfte Errungenschaften in Gefahr bringen". D i e Schriftstellerin merkt an, daß die Erzählung nicht voraussetzte, daß der Leser die politische Überzeugung des Autors prinzipiell teilen könnte: „Sie agitiert ständig von Grund auf, erklärt, warum der Sozialismus besser ist als der Kapitalismus." Diese Feststellung erhält ihren wahren Sinn erst aus dem Kontext, aus der gleichzeitigen Bemerkung, daß sich dies „inzwischen in unserem Land nun wirklich überall herumgesprochen hat". Nicht allein also die Festigung der Autorenposition, das in einem langen Prozeß erworbene individuelle sozialistische Zutrauen zu sich selbst, sondern auch die gleichen Veränderungen im Wirkungsfeld von Literatur machen hier die Bedingungen für das Neue aus: „ D e r Erzählkunst sind gefestigte gesellschaftliche Verhältnisse, die eine gewisse intime Atmosphäre des Einverständnisses zwischen Autor und Leser erlauben, zuträglich." 2 5 0 Man erkennt das Problem: Kritisch betrachtet wird die Fortführung eines Verhältnisses zwischen Autor und Leser, wie es unter der geschichtlichen Voraussetzung eines Niveaugefälles in historischer Einsicht und ideologischer Orientierung eingesetzt worden war. Als zu überwinden gilt eine Beziehung, für die, aus dem permanenten Bewußthalten des Unterschieds zwischen Sprecher und Angesprochenen heraus, eine Haltung des Belehrens, Überzeugens beim Autor, eine dementsprechende Auswahl von Gegenständen aus der Realität, von Themen und Ideen, dementsprechende operativ-appellierende Strukturen und auch eine technische Handhabbarkeit der anzuwenden Mittel charakteristisch ist. D i e Kritik an dem genannten Verhältnis - das am besten wohl ein rhetorisches zu nennen wäre - stellt sich unter methodischem Aspekt als Kritik an einem Doppelspiel im Autorenbewußtsein dar: an der Einführung einer vom Autor eingesetzten, von ihm imaginierten, von ihm selbst aber in sozialer, ideologischer und ästhetischer Hinsicht abgehobenen Bezugsfigur „Leser", auf die hin nun, auf deren vermutete oder gewußte Interessen, Fähigkeiten, Erfahrungshorizonte die wirkenden poetischen Gestalten entworfen werden. Verlangt ist - die Überlegungen zur Aneignungsspezifik resultieren hier sichtbar aus Einsichten in neue kommunikationsspezifische Bedingungen - , daß sich der Autor vertrauensvoll selbst ins Spiel bringt, daß er jene Probleme im Feld der Lebensweise, der nationalen Situation, der Klassenkämpfe auswählt, die er als seine eigene Angelegenheit erfährt, und daß er sein eigenes Gefühl
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für Echtheit, Wahrheit, Dringlichkeit, Bedeutsamkeit beim Aufbau seiner poetischen Gestalten und der Kontrolle ihrer möglichen Wirkungen sprechen läßt. Kurz: Sein eigenes Bewußtsein von den Relevanzen und nicht das Bewußtsein anderer, die er sich vorstellt, soll seine Arbeit steuern. Der vorgeführte Gedankengang macht einsehbar, warum parallel zur Diskussion über die pädagogische Rolle des Autors im literarischen Verhältnis auch die des Schriftstellers als Agitator, der Literatur als Agitation neu befragt werden mußte. Auch für sie ist ein rhetorisches Verhältnis vorauszusetzen. Die literarische Arbeit den Aufgaben der Agitation zu unterstellen heißt, sie auf bestimmte - vorzugsweise politische - praktisch zu lösende Aufgaben zu orientieren, auf die Verbreitung von direkt praktikablen Einsichten, Grundsätzen, Handlungsmaximen. Zugleich beginnt hier - ähnlich wie bei einer Unterstellung der literarischen Arbeit unter pädagogische Aufgaben - eine Haltung zu regieren, in der der Adressatenbezug, der Bezug des Autors auf seine gedachten Leser oder - für den wirklichen Dichter-Agitator, der seine Arbeiten vorträgt - auf Hörer übergreifen wird und dabei einen speziellen Charakter erhält. Die Orientierung auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen prägt dann auf rhetorische Weise die Stoffwahl, den Themenaufbau, den Problemausschnitt, die Art der Behandlung der Widersprüche usw. Und die Direktheit der Publikumsbeziehung prägt auch die Form: In dem Maße, wie das genannte Moment sich durchsetzt, werden auch eigene Formen des Agitatorischen verwandt oder ausgebildet - Formierungsweisen wie das offenkundige Einwirken, die Ansprache, die Belehrung, der Aufruf, die ironische Hinwendung usw. und Formtypen wie das Losungsgedicht, der Song, in der Prosa das Pamphlet, das Flugblatt, die operative Reportage und andere. 251 * Es handelt sich hier um Formen, die im übrigen vom klassischen triadischen Gattungsschema auf Grund der in ihm geltenden Ästhetik der geschlossenen Vollkommenheit, des Eigenwertes der Werke kaum erfaßt werden. Die agitatorischen, operativen Formen und die ihnen zugrunde liegenden Adressatenbeziehungen resultieren aus einer bewußt sozialen und dabei speziellen Aktivität. Besondere Virulenz erhalten sie deshalb in Zeiten offener gesellschaftlicher Kämpfe und in den kämpferischen Bewegungen und stellen so auch eine Hauptachse der sozialistischen Literatur dar. Immer eine Ausprägungsmöglichkeit literarischer Arbeit (nur von einer Ästhetik bezweifelt, der die relative 125
Autonomie der Kunst oder des ästhetischen Bewußtseins das Höchste ist), erhält diese Art Literatur eine besondere Notwendigkeit, möglicherweise Dominanz in konkreten historisch-sozialen Funktionszusammenhängen. Zu diesen gehören auch die Bedingungen, die sich aus dem Miteinander und dem Widerstreit der verschiedenen Formen und Medien der Bewußtseinsbildung in der Gesellschaft und nicht zuletzt daraus ergeben, welche Klasse die Verfügungsgewalt über diese Medien hat. Das Problem der Diskussion ist deshalb auch hier nicht, o b diese Art Literatur ü b e r h a u p t einen gewissen Konzentrationspunkt aller literarischen Bemühungen, den Keim weitgreifender literarischer Neuansätze bilden kann. Es geht vielmehr um die objektiven Chancen des agitatorischen Moments in der Literatur heute. Dabei zeigt sich, daß dem Urteil über die agitatorischen Möglichkeiten der Literatur stets auch ein bestimmtes Bild vom Publikum und von den kommunikativen Bedingungen vorausgesetzt ist. Ein aufmerksamer Beobachter dieses Zusammenhangs wird erkennen, daß die politischen Gelegenheiten und überhaupt das Politische heute eine andere Qualität aufweisen als in früheren Etappen der sozialistischen Bewegung. Er wird auch sehen, daß sich der Stellenwert der Literatur in den Medien verändert hat, und er wird nicht zuletzt anerkennen, daß mit einem veränderten Publikum eine neue Lage entstanden ist, in der „sich Autor und Publikum viel stärker auf einer gemeinsamen politischen, geistigen und literarischen Ebene" befinden, in der von einem „viel tieferen Konnex zwischen Autor und Publikum in einer gewachsenen Gesellschaft" gesprochen werden kann. 252 Diese Situation wandelt sowohl die Rolle agitatorisch bestimmter Literatur im Ganzen der Literatur (indem sie ihr keine dominierende, konzentrierende Stelle verleiht) als auch die Art der agitatorischen Literatur (indem sie dazu führt, daß die Subjektivität des redenden Subjekts stärker ins Spiel gebracht wird). Dies zu bestreiten hieße, entgegen den Tatsachen einen unveränderten gesellschaftlichen Funktionszusammenhang vorauszusetzen. Dies zu bejahen heißt aber nicht unbedingt, die Konsequenzen zu teilen, die etwa Manfred Jendryschik, der hier zitiert wurde, aus seinen Beobachtungen zog. Gemeint ist die Neigung, der Agitation prinzipiell Vereinfachung zuzuordnen, die Vereinfachung des agitatorischen Blicks auf die ganze sozialistische Literatur bis zum Beginn der sechziger Jahre oder später auszudehnen und als deren Überwindung z. B. eine psychologische Prosa anzusehen. 253 * Eine solche Alternative verrät, daß es in Teilen unserer Literatur
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bei der Kritik des Agitatorischen nicht allein und nicht primär um das methodische Prinzip, um das rhetorische Verhältnis geht, sondern auch und vor allem um die in ihm bewegten Gegenstände. Es ist offenbar, daß im Zuge der Herausbildung der neuen Literaturfunktion auch Verluste eingetreten sind: Eine sich verstärkende Neigung zum Verzicht auf bedeutende öffentliche, politische Gegenstände gehört dazu, und die Ablehnung agitatorisch bestimmter Literatur kann ihre ästhetische Ausdrucksform sein. Genauer betrachtet handelt es sich dabei aber um zwei nicht unbedingt zusammenhängende Sachverhalte. Volker Brauns Überlegungen zeigen dies. Bei ihm kommt die Möglichkeit einer nichtrhetorischen Literatur in Sicht, die sich an großen politischen Gelegenheiten entzündet. Volker Braun bestimmt sich unbezweifelbar als ein eingreifendpolitischer Dichter. Aber auch er notiert Wandlungen der politischen Literatur, die gerade das agitatorische Moment betreffen. E r setzt sie mit einem veränderten Verhältnis von Öffentlichem und Privatem in der Subjektivität des Dichters wie der sozialistischen Gesellschaft in Verbindung und dabei auch mit einem sich verändernden Verhältnis des Autors zum Leser. Sein Anliegen ist es, das Öffentliche so zu verpersönlichen, daß es keine abstrakte Sache bleibt, „was den Adressaten wie auch den Sprecher betrifft". Als „guter Bekannter" will er reden, in einem „Sprechen von Mund zu Mund". 254 Und von hier aus formuliert er ein Programm einer nichtagitatorischen politischen Poesie: „Die politische Poesie (als die sich die sozialistische ja begreift), als wachsames Korrelat dieses Prozesses (der Ausübung der Macht durch die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten - D. S.) wird also auch universaler, verliert ihre besondere Funktion; die entwickelte Gesellschaftsstruktur führt zu einer entwickelten Struktur der Dichtung. Es geht ihr nicht mehr um Menschen, die sich f ü r d e n e i n e n Z w e c k erheben, nicht mehr um diese eine beschränkte Funktion der Klasse, die Aufrüttlung, Agitation brauchte. Es geht um die arbeitenden, planenden, genießenden Leute in ihrem umfänglichen Kampf mit der Natur, vor allem ihrer eignen, der sozialistischen Gesellschaft. Denen braucht man nicht mit Parolen kommen, denen braucht man überhaupt nicht kommen. Die sind wir, sie sprechen sich in unseren Gedichten aus und zu - mit den fordernden, lachenden, traurigen Stimmen, die sie jetzt haben." 255
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Literatur als Selbstzweck Das positive Programm, das der antirhetorischen Wendung, der Diskussion der unterhaltenden, pädagogischen, agitatorischen Literatur zugrunde liegt, ist das Bestehen auf der Notwendigkeit einer ästhetisch formierten und wirkenden Literatur. Dieses Motiv tritt - auch mit problematischen Konsequenzen - in den Überlegungen deutlich hervor, die der Literatur einen Selbstzweck zuordnen. „Die Poesie", so kann man etwa hören, „hat keine Zwecke; sie hat einen alleinigen Zweck, das Mündigwerden des Menschen, d. i. die Erlangung seines Rechts auf Verwirklichung seiner sämtlichen Möglichkeiten . . . Diesen alleinigen Zweck aber erreicht sie nur, wenn sie vom Begriff der Zweckmäßigkeit überhaupt absieht und allein um ihrer selbst willen handelt." 256 Oder es heißt, daß das Gedicht „in einer Welt der Zweckdienerschaft und maximaler Nützlichkeit keinen direkten Zweck erfüllt", daß es weder „den Zweck der Unterhaltung noch den der Information, noch den der Entspannung" hat: „Der Zweck des Gedichts . . . ist sein Leser, der, indem er sich mit dem Gedicht befaßt, sich mit sich selber zu befassen genötigt wird." 257 Man versteht, was gemeint ist: Wird hier von einem „direkten Zweck" oder von „Zwecken" gesprochen, so ist ablehnend der engere Begriff eines speziellen Nutz- und Verwertungszusammenhangs gemeint. Der Terminus „Zweck" dagegen meint einen letzten Zweck. Gedacht wird eine Literatur, die - genußvoll oder streng - als allgemeine, höhere, freie menschliche Kraftentwicklung fungiert, die aber nicht als Mittel in jenen Tätigkeiten wirkt, welche, um hier mit Marx zu reden, selbst „durch Not und äußere Zweckmäßigkeit" 258 bestimmt sind. Es geht um eine Literatur, die sich - wie die Präzisierungen der Autoren zeigen - von Anweisungen freimacht, welche Kunst in solcher äußeren Zweckbeziehung halten, welche sie als Mittel wieder nur Mitteln des letzten Zwecks zurechnen, dem „Mittel" der politischen Revolution etwa oder der (zwischen dem Gesamt der Gesellschaft und dem Alltag stehenden) Industrie; welche ihr als Dienst aufgeben, spezielle praktisch-gesellschaftliche - politische oder ökonomische - Aktivitäten 259 zu erzeugen. Damit ist keineswegs das Prinzip einer Zweckleere gesetzt. Zwar kann mitunter provozierend davon gesprochen werden, daß Poesie „um ihrer selbst willen" handeln soll oder daß „Literatur . . . nicht zu einem Zweck geschrieben" wird. 260 Doch geht es in der Tat stets um einen Zweck, und der ist nicht die Kunst als Gebilde. Er wird vielmehr als Selbstverwirk 128
lichung des Menschen (gefaßt als individuelle Selbstbetätigung oder als Prozeß menschlicher Emanzipation), als ein autonomer, als menschlicher Selbstzweck vorgestellt. In dreifacher Richtung lebt hier nicht nur die Terminologie der klassischen Ästhetik, sondern auch ihre Hypostasierungsart fort. Erstens. Der Selbstzweck, der der Kunst zugeordnet wird, und die Zwecke, die der wirklichen gewöhnlichen Praxis beigegeben werden, lassen sich nur dann so scharf trennen, wenn man der Überzeugung ist, daß der Raum der praktischen industriellen und politischen Tätigkeit von Entfremdung bestimmt ist, daß vorläufig nur im Raum der ästhetischen Tätigkeit Selbstverwirklichung möglich sei. Dieser Tätigkeit wird daher in bezug auf das menschliche Wesen ein höherer Rang zugeordnet als der Tätigkeit in der materiellen Produktion und in der Gesellschaftsorganisation. Was die Kunst in der gegebenen Situation, der in ideologischer Hinsicht zugleich oft eine Art allgemeiner Utilitarismus und Rationalismus unterstellt wird, leisten soll, das kann dann nicht anders bestimmt werden als ein „Windhauch aus Utopia" 261 , als „Vorwegnahme einer humanisierten Gesellschaft und Natur" 262 . Ihre ästhetische Wirksamkeit vermittelt sich durch positive oder negative Gestalten, die in kathartischen Akten intuitive Evokationen einer Totalität des Menschen erzeugen. Zweitens. Versteht man unter Zweck nicht einfach die konnotierte Bedeutung des Nutzens, sondern strenget ein Ziel, auf das sich Subjekte durch Mittel beziehen, erweist sich, daß in der Rede von einem Zweck „der Literatur" diese Literatur als ein selbständiges Subjekt aufgefaßt wird, welches Zwecke verfolgen (oder nicht verfolgen) mag, oder daß ihr ein vereinheitlichtes Subjekt Menschheit unterlegt wird, das sich der Literatur zu dem oder jenem Zwecke bedienen (oder nicht bedienen) könnte. Die Literatur untersteht aber keiner solchen Teleonomie. Sie umschließt als ein widersprüchlicher gesellschaftlicher und historischer Prozeß Beziehungen, in denen als Subjekt nicht eine literarisch tätige „Menschheit" oder deren Singular, „der Mensch" in seiner literarischen Tätigkeit, wirkt. Was in ihr jeweils als Zweck erscheint, kann nichts anderes sein als eine mögliche Funktion dieser in dialektischen Wechselprozessen zwischen Angebot und Gebrauch sich herstellenden Beziehungen, eine Funktion, die unter bestimmten Bedingungen sich entwickelt, niemals „rein", wohl aber charakteristisch auftreten, von bestimmten Interessen her mit einem positiven Wertakzent versehen und auch als subjektiver Zweck verfolgt werden kann. Der absolute Zweck der 9 Schlenstcdt
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Literatur ist eine anthropologische Konstruktion. Leicht läßt sie die historischen Voraussetzungen des wirklichen Prozesses und die Aktivität der wirklichen Subjekte in der ahistorischen Anonymität eines verselbständigten Wesens verschwinden, von dem aus dann alles, was ihm nicht entspricht, als Verzerrung dieses Wesens bekämpft werden kann. Drittens. Es kann der Literatur ein „Selbstzweck" - also eine Beziehung, in der Subjekt und Ziel zusammenfallen und in der als Mittel die Lebenstätigkeit des Subjekts wirkt - nur zugesprochen werden, wenn man die in ihr sich herstellenden gesellschaftlichen, kommunikativen Beziehungen in einer Art Lebenstätigkeit der Gattung Mensch zusammenschließt. Dies ist denkbar. In den konkreten literarischen Beziehungen muß aber differenziert werden. In der Literatur gilt eine Verschiedenheit der - an verschiedene Individuen bzw. Gruppen gebundenen - literarischen Tätigkeiten von Produktion, Distribution und Rezeption und folglich auch eine Verschiedenheit der Zweckbeziehungen in den jeweiligen Bereichen: Im Hinblick auf die distributiven Tätigkeiten ist es sinnlos, von einem Selbstzweck zu reden; für die literarische Produktion kann ein Selbstzweck nur postuliert werden, wenn die Tätigkeit auf den Schreibenden zurückbezogen bleibt; im Bereich der Aneignung von Literatur wirkt der Leser als sein eigener Zweck, aber diese Tätigkeit ist ihm vermittelt. Theoretische und ideologische Zusammenhänge einer Auffassung, die der Literatur die Zwecke verbietet, werden im Vergleich mit der ästhetischen Theorie der klassischen Philosophie deutlich. Hegel z. B. hatte sein Programm vom Selbstzweck der Kunst theoretisch unter der objektiv-idealistischen Prämisse durchführen können, daß in ihr eine Stufe des zu sich selbst kommenden Geistes zu sehen sei. In der für die „moderne Bildung" durchgreifend gewordenen, als Entfremdung verstandenen Situation der Entgegensetzung dessen, „was a n u n d f ü r s i c h , und dessen, was äußere Realität und Dasein ist", hatte er die Wahrheit in der „Versöhnung und Vermittlung" der Gegensätze bestimmt und dieser Wahrheit als Zweck auch die Kunst gewidmet. Er konnte deshalb das künstlerische Werk, das solche Vermittlung leistet, getreu der vorausgehenden poetologischen klassischen Werkidee, zu einem Sein erhöhen, das in seiner Vollkommenheit und Totalität ruhig sich selbst erhält, das als Darstellung und Enthüllung der Wahrheit in sinnlicher Gestaltung seinen Zweck in sich hat. Es war ihm nicht Mittel, nützliches Werkzeug zur Realisation eines außerhalb des Kunstbereichs selbständig für sich 130
geltenden Zwecks; Zwecke wie Belehrung, Reinigung, Besserung des Publikums sollten dem Werk in seinem Wesen ebensowenig eigen sein wie an den Autor gebundene Zwecke des Gelderwerbs oder des Strebens nach Ruhm und Ehre. Für eine solche Ästhetik war die Frage nach der Beziehung der Kunst zur wirklichen Praxis nicht entscheidend: Die Enthüllung der Wahrheit im genannten Sinn war selbst schon als eine Art Praxis bzw. ihre Vollendung gedacht, als „das an und für sich Vollbrachte und stets sich Vollbringende", als eine bloß ideelle Praxis, welche - in der Zwiespältigkeit des Lebens und Bewußtseins, in einer sowohl zur Partikularisation als auch zur Abstraktion drängenden Zeit - die Auflösung der Gegensätze des Allgemeinen und Besonderen, des Geistigen und Sinnlichen, der Pflicht und des Gemüts, der Notwendigkeit und der Freiheit usw. immer schon i s t. 263 Und in dieser Ästhetik war auch der kommunikative Charakter der Kunst nicht problematisch (obwohl in ihr galt, d a ß das Kunstwerk einer produzierenden subjektiven Tätigkeit bedarf, als Produkt derselben für anderes, für die Anschauung und Empfindung eines Publikums, als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht für sich, sondern für uns da ist, ein „Zwiegespräch mit jedem, welcher davorsteht" 264 ) : „Die Kunst" wurde letztlich als ein vereinheitlichtes Schaffen vorgestellt, in dem der Künstler - und nicht weniger der Kunstaufnehmende bei der Kontemplation der Wahrheit - nur gleichsam „die Form ist für das Formieren des Inhaltes, der ihn ergriffen hat" 265 . Der historisch-funktionale Sinn solcher ästhetischen Theorie wird über Hegel hinaus - an der Art der Hypostasierung der ästhetischen Tätigkeit, der dadurch ermöglichten Trennung der ästhetischen von den real-praktischen, der ästhetischen von den sozial-kommunikativen Aktivitäten sichtbar. Unter den Bedingungen des Entstehens der modernen Klassengesellschaft lag er darin, die Idee einer Kunst zu etablieren, die den partikularen Interessen konkreter Individuen, Gruppen, Klassen entzogen, aus dem Nutzungsverhältnis des sich entwickelnden Kunstmarktes, aus der Problemsituation des allgemeinen Geschmacks ebenso entbunden sein sollte wie aus den Verwertungszusammenhängen einer bornierten Ideologie, Moral und Staatsräson. 266 In der sich äußernden Utopie wurde die Kunst dem unbeschränkten Interesse der menschlichen Gattung, ihrer allgemeinen Selbstverwirklichung unterstellt. Über ihre utopischen Momente konnte diese ästhetische Theorie - in unaufhebbarem Widerspruch zu ihren oft kritischen, Zukunftsentwerfenden Intentionen und Wirkungen - im Verlauf ihrer eigenen Entwicklung beitragen, das zu 9*
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begründen, was später „affirmative Kultur" genannt wurde (darin übrigens zugleich die Interessen und Illusionen der „Denker" sichernd, die, „innerhalb der Entfremdung sich bewegend", nur im allgemeinen Dasein der Menschen, in Kunst, Literatur usw. die Wirklichkeit der menschlichen Gattungskräfte zu fassen wußten, die nicht die wirkliche Praxis als historischen Prozeß der Herausarbeitung menschlichen Wesens begreifen konnten, die davon als „gemeinem Bedürfnis" „vornehm" abstrahierten267). Das Bestreben, „die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Weltreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen", hatte, so heißt es bei Herbert Marcuse, als entscheidenden Zug die „Behauptung einer allgemein-verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ,von innen her', ohne jede Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann."268 Es ist augenfällig, daß - modifiziert - einige dieser kunstideologischen Motive in der neueren ästhetischen Theorie weiterwirken. Die Tradition ist lebendig, weil es Bedingungen gegenwärtigen Lebens gibt, die ihr vergleichbare Überlegungen hervorbringen. So gründet z. B. Günter Kunert Literatur auf eine allgemeine Widerspruchsstruktur „zivilisatorischer" Epochen (auf Bedingungen, die auch im Sozialismus gelten). Die sozialen - ökonomischen, politischen, ideologischen - Unterschiede der Menschen sind in diesem Konzept nur Akzidentien, nur Rollen „des Menschen", derart aber, daß sie seine Ganzheit zerstören, seine Fülle dezimieren und seine Sehnsucht nach Ganzheit und Fülle wachsen lassen. Hier setzt die poetische Arbeit an. Sie erzeugt ein allgemeines individuelles Bewußtsein von Totalität, das schon als Selbstverwirklichung gedacht wird. Nur wo über die entpersönlichende Verdinglichung in der „totalen Spezialisierung, ergo Spaltung des Erdenbürgers" ein Bewußtsein von Totalität ahnbar wird, entsteht nach Günter Kunert Dichtung, während nichtästhetische Literatur sich anpaßt, Splitter, Ausschnitte, Torsi liefert, entweder die vorgebliche Unerkennbarkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge oder soziologische Schemata zur Darstellungsweise erhebt und so, als „Nachtrab-Literatur",269 nur Reduktionen gibt. Dichtung wird hier als mahnender Verweis auf ein menschliches Optimum aufgefaßt. Das Programm ist humanistisch seine Basis aber ist der allgemeine Mensch. Die Literatur auf die realen Zwecke dieser Gesellschaft zu orientieren heißt hier, im Rahmen der Funktionalisierung des partikularisierten Menschen zu blei132
ben und eine Reduktionskunst zu proklamieren, die selbst jene nicht erreicht, die sie erreichen will. 270 * Günter Kunert wirft das aneignungsspezifische Problem der ästhetischen Bewußtseinsart charakteristischerweise zugleich als kommunikationsspezifisches Problem auf. Hierbei zeigen sich dann stets die aktuellen Steuerungen der ästhetischen Allgemeinheiten. Die Kritik gilt einer Literatur, von der angenommen wird, sie halte - sei es durch Unterstellung unter bestimmte operative Zwecke, sei es durch ihre Ausrichtung auf Unterhaltung - die Menschen in ihren entfremdeten Rollen fest. Dieser Vorwurf hat in der Kritik der Zwecke den gemeinsamen Punkt; umgekehrt ergibt sich die Kritik der Zwecke in der Literatur gerade aus der Kritik an Adressatenideen, „Gespenstern" und „Phantomen", die Günter Kunert nur ansatzweise für real hält, die er aber doch im literarischen Leben umlaufen sieht: an „Konsumenten" und „aktivistischen Automaten". Was zu den literarischen Konsequenzen des Konsumententyps gesagt wird, wurde bereits zitiert. Der zweite Typ wird folgendermaßen beschrieben: „Bei diesem handelt es sich um eine Art aktivistischen Automaten: Man wirft oben etwas Literatur ein, und unten kommt eine Produktionssteigerung heraus; ein progressiver Flaschenteufel, den man nur mit dem Zauberspruch des dichterischen Wortes anzurufen braucht, schon krempelt er die Ärmel auf, um das Wort in die produktive Tat umzusetzen; dieses irreale Wesen wird fortschreitend substanzloser, und das kann man getrost einen Fortschritt nennen." Die Schlußfolgerung lautet: „Beide Typen von Lesern, zwar gänzlich unwirklich, können doch ziemlich reale Auswirkungen haben, falls der Gedichteschreiber sie auf ihren fatalen Anspruch ernst nimmt und sich ihm beugt. Schreibt er für sie, dürfte er in kürzester Zeit keinen wirklichen Leser mehr haben." 271 Der wirkliche Leser nämlich hat - nach Günter Kunert - andere Erwartungen. Auf diese, wie er sie an sich selbst beobachtet,272 will er die Kunstarbeit orientieren. Folgende Momente führt er als Begründung an: Erstens liest der Leser heute Literatur nicht auf „Information über gesellschaftliche Zusammenhänge" hin; „fünfundzwanzig Jahre Aufklärung über die sozialen und ökonomischen Bedingtheiten gesellschaftlicher Bewegungen" lassen ihm das müßig erscheinen: „historischer und dialektischer Materialismus sind Lehrstoff, Brecht steht in allen Lesebüchern, und über die sozio-ökonomischen Voraussetzungen des eigenen Lebens ist sich der Leser im klaren." Zweitens lebt der Leser nicht mehr in Zeiten eines „extrovertierten Daseins"; die Befriedigung seiner materiellen Be-
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dürfnisse ist ihm nicht mehr das wichtigste. Dies macht ihm eine Leerstelle seines Lebens spürbar: In areligiöser Zeit hat der Leser nichts, woran er seine „metaphysischen" (sprich: die über die materielle Reproduktion des Daseins hinausgehenden) Bedürfnisse stillen könnte. Dieses Bedürfnis nach, wie es heißt, „diesseitszugewandter Transzendenz" kann nur durch Kunst befriedigt werden. Drittens ist der Mensch unter den Bedingungen seiner Entfremdung (verstanden als Dezimierung existentieller Fülle, Vereinzelung der Kräfte unter der Herrschaft der ökonomischen Funktionen) auf Totalität und Selbstverwirklichung aus; deren Ahnung kann - mit ihren Fragen und Antworten zum „Sinn des Seins" - Kunst vermitteln. D e r Leser ist für solche Literatur gerade in der sozialistischen Gesellschaft offen - gleich, wie immer man solche Offenheit auch interpretieren möchte: ob als eine sensible Reaktionsfähigkeit und innere Freiheit, die damit zusammenhängt, daß der Leser im Sozialismus im Gegensatz zu den bürgerlichen Gesellschaften dem sozialen Rollenspiel weniger verpflichtet ist, oder ob als Verlangen nach Ersatz für ein mangelndes Konsumangebot (u. a. geistiger Güter), als Reaktion im Ungenügen einer Zeit, da Öffentlichkeit lediglich kanalisiert erscheint, da eine materielle Sinngebung des Daseins (im Sinne der materiellen Bedürfnisreproduktion) herrscht. 273 E s muß einschränkend gesagt werden, daß hier nur e i n e Art der sozialen Interpretation der ästhetischen Funktion vorliegt - nicht die aller Konzepte ästhetischer Literatur. D i e Entschiedenheit, mit der Peter Hacks z. B. den Sozialismus der Gegenwart als willkommenen Boden für ein ästhetisches Theater begrüßt, steht offenbar konträr zu der Entschiedenheit, mit der Günter Kunert in der gleichen Gegenwart einen Anlaß für eine Literatur erblickt, welche zivilisatorische Deformationen sichtbar machen soll. Doch sind hier aufschlußreich einige allgemeiner geltende Motive formuliert. Sie erklären auch genauer, weshalb vom Konzept einer ästhetischen Literatur aus dem Konzept einer operierenden Literatur widersprochen werden muß - dem Versuch, praktikable Einsichten durch Offenlegung des konkreten gesellschaftlichen Bedingungszusammenhangs individuellen Tuns zu übermitteln; Lust zur konkreten Veränderung der Welt zu machen durch Modelle der Veränderbarkeit dieser unserer Wirklichkeit; dem Bestreben, solchen Wirkungen durch „Fundierung auf Politik" oder (was bei gleichartigem Denkansatz im Sozialismus notwendig entstehen mußte) durch „Fundierung auf Produktion" 2 7 4 * historische Bestimmtheit zu geben. 134
Die Literaturdiskussion wirft die Frage nach der Kommunikationsspezifik einer ästhetisch fundierten Literatur nun aber noch in einem spezielleren Sinne auf. Solange pauschalisierend ein Selbstzweck „der Literatur" vorausgesetzt wird, muß die wirkungsästhetische Dimension der literarischen Arbeit zum Problem werden. Die Orientierung auf Wirkung bei Lesern steht nämlich im Gegensatz zur Idee des Selbstzwecks insofern, als mit ihr ein - jetzt kommunikativer - Zweck erscheint, der außerhalb der Selbstzwecktätigkeit des literarisch Aktiven liegt. Reagiert wird auf ein Problem, das sich solcherart in der klassischen Ästhetik nicht stellte - insofern sie die Kunst als verselbständigtes Schaffen des Geistes oder als künstlerische Tätigkeit der Menschheit verstand und den Selbstzweck der Kunst damit wesentlich auf die menschliche Gattung bezog. Soll im Zustand der zerbrochenen Einheit der klassischen Ästhetik und ohne ihre objektiv-idealistischen Krücken am Selbstzweckcharakter aller künstlerischen Tätigkeit festgehalten werden, so ist dies bei einiger Konsequenz nur durch eine Individualisierung des Selbstzwecks möglich, durch seine Interpretation als Weise zunächst der Selbstverwirklichung des künstlerisch produzierenden Individuums. Umgekehrt folgt daraus auch das Verbot von Adressatenbeziehungen in dieser Tätigkeit und (im rigorosen Fall) auch der Verzicht auf die Auffassung von Literatur als einer Kommunikation. Tatsächlich gibt es im Nachdenken einiger Schriftsteller eine Tendenz, die genau auf dieser Linie liegt. Diese Tendenz soll im folgenden aus komplexeren Überlegungen herausgeschält und damit zunächst einseitig dargestellt werden: Konsequenzen des Ausgesagten werden so deutlich erscheinen. Authentisch spricht z. B. Franz Fühmann von seiner Überzeugung, daß ein Gedanke an Leser beim Schreiben nicht mitwirken dürfe. Poesie ist Magie: „Das Gleichnis will mich nicht manipulieren, denn der, der es schuf, dachte nicht an mich Ihm war ja sein Titus gestorben, nicht mein Gajus; er wollte die Wirklichkeit s e i n e s Leides bewältigen, indem er sie im Gleichnis zusammenzog, um sie fassen zu können, und da er sie also im Abbilde bewältigte, befreite er sich auch real von ihr." 275 Oder an den strengeren Stellen des Programms von Günter Kunert gilt der Satz, daß der Autor, in seinem Fall der Lyriker, ein Geschöpf extremer Individualität ist, „das Gedichte absondert" in einer zwanghaften, manischen, fast physischen Lebensäußerung, ohne Wahl, für wen er schreiben wolle: „So schreibt der Lyriker primär weder für andere noch für sich 135
allein, er schreibt einfach, weil er keine andere Möglichkeit hat, mit der Welt und mit sich fertig zu werden." 276 Oder: Christa Wolf sieht die Grundlust ihres Schreibens in der Erfahrung begründet, daß sie sich auf diese Weise am ehesten den ihr „gemäßen Lebensraum" zu schaffen vermag. 277 „Nützlicher", als auf das Werk als ein Objekt zu starren, scheint es ihr, „das Schreiben nicht von seinen Endprodukten her zu sehen, sondern als einen Vorgang, der das Leben unaufhörlich begleitet, es mitbestimmt, zu deuten sucht; als Möglichkeit, intensiver in der Welt zu sein, als Steigerung und Konzentration von Denken, Sprechen, Handeln. Ein Vorgang, der auch gewisse Teilergebnisse hervorbringt,, die man drucken kann (und von denen - last not least - der Autor leben kann)." 278 Im einzelnen sind dies unterschiedlich gedachte Ansätze: Leidbewältigung, Identitätsfindung, Daseinssteigerung. Doch sind sie strukturell vergleichbar - sie beziehen sich auf eine poetische Tätigkeit als ein gesteigertes, bewältigtes, bei-sich-seiendes Leben, in dem schon das Mittel Zweck ist. Verwandt sind sie deshalb auch dadurch, daß sie das Schreiben zunächst in den Kreis der Individuen legen, die da ästhetisch produzieren. Es sei verdeutlicht, was in den bisher nachgezeichneten Überlegungen ausgesagt wird: Im Schreiben, erstens, spielt sich eine Weltauseinandersetzung und Selbstbestimmung des Schreibenden ab; seine Tätigkeit ist auf ihn selbst bezogen; er schreibt, und er erfährt die Rückwirkungen der ästhetischen Tätigkeit oder ihrer Resultate. Das heißt auch, daß die poetische Tätigkeit, von den Intentionen des Autors her betrachtet, nicht zuallererst anderen dient, daß die in ihr entstehenden Werke nicht zuerst anderen bereitete Veranstaltungen sind. D a ß dies im einzelnen so sein kann, soll hier nicht bestritten werden. Indem das literarische Schaffen aber primär in den Zirkel des Schreibenden eingeordnet, nicht primär als gesellschaftliche Austauschtätigkeit gedacht wird, entsteht eine Vorstellung vom Charakter der Literatur, die die wirklich in ihr herrschenden Beziehungen verkehrt: Was historisch gesellschaftliches Produkt ist, Ausbildung innerer Fähigkeiten, die aus der geschichtlichen Interiorisation kollektiver Tätigkeiten herrührt, Verselbständigung der schöpferischen Arbeit zu einem von ihrer sozialen Wirksamkeit getrennten Akt das gerade wird zum (manchmal durchaus naturhaft aufgefaßten) Ausgangspunkt der poetischen Tätigkeit. Als sekundär erscheint dagegen, weshalb der gesellschaftliche Gesamtarbeiter sich eine literarische oder überhaupt ästhetische Spezialfunktion „leistet", näm136
lieh als Spezialfunktion produziert und ständig reproduziert - ein Umstand, der in den modernen Klassengesellschaften überhaupt erst erklärt, wieso eine Gruppe von Menschen die Möglichkeit erhält, sich einem gesteigerten Leben gänzlich widmen zu können. Von hier aus, zweitens, kann auch der Gedanke entstehen, daß es auf das Werk gar nicht ankomme. Wird nämlich die kommunikative Funktion der poetischen Arbeit, ihre Richtung und Wirkung auf andere sekundär, so kann auch das Werk zweitrangig werden. Unter kommunikativem Aspekt betrachtet, dient es ja der Vermittlung des ästhetischen Verhaltens an andere, die - unter Verhältnissen, die nach Mitteln verlangen, welche über das Elementare der Wirkung menschlicher Stimme und Gestik in gleicher Situationsbindung hinausführen - anders als über solche Vergegenständlichungen nicht allgemeiner in Verbindung treten könnten. Unter dem Postulat des Selbstzwecks der literarischen Tätigkeit, die nach dem Modell einer individuell betriebenen geistigen Schau konstruiert wird, kann auch das Werk als Mittel des Verkehrs dem Autor äußerlich werden, kann die Idee entstehen, daß das Werk als Vergegenständlichung des lebendigen Lebens in Worten, als Selbstverwirklichung solcher Art auch eine Niederlage sei, eine Veräußerlichung und Fortgabe gerade dessen, was gewonnen werden sollte. Schroff gesprochen: Diese Wendung wirft die Frage auf, ob wir es in den hier besprochenen Strängen der poetologischen Reflexion nicht mit dem Programm einer Kunst für den Künstler zu tun haben, einem Programm, das außerhalb der Literatur kollektiver Verständigung steht. Kein Zweifel, daß manche der zitierten Formeln eine solche Interpretation nicht ausschließen. Kein Zweifel aber auch, daß die Autoren eine gemeinschaftliche Funktion von Kunst vor Augen haben, wenn sie ihr Programm formulieren. „Ich muß Literatur für mich machen", sagt etwa Helga Schütz, „ich muß das aufschreiben, was mich betrifft. Glaube aber, daß es dadurch auch andere betrifft, eben weil ich von dieser Welt bin."279 Das Fernhalten von Adressatenbeziehungen aus der Idee künstlerischer Tätigkeit erklärt nur die besondere Form, in der diese gemeinschaftliche Produktion realisiert werden soll. Franz Fühmann erläutert, daß in der autokathartischen Funktion der Kunst der Keim ihres überindividuellen Daseins liege: „Der sein Gleichnis formt, um s e i n Leid zu bewältigen, stellt es zugleich zum Gebrauch für seine Brüder und Schwestern bereit, die der Gabe 137
solchen Artikulierens nicht fähig sind, und er hilft ihnen in eben dem Maße, in dem er rückhaltlos sagt, ,was ist'." 280 Der kommunikative Charakter dieses Sagens ergibt sich in Fühmanns Auffassung nicht aus einer speziellen kommunikativen Intention; er stellt sich im Wirken der Resultate der ästhetischen Aktivität in der Art her, wie diese Produkte wieder eine ästhetische Aktivität ermöglichen. Gerade hierin liegt in diesem Konzept der allgemeine Sinn von Kunst: Sie - als Mythos - „macht es möglich, die individuelle Erfahrung, mit der man ja wiederum allein wäre, an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen" 281 . Ähnlich verknüpft Günter Kunert die Gegensätze. Er meint, die poetische Arbeit sei eine „Art naturhafter Vorgang" 282 , in welchem der Dichter kein direktes Ziel verfolgen, wohl aber Anstöße für andere geben kann. Dichtung erlangt eine Funktion, wenn Leser das „Extrem menschlicher Ausdrucksfähigkeit und Selbsterkenntnis . . . zu ihrem Ausdruck, zum Mittel ihrer Selbsterkenntnis und ihres Sich-selbst-bewußt-Werdens machen" 283 : Das Außerordentliche erweist sich dann als exemplarisch, das vorgeblich Besondere als Allgemeinbesitz, das Private als gemeinschaftlich. Das Gedicht wird auf diese Weise als ein Katalysator allgemeinen Sinns gedacht. Der Vorgang des Gedichtschreibens und Gedichtlesens ist deshalb auch „Kommunion": Auf beiden Seiten vollzieht sich eine Vereinigung „des Menschen" mit sich selbst in seiner Wesentlichkeit. So wird auf der Ebene des gesellschaftlichen Funktionierens von Literatur in der Tat anerkannt, was auf der Ebene des literarischen Schaffens, seiner Zwecke abgelehnt wird: der kommunikative Charakter von Literatur, ein Zusammenhang, der sich im Zueinander von Machen und Brauchen, von Suchen und Finden künstlerischer Werke realisiert. Und anerkannt wird auf der Ebene des gesellschaftlichen Funktionierens von Literatur, was auf der Ebene der poetischen Tätigkeit des Schreibenden zu verschwinden droht: der vermittelnde, d. h. auch instrumentale Charakter der Werke. Dieser Widerspruch der Aspekte ergibt sich, weil hier Literatur vom vereinzelten Ich, nicht aber von der Gemeinschaft her gedacht wird. Nicht daß i c h meine subjektive Erfahrung mitteile, um m i c h zu vergleichen, wie Franz Fühmann vermutet, ist von der Gemeinschaft aus gesehen der Grund literarischer Arbeit, sondern daß, wie derselbe Autor ebenfalls vermutet, in ihr eine Möglichkeit vorliegt, in der w i r diese Erfahrung u n s mitteilen und uns vergleichen. Die Polemik gegen einen instrumentalen oder kommunikativen 138
Charakter der Literatur, die wir in der ästhetischen Programmatik beobachten können, und die daraus resultierenden Widersprüche in den Überlegungen haben ihren theoretischen Ausgangspunkt nicht zuletzt im Verkennen des Umstandes, daß die Eigenschaft, Mittel zu sein oder nicht zu sein, der Literatur nicht an sich, sondern nur in bestimmten Beziehungen zukommt. Spezieller regiert hier jedoch eine idiosynkratische Kritik an Konzepten, die - aus der gleichen Nichtbeachtung des unterschiedlichen Funktionszusammenhangs der Literatur den allgemeinen Charakter eines Mittels verleihen, die die Autoren auf ihn verpflichten wollen oder wenigstens glauben machen wollen, daß das Mittel Literatur im Rahmen der Distribution über die Vermittlungsinstitutionen beliebig handhabbar gemacht werden kann. Tatsächlich ist die Literatur mit ihrer Bindung an die subjektive Erfahrung in Produktion und Rezeption auf die Dauer und bei allen nicht von so beliebiger Handhabbarkeit. Wie immer aber sind Idiosynkrasien auch hier schlechte Ratgeber. Unter ihrer Führung werden mit Blick auf bestimmte kommunikative Verhältnisse - in denen spezielle Zwecke gesetzt und didaktisch, agitatorisch vermittelt werden - leicht theoretische Postulate gewonnen, die sich allgemein gegen den kommunikativen oder den Mittelcharakter von Literatur wenden. Gemäß den tatsächlichen dialektischen Beziehungen in der Literatur und gemäß der tatsächlichen Zugehörigkeit der Autoren des ästhetischen Programms zu einer wirkenden Literatur werden diese Postulate nicht durchgehalten, sie bestärken jedoch den Schein, es sei Bewußtheit über das Wirken von Literatur der literarischen Tätigkeit selbst nicht adäquat. Eingreifende Literatur „nach Brecht" Überlegungen zu ästhetischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten unserer Literatur gibt es nicht erst seit heute. Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre z. B. legten Johannes R. Becher in seinem Tagebuch (1950) und in den nachfolgenden Schriften zur Verteidigung der Poesie, Bertolt Brecht im Kleinen Organon und in den damit verbundenen Bemühungen um ein dialektisches Theater Konzepte vor, die schon auf spezifisch ästhetische Weisen der Weltaneignung und der gesellschaftlichen Bewußtseinsbildung insistierten. In solchem Zusammenhang wurden auch - so etwa von Johannes R. Becher - Einwände erhoben gegen ein Dominieren der Frage, für wen und wozu der Schriftsteller schreibe, und es kann sich heute 139
z. B. Paul Wiens auf Traditionen berufen, wenn er die genannten Fragen abweist.284 In der Skizze über die wirkungsästhetische Orientierung bei Anna Seghers zeigte sich nicht nur ein Wandel im Inhalt der hier zugrunde gelegten Intentionen, sondern schon früh auch eine Einschränkung der Rolle dieses Moments im Konzept der schriftstellerischen Methode. Unter der Dominanz aber von Auffassungen, in denen die Erkenntnis- und Erziehungsfunktion der Kunst vereinfacht wurde, unter den Bedingungen einer in schwierigen, tiefgreifenden und schnellen Umwälzungen sich befindenden Gesellschaft, die Literatur auf Formen direkter Mitarbeit am Aufbau des Neuen verpflichtete, konnten solche Ideen kaum allgemeiner anerkannt und zur Grundlage der Kunstarbeit gemacht werden. Eisler hat 1962 einen Wandel der Kunstauffassungen prognostiziert. Die Verbreitung und dabei auch Differenzierung einer Programmatik ästhetischer Literatur ist inzwischen erfolgt.285 Dabei mußte die Kunsttheorie von Brecht immer dann ein Stein des Anstoßes werden, wenn sich diese Programmatik mit den Konsequenzen der unpraktischen Haltung und Individualisierung im Begriff des Selbstzwecks der Literatur verband. Die bestimmende Rolle, die Brechts Theorie im Kunstdenken unseres Landes seit Beginn der sechziger Jahre erhielt - also gerade in der Zeit, da die Schriftsteller neue Arbeitsprinzipien zu suchen begannen machte sie zur bevorzugten Reibungsfläche. Kommunion, nicht Kommunikation, Katharsis als Zentrum von Kunstwirkung, Appell an den Menschen als moralisches Wesen - solche Thesen stehen nicht nur allgemein gegen Maximen dessen, der nun als Klassiker erscheint; sie sind auch, mehr oder weniger deutlich, mit kritischem Bezug auf Brecht gedacht. Obwohl in dieser Kritik, wie es scheint, die letzte Ausprägung der Brechtschen Theorie, wie sie seit dem Kleinen Organon vorliegt, nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen wird, findet die Polemik in der Gegensätzlichkeit der aufeinanderstoßenden Denksysteme ihren Grund. - Auf den einzelnen Stufen seiner Entwicklung freilich verschieden und erst auf den letzten mit einer gelösteren Dialektik verleiht Brecht der Kunst, insofern sie „eine art [ist] sich in besitz der weit zu setzen vermittels fantasie und emotion" - ausdrücklich gegen Hegel gewandt den Wert gerade eines Mittels. In diesem Konzept wird nämlich an dem Gedanken festgehalten, daß es um die Aneignung der wirklichen Welt und um eine Aneignung, um einen totalen Prozeß geht, in dem Kunst notwendig „sich auf eine phase des aneignungsakts" beschränkt.286* Auch dort, wo Brecht 140
als nobelste Funktion der Kunst die Unterhaltung ansetzt, er also dem Gedanken von der Kunst als Selbstzwecktätigkeit am nächsten kommt, ihre unmittelbar praktische wie belehrende Funktion entschieden relativiert, bindet er sie in den von ihm bevorzugten Formen doch genetisch, thematisch und funktional an die „neue Produktivität" einer kollektiven, auf neuen sozialen Beziehungen gegründeten, zunehmend vergrößerbaren Beherrschung aller menschlichen Verhältnisse. Nah herangerückt an die Lehr- und Publikationsstätten, sich beschäftigend auch mit Lehren und Forschen, sah er ein mögliches Theater ganz und gar als Spiel: Sinnlich und heiter könne es Abbildungen der Gesellschaft machen, welche dazu imstande sind, die Wirklichkeit zu beeinflussen; welche Erlebnisse der Gesellschaft so ausstellen, daß die Empfindungen, Einsichten und Impulse genossen werden können, die die Leidenschaftlichsten, Weisesten und Tätigsten unter uns aus den Ereignissen des Tages und des Jahrhunderts gewinnen. Und er sah eine mögliche Kunst, die, indem sie die Vorläufigketten und Unvollkommenheiten schon zutage getretener Regeln menschlichen Zusammenlebens zeigt, die Zuschauer nicht in eine eingeschüchterte, gläubige, „gebannte" Menge verwandelt, sondern sie über die Kontemplation hinaus produktiv sein läßt, ihnen die Möglichkeit gibt, sich zu produzieren „in der leichtesten Weise; denn die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst".287 Solange sich die ästhetische Kritik auf den Gegensatz von ästhetischer und praktischer bzw. kommunikativer Tätigkeit fixiert, operiert sie - im Zuge der Entwicklung des Kunstdenkens im Sozialismus - zwar zeitlich, nicht aber theoretisch „nach Brecht". Sie bewegt sich dann vielmehr im Rahmen der traditionellen und unter den Bedingungen der Klassengesellschaft auch unaufhebbaren Widersprüche zwischen der Kunst als Mittel und der Kunst als Selbstzweck der menschlichen Produktivitätserweiterung, und dies auf eine Weise, die „vor" den Angeboten der letzten Ästhetik Brechts liegt: Hier nämlich zeigt sich ein Weg, wie diese Widersprüche auf dem Boden realer, gesellschaftlich herausgearbeiteter Möglichkeiten auch gedanklich aufzulösen sind. Ähnliches gilt für die Orientierung auf Adressaten. Die Bindung der Kunst an die totale Entwicklung der Produktivität aller menschlichen Beziehungen ließ bei Brecht durchaus den Gedanken zu, daß in der künstlerischen Tätigkeit auch der Künstler s i c h produziere; sie forderte aber ebenso gebieterisch, daß der 141
Künstler sich als gesellschaftlichen Arbeiter verstand. Brecht lenkte die Aufmerksamkeit darauf, daß durch die „jahrhundertelangen Gepflogenheiten des Handels mit Geschriebenem auf dem Markt der Meinungen und Schilderungen", durch derartige gesellschaftliche Vermittlung der literarischen Tätigkeit bei den Schriftstellern der Eindruck entstanden sei, „sein Kunde oder Besteller, der Mittelsmann, gebe das Geschriebene an alle weiter" - ein Eindruck, der die wirklichen Institutionen und auch Lebensbedingungen der Leute übersprang, welche den Zugang zur Literatur bestimmen - , so daß schließlich „aus dem .jemandem schreiben' ein .schreiben' geworden" sei. Im Versuch, das Bedingungsgefüge der bürgerlichen Literaturverhältnisse zu durchbrechen, forderte er vom Künstler Bewußtheit über den kommunikativen Zusammenhang seiner Tätigkeit und Anstrengungen, ihn von der Seite der Kunstproduktion in Bewegung zu setzen: „ D i e Wahrheit aber kann man nicht eben schreiben; man muß sie durchaus j e m a n d e m schreiben, der damit etwas anfangen kann. D i e Erkenntnis der Wahrheit ist ein den Schreibern und Lesern gemeinsamer Vorgang." 2 8 8 Verfahren sozialistischer Literatur, nicht zuletzt die der eigenen Arbeit verallgemeinernd, formulierte Brecht unter veränderten Bedingungen noch in den fünfziger Jahren als Prinzip, daß sozialistische Künstler sich nicht allein zu ihren Themen, sondern auch zu ihrem Publikum realistisch verhalten: „ D i e sozialistisch-realistischen Künstler berücksichtigen Bildungsgrad und Klassenzugehörigkeit ihres Publikums sowie den Stand der Klassenkämpfe." 2 8 9 E s war dies ein wichtiger Programmpunkt eines funktional aufgebauten Konzepts vom sozialistischen Realismus, das der Kunst von vornherein eine gesellschaftliche Bestimmung zumaß, daher zugleich für Kunstwirkungen nicht mit dem allgemeinen Menschen, sondern mit bestimmten Klassen und bestimmten Epochen rechnete 290 * und dabei zu gewissen Zeiten bis zu einem Programm der Publikumsspaltung 2 9 1 * gelangte. D a s Verlangen, den komplexen Wirkungszusammenhang der künstlerischen Arbeit zu beachten, folgte allgemeiner aus dem Grundsatz, daß sozialistische Kunst kämpferische Kunst ist, die sich „auf die ständige produktive Änderung der gegebenen Zustände und Verhältnisse" 2 9 2 richtet, daher falsche Anschauungen von der Realität und Impulse bekämpft, welche den realen Interessen der Menschen widerstreiten, die richtige Anschauungen ermöglichen will und produktive sozialistische Impulse zu stärken strebt. D i e „Angriffspunkte" solcher literarischen Arbeit zu ersinnen - so bezeichnete 142
Anna Seghers im gleichen theoretischen Zusammenhang das Problem - , schloß notwendig eine Analyse des Standes der historischen Kämpfe, der ideologischen Auseinandersetzungen, damit der von der Literatur zu bedienenden gesellschaftlichen Interessen und der realen Bedingungen dieses Dienstes ein. Das Verhältnis zu dem, worauf die Literatur einwirken soll, ist für die Autoren des genannten Konzepts ebenso wichtig wie das Verhältnis zu dem, was sie zum Gegenstand ihrer Darstellung machen, und in beiden Verhältnissen sind sie historisch-konkret. Mit dem Gedankengang einer dialektischen Rückkehr zur Ästhetik ist eine solcherart bewußt gehaltene wirkungsästhetische Beziehung durchaus vereinbar. Sowohl in den authentischen als auch in den inzwischen zur Mode 293 * gewordenen Formen der Kritik an wirkungsästhetischer Bewußtheit wird der Adressat oft direkt und in dieser Direktheit wohl auch personalisiert gedacht. Solche Adressatenbeziehung ist aber nur e i n e ihrer möglichen Formen. Wie eine indirekte - und damit die allgemeinere - Art der Adressatenbeziehung denkbar ist, deutet Günter de Bruyn an: „Wenn ich schreibe, dann schreibe ich - das merke ich mehr und mehr - aus ständiger Erfahrung als Leser. Ich weiß, was auf mich wirkt, und ich nehme natürlich an, daß dasselbe auf viele andere auch wirkt, daß es bei ihnen zumindest ähnlich ist." 294 D a ß die von Günter de Bruyn zur Stütze seiner Argumentation herangezogene Annahme keineswegs „natürlich", daß sie vielmehr auch in der Entwicklung s e i n e s Denkens ein historisches Produkt ist, wurde bereits gezeigt. Hier kommt es auf etwas anderes an: Das Schreiben kann nicht einfach als Freisetzung eigener Innenwelt und als Selbstausdruck angesehen werden, auch nicht allein als eine Art, mit den Gestalten und in ihren Konflikten zu leben. Es ist als Entwurf von poetischen Gestalten anzusehen, die die Fähigkeit von Wirkung haben, die eine organisierte und neu organisierende Erfahrung vermitteln können, die im rezeptiven Akt eine bestimmte Leistungfähigkeit besitzen. Die wirkungsästhetische Komponente ist auf diesem elementaren Niveau notwendiger Bestandteil der literarischen Arbeit. Nicht dadurch, daß sie sich auf bestimmte mögliche Leser bezieht - das ist nur ein Sonderfall - , sondern dadurch, daß sie sich aufs Lesen bezieht. Zur produktiven Tätigkeit selbst gehört das Lesen - es ist Instanz des Schreibens, ein durchaus technisches, nur in einer automatischen Schreibweise aufhebbares Produktionsmoment, das prüfend, ausgehend von Erfahrungen, auf die evokativen Potenzen der Gebilde gerichtet ist, die 143
die schaffenden Kräfte hervorbringen. Diese Instanz wird gern und keineswegs erst seit gestern - vernebelt, um ein'gewisses Geheimnis über den Schaffensvorgang zu breiten und seine nichttechnische Natur zu behaupten. Christopher Caudwell, ein früher marxistischer Verfechter des funktional orientierten Kunstkonzepts, hat darauf hingewiesen, daß es eine Illusion sei anzunehmen, es gäbe so etwas wie eine rein individuelle Darstellung, oder zu glauben, der Wert künstlerischer Arbeit liege in der Darstellung des bloßen Selbst des Künstlers. Wäre dies der Fall, so müßte, überlegt Caudwell, unverständlich bleiben, was den künstlerischen Prozeß ausmacht: der Versuch, aus dem Zusammenprall ständig neuer Erfahrungen und den ererbten gesellschaftlichen Ausdrucksfotmen immer neue Synthesen zu schaffen. Caudwell fragt: Warum dann „nicht gesellschaftliche Formen außer acht lassen und sich selbst unmittelbar ausdrücken, wie man es tut, wenn man schreit, hüpft und weint?"295 Er schlußfolgert, dies geschehe deshalb nicht, weil der Künstler sich in den Kunstformen nicht ausdrückt, sondern findet, weil ihm die Darstellung seines Selbst überhaupt nur in den sozialen Beziehungen möglich ist, die in der Kunst verkörpert sind, weil er sein inneres Selbst nur in bezug auf die Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse festlegen kann. In seiner Tätigkeit bildet, formt er sein Selbst und schafft gleichzeitig eine neue Form, ein Produkt von gesellschaftlichem Wert. Bei Anerkennung der Gesellschaftlichkeit dieser innerliterarischen Bedingungen poetischer Arbeit ist es ausgeschlossen anzunehmen, der Schriftsteller könne in der poetischen Tätigkeit unvermittelt sich selbst gewinnen. Die Aufnahme von Beziehungen, in denen Gegenstände als schön, typisch, bedeutsam usw. erscheinen, und das Bilden von Gestalten, die solche Beziehungen zu evozieren vermögen, schließen nicht nur historische Fähigkeiten, Resultate eines kollektiven Prozesses in sich ein und haben dessen Geschichtlichkeit in sich, sie sind auch immer gesellschaftlich vermittelt, Bezug gesellschaftlich gewonnener Erfahrungen auf gesellschaftlich produzierte Formen. Ob der Autor es will oder nicht: Indem er schreibt, tritt er in ein gesellschaftliches Verhältnis ein, und dabei - durch Gebrauch, Transformation oder Vermeidung von Formen, die im Verkehr zwischen Menschen gebildet wurden, durch Vollzug oder Kritik einer Weise der Weltaneignung, die im Austausch sich entwickelt hat - auch in ein kommunikatives Verhältnis. Es ist gar kein besonderer intentionaler Akt nötig, daß dies geschieht, es ergibt sich mit Notwen144
digkeit schon aus dem historisch-gesellschaftlichen Charakter dieser Tätigkeitsart (der übrigens im allgemeinen auch eine Zugänglichkeit ihrer Produkte sichert). Das heißt aber: Auch der Bezug auf Leser ist der literarischen Tätigkeit notwendig inhärent. Indem der Künstler sich auf Formen und Verfahren künstlerischer Tätigkeit bezieht, bezieht er sich auch auf Formen, die in einem bestimmten aktuellen Gebrauch (oder Nicht-Gebrauch) stehen, die eine bestimmte Zugänglichkeit haben oder neu ermöglichen. D a ß der Künstler sich zu bereits vorhandenen literarischen Formen - sie weiterführend, ändernd, revolutionierend - in Beziehung setzt, ist ein absoluter Zwang, der sich aus der gesellschaftlichen Vermitteltheit seiner Tätigkeit ergibt. Einen bestimmten - durch die jeweils gegebene gesellschaftliche Funktion der Formen eingeschränkten - Raum von Freiheit aber hat er darin, welche Formen er zur Weiterführung, Ablehnung, Revolutionierung auswählt. Formwahl ist deshalb immer auch Publikumswahl - wobei das reale Publikum, dem ja auch der Verfechter des autokathartischen Programms im allgemeinen sein Werk übergibt, stets das letzte Wort hat. Das Publikum entscheidet, ob es getroffen wurde oder nicht, und diese Entscheidungen können sich mit der Geschichte verändern. Diesen Zusammenhang nicht illusionär zu negieren, von ihm gerade als einer notwendigen Komponente schriftstellerischer Arbeit bewußt auszugehen, steht dem sozialistischen Autor an. D i e Adressatenbeziehung kann unsichtbar werden, wenn sie im Autor aufgelöst wird - sie bleibt wirksam stets durch die widersprüchlichen Beziehungen, in denen das Wertbewußtsein des Autors sowie der Gruppe, der er angehört, zu den literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizonten im gesellschaftlichen Bewußtsein steht, durch die widersprüchlichen Beziehungen zwischen dem, was bei einem einzelnen, beim Autor, und was allgemein oder bei den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen für wichtig und wesentlich, für bedeutend und gültig oder für belanglos und zufällig, uninteressant und unecht usw. angesehen wird. Der Adressat, so wurde bereits gesagt, bestimmt sich in Konfrontationen mit Zuständen des gesellschaftlichen Bewußtseins, der Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen. Dieses Spannungsverhältnis, in dem der Autor als Repräsentant bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, d. h. auch in wesentlichen konformen Beziehungen wirkt, ist Triebkraft seiner Arbeit. Das charakterisierte Verhältnis bewirkt, daß der Aufbau von Adressatenbeziehungen in bestimmterer Weise geschieht, als es 10
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mitunter behauptet wird. So zeigt etwa die praktische Arbeit Günter de Bruyns, z. B. die in seinem Roman Buridans Esel wiederholt gebrauchte Leseranrede, daß hier durchaus mit verschiedenen Lesern und Lesepraktiken gerechnet wurde, daß der Entwurf der poetischen Gestalten (der Figuren, ihrer Charaktere und Schicksale) nicht allein auf Leser von der Art des Autors, sondern auch von ihm abweichender Art „berechnet" ist. Und es kann darauf verwiesen werden, daß die Arbeiten der Schriftsteller, die mit Energie eine Literatur der Selbstverwirklichung (als eigene Leidbewältigung, Identitätsfindung, Daseinssteigerung) vertreten, immer wieder das zeigen, was Christa Wolf den „moralischen Zug" dieser Art Literatur nannte, eine Neigung zur „Belehrung", 296 drängende Appelle, also: durchaus konkretisierte Adressatenbeziehungen. Dabei offenbaren sich sehr deutliche Vorstellungen von Ansatzpunkten wirkender Literatur und auch von der literarischen Situation im lesenden Publikum. Solche Vorstellungen äußern sich nicht zuletzt polemisch als praktische Kritik an konventionalisierten literarischen Formen, als Versuch, über die Anstrengung der Form zu einer neuen Aktivität der rezeptiven Tätigkeit, zu ihrer Sensibilisierung beizutragen. Und das betrifft weit mehr als Formales. Sensibilisierung als Ziel der poetischen Tätigkeit, Wecken eines problematisierten Selbstbewußtseins, moralisch geschärften Verantwortungsgefühls hat als Angriffspunkt Formen einer reduzierenden Funktionalisierung der Menschen: der gewöhnenden Anpassung an die Reduktionen des veräußerlichten Interesses, des vorschnellen Gefühls von Sicherheit, des ungenügenden Achtgebens auf die Gefährdungen, antinomisch strukturierter Urteilsgewohnheiten usw. - Formen, die bei den Leuten festgestellt oder ihnen unterstellt werden. Auch in der Praxis zeigt sich so, daß hier keineswegs ein nichtkommunikatives, adressatenloses Verhältnis entsteht, sondern nur ein besonderes, mit einem besonderen Adressaten. In der Selbsterkundung will nicht nur der Autor sich, er will auch uns Widersprüche unserer Welt bewußtmachen, ihre Bedrohlichkeiten und ihre Möglichkeiten. In dem Maße nun, wie nicht der allgemeine Mensch oder der Mensch der Zivilisation der literarischen Tätigkeit zugrunde gelegt wird, sondern der arbeitende Mensch einer sozial-ökonomisch, politisch bestimmten Wirklichkeit, und in dem Maße, wie stärker als die Fragen „Was ist mir geschehen?", „Was ist als unsere Befindlichkeit zu diagnostizieren?" die Frage „Was können und müssen wir tun?" in der literarischen Arbeit aufgeworfen und diese über den Rahmen 146
der allgemeinen moralischen Verantwortung hinausgeführt wird, muß sich auch die Funktions- und Adressatenbeziehung konkretisieren. In dieser Art von Literatur wird daher, so etwa von Peter Gosse, ein Programm, das aufs Agieren hinauswill, in zwei Richtungen entwickelt. Die Idee eines Verschmelzens von Autor und Leser, die Idee der Kommunion wird zurückgewiesen, sie wird eine unerfüllbare Sehnsucht genannt, die sich verwirklichen kann nur, wo sie sich eben nicht verwirklichen kann: im Unterbewußtsein; ja sie wird eine „Flucht" geheißen „vor einer societären Konstellation, die dem wirklichen Zusammenkommen der Individuen widrig ist oder scheint".297 Sozialistische literarische Arbeiten sollten, meint dieser Autor, Widerspruchsfelder aufbauen, die eine aneignende Aktion auslösen, Modelle der Wirklichkeit, die es gestatten, von dialektisch vorantreibenden Vorgängen Erfahrungen zu gewinnen, die im Feld der wirklichen Beziehungen brauchbar sind. Einstieg in solche Vorgänge heißt, daß wir sie an der Wirklichkeit überprüfen können und dabei die Möglichkeit haben, uns als „Rezipienten . . . - produzierend - neben den Produzenten (Autor)" 298 zu stellen. Nicht die Identifikation, sondern die kollektive Aktion gewährt hier das Vorspiel von Beziehungen „freier, assoziierter Individuen", das als Zielmoment auch im Programm der ästhetischen Literatur mitwirkt. Und nicht Symptome unserer Befindlichkeit reichen (sowenig wie ein allgemeines Feiern der Machbarkeit von Wirklichkeit) diesem Literaturkonzept aus. Die Orientierung auf Praxis (die hier keineswegs im engeren Sinne operativ, sondern als allgemeine Vorbereitung historisch wirksamen Handelns gedacht wird) verlangt, daß die Literatur sich den schwierigen Konstellationen der realen Revolution stellt, daß sie den realisierbaren Entwurf aus dem genauen Abbild gewinnt, dabei mit dem möglichen Widerspruch zwischen den temporären und den langzeitigen Bedürfnissen rechnet, daß sie nach dem Segment der großen Revolution fragt, der wir beiwohnen. „Literatur, die sich dieser Frage stellte", sagte Peter Gosse, „hätte weder ein verklärend-verkleisterndes Zukunftsideal vor unsere Wirklichkeit zu halten, noch hätte sie mit einem ,ethisch-maximalistischen' Gegenwartsideal unserer Wirklichkeit Vorhaltungen zu machen"299, sie hätte weder die vorhandenen Widersprüche zu reduzieren noch überzeugt von der Belastbarkeit der Resolution - alle Widersprüche aufzureißen. Die Analyse der komplexen Wirkungsbedingungen für literarische Arbeit steht hier als permanente Aufgabe da. In genaueren Bestimmungen anders entwickelt auch Volker Braun 10»
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sein Konzept in diesen beiden Richtungen. Bei ihm wird erstens überhaupt Literatur von vornherein als „Vorgang z w i s c h e n L e u t e n" erklärt, und er kritisiert, wenn man sie als „Einstieg in sich selbst" behauptet, „als Einstieg in das eigne, ,echte Selbstbewußtsein' (wie es der subjektive Idealismus von Novalis bis Perse beanspruchte)". 300 Und Braun richtet zweitens - indem er das Selbstbewußtsein als Geschichtsbewußtsein versteht, im Geschichtsbewußtsein die Ansatzpunkte wirkender Literatur sucht - das Interesse darauf, „das Verhältnis von freiem und erzwungenem Verhalten" nicht allgemein, sondern historisch konkret, bezogen auf das Schicksal der Revolution aufzuklären. Nicht über die Gestalt allgemeiner Eigenschaften, stellvertretender Emotionen, auf Elementares zurückgeführter Geschichte, sondern über exemplarische Vorgänge, die die Geschichte, die bestimmte Handlungsbedingungen unserer Epoche erhellen, sollen hier die Impulse vermittelt werden: „Wir müssen Leute vorführen in ihrer gemeinsamen Anstrengung auf dem Feld ihrer begrenzten Möglichkeiten, ihre gesellschaftlichen Ziele so zu realisieren, daß die Bedingungen kommender Arbeit günstiger und menschlicher werden, das heißt, daß sie als Individuen reicher und kräftiger werden und zugleich die Gesellschaft ungezwungener und kollektiver wird." 301 Auf eine ästhetische Vermittlung zwischen dem, was als Leben der Massen und dem Ideal dieses Lebens gilt, wird hier „gepfiffen". Das will auf eine Kunst hinaus, die - ohne im einschränkenden Sinne operativ zu werden - auf den Prozeß wirkt, in dem die wirklichen Vermittlungen geschehen. In ihr sollen die alten Trennungen zwischen Abbilden und Eingreifen, Spiel und Nützlichkeit aufgehoben sein, es soll in ihr und durch sie möglich werden, daß „Sachverhalt in Verhalten umschlägt, Wissen in Naivität, Dialektik in Vergnügen". Und daß sie im fröhlichen Bewußtsein geschieht, verabredeter Vorgang zwischen uns zu sein, scheint dafür die Voraussetzung. 302
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Vorgangsfiguren — Organisationsformen sozialer Erfahrung I
Einführung: Spektrum und Reihen von Vorgangsfiguren Die literarische Funktion der kollektiven Selbstverständigung ist, wie wir gesehen haben, gleichermaßen vom Verhalten der Autoren, der Leser und der Distributionsinstitutionen abhängig. Von seiten der aktuellen literarischen Produktion wird sie in dem Maße angeregt, befördert und durchgesetzt, wie Schriftsteller ihren Werken Züge verleihen, die der neuen Rollenbestimmung entsprechen können. Durch Werke vermittelt sich die Funktion der Literatur in der Gesellschaft. Sie bilden gewissermaßen das Zentrum des kommunikativen Vorgangs Literatur. Angesichts der verbreiteten - und bisher auch in dieser Untersuchung verfolgten - Tendenz unserer Literaturwissenschaft, sich auf Funktionskontexte, Schriftstellerprogrammatik, literaturtheoretische und -kritische Streitfragen, Rezeptionsverhalten usw. zu konzentrieren, ist es angebracht, an diese Tatsache zu erinnern und nunmehr auf Werke die Aufmerksamkeit zu richten. Die dabei regierenden Fragen sind wieder funktionaler, kommunikativer, wirkungsästhetischer Art.'' 03 * Es soll dem Problem nachgegangen werden, wie Literatur an der „Umverteilung von Erfahrung" beteiligt ist, wie sie auf schon gewonnene, nicht zuletzt literarisch organisierte Erfahrung und auf Prinzipien von Erfahrungsverarbeitung im gesellschaftlichen Bewußtsein Bezug nimmt und einwirkt. Gemäß der Überzeugung, daß der jeweilige Zustand einer Literatur bzw. der einzelner ihrer Bereiche als strukturiert, daß Literaturveränderung als Umstrukturierungsvorgang anzusehen ist, kann bei einer solchen Untersuchung das Interesse nicht isoliert auf einzelnen Werken ruhen. Es ist der Versuch zu machen, Strukturierungsweise des Literaturensembles und des Literaturprozesses zu erhellen. In Strukturiertheit und Umstrukturierung der Literatur als eines dynamischen Systems äußert sich ihre Stellung, ihre Aktion und Reaktion in der Gesellschaft. Einzelne Werke können - indem sie neue Maßstäbe schaffen - eine umwälzende Bedeutung im Ganzen
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erlangen. Sie rücken dann alles Vorhandene, das Aufzunehmende und das neu zu Schaffende in eine veränderte Beleuchtung. Ebensowichtig sind aber die werküberschreitenden Gestaltungsmomente in den Werkensembles und in den Gattungen. Sie sind es, die für Produktion und Rezeption aktuelle Bezugsflächen abgeben, welche für die Bedeutung der einzelnen Werke bestimmend werden. Sie sind in ihren jeweils ausgebildeten und von vielen Menschen angenommenen Formen - als verallgemeinerte Erfahrung und allgemeinere Verfahren der Organisation von Erfahrung - Momente des gesellschaftlichen Bewußtseins. Auf diese Momente wirken die neuen Vorschläge der literarischen Produktion ein. Im Spektrum und in den Reihen von Vorgangsfiguren hat die Prosa einen der entscheidenden Strukturierungsbereiche. Gemeint ist folgender Sachverhalt: An den literarischen Darstellungen 3 0 4 - wie sie durch den Text der Werke vermittelt sind als besondere Gefüge von Personen mit den ihnen eigenen Beziehungen, Entwicklungen und Aktionen, als besondere Zusammenhänge von Milieus, Situationen und Geschehnissen - lassen sich auf abstrakterem Niveau allgemeine, d. h. auch in anderen Werken wiederkehrende prozessuale Gestalten erkennen. Eben sie wollen wir „Vorgangsfiguren" nennen. E s handelt sich dabei um solche Strukturierungen von Darstellungswelten, die auch eine ihnen typisch zugehörige stoffliche und thematische Orientierung aufweisen. D i e Eigenart des Bezugs der Gestalten auf die Materialien, Verhältnisse und Prozesse eines Ausschnitts aus der sozialen Welt und auf im realen Leben auftretende Probleme sowie die Eigenart der thematischen Prägung der Figuren, die - gemäß gewonnenen Einsichten, aufgespürten Wichtigkeiten - Wesentliches und Bedeutsames ausstellen, erlebbar machen, die so auch auf bestimmte Wirkung angelegt sind, wollen wir in den Begriff „Vorgangsfigur" einschließen. In dieser Art von Gestalten liegt eine komplexe Form der Organisation untheoretischer Erfahrung 3 0 5 vor. D i e bei der Bildung der Vorgangsfiguren mitsprechenden Faktoren können wir uns mit Hilfe einer Überlegung von Erwin Strittmatter verdeutlichen. D e r Stoff, sagte dieser Autor auf der Zweiten Bitterfelder Konferenz, 306 liegt „für Schriftsteller in unserer Zeit der großen Wandlungen sozusagen auf der Straße. Aber der Stoff ist noch kein Anzug." Um aus dem Stoff, dem „Rohstoff", etwas zu machen, ist nach Ansicht Strittmatters viel Arbeit nötig, eine Arbeit, die Fabulieren verlangt, das Vertiefen und Überhöhen von Wirklichkeitsmaterial, den
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Phantasie-Brückenschlag zwischen den bekannten Wirklichkeitselementen. Für den Realisten ist diese Arbeit vom Stoff unabhängig. Strittmatter betont die Notwendigkeit, den Stoff nach allen ihm innewohnenden Möglichkeiten abzuklopfen. Der Autor hat (Strittmatter gebraucht hier einen problematischen Vergleich) wie der Michelangelo in Rilkes Gedicht zu fragen: „Was ist im Stein, was ist im Stein?" Die Entscheidung über die Form ergibt sich wesentlich von hier aus. Diese Arbeit ist aber nicht nur vom Stoff abhängig. Strittmatter entwickelt das hinzutretende Moment höchst anschaulich am Beispiel von Varianten, aus einem gegebenen Stoff „Geschichten" zu machcn. Das Material läßt verschiedene Möglichkeiten seiner Verwandlung in ein „Kunstprodukt" durch „folgerichtige" Erfindung zu. Was entscheidet über die Varianten wähl? Strittmatter als „Dialektiker" weiß z. B., daß gesellschaftliche Wandlungen nicht immer eindeutig verlaufen, im individuellen und kollektiven Leben große Widersprüche auftreten, die Wirklichkeit keine Bilderbogenschlüsse parathält, und er bekundet seine Vorliebe für Geschichten, die gerade dies verdeutlichen und uns nahelegen können. Bildet er so die ihm gemäß erscheinenden Gestalten seiner allgemeinen weltanschaulichen Position und seinem gesellschaftlichen Wissen entsprechend, so bildet er sie aber auch entsprechend seiner besonderen kommunikativen Zielsetzung, die einen bestimmten Zustand im gesellschaftlichen Bewußtsein in Rechnung stellt. Aufgabe ist, etwas zu machen, was den Leser erregen kann, was zur „größten Wirksamkeit" geführt werden kann; für Strittmatter speziell gilt, die Leser zum Nachdenken und zur Aktivität anzuspornen, sie zum „Mitbeobachten, zum Mitdenken" zu provozieren, beizutragen, daß „Denken zur ersten Bürgerpflicht wird". Der Autor bekundet deshalb seine Neigung zu Figuren, Fabelverläufen, Erzählungsschlüssen und überhaupt zu einer Schreibweise, die das Nachdenken der Leser fordert. - Verdeutlichen wir die hier erscheinenden Momente „Stoff", „Thema", „Wirkungsintention". - Mit dem Ausdruck „Stoff" 307 beziehen wir uns auf einen in der empirischen Wirklichkeitserfahrung (allgemeiner auch in mythologischer, poetischer, historiographisch-dokumentarischer Überlieferung) gegebenen, der aktuellen literarischen Arbeit gegenüber objektiven Faktor, der - was erst seine Qualität als Stoff ausmacht - , durch die Wahl des Autors in seine Tätigkeit einbezogen, zum Aufbau einer Darstellung verwandt wird. Als Material geht er in die Details, Episoden, Milieus des Vordergrunds literarisch dargestellter Welt ein, mitunter auch - wird nicht nur ein 151
Stoffeid genommen, sondern der Stoff eines begrenzt-bestimmten Beziehungs- und Ereigniszusammenhangs - in die Grundlinien der Entfaltung literarischer Figuren und Vorgänge. So wichtig nun der Stoff als Konstitutionsbasis auch ist - die Darstellung wird von ihm doch nur zum Teil formiert. Die Gestaltbildung (wie übrigens auch schon die Wahl eines Stoffeides oder eines bestimmt-begrenzten Stoffs als deren Material) folgt nämlich auch einem Komplex von Ideen, steuernden Wertkriterien und möglicherweise auch von bewußt gehaltenen Thesen, von Wissen um gesellschaftliche, kollektive und psychologische Gesetzmäßigkeiten einem Komplex, den der Autor in seinem bisherigen Leben gewann, aus seiner Philosophie, seiner Ethik, seiner Ästhetik bezog, der ihm aus wissenschaftlicher Erkenntnis theoretisch übermittelt wurde und der nun nicht theoretisch formuliert, sondern an den literarischen Figurationen als Sinnfiguren exemplarisch verdeutlicht bzw. evozierbar gehalten werden soll. Dieser Faktor tritt ebenfalls als Konstitutionsbasis für die literarische Darstellung auf, indem er ihr genaue Gestalt gibt: Er produziert die Akzentuierungen, Ergänzungen und Auslassungen von Stoffelementen und -beziehungen, die Wiederholungen und Kontrastierungen von Darstellungsteilen, deren Anordnung und Rhythmik, die besondere Logik der hergestellten Zusammenhänge in den Handlungen der Figuren, in ihrem Aufeinanderwirken und ihren Entwicklungen, den Aufbau zentraler Bilder, die durchgeführte sprachliche Symbolik, die Urteile auf der Ebene des Erzählerkommentars usw. Diese Organisation schafft zugleich eine Kohärenz des Ganzen und rückt es unter übergeordnete Gesichtspunkte und Wertungen, die zugleich Stellungnahmen zu Komplexen im gesellschaftlichen Bewußtsein sind. Mit dem Ausdruck „Thema" 308 * richten wir uns auf das diesem Vorgang vorausgesetzte oder in ihm hervorgebrachte abstraktere Moment des integrierenden Gesichtspunktes, des Grundgedankens, der leitenden Idee. Es ist Resultat der Konzentration, Selektion, Ergänzung, Verallgemeinerung von Wirklichkeitsmaterial, der Bildung von Gestalten, die nach Werten organisiert sind. Dieses Moment wird über die innere Organisation der Darstellung sowie deren Beziehungen zum zeitgenössischen Bewußtsein ablesbar (und ist als ein Verhältnis in einem bestimmten Rahmen interpretierbar). Es ist mit der Bedeutung der literarischen Gestalten, mit den komplexen ikonisch oder indexalisch vermittelten Bedeutungsbezügen ebcnso152
wenig identisch wie mit dem Allgemeinen oder Wesentlichen jenes Wirklichkeitsbereichs, der im Stoff erscheint. Letzteres ist ein mögliches Verhältnis, auf das freilich die Formen realistischer Typisierung im Sinne der Definition von Engels 309 Anspruch erheben. Die Beziehung zwischen Stoff und Thema wird dann so eng, daß beide in der poetologischen Reflexion von Realisten mitunter - so zum Teil bei Anna Seghers310 - als fast deckungsgleich erscheinen. Sie sind es aber nicht. Genauer fragt Anna Seghers deshalb „nach dem Thema als etwas mit dem Autor unlösbar Verbundenem, das nichts Zufälliges ist, sondern ein Bindeglied zwischen dem Autor und der Gesellschaft". Und sie schränkte ihre bekannte These, daß jede neue Kunstepoche mit der Entdeckung eines neuen Gegenstandes beginnt, mit der - den subjektiven Aspekt des Themas betonenden - Bemerkung ein: „Aus dem sozialistischen Bewußtsein gehen völlig neue Themen hervor. Das ist auch der Fall, wenn das Werk einen anderen Gegenstand hat als den Aufbau des Sozialismus, wenn sich dieser keineswegs unmittelbar darin spiegelt." 311 Tatsächlich handelt es sich - im Verhältnis von Stoff und Thema - bei den objektiven Aspekten der Themenbildung immer nur um M ö g l i c h k e i t e n gewählter Stoffe: Beobachtete oder überlieferte Wirklichkeitsausschnitte stehen stets in vielfältigen Zusammenhängen, die zum Allgemeinen bzw. Wichtigen führen. Die literarische Umbildung eines Allgemeinen, Wichtigen zum übergreifenden Gesichtspunkt einer Darstellung bedarf infolgedessen bestimmter, subjektive Wertungen einschließender Bedingungen; sie erst lassen den Autor gegebene Möglichkeiten realisieren. Das dritte entscheidende Moment der Gestaltbildung, das die Stoffwahl, die Themenfestlegung, den gesamten Gestaltaufbau regelt, ist die Richtung auf den gedachten Leser, auf Wirkungen, die im gesellschaftlichen Bewußtsein erzielt werden sollen, die gesellschaftspraktische, kommunikative Orientierung der literarischen Arbeit. Der sozialistische Autor, so erklärte z. B. Brecht, macht sich diesen Aspekt bewußt. Bei seiner Arbeit an Modellen, die das Verhalten der Menschen zeigen, schließt er nicht nur von beobachteten auf mögliche (solcherart nur vorgestellte, vermutete) Verhaltensarten und sorgt sich dabei um die Richtigkeit seines Schließens, er sorgt sich auch darum, daß seine Gestalten produktiv werden können, daß sie ausführbare Vorschläge enthalten. Er akzentuiert deshalb im vermutlichen das wünschbare Verhalten. 312 D a ß Brecht in der gleichen Absicht auch das kritikwürdige Verhalten herausarbeitete, ist wohlbe153
kannt. Unter kommunikativem Aspekt heißt Widerspiegelung deshalb, „den Spiegel vorhalten" 313 . Sie ist eine dialektische Intervention: Die Gestalten werden hervorgetrieben auch dadurch, daß es in dem jeweiligen historisch-sozialen Feld von Wirklichkeitsauffassungen und Verhaltensweisen gerade b e s t i m m t e Vorgänge der Vergangenheit und Gegenwart sind, die geeignet scheinen, uns zur Selbsterkenntnis vorgehalten zu werden; daß es unter den oder jenen Bedingungen gerade b e s t i m m t e Gefüge sind, die geeignet scheinen, uns eine Welt vorzuspielen, wie sie die unsere sein könnte, die zugleich das sinnfällig zu machen vermögen, was als das Wichtige und Aufschlußreiche der Zeit empfunden werden kann, die dabei auch wirkungsvoll gegen inadäquat gewordene Vorstellungen vom Leben zu polemisieren imstande sind. Ein allgemeines Problem bei der erzählerischen Aneignung von Gegenwart kann durch die Unterscheidung dieser Aspekte der Gestaltbildung deutlich werden: Der Stoff ist hier - anders als in jenen Fällen, da literarische oder historiographische Überlieferungen als Stoffquellen benutzt werden, welche „Halbfabrikate" als Material der Relevanzfiguren liefern - noch wenig aufbereitet, noch kaum zu begrenzteren, sinnfälligen Zusammenhängen konzentriert. Er ist ein „Rohstoff" meist zahlreicher Einzelereignisse und -erfahrungen, dessen Filtration (und Ergänzung) dem Autor obliegt. Er ist in seiner Gegenwärtigkeit so mächtig, daß er sich in seinem Materialwert auswirkt, und so nah, daß er noch kaum in seiner thematischen Variabilität und wirkungsästhetischen Bearbeitbarkeit erscheint. Was einerseits den Zustrom neuen Lebensmaterials in die Literatur garantiert, schafft andererseits beträchtliche Schwierigkeiten bei der literarischen Gestaltbildung: Das neue Material muß zu Sinn offenbarenden und vermittelnden Gestalten erst gefügt (dabei auch „entschlackt") und diese müssen in ihrem Wert für eine allgemeiner gültige Organisation der Erfahrung unter übergreifenden Gesichtspunkten erst unter Beweis gestellt werden. Kein Zufall, wenn für das (eine höhere Konzentration der Gestalten erfordernde) Schauspiel oft schon vorliegende Stoffiltrationen und Gestaltbildungen als Materialquellen verwandt werden, auch wenn es um die Aneignung von Gegenwart geht. Doch ist der Prosa-Autor keineswegs ohne solche Hilfen aus der kollektiven literarischen Produktion. Sie wachsen ihm aus den Personentypen, Motiven und aus den Vorgangsfiguren früherer und gleichzeitiger Literatur zu. Zweifellos wirkt in der Bildung der Vorgangsfiguren mit ihren 154
besonderen Voraussetzungen und Zielstellungen stets die Individualität des Schreibens. Doch wirkt in ihr zugleich auch die Gesellschaftlichkeit jeder literarischen Produktion. Und dies auf zweifache Weise. Erstens entstehen in einer Zeit, in einem sozialen Raum allgemeinere Interessenrichtungen, die bestimmte Stoffe, Themen als wichtig, bestimmte Wirkungsintentionen als adäquat, bestimmte Gestalten von Beziehungen und Verhalten als besonders geeignet ausfällen, gesellschaftliche Grundsituationen zu modellieren, Sinn zu offenbaren und produktive Impulse zu übermitteln. Und es operieren die Individuen auch immer mit Hilfe der Mittel zur Wirklichkeitsaneignung, die ihnen überliefert sind und die an Zeitgenossen beobachtet werden. D i e Vorgangsfiguren gehören zu diesen Mitteln. D i e in ihnen hergestellten Zusammenhänge von Auswahl und symbolischer Thematisierung erzählerischen Materials, von Grundsituationen, Konfliktanlagen, Motivketten usw. erweisen sich im Literaturprozeß als relativ stabile Rahmen für Wiederholungen und Transformationen. E s ist dies eine Weise, in der die untheoretisierte Erfahrung verallgemeinert wird, in der produktiv gearbeitet werden kann, in der sich aber zugleich Vorgänge der Konventionalisierung und Klischeebildung abspielen. Ähnliches gilt für die Rezeption: Wie Heldentypen in der Wiederholung gleichartiger Elemente und Strukturen erfaßt werden und dann - um Beispiele aus unserer jüngeren Literatur zu nehmen von der Generation der „Holts" oder der „Iswalls" die Rede sein kann, werden auch die Vorgangsmodelle im Literaturgespräch zu Typen zusammengefaßt und mit Namen versehen. So tauchten in unserer Literaturkritik etwa die Termini „Ankunft", „Bewährung", „Bilanz" auf. In dieser Art von Typenbildung haben wir einen der Wege, auf dem sich das verallgemeinernde Denken das Ahnliche an der individuellen Vielfalt der Werke aneignet. Weil solcherart die Heldentypen, Motive, Personenkonstellationen und Vorgangsfiguren zu mehr oder weniger allgemeinen Bestandteilen gesellschaftlichen Bewußtseins werden, können sie bei der literarischen Neuproduktion - zweitens - auch als Bezugspunkte der Kritik auftreten. Im Versuch, neue Erfahrung literarisch anzueignen, vollzieht sich im Prozeß der Transformation bekannter Gestalten, der Neubewertung, Umgruppierung bekannter Bauelemente und Strukturen, ein Prozeß auch des Entwurfs von Gegengestalten, der Einführung konträrer Bauelemente und Strukturierungen. Es wird schon in dieser ersten Skizzierung klar, daß die Vorgangsfigur wesentlich eine Kategorie des Literaturensembles und des Lite-
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raturprozesses ist. Richten wir die Aufmerksamkeit auf sie, lassen sich zeittypische Bündel von literarischen Gestalten sichtbar machen, charakteristische Spektrallinien eines bestimmten Zustands der Literatur, die für den Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins aufschlußreich sind. Und am Prozeß der Bildung von Vorgangsfiguren, am Spiel ihrer Einsetzung, Abänderung und Ablösung lassen sich exemplarische Entwicklungslinien beschreiben, die Auskunft über Veränderungen im Zustand der Literatur und über ihn im Zustand gesellschaftlichen Bewußtseins geben können.
Konzentrationspunkte
literarischer
Aufmerksamkeit
Für die in der Erzählliteratur der sechziger Jahre charakteristisch werdenden Vorgangsfiguren gibt es ein übergreifendes Moment. Es ist seit 1964 deutlich im Bewußtsein der Literaturkritik. In diesem Jahr wurden klare Vorstellungen von neuen Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Organisation sozialer Erfahrung durch Literatur artikuliert. Die Bedingungen im Gegenstands- und Wirkungsfeld der literarischen Tätigkeit hatten sich spürbar gewandelt. Als entscheidend wurde zunächst eine „Umschichtung der Konflikte" in der Wirklichkeit erkannt: Grundsituationen, wie sie „mit den Problemen, Schwierigkeiten, Widersprüchen unseres eigenen Vorwärtsschreitens" 314 gegeben waren, gewannen im Zusammenhang mit dem großen historischen Veränderungsprozeß und der wachsenden Stabilisierung des Sozialismus in unserem Lande objektiv und subjektiv an Gewicht. Nunmehr mußte auch die sozialistische Parteilichkeit differenzierter gefaßt werden: Beim Versuch, die Widersprüche im Sozialismus „vom Standpunkt ihrer Überwindung aus" zu erfassen, konnte „der Sozialismus" allgemein immer weniger ein operativer Wert sein; vom Schriftsteller war verlangt, daß er sich im Soaialismus „mit seinem ganzen persönlichen Wirken auf die Seite des Widerspruchs stellt, die zukunftsträchtig ist, die das gesellschaftlich Neue verkörpert". 315 Und schließlich war dabei das Verhältnis der literarischen Produktion zum Publikum neu zu bestimmen. Nach einer „notwendigen, sozusagen ,aufklärerischen' Literaturepoche mit didaktischen Zügen, die im großen ganzen der antifaschistisch-demokratischen Umerziehung unseres Volkes entsprach" 316 , wurde nun der Durchstoß zu einer neuen Qualität sozialistischer Literatur vermutet, 156
zu einer Literatur vor allem, die, indem sie „mit der Beteiligung des Lesers, seiner mitschöpferischen Leistung" rechnet, ihre Funktion im gesellschaftlichen Geschehen „durch korrigierende, aktivierende, lenkende Zurufe" gewinnt. 317 Literarische Umschichtungen äußerten sich in vielfältiger Form und wurden bald auch in dieser Vielfalt durch die Kritik registriert. 318 In der Transformation schon älterer Vorgangsfiguren, im Aufbau neuer kam der Wandel deutlich zur Erscheinung. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre fielen zwei Prozeßgestalten auf, die mit den Stichworten „Ankunft" und „Bewährung" versehen wurden. Um die Vorgangsfiguren schon in der Benennung klarer zu kennzeichnen, sollen die beiden Grundanlagen hier „Einordnung junger Menschen in eine Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis" und „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" genannt werden. Seit Mitte der sechziger Jahre läßt sich die Vorgangsfigur der „Bilanz" beobachten, die als Form der „Befragung eigener Geschichte im Entwicklungsprozeß der DDR" zu verdeutlichen ist. Eine vierte erzählerische Grundfigur tritt erst in der neuen Stufe unserer Literaturentwicklung hervor; sie läßt sich am besten als Geschichte vom „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" beschreiben. Die erste dieser Prozeßfiguren hat etwa folgenden Rhythmus: Begegnung meist junger Menschen mit einem fordernden und fördernden neuen Lebensumkreis, der charakteristisch der neuen Gesellschaft zugehört, mit Kommunisten, Arbeitern, der Welt der Arbeit; ein dadurch ausgelöster mehr oder weniger krisenhafter Prozeß, der im Erwerb neuer Lebensansichten und Verhaltensweisen sein Entfaltungsgesetz hat; Eintritt in die zunächst fremden Ordnungen als erreichtes Ziel oder perspektivische Verheißung der in Gang gesetzten Bewegungen. Die Diskussion der Produktivität von Eingliederung bildet das Zentrum der thematischen Orientierung solcher Sinnfigur. Einen vorläufigen Namen für diese Konstellation lieferte Brigitte Reimann mit dem Titel ihrer Erzählung Ankunft im Alltag (1961). Diese Geschichte wies deutlich auf nun einsetzende Veränderungen, die eine schon bekannte Vorgangsfigur der sozialistischen Literaturtradition betraf. Deren Name - bleibt man bei dem angeführten Kennwort könnte „Ankunft bei Kommunisten" sein. Brigitte Reimanns Buch verweist auf den Beginn eines Darstellungstyps innerhalb dieser Tradition, der spezifische Prozesse des Eintritts junger Menschen in den Alltag einer fortgeschritteneren Stufe des Sozialismus vorzuführen trachtete. In unserer Literatur erhielt aber die Frage nach dem Alltag, 157
nach den neuen Schwierigkeiten des Erwachsen-Werdens im Sozialismus erst später eine problematischere Bedeutung. So war das von Brigitte Reimann gelieferte bildträchtige Wort „Ankunft" - freilich nicht unbezweifelt, indem bald nach schärferer Differenzierung der zusammentretenden Motivketten (Abschied, Entscheidung, Ankunft) verlangt, 319 mitunter im Blick auf die größere Vielfalt der erzählerischen Gefüge die Adäquatheit des Begriffs überhaupt in Frage gestellt werden konnte 320 - durchaus geeignet, den Namen für den allgemeineren Typ der Geschichte des jungen Menschen abzugeben, der sein Gemeinsames in der Gestalt krisenhafter Einordnungen hat, diese aber über Materialien und unter Themen durchaus verschiedener Art bildet. Das zusammenschließende Moment der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" haben wir im Auftreten von Zentralpersonen, die im Prozeß der aktiven Bewältigung sozialistischer Gegenwart und ihrer Bewegung stehen. Auch sie erweist sich als Transformation älterer Tradition. Ihr neues Element ist das Vorkommen von Konflikten unter Sozialisten, vorzüglich auch in der Sphäre jener, für die sich der Name „Leiter" eingebürgert hat. Nicht die „Ankünfte", sondern die Kämpfe danach werden hier interessant; dies wurde auch sofort als neu empfunden, als die Gestalt mit Erwin Strittmatters Ole Bienkopp in unsere Literatur eingeführt wurde. Die Geschichte der „Eingliederung" wie die Prozeßfigur der „Produktivitätserweiterung" gewannen ihre Bedeutung wesentlich aus den Relationen zwischen ihnen, aus den im Vergleich erst sichtbaren Akzentuierungen. Für die neue Prozeßgestalt, die auch in stofflicher Hinsicht vielfach an die Tradition der Darstellung von Industrie und Landwirtschaft der fünfziger Jahre anknüpfte, ist das Aufgreifen von Lebensmaterial aus zentralen Bereichen der Praxis unserer Gesellschaft und darin von entwicklungsbestimmenden Gesellschaftsproblemen charakteristisch. Hier sollen nicht nur aktive Helden vorgeführt werden, die Darstellung selbst versteht sich als Aktion in der gesellschaftlichen Bewegung. Sie hat deshalb meist eine operative - auf bestimmtes Verhalten in bestimmten Problemsituationen zielende - Anlage. Doch greift das Pathos der bedeutenden Arbeiten weiter. Es ist das Bestreben, die Produktivität sozialistischer Arbeit und aller gesellschaftlichen Verhältnisse auf immer neuem Wege zu erweitern, Gemeinschaftlichkeit und universelle Beziehungen aller als Ziel zu verfolgen. Dabei fällt nun auf, daß sich für die zweite der deutlicher umreißbaren erzählerischen Grundanlagen unserer Prosa kein Name ein158
stellte, der allgemeinere Gültigkeit erlangen konnte. Eine komplexere Geschichtlichkeit und damit auch Vielfältigkeit ist das Kennzeichen dieser Aufbauform. In ihr sollen die Voraussetzungen der neuen Aktivitäten und Konflikte immer mit zum Vorschein gelangen - in Vorgeschichten und Parallelgeschichten werden sie meist ausdrücklich verdeutlicht. Diese Komplexität setzt der typenhaften Reduktion einigen Widerstand entgegen. Ein anderer Grund aber für die Schwierigkeiten bei der Gruppenbildung war der, daß das Pathos der Hauptfiguren und der Charakter der mit ihnen verbundenen Konflikte eine scharf divergierende Interpretation und Bewertung erfuhr. Dies schlug sich auch in verschiedenen Terminologieangeboten nieder. Strittmatter hatte mit der Benennung seines Helden als „Spurmacher"321 ein bedeutendes Stichwort geliefert. Von anderer Sicht aus konnte die Figur aber als Typus des „Selbsthelfers" und später auch als Typus des „anarchischen Helden" gewertet werden, oder es konnte der sozialistische Aktivismus der Gestalt als Pathos des „Anspruchs" aufgefaßt werden, von anderer Sicht aber als „Bewährung".322 Entwerfende, sprengende oder einfach bestätigende Momente wurden auf diese Weise an der Vorgangsfigur hervorgehoben. In verschiedenen Systemen der Sinnerfassung und Bewertung erhielt sie eine jeweils andere Beleuchtung. Typenbildung und Namensgebung schließen stets Interpretation und Bewertung ein; sie sind deshalb nicht problemlos, vielmehr Stufen in dem Versuch, den Sinn literarischer Gestalten gemeinschaftlich zu klären. Dies gilt auch für den Vorschlag, die identische Figur als „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" zu bezeichnen. Mit geringer zeitlicher Verzögerung bildete sich die dritte der genannten Strukturierungsarten als ein allgemeiner Typus aus: die Form, die durch das Bestreben zusammengehalten wird, den individuellen Gang in der Geschichte der DDR zu resümieren. Auch sie steht in einem literarischen Beziehungs- und Oppositionsverhältnis. Die Inhalte der anderen Vorgangsfiguren werden zur erzählbaren Vergangenheit: Reflektiertheit steht gegen Naivität. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre hatte diese Grundanlage in Hermann Kants Aula nur e i n e n Repräsentanten. Hier zeichneten sich ihre charakteristischen Züge schon klar ab - aber erst nachdem in der zweiten Hälfte des vorigen und zu Beginn unseres Jahrzehnts diese Art der Prozeßgestalt wiederholt gebraucht worden war, erhielt sie mit „Bilanz" auch einen allgemeineren Namen.323* Er weist auf das strukturelle Moment des erinnernden Zurückgreifens von einem Standpunkt der Gegenwart; 159
er weist aber auch auf den abwägenden, scheidenden, insofern kritisch-selbstkritischen Grundgestus, mit dem das Material der vergangenen Erfahrung nun ausgestellt wird. Und dies vor allem kennzeichnet die Eigenart dieses Erzählungsaufbaus. Was da in der szenisch ausgebreiteten Erinnerung bilanziert wird, hat als Gegenstand die selbstgemachte und mitverantwortete Geschichte, und gerade dadurch - über die Haltungen, die zu solcher Vergangenheit, zu der in ihr vollzogenen „Ankunft", zu den in ihr durchgehaltenen oder nicht durchgehaltenen „Bewährungsproben" eingenommen werden können werden die hierher gehörenden Gefüge gebildet. Die Tendenz zu einer verstärkten Geschichtlichkeit ist auch hier wesentlich. Sie erscheint nicht zuletzt in der Zeitenschichtung der intellektuellen Physiognomie der das Zurückliegende befragenden Figuren. „Befragung eigener Geschichte" kann deshalb für diesen Typus komplexer erzählerischer Organisation als Kurzbeschreibung gelten. Zuletzt entstanden die Geschichten des „Herausfalls aus der Welt der Gewöhnungen". Sie stehen in enger Beziehung zu den Problemfiguren der Bilanz, nehmen einige von deren Motiven auf und kritisieren sie zugleich immanent durch die größere Aufmerksamkeit, die hier auf die Gegenwart der Figuren der Selbstüberprüfung gerichtet wird. In Buridans Esel von Günter de Bruyn treten wichtige Züge dieser Figur entwickelt auf. Ihre allgemeine Form ist folgendermaßen zu charakterisieren: Ein mehr oder weniger wichtiges (mitunter auch phantastisches) Ereignis erschüttert die Selbstverständlichkeiten in den Lebensordnungen der zentralen Person, die meist der mittleren Generation unseres Landes zugerechnet wird (unter psychologischem Aspekt stellt sich diese Erschütterung deshalb auch oft als eine der sogenannten Krisen in der Mitte des Lebens dar). In einer Welt, die sich in den dargestellten Räumen nicht bewegt, wird ein individueller Prozeß von Selbst- und Weltbefragung, Selbst- und Welterkenntnis freigesetzt. Der verfremdende Blick einer bewußteren Ethik fällt auf den Zustand des Ichs und seiner Verhältnisse (wobei zur Verdeutlichung nicht selten die Beziehungen in der Ehe als Parallele gesetzt werden); gefragt wird nach dem Verlust oder dem Nichterreichten in der Eingerichtetheit des Lebens im Sozialismus. Dem Herausfall aus der Ordnung folgt eine Zeit der Suche und der Versuche zu einer neuen Rollenbestimmung - was allgemein den stark reflektorischen Zug der Konstellation begründet. Das Ende der vorgestellten Bewegung scheint offen. Es werden verschiedene Varianten zu Gehör gebracht, die zugleich verschiedene Wirkungs160
Strategien implizieren: die kraftlose Rückkehr in den Schoß der Gewöhnungen, die Fixierung einer Situation des Abseitsstehens oder eine neue Platzbestimmung, die die Aktivierungen der Krise produktiv aufzubewahren sucht. Diese Vorgangsfigur wurde bisher - obwohl sie als eine der wichtigen Grundfiguren neuerer Erzählliteratur immer offensichtlicher ist - von der Literaturkritik nur annäherungsweise beschrieben,324 für sie fand sich bisher auch kein Name. Als Figur der krassen Erkenntnis fiel sie damit im öffentlichen Literaturgespräch genau der Tabuisierung anheim, die sie zu durchbrechen sucht. Bei der näheren Charakterisierung der Rolle der Vorgangsfiguren ist zunächst zu betonen, daß keineswegs alle wichtigen Werke seit Beginn der sechziger Jahre diese Strukturen aufweisen. Das sind ja zunächst literarische Figuren, die einen stofflichen Bezug zur Gegenwart haben. In Franz Fühmanns König ödipus (1966) oder Günther Rückers Garne und Gewebe (1964) z. B., in Stephan Hermlins Die Argonauten (1974) oder Anna Seghers' Sagen von Unirdischen (1973) sind die Gestalten ohne solchen Stoffeinzug gebildet und welch bedeutende Stücke unserer Prosaliteratur liegen hier vorl Aber auch da, wo die Gegenwart des Sozialismus das erzählerische Material bestimmt, lassen sich andere, vielleicht weniger oder gar nicht wiederholte Arten der komplexen Organisation erzählerischen Materials finden. Werner Heiduczeks Abschied von den Engeln (1968), Max Walter Schulz' Triptychon mit sieben Brücken (1974), Paul Gratziks Transportpaule (1977) - auch hier nur wenige Beispiele - weisen andere Aufbauformen auf, und wie aufschlußreich sind auch hier die Schnitte, die die Autoren durch die wirkliche Welt legen! Wir haben es nicht mit Werturteilen zu tun, wenn die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Vorgangsfigur festgestellt wird: Nicht alles Wesentliche ist allgemein. Vor anderen sind die genannten Anlagen aber dadurch ausgezeichnet, daß sie häufiger wiederkehrten, sich so überhaupt zu Figuren in dem hier gebrauchten Sinn formierten. Sie wurden Grundfiguren einer fortschreitenden Literatur. Das Allgemeine, so läßt sich deshalb auch für die Literatur sagen, ist durchaus ein Indikator des Wesentlichen. Die Grundfiguren zeigen Konzentrationspunkte der literarischen Arbeit an, sie offenbaren über die Individuen hinweg, was in der literarischen Produktion bestimmter Zeit als bedeutender Gegenstand, subjektives Problem und was als eine geeignete Form angesehen wird, Erfahrung zu organisieren und umzuverteilen. Andere Literatur11 Schiensted r
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epochen weisen ein anderes Spektrum solcher Grundfiguren auf. Die unmittelbar vorangegangene Phase der DDR-Prosa war eher durch das Miteinander des sogenannten Betriebsromans einerseits und des sogenannten Kriegsromans andererseits charakterisiert. Der „Betriebsroman" - der vielfach dokumentarisches Material aufgriff, sein dominierendes Interesse auf den kollektiven gesellschaftlichen Prozeß richtete - demonstrierte das Wechselspiel von umwälzenden Vorgängen in der sozialistisch werdenden Produktion und der Einsicht in Möglichkeiten wie Verpflichtungen der Arbeit im Sozialismus. Der „Kriegsroman" verfolgte den Weg verführter Helden durch den Krieg über die Wende - die Zerschlagung des Faschismus zeigte sie bei der Ergründung ihres „Schicksals", auf der Suche in ihrem Niemandsland, im Übergang zum Anderswerden. 325 Im Vergleich dazu treten die charakteristischen Züge der neuen wichtigen Vorgangsfiguren deutlich hervor. Thesenhaft zusammengefaßt: Als ihre Bezugspunkte erscheinen in stofflicher und/oder thematischer Hinsicht - Prozesse und Probleme, wie sie spezifisch in der entfalteteren Phase des Sozialismus entstehen bzw. einsichtig werden. Diese Wirklichkeit in ihrer Geschichte, ihren Verhältnissen und Verhaltensweisen wird zum wichtigen Gegenstand der erzählerischen Weltaneignung gemacht. In den dargestellten Beziehungen und Prozessen tritt die große Geschichtsund Gesellschaftswende, auf die das Tun und Leiden der Figuren sowie die in den Fabeln durchgeführten Probleme durchaus bezogen bleiben, an den Horizont der Figurenproblematik, der szenisch entfalteten Welt; die nichtklassenantagonistischen Widersprüche innerhalb einer schon fortgeschritteneren, auf ihren eigenen Grundlagen sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft dominieren in der epischen Modellierung die Konflikte. Die Art, wie diese Widersprüche ausgetragen, gelöst oder nicht gelöst werden, erscheint im Ablauf der Handlungen als entscheidend für die Art der individuellen und kollektiven Entwicklung und Produktivitätsentfaltung und in der Gesamtaussage dex Werke als ausschlaggebend für das Urteil über den Wert unseres Lebens im Kampf der Gesellschaftssysteme. Das Verhältnis von Individuum, Geschichte und Gesellschaft in seinen verschiedenartigen Spannungen und Veränderungen erweist sich dabei als wesentliches Feld der literarischen Aufmerksamkeit. Es verlagert sich - wie auch die größer werdende Bedeutung der zwei zuletzt angeführten Konstellationen zeigt - das Interesse von jenen Widersprüchen, die mit der Konstituierung der sozialistischen Gesellschaft ge162
geben waren, auf jene, die mit den Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, Möglichkeit und Ideal in der sozialistischen Gesellschaft selbst entstehen. Die Umverteilung der Gewichte in der vorgezeigten ethischen Problematik steht damit in enger Verbindung. Das Interesse verlagert sich von der Idee einer zu leistenden Grundcntschcidung in der Weltauseinandersetzung auf die Idee eines sich immer erneuernden und erweiternden Lebens. Die Anlage derartiger Vorgangsfiguren weist zugleich auf einen neuen wirkungsästhetischen Zusammenhang. Als ein Allgemeines der in den Prozeßgestalten jeweils verschieden bestimmten Angriffspunkte literarischer Wirksamkeit zeigt sich das Feld von Haltungen und Einstellungen, Ideen und Gefühlen, das sich über dem Verhältnis von Stabilität und Dynamik des neueren sozialistischen Gesellschaftsprozesses bildet. Die Bekräftigung jener psychologischen Momente, die den dynamischen Prozeß betreiben können, ist dabei meist das Ziel (wie stark sich auch immer die Tendenz entwickelt, die damit verbundenen ethischen Probleme ins Allgemein-Menschliche bzw. Individuell-Moralische einer abstrakten Selbstverwirklichung abzudrängen). Die literarischen Prozesse werden zunehmend gegen die scheinbaren Selbstverständlichkeiten und nur angemaßten Sicherheiten geführt; geprüft wird, was kollektiv getan und erreicht wurde. Dieser Ansatz zeigt sich auch da, wo - mit kritisch gezeichneten Figuren - auf Momente von Stagnation im Prozeß der Entwicklung von Persönlichkeiten und Kollektiven und von Rückzug der Interessen ins Privatleben hingewiesen wird. Offenkundig richtet sich die literarische Arbeit keineswegs vorwiegend auf die bestätigende Verbreitung und das Durchsetzen eines bei den führenden Gesellschaftskräften schon vorhandenen Bewußtseins, mehr und mehr dagegen auf die Produktion, das Angebot, den Vorschlag n e u e n gesellschaftlichen Bewußtseins. Das größere Gewicht der beiden zuletzt angeführten Vorgangsfiguren in der neueren Zeit, ihre Art, Reflexion zuzulassen und Problematisierung zu ermöglichen, sind deutlicher Ausdruck dieser Intention. Parteilichkeit geht hier nicht in der Formel auf, die forderte, „die werktätigen Massen für die Politik der Partei zu gewinnen", dafür ein Bild des „wirklich Schöne [n] im Handeln, Denken und Fühlen der Menschen", das „ästhetisch Schöne in der Kunst" 326 einzusetzen und dabei der schon gewonnenen wissenschaftlichen Verallgemeinerung der neuen gesellschaftlichen Prozesse, der bereits erlangten Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung ii»
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zu folgen. Als ihr neues Kriterium gilt auf der einen Seite die eigenverantwortliche Aktivität des Autors in den unabgeschlossenen und schwer zu übersehenden gesellschaftlichen Arbeiten. „Der Schriftsteller", so erläuterte Erik Neutsch 1964 das Prinzip einer „viel tieferefn] Einbeziehung des Künstlers in die Gesellschaft", „sollte sich genug verantwortlich fühlen, sollte in das Leben eingreifen und bestimmte Prozesse, die sich bei uns vollziehen, erkennen und die Politik der Partei eigenverantwortlich durchzusetzen versuchen."327 Solche Literatur wandte sich folglich nicht ausschließlich als „Partei" an die werktätigen Massen, vielmehr als „Genosse" an die Genossen, als „Staatsbürger" an die Staatsbürger, damit, Verantwortung aufrufend, an die Gesamtheit möglichen Publikums im Sozialismus. Und in diese Parteilichkeit war auf der anderen Seite auch das Bestreben eingeschlossen, der Art und den Inhalten der im Sozialismus selbst wurzelnden Widersprüche fragend zu begegnen, einen Beitrag zum Aufdecken der Tendenzen ihrer Lösung wie der in ihnen liegenden problematischen Möglichkeiten zu leisten und damit in der Totalität von Problemstellungen unserer Gesellschaft zu wirken. Den Leuten die Überzeugung zu geben, „daß unsere Literatur ihnen nichts .vorexerzieren' möchte" - das betrachtete Erwin Strittmatter als seine Aufgabe. Und wenn er „gewisse", seiner „Ansicht nach sehr schädliche Verhaltensweisen" in seinem Roman zeigte, so tat er es als Funktionär der Partei.328 Mit der komplexen Problemauswahl und der komplexen Wirkungsrichtung, wie sie sich an den charakteristischen Vorgangsfiguren zeigt, reagierte die Literatur offensichtlich auf eine veränderte Situation errungen durch ein verändertes internationales und nationales Kräfteverhältnis und durch die Stabilisierung des Sozialismus in unserem Land. In dem „Wettlauf", von dem Anna Seghers in ihrem Roman Die Entscheidung erzählte,329 daß er in der frühen Aufbauphase allzuoft noch vom Gegner bestimmt war, in dem Wettlauf zwischen allem Schlechten, was die Menschen forttreibt und zugrunde richtet, und allem, was bestrebt ist, ihnen zu helfen, ihnen den „Anschluß an Genossen" zu ermöglichen, waren jetzt die Chancen deutlich neu verteilt; der „Anteil . . . an den Dingen, die geschehen", welcher nun den Sozialisten, ihrer Verantwortung zufiel, hatte sich vergrößert. Das Gefühl und das Wissen, vor verändertem geschichtlichem Hintergrund und damit in einem neuen Raum gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung wirken zu müssen, bestimmte die Wandlungen im Aufbau der erzählerischen Grundstrukturen. 164
Die gesellschaftliche Rezeption bestätigte die Veränderungen. Bücher, die die charakteristisch werdenden Vorgangsfiguren in die Literatur einführten oder in ihren Möglichkeiten ausschöpften, hatten großen Leseerfolg. Sie waren auf zentralen Gebieten gesellschaftlichen Bewußtseins innovativ, bekräftigten oder klärten neu sich bildende Empfindungen von vielen, provozierten sich verhärtende Vorstellungen von anderen. Deshalb vermochten während der uns interessierenden Zeit gerade sie, die Schwelle der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit (vor der das weniger Bedeutende, Aufregende mit geringem Erfolg und undiskutiert liegenbleibt) zu überschreiten. Heftige Diskussionen entstanden so z. B. um die Bücher Der geteilte Himmel von Christa Wolf und Ole Bienkopp von Erwin Strittmatter. Der Prozeß, in dem die hier vorgeschlagenen Gestalten der untheoretisierten Erfahrung in das allgemeinere gesellschaftliche Bewußtsein eingingen, verlief keineswegs reibungslos. Abgesteckt wird so auch in der gesellschaftlichen Rezeption, im wirklich gebrauchten Literaturensemble ein markantes Feld, das über die Individuen hinweg allgemeine gesellschaftliche Aufmerksamkeiten offenbart. Es zeigt, daß die in ihm angebotenen Weisen der Organisation einer erzählten Welt für die Welt- und Selbsterkenntnis vieler Menschen, für die Orientierung ihres Verhaltens brauchbar waren. Für die gesellschaftliche Wirkung von Literatur ist dieser Vorgang von großer Wichtigkeit. Die in den Prozeßgestalten gezeigten Vorgänge, aufgegriffenen Probleme und vorgeschlagenen Problemlösungen ermöglichen über die einzelnen (das Publikum immer nur in Auswahlen erreichenden) Werke hinweg eine Menge gleichartiger Wirkungen; sie geben auch der im öffentlichen wie im nichtöffentlichen Literaturgespräch und der in der Literaturproduktion stattfindenden Diskussion konturierte, mehr als nur einzelne Werke betreffende Bezugspunkte. Hypothetisch läßt sich sagen, daß sich gerade auf diesem Doppelweg der Ensemblewirkung die gesellschaftliche Funktion von Literatur realisiert. Dies ist allerdings wieder zu relativieren. Leser und Distributionsinstitutionen markierten auch andere Schwerpunkte des Interesses es bezog sich z. B. nicht bloß auf neuentstehende hiesige Literatur, sondern auch auf Literatur der Vergangenheit und des Auslands. Wie sich dieser Aspekt in der jüngeren Geschichte der Literaturverhältnisse der D D R entwickelt hat, ist konkret wenig untersucht. Doch läßt sich für die sechziger Jahre sagen (es wird dies bestätigt durch Auflagenhöhen und durch soziologische Erhebungen mit der Frage, 165
welche Bücher besonders geschätzt werden, welche am meisten bewegt haben), daß neben, ja v o r Titeln unserer Hauptvorgangsfiguren Bruno Apitz' Buch Nackt unter Wölfen (1958) und der erste Band von Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt (1961) große Wirksamkeit erlangt haben.1™ Die Vorstellung von Hauptfeldern des Interesses, die durch Vorgangsfiguren formiert werden, gilt mit den Einschränkungen, die sich daraus ergeben, daß Literatur über zentrale Probleme der hiesigen Gegenwart keineswegs an der Spitze der Leserinteressen steht.
Individualität
und Kollektivität
in der
Strukturbildung
Fragen wir nun danach, welche Probleme der Entwicklungsprozeß der Vorgangsfiguren aufwirft. Zunächst könnte man vermuten, daß ihr Auftreten vor allem aus der Existenz entsprechender Originale im Alltag zu erklären ist. Der Vergleich von Grundanlagen der Literatur der fünfziger und sechziger Jahre zeigt an, daß dies mitspielt. So wären etwa Geschichten des Eintritts in eine entwickeltere Stufe des Sozialismus selbstverständlich früher nicht möglich gewesen. Doch resultieren die Vorgangsfiguren nicht allein hieraus: Konflikte unter Sozialisten z. B. sind nicht neu in der nun beginnenden Zeit. Jurij Brezans Roman Mannes)ahre (1964), der diese Problematik mit stofflichem Bezug auf die frühe Phase des Aufbaus des Sozialismus durchführt, verdeutlicht: Im Aufbau der Vorgangsfiguren wirkt das Entstehen neuer Auffassungen und Intentionen mit, die erst diesen oder jenen Bereich der Realität, diese oder jene Beziehungen, Verhaltensweisen, Prozesse als Gegenstand der literarischen Aneignung und Einwirkung bestimmen lassen. Im Aufbau der neuen Grundanlagen unserer Erzählliteratur traten zuerst die Geschichten der „Einordnung" und der „Produktivitätserweiterung", später die der „Befragung" und des „Herausfalls" hervor. Innerhalb des Spektrums charakteristischer Vorgangsfiguren gab es einen Wandel der Dominanzen. Dieser Prozeß - er hat seinen Einschnitt gegen Ende der sechziger Jahre - kann auf erster Ebene als Ausdruck einer Entwicklungslogik jener Schriftstellergeneration angesehen werden, die bei der Herausbildung der Literatur des entwickelten Sozialismus maßgeblich mitwirkte. Dabei ging es freilich nicht nur um die Äußerung allgemeinen 166
biographischen Ablaufs. Das Hervortreten der literarischen Versuche zur selbstkritisch-kritischen Reflexion in den zuletzt angeführten Vorgangsfiguren war Resultat eines Zeit- und Geschichtsbewußtseins, das sich spezifisch mit dem Abschluß der Vorgänge des Übergangs zum Sozialismus, mit dem Beginn der Arbeiten an seiner weiteren Entfaltung bildete. Allmählich verstärkte sich das Empfinden, in die Gegenwart als in ein gemachtes Heute, in die Zeit sozialistischen Aufbaus zurück schon als in eine Vergangenheit blicken zu können, das Gefühl für einen Zeitenwechsel im Sozialismus, das Distanz schuf, das ein Resümee ermöglichte und im Interesse der Zukunft eine Durchforschung der gegenwärtigen Situation verlangte. Im Vergleich wurde der sozialistische Gesamtprozeß, im verfremdenden Moment die Gegenwart neu befragbar. D a ß diese Befragbarkeit literarisch strukturbildend wurde, steht nun aber offenbar auch immer in einem wirkungsästhetischen Zusammenhang. Dies erst erweist den Akzentwechsel als Äußerungsform einer Entwicklungslogik des gesellschaftlichen Bewußtseins, als Aktion und Reaktion in neuen Diskussionsfeldern. Die Prozeßfigur „Befragung eigener Geschichte im Entwicklungsprozeß der D D R " konstituierte sich auf dieser Ebene wesentlich als eine Operationsform, die in Veränderungen gesellschaftlichen Denkens eingreifen wollte. Mit ihr sollte die Einsicht in die Notwendigkeit erst erzeugt werden, daß wir alle uns dem komplizierten Geschichtsvorgang erinnernd stellen, am Sinn des Vergangenen neu arbeiten, genauer den Gewinn bilanzieren müssen, der im großen sozialistischen Versuch zur Neugestaltung des Lebens erreicht wurde; mit ihr sollte eine Anregung gegeben werden, realistisch beim Inhalt des geschichtlichen Prozesses anzukommen. Sie gründet also auch in Momenten von Vergessen und von vereinfacht kohärenter Sinngebung des Weges in die Gegenwart, zeigt damit kritisch auf den Entwicklungszustand des gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Vorgangsgestalt „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" wiederum konstituierte sich auf dieser Ebene wesentlich als eine Art literarischer Gesellschaftspraxis, die die Gleichmütigkeiten des Alltags heute aufreißen wollte. Sie suchte das Gleichmaß der Gewöhnungen punktuell aufzusprengen, die kleinwerdenden Ansprüche vorzuzeigen, an vergessene Anfangsziele zu erinnern, so Möglichkeiten erneuerten Handelns vorzuspielen. Die aufregende Kraft der wichtigen Bücher dieser Vorgangsfiguren bestätigte diese ihre allgemeinere Bedeutung ebenso wie der Umstand, daß die erzählerische Grundanlage der „Befragung" und des „Herausfalls" bald 167
auch von jüngeren Schriftstellern als Form der Organisation von Erfahrung gebraucht wurde. In höherer Verallgemeinerung ließe sich der Vorgang - mit Worten von Maxim Gorki 331 - als Zug im Entstehen eines von der Wissenschaft durchaus abgehobenen ,,Instinkt[s] des Erkennens" charakterisieren. Gorki prognostizierte schon 1926, daß nach den großen sozialen Umwälzungen die Menschen „verpflichtet und genötigt sein werden, in ihre innere Welt zu blicken, um - wieder einmal - über Ziel und Sinn des Daseins nachzudenken". Es würde nicht schwerfallen, ähnliche Überlegungen von DDR-Autoren heute zu zitieren 3 3 2 - sie betreffen selbstverständlich mehr als nur das Spezielle unserer Prozeßfiguren und keineswegs nur den Blick in die „innere Welt". Gorki sah dabei die neue Unruhe und Kompliziertheit, die er für so viel reicher hielt als Ruhe und Vereinfachungen - „auch wenn diese alle meinen Nächsten Glück verheißen" - , „auf dem Boden aller unserer tragischen Enttäuschungen" erwachsen. Heben wir den möglichen Sinn des gewählten Ausdrucks hervor: Es geht um Ent-täuschung, um den Abbau von Illusionen, damit um den Gewinn wahrer Erkenntnis. Sie kann bitter sein. Tragisch oder elegisch eingetönte Erkenntnis - als ein Moment neu angespannter ästhetischer Bewertung im Versuch, den Widerspruch in der Erfahrung zu klären und ihm gegenüber angemessene Haltungen vorzuschlagen - wirkte in der Ausweitung der Motive aus dem Umkreis der „Befragung" und des „Herausfalls" entschieden mit. Die Suche stößt in der Gegenwart auf „schmerzhaft Unerreichtes und erstaunlich Erreichtes" zugleich, ihr begegnet in der Vergangenheit der ins Heute weiterwirkende, Kraft vermittelnde Vorgang der Veränderung, sie trifft aber auch auf Teile des Prozesses, die weniger als man annimmt, „geklärt und erledigt sind". „Unaufhaltsam", so erklärte Anna Seghers z. B. mit Blick auf den literarischen Zwang, der Vergangenheit sich neu zuzuwenden, und speziell mit Blick auf Hermann Kants Die Aula, an dem sie die „poetische Kraft der Erinnerung" hervorhob, „drängt die Kunst danach zu reflektieren. Und die Wirklichkeit drängt danach, reflektiert zu werden. Sonst bleibt etwas zurück, was Einsicht und Arbeit stört."333 Und schließlich: Bei der Entstehung und Entwicklung der einzelnen Vorgangsfiguren und ihres charakteristischen Spektrums sind auch literarische Tradition und Stellungnahmen zu ihr im Spiel. Daß die Vorgangsfiguren als wiederholbare hervorgebracht werden, ist dabei nicht nur dem Entstehen von Gleichartigkeiten in den Wirklichkeits168
auffassungen, von Gleichgerichtetheit in den gesellschaftspraktischen Interessen geschuldet, sondern auch dem Umstand, daß die literarische Produktion mit schon gewonnener literarischer Erfahrung arbeitet. Weder die Fortexistenz oder der Wandel der Gegenstände noch das Gleichbleiben oder die Veränderung der Interessen schlagen sich in der literarischen Produktion d i r e k t nieder. Wir haben hier vielmehr eines der „höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete", in denen das von Vorgängern und Gleichzeitigen gelieferte Gedanken- und Formmaterial Voraussetzung und Ausgangspunkt neuer Produktion ist, wo die Geschichte der Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens „nichts a novo" schafft, wo dieses Leben „die Art der Abänderung und Fortbildung des vorgefundenen Gedankenstoffs" bestimmt334 - vermittelt über Wirkungen, die von vielfältigen gedanklichen Reflexen dieses wirklichen Lebens ausgehen, vermittelt auch über den sozialen Zusammenhang, in den sich die jeweilige ideelle Produktion stellt. Dieser dialektische Vorgang bewirkt, daß auch die Vorgangsfiguren im Prozeß der literarischen Produktion eine relativ eigene „Entwicklungsreihe" bilden, daß diese aber nicht allein innerliterarischen Bedingungen untersteht. Sie entsteht weder allein aus einer im bestätigenden Wechselspiel von literarischer Rezeption und Produktion sich ergebenden, traditionsstiftenden Weiterverwendung einmal gefundener Gestaltungsarten noch allein aus einer Veränderung, die in einem das produktive und rezeptive Interesse abstumpfenden Üblichwerden der Gestaltungsarten ihren Grund hat, also im moralischen Verschleiß der Formen. Beides ist freilich wesentlich. Die paradigmatische Kraft einmal eingeführter und als gültig anerkannter Vorgangsfiguren, der darin vereinigten Elemente und Strukturen ist unübersehbar, und selbst in den Verwandlungen wirkt noch der Bezug auf diese Paradigmen mit: Man denke nur an die von Hermann Kant mit der Aula eingeführte Figur der „Befragung eigener Geschichte"! Längere Arbeit an einer Konstellation läßt diese zur handhabbaren Form, zum verfügbaren Muster werden - auch der schlichten Nachahmung, einer Reproduktion, die sich nur durch wenig bedeutende Variation in den Strukturen oder nur durch das Anwenden der brauchbaren Strukturen auf weiteren speziellen Stoff charakterisiert. Solch ein Gebrauch von Vorgangsfiguren sagt dann weniger etwas über die gegenständliche Wirklichkeit aus, die in ihnen angeeignet werden soll, als vielmehr über die Prinzipien, nach denen die Wirklichkeit angeeignet wird, über die „Mechaniken" literarischer Ge169
Staltbildung. 335 So entsteht auch - möglicherweise - die Rebellion des Überdrusses, der Versuch, die vorgeprägte Form einfach zu vermeiden: Dieser Vorgang hat in unserer Literatur die Gestalten einer „Einordnung" längst ergriffen, und die Zeit ist nicht fern, da er auch die modisch gewordene Figur der „Befragung" ergreifen wird. In den wichtigen Werken einer Vorgangsfigurenreihe liegen keine bloßen Reproduktionen vor. Ihr Gesetz ist das der Produktion, die sich schon aufbereitete Erfahrung zunutze macht, dabei zugleich immer gegen die Gefahr der Verhärtung schon aufbereiteter Erfahrung polemisiert. Die Reihe von Vorgangsfiguren wird an diesen ihren markanten Stellen daher ebensogut von Ähnlichkeiten gebildet wie von Auseinandersetzungen. Dies kann dazu führen, daß im Verlauf der Entwicklung die Prozeßgestalten bis zum Gegenteil der Ursprungsform transformiert werden. In der produktiven Veränderung bleibt die Reihe gegen die Wirklichkeit hin offen: Die Weiterführung oder Abänderung des in ihr zusammengeschlossenen Gedanken- und Formmaterials bestimmt sich hier aus der Lebendigkeit des Reagierens und Agierens in neuen Bedingungen, des Aufgreifens neuer Ideen, der Bildung neuer Ansatzpunkte literarischer Wirksamkeit. Mit diesen Bestimmungen gleichen die Vorgangsfiguren durchaus den einfacheren, abstrakteren, zur reineren Gestalt gebrachten Motiven, die bei ihrer Bildung entscheidend mitwirken: „Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden und die der Dichter nur als historische nachweist." 336 In dem Goetheschen „nur" steckt die Hälfte des gesamten dialektischen Problems. Auf einem höheren Niveau der Verallgemeinerung betrachtet, sind ja die genannten Vorgangsfiguren keineswegs neu. Gestalten der „Einordnung" in gesellschaftliche Bewegungen, der „Befragung" von Vergangenheit z. B. finden sich in der bürgerlichen und früheren sozialistischen Literatur. Sie entsprechen allgemeinsten Lebenssituationen, sie haben sich als komplexe Organisationsformen von Erfahrung allgemein und besonders auch in Zeiten des Epochenumbruchs bewährt und konnten daher wiederholt werden. Es gibt aber große Einschnitte in der Geschichte, die auf die Art der Reproduktion und Produktion des wirklichen Lebens durch solche Gestalten einen grundsätzlich transformierenden Einfluß haben können, von denen an dann auch ein neues Maß für die Adäquatheit der vorgetragenen Vorschläge gilt. Von hier aus wird auch die Bedeutung der Vorgangsfiguren für das einzelne Werk sichtbarer. 170
„Jedes Kunstwerk ist neu", so heißt es in einer jüngeren Schrift zur Theorie des sozialistischen Realismus, „jedes Kunstwerk anders, jedes ist einmalig." In der „dialektischefn] Einheit des Subjektiven und Objektiven wie des Individuellen und Gesellschaftlichen", die für Darstellungen und künstlerische Bilder gelten soll, wird hier das „Prinzip der Einmaligkeit des einzelnen Kunstwerks" akzentuiert. Die künstlerische Produktion, deren Resultat es ist, läßt sich danach im Unterschied zur industriellen Produktion, die „das Gesetz der Serie kennt", nicht „standardisieren und automatisieren". Wie sie immer individuell bestimmt und subjektiv geprägt bleibe, sei auch jedes ihrer Produkte ein qualitativ neuer Gegenstand, eine schöpferische Leistung, und es wird gesagt, daß dies das „richtige ästhetische Prinzip" sei.337* Tatsächlich: In seiner konkreten Form-InhaltBestimmtheit ist jedes Literaturwerk anders als alle anderen, einmalig und neu, wenn es zum ersten Mal im Literaturprozeß erscheint. Das gilt auch von jenen Werken, deren „serieller" Charakter auf der Hand liegt, vom Kriminalroman etwa, wenn er um ein standardisiertes Figuren- und Problemensemble herum konstruiert wird. Und das gilt um so mehr für unsere Prozeßfiguren, die nicht den Charakter einer seriellen Vorschrift haben. Ankunft im Alltag von Brigitte Reimann, Christa Wolfs Der geteilte Himmel oder Joachim Knappes Mein namenloses Land sind nicht Stücke aus der Produktion eines allgemeinen Modells „Einordnung junger Menschen"; Strittmatters Ole Bienkopp oder Erik Neutschs Spur der Steine nicht Ausführungen eines allgemeinen Entwurfs „Kampf um Produktivitätserweiterung"; Hermann Kants Die Aula, Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. oder Erik Neutschs Auf der Suche nach Gatt nicht quasiidentische Exemplare eines Funktionszusammenhangs „Befragung eigener Gcschichte"; schließlich Günter de Bruyns Buridans Esel, Klaus Schlesingers Alte Filme (1975) oder Erich Köhlers Der Krott oder das Ding unterm Hut (1976) nicht Beispiele eines Musters „Herausfall aus den Gewöhnungen". Gespeist von besonderer Erfahrung, gebildet mit besonderem Material, zielend auf besondere Erkenntnis, durchzogen von besonderen Wertsetzungen, orientiert auf besondere Wirkungen haben alle diese Werke einen unverwechselbaren Charakter. Und sie offenbaren ihre Eigenart auch in der besonderen Polemik gegen das „musterhaft" Gewordene. Diese Polemik aber wird um so effektiver, je erkennbarer noch der Rahmen ist, in dem sie ihre Probleme bewegt, je mehr sie das Muster noch durchscheinen läßt, gegen das sie sich wendet. 171
Das verweist darauf, daß kein Kunstwerk gänzlich neu, gänzlich anders sein kann als alle anderen, daß es in bezug auf weniger konkrete Form-Inhalt-Bestimmtheiten auch nicht einmalig ist, daß seine Produktion „automatisierte" Züge aufweist und daß die Rezeption auch auf das Vergleichbare der Werke, ihr Allgemeines gerichtet ist. Immer hat das Werk, mitunter in starker Transformation, Erfahrungen früherer künstlerischer Produktion in sich, Beziehung auf Tradition, auf dort ausgebildete und bestätigte mehr oder weniger komplexe Formen, Gattungstypen und archetypische Motive. Und immer auch steht es in Verbindung zu benachbarter Kunst. Ist es doch Ergebnis einer Tätigkeit, die, auch wenn sie vereinzelt ausgeübt wird, gesellschaftlich ist, einer Tätigkeit, in der eine bestimmte Gesellschaft die Gegenstände und die Funktionen vorgibt und in der stets, angefangen mit der Sprache, Materialien benötigt werden, welche gesellschaftlichen Charakter haben. Und dies bewirkt, daß in der „dialektischen Einheit" auch die Wiederholbarkeit ein „richtiges" „ästhetisches Prinzip" ist. Deshalb muß die Regel der Einmaligkeit des einzelnen Kunstwerks eine richtige, aber blinde Regel bleiben. Alle diese einmaligen Kunstwerke (wie stark im Speziellen eingeschränkt diese Einmaligkeit sein kann, wurde bereits angedeutet) stehen in Zusammenhängen, die zum Allgemeinen führen - ohne sie könnten sie gar nicht hergestellt und nicht rezipiert werden, und ohne sie könnten sie nicht einmal in dem erkannt werden, was sie einmalig macht. Was mit dem Konzept der Individualität des organischen Kunstwerks nicht zu erklären ist: Die Bedeutung literarischer Arbeiten bestimmt sich nicht aus ihnen allein, sondern aus ihrer Beziehung zum allgemeineren literarischen und ideologischen Hintergrund, den sie mitbilden. In diesen Hintergrund gliedern sie sich spurenlos ein oder heben sich von ihm ab. Sie gebrauchen verfügbar gewordene Formen und Werte des literarischästhetisch-ideologischen Horizonts oder stellen zu ihnen ein produktives Verhältnis her, und das bestimmt ihren Charakter. Einer der Zusammenhänge, die zum Allgemeinen führen, die den Hintergrund abgeben, liegt in den Vorgangsfiguren vor, und er ist ein besonders wichtiger, weil er - im Vergleich etwa zum abstrakteren Zusammenhang der Gattungsstrukturen und der mehr oder weniger archetypischen Motive - werknaher und zeitbestimmter ist: Bestimmte Materialauswahlen aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, bestimmte Personenkonstellationen, Heldentypen, Handlungs- bzw. Ablaufstrukturen, bestimmte Thematisierungen treten auf der Ebene der 172
Vorgangsfigur zusammen. Sie sind deshalb eine entscheidende Umschlagstelle literarischer Wirksamkeit. Diese wird dem sporadischen Leser, der die Vorgangsfigurenreihe nicht kennt, vielleicht nicht bewußt, doch sie gilt auch für ihn, weil wesentliche literarische Gestalten in das gesellschaftliche Bewußtsein eingehen. Die Literatur hat in dem Mechanismus des Spiels von Wiederholung und Erneuerung eine Quelle ihrer Wirkung. Im folgenden sollen die beiden ersten Vorgangsfiguren unserer Erzählliteratur paradigmatisch ausführlicher vorgestellt werden. Wesentliche Probleme der Herausbildung und Veränderung des gesamten Spektrums, der dem Prozeß zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten lassen sich damit veranschaulichen. Ein vollständiger literaturgeschichtlicher Abriß ist dabei nicht beabsichtigt.
Geschichte der Vorgangsfigur n Einordnung in die Welt sozialistischer Praxis" Zu Beginn der sechziger Jahre zeichneten sich literarische Veränderungen nicht zuletzt darin ab, daß die Geschichte der Eingliederung junger Menschen in die Reihen der Sozialisten neu erzählt wurde. Dies geschah in zweifacher Weise: durch ein vertieftes weltanschauliches Ausloten der Entwicklung im Übergang vom Krieg zum Nachkrieg; durch den Versuch, neue Generationen und neue Entwicklungsbedingungen ins Spiel der literarischen Gestalt gesellschaftlicher Einordnung zu bringen. Der Wandel offenbart ein mehrdimensionales Bestreben, einen älteren und weiteren Motivkreis als historisch nachzuweisen. Es wird hier eine als produktiv bestätigte Gruppe von Strukturen in der Prosa, es werden traditionell zu ihr gehörende Stoffe, Personen, Motive, Fabeln, Themen fortgeführt und umgebildet. Längst nämlich hat sich in der Geschichte jüngerer Literatur der Lebensbereich junger Menschen, vornehmlich ihrer Begegnung mit einer historisch neuen oder für die Individuen neuen Welt, hat sich die durch diese Begegnung ausgelöste Auseinandersetzung als ein Wirklichkeitsfeld erwiesen, das allgemein aufregendes und aufschlußreiches Material an Situationen und Prozessen enthält. Es wurde deshalb auch immer wieder zum Gegenstand literarischer Aneignung. 338 Und ebenso hat sich die Figur solcher Auseinandersetzung längst als ein Gestaltungstyp erwiesen, durch den die gesellschaftlichen Verhält173
Vorgangsfigur zusammen. Sie sind deshalb eine entscheidende Umschlagstelle literarischer Wirksamkeit. Diese wird dem sporadischen Leser, der die Vorgangsfigurenreihe nicht kennt, vielleicht nicht bewußt, doch sie gilt auch für ihn, weil wesentliche literarische Gestalten in das gesellschaftliche Bewußtsein eingehen. Die Literatur hat in dem Mechanismus des Spiels von Wiederholung und Erneuerung eine Quelle ihrer Wirkung. Im folgenden sollen die beiden ersten Vorgangsfiguren unserer Erzählliteratur paradigmatisch ausführlicher vorgestellt werden. Wesentliche Probleme der Herausbildung und Veränderung des gesamten Spektrums, der dem Prozeß zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten lassen sich damit veranschaulichen. Ein vollständiger literaturgeschichtlicher Abriß ist dabei nicht beabsichtigt.
Geschichte der Vorgangsfigur n Einordnung in die Welt sozialistischer Praxis" Zu Beginn der sechziger Jahre zeichneten sich literarische Veränderungen nicht zuletzt darin ab, daß die Geschichte der Eingliederung junger Menschen in die Reihen der Sozialisten neu erzählt wurde. Dies geschah in zweifacher Weise: durch ein vertieftes weltanschauliches Ausloten der Entwicklung im Übergang vom Krieg zum Nachkrieg; durch den Versuch, neue Generationen und neue Entwicklungsbedingungen ins Spiel der literarischen Gestalt gesellschaftlicher Einordnung zu bringen. Der Wandel offenbart ein mehrdimensionales Bestreben, einen älteren und weiteren Motivkreis als historisch nachzuweisen. Es wird hier eine als produktiv bestätigte Gruppe von Strukturen in der Prosa, es werden traditionell zu ihr gehörende Stoffe, Personen, Motive, Fabeln, Themen fortgeführt und umgebildet. Längst nämlich hat sich in der Geschichte jüngerer Literatur der Lebensbereich junger Menschen, vornehmlich ihrer Begegnung mit einer historisch neuen oder für die Individuen neuen Welt, hat sich die durch diese Begegnung ausgelöste Auseinandersetzung als ein Wirklichkeitsfeld erwiesen, das allgemein aufregendes und aufschlußreiches Material an Situationen und Prozessen enthält. Es wurde deshalb auch immer wieder zum Gegenstand literarischer Aneignung. 338 Und ebenso hat sich die Figur solcher Auseinandersetzung längst als ein Gestaltungstyp erwiesen, durch den die gesellschaftlichen Verhält173
nisse, die geltende Lebensweise, die Bedingungen individueller Entwicklung in ihrem Wert für die Menschen auf besonders einprägsame und sinnfällige Weise offenbart werden können. Innerhalb dieser Tradition weisen die sozialistischen Darstellungen des Übergangs zu bewußter, kollektiver gesellschaftsverändernder Aktivität auf historisch neue Möglichkeiten im Verhältnis von Individuum, Kollektiv und Gesellschaft und auch im Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit hin. Sozialistische Autoren entwarfen die Prozeßfigur einer Eingliederung zunächst als Figur der Assoziierung und Solidarisierung mit den für die Revolution der gesamten Gesellschaft kämpfenden Kräften der Arbeiterklasse, nach 1945 dann als Figur des Heimatgewinns in einer sich wandelnden Gesellschaft, der Annäherung an diejenigen, die für Frieden, Demokratie, Sozialismus eintraten. Bestätigung der Möglichkeit eines solchen Weges in den strengen Linien der fortschreitenden Geschichte, Bekräftigung derer, die ihn schon eingeschlagen haben, Vermittlung von Impulsen, ihn endlich zu beschreiten - das war das hier zugrunde gelegte Wirkungskonzept: E s zielte auf den Nachweis der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Entscheidung zum Anschluß und zugleich auf den Nachweis ihrer individuellen Notwendigkeit. Sichtbar werden sollte, daß so vielleicht verschüttete Kräfte freigesetzt, vielleicht wildlaufende K r ä f t e produktiv gemacht werden können. Den sozialistischen Gehalt der Vorgangsfigur sicherte aber erst die in der Gestalt mitgegebene Polemik. E s liegt hier ein Gegenentwurf vor zu den verbreiteten literarischen Gestalten einer Ausgliederung oder der Situation des „Draußen vor der Tür" - zu Gestalten, die die Hoffnungen auf ein anderes Leben kritisch und utopisch vermittelten; ein Gegenentwurf auch zu den resignativen Bedeutungen der Prozeßfigur von Eingliederung, wie sie in der bürgerlichen Literatur, die an emanzipativem Wollen festhalten wollte, unvermeidlich aufkommen mußten. D a s von Hegel bereits angemerkte Gesetz des bürgerlichen Helden - der, nach jugendlichen Ausbrüchen einer „Poesie des Herzens", sich mit der „gewöhnlichen Weltordnung" aussöhnt und in sie eintritt, 339 mußte in Zuständen, deren Entfremdung als unaufhebbar erfahren wurde, kritische Beleuchtung erfahren. Die Vorgangsfigur der Einordnung vermochte ihre Besonderheit in der sozialistischen Literatur dadurch zu gewinnen, daß hier die Gestaltbildung auf einem Prozeß der Eingliederung aufbaute und in ihm wirken wollte, welcher als Eintritt in ein Kollektiv aufgefaßt wurde, das nicht einfach das Bestehende repräsentiert und an ihm festhält, 174
das vielmehr den Kampf um die Befreiung aller bewußt, gemeinsam und real führt. Es ist der Eintritt in ein Kollektiv, das nicht anders operieren kann als in einer „absoluten Bewegung des Werdens" 340 , das deshalb vom Individuum zwar den Abbau der bloß kritischen Haltung und der utopisch bleibenden Hoffnungen fordert, es aber gerade mit seiner auf Änderung gerichteten Kritik und mit seinem vorausgreifenden Denken braucht. Die Weiterführung oder Wiederaufnahme der Vorgangsfigur der Eingliederung hatte hier anzuschließen, sollte die Tradition sozialistischer Literatur fortgesetzt werden. Doch konnte dies nicht einfach auf Reproduktionen des Früheren hinauslaufen. Der fortschreitende Aufbau neuer gesellschaftlicher Verhältnisse nach der Epochenwende von 1945 ließ nach und nach die Menschen anders werden, die nun den Prozeß einer Ankunft bei den geschichtsbewegenden Kräften zu bewältigen hatten, und er veränderte den Raum, in dem solches Ankommen geschehen konnte. Wie dies der literarischen Aneignungstätigkeit immer neue Anstrengungen abverlangte, zeigt sich - erstens - in den Versuchen, die Prozeßfigur auf immer neue Generationen zu beziehen, sie so zu historisieren. Max Walter Schulz hat 1962 darauf hingewiesen, daß die Erlebnisbereiche der damals jungen Generation in unserem Land sich scharf voneinander abgrenzen; er betonte, wie wichtig es ist, diese Verschiedenheiten bei einer historisch getreuen Darstellung der „ersten Nachkriegsjahre"3/il zu erfassen. E r achtete dabei auf die Verschiedenheiten, die zwischen seinem Helden in Wir sind nicht Staub im Wind (1962) und dem der Abenteuer des Werner Holt (1. Band 1960, 2. Band 1963) von Dieter Noll bestehen. Stärker noch aber markierten sich in der Literatur Unterschiede zwischen jenen Generationen, die, in die Verbrechen des Krieges verstrickt, mit Schuld beladen, ihren neuen Weg anzutreten hatten, und jenen, die „den Faschismus als Kinder, Nachkriegsereignisse und die Spaltung Deutschlands als Jugendliche, unseren Aufbau . . . als junge Männer und Frauen" erlebten. Bücher wie Horst Bastians Die Moral der Banditen (1964) oder Joachim Knappes Mein namenloses Land zeugen davon im Rahmen der hier zu erörternden Vorgangsfigurenreihe. Werner Bräunig betont, daß diese Generation „sich von den nur um fünf Jahre Älteren genauso merklich unterscheidet wie von den nur um fünf Jahre Jüngeren" - mehr, „als uns gemeinhin bewußt ist". 342 Tatsächlich: Grundsätzlich neu stellten sich die Probleme des jugendlichen Helden dar, als mit Büchern wie Ankunft im All175
tag von Brigitte Reimann die „problematische" Jugend343 (wie es hier noch ironisch heißt) Gestalt erhielt, jene wiederum jüngere Generation, die im Übergang zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft ihren Reifeprozeß erlebt. Es ist dies eine Generation, deren Entwicklung nicht mehr von der Überwindung des Faschismus in sich, der Reste der Vergangenheit um sich geprägt ist, sondern von den Bedingungen und Möglichkeiten der sozialistischen Gesellschaftsordnung selbst. Der „Aufstieg ins Leben, in die Welt der Erwachsenen", ist hier - wie Christa Wolf im Kontext des Geteilten Himmels sagte - im Gegensatz zur vorangegangenen Generation nicht „an den gleichzeitigen Aufstieg der neuen Gesellschaft" (nämlich: an eine rasche und tiefe, für alle spürbare Umwälzung der individuellen und kollektiven Beziehungen) gebunden;344 diese Generation hat sich mit dem Sozialismus nicht als mit einer Möglichkeit, einem Ziel kämpferischer Bewegung, sondern als mit einer sie umgebenden Realität auseinanderzusetzen. Mit dieser Jugend endet im übrigen der scharfe Wechsel in den Erlebnisbereichen der Generationen. Mit ihrer Aufnahme in die Literatur war deshalb auch die generationstypische Entfaltung des Gegenstandsbereiches der Vorgangsfigurenreihe im wesentlichen abgeschlossen, nicht aber deren Lebensfähigkeit überhaupt. In den nun ausgearbeiteten drei generationstypischen Fassungen wird sie bis heute weitergeführt. Man erkennt die speziellen Ausprägungen (mit ihren jeweiligen besonderen Stoffen und Themen, Motiven, Personenkonstellationen, Handlungen) später wieder etwa in Günter Görlichs Heimkehr in ein fremdes Land (1974) bzw. im ersten Band von Erik Neutschs Der Friede im Osten bzw. in Joochen Laabs Das Grasbaus (1971). Mit den veränderten Gesellschaftsbeziehungen - dies zum zweiten - erhielten aber auch die Fragen, die literarisch an den Lebensumkreis der Entwicklung junger Menschen gerichtet wurden, neue Akzente. In der Vorgangsfigurenreihe lassen sich deshalb (zum Teil unabhängig von den drei großen generationstypischen Stoffen) neue Problemstellungen und ihnen folgende Strukturen beobachten. Für die allgemeine Vorgangsfigur gilt, daß mit ihr „ein künstlerisch verdichtetes Gesamtbild angelegt wurde, das davon zeugt, in welcher Fülle innerer und äußerer Konflikte, Kämpfe und Auseinandersetzungen . . . sich Menschen verschiedenster sozialer Schichtungen zu Sozialisten wandeln (oder diese Wandlung beginnen)", daß sie zeigte, wie Menschen „im Geiste des revolutionären Sozialismus und in der Wirklichkeit des demokratischen und sozialistischen Aufbaus unseres 176
Landes ihre wirkliche deutsche Heimat suchen und finden". Mit der Prozeßgestalt der Einordnung wurde „die E n t s c h e i d u n g f ü r d e n S o z i a l i s m u s als persönliche und nationale Alternative gegen das imperialistische Deutschland" ästhetisch entdeckt und „ ,mitproduziert', gefestigt, vertieft". 345 Was Mitte der sechziger Jahre mit Bezug auf die speziellere Figur „Einordnung junger Menschen in eine Welt fortgeschrittener sozialistischer Praxis" konstatiert wurde 346 - der Übergang von einer zunächst recht summarisch-thematischen zu einer künstlerisch differenzierten Bewältigung von Problemen unmittelbarer Gegenwart - , das gilt für die Vorgangsfigurengruppe insgesamt. Der Fortschritt resultierte vor allem aus dem Bestreben, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in einer größeren geschichtlichen Dialektik zu erfassen. Zunehmend wird nach dem aktiven geschichtlichen Anteil auch der Entwicklungshelden gefragt. Den allgemeinen Inhalt dieses Bemühens kann die Skizze verdeutlichen, die Werner Bräunig von seinem Roman Rummelplatz bzw. Der eiserne Vorhang gab347 (welcher nach scharfer Kritik der Vorveröffentlichungen nicht erschien). Bräunig wollte die Geschichte eines jungen Mannes schreiben, der - mehr gegen als mit seinem Willen - 1949 in den Uranbergbau kommt, der erlebt, wie die Menschen, die Ereignisse, die Arbeit ihn fesseln, so oder so zum Handeln zwingen, der (wie es mit Berufung auf Christa Wolfs Geteilten Himmel heißt) vom „Sog einer großen geschichtlichen Bewegung" 348 * erfaßt wird, der aber später zv begreifen hat, „daß er auch im Anfang nicht nur irgendwie getrieben, nicht nur bewegt wurde, sondern gleichzeitig bewegte, sich selbst und über sich hinaus". Die wichtigen Bücher, die in den sechziger Jahren auf die Situation der Einordnung junger Menschen in die große geschichtliche Bewegung Bezug nehmen, gewannen ihre Bedeutung durch den Versuch, die literarische Figur des Entwicklungshelden, der für den Prozeß, den er selbst mit ausmacht, im Grunde unzuständig ist, abzulösen, komplexere Beziehungen zu erfassen. Genau hier aber lagen auch die neuen Schwierigkeiten.
Der unzuständige
Held
Die Skizzierung von Problemen dieses Entwicklungsgangs kann am Beispiel des Romans von Dieter Noll beginnen. Er läßt einen ersten Schritt im Umbau der allgemeinen Vorgangsfigur erkennen. 12
Schiens tedt
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Der Held der Abenteuer des Werner Holt wird aus dem ersten Teil des Romans mit einer Erkenntnis entlassen: „Wo hab ich meine Augen gehabt, meinen Verstand? Mein Schicksal ist ein Mensch . . der sich Macht anmaßt über Leben und Tod . . . Und er sah nun: Das Anonyme, das System, wohlgeordnet . . . , eine Hierarchie der Gewalt ist unser aller Schicksal! . . . Nicht Schicksalsmacht über Getriebenen, hieß es, nicht Vorsehung über vorgezeichnetem Weg, nicht Gott über Irdischen, Sterblichen, sondern Menschen über Menschen." Der erste Teil des Buches zeigt in zweifelhaften, vom Helden halb sentimental, halb schlechten Gewissens durchlaufenen Abenteuern ein Massenerlebnis der letzten Kriegsgeneration; es wird flächig, mitunter naturalistisch detailliert erzählt. Doch wird in der zitierten Personenreflexion ein berechtigtes Fazit gezogen: Die scheinbar unentrinnbare Macht des unmittelbar Gegebenen wird - ohne sie doch zu verlassen - im Buch entfetischisiert, auf menschliche Verhältnisse und Größen zurückgeführt, für uns, die Leser, und für den Helden: Die Abenteuer desillusionieren auch ihn, sie führen ihn an die Orte seines Lebens, wo Entscheidungen möglich und nötig sind. Auf der Suche nach dem Punkt sicheren Urteils besteht er diese Entscheidung nicht, aber sein Gefühl rebelliert. Für Dieter Noll, das zeigt diese Anlage, wurde die Doppelfrage nach der Formung des Menschen durch seine Umstände und nach seiner Verantwortung, seinem Anteil an den geschichtlichen Vorgängen wichtig. Größerer Durchblick in bezug auf die erste Hälfte der Schicksalsfrage allein - das verdeutlicht der zweite Teil des Romans - ist nicht dauerhaft und sichert noch nicht das Ankommen in den Verhältnissen eines Landes, in dem nach neuen Wegen gesucht wird. Auch sichert solche Erkenntnis noch nicht das Ankommen in einem eigenen Leben. Holt fühlt sich weiter in einem unentrinnbaren Strom, ausgesetzt und getrieben. Es scheint ihm, als könne er nicht sein eigenes Leben führen - was er ist, kann er nicht akzeptieren, was er sein möchte, muß er gegen sich leisten, und ein „Es" regiert ihn: „Es ist was in mir . . . ich kann es nicht nennen, es treibt mich durchs Leben, treibt mich in Irrtum, Lüge und Schuld. Es ist nichts Übles, es hätte das Menschliche werden können. Jetzt ist es entstellt und verdreht und wie eingefroren." 349 Die Entfetischisierung des äußeren Schicksals wird hier mit dem Aufdecken der entfremdeten Subjektivität fortgesetzt. Holt nennt sie seinen Dämon und mit Büchner - das, was in ihm mordet, hurt, stiehlt. Das Buch zeigt ihn als Marionette der ihm aufgedrängten Lebensauffassungen, be178
sonders der Verantwortungslosigkeit. Anzukommen kann nicht allein bedeuten, in neuen Verhältnissen anzukommen, sondern aus den Deformationen zu sich, zu der verschütteten Schicht der Sehnsucht in sich zu gelangen, nach dem Mehr über dem triebhaften, getriebenen Etwas, über dem sprechenden Tier. Dieter Noll läßt seinen Helden eine Anzahl von Ideologien überprüfen und an zentraler Stelle die Auffassung diskutieren, daß in der Sinnlosigkeit der Welt die Menschen ihrem Dasein selbst einen Sinn zu geben haben. Sich selbst ein lebenswertes Ziel zu setzen und die Möglichkeit zu finden, ein solches Leben zu realisieren - darauf zielt die sich hier ausprägende Figur, die auf eine Eingliederung angelegt ist. Zwei Momente sind charakteristisch: Auf der einen Seite steht die entschiedene Vertiefung der Problemstellung, speziell durch die weltanschauliche Diskussion des „Schicksals", des Zusammenhangs von gesellschaftlichen Verhältnissen, persönlichem Tun, persönlicher Verantwortung, die auf die Defetischisierung der äußeren Zwänge und der marionettenhaften Subjektivität zielt. Damit verbunden ist der Versuch, den Prozeß von Wandlung und Ankunft überzeugend und deshalb - wie Noll es ausdrückte - in der Richtung eindeutig, im Verlauf aber „so kompliziert als möglich" zu zeigen. Es setzt sich in dieser Zeit das Bestreben durch, „ohne antifaschistische Vorgabe" zu arbeiten, oder das Bemühen, nicht Figuren mit den Charakterzügen wenig bestimmter Zwischenschichten zum Proletariat h e i m finden, sondern bürgerlich definierte Helden zur Arbeiterklasse h i n finden zu lassen.350 Gegen den Einwand, daß solche erschwerte Entwicklung nicht schnell genug zu Ergebnissen gebracht werde, ist schon damals ins Feld geführt worden, daß hier eine immanente Polemik mit der vorher oft sich durchsetzenden Art „sozialistischer Heilsgeschichten" 351 vorliegt, mit einem Erzählen, das vereinfachte und verkürzte Entwicklungen favorisierte. Die Autoren, die jetzt die Wandlung junger Deutscher um 1945 vorstellen - und das dabei gewonnene, auch psychologisch reichere Prinzip setzt sich bis heute fort legen Wert darauf zu zeigen, daß es sich bei den hier zum Gegenstand gemachten Entwicklungen um langdauernde, krisenhafte, keineswegs einlinige, keineswegs Rückschläge ausschließende Prozesse handelt. Eine breitausladende romanhafte Struktur schien ihnen eben deshalb gemäß. Bei Dieter Noll und Max Walter Schulz sprengte dies die ursprüngliche Anlage einer Nachkriegsgeschichte und trug sogar dazu bei, den Vorsatz zu vereiteln, die Gestalten bis zum Heim- oder Hinfinden zur Arbeiterklasse durchzuführen. 12»
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Gleichzeitig beobachtet man aber in Büchern dieser Art auch eine entschiedene Grenze. Sie verharren bei Zentralfiguren, die die Welt ihrer Verhältnisse zeigen können, die ihr aber gegenübergestellt bleiben. Die Romane von Max Walter Schulz und Dieter Noll ziehen auf das „Neu-Werden des Menschen im Verhältnis zur sozialistischen Arbeit", auf das verändernde „Erlebnis der ersten großen Produktionsschlachten" in der DDR. 3 5 2 Was sie tatsächlich ausführen, sind Schicksale von Figuren, die auch in den neuen Verhältnissen vor dieser Wende zur produktiven eigenen Aktivität stehen. Solche Darstellung ist in vielfältiger Hinsicht geschichtlich bedeutend. Sie verweist auf eine historische Situation, in der für viele galt, daß sie ihre Welt nicht gemacht haben, daß sie - eben im „Sog einer großen geschichtlichen Bewegung" - in eine von anderen gemachte Welt eintreten müssen. In die literarische Reproduktion dieser Lage ist eingeschlossen, daß das Problem, welches auf der philosophischen Ebene der Bücher mit der Frage nach dem Schicksal diskutiert wird, die Aufhebung von Entfremdung, auf der Ebene der dargebotenen Aktion kaum eine Entsprechung finden kann. (Daß der Weg nicht gefunden wurde, diesen Widerspruch aufzuheben, ist zweifellos der andere Grund dafür, daß die Entwürfe nicht vollendet werden konnten.) Charakteristischerweise mangelt es den Helden an einem bestimmten Pathos des Wollens. Als ungefährer Anspruch ist ihnen das Verlangen zugeordnet, man solle sie als Suchende ernst nehmen. Wahres Pathos hat nur die Forderung der Repräsentanten der neuen Welt, man möge sich auf die Höhe der Geschichte heben, sich zum Verständnis der Epoche schneller durcharbeiten. Dies gerade ist auch die Wirkungsintention: Gezielt wird auf einen kathartisch-verkürzten Erziehungsprozeß bei Leuten, für die - wenn auch vielleicht nicht so kompliziert - die Ausgangssituationen der Helden gelten. Die vertiefte Darstellung des Entwicklungsganges geht hier also noch Hand in Hand mit einer (nur weitergeführten, schon früher ausgebildeten) Struktur der Konfrontation von unzuständigen Helden und einem sie korrigierenden Leben. Damit im Zusammenhang steht, daß die Helden letztlich doch wie auf ein feststehendes Ziel hin in Marsch gesetzt erscheinen. Dieter Noll betonte, daß es ihm als Zeichen für „ideologische Klarheit" darauf angekommen sei, am Individuum einen historischen Fortschrittsprozeß nachzuzeichnen: Der qualitativen Änderung der Gesellschaft sollte - als historisch bestimmtes und von den Überzeugungen des Autors geprägtes Ziel eine qualitative Änderung des Helden entsprechen. Diesem Prozeß 180
widmete er jedes Detail: die Realität wurde . . . allenthalben der Romanidee unterworfen", und dabei wurde nicht nur „die Realität der Figuren", sondern auch die „Realität des Erlebnisses" der Idee geopfert.353 Als teleologische Orientierung wird das Verfahren später einer scharfen Kritik unterzogen. Günter de Bruyn bezeichnet es mit Bezug auf seinen Roman Der Hohlweg (1963) als „Holzweg"; spöttisch charakterisiert er das sich abzeichnende Schema.354 Die Absolutheit dieser späteren Kritik ist offenkundig ungerecht: Aus heutiger Sicht, von ihren veränderten Aufmerksamkeiten und Intetessen her wird der wichtige Schritt verkannt, der mit den genannten Büchern gemacht wurde, vorzüglich aber die auch heute noch aufschlußreiche Leistung der darin durchgeführten Struktur: Es wurden - vielleicht nur symptomatisch - Gesetzmäßigkeiten einer auf die Epochenwende bezogenen Individualentwicklung in unserem Teil Deutschlands erfaßt. Es ist nun außerordentlich bezeichnend, daß in der - zeitlich parallel sich ausbildenden - Vorgangsfigur „Einordnung junger Menschen in eine Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis" zunächst genau das Strukturierungsprinzip der Konfrontation von Individuum und Welt und darin das Charakterisierungsprinzip des unzuständigen Helden wiederkehrte, ohne daß hier jedoch an das Moment der weltanschaulichen und psychologischen Vertiefung in der Entwicklungsdarstellung angeknüpft werden konnte, das die verwandte Vorgangsfigur des Gewinns einer neuen Heimat nach 1945 zu kennzeichnen begann. Die Gestalten der jungen Leute, deren Wege das Zentrum der neuen Prozeßfigur bildeten, hatten ihre Entscheidung nicht im Übergang vom Krieg zum Nachkrieg zu fällen; ihr Leben war nicht mehr unmittelbar mit den Epochenproblemen des Gewinns eines realen Humanismus verknüpft. Und weil der neue Tiefengehalt der veränderten Entscheidungen und Entwicklungen nicht entdeckt, weil die Probleme auf die Ebene der Anerkennung der inzwischen etablierten Moral sozialistischen Verhaltens verlagert wurden, erhielten die gestalteten Vorgänge kein wirkliches geschichtliches Gewicht: Sie wiesen nicht ins Offene. Eine kleinerzieherische Literatur war die Folge. Es war in der Darstellung meist novellistisch zusammengedrängter, aber nicht novellistisch erschütterter Abläufe nicht zu vermeiden, daß der abgeflachte Prozeß der Eingliederung dem einer Anpassung zu gleichen begann: Die unglaubwürdig schnellen Prozesse, in denen die Helden sich tiefgreifend zu korrigieren haben, waren gestalterisch nur dadurch möglich, daß den Figuren nun auch 181
das Pathos des Suchens genommen und ihnen nicht differenzierte Entscheidung, sondern die Anerkennung von Normen auferlegt war. Die Welt, das die Helden umgebende Kollektiv als Repräsentation allgemeiner Verhältnisse, in die sie einzutreten haben, wurde von Widersprüchen weitgehend befreit; sie war so auf vereinfachte Weise befugt gemacht, mit Forderungen aufzutreten. Für die Helden galt es vor allem, nachzuholen und die Schranken i n s i c h aus dem Weg zu räumen. In Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag erweist sich die Leistungsmöglichkeit dieser erzählerischen Anlage. Die Titelchiffre ihres Buches hat einen zweifachen Sinn: An drei jugendlichen Helden wird ein Erziehungsprozeß demonstriert; ihnen werden im einzelnen verschiedene, doch vergleichbare Startpositionen gegeben: Unsicherheit oder zynische Oberflächlichkeit oder eine bloße Filmvorstellung von der Wirklichkeit einerseits, eine Art romantische Sehnsucht oder Hoffnung auf eine Poesie der Technik oder auch einfach Abenteuerlust andererseits. Die Geschichte setzt dagegen parallellaufende Wandlungsprozesse in Gang, die Bisheriges erschüttern, neue Einsichten, neues Verhalten produzieren. Dabei haben die Figuren auf der einen Seite die Sicherheit und Selbstverständlichkeit ihrer neuen Lehrer des Alltags, auf der anderen Seite die Alltäglichkeit einer Arbeit zu erfahren, die - gegenüber den lebensfernen Ausgangsvorstellungen der jungen Leute - weder romantisch noch dramatisch, noch heroisch ist. „Ankunft im Alltag" stellt sich so als Chiffre für die Anerkennung der erzieherischen Kraft der Arbeiter und der Arbeit wie für die Notwendigkeit des Gewinns einer realeren Lebenseinsicht dar. Die die Vorgangsfigur prägende Gestalt einer Erziehung ergab sich hier aus dem auf die Gegenwart ausgedehnten gesellschaftlichen Interesse für Individualentwicklungen, die von einer veränderten, als Erzieher fungierenden Umwelt ausgelöst wurden, für Wege, auf denen ein Zurückbleiben der Individuen hinter gesellschaftlich Notwendigem überwunden werden konnte. Ausgedrückt wird aber zugleich auch eine verallgemeinerte Wirklichkeitsvorstellung, in der das Individuum in seiner Nachholebedürftigkeit vorzugsweise als Objekt von Erziehung und Leitung vorkommt, und realisiert wird eine Wirkungsstrategie, die sich aus dieser Vorstellung ableitet. Von hier bot sich an, Gestalten von glückenden Erziehungsprozessen anzulegen. In dieser Zeit gilt dabei schon nicht mehr die Struktur der Indu182
strieromane der fünfziger Jahre, in denen der Vorgang individueller Entwicklung oft streng parallel mit lokalen Vorgängen des sozialistischen Aufbauwerkes oder der Veränderung der Arbeit geführt, der Erziehungsprozeß deshalb oft gleichzeitig mit dem Gelingen dieser Vorgänge als erfüllt vorgestellt wurde. Es entsprach vielmehr der gerade - im Zusammenhang mit dem Bitterfelder Weg von den Autoren im eigenen Erleben gewonnenen Erfahrung der allgemein erweckenden Kraft der Arbeit, der Kollektivität der Arbeiter, daß der hier sichtbar werdende Enthusiasmus oder die hier spürbare Nüchternheit in der Bewältigung sozialistischer Aufgaben als Drehpunkt neuer Entwicklungen vorgezeigt wurde. Diese allgemeine Emotionalität versperrte jedoch zugleich den Weg für eine Sozialanalyse, die neuere Fragen an das „Schicksal" hätte aufwerfen können. Es begründet den Wert der vorerst mit der Vorgangsfigur „Einordnung junger Menschen in eine Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis" operierenden Bücher, daß es ihnen gelang, einen neuen Generationstyp ins literarische Spiel zu bringen, auch neues Wirklichkeitsmaterial aus dem Bereich der Arbeit in fortgeschritteneren sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen ins allgemeinere Bewußtsein zu transportieren. Wie relativ dieser Wert war, machten später Arbeiten eines Autors eben jener Generation deutlich, die damals von Älteren zur Darstellung gebracht wurde: Volker Brauns „Berichte" aus dem „jugendlichen Jahrzehnt unserer Gesellschaft", veröffentlicht in Das ungezwungne Leben Kasts (1972) - etwa Der Schlamm (mit seinem autobiographischen Erfahrungsmaterial 1959 datiert). Ohne das Korsett der Gestalt einer Erziehung konnte hier mit stärkerer realistischer Härte die widersprüchliche Lebenswirklichkeit der Produktion eingebracht werden. Und es konnte über die Gestalt eines neuen Grundverhaltens, in dem die Unzuständigkeit nicht mehr erste Bestimmung der jugendlichen Figuren war, auch ein neuer Epochengehalt sichtbar gemacht werden. Aus Volker Brauns Geschichten sprach ein Lebensgefühl, in dem das Empfinden aufhörte, daß „das Neue immer von woanders kam und aufgezwungen", in dem gespürt wurde, daß das Land sich „nicht geheimnisvoll, nicht unabhängig von uns, nicht gegen uns, sondern als unsre Arbeit, als unser Leben" bewegt, in dem das Projekt eines in seinen Umkreisen ständig erweiterbaren Daseins der „Arbeit mit vielen und für viele" Motor ist, das Projekt einer Produktion, die sich „veränderte zu einem unerhörten Prozeß der Taten und Erfindungen, zu einer Kunst!" 355 Aus 183
dieser Empfindungswelt werden hier Probleme unserer Gegenwart vorgestellt, die notwendigen und nichtnotwendigen Einschränkungen solcher Aktivitätslust, welche sich in einseitig machende Bindungen nicht fügen will und sich doch in die Kampfbedingungen stellt. Nicht allein, weil für die literarische Aneignung der neuen Spezifik der Jugend im Sozialismus weniger Vorarbeiten zur Verfügung standen, sondern gerade weil solch neuer Epochengehalt nicht erfaßt wurde, erreichten die frühen Bücher der „Einordnung junger Menschen in die Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis" in der Zeichnung von Erziehung und Entwicklung nicht den in der anderen Ausprägung der Vorgangsfigur charakterisierten Neuansatz. Sie reihten sich eher in den Typus der „sozialistischen Heilsgeschichte" mit ihren schnellen, flachen und einlinigen Entwicklungen ein. Kaum jemals kommt in diesen Büchern die innere Spannung auf, von der etwa Max Walter Schulz sprach, als er sagte, der Held werde interessant, „wenn er dem Leser bis zum letzten Augenblick der Handlung ebenso gesichert wie gefährdet erscheint" 356 .
Exkurs:
Poetisierte Industrielandschaft
als -pädagogische Provinz
Um den Ausgangspunkt der Vorgangsfigur der Einordnung in ihrer jüngsten Ausprägung deutlicher zu kennzeichnen, soll ihr Umkreis noch etwas weiter ausgeschritten und dabei das zweite Moment stärker beachtet werden, das den literarischen Neuansatz - über die Problematik des jugendlichen Helden hinaus - wesentlich trug: das zu dieser Zeit wieder verstärkt einsetzende Bestreben, zentrale Bereiche der sozialistischen Praxis, die Arbeit in der sozialistischen Industrie und Landwirtschaft, ihre persönlichkeitsbildende Kraft zu erfassen. Woher rührt die Tendenz, diese zwei in ihrem Eigengewicht recht verschiedenen Momente zusammenzuspannen? Studium und Mitleben der praktischen Arbeit im Sozialismus, ja die Veränderung der eigenen Biographie waren damals, im Zusammenhang mit der Bitterfelder Bewegung, von vielen Schriftstellern vor allem der jüngeren Generation, als Voraussetzung akzeptiert worden, vor der Literatur stehende Aufgaben zu lösen. Es ging darum, den in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre spürbaren Rückgang im Versuch zur Darstellung von Arbeit und Arbeiterklasse zu korrigieren. Aufenthalte in verschiedenen Bereichen sozialistischer Praxis sind als Bedingung 184
der Konstellation immer wieder nachzuweisen, so etwa bei KarlHeinz Jakobs in Beschreibung eines Sommers (1961), bei Joachim Wohlgemuth in Egon und das achte Weltwunder (1962), bei Brigitte Reimann in Ankunft im Alltag, auch bei Christa Wolf in Der geteilte Himmel. In der Erzählung von Brigitte Reimann - sie hatte einen Patenschaftsvertrag mit der Schwarzen Pumpe abgeschlossen und längere Zeit in einer Brigade gearbeitet - läßt sich dieses biographische Moment beispielhaft ablesen: Sowohl das äußere Material (Besonderheiten im Bild eines bestimmten Industrie- und Aufbauwerkes) als auch das innere Material (die Konfrontation mit dem neuen Lebensbereich, der Prozeß eines allmählichen Vertrautwerdens) stammen wesentlich aus der aufgesuchten Erfahrung. In den konstellationsbildenden Details und Milieus erscheint genau die Auswahl aus der Wirklichkeit, die bei der Überschneidung der Lebensbereiche von Neuankömmlingen, jungen Intellektuellen und von Brigaden bedeutender Produktionskomplexe vorkommen kann. Brigitte Reimann bekannte, daß ihre Geschichte ohne Abstand, „gewissermaßen parallel" zu „eigenen Erlebnissen in der Brigade" geschrieben worden sei. Aus der Begegnung sind auch die wesentlichen Probleme, Konflikte und Prozesse gewonnen, die die Darstellung in ihren größeren Linien bestimmen. Autobiographisch formuliert: „Der erste Eindruck in unserer neuen Heimat war überwältigend für mich. Von der Neustadt . . . standen damals nur ein paar Blöcke, und es gab nur eine gepflasterte Straße. Auch dem Kombinat, mit seiner fußtief versandeten Werkstraße, mit Barackenlagern und einer für mich unüberschaubaren Wirrnis von Hebezeugen und Gerüsten und halbfertigen Betonbauten, haftete noch ein Ruch von Abenteuer und Klondike an. Zuerst war ich ganz mutlos, ich dachte, ich würde mich nie zurechtfinden . . . Ich habe mich zuerst schrecklich unbeholfen angestellt, ich hatte keine Ahnung von Technik, hatte nie eine Schraube eingezogen oder mit Stemmeisen und Hammer herumgewirtschaftet . . . Ich war als lernbegierige Schülerin zu den Arbeitern gegangen - zu einer Klasse von Heroen. Ich fand das Heldentum, das ich erwartet hatte, in ihrer Arbeit" usw.357 Alle diese Momente finden sich in Ankunft im Alltag wieder. Die Aufnahme des Materials, dabei auch der Art des Erfahrungsgewinns aus dem eigenen Erleben, die motivischen Akzentuierungen und die dem Ablauf zugemessene Bedeutsamkeit gestatten zu sagen, daß auch die beiden genannten thematischen Momente auf die Autorin zurückweisen. 185
Transformiert, auf die jungen Helden projiziert, erscheinen in der Erzählung auch die Probleme der Schriftstellerin. Dieses Verfahren läßt sich auch bei anderen Autoren immer wieder beobachten. Es erweist sich als Möglichkeit, die aktuellen, als repräsentativ und als tief bedeutsam empfundenen Praxiserfahrungen der Schriftsteller - neu erworbenes Wirklichkeitsmaterial und ästhetisches Erlebnis - direkt zu verwerten. Es war (wie eine andere Art der Verarbeitung solcher Erfahrung durch Herbert Nachbar in Die Hochzeit auf Lännecken, 1960, zeigt) keineswegs das einzige, doch aber ein wichtiges Mittel, dem Gegenstand neuerer sozialistischer Gegenwart in unserer Literatur wieder eine breitere Präsenz zu sichern. Für diesen Zusammenhang der Prozeßfigur „Einordnung in eine Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis" spricht, daß sie auch in der literarischen Skizze jener Jahre auftaucht. Wir finden sie schon Ende der fünfziger Jahre in einer Arbeit, die bei der Begründung des Bitterfeldes Weges als Paradigma diente, in Regina Hastedts Die Tage mit Sepp Zach (1959). Hier wurde - übrigens in einem Ensemble literarischer Formen, das es mit seinen Porträts, Skizzen usw. erlaubte, ein ausschnitthaftes Bild von Leistungen und Veränderungen der Arbeiterklasse selbst zu übermitteln - in einer Art autobiographischem Bericht das Erleben der Autorin im KarlLiebknecht-Schacht und der Wandlungsprozeß, den sie in ihren Weltund Kunstauffassungen erfuhr, direkt vorgestellt. Daß auch im Bericht die Prozeßfigur auftauchte, die bei Brigitte Reimann als „Ankunft im Alltag" bezeichnet wurde, weist deutlich auf die in diesen Jahren erneut erfolgende „Ankunft im Alltag", die die Literatur vollzog. Sie kündet, wie Franz Fühmann es mit Bezug auf eine ganze Gruppe von Autoren ausdrückte, von „schönen und tiefen Erlebnissen der Begegnung von Schriftsteller und Arbeiter"358. In Kabelkran und blauer Peter (1961) gibt Fühmann die spezielle Ausgangssituation dieser „Ankunft" genau an: Er schreibt, daß er von der neuen Wirklichkeit nichts kannte „außer ihren Autobahnen und Konferenzsälen und dem Abklatsch der Wirklichkeit auf Rotations- und Schreibmaschinenpapier", daß er „im Gehäuse der Theorien und dem Schattenreich der eigenen Vergangenheit gelebt" hatte und nun gedrängt war, „über unser neues Leben zu schreiben", ein Leben, das er „nur höchst unvollkommen" kannte, dessen „innerste Bezirke" ihm fremd waren, vor denen er Scheu hatte.359 Das Buch gibt - wieder in einem Ensemble von Darstellungsformen (Lebens186
bericht, Gesprächswiedergabe, Reportage) - Zeugnis von dem Versuch des Schriftstellers, in diese innersten Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit einzudringen und dabei einen neuen Abschnitt des eigenen Lebens zu beginnen. Einige Standardmomente der Vorgangsfigur, wie sie auch in den fiktiven Formen auftreten, werden dadurch in ihrer Herkunft aus dem Autorenleben einsehbar: die Gestalten eines ersten Ganges zum Betrieb; des Empfindens von Fremdheit und Befangenheit der „Welt des Großbetriebs" gegenüber; eines langsamen Prozesses, in dem Befriedigung gewonnen wird durch das Erlebnis des Einmündens in einen größeren „Strom", in dem die Arbeit zum „Alltag" wird. 360 Als literarische Verfahren werden diese Gestalten Verfremdungsmittel - Mittel durch die das Selbstverständliche mit den Augen des Neuankömmlings entschlüsselt und auch denen neu gezeigt werden soll, die in ihm heimisch sind, durch die aber auch der Entwicklungsgang des Neuankommenden ausgestellt werden kann; Mittel der Aneignung einer Welt, die, weil sie auch nach jenen „ersten schönen und tiefen Erlebnissen der Begegnung" nicht von innen gewußt und gefühlt wird, in der Beziehung zu ihr, „von außen", vorgestellt wird. 361 Es fällt auf, daß das für wichtige Züge der Vorgangsfigur wesentliche biographische Moment doch nur selten autobiographisch durchgeführt wird. Der Erfahrungszuwachs der Autoren erscheint meist weder in Reportageform noch in einer künstlerischen Figur des eigenen Lebenshorizonts. Dies resultiert aus einem Komplex von Gründen, die mit dem Literaturbegriff dieser Jahre zu tun haben. Erstens. Auf der Wertskala des allgemeinen Literaturverständnisses standen die berichtend-reflektierenden Formen (Reportage, Porträt, autobiographische Skizze usw.) durchaus auf niedrigerer Stufe als die mit durchgeführten fiktiven Gestalten operierenden Formen der Prosa (vor allem größere Erzählung und Roman). Mit allgemeinerem Aussagewert hat z. B. Franz Fühmann beschrieben, daß von vielen seiner Freunde Kabelkran und blauer Peter lediglich als ein „Versprechen" eingeschätzt und ihm nun dringend der große „Betriebsroman" abverlangt wurde. Den Bitterfelder Weg sah er im Klima solcher Forderungen als „schmalen Weg einer bestimmten Lebensänderung für einen bestimmten Genretyp" an: „Der Schriftsteller gehe in einen Betrieb oder in eine L P G und schreibe dann einen .Roman'." 362 Das war sicher eine Interpretation, die die Intentionen der Bitterfelder Konferenz unzulässig reduzierte. Mit Bezug auf die 187
kurz zuvor erschienenen Skizzen von Walentin Owetschkin Früblingsstürme (dt. 1957) wurde auf der Konferenz gegen die Vorstellung, Skizze oder Reportage seien mindere Literaturarten, ausdrücklich polemisiert, und gegen den Roman wurde geltend gemacht, daß auf dem literarischen Gebiet alles in Fluß ist, sich wohl jede Zeit die ihr gemäßen Formen schafft. Trotz solcher Akzente wurde jedoch auf die „künstlerische Meisterschaft" ein gleichsam absoluter Wert gesetzt, die Aufmerksamkeit auf die „künstlerische Gestaltung" des „Neuen" gelenkt, dieses Neue vorzüglich in Verbindung mit der Lösung der großen Produktionsaufgaben für gestaltbar angesehen und die künstlerische Gestaltung vor allem als epische Form, als Roman verstanden. Die Forderung nach künstlerischer Gestaltung des Neuen in solcher Art - die sich im übrigen in der Kritik am Industrieroman der fünfziger Jahre verdeutlichte - basierte allerdings nicht auf einer abstrakten Verabsolutierung etwa bloßer Aktualität oder eines einzelnen Genres, sondern auf einer bestimmten Vorstellung vom Wirksamwerden der Literatur. Es wurde die in ihren Voraussetzungen nicht überprüfte Idee einer begeisternd-identifikatorischen Wirkung ins Zentrum des Konzepts von der literarischen Leistungsfähigkeit gesetzt: „Der Leser wird von den Helden der Romane und künstlerischen Werke oder von der Schönheit der Lyrik angeregt, ihnen nachzueifern."363 Nur die „künstlerisch gestaltete" Literatur und nur eine, die das, was sie erzeugen sollte, auch unmittelbar darstellte, wurde als Garantie für eine solche Wirksamkeit angesehen. Die traditionelle ästhetische Normierung der Literatur und speziell die Norm der epischen Gestaltung des Neuen resultierte aus diesem Funktionskonzept. Zweitens. In dem wiederholten Versuch, bei der Wahl von fiktiv organisierten Ankunftshelden eigenes Erleben zu transformieren, spielten auch Schwierigkeiten bei der Aneignung des neuen Gegenstandes sowie herrschende Vorstellungen vom Typischen in der Literatur mit. Beides kann an der Veränderung des Ich-Erzählers verdeutlicht werden, die sich bei Karl-Heinz Jakobs im Übergang von den kleinen Erzählungen des Bandes Das grüne Land. (1961) zum Roman Beschreibung eines Sommers vollzieht. Karl-Heinz Jakobs hatte in Schwedt „die jüngste Generation der Arbeiterklasse der DDR" 3 6 4 kennengelernt. In der Erzählung Der Wald z. B. versuchte er, Gedanken- und Gefühlswelt dieser Generation aus der Perspektive eines ihrer Angehörigen zu erfassen. Gleichzeitig notiert er in einem Brief - mit Hinsicht darauf, daß die bloße Dokumentation 188
der Taten die Entscheidungen und Überwindungen dieser Jugend nicht herausgibt: „Und ich will ehrlich sein: Ich kann es auch noch nicht erklären. Das alles wird später einmal an anderer Stelle auf vielen Seiten genau auseinanderposamentiert werden." 365 Für den Roman zieht Jakobs aus dieser Einsicht die Konsequenz: Er verändert die Perspektive und gibt die jungen Arbeiter „von außen", im Erleben einer Figur, die nicht zu ihnen gehört. Möglicherweise wirkt hier auch eine Kritik an Verfahren der Schriftsteller älterer Generation mit, die bestrebt waren, ihre Arbeitergestalten „von innen" her zu entwerfen - dabei aber (wie deutlich etwa in Marchwitzas Roheisen) allzuoft ihre eigenen Originaleindrücke den neuen Gegenständen einbrannten. Ist der Ich-Erzähler bei Jakobs eine Projektion des Autors, so ist er doch - und hier kommt die damalige Vorstellung vom Typischen ins Spiel - als eine vom Autor deutlich abgesetzte Figur entworfen. Es war in dieser Zeit (wie anders dann in den siebziger Jahren!) kaum üblich, Figuren von Schriftstellern als Katalysatoren allgemeineren Gesellschaftsaufschlusses und allgemeinerer Problemerkenntnis in den Aufbau literarischer Werke zu nehmen. Es war insbesondere, wie Eduard Claudius in Wintermärchen auf Rügen (1965) beim Nachdenken über den Bitterfelder Weg polemisch konstatierte, „nicht üblich, daß sich der Schriftsteller in die Handlung mischt, unmaskiert sozusagen, oder sich gar selbst und sein Leben unverhüllt mit dem Schicksal seiner handelnden Personen verknüpft"366. Dies verbot sich schon im Hinblick auf das mit dem Mechanismus der Identifikation („die Menschen begeistern und dadurch mithelfen, das Tempo der Entwicklung zu beschleunigen") operierende Funktionskonzept und speziell aus den Inhalten dieser Wirkung (die betont „in den Rahmen der Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe" gestellt wurde).367 Die Figur des Schriftstellers und das an ihm sichtbar zu machende Geschehen mußte unter solchen und ähnlichen Aufgaben als ungenügend exemplarisch erscheinen, als unzureichend mit Identifikationsflächen ausstattbar und daher als von einer zu geringen Typik (im Sinne von Allgemeinheit). Als gesellschaftlich repräsentativ für den Prozeß der Einordnung konnten nur Gestalten junger Menschen oder Gestalten überständiger Zurückgebliebenheit gelten - und sie infolgedessen boten sich für die Projektion der Begegnungserfahrung an. Dabei setzt sich aber eine zweite Sorte von Projektionen symptomatisch durch. Karl-Heinz Jakobs charakterisiert seinen Helden als einen, der mit seinem desillusionierten Zynismus auf dem Stand von 189
1948 stagniert, und demonstriert am Aufbrechen der seiner Figur zugeordneten indifferenten Erregungslosigkeit die Art des früheren Grunderlebnisses seiner eigenen Generation - jenes, das ihr half, ideologische Folgen des Faschismus zu überwinden. Trotz der eingezeichneten, vor allem sprachlich sich manifestierenden Verwandtschaft, steht dieser Held unter dem Niveau des Autors. Vergleichbar das Verfahren von Brigitte Reimann, die als Projektionsfiguren junge, vom Faschismus nicht belastete Menschen wählt, Gestalten, die in der Spielzeit der Erzählung signifikant jünger sind als die Autorin. Beides ist für die zweite Art der Projektion aufschlußreich: Es scheint, als hätten an der Übertragung der eigenen Erfahrungen auf Figuren unterhalb der Einsicht der Autoren gerade ihnen zugehörige habituelle und durch die Begegnung mit der Praxis aktualisierte Gefühle von Inferiorität mitgewirkt (wie sie in biographischer Form z. B. in dem „Obermann-Untermann"-Konzept von Regina Hastedt sich niederschlagen, in ihrer Reduktion der Arbeit des Schriftstellers auf die Interpretation des von der Arbeiterklasse schon Geleisteten). 368 Brigitte Reimann hat später in ihrem 1963 begonnenen Roman Franziska Linkerhand (1974) eine Seite dieses sozial-psychologisch charakteristischen Moments thematisch gemacht und politisch begründet, als sie aus kleinbürgerlichem Elternhaus stammende Gestalten ihrer Generation bei dem Versuch der Einordnung (die sie nun auch in ihren Möglichkeiten ausdrücklich von Anpassung abhebt) vorstellte. Dieser Typ mußte, so heißt es hier wie früher schon bei Christa Wolf, in einer Einordnungswelt, die ihn nur mit Vorbehalt aufnahm, „an sich selbst zweifeln, wenn er nicht an der Gesellschaft zweifeln wollte". Die Romanheldin verallgemeinert, daß damit der Welt Vollkommenheit substituiert wurde und daß ihr Typ dabei gelernt habe, „den Mund zu halten, keine unbequemen Fragen zu stellen, einflußreiche Leute nicht anzugreifen, wir sind ein bißchen unzufrieden, ein bißchen unehrlich, ein bißchen verkrüppelt, sonst ist alles in Ordnung". 369 * Für den wirkungsästhetischen Ansatzpunkt des beschriebenen Darstellungstyps ist nun besonders bezeichnend, daß die Projektionsfiguren auch das ästhetische Verhältnis aufzunehmen haben, welches die Autoren zu Arbeit und Arbeitslandschafr eingingen. Was die Schriftsteller in ihrer Begegnung mit der Praxis empfanden, im Entstehen eines Gefühls „vollkommener, glückhafter Übereinstimmung" 370 : die Schönheit der neuen Umgebung, das Heroische der Arbeit (Beziehungen, die freilich zugleich in der Polemik gegen die Filmvorstellung 190
von schöner Arbeitswelt oder in dem Understatement beim Vortrag von Begeisterung zeitcharakteristisch abgeschattet werden) - gerade dies setzten sie auch in den Horizont ihrer Figuren, und von hier aus ließen sie deren neue Wirklichkeitserfahrung zu einem tiefgreifend entwicklungsfördernden Moment werden. Die in solche Gestalten eingeschlossene Hypothese über allgemeine Bedingungen für eine bewußte Eingliederung in die sozialistischen Lebensordnungen war jedoch nicht unproblematisch. Schaut man genau hin, so wird bald erkennbar, daß es sehr spezielle Ausgangspositionen waren, die die vorgestellten Entwicklungen bedingten und daß es eine poetisierte Industrielandschaft war, die da als pädagogische Provinz auftrat, eine Wirklichkeit, die erzieherisch wirken sollte - nicht zuletzt dadurch, daß die in sie Eintretenden sie als Produkt der Arbeit von anderen anschauten und als schön oder heroisch empfanden.371 Franz Fühmann hat das einer solchen Darstellung zugrunde liegende biographische Moment, dabei die Neigung zu einer undifferenziert und kontemplativ bleibenden Aufnahme der neuen Umgebung in der autobiographischen Form von Kabelkran und blauer Peter genau beschrieben. Gegen aktivere Literaturideen eines Vertreters der Praxis selbst merkt er an, daß er die „Mängel und Schwächen", die „Schwierigkeiten und Widersprüche" des aufgesuchten Lebensbereichs keineswegs übersehen habe und sie auch sichtbar machen wolle, daß wichtiger aber - sicher wohl auch für die intendierte Wirkung - etwas anderes gewesen sei: mit diesen Tagen ist etwas Neues in mein Leben getreten, und dazu muß ich erst einmal ja oder nein sagen, und ich sage ja, aus vollem Herzen ja, so wie ich erst einmal ein Ja sage zu einem Kunstwerk, das mich erschüttert, oder zu einem Menschen, der mich entflammt!"372 Franz Fühmann nennt Probleme, die den Gegenstand einer operativen, in unabgeschlossene Gesellschaftsprozesse eingreifenden Reportage hätten abgeben können - von der beschriebenen Haltung aus jedoch konnten und sollten die neuen Erfahrungen zu einem „Gegenstand für eine Hymne" werden. Die Widerstände des Materials wurden dabei mit Hilfe lyrisierter Reflexion und einer Poetisierung überrannt, die ihre Bilder aus dem Märchenarsenal holten. Vergleichbare Momente finden sich unübersehbar auch in den erzählerischen Versuchen um eine Prozeßfigur der Eingliederung in eine Welt entwickelterer sozialistischer Praxis. Auch hier nämlich erscheint in den vorgestellten neuen Lebenserfahrungen der Helden mochte sich in deren Blick das Bild aufgerauht schöner, malerischer 191
Industrielandschaft ergeben oder aber das nüchterne Bild heroischer Arbeitsleistung - eine durchaus poetisierte Landschaft der Industrie, der arbeitenden, lernenden, gemeinsam tätigen Menschen. (Bei weniger sprachmächtigen Autoren, so etwa bei Paul Schmidt-Elgers in Es begann im Sommer, 1960, führt dieser Weg sofort ins kitschige Klischee.) Und auch hier herrscht eine Wirkungsintention, die, was sie erzeugen wollte, wesentlich über Zeugnisse eines prinzipiellen Ja (wie es Franz Fühmann formulierte) zu vermitteln suchte, über Eindrücke einer Wirklichkeit, die in ihrer Überlegenheit von den Helden erfahren wurde und so auch - das weist auf die hier angesetzte Adressatenbeziehung hin - von den Lesern erfahren werden sollte.
Gewinn von Dialektik
und neue
Wirkungsstrategie
Von heutigen literarischen Erfahrungen her ist nicht zu übersehen, daß der Prozeß einer „Ankunft im Alltag" in dieser ersten Stufe unserer neuen Literaturphase vereinfacht gedacht wurde. Mitte der sechziger Jahre konnte deshalb auch nach einer adäquateren Darstellung des Themas gerufen werden. Noch „nicht sehr behandelt" schien die Frage, „auf welchen Wegen . . . Jugend der sechziger Jahre ihren Weg, ihren heutigen Weg zum Sozialismus"373 findet. Freilich waren die Ansätze dazu längst geliefert. Christa Wolfs Geteilter Himmel markiert den entscheidenden Schritt in der Entwicklung. Die charakterisierte Gegenüberstellung von Erzogenen und Erziehern wird hier in vielfältigere Wechselverhältnisse aufgelöst, und mit den Zügen einer bestimmten Lebenserwartung erhält hier die Heldin, auf die unser Interesse gelenkt wird, ein positives Pathos - das ändert die gesamte Struktur der Prozeßfigur „Einordnung junger Menschen in eine Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis". Die Heldin der Erzählung von Christa Wolf zeigt eine Vielfalt von Ansprüchen, denen eine allgemeinere Gültigkeit nicht abzusprechen ist. Sie werden als Sehnsucht nach einem Leben aus dem Vollen zusammengefaßt, nach einer reichen Welt, nach Offenheit des eigenen Lebens für den großen geschichtlichen Strom, nach Gerechtigkeit und Vertrauen, nach Geduld und menschlicher Aufgeschlossenheit, nach Aktivität. Es geht, wie Christa Wolf im Kontext der Erzählung theoretisch ausführte, um ein immer sich erneuerndes Erlebnis der Selbstverwirklichung als das echte, niemals schal werdende Abenteuer des menschlichen Lebens.374 In Ton und Gehalt der Erzählung wird 192
deutlich, wie eng Christa Wolf der Anna Seghers verbunden ist: dem bei der älteren Erzählerin immer wieder aufscheinenden, von ihr sozial bestimmten Lebensanspruch des proletarischen Menschen, die Hindernisse zu überwinden, die ihn im Unentrinnbaren, Vorgeschriebenen festhalten. Sehr allgemein wird auch bezeichnet, was der Lebenserwartung der Heldin entgegensteht und wogegen sie sich wendet. Es sind die Maskenträger, die Kalten, die Gleichgültigen, die mit Krämermiene dem Leben die Hand hinstrecken, die sich an alles gewöhnen. Ob das Verlangen nach dem Leben aus dem Vollen, ob die mühsam errungene Überzeugung der Heldin, daß die von ihr und ihren Freunden geteilten Lebensgrundsätze das Leben aller bestimmen können, in den widersprüchlichen Entwicklungsprozessen unserer Gesellschaft Bestätigung finden - das ist die große Frage des Buches. Die Antwort wird in konfliktreichen Ereignissen gegeben, hierbei wird auch die menschliche Allgemeinheit der Lebensfragen im historischen, konkreten Gelände der beiden deutschen Staaten zu Beginn der sechziger Jahre aufgehoben, und sie wird im Raum der unmittelbaren Erlebniswelt - nicht im Raum der philosophischen oder politischen Diskussion - gefunden. Parallelitäten und Kontraste, die Motive der Darstellung verweisen auf das Gemeinte: Die Welt der Heldin ist von wiederkehrender kämpferischer Anstrengung durchzogen; die Heldin erlebt Bemühungen mit, eigene und die Schranken anderer zu überwinden - was alles sie bestätigt, was ihre Assoziationsfähigkeit stärkt. Die Welt des Gegenhelden dagegen (wieder eine konstruierte Zuspitzung) ist von Gestalten einer fragwürdigen Charakterlosigkeit und Kleinbürgerlichkeit, von Bürokratie, Chefhierarchie und Dogmatismus bewegt - was alles die der Figur zugeschriebene Neigung, sich treiben zu lassen, sich zu isolieren, zu verhärten, gleichgültig zu werden und das Lieben und Hassen aufzugeben, fördert und den Helden schließlich aus dem Lande gehen läßt. Dargestellt werden Erfahrungen, die kontrastierende Entwicklungen hypothetisch erklären. Das Aufdecken der Fetischisierungen von Oberflächeneindrücken für die Hauptfigur und mit ihr für uns die Leser - ist Gestaltungsprinzip. Deshalb die wiederkehrende Diskussion zwischen der Heldin und dem Gegenhelden der Geschichte, ob Erlebniswelten schicksalhaft gegeben sind; deshalb auch die wiederholte Einzeichnung von Möglichkeiten individueller Entwicklungen, von verpaßten und wahrgenommenen Chancen; deshalb schließlich die Rückblendenkomposition des Buches, in der vorgeführt wird, wie die Heldin das spontan Erlebte bewußt zu verarbeiten hat. Keine
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Schiens tedt
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kleinen Beruhigungen hinzunehmen, aber Verlust und Nötigungen auszuhalten, Selbsttäuschungen abzubauen, die Objektivität der Dinge schärfer zu sehen - das ist nunmehr Inhalt des Erziehungsprozesses. Auch in ihm geht es um eine „Ankunft im Alltag" - die Motivund Metaphernsprache des Buches deutet darauf hin 375 - : aber mit welcher von tragischer Erkenntnis durchzogenen Veränderung! Ausgebrochen aus dem „einförmigen Ablauf ihrer Tage", in einer tagtäglichen Arbeit, die keine Entschlüsse verlangt, durch ein größeres Leben der Liebe, der Arbeit, der politischen Kämpfe geführt, hat die Heldin die Möglichkeit zu erfahren, daß Liebe vergänglich ist wie alles und jedes, die Möglichkeit, daß der großen Empfindung die Zeit der „stumpfen Wiederkehr des Alltags" folgen kann. Hier sich zurechtzufinden, einen Weg zu entdecken, „dem Leben ins Gesicht [zu] sehen, älter und doch nicht härter zu werden" 376 - das bedeutet nun, die Schwelle zum wirklichen Erwachsenwerden zu überschreiten. Christa Wolfs Geteilter Himmel trug dazu bei, ein neues Maß für die Ernsthaftigkeit im Aufgreifen der in der Vorgangsfigur „Einordnung junger Menschen in eine Welt fortgeschrittenerer sozialistischer Praxis" bewegten Probleme, ein Maß für die Tiefe der hier zu leistenden Gesellschaftsanalyse zu schaffen. Es spricht für die Bedeutung dieses Versuchs, daß vergleichbare Charakteristika wenig später auch in Joachim Knappes Roman Mein namenloses Land auftreten, einem Buch, das in der Vorgangsgestalt einen gegenständlichen Bezug auf die Zeit der fünfziger Jahre herstellt und auf die Generation, die 1945 in ihre Jugend eintrat. Auch Joachim Knappes Held hat sich anzustrengen, sich aus dem Getrieben-Werden, aus dem Sich-Treibenlassen zu befreien, und wieder geht es um die Frage nach dem „Schicksal". Sie wird - was Dieter Noll nur verspricht, was Christa Wolf schon ausführt - durch den praktischen, gewöhnlichen Alltag beantwortet. Knappe bildet einen Charakter aus, der mit einem empfindlichen und darin bis zum Mißtrauen gesteigerten Gefühl für die Unverletzlichkeit des menschlichen Stolzes reagiert. Sein Held erhält so ein stilles, ihn oft hemmendes, aber vor jeder niederdrückenden Anpassung bewahrendes Pathos. Die Figur wird von der Sehnsucht nach einem heimatlichen Land geführt, das jugendlich-naiv „Australien" genannt, das als nicht fixiert, als weit entfernt und politisch neutral vorgestellt wird. Von ihm aber erwartet der Held, daß er dort nicht Henkerssohn und nicht Hund sein muß (wie es mit den gesetzten Chiffren für die Her194
kunft der Figur heißt), daß er nicht beiseite geschoben wird und daß er Antwort auf seine Fragen findet. Dieses Land ist zunächst utopisch, dorthin geht kein Weg. Auch der Bauplatz des Eisenhüttenkombinats, auf den der Held gerät, ist zunächst nur Station der Reise; zwar wird er bleiben, aber lange nicht die gesuchte Heimat finden. Die Bedeutung dieser Figur wird im Vergleich mit dem Strukturierungsprinzip der Industrieromane, aber auch der frühen Bücher der Vorgangsfigur der Einordnung erkennbar. (Zum drittenmal erscheint bei Knappe das Eisenhüttenkombinat im Roman der D D R . ) Der Autor legt es darauf an, seinen Helden mit der ganzen Widersprüchlichkeit unserer Wirklichkeit zusammenzuführen. Das Buch läßt die Figur zunächst nicht aus der Unmittelbarkeit seiner sehr eingeschränkten Welt heraustreten; im praktischen Leben wieder, nicht in der politischen oder weltanschaulichen Diskussion, hat sich die Umwelt als das gesuchte Land zu bewähren. Das zu erkennen, fällt dem Helden mit dem mangelnden Überblick schwer, da er sie in einer unentwickelten und widerspruchsvollen Form kennenlernt. Ökonomischer Mangel, Karrierismus, der sich fortschrittlich gibt und sich dogmatisch umhüllt, anonym bleibende Entscheidungen über sein Schicksal lassen ihn lange Zeit stagnieren. Es ist in der Geschichte endlich der Stolz, das Wiedererwachen des Willens zur Selbstachtung, die die Qualifizierung erzwingen. Es ist aber auch das offenbar werdende Bedürfnis in der Welt seiner Umgebung, das dem Helden Mitarbeit abverlangt. Eine dialektische Bewegung, so zeigt das Buch, macht die „Ankunft" aus - das Zueinander von Heimatanspruch und praktischer Erfahrung, dringend gebraucht zu werden. Die „Schicksalsfrage wird gelöst, indem der Held - so die Metaphernsprache des Buches - die Tangenten der Kreise verläßt, die die mögliche Heimat umschließen. Aus dem Stagnieren und dem Gefühl der Machtlosigkeit hat der Held aufzusteigen zu einem Selbstbewußtsein, welches ihm ermöglicht einzusehen: Es geht nicht darum, das ferne Land zu finden, sondern darum, die Macht zu besitzen, dieses Land zu machen. Das „Paradies" heißt: benötigte Mitarbeit und entgegenkommendes Vertrauen. Erst mit der in den zuletzt genannten Büchern sichtbar werdenden Strukturierung, die Individuen und Gesellschaft in eine wechselseitig aktive, dialektische Beziehung bringt, wird für die sozialistische Gegenwart der Anschluß an die große Tradition der Vorgangsfigurengruppe, an ihre bedeutenden Gehalte hergestellt. In dem Maß, wie dieses Prinzip (und nicht das einfachere der „Ankunft" als eines Eintritts in eine von anderen gemachte Welt) bestimmend wird, zeich13*
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nen sich von dieser Seite des Prozesses her die Züge der neuen Epoche unserer Literatur klarer ab. Für die Neufassung der Konstellation, wie sie sich im Geteilten Himmel von Christa Wolf, in Joachim Knappes Mein namenloses Land zeigt, ist offenbar eine veränderte Auffassung von den Aufgaben der Literatur, von ihrer Wirksamkeit entscheidend. Die Autoren halten daran fest, Vorgänge zu modellieren, die den Anschluß an die geschichtsbewegende Kraft der Arbeiterklasse, der Kommunisten, als einen gesellschaftlich und individuell notwendigen Schritt vorführen, als einen Prozeß, in dem die Individuen erst Heimat finden können; einen Raum, in dem ihre ungefähren Hoffnungen Konturen, ihre Träume einen Weg zur Wirklichkeit erhalten; den Raum zu einer Tätigkeit, die Produktivität freisetzt. Bestätigung und Bekräftigung dieses Prozesses - das bleibt ein wichtiger Vorsatz der literarischen Arbeit. Gleichzeitig werden aber neue, bis heute gültige und wichtige Ansatzpunkte für den Eingriff der Literatur in das gesellschaftliche und individuelle Leben gefunden. An der Erzählung Der geteilte Himmel lassen sich allgemeinere Momente neuer Wirkungsstrategie ablesen. Zu ihnen gehört wesentlich der Aufbau eines veränderten Verhältnisses zwischen sozialistischem Ideal und Wirklichkeit in der erzählten Geschichte, ein Verfahren, das zugleich ein verändertes Verhältnis zwischen der erzählten Geschichte und der Realität als ihrem Wirkungsraum organisiert. In der Erzählung geht es nicht - wie früher in der Vorgangsfigur der Eingliederung - in erster Linie darum, gegen die verschüttete Menschlichkeit, die Idealzerstörung der aus dem Faschismus kommenden Helden oder gegen die illusionären, die halbstark „verkorksten" Lebensvorstellungen junger Menschen im Sozialismus neue Werte in einem Erziehungsprozeß einsehbar zu machen und durchzusetzen. Solche Werte werden der Heldin hier als ein von dem Wertsystem der Kommunisten, von der ganzen Realität des sich herausbildenden Sozialismus, von seiner Schule bestärktes, gleichsam naturhaft wirkendes menschliches Potential von vornherein zugeordnet. Christa Wolf verdeutlicht im theoretischen Kontext, was gemeint ist: ein erstrebtes Klima sozialistischer Lebensweise - „Ehrlichkeit, Freimut, Menschlichkeit in den Beziehungen untereinander", „Vertrauen", „Macht der Vernunft" in einer Gesellschaft, die sich vorwärtsbewegt, die „den Menschen produktiv" macht. Ein erstes Moment der Leistungsfähigkeit der Geschichte wird sichtbar. Sie trägt am exemplarischen Fall eine (durch Gegenfiguren freilich abgeschattete) Hypo196
these über allgemeinere Lebenserwartungen der Menschen, speziell der neuen Jugend vor. Unter dem wirkungsästhetischen Aspekt der sozialismusinternen Auseinandersetzung betrachtet, läßt sie sich als Vorschlag ansehen, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Äußerungsformen solcher Lebensansprüche herzustellen, die Konflikte, die aus ihnen in dem widersprüchlichen Entwicklungsprozeß unserer Gesellschaft resultieren, als zu unserem Leben gesetzmäßig gehörend und in ihrer Grundbewegung als produktiv zu werten. Christa Wolf erläutert diesen größeren Zusammenhang auch ausdrücklich: Anders als ihre eigene Generation im gleichen Alter, so führte sie 1963 aus, wüßten die jungen Menschen heute, daß der Sozialismus die einzige Existenzmöglichkeit der Welt von heute und morgen ist; anders aber als ihre Generation im gleichen Alter sei die erste ideologische Entscheidung dieser Generation nicht auf das Nein zum Imperialismus, das J a zur neuen Gesellschaft, sondern auf die Bewegung der neuen Gesellschaft selbst bezogen, die ihr ganzes Leben ist. Diese Jugend wolle die Welt so, wie sie ist, nicht als die beste aller denkbaren Welten widerspruchslos aus der Hand der Älteren entgegennehmen. Christa Wolf betonte, daß auch ihr die oft unbekümmerte Kritik an den Unvollkommenheiten der bisherigen Leistungen weh tue, daß diese Unzufriedenheit jedoch als Ausdruck eines tätigen Optimismus, eines Vertrauens in die Entfaltbarkeit der sozialistischen Gesellschaft, als produktives Moment zu akzeptieren sei, welches selbst Vertrauen verlange. In dem Umkreis der damit berührten Frage siedelt Christa Wolf das „Hauptproblem" vieler junger Menschen der Gegenwart an: „. . . die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Glückserwartung und Glückserfüllung; der Widerspruch zwischen den ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen Möglichkeiten, die wir schon haben und ihrer oft unvollkommenen Verwirklichung durch uns alle" 3 7 7 . Ein zweites wirkungsstrategisches Moment wird hier erkennbar: D i e Figur allgemeiner Lebenserwartungen, von der vorausgesetzt wird, daß wir alle ihre Ansprüche teilen können, wird als Sonde gegesetzt. D i e Geschichte verfährt in ihrer Bindung an die jugendlichunerfahrene Figur so, „als ob wir nichts wüßten und möglichst alles erfahren wollen". Sie geht mit der Heldin „wie in ein unentdecktes L a n d " 3 7 8 und prüft den Wert unseres Lebens: Der Leser wird in den Prozeß dieses Überprüfens einbezogen, als dessen Kriterium die Erzählung die genannten Werte einsetzt. Gefragt wird nach der Art unserer Lebensweise, danach, wie der Sozialismus im Alltag wirkt,
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in welchem M a ß seine Bewegungstendenz schon zur erlebbaren Realität wird. Die Frage wird grundsätzlich positiv beantwortet. Zugleich richtet sich der Appell, der dem vor uns sich abspielenden tragischen Geschehen und dem vor uns ausgebreiteten reflektierenden Durcharbeiten der Erfahrungen innewohnt, nicht allein an den einzelnen mit der Forderung, schneller nachzukommen; er richtet sich an uns alle, an unsere ständig mit der Gesellschaft wachsende Verantwortung, für die Entfaltung des Sozialismus in a l l e n Beziehungen der Menschen energisch zu arbeiten. Im Spiel und Gegenspiel der Erzählung wird die Bedeutung des Gelingens solcher Anstrengungen für den einzelnen demonstriert: Es ist - im Gefüge des Werkes - für die Ausbildung der Lebenshaltungen entscheidend. Wieder haben wir eine Hypothese und einen Vorschlag vor uns: Der drängende Charakter der Erzählung, die auf Verständigung, auf Auseinandersetzung unter Sozialisten zielt - er trat auch schon bei der Erörterung des ersten wirkungsästhetischen Moments hervor - , resultiert wesentlich aus dieser Anlage. Die Erzählung enthält als wichtigen Zug sozialistische Selbstkritik. Das Einsetzen des allgemein-menschlichen Ideals als Vehikel dieser Selbstkritik bleibt freilich auf einer spontanen Ebene der Reflexion: Sie rührt eher ans Herz, als daß sie genau erkennbar macht, auf welcher Stufe wir beim Ausbau sozialistischer Möglichkeiten im Spannungsfeld mit der Wirklichkeit stehen. Sie operiert nicht ü b e r , sondern m i t t e n in dem Widerspruch, den Marx entdeckte, dem Widerspruch, nach dem die „allseitige Verwirklichung des Individuums" erst dann nicht mehr als „Ideal" vorgestellt zu werden braucht, „wenn der Weltanstoß, der die Anlagen der Individuen zur wirklichen Entwicklung sollizitiert, unter die Kontrolle der Individuen genommen ist, wie dies die Kommunisten wollen". 379 Auch bei solcher Operation aber wird ein bedeutendes Stück Sozialanalyse geleistet. Sie konnte nur von einer Literaturkritik verkannt werden, welche von dem spannungsvollen Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit als wichtiger Kategorie der literarischen Arbeit wenig hält und sie ersetzt durch das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft - mit der Forderung, ersteres habe sich allein mit letzterer in Übereinstimmung zu bringen. Als Beitrag zur Auseinandersetzung unter Sozialisten, weiter aber überhaupt als Beitrag gesellschaftlicher Selbstverständigung ist drittens im Feld der intentionierten Wirkungen ein Appell an den Gewinn eines „dauerhaften Optimismus" auszumachen. Dieser Appell zielt wesentlich über den Punkt eines „Ankommens" hinaus auf die 198
Grundlegung einer Lebenshaltung dauernder produktiver Aktivität in den gesellschaftlichen Widersprüchen. Es geht hier um einen wissenden Optimismus, der „die Möglichkeit tiefer schmerzlicher Erschütterung, des Zweifels, der Trauer"380 einschließt, auch - wie gezeigt wurde - um ein Moment der Entsagung im nüchtern werdenden Blick in das helle Licht des Alltags; niemals aber geht es um Verzicht auf die Anstrengung, für ein Leben aus dem Vollen einzustehen. Und es geht um einen tätigen Optimismus, der seine Zuversicht nicht außerhalb der Widersprüche der sich vorwärtsbewegenden sozialistischen Gesellschaft, sondern gerade in ihnen begründet, in ihrer Lösbarkeit und so ihrer Produktivität. Dieser Appell hat zwei Ansatzpunkte, die die Erzählung (als Abstoßpunkte der Selbstverständigung und Selbstbestimmung der Heldin) auch thematisch macht. Es ist auf der einen Seite die Gefahr einer zynischen oder resignativen Selbstaufgabe, wie sie kritisch in der Ideallosigkeit des Gegenhelden erscheint. „Junge Leute", so läßt ihn Christa Wolf gegen die „Empfindlichkeit" (eine der Chiffren des von ihr gesetzten Ideals) sich äußern, „stürzen mit ein bißchen verstiegenen Idealen ins Leben, sie kommen mit der rauhen Welt in Berührung . . . , sie bringen Durcheinander in alte, vielleicht sogar bewährte Einrichtungen, sie kriegen eins auf den Kopf . . . Da zieht man den Kopf eben ein."381 Auf der anderen Seite ist der Angriffspunkt ein „oberflächlicher Optimismus", welcher Zweifel auch als produktive Haltung nicht zuläßt und ebensowenig die Neigung, Argumente zu prüfen; dessen Träger an die Stelle des Wissens Gläubigkeit setzt oder setzen möchte und die Möglichkeit des Widerspruchs von Glückserwartung und Glückserfüllung in unserer Gesellschaft leugnet; der so wenig fähig ist, Belastungen auszuhalten. Wie es möglich ist, einen tragischen Konflikt zu bestehen - auch in Hinsicht auf diese für das gesellschaftliche Selbstbewußtsein wichtige Frage (für deren Beantwortung nur die Kunst Modelle allgemeinerer Reichweite schaffen kann) - dafür stellt der Geteilte Himmel eine Hypothese und einen Vorschlag bereit. Was sich in den Büchern von Dieter Noll und Max Walter Schulz schon ausdrückte - der Zwang zu einer tieferen, weltanschaulichmoralischen Fassung der Probleme individueller Entwicklungen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Fortschreiten das wird von den zuletzt genannten Büchern als Notwendigkeit auch des neuen Abschnitts der Entfaltung des Sozialismus verständlich gemacht. Es ist nicht zuletzt die Idee eines Sich-durch-Arbeitens zu einem „dauer199
haften Optimismus", eines Aufhebens der Utopie in der Realität der sozialistischen Gesellschaft, die an die großen Fragen der literarischen Darstellung der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus anzuschließen vermag. Wie sich im Literaturprozeß dann zeigte, muß eine solche einmal errungene Höhe der Problembewältigung und Adressatenbeziehung freilich keineswegs durchgehend dauerhaft sein. Das Thema des jungen Menschen im Sozialismus wird später wieder aufgegriffen, nun aus der Innensicht jener Generation, die Krieg und Faschismus sehr jung oder gar nicht erlebte, die in und mit dem Sozialismus als einer schon selbstverständlichen Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen aufwuchs. So stellten viele der Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre publizierten größeren Erzählwerke von Autoren dieser Generation die Entwicklungsprobleme der Jugend am Punkt des Erwachsenwerdens inmitten der neuen Gesellschaft erneut vor. Diese Literatur führt damit jene um 1960 einsetzenden Bemühungen fort, das Gegenstands- und Problemfeld des jungen Menschen literarisch anzueignen, und schließt an die Tradition an, dieses Feld in Form von Vorgangsfiguren der Eingliederung zu erfassen: Die Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit wird immer wieder über Vorgänge geführt, in denen „sich der Held auf die Höhe der gesellschaftlichen Normen (manchmal sogar normativ und weniger als sich verändernd begriffen!) durch Einsicht und Eigeninitiative .hinaufarbeiten' muß"382. Diese Struktur verdeutlicht aber, daß es sich hier - bei wiederum neuen Zügen - weniger um das Anknüpfen an das schon erreichte Niveau in der Ausprägung der Vorgangsfigur als vielmehr an ihre frühere, unentfaltete Form handelt. Die relative Wirkungslosigkeit vieler der hierher gehörenden Bücher ergibt sich gerade daraus: Ohne Transformation der bekannten Figur konnten sie neues gesellschaftliches Interesse kaum erregen. Was sie leisteten ist: Genauer als früher wird - aus eigener Erfahrung und intimerer Kenntnis - die Spezifik der charakteristischen Milieus und Situationen, die Spezifik auch der Gedanken- und Gefühlswelt, des charakeristischen Verhaltens dieser Jugend (oft in einer an die Helden gebundenen Erzählperspektive) gekennzeichnet. Wichtiger aber noch als diese stoffliche Bereicherung ist die Veränderung, die Ausgangs-, Dreh- und Zielpunkte der Vorgangsfigur nun erfahren. Worum es hier geht, läßt sich an den Beschreibungen ablesen, die Christel Berger von einigen Büchern dieser Art - von Hans Webers Sprung ins Riesenrad. (1968), Joachim Walthers 6 Tage 200
Sylvester (1970), Joochen Laabs Das Grashaus oder die Aufteilung von 35000 Frauen auf zwei Mann - gegeben hat: Die Helden werden in mehr oder weniger lang dauernden, mehr oder weniger ausführlich dargestellten Entwicklungen bis zu einem krisenhaften Punkt ihres Lebens geführt, an dem sie sich Rechenschaft abzulegen, neue Erkenntnis und Selbsterkenntnis zu gewinnen haben. Den Anlaß der dargestellten Bewegung bietet etwa der Beginn oder das Ende einer Liebe, der Eintritt in die praktische Arbeit. Sie wird erzählerisch oft in einer Art Überschau über das bißchen Biographie durchgeführt. Die Helden haben einzusehen, daß sie ein normales Leben führen, aber - dies kennzeichnet den neuen Ausgangspunkt des in Gang gesetzten Prozesses - wohlbehütet in der Gesellschaft, die es gut meint, risikolos und brav nur „mitgemacht" haben, nur „mitgerutscht" sind „auf der großen Rutsche". Dies erscheint nun als der Stein des Anstoßes. „Denn", sagt der Held bei Joochen Laabs, „daß man weitergekommen ist, sich entwickelt hat, zu was gekommen ist - das besagt gar nichts in einer Zeit, in der alles weiterkommt, sich entwickelt, zu etwas kommt. D a kann es, daß es gerade so um einen steht, genau der Beweis dafür sein, daß man nur mitgetrieben, mitgetrudelt ist, und zwar genau in der Mitte, wo man die wenigste Kraft braucht, viel weniger zum Beispiel, als wenn man stehenbliebe. Selbst Stehenbleiben könnte mehr Persönlichkeit verlangen, meine ich. Aber das führt ab." 383 (Es wird noch zu zeigen sein, daß die dem Helden hier in den Mund gelegte Reflexion keineswegs „abführt".) Die Situation des bloßen Eingegliedertseins in die Gesellschaft (in das große Ganze, die Umwelt - wie es in den Büchern wiederholt heißt) reicht für das weitergespannte Gefühl dieser Figuren nicht aus. Der Prozeß, der an ihnen demonstriert wird (und hier berührt die Transformation schon den Raum der letzten der in unserer Literatur sich ausprägenden Vorgangsfiguren), ist das Verlassen der Gewöhnungen, das Bemühen um eine Haltung größerer Verantwortung aus dem Einverständnis heraus und damit der Prozeß eines „Ankommens" neuer Art. Ein Bewußtsein drückt sich aus - und soll erzeugt werden - , daß eine glatte Anpassung an die Üblichkeiten, Wohlverhalten und eine so erzielte Übereinstimmung (an der im Prinzip die Autoren festhalten) nicht genügt, daß eine aktive Platzbestimmung in der Gesellschaft erst wirkliche Selbstbestimmung und gesellschaftliche Produktivität sichert. Die Selbstkritik macht das Ziel der angestrebten Veränderung namhaft, sie enthält das Ideal. Es erinnert an das uns schon bekannte Bild eines offenen Lebens, einer nicht bequemen, 201
nicht mechanischen, sich gegen Verspießerung wendenden, einer aktiven, größere Verantwortung erheischenden, mit realen Erwartungen ausgestatteten Lebenshaltung des tätigen Optimismus. Es ist die Vorstellung von einem Leben, in dem den „Vorsätzen und Idealen" ursprünglicher Sehnsucht nicht abgeschworen wird, nicht den Träumen als „Zauberkraft", die den Menschen immer neu planen und beginnen lassen; es ist „die Sehnsucht nach Glück, es ist die Neugier, es ist der Mut zur Veränderung, und es ist der unabänderliche Vorsatz, wie ein Mensch leben zu wollen"; es ist die Wahrheit, die weiß: „Dein Haus wird nur solange wohnlich sein, wie du es veränderst. Du wirst nur dort zu Hause sein und eine Heimat haben, wo du mitbaust."384 Überdeutlich sind in solchen Reden und Reflexionen die Anklänge an längst Ausgesprochenes, dem kaum Neues hinzugefügt, das als neuer Kanon nun schon gebraucht werden kann. Spürbar ist aber auch die Neigung zur Reduktion des Ideals einer Veränderung der gesellschaftlichen Lebensweise auf ein abstrakteres Ideal der „Persönlichkeit", wie es die unentschiedenen, labilen, unfertigen Helden, einem Prinzip der Selbsterziehung folgend, nun vor sich selber hinstellen. Diese Reduktion - die im übrigen auch die Vielschichtigkeit des Appells betrifft, wie sie etwa an Christa Wolfs Geteiltem Himmel beobachtet werden konnte, deren positiver Inhalt wieder die Wendung an die Moral des einzelnen ist - wird auch programmatisch ausgeworfen. So heißt es etwa bei Joochen Laabs: „Darin, daß es im Großen richtig läuft, liegt nämlich eine Gefahr, für den einzelnen, daß er meint, es müsse demzufolge auch mit ihm alles richtig laufen."385 Ein dialektisches Bild des Zusammenhangs von gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Verhalten der Individuen, deren wechselseitiger Reproduktion und Produktion kann so nicht entstehen (obwohl die Gestalten der bequemen Anpassung ebenso wie das Ideal der Persönlichkeit bei den so wenig persönlichen Helden auf symptomatischem Wege gesellschaftliche Probleme genug, etwa der Schule und der Universitätsausbildung, anzeigen) und auch nicht i n d e r l i t e r a r i s c h e n A r b e i t der Impetus staatsbürgerlichen Geistes, den die Figuren mitunter zu deklarieren haben.
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Umkehrung der konventionalisierten
Figur
Die Kritik am „Mitrutschen" führt die Helden bis zum Punkte des Übergangs zu einer energischer wahrgenommenen gesellschaftlichen Verantwortung; die Gestalt dieses Prozesses ist die letzte Ausprägung, die die Vorgangsfigur der Eingliederung als Aktion in und Reaktion auf Entwicklungen und Problematiken junger Menschen erhält. Dieser Typ wird wohl fortexistieren, solange z. B. der damit angezeigte problematische Widerspruch zwischen Schule, Lehrausbildung, Universität und der Welt der Erwachsenen oder allgemeiner: zwischen theoretischer Vermittlung kommunistischer Ideale und sozialistischem Alltag fortdauert, solange deshalb ein allgemeineres Bedürfnis existiert, die Erfahrungen dieses Feldes zu organisieren. Das sich oft einstellende Deklarative im Vortrag der Entwicklungsziele und nicht weniger die zunehmende Banalität der Handlungen - deutet jedoch an, daß sich die literarische Produktivität der Prozeßgestalt einer Eingliederung zu erschöpfen beginnt. Als gänzlich handhabbare konventionalisierte Form erscheint sie schon in der Jugendliteratur, so etwa bei Manfred Weinert in Brückenträume (1975). Vielfältig wird in unserer Literatur von ihr Abschied genommen: Detaillierter als früher, reflektierend oder präziser bezogen auf die kleinen Schritte der Entwicklung, werden nun öfter Schicksale an der Epochenwende vorgestellt. Ohne die Tendenz auf das erlösende Ende der Entscheidung und ohne die Unterdrückung der Realität des Erlebnisses wird dabei, so etwa von Hermann Kant im Aufenthalt (1977), der zentrale Held zu minimalen Erkenntnissen geführt, wird gestalterischer Raum für die widersprüchliche Kompliziertheit der Abläufe und der Probleme selbst geschaffen. Die ältere Prozeßfigur erscheint demgegenüber in ihren großen Vereinfachungen. Ähnliches gilt für die Darstellung junger Menschen im Entwicklungsprozeß der D D R . Die Stelle des Interesses, die früher von der Aufmerksamkeit auf die Grundentscheidung besetzt war, wird nun häufig von der Aufmerksamkeit auf die Probleme derer belegt, die längst in der sozialistischen Praxis stehen. An Gestalten der mittleren Generation - so etwa bei Brigitte Reiman in Franziska Linkerhand - wird die Gefahr einer erschlaffenden Routine, in der die Eingliederung sich in eine Anpassung verwandelt, diskutiert; die Notwendigkeit, aus solchem immer wieder möglichen „Mitrutschen" immer wieder aufzubrechen, die Erkenntnis, daß von einer einzigen Grundentscheidung nichts erhofft werden kann. Von hier aus werden auch die ideolo-
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gischen und sozial-psychologischen Qualitäten des Eingliederungsprozesses im Übergang zu sozialistischen Positionen neu befragt. Das Bestreben, die „Dialektik revolutionärer Prozesse" im Spannungsfeld von „Ideal" und „Alltag" zu verdeutlichen,386 führt dazu, die im Motivkreis der „Ankunft" früher erörterten Probleme in komplexere Strukturen einzubetten und neue Vorgangsfiguren aufzubauen. Verwandtes findet sich mit Bezug auf die Jüngsten: Auch der Abschied von der Vorgangsfigur erfolgt in generationstypischen Fassungen. Ein katastrophaler Verlauf der Entwicklung, nicht die Geschichte eines Glückens, sondern die eines Mißlingens von Einordnung wird etwa von Ulrich Plenzdorf in Die neuen Leiden des jungen W. erzählt. Die Prozeßfigur wird hier bis zu ihrem Gegenteil transformiert. Auf diese Transformation soll im folgenden noch eingegangen werden. Ulrich Plenzdorf hat im Gefüge der eingeschriebenen Kunstbeziehungen seiner Arbeit genauer bezeichnet, was an unmittelbar vorhergehender Gestaltung hier unter Kritik gestellt wurde. Beschrieben werden Szenenfolgen seines eigenen Films Kennen Sie Urban? (1971); spöttisch akzentuiert erscheinen dabei auch Strukturzüge der Vorgangsgestalt der Eingliederung: „Es ging um so einen Typ, der aus dem Bau kam und jetzt ein neues Leben anfangen wollte. Bis dahin hatte er wohl ziemlich quer gelegen, ich meine politisch . . . Gleich nach dem Bau kam er ins Krankenhaus . . ., auf seinem Zimmer lag so ein Agitator oder was das sein sollte. Jedenfalls redete er so. Als ich das sah, wußte ich sofort, was kam. Der Mann würde so lange auf ihn losreden, bis er alles einsah, und dann würden sie ihn hervorragend einreihen. Und so kam es dann auch. Er kam in eine prachtvolle Brigade mit einem prachtvollen Brigadier, lernte eine prachtvolle Studentin kennen, deren Eltern waren zwar zuerst dagegen, wurden dann aber noch ganz prachtvoll, als sie sahen, was für ein prachtvoller Junge er doch geworden war" usw. Sowohl die Konventionalisierung wie die pädagogischen Implikationen des Typs werden im Urteil eines Repräsentanten der Generation, von der die Geschichte handelt, als unangemessen charakterisiert. Gegen die auftretende Figur des Szenaristen - Moment der Selbstkritik des Autors hat der Held zu setzen: „Ich sagte ihm, daß ein Film, in dem die Leute in einer Tour lernen und gebessert werden, nur öde sein kann."387 Was in solchen Sprüchen thematisch gemacht wird, hat die Form in sich: Sie ist entschieden auf neue Kunsterwartungen hin aufgebaut. Dabei liegt die ältere Struktur dem neuen Versuch noch 204
unverkennbar zugrunde - und deshalb gehört er an das Ende ihrer Evolution. Sichtbar wird die Zusammengehörigkeit darin, daß erstens auffällige Charakteristika der frühen Ausprägung der Vorgangsgestalt ausdrücklich verneint und zugleich doch (wie im Vergleich von Elementen und Strukturen der Neuen Leiden mit den in der Filmbeschreibung hervorgehobenen Elementen und Strukturen leicht zu sehen ist) wesentliche Züge ihrer Aufbauart im anderen Bedeutungszusammenhang fortgeführt werden. Sichtbar wird der Bezug auf vorliegenden „GedankenstofT" aber zweitens darin, daß Momente der späten Ausprägung der Prozeßfigur aufgegriffen werden, Momente jener Form, die von der Kritik der properen Jungen und Mädchen ausgeht und sie zu größerer Verantwortung ruft. Dennoch handelt es sich auch hierbei um mehr als um eine einfache Fortführung. Nach einem neuen Blick in die Realität - und in die Literatur - wird eine Figur entworfen, die unsere Aufmerksamkeit auf zwei neue Aspekte lenkt. Erstens darauf, daß sich die Abschiednahme vom bloßen „Mitrutschen" (gerade weil sie sich gegen das Wohl verhalten als erstes Beurteilungskriterium für junge Menschen wendet) keineswegs als sofortiger Übergang zu den vorformulierten edlen Idealen eines produktiven Lebens abspielen muß, sondern auch bei tüchtigen Leuten als Ausbruch geschehen kann, in dem sich die größere Sehnsucht in normennegierenden Formen manifestiert. Verdeutlicht werden soll dabei auch, daß die Integration solcher im weitesten Sinne romantisch wildlaufenden Kräfte in die kollektiven Anstrengungen durchaus nicht immer gelingen muß. Neu ist nicht, darauf wies die Kritik hin, die Figur des Außenseiters; aber gewöhnlich blieben - als Ausdruck des Grundprozesses bei der Lösung seiner Konflikte in unserer Gesellschaft - die „dabei zitierten Typen . . . immer überzeugbar, mithin rettbar im Ideologischen, Psychischen und Physischen"388. An Edgar Wibeau wird zum Vorschein gebracht, daß die Lösungsmodelle, die die sozialistische Gesellschaft für den Konflikt zwischen der „Poesie des Herzens" und der „gewöhnlichen Weltordnung" - um an diese Chiffren zu erinnern - bereitstellen kann, nicht immer ausreichen müssen. Zweitens richtet sich dieser Held nicht - wie zum Teil seine unmittelbaren Vorgänger in unserer Literatur - allein gegen seine eigenen Neigungen zur Bequemlichkeit, gegen sein Bestreben, „niemand Ärger zu machen" (worin auch hier das abstrakte Persönlichkeitsideal wieder mitspielt); s e i n Problem ist vielmehr das des eingerichteten sozialen Lebens. Das ist ein Zug unserer Literatur, der, wie schon betont, 205
auch sonst als Antwort auf ein Moment in der Herausbildung des entwickelten Sozialismus zu beobachten ist; verwiesen wird so auf den Gesellschaftszusammenhang, aus dem sich die Motive der Figur ableiten. Was den Ausbrecher in seinen gleichermaßen jugendlichrigorosen wie diffusen Wünschen nach einem offenen Leben stört, ist nicht „der Sozialismus" - es ist die Normalität, Rechtwinkligkeit, Vorsorge, Geplantheit, das Dasein der „gelassenen Herren" (und Mütter) an den Ufern des kanalisierten Lebens, wie es mit den probeweise eingesetzten Zitaten des Original-Werther heißt, die Regelhaftigkeit der Gesellschaft, die sich auf Arbeit konzentriert, 389 und die damit verbundenen Individualitätsformen. Weniger im Hinblick auf Ziele und Wege, wohl aber im Hinblick auf dieses Nichtgemochte wird für den Helden - und für den Autor - der aus seinen konkreten historischen Bezügen gelöste Werther zur Interpretationshilfe. (Plenzdorf bekennt: „Es ging mir da im Prinzip wie Edgar Wibeau. Zunächst sah ich nur die Aktualität bestimmter Textstellen."' 190 ) In diesem Widerspruch weiß er für Augenblicke nur eins: das „abführende Stehenbleiben". Die starke Wirkung der Arbeit von Plenzdorf beruhte nicht zuletzt auf dieser zweifachen Umkehr der bekannten Prozeßgestalt: Provoziert - „Aber bedenken Sie", heißt es einmal in Brigitte Reimanns letztem Roman, „den positiven Aspekt des Wortes Provokation, wenn man es mit Ermunterung übersetzt . . . oder mit Herausforderung" 391 - wurde hier eine stehend gewordene Figur des literarischästhetisch-ideologischen Horizontes, die Figur der sicher glückenden Ankunft. Sie hatte einmal Gültigkeit, eine produktive Funktion haben können, indem sie den Prozeß betrieb, den sie darstellte; sie enthielt aber in der zur Gewohnheit gewordenen schönen Sicherheit jetzt kaum mehr produktive Impulse, weil sie dort beruhigte, wo neue Problembewältigung anstand. In bezug auf die Genauigkeit in der Analyse des historischen Prozesses, auf dem die Probleme entstehen, erhebt sich die Gestaltung auch in Plenzdorfs Werk kaum über das Niveau des Helden; sie operiert weitgehend innerhalb seiner Spontaneität eines diffusen Protestes gegen bestimmte Seiten der im Sozialismus geltenden gesellschaftlichen Individualitätsformen; macht diese Spontaneität wohl ansichtig, aber kaum durchsichtig. Auch dies kann freilich als eine literarische Leistung betrachtet werden, wenn (wie es zehn Jahre früher im vergleichbaren Zusammenhang bei Volker Braun hieß) solche „Gestalten von Jugendlichen . . . , außer in der Wirklichkeit, nicht vorgekommen waren" 3 9 2 ; als eine
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erkenntnisfördernde Leistung, weil hier nicht allein auf die Existenz solcher Jugendlichen, sondern auch auf Zusammenhänge ihrer Entwicklungsschwierigkeiten mit elementaren Bedingungen der Lebensweise aufmerksam gemacht wurde, auf Widersprüche etwa, wie sie sich in der Wirrnis der Kritik an einem Dasein mit den beschränkenden Grenzen eines Berufs, eines Lohngruppenaufstiegs, in der Verklärung von Unordnung und Faulheit, der Forderung, nach Zeit zu leben, wenigstens andeuten. Und als eine produktive Impulse vermittelnde Leistung auch, weil bei aller mitgehenden Sympathie das Schicksal des Helden mit ironischer Distanzierung als Irrlauf charakterisiert wird. Die Fabel zeigt, daß das Verhalten des Helden auf die Dauer „popt" es nicht - seinen tieferen Hoffnungen nicht adäquat ist. Es hat da einer seine Geschichte, Verständigung mit dem Publikum suchend, gleichsam augenzwinkernd vorzutragen und zu kommentieren; da er nun tot ist, spricht er sich aus, wie er es im Leben nie getan hätte, und freimütig kann er sein Verhalten so eine „Idiotie" nennen. Freilich verkleinert diese Anlage auch die Probleme. Die Figur ist, so wird später in Volker Brauns Unvollendeter Geschichte (1975) vermutet393 - die damit wieder den Prozeß des motivischen Anknüpfens und Weiterführens ausstellt - , vielleicht ein paar Jahre zu jung, um sich an mehr als an Äußerem zu stoßen: Der schon beschriebene Hilfsmechanismus der Konstellation, die Verjüngung der tragenden Helden, war bei Plenzdorf tatsächlich wieder wirksam. Das zugrunde gelegte Wirkungskonzept wird im Gestaltaufbau sichtbar: Weder erhält der Held recht noch jene, die ihn als Erzieher umgeben. Es entstehen so zwei Reihen, die sich negativ aufzurechnen scheinen,394 es entsteht ein Kontrastbild, dessen positive Werte der Leser für sich entschlüsseln muß. Hier werden nicht Sicherheiten vermittelt, sondern Probleme. Ihre Polyvalenz trat in der Rezeption hervor: Die Geschichte konnte gelesen werden als Aufforderung, ein Mensch zu werden, der mehr will, als nur bequem auf bereiteten Wegen mitzugehen, oder als Warnung, solchen wie dem Helden, „dem sein Alleingang zum Verhängnis wird"395, einfach zu folgen; schließlich - mit dem Aussage-Angebot des Werkes - als Mahnung, solche wie ihn nicht „allein murksen [zu] lassen"396. Aber alle diese Lesarten bleiben auf der Ebene einer Direktheit, die von der Geschichte weit überschritten wird. Ulrich Plenzdorf betonte: „Der Text ist bewußt auf Auslegbarkeit geschrieben."397 Vorgegeben werden - in der Spontaneität des Helden, deren Unmöglichkeit ge207
zeigt wird, ohne ihre partielle Berechtigung und Schönheit zu liquidieren, und in der Bewußtheit der arbeitenden Leute, deren Beschränkungen angedeutet werden, ohne ihre die Produktivität wirklich freisetzenden Leistungen in Zweifel zu ziehen - zwei Reihen, die jede ihren Widerspruch auch noch in sich tragen. Dies ist es, was die Rezeption wesentlich steuern kann: Vor dem Hintergrund des sozialistischen Wertsystems (das selbst widerspruchsvoll ist durch seine weiträumig vorgreifenden Ideale und seine Regeln zur Bewältigung konkreter Aufgaben) löst der gestaltete Widerspruch auch äußerst widerspruchsvolle Empfindungen aus. Es ist eine Funktion der Figur, das Sehen, Fühlen und Denken zu schärfen, ein Verhalten zu ermöglichen, das kritische und selbstkritische Einsichten spannungsvoll vereint. Eben deshalb verlangte sie aber zugleich der gesellschaftlichen Verständigung neue Anstrengungen ab und setzte Streit frei: Sie war nicht glatt auf den literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizont zu beziehen, sie mußte als Hypothese über Schwierigkeiten jugendlicher Entwicklungen erst integriert werden. Zu erinnern ist daran, was anläßlich der in unserer jüngeren Literatur sich wiederholenden Figur des Todes schon allgemein ausgeführt wurde: Es geht in solcher Art von Geschichten nicht darum, Allgemeinheit und Wesen jenes Prozesses, den sie befördern wollen, gültig in die Aussagen oder Handlungen der Figuren zu bringen, Wirkungen über Identifikationen zu erzielen. Es wird darauf gebaut, daß der Sinn des Erzählten sich erst im Leser vollendet. Der erhobene Vorwurf, es mangele der Figur an Typischem (im Sinne von Allgemeinheit), trifft deshalb ins Leere. Es wird hier nämlich - ein charakteristisches Moment über die Geschichte hinaus! - bewußt mit Bereichen der Gesellschaft operiert, die in deren gültigem Wertsystem am Rande stehen; es werden von hier aus Fragen gestellt, die das Handeln und Verhalten in ihrem Zentrum betreffen. Die Allgemeinheit wohl, nicht aber die Echtheit der Figur und ihrer Probleme konnte im folgenden Literaturgespräch bestritten werden. Die gesellschaftliche Aufregung, gleich ob sie Lob oder Tadel war, hatte ihren Grund in der uns allgemein betreffenden Bedeutsamkeit. Spürbar ist eine Verstärkung dessen, was man in unserer Literaturkritik oft das „kritische Element" nennt. Und grundsätzlicher: Es wird mit dem Prinzip der negativen Aufrechnung der zwei Reihen durchaus der Versuch gemacht, Verfahren des kritischen Realismus zu gebrauchen, der Aufschluß über Individuum und Gesellschaft gern über Defizite vermittelt, 398 * aus welchen die Leser erst als Lei208
stung der Rezeption positiv bestimmte Impulse oder Aussagen gewinnen können - sofern sie nicht aus ihnen einfach die tröstende Lebenshilfe holen, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein. Aber Ulrich Plenzdorfs Geschichte bleibt nicht hier stehen. V o r dem Hintergrund des sozialistischen Humanismus, den vertrauensvoll anzusprechen wesentliches Moment der Wirkungsstrategie der Arbeit ist, zeigen sich in den Ambivalenzen von Figur und Welt klare Wertungen. Sie vermögen dem Streit darüber, was hier „eigentlich" gesagt werden sollte, eine klare Antwort zu geben. In deren Richtung weisen auch die in der Geschichte angelegten Entwicklungsmöglichkeiten. Mit den Neuen Leiden gesprochen: Dieser Held ist doch zu retten. Der Weg wird - auch wenn die so aufscheinende geschichtliche D i mension gänzlich unentfaltet bleibt - in dem Miteinander der Zuneigung des Helden zu dem alten Revolutionär und dem jungen Neuerer in seiner Brigade ahnbar gemacht.
n
Probleme der Vorgangsfigur Kampf um Produktivitätserweiterung'
Als die Kunstkritik 1964 eine „Umschichtung der Konflikte" in der Wirklichkeit und damit das Entstehen neuer literarischer Grundsituationen konstatierte, bezog man sich zunächst auch auf die Veränderungen in der Prozeßgestalt der „Ankunft". E i n e neue Fähigkeit „zu einer unserer Gegenwart angemessenen künstlerischen Auseinandersetzung mit ihren Problemen" vermerkte z. B . die im Neuen Deutschland abgedruckte Rezension zum Film Der geteilte Himmel ( 1 9 6 4 ) . 3 " Festgehalten wurde, daß hier - und dies gilt ja zugleich auch für die Erzählung von Christa Wolf - im Aufgreifen von Traditionen klassischer, kritisch-realistischer und sozialistischer Literatur, in jener epischen Struktur, welche das Wirken von Verhältnissen und Menschen auf eine Entwicklungsfigur offenbart, eine neue sozialistische Qualität erreicht wurde. Solche Anlage wurde nun, nach den kontroversen Diskussionen über die Erzählung 1963, in den „Rang der Durchbruchleistung" erhoben. Deutlicher aber wurde Neues an Werken empfunden, die ihre Figuren über die sozialistische Grundentscheidung hinausführten. Interesse fanden dabei besonders jene literarischen Versuche, die das genannte traditionelle epische Gestaltungsprinzip zu überschreiten strebten, die aktive, die Welt ihrer Beziehungen verändernde Charaktere ins Zentrum der Vorgangsgestalten brachten. 14
Schlenstedt
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stung der Rezeption positiv bestimmte Impulse oder Aussagen gewinnen können - sofern sie nicht aus ihnen einfach die tröstende Lebenshilfe holen, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein. Aber Ulrich Plenzdorfs Geschichte bleibt nicht hier stehen. V o r dem Hintergrund des sozialistischen Humanismus, den vertrauensvoll anzusprechen wesentliches Moment der Wirkungsstrategie der Arbeit ist, zeigen sich in den Ambivalenzen von Figur und Welt klare Wertungen. Sie vermögen dem Streit darüber, was hier „eigentlich" gesagt werden sollte, eine klare Antwort zu geben. In deren Richtung weisen auch die in der Geschichte angelegten Entwicklungsmöglichkeiten. Mit den Neuen Leiden gesprochen: Dieser Held ist doch zu retten. Der Weg wird - auch wenn die so aufscheinende geschichtliche D i mension gänzlich unentfaltet bleibt - in dem Miteinander der Zuneigung des Helden zu dem alten Revolutionär und dem jungen Neuerer in seiner Brigade ahnbar gemacht.
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Probleme der Vorgangsfigur Kampf um Produktivitätserweiterung'
Als die Kunstkritik 1964 eine „Umschichtung der Konflikte" in der Wirklichkeit und damit das Entstehen neuer literarischer Grundsituationen konstatierte, bezog man sich zunächst auch auf die Veränderungen in der Prozeßgestalt der „Ankunft". E i n e neue Fähigkeit „zu einer unserer Gegenwart angemessenen künstlerischen Auseinandersetzung mit ihren Problemen" vermerkte z. B . die im Neuen Deutschland abgedruckte Rezension zum Film Der geteilte Himmel ( 1 9 6 4 ) . 3 " Festgehalten wurde, daß hier - und dies gilt ja zugleich auch für die Erzählung von Christa Wolf - im Aufgreifen von Traditionen klassischer, kritisch-realistischer und sozialistischer Literatur, in jener epischen Struktur, welche das Wirken von Verhältnissen und Menschen auf eine Entwicklungsfigur offenbart, eine neue sozialistische Qualität erreicht wurde. Solche Anlage wurde nun, nach den kontroversen Diskussionen über die Erzählung 1963, in den „Rang der Durchbruchleistung" erhoben. Deutlicher aber wurde Neues an Werken empfunden, die ihre Figuren über die sozialistische Grundentscheidung hinausführten. Interesse fanden dabei besonders jene literarischen Versuche, die das genannte traditionelle epische Gestaltungsprinzip zu überschreiten strebten, die aktive, die Welt ihrer Beziehungen verändernde Charaktere ins Zentrum der Vorgangsgestalten brachten. 14
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Als „Durchbruch" in unserer Literatur würdigte - vor einem Hintergrund beginnender heftiger Diskussion - eine Rezension im Neuen Deutschland, Erwin Strittmatters Ole Bienkopp.m Hervorgehoben wurde, daß hier ein zentraler Held (und eine ihm entsprechende neue „Fabelgestalt") vorkommt, der die „Entscheidung, ob Sozialismus oder nicht, schon hinter sich hat", der verändernd agiert und in dieser seiner Aktivität den ernsten, neuen Konflikten sich stellen muß, die aus Widersprüchen innerhalb der sozialistischen Entwicklung selbst erwachsen. Gemeint war etwa der „nichtantagonistische Widerspruch von Demokratismus und Zentralismus" als der zweier gleich wichtiger handlungsbestimmender Prinzipien in sozialistischen Gesellschaftsbeziehungen. Auf die in der Prosa nun hervortretenden Geschichten solcher Art wies auch die dritte der großen Rezensionen, in denen 1964 Neues Deutschland übergreifende Fragen der Kunstentwicklung, der neuen „Gesellschaftskritik in eigener Sache" zur Diskussion stellte.401 An Erik Neutschs Spur der Steine wurde betont, daß die Hauptfiguren, auch die Entwicklungsgestalten, „schon über die Entscheidung zwischen Ost und West hinausgewachsen" sind. Als Zentrum der in den Figurenentwicklungen des vielschichtigen Romans, in der Entfaltung seiner Fabeln hervortretenden Konflikte erschien: „Der Mensch, der als Produktivkraft bewußt oder unbewußt die Produktionsverhältnisse ändert, verändert sein Bewußtsein im allgemeinen nicht in Übereinstimmung mit dem Takt der Veränderungen an der Basis." Innerhalb des literarischen Gesamtprozesses zu einer Literatur sozialismusinterner Auseinandersetzung wurden die zuletzt genannten Arbeiten besonders hervorgehoben - ähnlich auch Willi Bredels Ein neues Kapitel. Chronik einer Wandlung (1964), Jurij Brezans Mannesjahre (1964), Erich Köhlers Schatzsucher (1964), später dann Fritz Selbmanns Die Söhne der Wölfe (1966) oder Eduard Kleins Alchimisten und als deren Tradition Otto Gotsches l i e f e Furchen (1949), Eduard Claudius' Menschen an unserer Seite, Hans Marchwitzas Die Kumiaks und ihre Kinder (1959). Die Literaturkritik betonte vor allem die sich hier abzeichnende eigenwertige Darstellung des „Held[en] des werktätigen Volkes, das an der Macht ist und sich ein eigenes Leben baut". Daß die Literatur intensiver daranging, ein „Bild des Menschen hier und heute" zu entwerfen, der „als Schöpfer und Baumeister unseres neuen Lebens und der neuen menschlichen Welt des Sozialismus" tätig ist,402 konnte als ein Bestreben gewertet werden, das dem Gesellschaftsprozeß in der Peri210
ode des umfassenden sozialistischen Aufbaus adäquat war. Persönlichkeitsentfaltung in der aktiven Bewältigung der Anforderungen sozialistischen Aufbaus, bewußte Veränderung der Arbeits- und Lebensbereiche durch Menschen, die ihre Entscheidung für den Sozialismus längst getroffen haben, das erschien bald auch in der literaturpolitischen Programmatik als jenes Stoff- und Themenfeld, das eine Kunst erfassen mußte, die in der Zeit der Vollendung des Sozialismus angemessen wirksam werden wollte. Ohne „das antifaschistisch-antimilitaristische Thema" und die „Problematik der Ablösung des Menschen von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ideenwelt und seines Übergangs auf sozialistische Positionen" zu vernachlässigen, sollte - so wurde auf dem VII. Parteitag formuliert - „für die Zukunft die Gestaltung des den Sozialismus vollendenden Menschen zur zentralen Problematik gemacht werden". 403 Literatur, Literaturkritik und Programmatik für die Literatur bezogen sich mit ihrer Wendung an die aktiv, bewußt und schöpferisch im Sozialismus für den Sozialismus arbeitenden Menschen auf eine neue geschichtlich-gesellschaftliche Lage. Nicht die Grundlegung des Sozialismus, sondern dessen Entfaltung stand nun an. Damit und mit den entsprechenden Bewußtseinsvorgängen und Aktivitäten mußten neue Vorstellungen davon entstehen, was an den vielfältig bleibenden Persönlichkeitsentwicklungen und Problemsituationen als relevant für viele und für das Ganze gelten konnte, und damit auch neue Ideen davon, was auf Gestaltung in realistischer Literatur vorzüglich Anspruch zu machen vermochte, worauf sozialistische Literatur vor allem wirken sollte. In dem Satz, daß es in den zeitcharakteristischen, vorbildhaften künstlerischen Werken „nicht mehr um Entscheidungen f ü r den Sozialismus, sondern i m Sozialismus" geht, spezieller „um die ästhetische Erfassung der Veränderung des Menschen, der in unserer Zeit und in unserer Republik an der Spitze von Kollektiven bewußt die Entwicklung des Sozialismus vorantreibt", 404 gewannen solche Vorstellungen von neuen, typischen Grundsituationen und Individualwegen eine programmatische Form. Ästhetisch-philosophisch überhöht wurde das Problem gefaßt, als gesagt wurde, daß die bestimmende „Dialektik von Individuum und Gemeinschaft" heute nicht mehr von der „ .Ankunft' des Individuums in der Gemeinschaft" gekennzeichnet sei, daß sie vielmehr als ein Verhältnis der folgenden Art aufgefaßt werden müsse: „Das Subjekt ist angelangt an der Front des Fortschritts, seine eigene Tat treibt sie jetzt mit voran." Von hier aus konnte die sogenannte An14*
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kunftsliteratur in gegenständlicher und funktionaler Hinsicht dann auch als Ausdruck einer zu Ende gehenden „Stufe unserer Literaturentwicklung" erscheinen. 405 Mit der idealisierenden Abstraktion typischer Entwicklungssituationen und Problemlagen zu „dem Subjekt", das die Front „des Fortschritts" vorantreibt, oder „des Menschen", der Schöpfer „des Sozialismus" ist, hatte es die Literatur in ihren konkreten Gestalten natürlich wenig zu tun. Das Bemühen der hervorragenden Versuche neuer Art war es gerade, der Illustration solcher Abstraktionen ein Ende zu machen. Ein Darstellungsraum war zu erschließen, in dem die Gesellschaft - die Beziehungen und Verhältnisse, in denen die Individuen und Kollektive zueinander stehen - in ihrer wirklichen Machbarkeit, als Prozeß wirklichen Machens vorgezeigt werden konnte; und zwar in den neuen Problemen dieser Machbarkeit und dieses Machens, wie sie sich aus dem Verhältnis von bereits eingerichteter sozialistischer Gesellschaft und diese Einrichtung verändernden Bemühungen ergaben, aus dem Mit- und Gegeneinander verschiedener Anstrengungen um die sozialistische Gesellschaft, aus den Spannungen zwischen individuellen Neuerungsideen der Aktivisten und dem nur kollektiv zu klärenden, zentralistisch verbindlich zu machenden Gesamtwillen. Die ästhetisch-philosophischen Formeln von „dem Menschen" und „dem Subjekt" waren dagegen eher geeignet, die tatsächlichen Beziehungen und Verhältnisse, in denen die Menschen zum „Subjekt" des Fortschritts, zum „Schöpfer" ihrer Welt werden, zuzudecken. Und einseitig war auch die Kritik, die an den neuen Versuchen, den Gesellschaftszusammenhang als bewegliche, die Individuen und Kollektive in ihrer schöpferischen Subjektivität benötigende Beziehung zu entwerfen, am Moment des Spontanen vor allem kritisch ansetzte, die besagte, hier werde eine neue literarische Qualität über Gestalten erreicht, „in denen das schöpferische Talent, das Naturgenie der Klasse noch im Widerstreit ist mit der schon erreichten Bewußtseinshöhe der Klasse". Wenn dabei eingeräumt wurde: „Das bedeutet viel - vor allem die Entthronung des .interessanten' Helden, der keinen Sozialismus will. Es bedeutet ferner die Liquidierung des .positiven Vertreters', der einen stinklangweiligen Sozialismus will" 406 - so wurde zwar der doppelte polemische Ansatzpunkt des neuen Versuchs, kaum aber sein positiver Gehalt erfaßt. Es ging um einen literarischen Nachweis, daß das Fortschreiten im Sozialismus gerade auf der neuen Stufe auf Ideen, Initiativen und Aktivitäten der Individuen und Kollektive 212
angewiesen ist, die den wirklichen Prozeß ausmachen. Es ging um das Aufdecken der Konflikte, die entstehen, wenn Menschen als einzelne oder Gruppen in ihrem kollektiven und gesellschaftlichen Zusammenhang sich etwas zutrauen und aufbrechen, Neues in ihrer Arbeit und in ihren sozialen Beziehungen zu versuchen. Die Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" war eine wichtige Form, dieses Wirklichkeitsfeld zu erfassen und in ihm zu wirken. Das Bemühen der Autoren galt dabei dem zentralen Lebensbereich der sozialistischen Arbeit als einem der immer noch literarisch schwer zu durchdringenden „seelischen Räume des revolutionären Aufbruchs". Das Ringen „um höhere Arbeitsproduktivität" oder all" gemeiner: um Freisetzung der schöpferischen Kräfte der Menschen bildete hier wesentlich Stoff und Thema. In der M i t w i r k u n g am geschichtlichen Vorgang und nicht in der Anschauung von schöner Arbeitslandschaft wurde die Möglichkeit gesehen, „den Prozeß der Arbeit zu poetisieren"407. Das Bestreben, für die subjektiven und objektiven Bedingungen immer produktiverer Arbeitstätigkeit zu wirken, Erfolge und Hemmungen bei weiter fortschreitender Entfaltung der Produktivität kenntlich zu machen, führte dabei stets auf das Feld der gesellschaftlichen Organisation des individuellen und kollektiven Tuns. Der Prozeß der Entwicklung der sozialistischen Demokratie wird deshalb Stoff, Thema und Wirkungsfeld. Der positive
Held im sozialistischen
Spannungsfeld
Die Einführung eines aggressiv-aktiven Charakters in das Zentrum von Vorgangsfiguren, der Aufbau von Fabeln, die vom „positiven Helden"408* formiert werden, hatten im Rahmen der Geschichte der Literatur des sozialistischen Realismus einen bestimmten historischen Sinn. Ermöglicht wurde so die Modellierung von individueller Bereitschaft und organisierter Fähigkeit zur Veränderung kollektiver und gesellschaftlicher Verhältnisse, zur Integration kleinerer oder größerer Menschengruppen im Kampf um einheitlich sinnvolle Ziele, von geschichtsverändernden Kräften, wie sie Menschen aus der Arbeiterklasse, der sozialistischen politischen Bewegung aufbringen konnten. Das Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte, wie es mit der revolutionären Bewegung des Proletariats entstand, konnte so sinnfällig zum Vorschein gebracht werden. Der Entwurf einer Pro213
zeßgestalt „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" gehört in diesen großen Zusammenhang. Spezieller schließt er an das literarische Bestreben an, die Arbeit als ein neues Zentrum des revolutionären Prozesses im Sozialismus nachzuweisen. 409 Was der Versuch genauer in unsere Literatur einbrachte, kann ein kurzer Rückblick auf die Gestalt des positiven Helden verdeutlichen, wie sie für die unmittelbar vorangegangene Zeit charakteristisch war. Sozialistische Aktivisten im Zentrum von Handlungsabläufen wurden 1961 etwa von Bernhard Seeger in Herbstrauch oder von Armin Müller in Du wirst dir den Hals brechen vorgestellt. Die Werke erfuhren damals größere Aufmerksamkeit. Der alte Kommunist einerseits, der sich beauftragt sieht, im Dorf die Sache der sozialistischen Entwicklung zu betreiben, der nun Erfahrungen im Klassenkampf auf dem Lande zu machen hat, der durch seine Anwesenheit festgefahrene Situationen in Bewegung bringt, der perspektivische Überlegungen aufgreifen und praktisch fördern kann; und andererseits der als Bürgermeister in einen abgelegenen Gebirgsort gesandte junge Arbeiter, der durch seine Aktivitäten viele in Aktion setzt, dessen Initialzündungen ein ganzes Dorf anregen, sich in kurzer Zeit zu ändern - das sind die Umrisse des hier agierenden Typs. (Die Figur des Funktionärs, der von außen in einen änderungswürdigen Lebensbereich eintritt, kann überhaupt als ein Standardelement im Aufbau von Konstellationen um den positiven Helden gelten; auch Neutsch oder Eduard Klein gebrauchen später dieses Verfahren.) Geschichtseinsicht und Gesellschaftsüberblick, Einverständnis mit den sozialistischen Verhältnissen und dem Prozeß weiterer Durchsetzung des Sozialismus, gesellschaftlich fundierte, von Funktionären höherer Ebenen gestützte Einwirkungskraft und persönliche Einsatzbereitschaft sind die Kennzeichen des Helden. Seine Rolle im Handlungsspiel (mit ihrer schon standardisierten Personage und Konfliktstruktur) besteht jeweils vorzüglich im Überwinden von Widerstand, wie er aus Haltungen eines - an den Westen geknüpften, von ihm Steuerung erfahrenden - Strebens nach Restauration der alten Verhältnisse stammt oder doch aus einer ans Besitzdenken gebundenen Hoffnung, weitere sozialistische Entwicklungen aufhalten zu können; im Überwinden von Widerstand auch, wie er aus Haltungen des Abseitsstehens, der Gleichgültigkeit, der Unentschiedenheit, des illusionären Träumens, des konservativen Vorurteils erwächst. Auf das Moment von Antagonismus im Kampf verweisen jeweils Mordtat und Tod 214
von politischen Hauptgegnern im Figurenensemble, auf das Moment nichtklassenantagonistischen Widerspruchs die widerspenstigen Verbündeten, die in dem von ihnen verteidigten Produktionsverhältnis des Kleineigentums an eine Grenze ihrer Produktivität geraten sind. (Durchaus erneuernd entwickelt Jurij Brezan diesen übers Politische hinausgehenden Aspekt später in seinem Buch Mannes)ahre.) Das übergreifende Thema wird durch den Fabelschluß offenbart: Notwendigkeit und Unaufhaltsamkeit der Einführung neuer Eigentumsverhältnisse und neuer Arbeitsformen durch Genossenschaften. Erhellung und Bestätigung dieses Prozesses nach seinem historischen Verlauf ist die hervorstechende Wirkungsintention. Im Gesellschaftsbild der Vorgangsfigur - man könnte sie die der „Einführung des Sozialismus in gesellschaftliche Teilbereiche" nennen - erscheinen die wesentlichen Lebensprobleme in diesen Schlüssen als grundsätzlich gelöst. (Auch wenn - wie besonders von Bernhard Seeger410 angedeutet werden kann, daß danach neue „Geschichten" beginnen, das kommende Wegstück beschwerlich sein wird.) Charakteristisch für die hier dargestellte Konfrontation fortgeschrittener, aufs Fortschreiten gerichteter Anstrengungen und zurückgebliebener, aufs Beharren gerichteter Verweigerungen ist aber vor allem, daß die Probleme des positiven Helden durch seine Sorgen um andere, durch seine Unzulänglichkeiten und Fehler in dem Mühen um diese anderen formiert werden, daß der Inhalt seines Kampfes - die Herbeiführung neuer Bedingungen für ein freieres Betätigen menschlicher Kräfte nicht zu seinem eigenen, ihn selbst betreffenden Problem wird. An die bedeutendere Tradition der Darstellung von Aktivisten sozialistischer Arbeit anzuknüpfen verlangte den Bruch mit dieser Problemlosigkeit, die Wiederaufnahme und Weiterführung der Problemhaltigkeit, wie sie etwa in der Figur des Ähre in Eduard Claudius' Menschen an unserer Seite, in der Figur des Lohse in Anna Seghers' Entscheidung gegeben waren. 411 Was diese Gestalten bewegte, war die unter den alten Verhältnissen angestaute, jetzt in neuen Verhältnissen freisetzbare Kraft; die alte Erfahrung des dauernden Zurückgestoßenseins und der daraus entspringende neue politische Wille; ein harter Kampf gegen sich selbst, gegen eigenen Kleinmut und Dumpfheit, um die schnelle Ausbildung der ungefördert gebliebenen Fähigkeiten; die Suche nach dem richtigen Platz; der Mut zur Auseinandersetzung mit Widerstand und Unverständnis dem großen Anspruch auf Produktivitätserweiterung gegenüber: „Unser Leben", so heißt es in Menschen an unserer Seite, „ist etwas, was 215
wir selbst in der Hand haben. Unsere Arbeit gibt uns erst das Leben, gibt uns das, was wir für unser Leben brauchen. Unsere Arbeit ist nicht etwas, was uns knechtet, sondern was uns befreit, was uns unsere Würde gibt, was uns stolz und erst zu wahren Menschen macht." 412 Auf historisch neuer Stufe war nun dieser Anspruch aufzuheben. Erwin Strittmatter gelang dies in Ole Bienkopp. Indem er das alte Problem zum Ausgangspunkt des Figurenaufbaus des positiven Helden machte, den in ihm liegenden Anspruch aber nicht durch einen einmaligen historischen Akt erledigt sein ließ, 413 vermochte er, auch die neuen Probleme literarisch groß zu erfassen. Strittmatter stellt in Ole BienkoppWt einen Charakter vor, der „seine Träume mit Taten in das Leben zu zwingen" sucht. Zähe Unruhe, Lust auf Neues, phantasiebegründetes Spursuchertum, Leben in konkretisierbarer Vorwegnahme von Zukunft sind die Merkmale der Figur. Sie werden - das bestimmt hier das angelegte Wirkungspotential - im Roman in zweifacher Hinsicht entfaltet. Stets sich erneuernde, verletzbare, doch durch nichts im Innersten zu erschütternde Schöpferkraft, die sich als Teil eines größeren Lebens weiß, diesem Leben entgegengeht, es annimmt, seine Gesetze studiert, seine Zeichen liest, ihm gemäß zu handeln bemüht ist und von ihm sich korrigieren läßt, die der Natur, mit der sie im Einklang ist, Leistung und Nutzen abringen, sie sich und immer mehr dem Kollektiv aneignen will - das ist die eine Seite des produktiven Menschen, wie ihn Strittmatter sieht. Diese Kraft wird der Figur als eine Art Natur zugerechnet. Sie muß im Bilde des Romans nicht eigens produziert werden - sie ist da. Parallel gesetzte Züge bei allen Freunden des Helden verweisen darauf, daß sie als generelle menschliche „Wesenskraft", als „Gattungseigenschaft" gedacht ist. (Strittmatter: Der „Neuerer [ist] eigentlich der Normalfall - der schöpferische Mensch aus dem Volke." 415 ) Aber - und das weist darauf hin, in welchem Maß die dieser Charakterisierung zugrunde liegende Philosophie dem marxistischen Humanismus verpflichtet ist - diese Kraft kann sich nur gesellschaftlich realisieren: in den Grenzen und mit den Inhalten, die die gesellschaftlichen Verhältnisse ihr vorgeben. Das Geschehen zeigt auch, daß sie unter bestimmten Bedingungen ganz oder teilweise verschüttet oder ins Schrullenhafte deformiert werden kann. Kontrastfiguren haben dies zu verdeutlichen: die Kleintüchtigen, deren Aktivität von einem Sinn des Habens und Habenwollens beherrscht wird; die „Kleinmenschen", die sich dem unterwerfen, der „die Mittel und die Macht hat", die ihre 216
Abhängigkeit und ihren schwachen Willen „Schicksal" nennen; die „dressierten Menschen", denen die wirklichen Interessen unter dem Wust des Auswendiggelernten und unter dem Druck von Normen abhanden kommen, welche Verantwortung zunächst „nach oben" hin auferlegen. Die undressierte Lebendigkeit wird durch diese Konfrontationen zugleich als ein notwendiges soziales Prinzip behauptet. Hier sind wir bei der zweiten Seite der Figurencharakteristik: Sie prägt wesentlich die Vorgangsgestalt. In ihrem sozialen Zusammenhang äußert sich die Aktivität des entworfenen Typs in einem radikalen plebejischen Demokratismus, im Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit. Genauer: nach sozialen Formen, die der Freisetzung der produktiven K r ä f t e eines jeden keine Sehranken setzen, die die verschiedenen Fähigkeiten der Menschen nicht zu dem Unterschied von arm und reich werden lassen, die die Kraftanstrengung aller einzelnen zu einem Höchstmaß gesellschaftlichen Nutzens führen. Das Vertrauen in den Wert der Eigenständigkeit dieser Kraftentwicklung, der produktiven originalen Besonderheiten ist in dieses Bild eingeschlossen. D a ß das gesellschaftliche Leben „von unten" zu wachsen hat, wird als Überzeugung der romaninternen Leitfigur ausgesprochen. Mit ihr vergleichbar ist die Auffassung, die der Held von der Partei der Kommunisten hat. Er versteht sie als Interessenvereinigung, nicht als über den Individuen schwebender „Heiliger Geist", sondern als Summe der Aktionen, des Denkens und Fühlens von vielen, die sich ihr nicht allein mit ihrem sozialen Durchschnitt, sondern mit ihrer ganzen Eigenheit hinzurechnen sollten, als eine „Summe von Klugheit, eine Summe von Mut, eine Summe von Taten, eine Summe Gedachtes, eine Summe Erkanntes, eine Summe von Sehnsucht, eine Summe von Liebe für alles, was unterdrückt ist, eine Summe von Menschen, Lebenden und Gestorbenen". Zweifellos wird in dieser Ansicht mit ihren naturalen und organischen Konzepten das Prinzip der Organisation unterschätzt, das die Gesellschaft ( und im übrigen auch die Partei) bestimmt, sie mehr und anderes sein läßt als solche Summe (und diese Kritik hat auch den Autor zu treffen, insofern sich aus der Darstellung vergleichbare Thesen als seine eigenen ablesen lassen). Zweifellos ist sie aber auch eine Reaktionsart auf Bedingungen, die die spontane, doch aufhebbare und notwendig aufzuhebende Sehnsucht nach einem erlebbaren Eingehen der Vorschläge des einzelnen in die gesellschaftliche Organisation, die ihn bestimmt, nicht oder nicht zureichend erfüllen.
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Die Situationen und Konflikte der Handlung des Romans geben den Zusammenhang des zweifachen Problems. Dadurch erhält die Darstellung einen analytischen Zug. Der Held stößt mit denen zusammen, die das Leben in einen „stinkenden Teich" oder - wie es ebenfalls in der naturalen Metaphorik des Buches heißt - die Orte der Erde „zur Spore auf der Schale einer faulenden Kartoffel" verwandeln, mit denen, die im Egoismus versinken oder die in Kleinmut stehenbleiben, und auch mit denen, die das Neue in mißtrauischer Administration zu fördern gedenken. Die Handlung führt vor, wie im Verlauf der Geschichte von der bourgeoisen Klassenherrschaft bis zu einer entwickelteren Phase sozialistischen Aufbaus der Kampf um Naturbeherrschung an verschiedenen sozialen Hauptfronten zu führen war. Deren genaue Inhalte hat die „Natur" des Helden mehr oder weniger erfolgreich mit Hilfe seiner Freunde oder Feinde immer erst zu lernen. Es geht (in den Episoden aus der Vorgeschichte) gegen die Macht der großen Besitzenden, die sich die Produktionsmittel und die Arbeitskraft angeeignet haben; es geht (in den Romanteilen um die Gründung einer LPG) gegen die Beharrungskraft des Kleinbesitzes, der die Arbeit auf die Kleintüchtigkeit egoistischen Nutzens beschränkt und neue Ungleichheit produziert; es geht schließlich (in den Schlußteilen, die in gefestigteren sozialistischen Verhältnissen spielen) gegen die Desorganisationspotenz von Leuten, welche Widersprüche zwischen ökonomischen Bedingungen und Interessen oder Widersprüche zwischen diesen Interessen kurzschlüssig politisch behandeln, auf Grund eines schematischen Denkens (und Redens) diese vielleicht gar nicht mehr wahrnehmen, die so eine Irrationalität in den lebendigen Prozeß tragen, welche gesellschaftlichen Reichtum zerstört, produktive Kraft behindert und dabei Fatalismus oder anarchistische Aktionen produziert. Das Buch zeigt, daß den Helden diese letzte Auseinandersetzung am schwersten trifft. Hier stößt er in seinem Vertrauen in die Vernunft der neuen Verhältnisse auf wuchernde Unvernunft: in seinem Bestreben, der Eigenständigkeit seines Denkens zu folgen, auf blindes Ausführen von Anweisungen, die, den konkreten Bedingungen nicht angepaßt, in ihr Gegenteil umschlagen; in seinem Beharren auf den wirklichen Interessen auf ein Agieren, das aus Bequemlichkeit den Dingen nicht auf den Grund geht oder das seine Motive aus dem Agieren der Apparate und dem bloßen Selbsterhaltungstrieb gewinnt und das sich deshalb mit Scheinerfolgen zufriedengeben kann. Hier, in der Verzwicktheit der sich nun auftuenden Widersprüche, in den Konflik218
ten mit seinen Genossen weiß der Held mit seiner Spontaneität nicht den gesellschaftlichen Rat mehr, der ihn in anderen Phasen der Gesellschaftsentwicklung immer noch rechtzeitig erreichte und der seine Energien produktiv machte. Er hält, was ihm an Behinderung widerfährt, für „zeitraubenden Unsinn" und geht, nicht „geduckt und bedrückt", doch „voller Zorn" wie der „Urmensch" das Feuer suchen: E r setzt sich - ein „Erdgeist" - als Naturkraft aufs Spiel und kommt dabei um. Die Beschreibung verrät bereits, daß hiçr ein neues parteiliches Wirkungspotential entdeckt wurde. Gegenüber früheren verwandten Anlagen gewinnt es das Spezifische seiner aufregenden Kraft durch die Einführung sozialismusinterner Konfrontationspositionen in das Spiel des positiven Helden, der seine Aggressivität nun gegen Beharrungsmomente schon sozialistischer Gesellschaftseinrichtung und die ihnen entsprechenden Haltungen zu wenden hat, durch die Modellierung von Bedingungen tragischer Verläufe in den Auseinandersetzungen unter uns selbst. Es geht dabei nicht zuletzt um die Komplexität jener Problematik unter sich stabilisierenden Verhältnissen der neuen Gesellschaft, die Lucien Sève folgendermaßen charakterisiert hat: „Der psychologische Gewinn der Errichtung des Sozialismus ist dann unmittelbar damit verknüpft, daß die q u a l i t a t i v e Ü b e r l e g e n h e i t , die in der Kollektivbildung, der Aufhebung der Entfremdung der Arbeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Beseitigung der Klassenhindernisse auf dem Wege des Fortschritts in allen Bereichen liegt, effektiv und vielgestaltig zum Tragen gebracht wird", daß der Sozialismus „ j e d e m die ausgedehnteste Möglichkeit gibt, sich an den k o l l e k t i v e n Veränderungen zu beteiligen.'"i16 In den sich auf diesem Felde in der Realität abspielenden Auseinandersetzungen sucht die Vorgangsfigur des „Kampfes um Produktivitätserweiterung" zu wirken: Sie baut auf die Dynamik eines Verlangens nach vielseitig effektiver Arbeit, nach mitbestimmender gesellschaftlicher Tätigkeit, sucht deren Bedingungen und mögliche Konflikte im Zusammenwirken mehrerer sozialer Kräfte durchzuarbeiten, ist bestrebt, diese Art Arbeit und Tätigkeit auf neue Weise parteiergreifend zu bestärken. Die Geschichte von Erwin Strittmatter unterscheidet sich von anderen Darstellungen ihres Typs beträchtlich. Das gilt für ihre Philosophie ebenso wie für die poetische Überhöhtheit ihrer Figurenzeichnung und ihrer Sprache - von ihrer konkreten Entfaltung gar nicht zu reden. In den allgemeineren Charakteristiken ihres stoff219
liehen Bezuges, ihres zentralen Helden, ihrer Fabel und ihrer thematisch gemachten Probleme war hier aber eine wichtige neue erzählerische Grundanlage gewonnen. Sie läßt sich an späteren Versuchen wieder beobachten, Aktivisten sozialistischen Gesellschaftsprozesses im Raum der industriellen Arbeit vorzustellen (so etwa bei Erik Neutsch). Und in welchem Maß die erreichte Problemhaltigkeit auch für die sogenannte Landliteratur gültig wurde, offenbart z. B. der von Jurij Brezan vorgelegte Roman Mannesjahre.
Hauptmomente eines neuen Wirkungspotentials Wirkungsästhetische Aspekte der Vorgangsgestalt, wie sie sich zunächst in unserer Literatur darstellen, sollen, ausgehend von Strittmatters Roman, beschrieben werden. Erstens. Erwin Strittmatter hat auf der Zweiten Bitterfelder Konferenz417 ausgeführt, daß das „Suchen nach der größten Wirksamkeit" seine Arbeit bestimmt. Die Spezifik dieses wirkungsästhetischen Programms resultiert aus der Kopplung zweier Überzeugungen. Der Autor weist auf der einen Seite darauf hin, daß Geschichten, welche die großen Linien des geschichtlichen Prozesses bzw. die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten individueller Entwicklung ohne weiteres im konkreten Figurenschicksal unterbringen, die wirklichen Wandlungen nicht treffen: Nach seiner Einsicht verläuft das Leben nicht in solcher Eindeutigkeit, und er verlangt von der Kunst ein dialektisches Lebensbild. Der so geforderte Realismus ist für ihn Voraussetzung produktiver Literaturwirkung. Auf der anderen Seite soll diese Leistung literaturgemäß sein (Strittmatter betont, daß ein Kunstwerk nicht „gleichzeitig Geschichtsbuch, soziologisches Nachschlagewerk, Beschlußillustration und Lehrbuch im direkten Sinne sein" kann, daß seine Verfahren anderen Gesetzen unterliegen als denen „der reinen Agitation") und darin zeitgerecht, auf ein bestimmtes Publikum bezogen. Strittmatter gibt vier Momente des literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizonts im gesellschaftlichen Bewußtsein als Adressatenfeld seiner Tätigkeit ausdrücklich an. Sie zeigen, in welchem Maß seine Geschichte als Gegenentwurf gedacht war. Beobachtet wird zunächst, daß Leser in der Literatur nach „Beruhigung" suchen, die es ihnen erlaubt, zur Tagesordnung überzugehen. Strittmatter sieht sich auch Forderungen der Programmatik für die Literatur gegenüber, die vom Schriftsteller gerade diese Be220
ruhigung verlangen. Seine Gegenthese lautet, es sei Aufgabe des Schriftstellers, „das Ohr des Lesers für Übertöne in unserem Leben" zu schärfen, ihn zum Mitbeobachten, Mitdenken zu provozieren, nicht aber „Beruhigungspillen für einen gesegneten Nachtschlaf zu verteilen". Strittmatter registriert sodann ein immer wieder sich artikulierendes Bedürfnis, den Standpunkt des Schriftstellers ausdrücklich, in Form etwa eines „propagandistischen Bekenntnisses" vorzufinden. Er hält dies unter den gegebenen Bedingungen für ein Verfahren, das die Leser langweilen muß. Beim „Stand unserer gesellschaftlichen Entwicklung" muß man seiner Meinung nach dem Leser „die Kenntnis eines Abc unserer sozialistischen Ordnung zubilligen" und muß nicht „jede Geschichte mit dem sozialistischen Alphabet beginnen". Für den vorausgesetzten Leser soll die Haltung des Schriftstellers aus der Dialektik der literarischen Darstellung ablesbar sein. Weiter hört Strittmatter wiederholt das Verlangen, der Autor solle „seinen Helden an Ort und Stelle, also in der Geschichte, belehren". Das von ihm eingesetzte wirkungsästhetische Konzept richtet sich genau gegen derartige Literaturvorstellungen: „Der Schriftsteller will weniger seinen Helden belehren als seinen Leser, in diesem Fall auf eine politisch latente Möglichkeit aufmerksam machen." Den Leser aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert wäre - so wäre mit klassischer antididaktischer Formulierung 418 die hier geltende Absicht wohl genauer zu beschreiben, denn der Vorsatz, den Leser selbst zum Denken zu bringen, wird keinen Moment außer Kraft gesetzt. Er liegt in Ole Bienkopp z. B. der Anlage des Erzählers zugrunde, der nicht nur auf propagandistisches Bekenntnis verzichtet, der sich vielmehr gerade mit Ansprachen und Fragen an die Leser wendet, welche auf Probleme, auf schwierige, ungelöste Fragen hinweisen und die Antwort des Lesers herausfordern. Dieser Vorsatz des Autors äußert sich auch in der Durchführung komplexer ästhetischer Wertung, in der Kombination komischer und tragischer Züge, die gegen einschichtige Rezeptionen wirkt, in der Akzentuierung tragischer Möglichkeiten, die gegen den flachen Optimismus agiert, welcher weite Teile unserer Literatur früher bestimmte. Und er zeigt sich nicht zuletzt in der Verallgemeinerungsart. Ferner nämlich sieht Strittmatter die Literatur mit der Forderung nach extensiver Totalität der Gesellschaftsdarstellung konfrontiert, nach Verfahren, die jeder „positiven" Figur sofort eine „negative" entgegensetzen, die alle „Einrichtungen" der Gesellschaft in der ge221
stalteten Welt wiederfinden lassen usw. Er dagegen versucht, Bedeutend-Wichtiges in durchaus zugespitzter Form vor uns hinzustellen, mit den Verzerrungen der Satire, mit Verfremdungen, welche auch durch die Schreibart der „Reduzierung auf das Einfache" und der Einführung einer „naiven Sicht" hervorgebracht werden - mit Verfahren, die allesamt „den Leser zum Mitdenken zwingen und ihm das Buch interessant erscheinen lassen wollen". D a ß Strittmatter nach Ole Bienkopp die Idee faßte, eine Serie von Episoden und Geschichten niederzuschreiben, „die man als ,untypische Geschichten' bezeichnen könnte", „Geschichten, die man nirgends einordnen kann, die aber trotzdem wichtig sind als Zeit-Zeugnisse", 419 liegt durchaus auf der Linie dieser Wirkungsstrategie. D a ß diese Geschichten auch dem Überdruß an der literaturkritischen Handhabung der Kategorie des Typischen ihr Dasein verdanken, kann dabei nicht übersehen werden. Zweitens. Innerhalb der wirkungsstrategischen Anlage zeichnet sich eine deutliche Orientierung auf Praxis ab. Vermittelt über den Vordergrund der Darstellungen hat sie zunächst stets einen recht konkreten Raum. Mit der Geschichte des Ole Bienkopp z. B., in der der Held Mergel als Dünger gewinnt, wird ein nachahmenswertes Beispiel erzählt. Strittmatter: „Hier an den Seen lagern überall solche Mergelflöze, und ich wollte auch ein bißchen den Anstoß zum Handeln geben mit meinem Roman." 420 Nun weisen die Szenen von der Mergelgewinnung (und von vielen anderen Unternehmen der Romanhelden) zweifellos aber auf mehr als auf solche einzelnen Praxismöglichkeiten. Immer noch im Bestimmten bleibend, zeigen sie allgemeiner auf die Notwendigkeit, die Vielfalt der „örtlichen Reserven" auszuschöpfen und zu einer komplexeren, strenger bilanzierenden und vorausschauenden Wirtschaftsführung überzugehen. Kritisch gezeichnete Bilder von Leitungsmethoden, die solche ökonomische Organisation nicht fördern oder nicht zulassen, verweisen dabei immer auf die Zusammenhänge, die zum Allgemeineren führen. Die konkreten Anstöße erhalten damit eine größere Breite: Sie können auf verschiedene Interessen bei den Lesern treffen, die Bilder des Romans vermögen so als Beispiele für eine große Menge von Praxismöglichkeiten zu stehen. Vergleichbar operierende Momente finden sich in allen Büchern der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung". In Erik Neutschs Roman Spur der Steine etwa ist der konkrete Ansatzpunkt ein überholtes Verfahren zur Berechnung der Arbeitsproduktivität, das die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt. Es geht in dem Buch um die Kritik an bestimmten Formen von „Plandogma222
tismus" und Kompetenzhierarchie, die ökonomisch unvernünftige Maßnahmen veranlassen, um das Durchsetzen einer komplexen und industriellen Bauweise und der dabei vorausgesetzten wissenschaftlichen Methoden usw. Die bloße Nennung des szenisch Überlieferten zeigt bereits die mittlere Verallgemeinerungshöhe, mit der in diesen Büchern praktische Probleme aufgegriffen und zum Ziel des operativen Eingriffs gemacht werden. Auf dieser Verallgemeinerungshöhe können die konkreten Anstöße der Romane möglicherweise auch heute noch Wirksamkeit erlangen, obwohl zum Teil - was besonders etwa an Neutschs strikter am Detail operierenden Roman auffällt - die konkreten Gelegenheiten, auf die sie sich zur Entstehungszeit richteten, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kaum noch existieren. Ein allgemeinerer Raum der praktischen Orientierung wird so immer sichtbar. Und mehr: Das Wirkungspotential der genannten Bücher erschöpft sich auch nicht in der verallgemeinerten Form der Orientierung auf bestimmte Praxis. Erik Neutsch hebt hervor, daß sein Versuch, die Arbeit zu poetisieren, „von vornherein jene mechanistische Auslegung von der Literatur ausschließt, nach der ein Buch beim Leser eine Produktionsverpflichtung und ein Gedicht beim Hörer eine Normenkorrektur auslösen muß". Indem er in die Widersprüchlichkeit des Lebens eindringen, bisher Verborgenes freilegen will, verfolgt er den Wunsch, anderen zu helfen, „sich und ihre Umgebung besser zu begreifen". Dieses Programm zielt freilich nicht nur auf eine Kontemplation, die Selbst- und Weltbewußtsein vertieft, es will zugleich auf Aktivierung hinaus. Neutsch stellt Handlungsmöglichkeiten und Verhaltenspflichten vor, die als Entwurf wirklicher Handlungen und wirklichen Verhaltens gedacht sind; er betont damit zugleich die Art der Idealisierung im Gestaltaufbau offenbarend - , daß seine Romanhelden, „sobald es die Steigerung der Arbeitsproduktivität betrifft, Entscheidungen fällen müssen, die ihnen zuwenig vorgelebt wurden". 421 Genauer faßt Erwin Strittmatter das Problem. Im Hinblick auf die operativen Anstöße, die sein Buch übermitteln kann, sagt er: „Aber das alles ist natürlich, für sich genommen, nichts." 422 Die aufgeworfenen Probleme nämlich stehen nach seinem Willen in der erzählerischen Durchführung als Bewährungsfelder und damit als Aufbauformen und Charakterisierungsmittel der zentralen Figur - und nicht „für sich", genauer: als selbständige Hinweise und direkte Bezugsmöglichkeiten auf die gesellschaftliche Wirklichkeit (obwohl sie 223
ihr Gewicht in der Darstellung durchaus daraus erhalten, daß sie auch „für sich" von uns, den Lesern, als wichtige und wesentliche Probleme akzeptiert werden). D i e Figur nun, die mit ihr vorgestellte Art des Verhaltens, die mit ihr vorgezeigte Weise, sich gesellschaftlichen Konflikten zu stellen und sie als eigenes Problem - auf Stehen oder Fallen, Leben oder Tod - auszutragen, sie ist es, die entscheidende Wirkungen des Buches organisiert, und zwar als Anweisungen auf (allgemeine) Praxis. 4 2 3 * In der Anlage dieser Anstöße können sich die Werke der Vorgangsgestalt beträchtlich unterscheiden, weil sie sich in der Verallgemeinerungsart des Figurenaufbaus unterscheiden können. Erik Neutsch z. B. (und ähnlich Eduard Klein) bleibt wesentlich auf der mittleren Verallgemeinerungshöhe der praktisch zu bewältigenden Probleme: E r verleiht seinen Helden ein auf die bestimmte historische Situation bezogenes politisch-ökonomisches Pathos. E s hat seinen allgemeineren Inhalt wieder in der Zweiheit der Anstrengung um rasche Entwicklung der Produktivität und der sozialistischen Demokratie, erscheint jedoch auf einem sprachlichen Niveau, das die bereits konventionalisierte politisch-ökonomische Rede wenig überschreitet und deshalb auch nur in abstrakter Form auf den großen revolutionären Geschichtsprozeß verweist. In der poetischen Sprache Erwin Strittmatters leuchtet gerade dieser Prozeß immer wieder auf. E s lassen sich nun zwei speziellere Richtungen der über die Figur vermittelten Wirkungen ausmachen. Sie wenden sich an verschiedene Momente im gesellschaftlichen Bewußtsein. Auf der einen Seite werden uns Gestalten übermittelt, denen die Sympathie sozialistischer Leser grundsätzlich sicher sein kann. Der Anspruch auf Produktivitätsentfaltung und -erweiterung, auf Vernunft der gesellschaftlichen Organisation aller Tätigkeiten, das Pochen auf Selbständigkeit des Denkens, der Einsatz persönlicher Energie für die Gemeinschaft und die Gesellschaft, die zivile Courage, die den Schwierigkeiten nicht ausweicht, welche so motiviertem Tun im gesellschaftlichen Zusammenhang begegnen kann, entsprechen Grundüberzeugungen sozialistischen Denkens. D a es nun „Heldisches" in diesem Sinn wirklich immer „nur für Augenblicke" gibt - darauf wies Strittmatter ausdrücklich hin 424 - , hat die poetische Konzentration solchen Verhaltens in der Figur nicht nur die Funktion einer einfachen Bestätigung sozialistischer Überzeugungen. Sie vermag zugleich die Selbstkritik sozialistischer Leser zu mobilisieren, die sich angesichts der vorgezeigten und grundsätzlich akzeptierten Verhaltensweisen die Frage vorzu224
legen haben, wie weit sie selbst sich nach ihren Überzeugungen verhalten, Anpassung ans Gewohnt-Übliche und deren Normen überwinden und sich zutrauen, selbständig denkend den Fortschritt zu betreiben. Die den Figuren eigene Widersprüchlichkeit verhindert, daß sie als glatte Vorbilder aufgefaßt werden können: Die Darstellung setzt kompliziertere kathartische Akte frei, die Vorgänge eigener Selbstbestimmung der Leser anregen können. Auf der anderen Seite jedoch - und das erst sichert in dieser Konstellation die Totalität des Problems - erweisen sich die übermittelten Gestalten auch als Verteidigungen des skizzierten Typs. Sie wenden sich gegen die Idee von einer schon vollendeten Normierung sozialistischen Verhaltens und lassen sich als Werbung verstehen, zu den Helden des Kampfes um Produktivitätserweiterung mit all deren möglichem Eigensinn, Spontaneität, mit all deren so begründeter gesellschaftlicher Unbequemlichkeit ein Verhältnis des Vertrauens herzustellen - auch wenn ihr ganz „unbeauftragter" Neuerungswille über die schon gesetzten ökonomischen und politischen Ziele und vielleicht sogar über die objektiven geschichtlichen Möglichkeiten hinausschießt. D a ß sie dieses Vertrauen verdienen, zeigen die Handlungen ebenso wie der Umstand, daß sie es im sozialistischen Interesse nötig haben. In der solcherart ausgeführten Konfliktfigur, wie sie zu den Büchern von Erwin Strittmatter, Erik Neutsch, Jurij Brezan, Eduard Klein gehört, ist z. B. die Hypothese enthalten, daß Menschen des genannten Typs unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen mehr als soldatisch funktionierende und operierende Aktivisten zur Stabilisierung und Entwicklung sozialistischer Verhältnisse beizutragen vermögen. Inwieweit hier tatsächliche Lebensprobleme aufgegriffen wurden, zeigte die in der Diskussion über Ole Bienkopp entstandene literaturkritische Konfrontation, die sich aus dem Ja oder Nein zur angeführten Hypothese ergab: die Forderung einerseits nach der Gestalt eines Gegenspielers mit echtem „Mißtrauen gegen den sozialen Typ Bienkopp" 425 , die Vorstellung andererseits, daß der Sozialismus nur mit diesen Bienkopps oder gar nicht zu haben ist.426 Drittens. Von der Produktivität des Typs ausgehend (also des „Bienkoppschen", wie es in der damaligen Diskussion verdeutlichend hieß 427 *), mußte die Frage nach der Art seiner Unterbringung in unserer Gesellschaft gestellt werden. Wir haben hier die Dimension vor uns, in der die Sinn- und Wirkungskonstituierung der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung" ihr Zentrum hat. Es geht dabei nicht um die Freiheit einer individuellen Selbstverwirklichung 15 Schiensted t
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jeder Art. Unter dem Gesetz einer Gesellschaft, in der die „freie, ungehemmte, progressive und universelle Entwicklung der Produktivkräfte selbst die Voraussetzung der Gesellschaft und daher ihrer Reproduktion bildet; wo die einzige Voraussetzung das Hinausgehn über den Ausgangspunkt" ist - geht es vielmehr um die Freiheit, nach erkannten Möglichkeiten und Notwendigkeiten gesellschaftlichen Fortschreitens handeln zu können und dabei die jeweilige histonsche Schranke der Entwicklung der Individuen aufzuheben, „die als Schranke bewußt ist und nicht als h e i l i g e G r e n z e gilt". 428 Gerade dies ist den Aktivisten des genannten Typs persönliches Bedürfnis, von hierher rührt ihr Anspruch. Er kommt aus dem Gefühl für eine Daseinsmöglichkeit, die Marx theoretisch als eine Gesellschaftssituation charakterisiert hat, in der die „volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl wie seiner eignen Natur", das „absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung" und „nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab" zum Selbstzweck gemacht ist.429 Beschneiden des Tatendrangs bzw. sein anarchisches Ausbrechen sind die Gefahren, die Strittmatter in der Ordnung sozialistischer Gesellschaftsbeziehungen für möglich hält (dieser Gedanke spielt so oder so in allen Büchern unserer Vorgangsfigur eine bedeutende Rolle). Die Prozeßgestalt enthält mit dieser Hypothese zugleich eine über die sozialen Beziehungen, die die Springquellen gesellschaftlichen Reichtums voller fließen lassen. Deren Hauptpunkt ist nun - anders als in den Geschichten um vergleichbare Heldentypen früher - die Entwicklung der sozialistischen Demokratie. Der in den hierher gehörenden Werken mit Sympathie verfolgte Kampf gegen Momente von Kollektiv- und Gesellschaftsbeziehungen, die von der Literaturkritik mit Stichworten wie „Formalismus", „Verkrustung", „Selbstherrlichkeit", „Bürokratismus", „Dogmatismus" usw. nur annähernd benannt wurden, weist auf diesen Hauptpunkt ebenso wie das satirische Bild des individuellen Verhaltens, das solche Beziehungen trägt, oder wie das kritische Porträt der Sprache, die zu diesem Verhalten gehört. Konkreter und positiv ausgedrückt geht es darum, die Notwendigkeit einer Form menschlichen Zusammenwirkens einsichtig zu machen, in der ein rascherer Umschlag gewonnener Erfahrungen vom Vorwärtsweisenden und vom Gefährlichen erfolgen kann, in der die Gerüste der Organisation kollektiver Tätigkeiten gemäß neuen Bedingungen, neuen Bedürfnissen und Interessen, neuen Erkenntnissen 226
flexibler umgebaut werden können. Es geht darum, daß sich die zur Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen eingesetzten Apparate (und deren Redeweise) dem Leben gegenüber niemals verselbständigen, dem Eingriff der Akteure an der Basis offenbleiben, diese ihre Macht im Alltag als Eingriffsmöglichkeit erfahren. Die Handlungen der Romane offenbaren, daß die eigene Beschneidung des Tatendrangs (etwa der Aufbau von Gefühlen der Schicksalsabhängigkeit, von Haltungen des Rückzugs aus den Fronten des Kampfes) ebenso wie unorganisierte Aktionsformen (etwa Versuche, das als richtig Erkannte „selbsthelferisch" gegen oder ohne gesellschaftliche Leitung durchzusetzen; Bestrebungen, unter Bedingungen unzureichender Arbeitsorganisation ein egoistisches Interesse mit dem Faustrecht zu verfechten) als Quittungen für kollektive Verhältnisse betrachtet werden können, in denen die Vernunft der sozialistischen Demokratie nicht durchgesetzt ist. Mit dem Aufdecken dieses Zusammenhangs der gesellschaftlichen Produziertheit der kritisierten Haltungen sind die Appelle auch der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung" keineswegs ausschließlich an die Moral der Individuen gerichtet, sie lenken die Aufmerksamkeit vielmehr auf die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Tuns und suchen es als bewußt gesellschaftliches zu mobilisieren. Nicht zuletzt dies veranlaßte die Heftigkeit der Literaturdiskussion. Obwohl die in den Büchern unterbreiteten Grundvorstellungen zur Entwicklung der sozialistischen Demokratie sich mit Losungen der sozialistischen Politik decken, wirkten die Darstellungen von konkreten Verläufen der damit verbundenen Kämpfe wie das Aussprechen eines sonst nicht Ausgesprochenen. Aufregend war, daß hier nicht „der Mensch", der „seine Verhältnisse" „beherrscht", vor uns hintrat, sondern Menschen vorkamen, die in ihren kollektiven und gesellschaftlichen Zusammenhängen um eine optimale Organisation ihrer Verhältnisse rangen und dabei auch zum Vorschein brachten, daß es verschiedene Konzepte dieser Optimierung gibt. Das realistische Moment von Bewußtseinsgewinn hatte hier einen wesentlichen Grund. Hier wurzeln zugleich die Schwierigkeiten, diesen Gewinn in das allgemeine gesellschaftliche Bewußtsein zu integrieren. Erwin Strittmatter z. B. wollte mit Ole Bienkopp die „Geschichte e i n e s Menschen" und darin die „Probleme aller schöpferischen Menschen, aller Neuerer" erzählen 430 - und zweifellos derer auf allen Gesellschaftsstufen : Nicht zufällig ist sein Held (sind die Helden aller Bücher unserer Konstellation) ja „Leiter". Die Literaturkritik aber 15*
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neigte dazu, die Fabeln durch ein Raster zu interpretieren, das sie als Geschichten zweistufig hierarchisierter Gesellschaftsbeziehungen erscheinen ließ, und kritisierte (Probleme vereinfachend) von hier aus. Viertens. Strittmatter machte das aufgeworfene Problem deutlich und die über die Vorgangsfigur vermittelten Appelle dadurch dringlich, daß er seinen Helden in den sichtbar werdenden Widersprüchen moralisch siegen, praktisch aber scheitern läßt. Dieser Ablauf verweist nicht auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit; er zeigt vielmehr auf eine „latente Möglichkeit" - ist eine Mahnung. Strittmatter betonte, daß durch die tragische Konfliktlösung „bestimmte Erregungen und Wirkungen erzielt werden" 431 . Sie sind provozierend: Das im literarisch-ästhetisch-ideologischen Horizont sozialistischen gesellschaftlichen Bewußtseins schon gefestigte Bild gelingender Anstrengungen des positiven Helden wird nicht bestätigt; die Leser sind so vor die Aufgabe gestellt, nach der Realität, nach Verbreitung und Wichtigkeit der vorgezeigten Möglichkeit, nach ihrer Vermeidbarkeit und deren Bedingungen zu fragen. Das Ende des Romans, an dem die Zerstörung einer großen Produktivität erzählt wird, zielt offenbar darauf, die Leser auf drängende Weise anzuregen, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer beim Austragen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen neu zu überdenken, das eigene Tun und das Tun anderer im Lichte des großen Zwecks der Befreiung der Arbeit wiederum zu überprüfen. Wir werden angehalten zu fragen, wie ein „guter Genosse" zu handeln hat, dabei auch in uns selbst vielleicht die Spontaneität des „Bienkoppschen", vielleicht die mangelnde Konsequenz des „Wunschgetreuhaften" (mit einer Figur des Romans zu sprechen) zu erkennen und zu korrigieren. Ähnlich operiert Erik Neutsch in der Ensemblestruktur seines Buches. Er betonte: „Man muß das Leben so hart und wahr und echt darstellen, wie es ist, um jeden einzelnen zum Nachdenken zu zwingen, wie er in einem solchen Falle handeln würde" - in dem Falle nämlich des Romanhelden, der in einer Situation sich zu entscheiden hat, in der „die Atmosphäre der echten, offenen kameradschaftlichen Aussprache" ersetzt wurde durch eine „Atmosphäre des Mißtrauens bzw. der mißbrauchten W a c h s a m k e i t . . . - Auswirkungen des Dogmatismus". 432 Für die Anlage solcher Wirkungen ist entscheidend, daß die tragische Wendung die Werke in einem doppelten Sinne offen werden läßt. Bei Strittmatter etwa wird auf der einen Seite nicht einlinigeindeutig gemacht, was genau zum Tod des Helden führte, und damit auch nicht, was genau das Werk uns „sagen" will. Es bietet verschie228
dene Interpretationen der Schlußwendung an: die Kurzschlußreaktion des Helden, der die Erfahrung vom notwendigen Gesellschaftszusammenhang seiner Aktionen „vergißt"; die prinzipielle Spontaneität seiner Naturkraft, die sich hier wieder Bahn bricht; die Dummheit der marschierenden Gegenfigur und ihre mißtrauisch-rachsüchtige Administration; die Lässigkeit der Freunde des Helden, die solche Art Verwaltung dulden, aber nach dem Verschwundenen nicht suchen; das aktuelle Unvermögen der übergeordneten Leitung, im Widerspruch zwischen Produktionssteigerung und Materialreserven eine Lösung zu finden; eine im historischen Gang habituell gewordene, nur schwer zu überwindende Unbeweglichkeit von Leuten, wie sie in diesen Leitungen arbeiten können usw. Wir haben selbst zu urteilen, und jede Interpretation, die auf herausgegriffenen Einzelmotiven aufbaut (so verfuhr die Kritik und kam bei einem sehr guten Gewissen bis zur Meinung, der Tod des Helden sei unnötig), sagt genausoviel über den Interpreten wie über das Werk. Wie im Kleinen des szenischen Aufbaus und der Szenenkombination verfährt Strittmatter auch im Großen des Entwurfs der Vorgangsfigur: Eingesetzt werden „offene Stellen, an denen der Leser gezwungen ist, mitzuarbeiten und mitzudenken", an denen er mit „seiner Phantasie, mit seinem Denken" auszufüllen hat, was der Autor offen ließ.43-1 Auf der anderen Seite öffnet die tragische Schlußlösung aber das Werk auch auf die Zukunft hin. Die Darstellung macht sichtbar, daß dem Helden in seinem konkreten Problem durchaus geholfen werden könnte. Überlegen wir aber die Folgen, die sich aus der Darstellung einer rechtzeitig eintreffenden Hilfe ergeben hätten! Dies hätte dann genau zu eben der „Beruhigung" beitragen können, die Strittmatter n i c h t wollte. Diese Lösung hätte das Dauerproblem verdeckt: das Vorhandensein von Bedingungen, die die Möglichkeit hergeben, daß Anstrengungen wie die vorgezeigten selbstzerstörerisch werden. Ähnlich wie Aitmatow 434 * vermeidet Strittmatter die mögliche „liebe" Lösung in der erzählten Geschichte, um uns aufzustören und aufzufordern, die mögliche „böse" Lösung in der wirklichen Geschichte auszuschließen. Der Roman endet perspektivisch mit der Frage, mit der er auch begann, mit der Frage danach, was die Orte der Erde sind: „Spore auf der Schale einer faulenden Kartoffel oder ein Pünktchen Rot an der besonnten Seite eines reifenden Apfels"? Die Richtung auf eine Antwort hat uns die Geschichte des Helden gegeben. Was er zu tun vermochte - es erscheint als „ein Zipfelchen Glück, ein Vermächtnis". 435
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Exkurs: Die Leseranrede als Verfahren der Literatur sozialismusinterner Auseinandersetzung Auf eines der spezielleren Verfahren, die neue Wirkungsstrategie in der Struktur des Werkes festzumachen, soll im folgenden noch etwas genauer eingegangen werden. Es setzte sich keineswegs zufällig gerade im Raum der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung" durch. Mit dem Ausdruck „Genossen!" hört sich der Leser von Erwin Strittmatters Ole Bienkopp angesprochen, nachdem er etwa hundert Seiten in den Roman eingedrungen ist. Schon vorher zwar wurde er mehrfach angeredet, doch waren diese Ansprachen dem Erzählen nahezu unmerklich eingefügt. Nun heißt es: „Was ist geschehen, Genossen? Ein Mann war wochenlang krank, seine Frau bestellte sich einen anderen. Der Mann überraschte die Frau mit dem anderen. Er raste. / Was weiter? Nichts. Das Paar wird sich trennen oder versöhnen. Die E r d e reist durch den Weltenraum." 436 Genauer betrachtet bleibt freilich auch diese späte Anrede in der Schwebe. Kann es nicht so sein, daß hier ungenannte Figuren des Buches miteinander reden? Die Leseransprache, in der der Erzähler sich nicht nennt, hebt sich kaum ab von der besonderen Form personalen Erzählens, die Strittmatter öfter gebraucht, jener Form, in der frei gestellte Kommentare, Beteuerungen, Fragen als Aussagen von anonym bleibenden Gestalten im Hintergrund der Romanwelt gesetzt sind, sozusagen als herumschwirrende Partikel eines Geredes i n diesem Raum - einem Mittel, die erzählte Welt auf so unbestimmt-bestimmte Art persönlich werden zu lassen. Es zeigt sich, daß Strittmatter die direktere Anrede an den Leser fast zögernd in seine Arbeit einführt. 437 * Um so auffälliger, daß das Verfahren dann im zweiten Teil des Romans verstärkt, klar ausgeprägt, entschiedener durchgeführt wird. Gerade dadurch, und auch dadurch, daß dem Erzähler als „Autor" Gestalt gegeben, ein deutliches Erzähler-Leser-Verhältnis konstituiert wird, erscheint das Verfahren von vornherein und als wesentlich strukturbildend im zweiten Band des Wundertäter-Romans. „Originalitätssucht" und literarische Betriebsamkeit ist Erwin Strittmatters Sache nicht. 438 * Eher stellt er - ein Denkmuster, das sich auch in seiner Kritik an der Hybris des Glaubens an die Technik oder an der Unsinnlichkeit neueren Sprachgebrauchs zeigt - ironisch einen Konservatismus aus. Ausdrücklich auch sagt er in einer der kunsttheoretischen Überlegungen des Wundertäter-Romans, er be230
mühe sich „althergebracht zu erzählen", er wünsche nicht, „zu den modernen literarischen Grashopsern zu gehören". 4 3 9 D i e zögernde Einführung der Form kann daher ebensowenig verwundern wie der Umstand, daß sie keineswegs überhaupt neu ist: Strittmatter arbeitet sie aus ihm gewohnten Formen heraus, schließt sich mit ihr an lange Traditionen künstlerischen Erzählens an, in dem die Leseranrede durchaus zu dem Rollenverhalten des Erzählers gehören kann, und macht dabei für sich zugleich wiederum Momente des Alltagserzählens produktiv, eines Erzählens, das ja die vom Erzähler und vom Hörer gelöste, in freier Selbständigkeit dastehende Gestalt (wie Hegel sich ausdrücken würde) nicht kennt. Innovationseffekte jedoch werden keineswegs nur dadurch erzielt, daß absolut Neues erfunden wird. Auch die verwandelnde Aufnahme von Erfahrungen, die in einem bestimmten literarischen Kommunikationszusammenhang vergessen oder wenig gebraucht wurden, kann Erneuerung sein, und eine sehr symptomatische haben wir im spezifischen Gebrauch der Anrede bei Erwin Strittmatter: In der literarischen Landschaft der D D R am Beginn der sechziger Jahre ist sie zunächst ein Sonderfall. E s muß «ehr zwingende Gründe für ihren Aufbau gegeben haben - und zugleich allgemeine: Wenige Jahre später finden sich verwandte Formen eines aktivierten Erzähler-Leser-Verhältnisses in unserer Literatur häufiger ein. Auf der Suche nach dem Grund für die Einführung der Form stößt man auf die Schwierigkeit, daß die Anreden offenbar verschiedene Funktionen haben. Mit Hilfe der Anredeformen wird mitunter einfach an bereits Erzähltes erinnert: „Es fiel Bienkopp nicht leicht, sein Haus einem Fremden zu überlassen. E r hatte es, wie wir wissen, Genossen, eigenhändig gebaut." (223) Oder es wird, wie in der anfangs zitierten Stelle, ein Resümee des Erzählten unter neuen Aspekten geliefert. Mitunter wird ein fallengelassener Handlungsfaden wieder aufgenommen: „Ja, der Serno, Genossen! Wie ist's ihm ergangen, seit wir uns nicht um ihn kümmerten?" (358) Es wird aber auch ein möglicher, doch nicht geltender Zusammenhang eingebracht, die E r zählung komplexer im Detail gestaltet: „Aber denkt nicht, Genossen, daß sich Bienkopp abschütteln ließ wie eine trockene K l e t t e ! " (303) Unter solcher, den Fortgang der Erzählung oder ihre Erweiterung fördernder, also darstellungsinterner Funktion stehen auch noch jene Anreden, die, vielleicht spöttisch, auf das anspielen, was jeder weiß* was deshalb nicht gesagt werden muß. Sie verkürzen die Darstellung. So wird z. B. ein Bericht auf folgende Weise erzählt: „Bericht nach 231
Schema: zunächst die Erfolge in der Kreislandwirtschaft. Auch die fragwürdige Kreisentenfarm wird auf der Erfolgsseite geführt. Vorwärts zu neuen Erfolgen! Allerdings muß gesagt werden, daß noch vereinzelte Schwächen . . . lirumlarum, ihr kennt das, Genossen . . . " (327) Diese Rede reicht aber schon über den Darstellungsraum hinaus. Eindeutig darstellungsexternen Aufgaben folgt schließlich eine weitere Sorte von Anreden. Es sind solche, die ausdrücklich auf bestimmte Wirklichkeitszusammenhänge des Erzählten hinweisen, die zum Zeichen werden, daß der Leser sich auf die Realität beziehen soll, die mögliche Meinungen über das Dargestellte sozusagen zitieren und gegen sie polemisieren: „Der Winter kommt. Das Dorf schneit ein. Geruhsame Zeiten beginnen. Aber doch nicht für die Landwirtschaft? Befehlen die Zeitungen nicht deutlich und groß: H o c k t n i c h t h i n t e r m O f e n ! / Nicht so hastig, Genossen, keine Faulenzerei natürlich, aber Wintermuße ist nötig." (228) Es handelt sich um ein ganzes Bündel verschiedener Funktionen, die jeweils dazu dienen, die Aufnahme des Textes und die Verarbeitung des Dargestellten durch den Leser zu organisieren. Überblickt man nun dieses Bündel, so erkennt man aber auch eine allgemeine Leistung aller Anredeformen. Sie produzieren den Gestus eines gleichsam alltäglichen Erzählens vor einem engeren Zuhörerkreis. Der Text entwirft also nicht allein eine Geschichte - die des Ole Bienkopp - , sondern auch den Raum eines Erzählens, in dem ein Erzähler zu und mit Hörern spricht, deren Reaktionen er vorhersieht, beobachtet und beantwortet, die vertraut-intime Atmosphäre eines Kollektivs, zu dem Erzähler und Hörer gemeinsam zählen; und zwar einer Gemeinschaft, die durch mehr verbunden ist als durch das Erzählen und Anhören der Geschichte, zusammengehörig nämlich durch die Welt, in der sie lebt, und in der Bereitschaft, sich zuzuhören, sich über die Lebensprinzipien zu verständigen. Gemeinsamkeit kann deshalb mit dem Ausdruck „Genossen" hergestellt und umrissen werden. Zugleich wird hier auch einsehbar, weshalb die Anrede mitunter zwischen anonymer Figurenrede und Erzählerrede schillern kann: Es wird kein grundsätzlicher Unterschied gemacht zwischen der in der Geschichte handelnden Gemeinschaft und der Gemeinschaft, die Erzähler und Hörer verbindet. Mit diesen Verfahren zieht das Erzählen den wirklichen Leser in diese Gemeinschaft hinein, mag er nun im streng politischen Sinne zu den „Genossen" gehören oder nicht. Das angesprochene Kollektiv und auch das „wir", von dem in seinem Zusammenhang die Rede ist, 232
ist nicht sehr exklusiv. Es ist in der Lage, alle Angehörigen der größeren Gemeinschaft der sozialistischen Gesellschaft zu umfassen. Die Anreden z. B. setzen voraus, daß die Leser Bescheid wissen in der Welt, über der die Geschichte gebildet ist, daß sie sich in den in der Wirklichkeit wie in der Geschichte geltenden Gesetzlichkeiten auskennen, und der wirkliche Leser erfährt an sich die Richtigkeit dieser Voraussetzungen: Er kann sich leicht vorstellen, was da mit „lirumlarum" ausgelassen wurde, weil er die Realität kennt, auf die sich die Auslassung bezieht. E r kann sich leicht mit dem vom Erzähler entworfenen „wir" identifizieren, wenn es heißt, daß „wir uns die gestanzte Selbstkritik Frieda Simsons" (239) ersparen wollen, weil er ebensogut wie der Erzähler weiß, was ein solcher Typ in solcher Situation sagt, und weil er sich mit dem Erzähler im Urteil einig weiß. Er findet sich ohne Schwierigkeiten in den Ermahnungen des Erzählers zurecht, weil er vielleicht selbst die Assoziationen und Urteile hat, auf die da angespielt wird, oder weil er doch Leute kennt, die sie haben. Der Leser erlebt die Zugehörigkeit zu den Angesprochenen - und dies um so mehr, als auch die Unterschiede zwischen ihnen zur Sprache kommen. Die Erzählung setzt so auf exemplarische Weise Gemeinschaft voraus und bekräftigt sie. Mit ihr wird, wie Strittmatter es einmal formulierte, nicht nach rechts und nicht nach links geschielt, es wird poetisch geschrieben, „sowohl für die, die von dem, was wir in unserer Republik an Rechtem tun, schon überzeugt und begeistert sind, als auch für die, die wir überzeugen wollen" 440 . Eine spezifische, aber das Ganze bestimmende Funktion kommt den Anreden mit darstellungsexterner Orientierung zu. Sie rufen meist auch ausdrücklich - Aktivitäten des Beurteilens in der Rezeptionstätigkeit auf. So heißt es etwa in der Skizze der Pferdenarrenfigur Franz Bummel: „Seid nicht kleinlich, Genossen! Er war ein Opfer der Verhältnisse, in die man uns hineingebar. Ein Leibkutscher guckt sich kleine Leidenschaften von seinen Herrschaften ab. Sie passen nicht zu seiner Lage." (102) Oder es wird bei Gelegenheit der Schilderung von Aufstieg und Abstieg der Bürokratengestalt Willi Kraushaar gesagt: „Überhaupt muß gebeten werden, Genossen, die hier geschilderten Um- und Zustände nicht zu verallgemeinern. Denn steht nicht geschrieben: Die Angestellten der Kreisverwaltung haben sich von ihren Schreibtischen zu lösen? Das ist richtig, aber wird nicht von o b e n gleichzeitig genug Leim geliefert, um die Angestellten an die Schreibtische zu kleben?" (308) Der Erzähler - dies die Struktur - macht in den Anreden auf problematische Punkte des 233
Dargestellten oder der Darstellung betont aufmerksam: E r setzt Einwände, Unverständnis voraus, ein bestimmtes Verhalten seiner Genossen Leser, die er hypothetisch aus seiner Kenntnis ihres Nortnalverhaltens ableitet. D e r Text provoziert so den Leser - ein verfremdendes Verfahren - , den möglichen Einwand bewußt zu aktualisieren, als zu ihm oder als nicht zu ihm gehörig zu bewerten, mit dem Erzähler seine Angemessenheit oder Unangemessenheit zu erwägen. E r wird zu einer Änderung seines Verhaltens aufgefordert oder sieht sich vom Erzähler in seiner eigenen Ablehnung des genannten Verhaltens bestätigt. Ohne Besserwisserei - beinahe gemütlich wird auf zu berücksichtigende Zusammenhänge, auf vom Kollektiv akzeptierte Prinzipien hingewiesen - erhält dabei die Richtung der angestrebten Korrektur Deutlichkeit. D i e mit den Anreden aufgerufenen Aktivitäten beziehen sich auf ein Verhalten gegenüber sichtbar gemachten Widersprüchlichkeiten menschlichen Lebens und haben einen gemeinsamen Nenner. Sie sind etwa folgender Art: „Verzeiht" (32), „Seid nicht kleinlich" (102), „Nicht so hastig" (228), „Seid nicht so streng, ihr Selbstgerechten" (232). D e r Gesprächscharakter der Erzählung bleibt immer gewahrt. Trotz ihrer Direktheit sind die Anreden nicht eigentlich pädagogisch zu nennen. E h e r geben sie Probleme auf, rufen ausdrücklich das eigene Urteil des Lesers auf und stellen ihm - in Verkürzung der skizzierten Struktur - mitunter auch nur Fragen: „ D i e Simson setzte sich. Sie fällt zusammen. Ist sie schuldig, Genossen, oder sind's wir? W i e sagte man doch von Anton Dürr? E r hatte was gegen dressierte Menschen. Sie waren ihm eine traurige Unzierde des Höchsten, was die E r d e bis nun hervorbrachte." (424) D i e Lösung auf die Frage muß der Leser selbst finden, die Richtung, in der zu suchen vorgeschlagen wird, ist durch die Gesamtheit der Appelle gesichert. Diese Art von Anreden setzen nun Gemeinschaft nicht einfach voraus und bestätigen sie als vorhandenen Wert, sie suchen vielmehr (und deshalb bestimmen sie auch das Verfahrensbündel im Ganzen) auf die Gestaltung der Gemeinschaft einzuwirken. Etabliert wird ein Verhältnis zwischen Erzählung und Leser, in dem - mit einer Formulierung von Volker Braun - „der Angesprochene erfährt, worauf der Sprecher hinauswill b e i i h m und d e r a r t und j e t z t " 4 4 1 Bewußtgemacht wird eine erzählerische Aktivität, die auf der Grundlage der Zusammengehörigkeit Widerspruch anmeldet im Vertrauen auf die Fähigkeit der Leser, neue Urteile zu bilden, auf seine Bereitschaft zur Differenzierung und zur Selbstkritik. D e r Zusammenschluß,
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den die Erzählung bewirken soll - die Anreden stellen Intentionen des Ganzen exemplarisch aus ist dynamisch gedacht. Von dieser genaueren Betrachtung der Funktionen der Anredeformen aus - von der Erkenntnis ihrer doppelten Aufgabe: Gemeinschaftsbildung und Differenzierung innerhalb der Gemeinschaft läßt sich etwas über die Gründe sagen, die dieses Verfahren zu Beginn der sechziger Jahre hervorgetrieben und in der weiteren Entwicklung unserer Literatur gefördert haben. Drei Zusammenhänge treten hervor. Erstens. Es handelt sich um einen speziellen Ausdruck der sozialismusinternen Wendung unserer Literatur. Das gilt zunächst im allgemeinsten Sinn. Die Anreden machen - selbstverständlich exemplarisch für die ganze Struktur - deutlich, wer als Adressat des Erzählens gedacht ist: nicht irgendeine Menschheit, sondern ein bestimmtes Kollektiv einer bestimmten politisch-moralischen Einheit, einer bestimmten Gesellschaftsformation, Leute, die an bestimmten historischen Aufgaben arbeiten. Nicht auf einen Zusammenschluß unter allgemein-menschlichen Vorzeichen zielt das Erzählen ab, sondern auf den Zusammenschluß dieses Kollektivs von Sozialisten. Vorausgesetzt ist dabei ein entwickelter Stand sozialistischer Gesellschaft und sozialistischen Bewußtseins: Es kann mit einem Publikum gerechnet werden, das unter der Anrede „Genossen!" erreichbar ist, ohne daß es sich auf die Genossen der Partei beschränkt. Zweitens. Die sozialismusinterne Wendung zeigt sich in den Anreden mit darstellungsexterner Funktion auch in einem spezielleren Sinn. Sie sprechen nämlich innerhalb des größeren Kollektivs einen Adressaten besonders an oder besser (da es sich hier nicht um eine umrissene soziale oder politische Gruppe, sondern um einen bestimmten Verhaltenskomplex handelt): Sie machen auf einen besonderen Angriffspunkt des Erzählens aufmerksam. Sie zielen kritisch immer wieder auf ein kurzschlüssiges, oberflächliches Denken, auf ein Verhalten, das aus Dummheit, Ungeduld oder Ängstlichkeit die wirkliche unschematische Vielfältigkeit und imme- noch währende Schwierigkeit des Menschenlebens nicht zu sehen und zu berücksichtigen erlaubt. Ein wesentlicher Zug des Bildes vom Menschen, das Strittmatters Darstellung überhaupt prägt - und das sich so auch als durch den Kontrast gegen ungeschriebene, aber hartnäckige Normen bestimmt zeigt - , wird in den Ansprachen konzentriert bewußtgemacht. Nicht eine allgemeine Großherzigkeit, Geruhsamkeit und Weisheit wird hier verlangt, doch aber das Abtun von „Selbstgerechtigkeit" in 235
allen ihren Formen. Nur „Kathederschriftsteller, die vergessen, daß sie auszogen, die Menschen zu beglücken", so hieß es schon früher bei Strittmatter, „ .treiben den Sozialismus voran', als ob der Sozialismus ein Ochse wäre". 442 So wird hier auch keineswegs der Leser angetrieben, eher wird er zur Bedenklichkeit ermahnt, indem ihm im Spiegel seine Unarten vorgehalten werden und - die Anreden sind exemplarisch - deren mögliche Folgen. Auch in dieser Hinsicht wird ein entwickelter Stand sozialistischer Gesellschaft vorausgesetzt. Es geht um Probleme ihrer Entfaltung, es geht um das Verhalten in Konflikten, die wir uns selbst bereiten, 443 und es geht um eine Wirklichkeit, in der gegenüber der einfachen Wahrheit früher vieles nun „verzwickt und widersprüchlich" 444 erscheint. Drittens wird aber ebenso offensichtlich damit gerechnet, daß diese Art, in den Prozeß der Selbstverständigung mittels Literatur einzutreten, nicht ohne Mißverständnisse installiert werden kann. Bereits 1961 formulierte Erwin Strittmatter - und das Schicksal des Romans Ole Bienkopp bestätigte diese Voraussage: „Der Versuch, ein wirkliches Kunstwerk vor die Öffentlichkeit zu stellen, kann auf Widerstände stoßen. Wir müssen uns von der Irrmeinung befreien, daß sich Kunstwerke bei uns kampflos durchsetzen, weil wir uns in der Weltanschauung einig sind. Es ist Kampf erforderlich, aber dieser Kampf zwischen lebendigen und erstarrten künstlerischen Auffassungen ist gesund." 445 In den Anreden wird dieser Kampf um das Durchsetzen neuer Ansichten und einer neuen Kunst exemplarisch in die Form genommen kein Zufall, daß sie im Roman sich in dem Augenblick ausbreiten, da sich die Verständigung über Gegenständen hoher aktueller gesellschaftlicher Brisanz bewegt. Es wird so auch eine Rezeptionshilfe für das Mitvollziehen der sozialismusinternen Wendung gegeben: Die Anrede soll verdeutlichen, daß hier von uns zu uns geredet wird.
Gegensätze im Umbau der Vorgangsfigur Im weiteren Gang unserer Literatur erwies sich auch die Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" als transformierbar. Dabei zeichneten sich zwei Grundtendenzen ab. Zunächst: Eine Transformation der Vorgangsfigur zeigte sich schon etwa in Eduard Kleins Alchimisten. Hier erhielt das in der Grundanlage stets mitspielende Moment des Streits der „Leiter", der Diskussion verschiedener Führungsstile bei der Steigerung der Arbeits236
Produktivität eine größere Selbständigkeit. Dies war folgenreich: Hatten die Bücher, welche unsere Vorgangsfigur in der Literatur etablierten, die Interessen der an der Basis praktisch Arbeitenden, ihre Ansprüche und ihre (auch in wirren Äußerungsformen sich zeigende) Vernunft sprechen lassen, so verlor sich nun der demokratische Impuls mehr und mehr ins Allgemeine des gesellschaftlichen Verlangens, das Beste aus industriellen Anlagen und Menschen zu machen. Andererseits erhielt der Konflikt der aufeinanderstoßenden „Leiter" eine größere historische Objektivität. Die kritisch ausgestellte Führungskonzeption wurde - in ihrem Überfälligwerden, im Verlust ihrer Berechtigung auf den geschichtlichen Ablauf im Sozialismus bezogen und keineswegs nur, wie meist zuvor, aus unüberwundenen Resten früherer Vergangenheit erklärt. Sie war deshalb auch mit den auf Biegen und Brechen hin arbeitenden satirischen Verfahren nicht mehr gestaltbar. In der Konfrontation wurde eine große ethische Auseinandersetzung über gesellschaftliche Verantwortung angedeutet. Diese Transformationen läßt sich aber in den erzählerischen Gattungen nicht weiter verfolgen. Die innere dramatische Form der transformierten Vorgangsfigur wurde vom Film bzw. Fernsehspiel - etwa in Benito Wogatzkis Die Geduld, der Kühnen (1967), Zeit ist Glück (1968), Die Zeichen der Ersten (1969) - aufgegriffen und erfuhr hierbei eine erneute Wendung. Jetzt wurde das Thema der „ihre eigenen Verhältnisse produzierenden Menschen" nämlich stofflich entschieden auf die Prozesse bezogen, in denen sich der Kampf um das Systemdenken, die Strukturpolitik, die wissenschaftlich-technische Revolution durchzusetzen begann, und es wurde mit der Aussage versehen, daß in diesen Prozessen die Antwort auf die „Schicksalsfrage", auf die „Frage nach Freiheit und Notwendigkeit" des Handelns im durchschauten „Muß" der Geschichte bereits unmittelbar gegeben sei.446 Seine Idee verallgemeinernd sagte Wogatzki, es sei der Gedanke herrlich: „Ich lege fest, wann das Glück einzutreten hat!" Er versicherte, daß jetzt unter „wissenschaftlichen Prognosen" jeder sein Glück machen könne, weil wir „das System dafür gefunden" haben: „Da schaffen wir die Enttäuschung einfach ab." Das System des Sozialismus, so sagte er, verändere die Menschen völlig: Effektiver Umgang mit der Wissenschaft werde zu einer Massendisziplin. „Genau besehen ist dies das endgültige Ende spontaner Aktionen und Genügsamkeit in der Arbeit . . . Der ganze Staat arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden an der Lösung jener menschlichen Probleme, 237
die der Gegenstand unserer Arbeit sind." 4 4 7 Die - wie sich schnell herausstellte - sehr zeitgebundenen operativen Inhalte, welche den Aufbau unserer Vorgangsfigur nun bestimmten, wurden mit weltgeschichtlicher Emphase vorgetragen. Das ästhetische Bewußtsein, das dabei Gestalt gewann, war überzogen. D e n allgemeineren Zusammenhang dieser Wendungen kann eine kursorische Lektüre von Zeugnissen literaturprogrammatischen Denkens der sechziger Jahre verdeutlichen. In der Programmatik für die Literatur formierte sich die Forderung nach dem neuen Helden und seinen neuen Grundsituationen bald auf spezifische Weise. E s ging hier ja nicht allgemein um die Gestalt sozialistischer Aktivisten, sondern um die Figur des Menschen, der das „entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus erbaut und beherrscht". Und es ging im Wechselverhältnis damit um das Bild einer Gesellschaft, die sich „nicht nur durch die Lösbarkeit unvermeidlicher Widersprüche und Schwierigkeiten" auszeichnet, sondern auch durch den „Kampf um die rechtzeitige tatsächliche praktische Lösung dieser Fragen". 4 '' 8 Die „notwendige Harmonie" aller Elemente des sozialistischen Systems war vorausgesetzt. Das so gedachte Verhältnis der Übereinstimmung zwischen individuellem bzw. kollektivem Tun und der gesellschaftlichen Bewegung, die Idee der vollständigen Kontrolliertheit der geschichtlich-gesellschaftlichen Resultate durch das (nicht selten über begriffliche Idealisierungen wie „das Subjekt", „der Mensch" vereinheitlichte) Subjekt des gesellschaftlich-geschichtlichen Gangs hatte für das Programm künstlerischer Darstellung notwendigerweise Konsequenzen: Es entstand die Forderung nach Figuren, die dem Pathos des Postulats der „Identität von Ideal und Kampf, zwischen menschlichem Wollen und menschlicher Produktivität" direkt folgen und damit die ästhetisch emphatisierte genaue Übereinstimmung zwischen individuellem Tun und den „zentralen gesellschaftlich möglichen Aufgabenstellungen: Erarbeitung und Durchsetzung einer wissenschaftlichen Prognose, Erarbeitung und Durchsetzung der Strukturpolitik, Erarbeitung und Durchsetzung einer modernen Wissenschaftsorganisation" 449 direkt zum Ausdruck bringen sollten. - Und es wurde, von der Forderung nach der Gestalt des bewußten Revolutionärs an der Hauptfront seiner geschichtlichen Aufgaben ausgehend, in der Ideenwelt dessen, was in der Formel vom entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus zusammengefaßt war, der beauftragte Leiter zur repräsentativen Figur. In Kritik von Spontaneität, im Interesse eines
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künstlerischen Erfassens der Bewußtheit so2ialistischen Gesellschaftsprozesses entstand das Verlangen nach Helden, deren „Verantwortung . . . nicht n u r selbstgewählt [ist] und auch nicht nur Ausdruck sozusagen .allgemeiner' Ergriffenheit von der sozialistischen Idee", die vielmehr „ B e a u f t r a g t e , Führende in dem Sinne [sind], daß sie bewußt einen G e s e l l s c h a f t s p l a n durchführen und andere befähigen, das auch zu tun". Und mit der Forderung nach einer „Totale" im literarischen Blick auf die Gesellschaft wurde noch spezieller - das Verlangen laut nach Darstellung der „berufsmäßigen Führungskräfte", der „Leiter der Partei, Staat und Wirtschaft". 450 Strukturell waltete in der Ableitung dieses Heldentyps und seiner Situationen die gleiche Gesetzlichkeit, die auch die „Sicht des Planers und Leiters" zur subjektiven Voraussetzung einer die neue Wirklichkeit erfassenden Literatur werden ließ oder die die Gestaltung der Schönheitsvorstellungen und Schönheitsideale zum Zentrum des damaligen ästhetischen Programms machte. Die Gründe, die zur Entwicklung dieser speziellen Aspekte in der Programmatik für die Literatur führten, sind vielschichtig. Auf ihre allgemeine geschichtliche Basis wurde bereits hingewiesen. Wurzeln hatte sie aber zugleich in der zum Vorstellungskomplex des entwickelten gesellschaftlichen Systems gehörenden Idee einer schönen Menschengemeinschaft, für die die Übereinstimmung der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen als Haupttriebkraft galt. Diese Idee drückte eine bestimmte Stufe der Erkenntnis der neuen geschichtlichen Situation des Sozialismus aus, sie war bei vielen mit dem grandiosen Empfinden verbunden, den Schlüssel zur baldigen Lösung all unserer Probleme in der Hand zu haben. D i e Programmatik basierte zugleich auch auf Notwendigkeiten der weltweiten ideologischen Auseinandersetzung, in der das Feld kultureller Arbeit zu einem strategisch entscheidenden Abschnitt geworden war. Den Versuchen aus der imperialistischen Welt, ideologisch-kulturell in die sozialistischen Länder einzudringen, sich dazu einer „ .dritten', quasi .linken' strategischen Konzeption" zu bedienen, mußte energisch entgegengetreten werden. Nicht deren Aufforderungen zu „einer zerfleischenden .Selbstkritik' des Sozialismus" 451 war zu folgen; dieser Strategie war vielmehr ein Konzept entgegenzusetzen, das auf die immer reichere Entwicklung der eigenen sozialistischen Kultur gerichtet war. Doch erklären diese politisch-ideologischen Zusammenhänge noch nicht die spezielleren Inhalte der Programmatik für die Literatur. Ihr Ausgangspunkt war vor allem auch traditionell, waren 239
nicht überprüfte Vorstellungen von der Wirksamkeit der Kunst und Literatur. Es handelt sich wieder um die Idee, es sei Aufgabe der Kunst, Wirkungspotentiale anzulegen, die in positiver, „leibhafter" Darstellung schon enthalten, was im Leben als Überzeugung und Verhalten hervorgebracht werden soll. Mit dem Ziel auch der Verhinderung von Spontaneität in der Reaktion eines kaum als zuverlässig gedachten Publikums wurde hierbei die künstlerische Gestalt vereinfacht als Vorbild gesetzt, jedenfalls als planer Ausdruck des positiv bewertbaren Wesentlichen in Gesellschaft und Geschichte, solcherart Typischen. Man kann sagen, daß diese Auffassung bei der Auslösung beinahe aller größeren Literaturdiskussionen in unserem Land mitgespielt und in ihnen durchaus unproduktiv mitgewirkt hat, etwa bei der Debatte über Hanns Eislers Johann Faustus (1952), später beim Streit über Peter Hacks' Die Sorgen und die Macht (1962), dann bei der Auseinandersetzung über die Erzählwerke des „Durchbruchs" zu Beginn der sechziger Jahre. Diese Arbeiten basierten nämlich auf komplexeren, zum Teil mit Satire arbeitenden Wirkungsstrategien, folglich auf anderen Verallgemeinerungsarten und zogen deshalb eine vereinfachende Kritik der Anhänger des Konzepts literarischer Vorbildhaftigkeit auf sich. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre führte es dazu, aus der Orientierung, Literatur möge so wirksam werden, daß „sich die Bürger der DDR in rasch wachsendem Maße als bewußte wirkliche Herren und schöpferische Gestalter ihrer eigenen gesellschaftlichen Organisation, als Herren über die Natur und über sich selbst begreifen, wissen und fühlen"452, die Forderung nach positiv-figurativer Darstellung dieses Verhältnisses abzuleiten. Die literarische Arbeit wurde so auf das bereits angemerkte Moment von Idealisierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft verpflichtet. Die im wirklichen Kunstprozeß auffallende Häufung von Konfliktstoffen dagegen, die aus dem unaufgelösten Spannungsfeld von Bewußtheit und Spontaneität, Zentralismus und Demokratismus usw. ausgewählt waren, mußten von diesem Konzept aus als subjektivistische Verzerrung der „Dialektik gesellschaftlicher Entwicklungen"453 unter Kritik gestellt werden. Kein Zufall, daß in solchem Zusammenhang mitunter dann die „Durchbruchsarbeiten" von 1962/1963 in der Kette der aufgerufenen Tradition gar nicht mehr erwähnt wurden, daß der nach dem Roman Die Spur der Steine gedrehte Film (1966) dem Verdikt verfiel,454 daß sich die Forderungen nach dem 240
bewußten, schöpferischen Helden an einer gesetzten Leerstelle der Literatur entzündeten, daß vorzüglich neuere Fernsehspiele als Berufungsinstanzen dienten, Konfliktgestaltungen vor allem, die - wie bei Benito Wogatzki - ihren Stoff aus den mit der Strukturpolitik der zweiten Hälfte der sechziger Jahre verbundenen Vorgängen nahmen und vom Optimismus der ihnen zuzurechnenden Ideenwelt durchdrungen waren. In der Literatur unseres Landes konnten die spezielleren Inhalte der neuen Kunstvorschläge keine allgemeinere Gültigkeit erlangen. War in dem skizzierten Teil der Programmatik für die Literatur auch immer von Konflikten und Widersprüchen die Rede - tendenziell wurde doch eine einfache Bestätigung sozialistischen Gesellschaftsprozesses und seiner Überlegenheit über die alte Welt (die „einfache Wahrheit", wie es dann bald heißen sollte455) verlangt. Auf solche Bestätigung allein oder vor allem wollte aber eine Literatur nicht hinaus, für die - bei Fortbestehen des „die einfache Wahrheit" erheischenden, großen klassenantagonistischen Widerspruchs - „die neuartigen, nichtklassenantagonistischen" Widersprüche „immer gewichtiger, wesentlicher" wurden, die in die von diesen Widersprüchen bestimmten Arbeiten der Gesellschaft eingreifen wollte und dabei die Leser kritisch in den Vorgang der Selbsterkenntnis, des Findens von gesellschaftlichen Lösungen einbezog, die auf die lebendige, widerspruchsverarbeitende Aktivität der Leser rechnete. Und sie konnte einer Literatur nicht genügen, die sich an die komplexe Wirklichkeit, die wirklichen Menschen und ihren Erfahrungsraum band und die in ihrer Tätigkeit am kommunistischen Ideal festhielt - als Inbegriff der möglichen und notwendigen Bewegungsrichtung des sozialistischen Gesellschaftsprozesses, die über ihn selbst und seine historischen Schranken hinausweist. 456 * Die künstlerische Praxis bewies, daß die zuletzt charakterisierte Ausprägung der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" über ihre Zeit nicht fortsetzbar war. Die schnelle historische Widerlegung ihrer spezielleren politisch-ökonomischen Einbettungen und des ihr vorausgesetzten allgemeineren Gesellschafts- und Menschenbildes zeigte ihre Problematik. Zugleich aber konnte auch die vorausgehende Struktur in der Art der Romane von Erik Neutsch oder Eduard Klein nicht einfach fortgesetzt werden. Den springenden Punkt in diesem Prozeß verdeutlichen zwei kritische motivische Bezüge von Alfred Wellm und Brigitte Reimann, mit denen sie sich zu dieser Struktur in Beziehung setzten. 16 Schlcnstedt
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Schon 1963 formulierte Brigitte Reimann im Zusammenhang mit der Konzeption ihres Romans Franziska Linkerhand, sie habe, nach genauerer Kenntnisnahme der tatsächlichen Prozesse und Schwierigkeiten der neuen Wegetappe des Lebens im Sozialismus, das Projekt ihrer Arbeit geändert. Sie bleibt bei der Grundanlage ihrer ArchitektinFigur, die ihre allgemeineren Gesellschaftsvorstellungen in der Arbeit realisieren will und thematisch im Programm einer vollkommenen Verquickung von „Baukunst und Industrialisierung"457* zum Vortrag zu bringen hat. Aber die Autorin akzentuiert jetzt den harten Widerstand der Sachzwänge und ihrer institutionellen Ordnung: „Da kommt ein Mädchen, jung, begabt, voller leidenschaftlicher Pläne, in die Baukastenstadt und träumt von Palästen aus Glas und Stahl und dann muß sie Bauelemente zählen, schnell bauen, billig bauen, sich mit tausend Leuten herumschlagen (o, keine heldenhaften Schlachten, sondern die kleinen, zermürbenden Streitereien), und das B a c h i r e w t u m muß man sich abschminken, und die Heldentaten bestehen darin, daß man um ein paar Zentimeter Fensterbreite kämpft, und alles ist so entsetzlich alltäglich, und wo bleiben die großen Entwürfe der Jugend?" Die Autorin bekennt, daß sie das Wort „enthusiastisch" schon nicht mehr hören könne, daß ihr selbst mitunter der „Treibstoff" ausgehe im Streit mit Leuten, die sich nie irren und die sie behandeln „wie Hohepriester einen Laienbruder". 458 Von diesen Beobachtungen und Empfindungslagen her schickt sie nun ihre Heldin auf den Weg - im Widerstreit der Lebenshaltung des „konservierten Neuerers" und des skeptisch-unverbindlichen „Ehemaligen", 459 der Schickung in die Widrigkeiten und des traumlosen, ins Private abgedrängten Glücks das Rechte zu suchen. In der Bilanz hält die Heldin fest an dem Doppelprogramm des Willens zu einer schöpferischen Selbstverwirklichung, die sich in anonymer „Fließbandarbeit" bloßer Ausführungsarbeiten nicht erfüllen kann, und an dem Wunsch, am Bau von Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens mitzuwirken, die allen „Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben, die sie zu heiteren und noblen Gedanken bewegen". Der Aufruf zum tätigen Optimismus ist hier wieder zu hören, der den „Illusionen" absagt, Einordnung nicht mit Anpassung verwechselt und der Synthese auf der Spur ist „zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockbau und heiter-lebendiger Sträße, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen" und der dabei auch verlangt zu lernen, auf die Wünsche der Leute zu hören, der „Diktatur" der „eigenen Wünsche und Vorstellungen" abzusagen. 242
In der Abgrenzung v o m „ B a c h i r e w t u m " (Pathos und Aktionsstruktur des bekannten R o m a n s von G a l i n a N i k o l a j e w a Schlacht unterwegs, deutsch 1962, erscheint in der Kritik freilich reduziert) wird die Veränderung deutlich. E r i k Neutschs Buch hatte - unabhängig von d e m sowjetischen Roman, doch strukturell und funktionell mit ihm verwandt - seinen Helden auf d e m eigentlichen Arbeitsfeld noch ganz ungebrochen als „ s o 'ne A r t L o k o m o t i v e " charakterisieren könn e n . 4 8 0 * A l f r e d Wellm dagegen - dem es in Erkenntnis des Umstands, d a ß das „Mittelmaß . . . j a nicht von Bösewichtern praktiziert" wird, darum ging, „auf die N o r m a l i t ä t der einzelnen hinzuweisen" 4 6 1 führt seinen Helden ein als eine „ L o k o m o t i v e , die ihre Zeit hinter sich h a t " und sein H e l d bekennt überhaupt: „ D a s Lokomotivenbeispiel gefällt mir nicht." In einer Zeit, in der „alles eingelaufen" scheint, hat in Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar einer aus der Sphäre der „ L e i t e r " „auszusteigen" und, herausgefallen aus seiner Ordnung, in einer „ K a m p f p a u s e " , in seinem ehemaligen „Wirkungsbereich" zu erfahren, wie sinnvolle Anordnungen sich ins Gegenteil verkehren können. E r hat die F r a g e zu entscheiden, ob er um neue Realitätserfahrungen produktiv bereichert in erneuter Praxis oder resignierend im Reich eines Ausruhens (worauf der spanische Ausdruck des Titels verweist) weiterleben will. Ü b e r eine Figur, die - vor dem Hintergrund aktivistischer Lebenseinstellungen empörend wenig tut, um zu verändern, wo Veränderung dringend nötig ist, werden hier die Probleme entwickelt. Sie haben in Wellms R o m a n im R a u m der Schule ihr unmittelbares B e z u g s f e l d , auch hier aber zielt die Bedeutung, der Sinn der dargestellten pädagogischen Diskussionen über Frömmigkeit und Schöpfertum, über besondere B e g a b u n g jedes einzelnen und Kollektiverziehung zur Disziplin in die Weite gesellschaftlichen Lebens. In der „ P a u s e " hat sich das eigentliche Ziel der Arbeit, das „Wichtigste" aller Arbeit neu zu konturieren, ihr im Inneren anzustrebender E r t r a g von „ N e i g u n g und Verantwortung . . . , von Zurückhaltung und Leidenschaft, von klarem Denken und von stiller Freude, von Parteilichkeit und Ausdauer und Überschwang" 4 6 2 . E s deutet sich im Rahmen der Diskussion von Problemen der Vorgangsfigur „ K a m p f um Produktivitätserweiterung" hier ein Übergang zu den Figuren der „ B e f r a g u n g eigener Geschichte im Entwicklungsprozeß der D D R " , des „ H e r a u s f a l l s aus der W e l t der Gewöhnungen" an. Wesentlich d a f ü r war der A b b a u der Dramatisierungen in der Vorstellung des positiven Helden, die E i n f ü h r u n g von zäher 16»
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N o r w l i t ä t in die Figur des Anspruchs auf Produktivitätserweiterung im weitesten Sinn und schließlich das weitergesteckte Humanitätsideal, das im Bild des unmittelbaren Tuns nicht einfach unterzubringen war, vielmehr im ideellen Horizont des zentralen Helden vermittelt wurde. 4 0 3 * Wesentlich war zugleich die Polemik mit den Forciertheiten, die sich in der Literatur und in der literaturprogrammatischen Reflexion der Zeit beim Entwurf eines Bildes vom aktiven Menschen eingestellt hatten. Trotz der wiederholten Hinweise auf die notwendige „Breite literarischer Themen" und „Vielfalt der Sujets und Fabeln" deutete sich in der Programmatik für die Literatur der sechziger Jahre in solcher Forcierung doch die gedankliche Isolierung eines der Gegenstände an, wie sie mit den Besonderheiten der neuen Geschichtsphase entstanden oder wichtig wurden. So etwa, wenn als Ausgangs- und Kernpunkt für das künstlerische Schaffen, als „Schlüssel für Größe und Bedeutsamkeit neuer W e r k e " die „Gestaltung des Revolutionärs unserer Tage" gedacht wurde. 4 6 4 Zunächst unbestritten setzte sich die Ansicht durch, für die Kunst „ .innerer' Thematik sozialistischen Aufbaus" sei der Typ von Darstellungen, welche starke, schöpferische Gestalten ins Zentrum stellen, „Aktivisten] der gesellschaftlichen Umwälzung", 4 6 5 nicht nur auf neue geschichtliche Weise bedeutend, sondern liefere d i e Bedeutungsfigur neuer Literatur. Im Zusammenhang mit der Diskussion des Problemkreises der Entfremdung und ihrer Aufhebung im Sozialismus, dem Herausarbeiten einer Gesellschaft, in der „der Mensch sich wieder als Schöpfer fühlen und sich somit seiner selbst bewußt werden kann", entstand die Auffassung, daß ein „Kunstwerk . . . letztlich nur leben [kann] durch starke, konfliktbereite Charaktere", durch „Menschen, die sich schöpferisch bewähren". 4 6 6 Und mehr: In einer Art renaissancehaften Vollgefühls wurde von der Literatur der Mensch als „Tatmensch voller Saft und K r a f t " 4 6 7 erwartet. Das Moment von Idealisierung, das am Typus des beauftragten Leiters konstatiert werden konnte, lag also schon der programmatischen Konstituierung der literarischen Figur des aktiven Menschen überhaupt zugrunde. D e r Ausgangspunkt der literarischen Tätigkeit konnte hier nämlich weniger bei den sozialistischen Menschen, er mußte beim sozialistischen Menschenbild bestimmter Prägung gesehen werden: Das „sozialistische Menschenbild zu erkennen, zu erfassen, zu gestalten, also zum Vorbild zu machen" 4 6 8 - das erschien als Aufgabe der Kunst (und als ihre Wahrheit). W i e Überlegungen
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von Alfred Wellm zeigen, war schon die dabei vorausgesetzte Idee, daß produktive Literaturwirkung sich über Identifikationen mit Vorbildern realisiert, bezweifelbar. Der Autor bekannte, daß er nicht vorhatte, „richtige Verhaltensweisen zu demonstrieren", daß er das „aktive Mitdenken des Lesers", „Nachdenken, Widerspruch, Erkennen" provozieren wollte und deshalb auch den Abstand zwischen Autor und Held so bemessen habe, daß der Leser, den er nicht zu entmündigen wünschte, die Möglichkeit erhält, „selbst den Helden einzuschätzen". 469 Und die Skizzierung der zuletzt genannten Bücher zeigt, daß auch die rigorose Kritik an der „Haltungsschwäche" von künstlerischen Figuren bezweifelbar war, die sich im literarischen Denken der Zeit äußerte. Ob ein Autor die Letzten (an deren Behandlung der Wert einer Gesellschaft sich eben nicht zuletzt entscheidet) oder die Ersten vor uns hinstellt, die Starken oder die Schwachen (von deren K r a f t Anna Seghers 1965 nicht aktuell bezuglos erzählte) - das ist nicht unbedingt Sache seines Realismus und auch nicht seiner kommunistischen Einstellung. In dieser Wahl spricht entschieden auch die individuelle Lebensvorstellung und das künstlerische Temperament des einzelnen Autors mit, wirkten detailliertere Momente im Bild vom Menschen und von der Gesellschaft, Werte einer Differentialethik und speziellere Ideen literarischer Wirksamkeit. Eine lebendige, sozialistische, zur kollektiven Verständigung beitragende Literatur benötigt die daraus erwachsenden Verschiedenheiten. In diesem Sinne war die Vorstellung der „starken" Charaktere und der ihnen in der Gegenwart zugehörigen Situationen, Konflikte und Entwicklungen zweifellos ein Gewinn, kaum aber ihre literaturideologische Verabsolutierung. D a ß gerade solche Verabsolutierungen im Denken einzelner Autoren Raum zu gewinnen vermochten, hatte nicht allein literarisch-ästhetische Gründe. Die Autoren, die beim Auffinden neuer Grundsituationen mit den starken Charakteren (welche, um Stärke zu demonstrieren, auch noch die Niederlagen zu lieben behaupteten 470 ) eigenes Temperament und eigene Lebensvorstellung ins Spiel brachten, konnten sich vielmehr auf eine politische Vorstellung berufen, die mit den starken Charakteren strukturelle und funktionale Übereinstimmungen aufwies, auf eine Politik, die sich in der „Dialektik des kulturellen Entwicklungsprozesses . . . besonders auf die Schrittmacher" 471 orientierte. E s erscheint nun als kein Zufall, wenn von anderen Autoren im Rahmen des charakterisierten Umbaus der in der Vorgangsfigur „ K a m p f um Produktivitätserweiterung" bewegten Probleme zwar an 245
dem Ideal festgehalten wurde, „daß jede menschliche Existenz der Rechtfertigung . . . durch schöpferische Leistung" bedürfe, zugleich aber entschieden darauf hingewiesen wurde, daß es zwischen „Schöpfer und Grottenolm . . . tausend Spielarten" gibt, „tausend Möglichkeiten, auf eine anständige, zweckvolle Art zu existieren". 472 Und ebensowenig ist es zufällig, daß besonders ab Ende der sechziger Jahre in einigen Teilen unserer Literatur das programmatisch Vernachlässigte - der „schwache" Mensch - verstärkt hervortrat (während umgekehrt die Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung" während der siebziger Jahre kaum eine bedeutendere Repräsentation fand). E s ist dies u. a. ein paradoxes Ergebnis der gewollten Orientierung. D a s zur Literatur notwendig gehörende Operieren vor Hintergründen gesellschaftlichen Bewußtseins erzwang gerade angesichts der Energie, mit der die genannte Verabsolutierung auftrat - auch die Energie der Korrektur. Sie war, indem sie vernachlässigte oder neuentstehende Problemlagen im gesellschaftlichen Bewußtsein zum Ausdruck brachte, nun mitunter nicht weniger einseitig. Im extremen Fall erschien schon die Lebenshaltung der Produktivität als kritikwürdig. Letztlich unbezweifelt steht in den Überlegungen z. B. Christa Wolfs oder Brigitte Reimanns der Topos sinnerfüllten Lebens: „Häuser bauen, Bäume pflanzen, Kinder in die Welt setzen.'"' 73 Gerade dieser Topos wird etwa Günter Kunert 4 7 4 später problematisch, erscheint als „Metapher menschlicher Dauer und Kontinuität", von „tradierten Haltungen der Individuen", welche nun in der Weltrealität uns Zustände bescherten, in denen „Leben immer weniger lebenswert erscheint, und deren mögliches katastrophales Ende ins Blickfeld gerückt ist". In seiner Sicht ist Häuserbau heute ein Mittel zu der Destruktion, die gerade abgewandt werden sollte, und die Weise der Arterhaltung selbst - der Torheit der einzelnen überlassen - ist in Kriminalität verwandelt. Der Sinn eines „funktionalen Effizienzdenkens", eines „Pragmatismus", der sich des genannten krisenhaft gewordenen Welthintergrunds nicht bewußt ist, „der nichts fragt, nichts weiß, nichts wissen will", bereitet dem Autor Grauen; für „menschlicher" - obwohl im bestehenden Wertesystem nicht für lobenswert - hält er die „subjektive Negativlösung des Konflikts Individuum-Gesellschaft", wie sie in „markante[n] Reaktionssymptome [n] eines persönlich erfahrenen Weltzustandes" als „Frivolität, Zynismus, Resignation" hervortreten kann oder in einer restaurativen Einstellung, gerichtet auf „.Wiederherstellung', nämlich von zivilisierten Existenzmöglichkeiten".
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Es handelt sich hier um eine - einigermaßen traditionelle - ideologische Brechung wirklicher Probleme. Die Einseitigkeit des protestierenden Pessimismus ergibt sich, wie schon die zitierten Äußerungen zeigen, nicht zuletzt aus dem Widerspruch zu tatsächlich vorhandenen Haltungen des Wegdenkens oder des schnellen Überspringens der aufgerufenen Zusammenhänge. D a ß Menschen aus den durchlebten Katastrophen wenig zu lernen vermögen und angesichts kommender Katastrophen hilflos sind - dies ist ein wichtiger Stein des Anstoßes, Ausgangspunkt einer paradoxen (weil ja auf Änderung hoffenden) Provokation. D i e vorgetragenen Meinungen, die selbständig dazustehen scheinen, sind ohne diesen kommunikativen Zusammenhang nicht erklärbar: Aus ihm ergeben sich wesentlich die Forciertheiten. Dies bildet aber noch nicht ihre spezifischen Inhalte. Der von der mittleren Generation der heute Lebenden durchlaufene historische Prozeß (im Blick sind globale Vorgänge) wird hier - ausgehend von einem Interesse vornehmlich an einem „spirituellen Leben" - zum Ausgangspunkt allein einer „Grunderfahrung": der Zerstörung, der menschlichen und materiellen Verluste. D e r geschichtliche Vorgang wird der tatsächlichen Widersprüchlichkeit beraubt, in der die Produktivität und Universalität der menschlichen Beziehungen sich erweiterte, und damit der Perspektive. D i e ökologische Argumentation, die nicht sein eigentlicher Grund ist, gibt dem protestierenden Pessimismus eine neue Stütze. Von hier aus können auch die Vorstellungen der Klassiker darüber, wie sich die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern könnten (eben im Wechselverhältnis von Produktivkrafterweiterung und Revolutionierung der Produktionsverhältnisse), als überholt erscheinen: Sie waren nicht nur auf der Folie einer nichtintakten Gesellschaft, sondern auch auf der Folie einer intakten E r d e gedacht. Zweifellos sind im Lichte neuerer historischer Erfahrung neue Fragen an die Art und an den genaueren Zweck der Produktivkraftentwicklung aufgeworfen; zu dem grundsätzlich angenommenen D i lemma jedoch hat Marx bereits das Entscheidende gesagt, als er den Doppelprozeß analysierte, in dem die Allgemeinheit und Allseitigkeit der Beziehungen und Fähigkeiten der Individuen zugleich mit der Allgemeinheit ihrer Entfremdung von sich und den anderen historisch produziert wird, in dem der Verlust ursprünglicher Fülle und die Herausarbeitung der Fülle der Beziehungen dialektisch vereint ist. Sein Urteil über die entsprechenden Ideologien: „So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächer247
lieh ist der Glaube, bei jener vollen Ent'eerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten."475 Wir erfahren aber jetzt, daß die Verneinung der Idee der Produktivität deren Bejahung auch wohl begleiten wird, solange diese zu kurz greift, sich des ganzen möglichen Inhalts des Prozesses nicht vergewissert und von den neuen Problemen „nichts weiß, nichts wissen will". Wie entscheidend dieser Zusammenhang ist, zeigt heute im Rahmen unserer Vorgangsfigurenreihe ein auffälliges Beispiel. In der konventionalisierten Wiederaufnahme der Figur des Aktivisten, wie sie Herbert Otto in Die Sache mit Maria (1976) vorstellt, ist ihr gerade das kritische und konkret utopische Moment genommen, das sie in unserer Literatur bedeutend machte: Eine Entleerung der Vorgangsfigur war die Folge. Der „Tatmensch voller Saft und Kraft" tritt uns hier entgegen, einer, der von sich selbst sagt, daß er „gesellschaftliche Ursachen in Bewegung" setzt (sie!), „die mehr und mehr die gewollten Wirkungen haben", dessen Moral (wie es mit einer berühmten, auch literarisch wichtig gewordenen Formel der endsechziger Jahre heißt) der „Erfolg" ist - und mag dies auch ein Erfolg in einem problematischen Abrechnungssystem sein oder einer, der den Tatmenschen als abenteuerlichen Durchreißer mitsamt der Organisation der Arbeitsbeziehungen bestätigt, welche ihn notwendig machen. Dieser Held fühlt sich wohl in seiner Haut zwischen Frauen und Montage, und nur zuweilen sieht er mißmutig auf seine Leute: „Dumpfe, ausgebrannte Typen, immer wie im Halbschlaf, nie wirklich wach."476 Die muntere Darstellung verdeckt, was sich in ihr symptomatisch anzeigt, und die ausgebildete Vorgangsfigur hilft ihr dabei. All diese Vorgänge widerlegen nicht die anhaltende Aussagekraft der Prozeßgestalt „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus". Sie verweisen vielmehr auf neue Probleme, die in sie einzubringen und für die neue Strukturierungen auszubilden sind. Man kann in unserer Literatur ihr Wiederaufleben erwarten.
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Entwürfe eines bergenden und offenen Lebens Das in der Künstlerprogrammatik ausgearbeitete produktive Konzept literarischer Tätigkeit in der entwickelteren Etappe unserer Gesellschaft stand der literaturpolitischen Programmatik keineswegs strikt entgegen: Es ging ebenfalls von der Einsicht in die neuen Möglichkeiten kollektiven Zusammenlebens innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft aus, stellte sich parteilich in den Kampf der Ideologien und war vom sozialistischen Menschenbild inspiriert. Es entfaltete sich aber auf eine Weise, die den kommunistischen Humanismus im offenen Raum der Spannung von Verwirklichung und konkreter Utopie beließ und damit die Identitäten verwarf, die der künstlerischen Produktion von der literaturpolitischen Programmatik nahegelegt wurden. Seine Bildung vollzog sich in der Auseinandersetzung mit dem neuen Gewicht der nichtklassenantagonistischen Widersprüche im Sozialismus. Das von Braun mit Brecht formulierte Motto „Es genügt nicht die einfache Wahrheit" verweist auf neuartige Widersprüche „zwischen den politisch Führenden (die bewußt die Umgestaltung der Gesellschaft organisieren oder bewußt oder unbewußt hemmen) und den G e f ü h r t e n (die bewußt oder unbewußt die Pläne realisieren oder kritisieren)", auf Verhältnisse dabei, in denen „die Leute nicht in Klassen auf eine Seite genagelt" sind, sich selber hin und her werfen. 477 Dies umgriff freilich nur einen Teil der für die Literatur immer wichtiger werdenden Widersprüche. In der sozialistischen Gesellschaft, so versuchte etwa Inge von Wangenheim ein neues Spannungsfeld zu beschreiben, verläßt der Prozeß der „Vermenschlichung den Bereich der Spontaneität" und der Illusion, wird er Inhalt einer bewußt geführten und kontrollierten gesellschaftlichen Gesamtbewegung. Unter dem Gesetz einer so ermöglichten „komplizierten Sehnsucht nach Verwirklichung", unter das auch die Kunst gestellt ist, werden notwendig wesentlich die „Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wollen und Können, zwischen Plan und Realität". 478 Auf Objektivierung solcher Spannungen drängte weitergehende Reflexion. Volker Braun selbst z. B. ließ in seinem Stück Die Kipper (1965) den Widerspruch hervortreten zwischen den auf unserem Stand der Produktivkraftentwicklung ermöglichten gesellschaftlichen Individualitäts- und Arbeitsformen und dem über diese Formen hinausdrängenden psychologischen Dynamismus,479 der sich in weit-
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greifenden Lebensansprüchen und produktiven Neuerungen, aber auch in durchaus unproduktiven Aktionen äußert. Oder es wurde das komplizierte Verhältnis von Fähigkeiten und Leistungen, die auf neue Weise wichtig werdenden Widersprüche zwischen den verschiedenen und verschieden großen Fähigkeiten der Menschen signalisiert. Anna Seghers z. B. hatte in der Entscheidung schon begonnen, diesen Widerspruch zu einem der wesentlichen Gegenstände ihrer Arbeit zu machen.480* Der Versuch, der dann im Vertrauen fortgesetzt wurde, weist (wie der mit Volker Brauns Kipper angedeutete) in die Tiefe des wirklichen sozialen Charakters unserer Gesellschaft, tiefer womöglich als der Blick auf die Ebene des politischen Widerspruchs zwischen „Demokratismus und Zentralismus", der spektakulärer die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Welch verflochtene, heute keineswegs lösbare Probleme sich solcherart im Bereich der Grundlosung des Sozialismus „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen" stellen und wie quälend sie im Unterschied zur Periode des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus nun in der entwickelteren Phase sozialistischen Fortschreitens werden können, zeigt Eduard Claudius' Wintermäreben auf Rügen, in dem sie zum ersten Mal in unserer Literatur eine zentrale Stelle erhalten, zeigen auch wesentliche Partien in Egon Günthers Buch Einmal Karthago und zurück (1974) und sein Film Die Schlüssel (1974). Aber auch den subjektiven Zusammenhängen des genannten Widerspruchs wurde nun in der Literatur genauer nachgegangen. Die Formel vom Zurückbleiben der in ihrer Rolle qualitativ erhöhten „subjektiven Faktoren . . . hinter durchaus gesetzmäßigen, objektiv notwendigen Anforderungen an die Entwicklung der Produktivkräfte"481 wies auf einen wesentlichen, für die Kunst wichtig werdenden Konfliktbereich. Wie sich etwa am dritten Teil der Felix-Hanusch-Trilogie, an Jurij Brezans Mannesjahren, oder an Eduard Kleins Roman Alchimisten (vorher schon an Erwin Strittmatters Ole Bienkopp oder Erik Neutschs Spur der Steine) zeigt, wurde diese Art Widerspruch von unserer Literatur aber oft allgemeiner gefaßt. Sie hat - mit Bezug auf die Zeit der Grundlegung des Sozialismus oder auf die Zeit des Übergangs zu seinem umfassenden Aufbau - die Frage nach den kollektiven und gesellschaftlichen Beziehungen aufgeworfen, die für die freie Entfaltung der wichtigsten Produktivkraft, der vereinigt arbeitenden Menschen, am geeignetsten sind, speziell die nach den Organisations- und Führungsarten, die sich für die 250
schnelle Entwicklung der „subjektiven Faktoren" als die günstigsten darstellen. Konfliktsituationen, die sich aus dem Mit- und Gegeneinander von Repräsentanten verschiedener Leitungsstile (und den ihnen jeweils vorausgesetzten Menschen- und Gesellschaftsbildern) ergeben, erwiesen sich als wichtige Formen für die Analyse des genannten Problems und für den operativen Eingriff in seine gesellschaftliche Lösung. Die in diesen und weiteren Widersprüchen angestrebte Weise literarischen Wirksamwerdens haben Max Walter Schulz in der Diskussion um den Geteilten Himmel und Inge von Wangenheim in der Debatte um Ole Bienkopp auf die aufschlußreiche Formel „Kontrolle" gebracht. Es geht, so konstatierte Max Walter Schulz am Geteilten Himmel, um eine „poetische Gütekontrolle unseres sozialistischen Humanismus", seiner Realität, die sich darin zeigt, wie weit wir „die ,Schicksalsmacht' in ein ,Ding für uns' verwandelt" haben, eine Kontrolle, wie sie echt bestätigend ohne schmerzende, Routine aufsprengende, so erst festigende Selbstkritik nicht möglich ist.482 Es geht, so konstatierte Inge von Wangenheim vor allem vom Roman Ole Bienkopp aus, um den am poetischen Modellfall durchgeführten „Beweis, daß das geheimnisvolle und noch nie beherrschte ,Es' der gesellschaftlichen Vorgänge nun endlich doch beherrscht und bezwungen werden kann": In einem Wirkungszusammenhang, der Autoren und Leser auf Verwirklichung der im realen Humanismus begriffenen Grundanliegen drängen läßt, realisiert der Schriftsteller eine „Kontrolle der Durchführung"; er bestätigt die Möglichkeit des beherrschten „Es" der Geschichte, bleibt aber dabei, mit seinen Bildern des Gelingens und Mißlingens „die vertrauenden, tätigen, einsatzbereiten und mutvollen Menschen vor die gesellschaftskritische Frage" zu stellen, wieweit diese Möglichkeit realisiert ist.483 Die „Kontrolle der Durchführung" der im realen Humanismus begriffenen Grundanliegen wird in unserer Literatur nun freilich auf verschiedene Weise angeregt. Ein kurzer Rückblick auf Christa Wolfs Geteilten Himmel und Erwin Strittmatters Ole Bienkopp mag verdeutlichen, welche Rolle die Wirkungspotentiale der verschiedenen Vorgangsfiguren dabei spielen. Mit Christa Wolfs Erzählung - einer der Geschichten der „Eingliederung junger Menschen in die Welt sozialistischer Praxis" werden wir vor das Kardinalproblem gestellt, ob die noch nicht gefestigte, leicht verletzbare Gewißheit, daß der Kommunisten „Lebensgrundsätze einmal das Leben aller Menschen bestimmen" kön251
nen, im sozialistischen Alltag bestätigt wird. Es geht darum, ob dieser Alltag das Individuum vor einer „tödlichen Gleichgültigkeit", aber auch davor bewahren kann, „von der unfruchtbaren Sehnsucht nach einem Phantom aufgefressen zu werden". 484 Diese Fragen sind nicht rhetorisch. Sie werden prüfend an ein Feld alternativer Möglichkeiten gerichtet. Antwort erhalten sie nicht in der Beobachtung irgendeiner vollkommenen Harmonie, sondern im Sichtbarwerden von Anstrengungen, die die ersehnte Bewegung versprechen. Wirkungsästhetisch betrachtet: Mit dem unsicheren Helden, der fördernde und hemmende Einflüsse erfährt, sehen auch wir, die Leser, auf die gegebene Welt. Wir erfahren ihr widersprüchliches Einwirken auf Einstellungen und Verhaltensweisen und fragen, ob das Vorgefundene genügt, den Wunsch nach einem bergenden und offenen Leben zu bestätigen. Die poetische Gütekontrolle unserer Wirklichkeit erfolgt im Prisma der Erwartung, die - von einem allgemeinen Humanismus weitgehend bestimmt - ein Minimum eines lebbaren menschlichen Lebens verlangt im Spiegel einer Welt, die die Realisierung der Sehnsucht durch andere erwartet. Totalität erhält das aufgeworfene Problem dadurch, daß die Appelle sich an eine Lage von der Art der charakterisierten Erwartungen richten (mit der Aufforderung, der gegebenen Möglichkeiten ganz inne zu werden), aber auch an die Verantwortung derer, die der Unsicherheit Halt geben können (mit der Aufforderung, die gegebenen Möglichkeiten zu verwirklichen und zu erweitern). In die Vermittlung von Gewißheit ist zugleich der Aufruf von Empörung eingemischt. Ästhetisch nicht zuletzt über satirisch gezeichnete Repräsentanten der alten und der neuen Verhältnisse vermittelt, mobilisiert er uns gegen ein Verhalten, das die verlangte Gewißheit verwehrt, das den Nichtgefestigten zurückstößt. Anders werden in der Vorgangsfigur „Kampf um Produktivitätserweiterung im Sozialismus" die Probleme entfaltet. Ob der schöpferische Mensch, der Neuerer und Vorwärtsdränger mit seinem Bestreben, produktive Kräfte freizusetzen und zu verwirklichen, und zugleich mit seiner der Originalität entspringenden Starrsinnigkeit und Dickköpfigkeit in unserer Gesellschaft so untergebracht wird, „daß wir ihm nicht seinen Tatendrang beschneiden, aber auch so, daß wir ihn nicht nach der anarchischen Seite ausscheren lassen" - das ist die Frage, die durch den Roman Ole Bienkopp geht. Auch sie ist nicht rhetorisch: Strittmatter setzt nicht voraus, daß sie bereits endgültig beantwortet ist; er hofft, daß „sich mit der Zeit auch eine 252
Antwort finden läßt". 4 8 5 Auf ein Maximum menschlich lebbaren Lebens gerichtet, ist ihr Ausgangspunkt aber mehr als nur das Verlangen, Gewißheit und Geborgenheit zu erlangen. Wirkungsästhetisch betrachtet: Wir, die Leser, werden hier in die Versuche des Helden verwickelt, den „Lauf der Dinge" 4 8 6 zu bestimmen; wir erfahren mit dem unternehmenden Helden innere und äußere Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen des Tuns an den Schranken des G e wohnten. D i e poetische Gütekontrolle erfolgt im Prisma des Verlangens, nach gewonnenen Einsichten handeln zu können, der Forderung auch, die für die freie Kraftentwicklung möglicherweise unsinnig gewordenen gesellschaftlichen Organisationsformen umzubauen. O b und wie das gelingt - das zu besehen ist hier die rezeptive Tätigkeit angehalten. Sie kann Einsicht in Handlungsbedingungen erlangen, Kraft aus dem Beispiel; und der Aufruf der Empörung, der auch hier in die Bekräftigungen eingemischt wird, richtet sich gegen ein Verhalten von Repräsentanten der alten und der neuen Verhältnisse, die verhindern, daß produktive Kräfte sich frei entfalten und stets sich auch erweitern können. Gerade dies zeigt auf die hier durchgeführte Sinn- und Wirkungsintention: D i e Anstrengungen und Schwierigkeiten der bewußt für den Sozialismus Tätigen sollen in dieser Konstellation durchaus auch in ihrer Bedeutung für jene erscheinen, die Halt in ihrem Leben suchen, die zu Grundentscheidungen gedrängt werden. Ohne das Medium der Figur der sozialistischen Grundentscheidung aber führt die Darstellung uns in die Mitte der Probleme der Tätigen selbst und läßt sie in ihrer Bedeutung für diese erscheinen. Entschiedener noch als in der Vorgangsfigurengruppe der „Einordnung junger Menschen" erhalten wir so ein Wirklichkeitsbild, das unter der Funktion der Verständigung zwischen Sozialisten entworfen ist: Die Prozeßgestalt „Kampf um Produktivitätserweiterung" diskutiert Fragen der sozialistischen Aktivisten als deren eigene Betroffenheiten. Bei aller Verschiedenheit tritt aber auch die Zusammengehörigkeit der Wirkungsintentionen dieser Art von Literatur hervor. Sie haben ihre Einheit in einer Strategie, die auf Verdeutlichen, Bestätigen und Kritik des Erreichten hinauswill. „Poetische Gütekontrolle" oder „Kontrolle der Durchführung" sozialistischen Humanismus sind nur verschiedene Namen für diese Funktionsbestimmung. Anna Seghers hat die aktivierende dreifache Aufgabe in der sich bildenden Künstlerprogrammatik für unsere Zeit folgendermaßen formuliert: „In der Skala des Menschlichen, der Erfüllung menschlicher Werte,
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muß der Sozialismus den Menschen das Höchstmögliche sichern (in diesem Sinn sind auch wir nicht da auszulöschen, sondern zu erfüllen). Und im Leben wie im Kunstwerk sind wir da, das Erreichte klarzumachen und zu sichern, das Erreichte, das aus Arbeit, überwundenen Zweifeln, Selbstüberwindung und Widersprüchen entsteht, ja aus der Lösung immer neuer Konflikte."487
Prosa schreiben — Organisationsformen sozialer Erfahrung II
Einführung: Umbau des Gattungsfeldes Prosa Wachsende Differenziertheit ist ein wichtiges Entwicklungsmerkmal unserer neueren Literatur. Im Querschnitt der Prosa heute zeigt sich, daß dies nicht nur Stoff- und Themenwahl sowie Vorgangsfigurenbildung betrifft. Eine größere Bewußtheit und deshalb auch Beweglichkeit prägt jetzt bei vielen Autoren die Methode - die Art vor allem, wie sie in der literarischen Wirklichkeitsaneignung die Widersprüche zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit von Erfahrung auflösen; die Art auch, wie sie dabei mit den schon vorhandenen literarischen Verfahren und Formtypen (Gattungen) arbeiten. Wir stoßen in der Prosa auf Spannungen zwischen strikter Wirklichkeitsbindung und freigesetzter Phantastik; wir sehen, wie neben die großen erzählenden Gattungen lebendiger die Kurzgeschichte, aber auch der Essay und neue Formen des Berichts treten; wir beobachten in den erzählenden Gattungen ein vielfältiges Bemühen, „Hergebrachtes" aufzusprengen. Es ging bei all dem nicht nur um das Entstehen von punktuell Neuem. Wir haben auch in Hinsicht auf die jetzt zu erörternden Formzüge eine Strukturiertheit der Literatur bzw. ihrer Bereiche vorauszusetzen. Was sich wandelte, war das Gefüge der Literatur, der Prosa: Der Prozeß griff in die Beziehungen der Gattungen und ihrer Ausprägungen zueinander ein, er brachte neue Gewichtsverhältnisse unter den literarischen Erscheinungen und Tätigkeiten hervor. Die angedeuteten Entwicklungen wurden in der literarischen Produktion qualitativ und quantitativ wichtig. Sie fanden die Aufmerksamkeit der literarischen Rezeption. Die resümierende Literaturkritik konzentrierte sich - zustimmend oder polemisch - geradezu auf den Umkreis der genannten Vorgänge. Das alles führte mit zu dem neuen Klima, das wir in der Literatur spüren, zu dem neuen Zustand speziell der Prosa. Diese Veränderungen ergaben sich nicht aus einem Plan; sie unter255
lagen in ihren gesellschaftlichen Ergebnissen nicht einer vorausgehenden kollektiven Bewußtheit. Zwar konnte während der sechziger Jahre schon früh ein literarischer Funktionswandel prognostiziert werden, doch kaum die konkreten aneignungs- und kommunikationsspezifischen Erfordernisse dieser Funktion und noch weniger die sie wiederum konkretisierenden Formentwicklungen. D a s aktuelle Spektrum von Formtypen und ihren spezielleren Ausprägungen - wie es für den Zustand unserer Literatur, insbesondere der Prosa wesentlich ist - resultiert aus charakteristischen Aktivitäten einer Reihe von Autoren, die bestimmte Formierungsweisen hervorhoben oder vernachlässigten, bestimmte ihrer Möglichkeiten ausschöpften oder vermieden, neue Formierungsweisen schufen. Bildung und Umbildung der Formtypen folgten dabei - ähnlich wie z. B. bei den Vorgangsfiguren - nicht allein den inneren Bedingungen der Gattungsentwicklung, wie sie durch Wiederaufnahmen, Veränderungen oder Revolutionierungen im literarischen Tradierungsprozeß, in seiner relativen Selbständigkeit hervorgebracht wird. Die Erneuerung unserer Prosa zeigt vielmehr, daß die Gattungsreihen in zweifacher Hinsicht offen sind: Produktion und Rezeption formten sich neu in Auseinandersetzung mit den kommunikativen Verhältnissen, in denen Literatur zu wirken hat, im Zusammenhang mit der Konstanz und dem Wechsel der Zwecke, unter die Literatur von sozialen Interessen her gestellt wird. Sie formten sich neu in Auseinandersetzung mit Art und Gewicht der jeweils anderen ästhetischen und nichtästhetischen Weisen der Wirklichkeitsaneignung, im Zusammenhang mit der veränderten gegenständlichen und subjektiven Wirklichkeit, die Literatur uns verfügbar macht. Und der Literaturprozeß zeigte dabei auch eine Offenheit sowohl für die Anstöße, die Weiterführung, Evolution oder Umwälzung charakteristischer Formierungsmerkmale in den Gattungen bedingen, wie für Anstöße, die bestimmte Gattungen überhaupt aktualisieren oder vermeiden lassen. Aneignungs- und kommunikationsspezifische Aspekte in der gesellschaftlich-geschichtlichen Bestimmung der Funktion von Literatur gingen in diesen Bedingungen ein kompliziertes Verhältnis ein. Dies war Grund für die relative Gleichartigkeit, die allgemeine Richtung des Erneuerungsvorgangs. Der Veränderungsprozeß erstreckte sich deshalb nicht bloß auf die jeweilige Reihe der Werke eines Autors oder der Gattung. Veränderte Qualitäten und ihre akzentuierte Beachtung in der literarischen Produktion, Rezeption und Distribution schufen ein neues Gefüge der Tätigkeiten, die Literatur ausmachen, ein neues Gefüge der 256
diese Tätigkeiten vermittelnden Werk- und Gattungsensembles. Und zweifellos drückt dieser Strukturwandel im großen ein neues Verhältnis des Systems zu seiner Umwelt aus und organisiert es. E r drückt aber zugleich auch aus und organisiert, daß die einzelnen Elemente im literarischen System, z. B. die einzelnen Gattungen und Gattungsausprägungen - auf einer neuen Stelle, in einem neuen Verhältnis zu den anderen Elementen - einen neuen Wert erhalten. Die Tendenz zu freigesetzter Phantastik und zu strikter Wirklichkeitsbindung in der Aktivität vieler Autoren, die Aktualisierung entsprechend organisierter Werke in der literarischen Kommunikation hat z. B. die Literatur von der Art der „realistischen" Fiktionalität auf einen neuen Platz gerückt. Dort hat sie ihre Selbstverständlichkeit verloren, und das Realistische an ihr hat sich als ein Wirklichkeitsbezug gezeigt, der - wie wichtig er auch ist - keine allgemeine Gültigkeit haben kann, als ein Typ von Realismus nämlich, der mit gemäßigten Verzerrungen der Alltagserfahrung, auf mittlerer Verallgemeinerungshöhe, gebunden an das konkret Mögliche arbeitet. In einem literarischen Kontext, in dem die Erkenntniskraft phantastischer Erfindungen deutlicher unter Beweis gestellt worden ist, in dem sich die zupackende Kraft der Prosa strikter Wirklichkeitsbindung - des Berichts, des Essays - erwies, gerade diese Arten von Literatur sich reicher ausbildeten, ist die „realistische" Fiktion neu bestimmt. Sie ist befragbar geworden, sie erscheint nicht länger mehr als die gleichsam ideale Art ästhetisch bestimmter sprachlicher Weltaneignung. Ähnliches gilt für den Roman. Nicht so schlicht wie Georg Lukäcs können wir ihm „epochale Bedeutung" 488 zusprechen. Er zeigt sich eingereiht: als eine Möglichkeit von Prosa unter vielen; er hat die führende Stelle verloren, die ihm in der Prosa noch wenig zuvor gehörte. Und dies nicht nur, weil er nunmehr neben entfalteten Gattungen des Berichts und des Essays steht, sondern auch, weil er neben der Kurzgeschichte zu wirken hat, die beginnt, ihm auf dem Felde des Erzählens den Rang abzulaufen. Und Ähnliches gilt schließlich auch für jenen Roman, der gern der „hergebrachte" genannt wird obwohl man doch weiß, daß die wirklich bedeutenden Werke der Gattung sich strikteren Formtypen verweigern, daß nur das ein Roman (ein wichtiger) sein kann, was kein Roman (eines bekannten Typs) ist. Gemeint ist der Roman, der etwa mit den Kennzeichen des allwissenden Erzählers oder des personalen Erzählens ausgestattet ist und sich als fabelbestimmt erweist. Unter den Bedingungen 17
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größerer Beweglichkeit der Formsuche sieht er notwendig „alt" aus was nicht heißt, daß er seine Chance beim Publikum verloren hätte, und auch nicht, daß demnächst kein Autor uns seine Erneuerungskraft zeigen könnte. Die Wirksamkeit jeder einzelnen Gattung, ihre Möglichkeit, aktiv in den allgemeineren Prozeß gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung einzugehen, hängt nicht allein von „inneren" Bedingungen ab, von der speziell in ihr geschichtlich herausgearbeiteten Weise, Erfahrung zu organisieren. Ihr Wert bildet sich jeweils in einem literaturgesellschaftlichen Kontext, wird in Produktion und Rezeption bestimmt durch die Entfaltung auch der anderen literarischen Gattungen, die ihr einen je eigenen Rang, damit eine je eigene Weite oder Enge ihrer Aufgaben zuweisen. Und mit dem so oder so entfalteten Feld der Gattungen ändert sich auch die Stellung und Wirksamkeit des Literaturganzen, ändern sich die Möglichkeiten, die sich Literatur für Wirklichkeitsaneignung eröffnen kann, ändern sich die Erwartungen, die wir in der Rezeption an sie herantragen. Der Strukturwandel, die Umverteilung der Gewichte in der Prosa ist eben deshalb zugleich ein Funktionswandel. Der allgemeine Zusammenhang, in dem der Struktur- und Funktionswandel seine Erklärung findet, ist im ersten und zweiten Kapitel bereits vorgestellt worden. Es ist der Wandel im Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins, auf den die literarische Veränderung Bezug hat: Literatur ist Reaktion und Aktion in einem weiteren gesellschaftlichen Prozeß. Und auch die allgemeine Tendenz der Formbewegung wurde schon charakterisiert: Sie steht unter dem Gesetz der aneignungs- und kommunikationsspezifischen Bedingungen einer Literatur, die sich als Beitrag zur kollektiven Verständigung konstituiert. Speziellere Kontexte der Veränderungen in der Prosa - der Anspannung des in ihr geltenden Wirklichkeitsverhältnisses, der Elementarisierung und des Neuaufbaus komplexer Formen - sind Gegenstand der folgenden Überlegungen. Mehr als die Skizze eines Problems kann dabei nicht gegeben werden. Der Ausdruck „Prosa" hat in dieser Skizze einen durchaus auch polemischen Sinn. Gemeint ist ein Gefüge von literarischen Formtypen (Gattungen), von Formierungsweisen (Darstellungsweisen), denen wir den Charakter einer dominant ästhetischen Weltaneignung zusprechen und die dadurch in der Literatur im umfassenden Sinn alles Geschriebenen oder auch im Sinn eines Beitrags zur Bildung des Bewußtseins über Gesellschaft ihre Besonderheit haben. Inner258
halb der ästhetisch bestimmten sprachlichen Aneignungsformen und -weisen hat dieses Feld seine - wiederum nicht strikten - Abgrenzungen gegen die Versdichtung und gegen literarische Arbeiten, die für eine szenische Darstellung entworfen sind. Warum ein solcher Begriff nötig ist, wird sich im weiteren erweisen.
Freigesetzte Pbantastik und intensive
Wirklicbkeitsbindung
Auffällig zunächst in unserer neueren Prosa sind die scheinbar entgegengesetzten und auf den ersten Blick unvereinbaren Tendenzen zu einer größeren Freiheit im Spiel der Phantasie und zu einem verstärkten Ausbau authentischer Wirklichkeitsbindung. Der größere Ernst, der zu finden ist, geht eigentümlich parallel mit dem größeren Spaß, der uns bereitet wird, die unbedingtere Bindung an die erfahrene Wirklichkeit mit dem unbedingteren Spiel der poetischen Erfindung. Tatsächlich hat beides seine Einheit in dem neuen Selbstverständnis unserer Literatur, in dem Funktionszusammenhang, in dem sie ihre Wirksamkeit erlangen will. Die Differenzierung der Vorstellung vom Publikum, von dem, was die Leute hören wollen, und von dem, was ihnen zugemutet werden kann, geht Hand in Hand mit der Differenzierung der Vorstellung vom Realismus. In den beiden genannten Tendenzen können wir dabei nicht zuletzt eine Gegenbewegung gegen das „Übliche" in der Literatur sehen. Ihren nächsten funktionalen Grund finden sie gerade in diesem „Üblichen", in dem sie immer noch auffallen - und provozierend auffallen wollen: Erscheinen sie doch als Versuch der Korrektur einer bestimmten Interpretation realistischer Methode - als Korrektur einerseits ihrer Austrocknung, ihrer Reduktion auf die verschämte Erfindung, die die literarische Konstruiertheit sorgsam versteckt und parabolische Verfahren vermeidet, ihres Ungenügens aber auch andererseits an unverschämter Erkenntnis, des Verzichts auf die Möglichkeiten, die in den Verfahren liegen, authentisches Material direkt in die D a r stellung zu bringen, dabei auch vielleicht noch unverarbeiteten Rohstoff oder ungeklärte Gedanken vor uns auszubreiten. Träume und „gestellte" Kunst Die Vergrößerung des Raums für Phantastik in ihren vielen Formen ist nur scheinbar ein literarisches Randereignis. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre mußten solche Züge, als sie etwa bei Johannes
halb der ästhetisch bestimmten sprachlichen Aneignungsformen und -weisen hat dieses Feld seine - wiederum nicht strikten - Abgrenzungen gegen die Versdichtung und gegen literarische Arbeiten, die für eine szenische Darstellung entworfen sind. Warum ein solcher Begriff nötig ist, wird sich im weiteren erweisen.
Freigesetzte Pbantastik und intensive
Wirklicbkeitsbindung
Auffällig zunächst in unserer neueren Prosa sind die scheinbar entgegengesetzten und auf den ersten Blick unvereinbaren Tendenzen zu einer größeren Freiheit im Spiel der Phantasie und zu einem verstärkten Ausbau authentischer Wirklichkeitsbindung. Der größere Ernst, der zu finden ist, geht eigentümlich parallel mit dem größeren Spaß, der uns bereitet wird, die unbedingtere Bindung an die erfahrene Wirklichkeit mit dem unbedingteren Spiel der poetischen Erfindung. Tatsächlich hat beides seine Einheit in dem neuen Selbstverständnis unserer Literatur, in dem Funktionszusammenhang, in dem sie ihre Wirksamkeit erlangen will. Die Differenzierung der Vorstellung vom Publikum, von dem, was die Leute hören wollen, und von dem, was ihnen zugemutet werden kann, geht Hand in Hand mit der Differenzierung der Vorstellung vom Realismus. In den beiden genannten Tendenzen können wir dabei nicht zuletzt eine Gegenbewegung gegen das „Übliche" in der Literatur sehen. Ihren nächsten funktionalen Grund finden sie gerade in diesem „Üblichen", in dem sie immer noch auffallen - und provozierend auffallen wollen: Erscheinen sie doch als Versuch der Korrektur einer bestimmten Interpretation realistischer Methode - als Korrektur einerseits ihrer Austrocknung, ihrer Reduktion auf die verschämte Erfindung, die die literarische Konstruiertheit sorgsam versteckt und parabolische Verfahren vermeidet, ihres Ungenügens aber auch andererseits an unverschämter Erkenntnis, des Verzichts auf die Möglichkeiten, die in den Verfahren liegen, authentisches Material direkt in die D a r stellung zu bringen, dabei auch vielleicht noch unverarbeiteten Rohstoff oder ungeklärte Gedanken vor uns auszubreiten. Träume und „gestellte" Kunst Die Vergrößerung des Raums für Phantastik in ihren vielen Formen ist nur scheinbar ein literarisches Randereignis. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre mußten solche Züge, als sie etwa bei Johannes
Bobrowski, Uwe Greßmann, Peter Hacks beobachtet werden konnten, unbedingt auffällig erscheinen - vor dem Hintergrund einer Literatur nämlich, deren Realismus weithin an ein Nachbilden der Oberflächenformen des Lebens, an die Rekonstruktion ihrer Möglichkeiten gebunden war. Formen der Phantastik wurden deshalb mitunter auch ausdrücklich als solche gekennzeichnet. Dem Erzähler im Roman Levins Mühle gab Johannes Bobrowski einen versöhnenden Kommentar in den Mund, bevor er „Geister" erscheinen ließ. „Wenn so etwas überhaupt möglich ist"489, läßt er ihn sagen - obwohl doch die Geistererscheinungen unübersehbar als Träume ausgewiesen sind, ihr Inhalt als reproduzierte Geschichte, ihre Funktion als Erzeugung von historischem Bewußtsein durchsichtig gemacht werden. Bobrowski wies auf den entscheidenden Punkt hin: Phantastik setzt ein, wenn mit literarischen Gestalten gearbeitet wird, die uns unmögliche Zusammenhänge als wirklich darstellen. Zehn Jahre später beginnt Irmtraud Morgner ihren Roman Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974) mit dem Satz: „Natürlich ist das Land ein Ort des Wunderbaren" 490 , und sie läßt dann wie selbstverständlich eine achthundertjährige Dame erscheinen, Mythen und Spuk, Drachenreisen und Utopien. Daß es im Lande so „natürlich" „wunderbar" nicht zugeht, markiert gerade dieser wiederholt gebrachte Satz. Doch zeigen die spielerischen Gesten, mit denen hier in Zeit und Raum, Realität und Traum, Mythos und Geschichte frei geschaltet wird, auf eine größere Leichtigkeit de; Einbildungskraft und zugleich auf die Erwartung einer größeren Strapazierfähigkeit des mitphantasierenden Lesers. Inzwischen war nämlich auf diesem Gebiet weitergearbeitet worden. Irmtraud Morgner selbst hatte vorher in einigen Prosawerken dazu beigetragen, Gedichte von Kito Lorenc oder Adolf Endler hatten Möglichkeiten phantastischer Lyrik angedeutet, die Theaterszene war mit märchenhaften Parabeln belebt worden. Inzwischen war auch klar geworden, daß die sozialistische Literatur der Vergangenheit bedeutende Traditionen phantastischer Darstellungsart bereithält, die lange Zeit zu wenig beachtet worden waren. Recht zwanglos können Autoren nun mit Momenten der Phantastik arbeiten, sei es (wie Erich Köhler in Der Kr Ott), um ein Motiv einzuführen, das die ganze Geschichte in Bewegung setzt; sei es (wie Erwin Strittmatter im zweiten Teil des Romans Der 'Wundertäter), um eine Ebene der freigestellten poetologischen Reflexion zu etablieren, in der es gerade um die poetische Kraft der Phantasie geht; 260
sei es (wie Jurij Brezan in Krabat), um eine die Zeiten und Länder überspannende Komposition zu ermöglichen. Das Erscheinen der Bände Blitz aus heiterm Himmel (1975) und Die Kettung des Saragossameeres (1976) machte Phantastik als allgemeineren Zug unserer neueren Literatur manifest. Als Resultat eines herausgeberischen Experimentes entstanden, enthält das erste dieser Unternehmen nach vorgegebenem Thema Erzählungen von einer phantastischen Umkehr des „natürlichen" Verhältnisses der Geschlechter und zeigt es als soziales, auch mit seinen unbewältigten, von der juristischen und ökonomischen Gleichstellung allein nicht zu bewältigenden Problemen. Die Phantastik bewährt sich hier ebenso als Verfremdungsform wie in dem zweiten Unternehmen. Hier wurden Märchen gesammelt. Verwirrt standen die Herausgeber, nachdem sie sich einmal ans Werk gemacht hatten, vor einer großen Fülle der Spielarten des Wunderbaren, fühlten sich in Schwierigkeiten mit der Frage, „wo das groteske Märchen aufhört und die märchenhafte Groteske beginnt", wo die Grenzen zwischen Skurrilität und Märchen zu suchen seien. „Formstrenge" sahen sie auf ihrem speziellen Gebiet im Schwinden; dagegen beobachteten sie die Geburt eines neuen Selbstverständnisses der Dichtung, „das ihr gestattet, mit allem historisch Überlieferten zu spielen, alle künstlerischen Erfahrungen zu nutzen und sie, ungeachtet erhobener Zeigefinger professioneller Reinerhalter, ihren aktuellen Zwecken dienstbar zu machen". 491 Man muß die Begeisterung über das Spiel der Phantastik, das sich so äußert, nicht unbedingt teilen. Allzudeutlich nämlich sind in unserer - vom Boden einer ursprünglichen Mythologie und Märchenlandschaft längst abgeschnittenen - Literatur die artifiziellen Momente des eingebrachten Wunderbaren. Es trägt nicht selten - im Unterschied zu vergleichbaren Tendenzen in anderen Literaturen - den Stempel konstruierter Künstlichkeit, die immer zuerst interessant, in ihrer allegorischen Bedeutungsvermittlung jedoch oft schnell erschöpfbar ist. Um so mehr muß die Art der phantastischen Darstellung unser Interesse finden, die Anna Seghers präsentierte und mit dem Stichwort „Träume" versah. Anna Seghers betonte, daß der Schriftsteller seiner Phantasie nachgehen soll. Für sie sind Träume, phantastische Erfindungen ein (ideeller) Teil der Wirklichkeit. Als Märchen, Sagen, Legenden gehen die Träume aus der Wirklichkeit hervor und kehren in sie zurück, wenn sie den Leser erregt haben: „Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen" dringen mühelos in 261
unser Herz und rühren an die Wurzeln der Handlungen - so stellt sich Anna Seghers den Rezeptionsvorgang vor. So vermögen Arbeiten zu entstehen, die sich der eindeutig bleibenden parabolischen Bedeutung entziehen, die nicht auf ein konkretes soziales Beziehungsnetz hinauswollen, in denen vielmehr die Autorin „umrankt von märchenhaft seltsamen Pflanzen" langgültigeren Konstellationen geschichtlichen Lebens nachsinnt, in ihren Bildern Elementares an menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten, an Mut und Angst und Leidenschaften erfaßt.492 Wie sich beide Arten von Phantastik bei einem Autor treffen können, verdeutlicht Christa Wolfs Unter den Linden (1973). Darin finden sich die Neuen Lebensansichten eines Katers, die in durchsichtigen Verkleidungen die Erfindung eines Systems totalen Menschenglücks phantastisch betreffen, aber auch die Titelgeschichte, die, ein reicheres Gewebe von traumhaft unbestimmterer Art, sich auf behutsame Weise daran macht, „die Übergänge zwischen dem Glaublichen und dem Unglaublichen zu verwischen"493. Ähnliches läßt sich in einigen der letzten Geschichten der Erzählungen (1977) Franz Fühmanns beobachten. Zwischen der rationalistischen, nach Art der science fiction konstruierten Geschichte Die Ohnmacht und der kurzen Erzählung Drei nackte Männer mit ihrer aus der peinlich genau beschriebenen Alltäglichkeit aufsteigenden Phantastik, die das Phantastische des Alltags enthüllt, bestehen methodische Unterschiede. Die Chancen beider phantastischen Darstellungsweisen scheinen in unserer Literatur keineswegs erschöpft. Ist Kritik am Artifiziellen der Phantastik wohl möglich - nicht möglich ist der Zweifel an ihrer realistischen Potenz, wenn man nicht Realismus an eine bestimmte Art der Beziehung zwischen dem Vordergrund literarischer Darstellung und Oberflächenstrukturen des Lebens kettet. Daß Realismus nicht auf dieser Ebene, auf der Ebene „realistischer F o r m e n " zu suchen ist, sondern als Funktion verschiedener Formierungsarten verstanden werden muß, Wirklichkeit in ihrer Gesetzlichkeit und unter den Interessen fortschreitender Produktivität anzueignen und dabei Illusionen über die gesellschaftliche Realität und den Naturzusammenhang der Menschen zu zerstören das ist inzwischen in der marxistischen Ästhetik zu einem allgemeiner anerkannten Grundsatz geworden. Brecht, der in unserem Kunstdenken dieser Erkenntnis Bahn brach, verteidigte deshalb Phantasie und Erfindungskraft: Er sah hier Möglichkeiten, die realistische Leistung zu erweitern. Er wies polemisch darauf hin, daß die Vorstellung, man 262
wohne, wenn man sich vor Kunstwerken befindet, einem momentanen, zufälligen wirklichen Vorgang bei, leicht auch ein Objektverhalten gegenüber solcher „Natur" erzeugen könne. E r betonte auf der anderen Seite, daß das Vergnügen an Abbildungen kaum jemals von dem Grad der Ähnlichkeit des Abbilds mit dem Abgebildeten (auf der Ebene der charakterisierten Oberflächenbeziehungen) abhängt, daß Realismus mitunter - besonders bei fetischisierten und Fetischisierungen erzeugenden Anblicksflächen gesellschaftlicher Realität gestellte, künstliche Kunst nötig hat. 494 So entstanden seine Theatermodelle, die Wirklichkeit demonstrierend aufhellen; seine Maskenspiele, die parabolisch die Masken abreißen; Götterszenen, die das Schicksal als menschliches Werk zeigen; seine Prosavisionen, die allegorisch auf die Realität verweisen - Formen, die dem zusammengesetzten Vergnügen bereitet sind und ihr freies Spiel mit den Oberflächenstrukturen des Lebens veranstalten, um durch Verfremdung Abstraktionen und Urteile zu erlauben, die die Tiefe des sozialen Lebens treffen.
Objektive und subjektive Authentizität Und umgekehrt nun: Zur gleichen Zeit, in der sich die skizzierte Tendenz zur Phantastik durchsetzte, machte sich in der erzählenden Prosa auch eine Neigung zu einer strikten Wirklichkeitsbindung geltend. Es geht hier darum, daß Autoren ein geschärftes Bewußtsein dafür gewinnen, ihre Aufgabe sei aufzuschreiben, was sie selbst gesehen und empfunden haben, und Mut, dafür auch selbst einzustehen. In dieser Art von Wirklichkeitsbindung wird oft die Selbstverständlichkeit der Fiktionalität von Dichtung in Zweifel gezogen; „Authentizität" ist dafür zum Fahnenwort geworden - es wird mit der Unbestimmtheit gebraucht, die ihm in der Alltagsrede zukommt: Echtheit, Verbürgtheit, Zuverlässigkeit wird mit ihm aufgerufen. Unter Kritik steht nicht zuletzt aber jene mögliche Eigenart ästhetisch formierter Literatur, die es mit sich bringt, daß das, was in der Darstellung erscheint, nicht unbedingt auf eine entsprechend konkrete Realität beziehbar sein muß. Um diese Tendenz annähernd richtig beschreiben zu können, haben wir Phantastik und Fiktion in der aufgelockerten Terminologie der Literaturkritik oft vermengt 490 * - klar zu scheiden. Die Phantastik ist eine Variante der Fiktion, eben jene, in der im Vordergrund der Darstellung Unmög-
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liches als wirklich erscheint; allgemein fiktionalen Charakter aber haben jene Darstellungen, die sich allein im Rahmen des Möglichen der Realität halten - wobei gilt, daß Erkenntnis des Möglichen historisch-gesellschaftlich bedingt ist und somit auch das, was jeweils für Phantastik gehalten oder nicht gehalten wird. Das Vordringen zum Wesentlichen und Wichtigen i m R a u m d e s M ö g l i c h e n ist der allgemeine Fall der im engeren Sinne realistischen Literatur - und deshalb gerade erscheinen die z w e i hier charakterisierten „Abweichungen" vom allgemeinen Fall - die Phantastik einerseits, die Kritik an der Fiktionalität andererseits - so auffällig. Auch wenn der Verzicht auf Fiktionalität weniger deutlich und weniger spektakulär als die Phantastik zur Geltung gebracht wird: In ihm äußert sich ebenfalls charakteristisch ein neues Selbstverständnis der Literatur. Und das besonders dadurch, daß sich in ihm ein Umschlag abzeichnet von dem Bestreben, beobachtetes Lebensmaterial in seiner objektiven Faktizität in den Aufbau der Darstellungen zu ziehen, zu dem Bestreben, die dargestellte Subjektivität offen und direkt an den Autor zu binden, ja gerade dies zum Hauptpunkt der verlangten Authentizität zu machen. Direktere Aufnahme von beobachtetem Lebensmaterial - sie vollzieht sich heute im allgemeinen anders als meist in den fünfziger Jahren. Das Reportagemoment, das damals im Roman wirkte, war wesentlich unmittelbar operativ intendiert: Aufgreifen und Vorzeigen konkreten Stoffs hatte Verbreitung von Einsicht in spezielle Gesellschaftszusammenhänge, die sich dort stellenden Aufgaben und deren ideologische Voraussetzungen zum Ziel, Einsicht in die Notwendigkeit eines speziellen Verhaltens; nicht zufällig spielten dabei Probleme der Durchsetzung dieses oder jenes arbeitsorganisatorischen Verfahrens oder der politischen Wachsamkeit im Klassenkampf eine so große Rolle. Keineswegs war - wie es heute bei flüchtigem Blick scheinen mag - etwa „Stoffhuberei" oder „Wirklichkeitsschaufelei" das Problematische der Reportagemomente, sondern die Unterwerfung von Materialaufbereitung und Komposition unter den operativen Zweck, der dann didaktisch, von theoretisch schon formulierter Erkenntnis her durchgeführt wurde. 496 Gestaltungsverfahren, unter denen z. B. in der Figurenmotivierung ein unvermitteltes Wirken der vom Werk insgesamt gesetzten Zwecke ökonomischer, politischer, moralischer Art auffällt, im Dialog das Ausfällen der Losungen, im Erzählerkommentar die direkte Bewertung, in beschreibenden Passagen die Beschwörung enthusiastischen Aufschwungs usw., verwei-
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sen auf diesen Umstand. Heute dagegen ist das Reportagemoment in erzählerischen Kompositionen von solcher direkten Operativität weitgehend abgelöst - darin übrigens Tendenzen der Reportage selbst folgend: Karl-Heinz Jakobs z. B. machte dies provozierend deutlich, als er ein Wort aus dem Kinsey-Report als Motto über Reportagen setzte: „Unser Buch stellt in erster Linie einen Bericht dar über das, was Menschen tun, und wirft nicht die Frage auf, was sie tun sollten."497 Solcherart aufbereitetes Material, das zum Nachdenken vor dem Leser ausgebreitet wird und ihn anregen kann, eigene Konsequenzen zu ziehen, eignet sich nun zweifellos dazu, gewissermaßen „nahtlos" in erzählerisch-fiktionale Gefüge einzugehen, zumal danfl, wenn es sich (wie bei Jakobs) um ein personengebundenes Erzählen handelt: Es vermag - anders als die einmontierte operative Reportage - unter ästhetische Funktionen gestellt zu werden. Als Arbeitshypothese konnte Karl-Heinz Jakobs daher auch formulieren: „Der Romantyp, den ich anstrebe, zielt mehr und mehr auf Darstellung mit dokumentarischen Mitteln."498 Dieses Programm hat sich z. B. in dem Buch Die Interviewer auch bewährt. Hier wird in die romanhafte Darstellung ein reiches, selbsterlebtes oder recherchiertes Material eingezogen, das zum Teil bereits in Porträtstudie bzw. Reportage aufbereitet wurde.499 Vor allem aber meint der Autor den Gebrauch von Verfahren, die der Reporter gewann. Mit der Überzeugung, „als Reporter mißtraue ich meinen Augen und Ohren, meiner Wahrnehmungs- und Reproduktionsfähigkeit", korrespondiert die des Romanverfassers: „Ganz und gar mißtraue ich jenen Romantypen, in denen der Verfasser so tut, als sei er im Besitze besonderer Fähigkeiten, die es ihm erlauben, zur selben Zeit hier und dort zu weilen, die Gedanken fremder Menschen lesen zu können." Auch auf Erzählerfiktionen und andere Mittel, die solche Verfahren wieder möglich machen, soll hier verzichtet werden. Jakobs hält sie für bloße Ehrbarkeitserklärungen. Er setzt dagegen: „Man kann Beschreibungen der Außenwelt ineinanderschneiden. Bekommt dadurch Raum für immer präzisere Beschreibung der Innenwelt."500 Tatsächlich ist in seinem Roman aber die Beschreibung ein untergeordnetes Mittel. Der Charakter von Sachlichkeit wird, einem älteren Prinzip des Autors gehorchend, eher durch die Ironie und Selbstironie des personalen Erzählens erzeugt, durch das Ineinanderschneiden verschiedener Personenbindungen dieses Erzählens: Die so formierten Gestalten ziehen uns nicht in sie hinein, sondern konfrontieren uns mit ihnen. Das Beispiel zeigt: Die dokumentarischen Materialien und Ver265
fahren dieser Art können relativ reibungslos in eine erzählerische Komposition eingehen; sie nehmen dann für uns Leser, die wir das Material nicht kennen und für seine konkrete Wirklichkeit nicht sonderlich interessiert werden, einen rein fiktionalen Charakter an. Es könnte kein Leser mit ausgebildeter literarischer Kultur kommen und unter Hinweis auf eine konkrete Realität Kritik an der Darstellung üben. Dies gerade war z. B. nach der Lektüre von Hans Marchwitzas Roheisen möglich, einem Buch, in dem die mit Reportagemomenten versetzten Erzählpassagen auf eine konkrete Realität zeigen, in das (als Ganzes ein Formensemble) auch Passagen reiner Reportage eingehen. Marchwitza konnte etwa vorgehalten werden, daß er die Rolle des Betriebsschutzes unterschätzt hatte, oder es konnte ihm zugerufen werden: „Wie wär's, lieber Hans Marchwitza, mit einem zweiten Band? Mit dem Wachsen des Werkes sind auch neue Schwierigkeiten gewachsen. Schildern Sie den Aufbau der anderen Öfen, das Anblasen des Ofens der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft."501 Und solch eine Kritik, solche Zurufe wären auch kaum möglich bei einem Roman wie Manfred Jendryschiks Johanna oder Die Wege des Dr. Kanuga - obwohl hier, in der Kombination von Erzähl-, Reportage- und Porträtpassagen, die Verhältnisse zwischen Reportage und Roman schwebend werden. Jendryschik nennt im Text oder in der Widmung Namen. Menschen und Lokalitäten, Vorbilder von Figuren werden damit aufgerufen - und sie sind nicht so weit von uns entfernt, daß sie für den Autor Objekte geworden sind, über denen fiktive Gestalten frei gebildet werden können; daß wir, die Leser, das Gefühl dafür verlieren können, bei der Rezeption unsere Aufmerksamkeit durch die Darstellung hindurch auf eine konkrete Wirklichkeit „durchschalten" zu müssen. Das Problem wird im Buch selbst erörtert. Es gehört wie auch der Roman von Karl-Heinz Jakobs - zu der großen Gruppe jener Arbeiten, die Schriftsteller, angehende Schriftsteller, Journalisten, Dokumentaristen, Photographen, Literaturwissenschaftler, Lektoren, Bibliothekare usw. in das Zentrum ihrer Personage stellen. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, Lebensprobleme dieser Menschengruppe zu erreichen, ihre Art von Erfahren und Reflektieren zum allgemeineren Gesellschaftsaufschluß zu gebrauchen - zugleich aber auch Verfahren der Wirklichkeitsaneignung thematisch zu machen und dabei mitunter die bejahten und verneinten Prinzipien des gerade vorliegenden Werkes zu diskutieren. „Im Porträt darf erfunden werden", so wird z. B. dem Journalisten-Helden bei Jendryschik 266
geraten. „Fiktion und Dokumentation sind kein Gegensatz, sondern Ergänzung . . . Die Fiktion kann wahrer sein als alle Tatsachen." So formuliert, ist das angeratene Prinzip falsch: Im Porträt, will es Porträt bleiben und nicht zur Erzählung sich wandeln, darf nur der Spielraum des Porträtierenden und - strikt im Rahmen der Lebenslogik des Porträtierten - der Raum zwischen den erhobenen realen Fixpunkten des Originals „erfunden" werden. Der zitierte Satz wird denn auch vom Helden nicht geduldet: „Schön und gut, dachte Kanuga", und Jendryschik läßt ihn hier die klassische Ästhetik oder auch Programmsätze von Anna Seghers aufrufen, „Dichtung und Wahrheit und so weiter. Wirklicher als die Wirklichkeit. Alles kalter Kaffee . . . da halte ich mich doch lieber an Genaueres." 502 Ein Empfinden von der Notwendigkeit radikalisierter Wirklichkeitsbindung drückt sich aus - aber eben im Räume der Fiktion: Es spricht nicht der Autor Jendryschik, sondern seine Figur Kanuga, für deren Urteile (so sind nun einmal die Verhältnisse in Fiktionen) der Autor eine volle, ernsthafte Verantwortung nicht übernimmt: Er demonstriert es dadurch, daß er einen Roman schreibt. Genau an diesem Punkt in der Logik der Beziehungen setzt Christa Wolf mit ihrem Begriff der „subjektiven Authentizität" an. Authentisches - das ist für sie nicht etwas, was sich allein in der Verpflichtung auf die gegebenen Fixpunkte objektiver Wirklichkeit ergibt. Vielmehr verlangt sie, daß man durch die „Fiktion" (wir können davon absehen, daß diese unrichtig als „Täuschung" charakterisiert wird) „die Stimme des Autors hört und sein Gesicht sieht". Christa Wolf legt Wert darauf, dies zu erklären: „Der Autor muß sich stellen. Er darf sich nicht hinter seiner Fiktion vor dem Leser verbergen; der Leser soll ihn mitsehen." Daß „Belehrung" als Moment solcher Offenbarung möglicherweise nicht ausbleibt, weiß die Autorin ; angestrebt aber wird Heiterkeit und Souveränität in der Behandlung des Materials, die - entfernt davon, „die Fiktion als zweite Wirklichkeit vor die Wirklichkeit zu stellen" - auch den Leser teilhaben läßt an der Entstehung der Fiktion. Und weiter gilt als Verfahren, daß „der Autor seine Zeit und sein Engagement als vierte Dimension (in den dreidimensional gedachten Erzählraum - D. S.) dazugibt", d. h. genauer: daß Erzählerfigur und Autor merkbar ineinander übergehen.503 Beziehen wir die charakterisierten Bestimmungen der Schreibweise, für die Christa Wolf bisher nur der allgemeine Gattungsname „Prosa" zur Verfügung steht, auf die bisherigen Überlegungen: Die Fiktion 267
wird hier am Ort der in die Darstellung eingezeichneten Subjektivität aufgehoben - und nicht am Ort der in die Darstellung gebrachten objektiven Lebenswirklichkeit. Anders formuliert: Nicht primär für das, was auf der Ebene des Berichtens, Beschreibens, Erzählens erscheint, wird - entgegen dem Gesetz des Fiktionalen - die Verpflichtung auf eine ebenso konkrete Realität gefordert, sondern für das, was auf der Ebene des Kommentars vorkommt, der Ebene der Erklärung, Beurteilung, intellektuellen und emotionalen Bewertung, des berichtend-beschreibend-erzählend-erklärend verfahrenden Ichs. Der Autor selbst übernimmt dafür die volle, ernsthafte Verantwortung, er läßt nicht den Erzähler eine von ihm abgehobene Figur sein, der dann wie allen anderen Figuren der Charakter von Fiktionalität zukommt. Dies ist für die Bestimmung der Prosa-Art folgenreicher als der - für den Leser ja doch nie ganz überprüfbare - Anspruch auf Erfülltheit der Darstellung in ihren objektiven Bezügen. Das subjektiv authentische Material läßt sich nämlich - anders als das Material einer „objektiven Authentizität" (wie man in terminologischer Analogie zu Christa Wolfs Vorschlag sagen könnte) - in eine Fiktion nicht integrieren, bzw. es läßt sich von uns, den Lesern, nicht als fiktional lesen: Wir werden (dies zeigte sich in der Rezeption des Nachdenkens über Christa T. oder der Kindheitsmuster) in die Meinungsäußerungen eines wirklich lebenden Menschen, des Autors, verwickelt und reagieren auf sie nicht als auf Teile einer Kunstwirklichkeit, sondern als auf Teile der Wirklichkeit selbst. Wie bei der Verteidigung der Formen von Phantastik haben wir auch in der Kritik der Fiktionalität keine neue - auch nicht für die sozialistische Literaturtradition neue - Tendenz vor uns. Die Überzeugung, daß die konkret erfahrene Wirklichkeit der literarischen Aneignung bedürfe; die Auffassung, daß die konkrete Wirklichkeit im Zeitalter des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ein großes Material an konzentrierten Begebenheiten enthält, welche den charakteristischen Inhalt der großen zeitgenössischen sozialen Konflikte und besonders der darin verlaufenden kollektiven Vorgänge offenbaren, und schließlich die Ablehnung der Psychologisierungstendenz im bürgerlichen Roman, das Interesse für das kollektive und für das Massenschicksal - all das führte zur Kritik an „erfundenen" Geschichten und „gestalteten" Charakteren und zur Forderung nach Tatsachen in der Literatur. Als z. B. Franz Carl Weiskopf mit Kurt Hirschfeld über den proletarischen Roman nachdachte und zu konstatieren können glaubte, „daß der Roman als literarische Form sich 268
in Auflösung befindet", konnte er sich auf eine „Sprengung der strengen Romanform" stützen, wie sie in Anklängen von Romanen „an das Chronikhafte, an die Selbstbiographie, an den Bericht", aber auch - Weiskopf charakterisierte ja die Gesinnung und die Tendenz als erstes Motiv für das Entstehen des proletarischen Romans - „an die Rede" sichtbar geworden war. Er sagte: „Turek: halb Roman, halb Biographie. / Kläber: halb Protokoll, halb Roman. / Knauf: halb Reportage, halb Roman." 504 In welchem Maße es bei diesen „Gestaltungsfragen", deren literaturpolitischer Kontext schon auf der Charkower Konferenz von 1930 zur Diskussion stand, 505 um Funktionsfragen ging, zeigte dann 1932 die Kontroverse zwischen Lukäcs und Ottwalt. Es ging um zwei Funktionstypen von Literatur. Bei Lukäcs herrschte der Glaube an die Funktionssicherheit einer durch das Dichterisch-Typische zur Totalität gebrachten Darstellung, deren fiktionaler Charakter dabei als selbstverständlich vorausgesetzt wurde; er folgte der Idee, daß nur über solche künstlerischen Gestalten die Totalität des Lebens entfetischisierend zum Vorschein gebracht und wirkungsvoll gegen die entmenschlichte Wirklichkeit des Kapitalismus gearbeitet werden könnte. Dem wurde der verabsolutierte Zweifel an solcher Funktion und an den für sie eingesetzten traditionellen Formen entgegengebracht: Ottwalt behauptete, daß der Leser sich vor dem in sich ruhenden und vollendeten Kunstwerk „automatisch in einen Genießer verwandelt, keine Folgerungen zieht und sich mit dem, was da ist, begnügt, mit der emotionalen Erregtheit, mit der sanften Genugtuung, ein schönes Buch gelesen zu haben". Wenn dagegen widersprechend nun die Kategorie „Funktion" als zentrale Kategorie eingesetzt wurde, so handelte es sich in der Tat nicht um den praktischen oder theoretischen Gewinn dieser Dimension künstlerischer Arbeit überhaupt, sondern um das Setzen einer anderen Funktion, als sie der klassischen Ästhetik und ihrem Erben Lukäcs vorschwebte. Nicht Wecken allgemeiner Widerstandskraft und Vermittlung humanisierend-emanzipativer Impulse durch Evokation einer Totalität aus dem Bild der Kämpfe, auch aus dem Prozeß der Zerstörung von Fülle, sondern Wirksamkeit in konkreten, von Klassen bestimmten gesellschaftlichen Kämpfen und Einsicht in die Mechanismen bestimmter Gesellschaftsformationen war das Ziel literarischer Arbeit. Von hier aus wurden auch die Formfragen beantwortet: „Die gesellschaftlichen Zusammenhänge (unter Verhältnissen aufgelöster persönlicher Abhängigkeitsbeziehungen - D. S.) haben sich im Bewußtsein des Menschen so kompliziert, daß diese 269
Kompliziertheit aufgelöst werden muß. Im Literarischen: die absolut überzeugende Behandlung dieses Stoffes muß also die hergebrachte Romanform sprengen." Der Tatsachenroman erschien als Möglichkeit, Erkenntnis und Aktivität zu sichern: „Unsere Literatur hat nicht die Aufgabe, das Bewußtsein des Lesers zu stabilisieren, sondern sie will es verändern." 506 Aus dem Umstand, daß Brecht bei der Begründung seiner (ihre Gemachtheit bewußt ausstellenden) fiktionalen Modelle ähnlich argumentieren und doch anders schlußfolgern konnte, lassen sich literaturtheoretische Konsequenzen ziehen: Nicht die Fiktion überhaupt war problematisch geworden, sondern allein diejenige, die in der Rekonstruktion von Gesellschaftstotalität durch das DichterischTypische die tatsächlichen neuen Bedingungen und Bewegungen nicht ansichtig machte und der deshalb auch nachgesagt werden konnte, mit ihren Evokationen weniger emanzipative Impulse als Illusionen zu verbreiten. Und literaturtheoretische Konsequenzen sind auch aus der Beobachtung zu ziehen, die an Jakobs' und Jendryschiks Büchern gemacht werden konnte - dem Umstand, daß dokumentarisches Material nahtlos in fiktionale Gestalten eingehen kann: Da die Organisation eines bestimmten Wirklichkeitsverhältnisses der literarischen Darstellung wesentlich die Wirkungsart von Literatur prägt, ist es nicht schon die bloße Aufnahme eines authentischen Materials, das einen neuen Gebrauch von Kunst fundiert, das im Umgang mit Kunst z. B. den Ernst der Wirklichkeit garantiert. Diese Ernsthaftigkeit wurde deshalb schon im Tatsachenroman wesentlich mit Hilfe der Ernsthaftigkeit des redenden Subjekts erzeugt. Gerade an dieser Stelle im Beziehungssystem der Darstellung - die in den damaligen Diskussionen jedoch noch gar nicht als in erster Linie befragenswert erschien - zeigt sich heute der Weg, das alte Problem neu anzugehen. Die subjektive Authentizität, die sich gleichwohl mit Fiktionen verbinden, an Fiktionen sich entwickeln kann, die dabei aus der direkten politischen oder ökonomischen Operativität entbunden und in den Raum allgemeiner, auf diese Weise ästhetischer Wirklichkeitsaneignung überführt wird, schafft die Möglichkeit zu einer integrierten ästhetisch formierten Prosa neuer Art. Sie erst macht auch eine Literatur vorstellbar, in der „der Roman" mit seiner durchgreifenden Fiktionalität nicht mehr das Feld der großen Prosaformen bestimmt.
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Kritik des „Üblichen" in der Literatur Eine Doppeltendenz wurde beschrieben* Sie spaltet nicht die Schriftsteller. Ein und derselbe Autor kann das Gegensätzliche vereinen ja gerade bei denen, die zur Phantastik gelangen, findet sich leicht auch die striktere Wirklichkeitsbindung. Das zeigte sich schon bei Christa Wolf, die streng auf „subjektiver Authentizität" bestehen kann und doch in ihrem Band Unter den Linden schon im Untertitel Drei unwahrscheinliche Geschichten ankündigt, oder bei Franz Fühmann, dessen phantastische Geschichten nicht im Widerspruch stehen zu Formen strikter Authentizität, wie er sie im Band Erzählungen mit Bagatelle, rundum positiv oder der Spiegeigeschichte vorgelegt hat. Beides ist Anstrengung um einen neuen Realismus. So hat auch z. B. Volker Braun sein zweifaches Interesse beschrieben. Qualität von Literatur sah er darin begründet, daß „einer seine eigne* Angelegenheit auskämpft. D a ß er sich selbst und dem Leser nichts vormacht. Daß er sich rückhaltlos selbst ausspricht . . . Mich interessiert also das Dokumentarische (in diesem weiten Sinne). Andererseits die große Erfindung, die Zeitvorgänge plastisch und plausibel macht. Das sind zwei Möglichkeiten: die große Erfindung und die ,Authentizität', Gargantua und Werther (da unterschlage ich sicherlich die übliche Literatur)." 507 Die „große Erfindung" von Hans Faust (1968) und die mit Tagebuchnotizen operierenden Geschichten vom Ungezwungnen Leben Kasts sind Zeichen dieses zweifachen Interesses im Werk des Autors. Seine Unvollendete Geschichte vereinigt ein integriertes (so kaum noch erkennbares) dokumentarisches Material, punktuell die ernsthaft mitredende Stimme des Autors und den phantastischen Traum, der Utopie ins Spiel bringt. Und die Doppeltendenz ist nicht neu. Kurz vor Beginn der neuen literarischen Phase schon, in ihrer Sammlung Der Bienenstock (1959), hat Anna Seghers auf das vielfältige Interesse an Literatur hingewiesen: „Wir blieben", so beschreibt sie einen Freundeskreis, in dem man das von ihr vorgestellte Publikum erkennen kann, „manchmal alle zusammen, in Bann gehalten durch ein und dieselbe Geschichte. Wir teilten uns auch oft in drei, vier Gruppen, denn wir waren völlig verschiedene Menschen, unserem Aussehen und unserer Herkunft nach, und auch die Menschen aus ein und derselben Heimat waren im Innern völlig verschieden. Der eine sagte: ,Ich möchte ein Märchen hören.' Der andere sagte: ,Ich nur, was wirklich passiert ist.' Und manche wollten am liebsten alles hören." 508 Das zweifache In271
teresse, das hier an der Rezeption festgestellt wird, zeigt sich von der Seite der Produktion im Erzählwerk von Anna Seghers selbst, in dem schon früher die „Richtung auf Realität" und auf die „wilden und zarten Träume" sich aussprach, in dem das dokumentarische Verfahren etwa der Erzählung vom Letzten Weg des Koloman Wallisch (1934) nicht im Widerstreit stand zu Verfahren von der Art der Volkslegende, zur Farbigkeit der Sagen vom Räuber Woynok (1936) oder der Sagen von Artemis (1937), in dem (in neuerer Zeit) lakonisch versachlichte Geschichten wie die um die „Kraft der Schwachen" neben solchen der Sonderbaren Begegnungen stehen - einem Band, der die hier in Rede stehende phantastische Fähigkeit der Kunst, das raumzeitliche Kontinuum zu überschreiten, die Kraft der freien Einbildung im Durchspielen unserer Möglichkeiten und solcherart den Zusammenhang des Humanen mit der Kunst auch zum * Thema macht. Nichts Neues also, und doch mußte Volker Braun sagen: „ . . . da unterschlage ich sicherlich die übliche Literatur." Neu nämlich und für die sozialistische Literatur in unserem Lande keineswegs durchgehend „üblich" ist die deutlichere Ausprägung der beiden Tendenzen und damit die größere Spannung zwischen strengerer Realitätsverpflichtung und freierer Phantastik, zwischen dem sicherer gewordenen Vertrauen aufs Empirische, auf die Aussagekraft dessen, was „in einem einzigen Leben ist an Sinn, Unsinn, Größe, Niedrigkeit, Zufall, Gesetz" 509 , und dem größer gewordenen Mut, heftiger gewordenen Wunsch zum „Schießenlassen der Phantasie", „zum Traum und Paradoxen". 510 Erst in unserer Zeit trat deshalb auch die genannte Doppeltendenz im Werk von Anna Seghers ins allgemeinere Bewußtsein. Die gewachsene Souveränität unserer Literatur - sie zeigt sich gerade in dem so angespannten Wirklichkeitsverhältnis Das deutliche Hervortreten von Phantastik und strikter Wirklichkeitsbindung läßt sich als praktische Kritik an der „realistischen" Fiktion interpretieren (bezogen auf den engeren Sinn, der sich mit dem Ausdruck „Realismus" verknüpft), spezifischer als praktische Kritik an den durch sie schon fixierten Grundmustern der Ordnung von Erfahrung und der Vermittlung von Sinn. Die Doppeltendenz hat wesentlich einen innerliterarischen Begründungszusammenhang, hinter dem Verkrustungen im gesellschaftlichen Denken überhaupt stehen. Auf beiden Wegen wird versucht, schon allzu eingängig gewordene, nicht zuletzt durch Literatur selbst eingängig gemachte bildhafte Typisierungen zu erschüttern, in denen wir Wirklichkeit geord272
net erfassen, ihre uns betreffende Bedeutung erfahren - und dabei vielleicht unbewußt tabuisieren und manipulieren. „Es m u ß ja nicht jede Verwicklung sich auflösen und alles zu einem guten Ende kommen" - so erläuterte Christa Wolf die Gefahr der fixierten figuralen Ordnungen an einem Hauptpunkt. Und sie fordert: „Menschen, wie sie wirklich geworden sind, müssen in voller Schärfe kommen, nicht gemildert durch unser Wunschdenken, unsere guten Absichten und vor allem nicht durch vorgefaßte Meinungen von unserer Gesellschaft. Wir müssen sie darzustellen versuchen, wie sie ist und uns von der Zwangsvorstellung lösen, daß wir nur eine im ganzen vorwärtsschreitende Bewegung zu illustrieren hätten." 511 Behauptung und Verteidigung von Verfahren, die in die Prosa einzubringen gestatten, was man selbst gesehen und empfunden hat, ist das positive Programm dieser Kritik. Der Glaube an die Objektivität des in solchem Erfahren Erfahrenen wird hier leicht unbedingt. Er läßt vergessen, daß es eine Unmittelbarkeit des „reinen" Sehens und Empfindens nicht geben kann, daß an die Stelle der als abgegriffen verworfenen ideellen Steuerungen nur andere, meist unkontrollierte treten, die das, was nun als Material und Bedeutung in den Blick gerät, als das einzig Wirkliche, als das, „was ist", erscheinen lassen. Tatsächlich handelt es sich um den Vorschlag, andere als in den fixierten Bildern schon erfaßte Partialitäten gesellschaftlichen Lebens als wesentlich und wichtig anzuerkennen. Wird in diesem Anderen aber überhaupt ein neuer Ausschnitt Wirklichkeit zum Vorschein gebracht, so liegt in diesem Aufdecken, ungeachtet seiner möglichen Spontaneität, Erkenntnisgewinn vor - und um den geht es immer in realistischer Literatur. Der „Wirklichkeit gegenüber gerecht und zugleich respektlos" zu sein - das ist nun tragende Haltung auch dort, wo als Verfahren nicht strikte Wirklichkeitsbindung und das Haften an der Erfahrung gilt, wo in einem eher „deduktivefn] Herangehen" der Versuch regiert, „von einer Position der Unwirklichkeit aus [zu] schreiben". Die innerliterarische Polemik - nicht zuletzt äußert sie sich im Aufruf verschütteter Traditionslinien des Komödisch-Karnevalistischen - ist hier ebenfalls unverkennbar. Gerhard Branstner etwa, der in unserer Literatur die poetischen Möglichkeiten durchdacht hat, die Wirklichkeit im Bilde unwirklich zu machen so, daß dem Leser Wahrheit nicht serviert, daß ihm vielmehr nahegelegt wird, sie selbst zu finden, begreift sie als Weise „heiterefr] Verstellung". Gezielt wird auf ein „Korrektiv des Ernstes", das diesen nicht liquidiert, sondern in einer 18
Schönstedt
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bis zur Heiterkeit getriebenen historischen Souveränität kultiviert. Und in Kritik der Vorstellung von Literatur als bloßer „Nachahmung" und „Abschilderung" wird solche Literatur als Weg angesehen, „der Wirklichkeit auf die Sprünge zu helfen". Kunst ist hier, was die Kritik der Fiktion gerade vorwirft, Spiel, sinnvolles und vergnügliches Spiel mit der erkannten Wirklichkeit, das in sie „ein schwebendes, relativierendes Moment" einfügt, sie zu „einem Laboratorium der Phantasie macht" - und dadurch handhabbar. 512
Belebung von dokumentarischer Prosa und. Kurzgeschichte Die Verfahren objektiver oder subjektiver Authentizität implizieren, wie gezeigt wurde, tendenziell eine Kritik allgemein an Methode und speziell an Inhalten der „realistischen" Fiktion - nicht aber ein Verwerfen ästhetischer Weltaneignung überhaupt. Überlegungen vom Typ der Theorien über ein „Ende der Kunst" traten in unserer neueren Literatur nicht hervor: In den theoretisch-poetologischen Reflexionen ging es vielmehr immer wieder darum, die Eigenart von Literatur als einer ästhetischen Aneignungsweise im Ensemble der Arten gesellschaftlichen Bewußtseins zu begründen. Und in den praktischen Versuchen läßt sich immer wieder die Anstrengung beobachten, Prosa auch jenseits der „realistischen" Fiktion oder doch in Aufsprengung ihrer zuvor bestimmenden Formtypen als ästhetische Weise der Weltaneigung zu bilden. Das Spektrum, der Gattungen der Prosa wurde dabei deutlich bereichert: Auffällig ist besonders die größere Lebendigkeit der Prosaformen des Berichts und des Essays sowie auf anderer Ebene der Formbildung - das Aufblühen der kurzen Geschichte. In diesem Prozeß finden sich nun klare Entsprechungen zwischen Verfahrenstendenzen im Bereich der größeren erzählenden Formen und dem Ausbau der Gattungen, in denen diese Tendenzen eine selbständige Form haben. Es besteht offenbar ein Zusammenhang zwischen dem Bemühen um striktere Wirklichkeitsbindung des Erzählens und dem neuen Bemühen um die dokumentarisch-berichtenden Gattungen sowie um den literarischen Essay. Und ebenso besteht ein Zusammenhang zwischen der sich ausbreitenden Episodentechnik im Roman und der reichen Entfaltung der Kurzgeschichte im Ensemble unserer Literatur. Man kann dies als Vorgang der Elementarisierung der komplexen erzählerischen Formen und des Neuaufbaus komplexer Formen aus elementaren Weisen literarischer 274
bis zur Heiterkeit getriebenen historischen Souveränität kultiviert. Und in Kritik der Vorstellung von Literatur als bloßer „Nachahmung" und „Abschilderung" wird solche Literatur als Weg angesehen, „der Wirklichkeit auf die Sprünge zu helfen". Kunst ist hier, was die Kritik der Fiktion gerade vorwirft, Spiel, sinnvolles und vergnügliches Spiel mit der erkannten Wirklichkeit, das in sie „ein schwebendes, relativierendes Moment" einfügt, sie zu „einem Laboratorium der Phantasie macht" - und dadurch handhabbar. 512
Belebung von dokumentarischer Prosa und. Kurzgeschichte Die Verfahren objektiver oder subjektiver Authentizität implizieren, wie gezeigt wurde, tendenziell eine Kritik allgemein an Methode und speziell an Inhalten der „realistischen" Fiktion - nicht aber ein Verwerfen ästhetischer Weltaneignung überhaupt. Überlegungen vom Typ der Theorien über ein „Ende der Kunst" traten in unserer neueren Literatur nicht hervor: In den theoretisch-poetologischen Reflexionen ging es vielmehr immer wieder darum, die Eigenart von Literatur als einer ästhetischen Aneignungsweise im Ensemble der Arten gesellschaftlichen Bewußtseins zu begründen. Und in den praktischen Versuchen läßt sich immer wieder die Anstrengung beobachten, Prosa auch jenseits der „realistischen" Fiktion oder doch in Aufsprengung ihrer zuvor bestimmenden Formtypen als ästhetische Weise der Weltaneigung zu bilden. Das Spektrum, der Gattungen der Prosa wurde dabei deutlich bereichert: Auffällig ist besonders die größere Lebendigkeit der Prosaformen des Berichts und des Essays sowie auf anderer Ebene der Formbildung - das Aufblühen der kurzen Geschichte. In diesem Prozeß finden sich nun klare Entsprechungen zwischen Verfahrenstendenzen im Bereich der größeren erzählenden Formen und dem Ausbau der Gattungen, in denen diese Tendenzen eine selbständige Form haben. Es besteht offenbar ein Zusammenhang zwischen dem Bemühen um striktere Wirklichkeitsbindung des Erzählens und dem neuen Bemühen um die dokumentarisch-berichtenden Gattungen sowie um den literarischen Essay. Und ebenso besteht ein Zusammenhang zwischen der sich ausbreitenden Episodentechnik im Roman und der reichen Entfaltung der Kurzgeschichte im Ensemble unserer Literatur. Man kann dies als Vorgang der Elementarisierung der komplexen erzählerischen Formen und des Neuaufbaus komplexer Formen aus elementaren Weisen literarischer 274
Wirklichkeitsaneigung auffassen. Das verbindende Moment der in jeweils verschiedener Richtung und auf verschiedener Ebene verlaufenden Formbildungsprozesse ist gestalterische Flexibilität: Die Autoren fühlen sich an tradierte literarische Formierungsarten, besonders an den „hergebrachten" Roman nicht mehr gebunden, sie suchen im Interesse neuen Wirklichkeitszugangs und intensivierter Kommunikationsleistung nach Wegen und werden sich dabei offenbar der Chancen elementarer Formierungsweisen und Formtypen bewußt. D a ß die Tendenzen zur Bildung von ästhetischen Gestalten am Material der Wirklichkeit und zur Aktualisierung der Kurzgeschichte bzw. des Kurzgeschichtlichen zusammengehören, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die für sie jeweils charakteristischen Darstellungsweisen in neuen komplexen Formen vereint auftreten und hier - wie schon angedeutet - in eigenartige Fluktuationen geraten können. In der zweifachen Formbewegung läßt sich ein gemeinsamer Ansatzpunkt literarischer Arbeit erkennen: Es realisiert sich ein Bestreben, das wirkliche Leben in seiner Normalität und die Bedeutung dieser Normalität erfaßbar zu machen Eine Dimension des jetzt in der poetologischen Reflexion häufiger verwandten Begriffs „Prosa" zielt gerade auf diesen Punkt. Das deckt sich mit dem traditionellen Sprachgebrauch. Reden wir von Prosa, so meinen wir ja nicht allein monologisch strukturierte Textformen, die nicht in der Art der Versdichtung und insofern mit alltagsnaher Sprache arbeiten und doch einer bewußten Formung unterliegen. Ein anderer Inhalt des Begriffs Prosa weist auf eine stoffliche und thematische Bindung an den Alltag und speziell - um Vorstellungen der klassischen Ästhetik ins Spiel zu bringen - auf einen Alltag in prosaischen Zuständen. Anders als diese Ästhetik, die unter Prosa gerade eine nichtästhetische Aneignungsweise - die Geschichtsschreibung, die Rede - verstand, verbindet sich der heute oft gebrauchte Ausdruck mit einer ästhetisch bestimmten Literaturart. Deren allgemeines Kennzeichen ist nicht das abgerundete Werk vom Charakter der Fiktionalität, in der - was z. B. Hegel forderte - die Prosa der Verhältnisse aufgehoben, eine poetische Welt an ihre Stelle gesetzt ist, sondern die wert- und sinnakzentuierende Verdichtung ihrer ans wirkliche, normale Leben gebundenen Darstellungen. Gehen wir aber wieder schrittweise vor: Der Fragenkreis soll zunächst an Problemen dokumentarischer Prosa, des Essays und der Kurzgeschichte betrachtet werden. Dann folgt die Analyse zweier Beispiele vom Beginn unserer Literaturphase, die das Bemühen zeigen, neue komplexe Formen zu bilden. 18»
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Ästhetische Gestalten am Material der Realität Dem Streben nach Authentizität in den erzählenden Gattungen korrespondiert im Literaturensemble zunächst das Hervortreten von dokumentarischen Gattungen. Die Reportage, die Beschreibung, die Autobiographie - sie alle erfuhren eine charakteristische Belebung. Die Reportage begegnet uns in unserer neueren Literatur in vielfältigen Ausprägungsformen. Kennzeichnend ist z. B. die Suche nach Möglichkeiten, das Verschiedene zu vereinen - Tagebuchnotizen, Dokumente, Interviews, Bericht, reflektierenden Kommentar: Mit den Ausdrücken „Reportagenmosaik" oder „explodierte Reportage" fand diese Neigung einen guten Namen. 513 Die Wiedergewinnung des Tagebuchs als literarischer Form steht in diesem Zusammenhang. Für unseren Kontext wichtiger aber ist die offenkundige Tendenz der poetischen Intensivierung des Berichts. Auf verschiedene Weise zeugen davon die Nachrichten aus anderen Ländern, wie sie etwa von Hermann Kant mit In Stockholm (1971) oder Karl-Heinz Jakobs mit Tanja, Taschka und so weiter (1975) vorgelegt wurden, oder die Entdeckungsreisen durchs eigene Land, wie sie etwa Klaus Schlesinger mit Hotel oder Hospital (1973) versuchte. Bei der Beschreibung der neuen Berichtsformen wird allgemein auf das Moment von Subjektivität hingewiesen, auf das Bestreben, „Gegenwart durch den Filter der eigenen Persönlichkeit" des Autors sichtbar zu machen, seine „Geschichte, seine Erfahrungen, sein gezahltes Lehrgeld" mitzugeben. 514 * Zweifellos spielt dies eine große Rolle, doch wäre der Vorgang damit nur einseitig charakterisiert. Auf einen anderen Aspekt des Aufbaus des Berichts als ästhetischer Form zielt z. B. Karl-Heinz Jakobs bei der Charakterisierung seines Bandes Tanja, Taschka und so weiter. Korrespondierend mit seiner Neigung, im Roman mit dokumentarischen Mitteln zu arbeiten, ist seine Vorliebe für einen Reportagetyp, dessen „Darstellung mit erzählerischen Mitteln" 515 bewerkstelligt ist. Provozierend nennt er daher seine Berichtsammlung einen „Reiseroman": Das Buch erhebt nämlich nicht den Anspruch, alles, was der Autor hörte oder sah, das „flüchtige, reale Geschehen" einer konkreten Reise zu reproduzieren. Was er uns geben will, ist das Bleibende, das er in seiner Erinnerung aufbewahrte: „Es ist auch möglich, daß ich nicht alles auf dieser flüchtigen Reise nach Wologda erfahren habe, was ich erzählen werde. In Sagorsk war ich zu einer anderen Zeit als in Aleksandrow. Was ich in Wologda erfuhr, war in einem anderen Jahr 276
als das, was ich von Grjasowez hörte. In meinem Gedächtnis aber bilden alle diese Erinnerungen ein geschlossenes Ganzes, und mir scheint, ich hätte es alles nacheinander erlebt auf dieser Eisenbahnfahrt." 516 Bewußt wird mit einer in der Erinnerung produzierten Materialverdichtung operiert, durch die das Zusammengehörige und Wichtige herausgearbeitet werden soll, ohne daß es zur Fiktionalisierang des Materials kommt. Die bewußte sprachliche Durcharbeitung des Berichts bildet vielmehr die ästhetisch bedeutenden Gegenstände am Material, an Darstellungen, die auf konkrete Wirklichkeit beziehbar bleiben. Das Verfahren, das Günter Kunert in seinen reflektierten „Beschreibungen" gewann, das er etwa in den Ortsangaben (1971) oder in Der andere Planet (1974) gebraucht, erweist sich bei allen Besonderheiten dem skizzierten Reportagetyp als durchaus verwandt. Auch hier geht es nämlich um den Versuch, ästhetische Gegenstände mit aufrechterhaltenem Bezug auf die konkreten Dinge und Ortschaften zu bilden. Ortsbeschreibungen - sie zielen nach Günter Kunert darauf, die Gewöhnungen (auch seine eigenen) zu durchbrechen; er ist bestrebt, „Ortschaften und Landschaften auf literarischem Zugang zu betreten, auf einem ungewohnteren Wege also, so daß sie dem Besucher andersartig und fremd vorkommen. Insofern wird jeder Ort ungewöhnlich und betretenswert und ein Anlaß zum Weltverständnis." Vom wirklichen Autor wird hier der wirkliche Ort als „Kreuzpunkt vieler, häufig widersprüchlicher Entwicklungslinien" beschreibend und reflektierend aufgedeckt.517 Es ist dies eine Art literarischer Aneignung, die zu einer Gattung sich zu konstituieren beginnt, für die der Begriff „Reportage" schon inadäquat wird (selbst wenn Kisch als Tradition angegeben wird). Günter Kunert nennt ihren Charakter „dokumentarisch" - er meint damit nicht nur ihren objektiven Bezug; sie soll vielmehr das Konkretum der dinglichen Welt u n d der Gedanken, der subjektiven Sicht des Autors absorbieren: „Es ist der Versuch, auf Grund des Dokumentarischen und Faktischen und durch ihre Integration in die Intention und Schreibweise des Autors, die sichtbare und nachweisbare Wirklichkeit als ein Symptom unserer (wie auch immer gearteten) Befindlichkeit zu diagnostizieren."518 Bei der Entfaltung dieses Verfahrens hat zweifellos stark die „Befindlichkeit" des Autors Kunert mitgespielt, sein erkenntnisfördernder Pessimismus. Kunerts Kritik entzündet sich nicht zuletzt an der Verdinglichung des Menschen; sein Blick ist geschärft für den in der Gewöhnung entstehenden Schein des „Alltäglichen
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der Ortschaft" und der Dinge überhaupt, der deren menschenprägende Kraft unerkennbar werden läßt. Und diese weltanschauliche Einbettung prägt zweifellos auch die polemischen Intentionen bei der Einführung der Beschreibung. Für Günter Kunert liegt hier ein Verfahren vor, das in der Lage sein kann, die „Mechanik" einer Weltvorstellung aufzubrechen, wie er sie nicht zuletzt auch durch die Literatur selbst erzeugt sieht, durch ihre fiktionale Dramaturgie, durch deren konstruktive Logik und Schlüssigkeit, die sich uns als Lebensgesetz eingeprägt hat. Die „anhaltenden, durch keine tatsächlichen Erfahrungen begründeten oder bestätigten Erwartungen auf den jeweils guten Ausgang von Unternehmen, die stete Zielrichtung auf ein sich von selbst ergebendes Happy ending" sind ihm Beispiele solcher Mechanik. Doch geht die Bedeutung seines - mit Berufung auf verwandte Form bei Walter Benjamin unternommenen - Versuchs weit über die spezielle inhaltliche Orientierung hinaus, zumal sich auch hier wieder die Behauptung subjektiver Authentizität einstellt. Das Verfahren der reflektierenden Beschreibung wendet sich gegen eine Art von Umwelt-Rapport, der den Schriftsteller „ausklammert, seine subjektive Sicht verheimlicht" und vorspiegelt, hier liege nicht Interpretation vor, sondern „alles s e i faktisch genauso, wie er es beschriebe". 519 Schließlich haben wir in diesem Zusammenhang noch auf die Autobiographie hinzuweisen, die - das ist inzwischen unübersehbar geworden - in unserem Zeitraum zu einer der wichtigen Gattungen sozialistischer Literatur wurde. Am exemplarischen Schicksal vor allem des Funktionärs der Arbeiterbewegung, des sich der sozialistischen Bewegung anschließenden Wissenschaftlers, Künstlers erfaßt sie Zeitgeschichte, die revolutionären Kämpfe und gesellschaftlichen Umwälzungen unseres Jahrhunderts - bisher hauptsächlich im Zeitraum zwischen den beiden großen Epocheneinschnitten von 1917 und 1945. Auch wenn mitunter angekündigt werden kann, daß die Autobiographie „immer ein Akt kontinuierlicher Selbstenthüllung ist, ein Exzeß des Exhibitionismus, eine Bloßlegung der Seele mit all ihren Defekten und düsteren Abgründen, mit ihren Empfindlichkeiten und Schmerzhaftigkeiten, eine Offenbarung des inneren Antlitzes" 520 es ist nicht diese Art, die sich in unserer Literatur ausprägte. Die Leistungsfähigkeit der Autobiographie wurde vielmehr gerade dahingehend ausgebaut, Geschichte als gesellschaftlich-historisch bestimmte und wirkende Aktion der einzelnen und der Kollektive, als ihr Handeln und ihr Erleiden erkennbar zu machen. Genau hieraus bezieht
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die Autobiographie wesentlich ihre Wirkungskraft im Ensemble der Arten gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung. Aus eigener Leseerfahrung teilte z. B. Hermann Kant mit, daß in dem bei vielen Lesern sich zeigenden Wunsch, Geschichte durch Literatur im konkreten Zusammenhang von Ursache und Wirkung aufgehellt zu finden, auch ein Vorwurf, ein „Hinweis an unsere Historiker enthalten" ist: Mit den „autobiographischen Notizen wird ja Geschichte abgeliefert bei uns, aber eine sehr nachvollziehbare Geschichte, eine handgreifliche, nicht allzusehr verallgemeinerte, abstrakte, übertheoretisierte Geschichte"521. Dies wurde Anfang der siebziger Jahre formuliert, aber auch nach Erscheinen einer großen Vielzahl von Autobiographien gilt noch der gleiche Funktionszusammenhang der großen Wirksamkeit der Gattung. Die Verbindung von politischem, gesellschaftlichem Bericht und Bericht über „die menschliche, persönliche Seite" wurde von Ruth Werner als Grund für den großen Erfolg von Sonjas Rapport (1977) erkannt, und im Blick auf Leserinteressen schloß sich auch hier der Charakteristik möglicher Vorzüge der Autobiographie eine Kritik am Zustand der Geschichtsschreibung (speziell der Biographie) an.522 Zweifellos tendiert die autobiographische Literatur auch in andere Richtung - wie es etwa die Selbstdarstellung von Fritz Selbmann Alternative Bilanz Credo (1969) zeigt, welche von einem bestimmten Punkt des Lebensgangs ab über das individuelle Schicksal berichten will nur, insofern es „wesentlich, das will heißen politisch wurde", insofern aus den „Konflikten mit der Welt" etwas herausgekommen ist. Diese Art neigt zu „Annalen".523 Vor allem aber demonstrieren es die Lebenserinnerungen von Franz Dahlem Am Vorabend des zweiten Weltkrieges (1977). Hier soll vom „politischen Kampf einer Partei", vom Wirken eines Kollektivs und der Massen berichtet werden. Und in Besorgnis über die Gefahr, daß im Prozeß der Erinnerung „die Rolle des Berichterstatters unbeabsichtigt erhöht wird", „Gefühlsaufwallungen zu Subjektivismus in der Darstellung von Geschehnissen" drängen, macht der Autor dabei den Willen zu einem „Höchstmaß an Objektivität" zu seiner Voraussetzung.524 In dem Maß, wie die große Geschichte Gegenstand und die Rekonstruktion des Objektiven Methode der Autobiographie wird, wird sie selbst Bestandteil der Historiographie. In der Gattung lebt aber immer auch die Möglichkeit ihrer Entfaltung zur Prosa als einer ästhetisch bestimmten Aneignungsweise. Hier nämlich, so beschrieb Schopenhauer diese Möglichkeit, werden die einzelnen in ihrem Agieren erfaßt, in engerer Sphäre die Handlungsweisen der 279
Menschen gezeigt, und hier werden die Vorgänge zugleich konzentriert: „Der Mensch, der sein Leben aufzeichnet, überblickt es im Ganzen und Großen, das Einzelne wird klein, das Nahe entfernt sich, das Ferne kommt wieder nah, die Rücksichten schrumpfen ein." Mehr als die nicht-idiographisch verfahrende Geschichtsschreibung sieht deshalb der Philosoph die Autobiographie in der Nähe der „Dichtkunst": Hier wie dort sehen wir den „verdeutlichenden Spiegel" uns vorgehalten, „in welchem alles Wesentliche und Bedeutsame zusammengestellt und ins hellste Licht gesetzt uns entgegentritt".525 Mit unseren Worten: In der autobiographischen Darstellung können bedeutend auf Grundinteressen und Grundwerte der Menschen verweisende Gestalten am Material der konkreten Wirklichkeit, mit unaufgehobenem Bezug zu dieser Wirklichkeit konstituiert werden, kann sich solcherart eine ästhetische Weltaneignung durchsetzen. Dies vermag durch den „ehrlichen, sauberen, einfachen Bericht" geschehen, wie ihn Anna Seghers in Lore Wolfs Ein Leben ist viel zu wenig (1973) präsentiert sah, in Aufzeichnungen, die ein „Stück Geschichte" und zugleich damit auch „heroischen Widerstand und unverbrüchliche Zusammengehörigkeit" in Zeiten der „Grausamkeit und Verfolgung" als Bedeutung und Wert des Geschehens unserem Gedächtnis überliefern.526 Und es kann in autobiographischen Skizzen geschehen, wie sie etwa Stephan Hermlin in den Erzählungen (1970) vorgelegt hat: Erinnerung an Augenblicke intensiv gelebten Lebens wird hier entfaltet in weitgespannter Reflexion, in einem Aufruf von Bildern, die über die Jahre hinweg den Sinn offenbaren, der diesem Leben abgewonnen wurde. Der Übergang von der berichtend-beschreibenden Darstellung zu essayistischer Reflexion liegt in allen Prosaformen der dokumentarischen Art immer nahe. Der Essay wurde aber auch als eigenständige Weise der Wirklichkeitsaneignung in unserer neueren Literatur wiedergewonnen. Seit etwa Mitte der sechziger Jahre ist zu beobachten, daß er stärker als wichtige Gattung sozialistischer Literatur verstanden wurde, als Möglichkeit vor allem, im Zusammenhang mit mehr oder weniger eindringlicher Gesellschaftsanalyse experimentelle Poetik zu betreiben. Die meisten Reden von Schriftstellern haben eine essayistische Grundform; inzwischen ist jedoch auch längst die Zeit der Essay-Sammlungen und Essay-Anthologien angebrochen. Sie machen diese Entwicklungsrichtung unserer Literatur unübersehbar. Dies ist ein zweiter Aspekt von Entsprechungen zwischen Formbildungsprozessen in den komplexen erzählerischen und Bewe-
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gungstendenzen der Literatur insgesamt, zwischen dem allgemeinen Bemühen um subjektive Authentizität und dem Ausbau der Gattung, die ihr eine eigene Form gibt. Der Essay hat inzwischen durch Annemarie Auer (Die kritischen Wälder. Ein Essay über den Essay, 1974 527 ) auch einen Vorschlag zu einem theoretischen Selbstverständnis erhalten. Charakteristischerweise ist dieser Vorschlag wieder funktional orientiert. Zur verkürzenden Erörterung funktionaler Probleme der literarischen Form kann uns dieser Beitrag eine Hilfe sein. Annemarie Auer formuliert: „Der gesellschaftshistorische Bedarf treibt die Spezifik einer Form hervor." Das spezifische Bedürfnis in der sozialistischen Gesellschaft für die Aneignungsweise des Essays (der hier als von empirischer und rationaler Herkunft, als Erkenntnis aus Erfahrung charakterisiert wird, an dem die Eigenarten des Heuristischen, Experimentellen, des ahnungsvoll assoziativen Vorgehens, der aufbewahrten Denkbewegungen des Subjekts hervorgehoben werden, dessen allgemeine Leistung in seiner Systematikfeindlichkeit und seinem undogmatischen Wesen gesehen wird) wird denn auch mit ausreichender Schärfe bestimmt: Es ist „die aktive Erkenntnishaltung, die entdeckerische Initiative", die das Interesse an der Gattung begründet, ihre Fähigkeit, individuelle Erfahrungssubstanz mitteilbar zu machen: „Wo Beweise aus dem Material schwer, vielleicht gar nicht beizubringen sind - was bei Kunstdingen oder persönlichen immer der Fall sein kann - , darf der Essay seinen V e r m u t u n g e n folgen; er darf ein Urteil wagen gemäß dem Augenschein. Wie in jedermanns Alltagspraxis, so ist auch im Essay die Intuition ein legitimes Mittel der Erkundung." Annemarie Auer vermutet, daß der Essay als eine „Kunstart" ausgewiesen ist: Augenschein, Evidenz, Denkbewegung des Subjekts als seine Merkmale ermöglichen ihr diese Zuordnung. Zugleich aber bestimmt sie als legitimen Bereich des Essays die Reflexion, die „das Erfahrene ausschließlich in die Sphäre des Intellekts" transportiert. Von hier aus ist dann ein Satz möglich, der im Widerspruch zur angeführten Bestimmung steht: „Von Dichtung unterscheidet sich der Essay grundsätzlich; er ist weder Dichtung, noch darf er anstreben, es zu sein." Ähnlich wie auch auf dem Gebiet des autobiographischen Schreibens - das etwa von Ruth Werner betont aus dem Rahmen „literarische [r] Arbeit" ausgesondert wird528 - sind es Festlegungen der klassischen Ästhetik, die es unmöglich machen, die Darstellungsweisen nichtfiktionaler Prosa, die Möglichkeiten einer ästheti281
sehen Organisation von Wirklichkeitsaneignung auch jenseits des Kanons des geschlossen-abgerundeten Werks der Dichtung adäquat zu fassen. Der benannte Widerspruch in der Bestimmung des Essays löst sich erst auf, wenn wir den Überlegungen Annemarie Auers folgen, die eine seiner Verfahrensweisen genauer beschreiben: Die Essayistin bemerkt die Chance des Essays, „in e i n e r bildhaften R a f f u n g sich seitenlange zeitgeschichtliche oder sonstige Explikationen zu ersparen", „ G e i s t i g e W e l t a l s E r l e b n i s " „zum Gegenstand der Darstellung" zu machen, durchdachte Anschauung zu liefern, „ L e b e n s w i r k l i c h k e i t und U r t e i l " zusammenzuspannen, „in raschen Synthesen Verwandtes aufzuspüren". Genau in diesen Verfahrenszügen wird die Möglichkeit einer ästhetischen Formierung der essayistischen Darstellungsart greifbar. Es handelt sich um die (im Bereich des Essays keineswegs immer ergriffene oder stets voll ausgebaute) Möglichkeit, mit in die Reflexion erhobenen Materialien wirklichen Lebens zu operieren, an ihnen - im Raster einer bestimmten Weltsicht - Sinnfiguren eines tieferen Interesses, bedeutend gemachte Gestalten einer wertenden Interpretation wesentlich erscheinender Lebenszusammenhänge zu konstituieren. Deren Struktur ähnelt denen, die in den Prosaformen des Berichts, der Beschreibung, der Lebenserinnerung vorkommen - von hier aus erklärt sich auch, weshalb es leicht möglich ist, in die „Ortsbeschreibungen" ein essayistisches Reflektieren einzuknüpfen, vom autobiographischen Bericht zur essayistischen Durchdringung von Lebensaugenblicken überzugehen oder im Tagebuch - einer seltener gebrauchten Form, wie sie in jüngerer Zeit von Franz Fühmann in Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens (1973) vorgelegt wurde - Gedanken und Schilderungen zu vereinen. Auch hier finden wir immer die raschen Synthesen, die motivische Bindung der Bilder, die mehr oder weniger dicht Grundthemen der Weltinterpretation hervortreten lassen, das Arbeiten am Konkret-Genauen, das weite, auf unseren Weltaufenthalt weisende Bezüge ermöglicht - sei dies nun wie bei Franz Fühmann das Fragen nach Wandlung und Identität des Ich - oder sei es, was er an Wieland Försters Tagebuch Begegnungen (1974) beobachtet, „der Mensch in der Landschaft und die Landschaft im Menschen", Prozesse, die „des Menschen Elend und Herrlichkeit" spiegeln.529
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Vorzeigen
des
Alltäglichen
Der Prozeß unkanonischer Beweglichkeit in der Bildung komplexer Formen geht, wie schon betont, nicht nur vom Versuch aus, objektive und subjektive Authentizität zur Grundlage literarischer Arbeit zu machen. Auf anderer Ebene der Formbildungprozesse liegt der Versuch, im Entwurf komplexer Strukturen die Beziehungen zwischen Teil und Ganzem der erzählerischen Darstellung neu zu fassen. Deutlich prägt sich im Roman die Neigung aus, die Szenen zu verkürzen, weitgespannte Tableaus zu vermeiden und, korrespondierend mit dieser gestalterischen Intensivierung, Darstellungswelten mosaikartig zu erzeugen durch Ketten sehr selbständiger Episoden, durch den Gebrauch von Montageformen, die in der Lage sind, kurzer Prosa einen Rahmen zu geben. Der Doppelvorgang von Elementarisierung und Neuaufbau komplexer Formen gilt auch hier. In dem Maße, wie sich die charakterisierten Bewegungen in den größeren erzählerischen Gebilden entfalteten, entfaltete sich auch die Kurzgeschichte. Sie wurde im Verlauf der sechziger Jahre zu einer qualitativ wichtigen Gattung unserer Literatur. Die neue Konzentration auf die Szene als Grundform des Erzählens hat schon früh poetologische Aufmerksamkeit erhalten. Werner Bräunig z. B. erinnerte in Prosa schreiben (1968) daran, daß es die Szene ist, die strukturbestimmend fürs Erzählen sei. Er berief sich auf eine lange Tradition, als er sagte: „Die Teilstücke . . . sind im Epischen selbständiger als in der Lyrik oder Dramatik, wenngleich sie natürlich Teile eines Ganzen bleiben." Dieses Ganze aber - es ist für Bräunig nicht nur Handlung, „es kann sich", betont er, „auch und gerade um die Erweiterung des Räumlichen handeln, um die Öffnung weiter Horizonte in jegliche Richtung, vom Vordergrundgeschehen beispielsweise in die Tiefe des eigentlichen epischen Vorgangs." Der Erzähler - unerhörteste Chance der Prosa nach Bräunig - „ist an keine Einheit von Ort, Zeit und Handlung gebunden und an keine objektiven chronologischen Abfolgen", die „Prosa postuliert in sich ihre eigene Zeit". Und die Szenen (wie die ausgesparten Räume zwischen ihnen) sind es, die diese Chance realisieren lassen: Die Szene „stellt alles Geschehen, das der Erzähler zu erzählen hat, andauernd in eine größere Welt, eine äußere wie innere; sie macht Handlung erst möglich und ordnet Reflexion und Betrachtung, Beschreibung und Bericht zu in beliebiger Zeitebene." In dieser Aufhellung von Formgesetzen des Erzählens geht es, so ist sichtbar, um
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die unnormierte Vielfalt ihrer „Richtung auf Realität", um die aus der Literaturbewegung selbst gewonnene unkonventionelle Verallgemeinerung von Wegen einer Prosa, die sich weit „ins Wirkliche" vorgewagt hat. 530 Von einer anderen Seite erörterte Erwin Strittmatter den funktionalen Zusammenhang der neuen Beweglichkeit der Formbildung und dabei auch vor allem den der Intensivierung der Szene. Den Untertitel seiner Geschichtensammlung Ein Dienstag im September (1969) 16 Romane im Stenogramm setzte er als zweifache Provokation: E r richtet sich gegen ein Lese- und Kaufinteresse des Publikums, das Erzählungen eine geringere Chance als Romanen gibt; und er richtet sich gegen ein damit im Zusammenhang stehendes Produktionsinteresse, das dazu neigt, einen Vorwurf, der nur eine Erzählung hergibt, „zu einem Roman auszuwalzen". 531 Allgemeiner aber hat Strittmatter schon früher die Tendenz des Komprimierens, der Verknappung und Verdichtung, des Versuchs, „zu reduzieren, ganze Passagen auszusparen" als eine „Entwicklung der Schreibart" gekennzeichnet, die sich im Einklang mit den Lesern vollzog. Die Leser verstanden und bestätigten sie, neuentstandene Fähigkeiten und Interessen der Rezeption damit ankündigend. D a ß Strittmatter vermutet, dabei möchten am Film erlernte Rezeptionsweisen mitgewirkt haben, zeigt die geschärfte Beachtung der Wechselwirkung der Künste: Die vom Film gebrauchten Verfahren ermöglichen nach Strittmatter auch neue Verfahren des Romans, die allesamt der Struktur breit durchgeführter Fabel entgegenlaufen: „Der moderne Roman bezieht viel von der Schnittechnik des Films; Überblendungen, Rückblenden, Gedankenverkürzungen durch Bilder werden heute von den Lesern sehr willig aufgenommen, weil sie das vom Film und Fernsehen kennen." 532 D a ß keine einfachen Kausalbeziehungen zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen Künsten vorliegen, zeigt das Wirken genau auch der umgekehrten Tendenz: der Abgrenzung der Prosa vom Film. Schon Hermann Kant hatte in der Aula durch seinen Helden den Filmleuten untersagt, sich seiner in der Erinnerung aufbereiteten Stoffe zu bemächtigen. Diese schienen ihm in ihrer Eigenart durch die filmische Art der Reduktion auf Bildlichkeit nicht darstellbar. Das Scheitern der verfilmten Dramatisierung bestätigte im übrigen diese Warnung. Der weitere Ausbau des Fernsehens, das seit Beginn der sechziger Jahre zu einem wichtigen Medium der künstlerischen Kommunikation wurde, verstärkte die Neigung, die literarischen Besonderheiten in Abgrenzung vom Film, von den Mög284
lichkeiten des Auges der Kamera herauszuarbeiten, die Unersetzbarkeit der sprachlichen künstlerischen Weltaneignung zu betonen: „Die Prosa sollte danach streben, unverfilmbar zu sein." 533 Wie immer dieses Programm nun bei Christa Wolf verknüpft ist mit ihrer Kritik der „Medaillons", der Produktion und Reproduktion bildhaft fixierter Resultate der Erfahrung - es geht auch hier wesentlich darum, Erinnerung und ihre reflektierende Durchdringung darstellbar zu machen, die Gestaltung auf intellektuellem Wege zu intensivieren und dabei auch auf das zu verzichten, was dem Film gerade als Bilderzählung möglich ist: breit vorgeführtes äußeres Leben. Es zeigt sich, daß die Übernahmen aus dem Film wie die Kritik am Film auf den gleichen Punkt zulaufen. In welchem Maß auch die Tendenz zur Mosaikhaftigkeit im gesamten Zusammenhang der Prozesse gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung steht, zeigt auf spezielle Weise Irmtraud Morgners Vorschlag für einen „Montage-Roman", für eine „unreine" Form. Den kritischen Ausgangspunkt bildet hier die in der Programmatik für die Literatur in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unbedingt werdende Forderung nach der gesellschaftlichen Totale in der Darstellung künstlerischer Werke. Für Irmtraud Morgner gilt dabei nicht nur der allgemeine Grundsatz, daß „das große epische Werk" persönlich und gesellschaftlich „wachsen" muß, die Einsicht, daß der Versuch, es zu erzwingen, zu Verwaschenheit, zu allgemeinem Gerede, zu „Schinken" führen wird. Irmtraud Morgner billigt der kurzen Prosa größere Aussagefähigkeit aus drei Gründen zu: Sie könne erstens davon ausgehen, daß die Information, die durch die erzwungene Totalität vielleicht ermöglicht wird, durch andere Arten der Wirklichkeitsaneignung „besser und prägnanter" gewährleistet ist; sie könne zweitens darauf bauen, daß die Arbeitsteilung der Schriftsteller das Ganze leistet: „Am Ensemble der literarischen Erscheinungen ist die Totale doch sichtbar"; sie könne drittens auf die mitarbeitende „Produktivität des Lesers" vertrauen: „Kurzgeschichten kann man nur im Einverständnis mit dem Leser schreiben. Ihm ist aufgetragen, die Totale zu ergänzen." Das zusammenhaltende Band der „facettenhaft" angelegten komplexen Form ihres „Montage-Romans" (der im übrigen nicht nur Kurzgeschichten, sondern auch reportagehafte Berichte, Zeitdokumente, Zeitungsmeldungen usw. vereint) ist bei solcher Negation des Strebens zu objektiver Totalität die Totalität dessen, was Irmtraud Morgner das „epische Ich" nennt: die Subjektivität des Schreibenden, die im literarischen Gefüge mitunter 285
in eigenem Namen spricht, die aber vor allem in einem Repräsentanten Gestalt erhält, die bei aller „Verkleidung" den Autor erkennbar macht. Das den organisierenden Mittelpunkt solcher Romananlage bildende „epische Ich" soll dabei im Konzept von Irmtraud Morgner nicht ein „Ich" sein, das auf einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung stehengeblieben ist, indem es eine einmal gefaßte Konzeption über mehrere Jahre hinweg ausführt. Es soll vielmehr von seinen Begegnungen und seinem Erleben bei der Arbeit nicht absehen, sich die Möglichkeit offenhalten, bei der Arbeit zu Ende zu denken: „Ein Ensemble kurzer Prosa holt die Lebensbewegung des epischen Ich deutlich ins Buch, ohne sie inhaltlich fassen zu müssen."534 Allgemeiner hatte schon Werner Bräunig auf die Notwendigkeit solcher Bewegung aufmerksam gemacht, als er sagte, daß das Sujet (bei ihm die Logik der Entwicklung einer Figur) und die Komposition (bei ihm die Logik der Entwicklung eines Themas) sich während des Schreibens verändern und sich dabei „nicht bloß mitund aneinander, sondern auch gegeneinander" entwickeln müssen, da sonst die „Kolportage" beginnt.535 Welche allgemeine Funktion dieser Art episodisch akzentuiertem Formaufbau zugemessen wird, läßt sich klar an der Kurzgeschichte ablesen, der sich nun auch junge Autoren verstärkt zuwenden. Sie erfährt rasch eine sich weit verzweigende Strukturierung, so daß - mit einiger Übertreibung, doch auffällig genug - heute gesagt werden kann: „Die ,kleine Prosa' . . . dominiert." 536 Daß wir hier eine elementare Form vor uns haben - freilich nicht äußerster Stufe und nicht strikter Abgrenzung - , wird vom Herausgeber der repräsentativen Sammlung Bettina pflückt wilde Narzissen (1973) ausdrücklich hervorgehoben: Im Unterschied zu den großen erzählenden Formen lebt die Gattung Kurzgeschichte „von der präzisen Beschreibung e i n e r Situation, e i n e r Szene, sei sie dialogisch geführt . . . oder mit Reflexionen, Assoziationen usw. durchsetzt, und in der Ausschreibung des Atmosphärischen und des Psychologischen unterscheidet sie sich von der Anekdote". Diese Struktur wird nun zugleich auch auf eine elementare Funktion zurückgeführt: Die Kurzgeschichte erscheint als eine Gattung, die „Literatur in Aktion" werden kann auf Grund ihrer Fähigkeit, „in einer höchst natürlichen Weise" „die Welt in Wassertropfen", „Historie in Menschenschicksalen", die „epochalen Vorgänge . . . im Alltäglichen", „die Konstituierung einer allseitigen Persönlichkeitsentfaltung . . . auch in scheinbar nebensächlichen oder verhaltenen Situationen" zu er-
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fassen, in unmittelbarer Form „revolutionäre Haltungen, Umbrüche, Auseinandersetzungen ohne übermäßige Vor- und Nebenarbeiten zu modifizieren", und nicht zuletzt auf Grund ihrer Eignung „für vielfältige Publikationen und Leser-Foren". Vorausgesetzt natürlich, sie findet, was nicht immer der Fall war, ihre Leser. Die gewachsene und wachsende Ensembleleistung der Gesamtliteratur wie ebenso „die Kenntnis, das Einverständnis, das Selbstbewußtsein, die politische Bildung des Lesenden" - so die These von Manfred Jendryschik - stellt die Kurzgeschichte in einen neuen funktionalen Zusammenhang. In den fünfziger Jahren waren „die Chancen der sogenannten breiten, der erklärenden und ausgeschriebenen Epik, ein entsprechendes Publikum zu erreichen . . . entschieden größer als etwa die der Kurzgeschichte, die durch die genaue Zeichnung von Alltagsdetails lebt". 537 In diesen Bestimmungen, die für das Selbstverständnis und für Funktionsmöglichkeiten der Kurzgeschichtenliteratur durchaus als repräsentativ angesehen werden können, 538 scheint freilich eine Tendenz nicht erfaßt, die in zunehmendem Maße die Gattung bestimmt: die Neigung, die kleine Geschichte in Richtungen auszubauen, die von einer „Literatur in Aktion" weit entfernt sind, ja ihr gerade entgegenlaufen. Erwin Strittmatter hat in Die blaue Nachtigall oder Der Anfang von etwas (1972) die dabei zugrunde gelegte Idee genau benannt: Er charakterisierte den unwiederholbaren Zustand „von Schwerelosigkeit in der Kindheit und in der Jugend", genauer: die „Augenblicke", in „denen man außerhalb von Aktion und Reaktion stand", die „eine ganze .Zeitumgebung' mit ihrer Innigkeit" durchstrahlten, als den „Zustand von Poesie"; und er bestimmte den Sinn seines Geschichtenversuchs darin, durch Entwurf von Gestalten solcher Zustände Poesie in ein Leben einzubauen, das solche Schönheit in Wirklichkeit verloren hat. Was bei Strittmatter experimentelle Form ist, ein „Forschungsbericht", 539 das mag bei anderen in unserer neueren Literatur nun leicht als Bewegung zu einer Idylle vorkommen, die an das Schicksal der Philosophie in eisernen Zeiten erinnert, wie der junge Marx es beschrieb. Das Glück im Unglück scheint hier die subjektive Form, sich zur Wirklichkeit zu verhalten: so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten." 540 Hervorzuheben ist auf der anderen Seite aber auch die kritische Potenz, die die Form vor dem Hintergrund jenes (auch durch die Literatur erzeugten) Moments im gesellschaftlichen Bewußtsein er287
langt, welches den Alltag emphatisiert: In der kleinen Geschichte wird eine innere Tendenz sichtbar, ausgehend von Diskrepanzen zwischen partiellem Fall und historischem Gang, zwischen Banalität und geschichtlicher Größe, das Leben in normalen Maßen, im Ton der Umgangssprache vorzustellen, den Alltag - wie mit einem schönen Ausdruck Brechts gesagt werden soll - ohne Gerecktheit zu zeigen, ästhetische Bedeutung an den Gesten des Alltäglichen, an den „Seitenaspekten"541 der Geschichte zu konstituieren. Geschichten, in denen „nichts los ist"542, begegnen uns häufig auf dem Felde der Gattung, Geschichten - so charakterisierte Werner Bräunig seine eigenen, mitunter zu größerer Komplexität strebenden Anlagen - in denen „nichts Außergerwöhnliches geschieht", keine „Abenteuer" vorkommen, keine „Malefizkerle" und „kolossalen Konflikte", in denen von „alltäglichen, unauffälligen, gewöhnlichen Leuten"543 die Rede ist. Der kritische Kontext, in dem der Angriffspunkt der verstärkt auftretenden kleinen Prosa zu suchen ist, wird hier deutlich bezeichnet. Es ist kein Zufall, daß - wieder in Verallgemeinerung von wesentlichen Prozessen unserer Literatur - Werner Bräunig seine Überlegung auf die Prosa überhaupt bezieht: „Es ist ihr nicht mehr so sehr um die Ausnahmefigur zu tun, um den überragenden einzelnen; sie weiß, daß diese überragende Gesellschaft unbedingt hin muß auf einzelne, die einander wenigstens annähernd ebenbürtig sind: jeder auf andere Weise bedeutend. Den macht sie zu ihrem Helden, den sucht sie als ihren Leser, sie bringt ihn selbst mit hervor."544 Möglichkeiten der genauen Ausprägung und des funktionalen Zusammenhangs der beiden hier vorgestellten Tendenzen - zur Bildung ästhetischer Gestalten am Material der Wirklichkeit, zur Kurzgeschichte und zum Kurzgeschichtlichen - können an Demonstrationsfällen deutlicher hervortreten. Ausgewählt wurde Eduard Claudius' Wintermärchen auf Rügen und Hermann Kants Die Aula.
Beispiel komplexer Form: Reflektierter Beriebt und Er^äblungsfragmente Eduard Claudius bietet ein Beispiel für den Prozeß, in dem aus den elementarisierten Formierungsarten neue Formen gebildet werden. Der Autor gebraucht für den Formtyp seiner Prosa-Arbeit Wintermärchen auf Rügen mitunter den Ausdruck „Erzählung" 545 ; unter den Erzählungen erschien sie auch in den Gesammelten Werken 288
langt, welches den Alltag emphatisiert: In der kleinen Geschichte wird eine innere Tendenz sichtbar, ausgehend von Diskrepanzen zwischen partiellem Fall und historischem Gang, zwischen Banalität und geschichtlicher Größe, das Leben in normalen Maßen, im Ton der Umgangssprache vorzustellen, den Alltag - wie mit einem schönen Ausdruck Brechts gesagt werden soll - ohne Gerecktheit zu zeigen, ästhetische Bedeutung an den Gesten des Alltäglichen, an den „Seitenaspekten"541 der Geschichte zu konstituieren. Geschichten, in denen „nichts los ist"542, begegnen uns häufig auf dem Felde der Gattung, Geschichten - so charakterisierte Werner Bräunig seine eigenen, mitunter zu größerer Komplexität strebenden Anlagen - in denen „nichts Außergerwöhnliches geschieht", keine „Abenteuer" vorkommen, keine „Malefizkerle" und „kolossalen Konflikte", in denen von „alltäglichen, unauffälligen, gewöhnlichen Leuten"543 die Rede ist. Der kritische Kontext, in dem der Angriffspunkt der verstärkt auftretenden kleinen Prosa zu suchen ist, wird hier deutlich bezeichnet. Es ist kein Zufall, daß - wieder in Verallgemeinerung von wesentlichen Prozessen unserer Literatur - Werner Bräunig seine Überlegung auf die Prosa überhaupt bezieht: „Es ist ihr nicht mehr so sehr um die Ausnahmefigur zu tun, um den überragenden einzelnen; sie weiß, daß diese überragende Gesellschaft unbedingt hin muß auf einzelne, die einander wenigstens annähernd ebenbürtig sind: jeder auf andere Weise bedeutend. Den macht sie zu ihrem Helden, den sucht sie als ihren Leser, sie bringt ihn selbst mit hervor."544 Möglichkeiten der genauen Ausprägung und des funktionalen Zusammenhangs der beiden hier vorgestellten Tendenzen - zur Bildung ästhetischer Gestalten am Material der Wirklichkeit, zur Kurzgeschichte und zum Kurzgeschichtlichen - können an Demonstrationsfällen deutlicher hervortreten. Ausgewählt wurde Eduard Claudius' Wintermärchen auf Rügen und Hermann Kants Die Aula.
Beispiel komplexer Form: Reflektierter Beriebt und Er^äblungsfragmente Eduard Claudius bietet ein Beispiel für den Prozeß, in dem aus den elementarisierten Formierungsarten neue Formen gebildet werden. Der Autor gebraucht für den Formtyp seiner Prosa-Arbeit Wintermärchen auf Rügen mitunter den Ausdruck „Erzählung" 545 ; unter den Erzählungen erschien sie auch in den Gesammelten Werken 288
(1975). Tatsächlich aber handelt es sich um mehr und anderes als um eine Erzählung im strikten Sinn. Ein zweites Mal - erinnert sei an den stofflich-thematischen Vorstoß des Romans Menschen an unserer Seite - erwies sich Eduard Claudius hier als ein Neuerer in unserer Literatur. Die Innovation der im schlechten und besten Sinn unfertigen jüngeren Arbeit betraf - im zeitgenössischen Kontext fast unbemerkt - vor allem den Bereich der Form: Sie wurde unter das Gesetz der Authentizität gestellt. Eine Analyse der Exposition vom Wintermäreben kann den Neuansatz verdeutlichen. Die ersten Sätze scheinen zunächst die einer „üblichen" Erzählung zu sein. Die Darstellung beginnt damit, daß hier einer an einen gerade vergangenen schlimmen Winter erinnert, in gerafften Bildern, denen Unruhe anzumerken ist, und doch in lässiger Rede. Ein Erzähler spricht, er setzt sich mit seinen Zuhörern ins Benehmen, ruft ihre Erfahrungen auf, teilt seine besondere Lage mit. Wir meinen nach diesem Beginn zu wissen, daß wir einer dichterisch erzählten Welt begegnen, gebildet aus dem Material der Wirklichkeit und doch als Kunstraum von ihr abgehoben - und nicht einem Bericht von einer Wirklichkeit, die in der dargestellten Bestimmtheit wirklich existieren soll. Der Text zerstört aber nun diesen Eindruck. Wir lesen nach der einleitenden Passage einige merkwürdige Sätze, in denen der Erzähler explizit angibt, was das vorliegende Prosastück von „üblicher" Literatur unterscheiden soll. Es heißt da: „Zugegeben, es ist nicht üblich, daß sich der Schriftsteller in die Handlung mischt, unmaskiert sozusagen, oder sich gar selbst und sein Leben unverhüllt mit dem Schicksal seiner handelnden Personen verknüpft. Es gibt auf andere Art gefällige - ich möchte nicht sagen, billige - Möglichkeiten, sich zu tarnen. Wohl weiß jeder Leser dann, der handelnde Maler oder die Malerin, die man beschreibt, ist der oder die Schreibende selbst. Auf eine unverfängliche Weise, besser als hinter einer guten Maske, hat er oder sie sich so der Scham entzogen, und jedermann gefällt die Plauderei über Farbe und Komposition, über Realismus und Dekadenz . . . Eine solche Maskenmöglichkeit möchte ich nicht in Anspruch nehmen."546 Damit nicht genug: Angeschlossen werden Gedanken über die literarische Situation Mitte der sechziger Jahre. Und dann erst - mit den Worten: „Nun jedoch war Frühling geworden" (302) - werden wir in die Darstellung zurückgeholt. Doch hat sich im Vergleich zu ihrem Anfang ihr wirklicher Charakter herausgestellt.
19 Schlenstedt
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Problematisierung
der
Fiktionalität
Erstens ist ein Erzählschema, wie es „üblich" ist, aufgerufen worden: jenes, das eine Darstellung über ein personales Erzählen entwirft, das im Text keinen Repräsentanten des Autors hat. Und diese Erzählart - die tatsächlich übliche in der Literatur der zur Rede stehenden Zeit - ist als fischig verworfen worden. Das Dementi, sie sei nicht „billig", macht das Urteil nur schärfer: Sie wird mit groben Mitteln geradezu als Tarnung, Verhüllung, Maske, als Unaufrichtigkeit, d. h. moralisch disqualifiziert. Dagegen wird die Notwendigkeit gesetzt, daß sich der Autor als beobachtendes, nachdenkendes, schreibendes Ich, als Erzähler, als Berichterstatter deutlich zu erkennen geben soll. Zweitens gibt Claudius diesem Ich unverkennbar Teile der eigenen Biographie (später werden einige der im Wintermäreben erinnerten Szenen in der Autobiographie Ruhelose Jabre, 1968, wieder vorkommen) ; er gibt ihm Ansichten, die er selbst auch andernorts vertritt; und er versetzt ihn in eine Situation, die der seinen gleicht. Dies alles macht die Aussage, daß hier über den Erzähler, den Berichterstatter der Schriftsteller redet, verbindlich und schaltet den Zweifel aus, ob nicht doch nur eine mit dem Anspruch auf Wirklichkeit spielende Fiktion vorliegt: Wir haben die vorgetragenen Meinungen auf der Ebene des Erzählerkommentars direkt auf den Autor zu beziehen - nicht auf eine von ihm abgehobene, „erfundene" Erzählerfigur. Drittens werden wir dadurch darauf gestoßen, daß es sich hier um eine Darstellung handelt, deren Wirklichkeitsbeziehungen wie bei der Reportage organisiert sind. Nicht eine geschlossene „zweite Wirklichkeit" wird uns vorgelegt, mit der ersten dadurch verbunden, daß das Dargestellte auf dem Feld ihrer Möglichkeiten liegt; nicht eine „Veranstaltung" wird uns bereitet, damit wir erleuchtet oder erhoben, erfreut oder erschüttert werden und uns dabei mehr oder weniger folgenreich unterhalten. Unser Blick wird darauf gelenkt, daß der Darstellung eine konkrete Wirklichkeit zugrunde lag. Dieses Bewußtsein wird uns künftig begleiten: Unsere Aufmerksamkeit ruht nicht auf der Darstellung, sie ist auf die konkrete Wirklichkeit „durchgeschaltet". Wir wissen, daß wir keinem Modellspiel beiwohnen. Beim Lesen geht das Gefühl mit, daß alles, was wir lesen, mindestens aber das, was den Autor betrifft, wirklich geschehen ist. Dabei ist das, was wir „objektive Authentizität" nennen, im Win290
t ermär eben durchaus problematisch. Im Text wird versichert, daß hier die Absicht bestand, „zu berichten" (514). Darüber hinaus enthält der Text eine Reihe von Signalen, die einen Bericht ankündigen - Daten, Ortsangaben: Wir hören z. B., daß für den Berichtenden ein Leserbrief in einer Jugendzeitung Anlaß seiner recherchierenden Reise war (leicht wird das Forum erkennbar); daß diese nach Rügen ging, in ein „Festspieldorf", welches wir ohne Mühe als Ralswiek ausmachen können; daß diese Fahrt im Frühling des Jahres stattfand, in dem eine Serie von Graphiken erschien - in den Beschreibungen wird Jürgen Wittdorfs Jugendzyklus von 1962 faßbar und damit das Jahr 1963 als Datum der Vorgänge. Dennoch werden weder Ort noch Zeit, weder die Zeitung noch der Graphiker beim Namen genannt - Verfahren, wie sie charakteristisch zur Reportage gehören, mit denen in reportagehaften Berichten der Anspruch der Darstellung markiert wird, auf eine konkrete Realität beziehbar zu sein. Diese Auslassung wird sogar kenntlich gemacht. Es heißt ironisch: „Ja, und nun habe ich den Namen des Dorfes vergessen, einfach vergessen! Das ist auch wohl besser, denn es enthebt mich der Notwendigkeit, einerseits ihn zu nennen, andererseits einen anderen zu erfinden . . . So also kann man auch annehmen, das Dorf, in dem diese Geschichte spielte, gäbe es gar nicht" (305). Dies ist kein Resultat von Diskretion: Für einen eventuell betroffenen Kreis von Menschen sind die Angaben wieder zu genau. Vielmehr verweisen die zitierten Sätze spielerisch auf die Allgemeinheit des Berichteten, für die die Existenz eines ihm genau entsprechenden konkreten Vorgangs nicht entscheidend ist. Viele mögliche Orte unserer Republik sind aufgerufen: „Wer etwa das Dorf suchen will, suche eines, an dessen Anfang, direkt am Weg, ein Sägewerk liegt." (306) Mit der Verallgemeinerung des Gegebenen liegt hier zugleich ein Aufbau von Gestalten in der Art der Fiktionalität vor - ohne daß tatsächlich die objektive Authentizität verlassen würde. Ähnlich wie später Christa Wolf den Namen ihrer Studienkollegin Christa Tannert zu Christa T. abkürzte und damit die Figur von der wirklichen Person abrückte, verfuhr schon Claudius: Aus der wirklichen Leserbrief schreiberin Carola Vollmann, damals wohnhaft in Jarnitz, einem Ortsteil von Ralswiek, wurde die Ursel aus „dem Dorf" der Geschichte. Und ähnlich wie später Christa Wolf - gestützt auf Fixpunkte der erlebten oder recherchierten Wirklichkeit - ihre Christa T. erfand, operierte schon Claudius mit so erfundenen Figuren: Der im Text „zitierte" Leserbrief z. B. - an dem das Verfahren kontrolliert werden 19*
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kann auch von denen, die Ort und Menschen der Originale der Darstellung nicht kennen - ist nicht der Leserbrief, der im Forum stand.547 Der erzählte Leserbrief ist vielmehr, unter Beibehaltung einiger Formulierungen und vor allem der Hauptgedanken, erfunden - er weicht von der Wirklichkeit in den Details ab, fügt andere, auf der Linie des Originals liegende hinzu, hebt das Charakteristische und das für typisch Gehaltene hervor. Es ist zu vermuten, daß dieses Verfahren auch in den anderen - von uns, den Lesern nicht kontrollierbaren - Teilen der Darstellung herrscht. Sosehr wir durch die ja immer noch genauen Lokal- und Zeitangaben und durch die wiederholten Hinweise, daß hier Berichtetes vorliegt, immer wieder auf konkrete Realität verwiesen werden und das Prosastück gerade aus dieser Veranlassung der rezeptiven Aktivität seine Wirkung bezieht - auf die Herstellung einer „reinen" objektiven Authentizität kam es Claudius offenbar nicht an. Wohl aber darauf, daß „die Geschichte, die dort mit „ i h m geschah" (305), Wirklichkeit hatte. Die Aufhebung der Fiktionalität erfolgt an jenem Ort der erzählerischberichtenden Struktur, wo es um die eingezeichnete Subjektivität des Rechercheurs und Berichterstatters geht. Für sie soll ein nichtfiktionales Wirklichkeitsverhältnis gelten, sie soll auf konkrete Realität auf die Realität des Schriftstellers - beziehbar sein. Es geht um das, was wir mit Christa Wolf die „subjektive Authentizität" nennen wollen. Der Wirklichkeitscharakter dieser subjektiven Authentizität ist prinzipiell unüberprüfbar - handelt es sich doch um das Innere, das Erleben und Erfahren, das Fragen und Meinen des Autors, das nur ihm zugänglich ist. Seine Bürgschaft muß genügen - und sie genügt uns auch. Sie lenkt die Rezeption sofort ins Ernsthafte des Umgangs mit Wirklichkeit. Daß wir dieses Verhältnis im Verlauf des Lesens nicht vergessen - dafür sorgt eine Reihe von Verfahren mit fiktionsaufhebender bzw. -einschränkender Wirkung: die strikte Bindung des Dargestellten an den Erfahrungshorizont eines Rechercheurs, dessen Recherche ebenfalls eingezeichnet wird; die stets wiederholten Formeln wie „zugegeben", „ich gestehe", „ich erinnere mich", die die Realität des schreibenden Ich in Erinnerung halten; die wiederholten Hinweise darauf, wie wenig doch der Rechercheur und Berichterstatter vom konkreten Geschehen erkennt, wie wenig er es für sich durchschaut hat und wie wenig er es für uns durchleuchten kann: Der Berichtsgegenstand wird so zugleich in seiner von der literarischen Arbeit kaum angetasteten Selbständigkeit und dichten Un292
durchsichtigkeit spürbar. Dies alles lenkt die Aufmerksamkeit nun auf die Darstellung des Rechercheurs und Berichterstatters. Die inneren Schicksale des Erzählers, seine Reaktionen und Empfindungen werden interessant gemacht. Und von ihnen wird nicht berichtet, sie werden vielmehr erzählt: Die Subjektivität des Erlebenden und Berichtenden wird nicht als Gegenstand eines Berichts und dementsprechend nicht in der sach-bezogenen Sprachform des Berichtens behandelt, sondern erscheint als selbständige, geistig arbeitende und praktisch sich betätigende Gestalt einer Subjektivität; sie erscheint in einer Sprache, die Erlebnisse und Vorkommnisse meist als gerade geschehend, als gegenwärtig geltend entwirft. Es entsteht so eine literarische Darstellung. Unter den gesetzten Bedingungen der Authentizität ist dies nur möglich, wenn der Autor sich selbst zur Gestalt macht. Fragen wir nun nach dem funktionalen Zusammenhang der Wirklichkeitsbindung dieses besonderen Typs von Berichten-Erzählen und von hier aus auch nach dem Charakter der - bisher außer acht gelassenen - Fragmente fiktionaler Erzählung, die in den Bericht eingesprengt sind. Vorgangsfigur
„Herausfall
aus der Welt der
Gewöhnungen"
Eduard Claudius* Wintermärchen auf Rügen ist deutlich von Motiven der Vorgangsfigur „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" gekennzeichnet. Genauer: Wir haben hier jenes Werk vor uns, das das entscheidende Motiv der sich erst später bildenden Prozeßgestalt in unsere Literatur einführte - den Doppelschritt von plötzlichem Verlust erworbener Ordnung, Verwirrung und von neuer Einsicht in die Bedingungen gesellschaftlicher Realität. Dieses Motiv wird bei Claudius folgendermaßen entwickelt: Die zentrale Figur, der Autor-Erzähler, ist vor kurzem aus den Tropen (in Kenntnis des biographischen Kontextes läßt sich ergänzen: aus dem diplomatischen Dienst) in die Heimat zurückgekehrt, doch vermag er nicht heimisch zu werden. Vor allem das literarische Klima der Zeit gibt ihm das Gefühl, „nicht mehr dazuzugehören" und nicht gebraucht zu werden. Als reifer Mann sieht er sich in der Situation seiner Jugend, als er „eben die Lehre beendet hatte und ein guter Handwerker geworden war", und man ihn doch „auf die Straße" warf (301). Das schafft die Prädisposition für das ihn beherrschende 293
Gefühl des „Erschauerns, des Schreckens", für seine Stimmung, „aus aller menschlichen Behaglichkeit" ausgeschlossen zu sein (359), und für einen neuen Blick auf die umgebende Welt, für die Empfindung, ihm habe sich „eine Wirklichkeit eröffnet, eine kaum geahnte und nicht eingestandene" (321). Was der Erzähler-Autor von hier aus beobachtet, sind - um nur die Hauptpunkte anzugeben - zwei Probleme der Jugend, Übergangsprobleme, doch (wie er meint) für die nächste Zeit bleibende: Erstens das „Verhältnis zwischen der studentischen und der Landjugend", das einigen Personen des Wintermärchens „fast wie Klassenkampf" (434) erscheint. Es stellt sich im konkreten Fall dar in kaum verhohlenen Fehden, im Zorn gegen die Hochnäsigkeit und die Privilegien auf der einen Seite, in Überheblichkeit und großem Unverständnis für den Wert praktischer Arbeit auf der anderen Seite, in tiefgreifenden Wirkungen auf die Liebesmöglichkeit zwischen den Menschen unter den Bedingungen solcher Arbeitsteilung. Und zweitens das Verhältnis zwischen jenem „Teil von Jugendlichen, den wir allgemein als .schwererziehbar* bezeichnen" (und dem die spontane plebejische Sympathie des Autor-Erzählers gehört), und einer „kleinbürgerliche [n] Selbstzufriedenheit und moralischen Überheblichkeit" ihm gegenüber, die in ihrer pädagogischen Hilflosigkeit wenig nach Herkommen und Grund der Erscheinungen fragt und ebensowenig ernsthaft nach weiteren Wegen. Allzuwenig werde - so Claudius in einem Interview zu seinem Buch - die Sehnsucht einer jeden neuen Generation eingerechnet, „sich alles selbst zu erobern", die Möglichkeit, daß dabei auch Irrwege beschritten werden und daß gerade aus undisziplinierten Jugendlichen schöpferische Charaktere wachsen können.548 Der Autor-Erzähler sucht sich in dieser Wirklichkeit zurechtzufinden - aber das gelingt nicht. So beschreibt er konzentriert die „bittere Wirrnis", die ihn befällt: „Es war ein Gemisch von vielen Wenn und Aber, ein Gemengsei von Ironie und Bitterkeit . . . Und zugleich war eine gewisse Gleichgültigkeit in mir, ein Gefühl der Erregung und der Resignation, des Aufgebens, der Hoffnungslosigkeit." (484) Dabei bleibt es nicht. Der Erzähler-Autor endet seinen Bericht, seine „etwas unglückliche Geschichte" (513), wie er ausdrücklich sagt, mit der Sicherheit einer - freilich offenen - Perspektive, die er aus dem Gären des jungen Blutes und aus der Unruhe der Alten gewinnt. Er schließt mit einem Satz, der sich in die zeitgenössische literaturkritische Diskussion des Todes stellt und der zugleich fast wie eine Vorwegnahme des Schlusses der von ähnlicher 294
Unruhe getragenen Unvollendeten Geschichte Volker Brauns anmutet: „Solange nicht der Tod über uns kommt, fangen immer wieder Geschichten an" (513). Selbstkritik vereint sich mit Zuversicht, daß es möglich und notwendig sein wird, von den Helden der Geschichte später „Neues, vielleicht Größeres" (514) zu berichten. Für die wirkungsstrategische Anlage des Wintermärcbens ist dieses Ausstellen verwirrt-hilfloser Subjektivität, das Vorzeigen unaufgelöster Widersprüche und unbeantworteter Fragen entscheidend: Claudius kann außer seiner allgemeinen Zuversicht keine Lösungen anbieten und keine Antworten geben; er will vielmehr Probleme sichtbar machen, von denen er annimmt, daß sie zu wenig beachtet werden. Und er will seinen Schmerz bekennen, weil er annimmt, daß allzu viele so tun, als seien „alle menschlichen Gefühle . . . ausgestorben bis auf den Optimismus, bis auf die ,Weißezähnefreude'" (358). Claudius' Adressaten waren nicht die, die im Buch als die zu Erziehenden figurieren, denen aber der Erzieher fehlt - es waren gerade diese Erzieher. Für ihren Gebrauch macht er die kaum geahnte und nicht eingestandene Wirklichkeit öffentlich: „Ich möchte mit meiner Erzählung dazu beitragen, daß darüber (über die genannten Probleme - D. S.) gesprochen wird, damit sich in dieser Beziehung einiges ändert." 549 Und er zeigte sich später befriedigt darüber, daß sein „kompliziertes, widerspruchsvolles, von einigen Kritikern nicht sehr wohlwollend aufgenommenes Buch" eine solche Wirkung bei manchen Lesern fand: „. . . es waren die Leser, auf die es mir ankam, die Pädagogen." 550 Mit der später ausgebauten Prozeßgestalt „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" ist Claudius' Buch durch die Figur einer geschärften Sensitivität verbunden, die einen verfremdeten Blick auf die Normalität des Ich und seiner Umgebungen vermitteln soll. Das „Ding unterm Hut", das in Erich Köhlers Der Krotfi5i herumgeistert - es „alarmiert nach innen und verschärft das Zustandsbewußtsein gegenüber außen". In die Aufmerksamkeit vermögen hier nun die Üblichkeiten z. B. einer „im Leerlauf rotierenden" Kulturarbeit zu treten, Arbeitsbedingungen, die „mit ein bißchen Vernunft" auch zu ändern wären, eine formalisierte Sprache, die Wirklichkeit unerkennbar, die mit Hilfe „grammatische [r] Algebra" die Subjekte und Objekte der Aktionen verschwinden macht. Vergleichbar damit ist in Günter de Bruyns Buridans Esel552 der Versuch, den Herausfall aus einer Persönlichkeitsrolle als Vehikel einzusetzen. Als merkwürdig soll die „Gleichförmigkeit" eines erfolgreichen Lebens er295
scheinen, das sich in einer „nachrevolutionären" Wirklichkeit an „Stellung", „Haus" und „Auto" bindet, dem „Anpassung und Unterordnung", „gegenseitiger Vorteil, Gewöhnung, Angst vor Veränderungen" der Grund seiner Daseinsordnungen geworden sind, in dem für „neuen Anfang" keine Kräfte existieren. Der polemische Charakter von Stoff- und Themenwahl war hier wie schon im ersten Ansatz der Vorgangsfigur bei Claudius - mit der Tendenz verbunden, Form und Intention des neuen Lebenszugriffs durch eine in die Darstellung eingebrachte oder über den Erzähler vermittelte Diskussion künstlerischer Aufgaben zu verdeutlichen. Dieses Bestreben zeigt sich bei Erich Köhler in der ironisch ausgestellten Negation des Werts von „Preislieder [n]" und der nicht weniger ironisch behandelten Verteidigung der Methode des „Beschreiben [s]" als wesentlicher Stufe geistiger Aneignung der Dinge, als Ausdruck von „Jugendkräfte [n] ",553 Es äußert sich in Günter de Bruyns Roman als Kritik an den „Planer- und Leiterliteraturgestalten", in der Problematisierung der Idee, daß die Darstellung von Moralität zur Moralität erzieht, in der ironisch-polemischen Behauptung, daß das vorliegende Werk kein „Roman", sondern ein „Bericht*' für „Wahrheitsfanatiker", „Tatsachenhungrige" sein soll. 554 Charakteristisch jedoch sind auch die Unterschiede, wie sie zwischen der Anlage des Motivs einer vergrößerten Sensitivität in dem frühen Ansatz und der Entfaltung des Motivs in einer Reihe von Werken bestehen, die später die Vorgangsfigur „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" aufbauen. Der geschärfte Blick fällt bei Claudius (und auch z. B. bei Erich Köhler) auf die Widersprüche in der Umwelt, auf konkrete Probleme einer als veränderungsbedürftig und veränderbar angenommenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Zorn - wichtige Komponente der emotionalen Beziehung zur kritisch betrachteten Wirklichkeit - hat hier eine deutliche Richtung, die Appelle der Darstellung sind so konkret. Auflösung solcher Konkretheit und zugleich des Zorns als tragender Emotionalität ist dagegen mehr und mehr in späteren Entwicklungen zu beobachten. Wie sich schon etwa bei Günter de Bruyn ankündigte oder dann z. B. in Klaus Schlesingers Buch Alte Filme (1975) deutlich zeigt, ist eine Tendenz wirksam, die Aufmerksamkeit auf das Individuum zu lenken, dabei auf Möglichkeit und Unmöglichkeit von Verwirklichung und Eigenbestimmung eines abstrakten (meist an Jugendvorstellungen konstituierten) Selbst in einer ereignislos verstreichenden Zeit, in einer gefügten individuellen und kollektiven Welt. In dem Maße, 296
wie diese Zeit und diese Welt, wie die allgemeinen „Zwänge"555 des eingerichteten Lebens für die Helden so definierter Krise im Grunde als unveränderbar gültig scheinen, ihnen nur kurzatmige und privat bleibende Ausbrüche aus den Gewöhnungen eingeräumt werden, in dem Maße, wie festgeschrieben wird, daß Neuanfang und neue Lebensregelung im Grunde Illusionen sind, verändert sich auch das emotionale Klima der Darstellung: Es wird in der Spannung zwischen Wirklichkeit und unerreichbarem, ja gar nicht erst verfolgtem Ideal elegisch. Angriffspunkte der subjektiven
Authentizität
Wie bereits angedeutet, empfanden es die Autoren bei der Einführung und beim Ausbau des Motivs vom verfremdeten Blick auf eine kaum gekannte und nicht eingestandene Wirklichkeit als notwendig, das hier geltende literarische Anliegen in den Werken explizit mitzugeben. Die Programmatik (wie sie charakteristisch in den Stichworten vom „Bericht" und vom „Beschreiben" zum Ausdruck gebracht wird) verband sich dabei auffällig mit einer - meist satirisch zuspitzenden - Polemik, die gegen herrschende Literaturvorstellungen gerichtet war. Claudius macht diesen Zusammenhang zu einem bestimmenden Thema. Mit stetem Bezug auf die literarische Situation der Zeit wird im Wintermäreben auf Rügen über die zu schreibende bzw. geschriebene Geschichte nachgedacht, wird ihre Besonderheit in der literarischen Landschaft betont. Die Literatur der Zeit selbst und die Programmatik für die Literatur ist wesentlicher Anlaß des Versuchs von Claudius: Er will nicht nur „rote Grütze mit Vanillesoße" (369) liefern. Skizzieren wir die Hauptpunkte der vorgetragenen Überlegungen zur Literatur, deren strukturbildender Hauptansatz - die Forderung nach nicht maskierender Einzeichnung des Schriftstellers selbst schon charakterisiert wurde. Erstens billigt der Autor ausdrücklich - und verächtlich gegen die Kritiker des Bitterfelder Weges gewandt - die literaturpolitischen Forderungen nach Lebensnähe und neuer Wirklichkeitssicht. Er hält sie aber für so selbstverständlich und auch für schon so bewährt, daß er „dieses ewige Fordern" (302) nicht versteht. Eher möchte er präzisieren: Vermeiden will er nun die Methode, die bei Mens eben an unserer Seite angewandt wurde, wo „Stoff, Wesen und Fabel . . . 297
schon klar waren" (314), ehe der Autor an Ort und Stelle auf Dettilrecherche ging, und eine Methode, in der die Wirklichkeit nur Anlaß ist, etwas „aufs Papier zu bringen", Schmerz und Leid wirklicher Menschen nur „Rohmaterial" sind (472). Zweitens verdeutlicht Claudius an den Zeichnungen von Wittdorf seine Idee von Kunstfunktion: Eine unmittelbar verändernde Wirkung rechnet er der Literatur nicht zu, wohl aber einen Einfluß auf die Auffassungen. Sie sind ihm nicht durch Entsprechungen zu „einem Leitartikel" erzielbar, sondern durch ein Aufdecken von etwas, „was man bisher einfach nicht hatte wahrhaben wollen und mit dem man sich nicht so leicht abzufinden vermochte" (320). Er will ein wenig von dem aussprechen, „was wirklich die Öffentlichkeit weiß" (333). Die Rede vom Schriftsteller als einem „Ingenieur der Seele" (505) wird dagegen ausdrücklich verworfen. Drittens hat sich unter diesen Prämissen der Autor mit der Frage zu quälen, ob, was er erlebt, seine konkrete Erfahrung, „überhaupt literaturfähig" (483) ist, „ein .großer Gegenstand' sozusagen" (332), ob es nicht „irgendwie unbedeutend, läppisch" (334) sei, von allzusehr lokaler und temporaler Bedeutung, ob die eingeschränkte Unmittelbarkeit seines Erlebens zum Schreiben ausreiche. Claudius spürt, daß das, was da in seiner konkreten Erfahrung erscheint, quer zu den Kunstauffassungen liegt, daß es „weder zur Kenntnis der Kritiker vom Leben, noch zu ihren Vorstellungen vom Menschenbild" paßt, „das zu schaffen sei" (338). Die Polemik gilt dem Verlangen nach unbedenklichem „Optimismus", sie gilt literarischen Gestalten, die „Watte in der Brust, statt Gedärm ein Geschling aus Kunststoff im Leib und im Kopf aufgeschichtete Zeitungsartikel" haben; sie gilt der Abneigung, „Trauer" zu zeigen und „Ausweglosigkeit", „Verwirrung und Hoffnungslosigkeit", auch „wenn sie nur vom Morgen bis zum Abend dauern", und „Gedanken schlafloser Nächte" (358). Der Autor weiß, was gesagt werden wird, wenn er schreibt, was er gesehen und empfunden hat: „Welche Seite unserer Wirklichkeit siehst du? Und ist das typisch? Und ist das der wahre Held unserer Zeit? Und die graue Atmosphäre, die du da schilderst, ist die denn bezeichnend? Muß es unbedingt ein Regentag sein, an dem du ins Dorf kommst und durch den Schlamm watest? Ein wenig mehr Sonne . . . Sonnentage sind schöner als solche voller Windböen und Dreck." (434) Diskutiert werden die Chancen der Unmittelbarkeit - und deutlich wird sie gegen die Rede gesetzt, daß „der Naturalismus die linke Abweichung" sei, gegen das Aussparen der Widersprüche aus der Literatur, gegen eine Reduktion, die vor allem 298
das Bild derer (ordert, „die führend das Heutige gestalten", und das „Menschenbildnis der Zukunft" (483). Man sieht: Der Autor fragt nach den Kriterien realistischen Schreibens. Mehr noch als für Probleme der Jugend steht der von ihm beobachtete Fall für Probleme der Schwierigkeiten des Schreibens. Und er fragt nicht vor, neben oder nach dem Schaffensprozeß: Er macht dieses Fragen zum Bestandteil des Schreibens, so daß auch wir, die Leser, in dieses Fragen einbezogen werden und in einen Prozeß bewußter Urteilsbildung versetzt werden. Indem die Geschichte Urteil skriterien der Literaturkritik aufruft - der Autor kannte den Kanon auch, nach dem kritisiert wird, und er vermochte die Kritik in der Darstellung zu zitieren, ehe sie wirklich wurde - , zieht sie uns ins Gespräch. Der Erzähler-Autor fordert uns auf, mit ihm zu überlegen, ob denn ein Kanon (der ungeschriebene Kanon, der sich auch gegen eine dialektischere Theorie immer wieder durchsetzt und das öffentliche Literaturdenken leicht bestimmt) richtig sein kann, der aus dem Typischen die Widersprüche eliminiert, indem es nur als Erscheinung positiver Wertbesetzung gedacht wird. Er problematisiert ein Denksystem, das mit Bezug auf die Formel von der Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung die Gestalt von Verwirrung und Bitterkeit problematisch erscheinen läßt, das die Aufgabe der Literatur auf die Gestaltung des sozialistischen Menschenbildes festlegt und dabei wesentliche Wirklichkeitsbereiche auszuklammern heißt. Die auf Authentizität ihrer Wirklichkeitsbeziehung Anspruch erhebende Erzählart ist die polemische Antwort auf ein Literaturkonzept, das auf Idealisierung zielt. Die Gefahr des „Naturalismus" wird in Kauf genommen gegenüber der größeren Gefahr, die in diesem Literaturkonzept gesehen wird. Claudius weiß, daß Realismus der naturalistischen Erneuerungsschübe bedarf, soll er nicht im Klischee erstarren. In Claudius' Geschichte waltet kein allwissender Erzähler. Der Erzähler-Autor betont vielmehr, daß seine Kenntnis unvollständig ist. Er hebt das naturalistische Moment seines Berichts hervor: Er läßt in den an ihn gebundenen Partien nur das erscheinen, was er wirklich gesehen, gehört, empfunden hat - das ist viel, doch nicht genug. Die einem Besucher zugänglichen Oberflächen eines konkreten Lebens - selbst eines dörflichen, dem üblicherweise Geschlossenheit und Übersichtlichkeit und daher leichte Gestaltbarkeit nachgesagt wird - geben ihr soziales Wesen nicht heraus und auch nicht die in ihm verlaufenden psychischen Prozesse, die Ereignishintergründe im
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Feld der gesellschaftlichen Beziehungen und der persönlichen Motivation und Erlebniswelt der begegnenden Menschen. Gerade das quälende Gefühl dieses Nichtwissens wird in den Aufbau der Geschichte genommen - auch dies ein „naturalistisches" Moment: Protokoll unverarbeiteten und im Augenblick des Schreibens auch nicht verarbeitbaren Erfahrens. Die sich im Bericht häufenden Formeln des Nichtbegreifens, des Nichtverstehens, der fehlenden Klarheit, der Unsicherheit und die vielen nicht beantworteten Fragen des Berichterstatters machen dieses Moment unübersehbar: Es ist gegen die Vorstellung gerichtet, daß die Bewegungsgesetze unserer Gesellschaft schon voll erkannt oder daß sie leicht zu erkennen wären. Hierauf vor allem zielt die Wirkungsstrategie. Uns, den Lesern, wird mit dem allwissenden Erzähler zugleich die Sicherheit entzogen, einem Ablauf beizuwohnen, der im schon ausgeschrittenen Horizont unseres Gesellschaftswissens mit sicher voraussetzbarem Sinn erfüllt werden kann, einem Vorgang, dessen Bedeutung im System unserer schon geklärten Werte einhellig vorgezeichnet ist. Der erzählte Fall soll vielmehr gerade so erscheinen, daß wir erfahren: Für ihn fehlt in unserem Bewußtsein ein Allgemeines, für das er ein Besonderes, ein Beispiel sein könnte. Gerade deshalb wird der Fall auch als wirklich ausgewiesen: Nur so kann er für uns wichtig werden und uns ernsthaft bewegen. Indem der Autor seine eigene Verwirrung zugibt, indem er betont, daß er nicht versteht, keine Klarheit erreichen kann, zu wenig weiß usw., stürzt er auch uns in Verwirrung und zwingt uns, die wir in solcher Unsicherheit ebensowenig leben wollen wie er, selbst auf die Suche nach dem verlorenen Überblick und Zusammenhang zu gehen. Wir haben hier nicht einen vom Autor versteckten „Sinn" zu finden - er hat ihn nicht - , sondern diesen Sinn mit Hilfe unserer eigenen Erfahrung zu bilden. Dies können wir nur, indem wir das Allgemeine zu begreifen suchen, für das die erzählte Geschichte das Besondere gibt, das Wichtige klären, in welchem erst deutlich wird, weshalb uns der Fall bedeutsam erscheint. Man sieht bei dieser Gelegenheit, daß der allgemeine Begründungszusammenhang der „subjektiven Authentizität", die sich bei Claudius ausprägte, längst bevor dafür der Begriff gefunden war, nicht im speziellen Horizont von Gesellschafts-, Geschichts- und Menschenbild zu suchen ist, wie er sich bei Christa Wolf einfand - die nun freilich die Form souveräner handhabt und reflektiert. Das Verfahren findet vielmehr seinen funktionalen Kontext im durchgreifenden Bestreben unserer Literatur, eine entdeckerische Wirkung zu erlangen 300
und in den Prozeß des Entdeckens die Leser gerade dadurch einzubeziehen, daß ihnen der Autor ernst entgegentritt. Aus der kommunikativen Bestimmung erklärt sich wesentlich die Besonderheit der Aneignungsweise. Im Werk von Eduard Claudius ist die Aufnahme von autobiographischen Momenten, von Erfahrungen des eigenen Lebens, auch die Verschmelzung von Autor und dargestellter Figur keineswegs neu; neu ist nicht der Versuch, sich neuem Stoff zunächst in Prosaformen zu nähern, „in denen der erlebnisbestimmte Stoff faktenmäßig bewahrt" werden kann, in Reportagen und auch in Erzählungen, die von der „dokumentarischen Substanz"556 geprägt sind; neu schließlich ist ebenfalls nicht - wie der Roman Von der Liebe soll man nicht nur sprechen (1957) zeigt - das Durchführen des Konzepts einer Literatur, die sich gegen eine Idealisierung der veränderten Gesellschaft und der in ihr produktiv arbeitenden Menschen stellt. Eduard Claudius fand dafür keineswegs immer Verständnis. Im Gegenteil. Und man kann annehmen, daß die Kritik an dem zuletzt genannten Buch eine Radikalisierung der Verfahren bei Claudius hervortrieb, und auch die (deutlich noch in die fünfziger Jahre zurückreichende) Polemik verschärfte: Der Autor hatte sich in den seiner „Meinung nach nicht sehr qualifizierten Auseinandersetzungen" um dieses Buch „geschworen, keine Zeile mehr über unser Leben zu schreiben".557 Der drängende Charakter der neuen Erfahrungen wie das Gefühl, abseits zu stehen, ließ Claudius den Schwur brechen - offenbar konnte dies nicht anders geschehen als mit einer Forcierung des alten Programms. Dazu gehört auch die deutliche Scheidung des an konkrete Wirklichkeit gebundenen berichtenden Erzählens vom erfindenden, modellierenden Erzählen. Eingesprengt in den Erzählerbericht und doch von ihm klar abgegrenzt, erscheinen im Wintermärchen die Fragmente einer Erzählung „üblicher" fiktionaler Art. Das Ganze erweist sich als eine Montage verschieden bestimmter Gestaltungspartien sowie als Versuch eines komplexen Formaufbaus aus den elementarisierten Darstellungsweisen - biographisch gesehen als Ansatz, die für das Werk von Claudius charakteristischen zwei Phasen bei der Aneignung von Erfahrungsmaterial (zunächst durch dokumentarisch gebundene Erzählungen bzw. Reportagen, dann durch den stärker auf Sinnbildhaftigkeit hinarbeitenden Roman) in e i n e m Werk zu bewältigen. Formal werden die Darstellungspartien durch den schroffen Wech301
sei der Erzählsituation voneinander abgehoben: Der Ich-Erzählung des Autors-Erzählers, der mitunter auch seinen Standort n a c h dem erzählten Geschehen bemerkbar macht, stehen Szenen eines personalen Erzählens gegenüber, das von Mal zu Mal an andere Figuren aus der Welt der jungen Menschen gebunden wird, mitunter auch in der Szene von einer Figur auf die andere springt. Diese Partien erheben nicht den Anspruch, Bericht zu sein: Was hier erzählt wird, kann der Rechercheur höchstens in einigen Fixpunkten des tatsächlichen Schicksals erfahren, er muß es in der vorliegenden Form erfunden haben - folgerichtig wird hier auf einen Erzähler verzichtet. Claudius läßt solchen Wechsel unkommentiert (anders später etwa Christa Wolf, die auf das Entstehen der Fiktion ausdrücklich aufmerksam macht und sie deshalb auch bewußter experimentell einsetzen kann), und er gebraucht auch das Verfahren des Wechsels der Erzählperspektive recht flüchtig, er deutet erst an, was später etwa bei Karl-Heinz Jakobs bewußt ausgeschöpft wird: die Chancen der Form, verschiedene Subjektivitäten erzählend zu konfrontieren. Literaturkritisch gesprochen: Gerade hier liegen die großen Schwächen der Arbeit von Claudius. Literaturgeschichtlich gesprochen: Hier haben wir eine frühe Stufe der neuen Form vor uns. Fragen wir nach dem Grund dieser Kombination, so kommen wir auf zwei Zusammenhänge: Auf der einen Seite wurde offenbar empfunden, daß das Erleben des Autors, seine unmittelbaren Erfahrungen ganz und gar unzureichend sind, um das innere Geschehen im beobachteten Lebensraum klarzumachen. Die Fiktion zeigt sich als ein möglicher, ja unersetzbarer Weg der Entdeckung dieses Inneren außerhalb des Autors. Sie entsteht aus dem beobachteten Lebensmaterial vor unseren Augen. Auch wenn dies unkommentiert bleibt ihr Charakter wird damit doch deutlich markiert: Innerhalb des vom Ich-Erzähler bestimmten Gesamtgefüges erscheinen diese Passagen als Hypothesen zu Stellen, die die Recherche nicht erhellt, über die der Rechercheur nur Vermutungen anstellen kann. (KarlHeinz Jakobs wird später den Unterschied für sich so bestimmen: „In der Reportage geht es um den Vorfall, im Roman geht es um die Mutmaßung eines einzigen Menschen zu einem Vorfall". 5 5 8 ) Es versteht sich, daß dabei ganz nebenbei eine Eigenart j e d e r Fiktion verdeutlicht wird: Sie ist eine Hypothese, Vorschlag zu einer aufhellenden und sinnerfüllten Ordnung beobachtbarer Lebenstatsachen. 559 Die Kombination der beiden Verfahren erzwingt auf der anderen Seite eine erhöhte und bewegliche Rezeptivität: Soll die Struktur
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adäquat rezipiert werden, so muß im Leseverhalten mehrfach in verschiedener Richtung vom berichtenden zum fiktionalen Erzählen umgeschaltet werden. Wir begreifen dabei den drängenden Charakter der Wahrnehmungen des Berichterstatters - und deren Eingeschränktheiten; wir erfahren die Fiktion als Versuch zu einem interpretierenden Modell - und ihren hypothetischen Grundzug. Ein bequemer Nachvollzug solcher Struktur, in deren Entgegensetzungen die Darstellungsweisen einander ergänzen und kritisieren, ist unmöglich. Das Werk organisiert so das Gespräch, das es auslösen will, schon vermittels seiner formalen Vorgaben.
Beispiel komplexer Form: Episodik und Redefiktionen Der Roman Die Aula von Hermann Kant kann als ein zweites Beispiel für den Aufbau komplexer Form aus elementarisierten Formierungsweisen stehen. In literaturkritischen Überlegungen unseres Landes erscheint er nicht zufällig gern an der Seite anderer Prosagattungen. Die genaue Zuordnung hängt dabei offenbar von dem jeweiligen Ausgangspunkt ab. In einer Betrachtung zur Kurzgeschichte wird z. B. konstatiert, daß „eine ganze Reihe Romane neueren Datums durch Strukturen des ,Kurzgeschichtlichen' charakterisiert sind". Neben Günter de Bruyns Buridans Esel (heute wären selbstverständlich Irmtraud Morgners Arbeiten in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen) figurieren vor allem Kants Bücher Die Aula und Das Impressum als Beispiele für die beobachtete Tendenz: Die „beiden Romane von Kant tendieren in Aufbau und Stil entschieden zu Haltungen des Kurzgeschichten-Erzählens" - nämlich, in der hier zugrunde gelegten funktionalen Bestimmung, zum Erfassen alltäglichen Geschehens ohne novellistische Pointierung, zum Erzählen der kleinen Auseinandersetzungen, hinter denen die großen sichtbar werden, zum Bericht über die gewöhnlichen Leute in unaufdringlicher Diktion u. ä. 560 Anders wird die vorliegende Form in einer Betrachtung zum Essay interpretiert. Dort heißt es, daß bei uns „seit geraumer Weile in steigender Zahl Erzählungen, Romane" erscheinen, die „nicht auf eine Fabel als den Kristallisationspunkt ihrer Struktur zurückgehen, auch nicht den Faden einer Handlung benötigen, um ihre Geschehnisse abzuwickeln", deren Struktur vielmehr „durch eine Haltung des ,Mutmaßens', des .Nachdenkens', der .Rechenschaft' gesteuert" wird. 303
adäquat rezipiert werden, so muß im Leseverhalten mehrfach in verschiedener Richtung vom berichtenden zum fiktionalen Erzählen umgeschaltet werden. Wir begreifen dabei den drängenden Charakter der Wahrnehmungen des Berichterstatters - und deren Eingeschränktheiten; wir erfahren die Fiktion als Versuch zu einem interpretierenden Modell - und ihren hypothetischen Grundzug. Ein bequemer Nachvollzug solcher Struktur, in deren Entgegensetzungen die Darstellungsweisen einander ergänzen und kritisieren, ist unmöglich. Das Werk organisiert so das Gespräch, das es auslösen will, schon vermittels seiner formalen Vorgaben.
Beispiel komplexer Form: Episodik und Redefiktionen Der Roman Die Aula von Hermann Kant kann als ein zweites Beispiel für den Aufbau komplexer Form aus elementarisierten Formierungsweisen stehen. In literaturkritischen Überlegungen unseres Landes erscheint er nicht zufällig gern an der Seite anderer Prosagattungen. Die genaue Zuordnung hängt dabei offenbar von dem jeweiligen Ausgangspunkt ab. In einer Betrachtung zur Kurzgeschichte wird z. B. konstatiert, daß „eine ganze Reihe Romane neueren Datums durch Strukturen des ,Kurzgeschichtlichen' charakterisiert sind". Neben Günter de Bruyns Buridans Esel (heute wären selbstverständlich Irmtraud Morgners Arbeiten in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen) figurieren vor allem Kants Bücher Die Aula und Das Impressum als Beispiele für die beobachtete Tendenz: Die „beiden Romane von Kant tendieren in Aufbau und Stil entschieden zu Haltungen des Kurzgeschichten-Erzählens" - nämlich, in der hier zugrunde gelegten funktionalen Bestimmung, zum Erfassen alltäglichen Geschehens ohne novellistische Pointierung, zum Erzählen der kleinen Auseinandersetzungen, hinter denen die großen sichtbar werden, zum Bericht über die gewöhnlichen Leute in unaufdringlicher Diktion u. ä. 560 Anders wird die vorliegende Form in einer Betrachtung zum Essay interpretiert. Dort heißt es, daß bei uns „seit geraumer Weile in steigender Zahl Erzählungen, Romane" erscheinen, die „nicht auf eine Fabel als den Kristallisationspunkt ihrer Struktur zurückgehen, auch nicht den Faden einer Handlung benötigen, um ihre Geschehnisse abzuwickeln", deren Struktur vielmehr „durch eine Haltung des ,Mutmaßens', des .Nachdenkens', der .Rechenschaft' gesteuert" wird. 303
Dieses Erzählen interessiere „sich für die geschilderten Vorgänge nicht mehr eigentlich, sondern nur noch im gedanklichen Resümee": „Die Vorgänge oder Episoden sitzen dem Erzählverlauf nur lose, auswechselbar, paradigmatisch auf." Als Beleg für diese Tendenz dienen Kants Romane. Behauptet wird, daß hier ein „ausgeprägter Hang zur Reflexion, auch Argumentation, den erzählerischen Transport . . . geradezu blockiert", daß dies das Rhetorische über das Erzählerische obsiegen läßt und daß der Essay, stünde er nur in anderer Geltung, die geeignetere Gattung für die geistige Gangart des Autors gewesen wäre. 561 Man erkennt, daß die Theorie den Prozeß der Elementarisierung der Darstellungsweisen auch von ihrer Seite aus zu betreiben beginnt. Beide Beobachtungen treffen Strukturzüge des Kantschen Erzählens, jedoch einseitig. Kants Arbeiten lassen sich besser als Versuch verstehen, aus den elementaren Weisen und Formen, frei von den Kanonisierungen der höher organisierten Formtypen eine neue Art komplexer literarischer Gebilde zu produzieren.
Naives Erzählen und politische Arbeit Der Autor selbst hat als doppelten biographischen Zusammenhang seines Romans seine politische Arbeit und sein naives Erzählen genannt. Er hat betont, daß er beim Schreiben jener Haltung treu geblieben sei, die ihn trieb, sich „ins öffentliche, in Gespräche zu mischen". Als „eine sehr gute Übung für die Literatur" bezeichnete er deshalb auch den Umstand, daß er als Funktionär der Partei der Arbeiterklasse stets in Auseinandersetzungen und Diskussionen gestanden hat und dabei „über die Haltungen und Gedanken des anderen" nachzudenken hatte und „über gute Antworten, die man dem anderen geben kann". Die politisch publizistischen Arbeiten Kants waren direkter Niederschlag dieser Haltung. Es sprach in ihnen schon immer der Schriftsteller. Für jede Literatur, erläuterte der Autor später, „sind Filter nötig, die das von außen Eindringende raffen, verdichten". Die kondensierende und kritische Sprachbehandlung, die anekdotisch-berichtende Einzeichnung von erlebten Vorfällen, das Aufsteigen vom Einzelnen, dessen Eigenwertigkeit nicht verschwindet, die Ausstellung des schreibenden Subjekts in den ironisch-aggressiven, polemisch-analytischen Texten - das sind noch im Rahmen der politischen Journalistik bei Kant die Filter, die, wie er
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es nennt, „aus Sprache Literatur" machen. Und auf der anderen Seite hat er oft darauf hingewiesen, daß er mit „recht naiv realistischen Erzählungen" begonnen habe. Seine frühen - aus einem mündlichen Erzählen - herausgewachsenen Geschichten waren von dem schlichten Vorsatz getragen, Bericht erstatten zu wollen. In ihnen war die Geste: „Dieses Ding willst du jetzt aber mal festhalten und den Spaß sollen auch andere erleben können." 5 6 2 D e r anekdotische Ansatz, von dem Kants publizistische Arbeiten geprägt wurden, gilt deshalb auch für seine Geschichten: Sie finden ihren Ausgangspunkt meist im Autobiographischen, und die meist heiter-komödische B e handlungsart ist in dem „naiven" Ausgangspunkt ebenso angelegt wie das rhetorische Moment, das hier, gebunden an die Subjektivität des deutlich hervortretenden Erzählers und durch andere Mittel, in der Darstellung aufgehoben sein kann. Der Übergang zum Roman erfolgte offenbar von beiden Ausgangspunkten her, doch läßt sich die kompliziertere Struktur nicht auf das jeweils Elementare reduzieren. Sie ist nicht erzählerische Versetzung eines publizistisch argumentierenden, essayistischen Grundtextes. D a gegen spricht sowohl das Ausschütten von überreichem, episodisch dargebotenem Material und dabei auch von Geschichten, die in den auf der E b e n e essayistischen Kommentars entfalteten Bedeutungshorizont nur wenig integriert sind. Dagegen spricht der Eigenwert der Episoden, der oft in einer ausgestellten Skurrilität begründet ist. Und die Form ist auch nicht einfach eine Anhäufung von kurzgeschichtlich Strukturiertem. Dagegen spricht sowohl die Einbindung der Episoden in die kontinuierliche Reflexion des Erinnerungshelden, die deren eigentliche Ordnung hergibt, wie die reflektierende Überwölbung der kleinen Geschichten. Beide Momente werden im Roman bzw. in der theoretischen Erörterung von Kant thematisch gemacht. E r läßt im Roman von seiner Figur Überlegungen zum Unterschied zwischen der künstlerischen Wirklichkeitsaneignung und der „agitatorisch [en]" Behandlungsart der politischen Verhältnisse vortragen und darauf verweisen, daß es ein Irrtum sei zu glauben, ein künstlerisches Werk „sei so etwas wie eine taktische W a f f e " . 5 6 3 K a n t konnte diese Polemik um so sicherer führen, als niemand ihn einer Unterschätzung der agitatorischen Kampfformen zeihen konnte. Und im theoretischen Kontext erläuterte der Autor später, daß ein Roman durchaus „etwas anderes" sei als das naive Erzählen, ein „komplizierteres Gebilde", ein „Geflecht von Verbindungen, Beziehungen, Motiven, Ergebnissen", das „organisiert sein" will und dessen G e 20
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setzen er sich zu unterwerfen hatte, obwohl er „kein so bewußter Knüpfer" ist. Der Aussageraum der kleinen Erzählung wurde im übrigen gerade im Hinblick auf vermutete Leserbedürfnisse überschritten. Kant notiert, daß die Leser sehr viel deutlicher auf Romane als auf Geschichten reagieren, und er liest daran ab, daß sie in ihrem „Alltag immer mit, sagen wir, Kurzeindrücken, Ausschnitten und dergleichen konfrontiert " - „mehr nach Überblicken und übergreifenden Entwicklungen" verlangen. Der Leser möchte, unterstellt er, „aus der Kurzatmigkeit, zu der ihn der Alltag ein wenig verurteilt, hin und wieder raus- und über sie hinwegsteigen", er interessiert sich für den „Prozeß einer Folge von Ursachen und Wirkungen", für „Entwicklungen von etwas zu etwas". In der Romanarbeit versucht Kant deshalb, „von einem bewegenden Moment her zur Gesamtbewegung vorzustoßen". 564 D a ß dies nur über eine durchgeführte Handlung möglich sei - etwa über jene Kompositionsstruktur, die Arnold Zweig als Fischgräte charakterisierte (im Roman spielt sie als das Prinzip der „Katze" (342) eine satyrhafte Rolle) - konnte Kant nicht glauben. Er erinnert später auch ausdrücklich an die von Döblin vertretene Kompositionsidee, die auf Selbständigkeit der Teile im Epischen beharrt. 565 Das Bestreben, „Überblick", die „Folge von Ursachen und Wirkungen" zu vermitteln, wird auf anderem Wege als dem der Fabel realisiert, vorzüglich durch Einsetzen einer Figur, die sich vom Material ihrer Erinnerung her zur „Gesamtbewegung" in Beziehung setzt. Um die hier skizzierte Form in ihrer Eigenart der Organisation von Erfahrung genauer zu bestimmen, ist es nötig, etwas weiter auszuholen.
Vorgangsfigur „Befragung eigener Geschichte" In Kants Aula haben wir einen Roman vor uns, der - nach seinem Vorgangsfigurentyp - in die Gruppe der „Befragung eigener Geschichte im Entwicklungsprozeß der D D R " gehört, genauer: der diesen Gestaltaufbau in unserer Literatur zum ersten Mal und folgenreich durchgeführt hat. Kant gewann mit ihm eine große Möglichkeit, den durchlaufenen Gesellschaftsprozeß in seinen Phasenverschiedenheiten und in seiner Einheit zu erfassen, als wichtige Form des Gewinns eines tiefergreifenden Gegenwartsverständnisses. Wichtige Merkmale der Prozeßgestalt werden hier angelegt: Das Buch bietet die Gegen-
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wartsgeschichte eines Versuchs zur Bilanz - auch wenn der Held solchen Bilanzcharakter zu dementieren hat (13). Zugleich bietet es Geschichten aus der Vergangenheit von einem individuell-kollektiven Neubeginn in veränderten, sich verändernden Verhältnissen. Der zentrale Held ist „erweckt" (450) - aufgesprengt wird ein erfüllter Arbeitsalltag, der den Blick stets auf das Nächste und die Gegenwart richten ließ; einem äußeren Auftrag oder Anstoß gehorchend, der sich alsbald als nicht bewußter innerer Auftrag erweist, hat hier einer Vergangenheit zu vergegenwärtigen; er ruft sie episodisch ab und gerät über sie ins Nachdenken, folgt ihren ins Heute reichenden Wirkungen, wird sich des Unterschieds von heute und damals bewußt. Die allgemeinere Grundlage seines und des Versuchs gleichzeitiger Bücher auch mit anderen Vorgangsfiguren sah Kant in der ,,neue[n] Qualität des Begreifens" auf dem Boden einer Gesellschaft, die von der alten Klassengesellschaft Abschied genommen hatte, in der aus vielen tastenden Bemühungen ein Neues gewachsen war, die - wie polemisch gegen Brechts Formulierung von den Mühen der Ebene gesagt wurde - „über einen ersten großen Berg" war. Für ein im Prozeß unmerklich entstandenes neues Selbstbewußtsein war auch ein neues „Erfassen zurückgelegter Entwicklungsphasen", ein „Reflektieren dieser Phasen" möglich und notwendig.566 Die übergreifende Bestimmung des Romans Die Aula wird mit Heine im Motto ausgesprochen: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will." (5) Der literarisch-ästhetisch-ideologische Hintergrund gesellschaftlichen Bewußtseins, von dem sich der Vorschlag, neu zu reflektieren, abhebt, ist dem Roman ausdrücklich eingezeichnet - das Werk ist in allen seinen Momenten wirkungsästhetisch bewußt angelegt. Es geht in der Anregung lebendigen Geschichtsbewußtseins darum, das in einem jeden Lernen mitlaufende Vergessen zu problematisieren (404), es geht insbesondere um eine Kritik an der Haltung des sich progressiv wähnenden „Vorwärtslerfs], der es ablehnt sich umzudrehen" (463). Der Ansatzpunkt für die kommunikativen Intentionen ist damit deutlich markiert. Kant, der sich betont auf die Seite einer wirkenden Literatur stellt, bezeichnete seine Erzählstücke als „Eingabe an die Gesellschaft", seine Tätigkeit als ein Agieren, das polemische Momente einschließt, das in einer „Art von Reibung" seinen Anlaß, seine Gelegenheiten findet.567 Die „Eingabe" der Aula hat das Zentrum ihrer Reibungsflächen in einer als ungenügend angesehenen Art, wie in den ver20»
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schiedenen Sphären gesellschaftlichen Bewußtseins Geschichte behandelt, der Umgang mit Geschichte organisiert ist. Auf literarischer Ebene zielt die angegebene Orientierung gegen die literaturprogrammatische Tendenz jener Zeit, die Wichtigkeit von Gegenwartsdarstellungen zu verabsolutieren, gegen dieAnnahtne, der Beitrag der Literatur zur Bewußtseinsbildung müsse in aktuellen Stoffen festgemacht werden. Kant schreibt dieses Moment ausdrücklich in seinen Roman ein (346), und er distanziert sich später auch theoretisch. Die „Abstandstheorie" sieht er zwar als Ausflucht „vor den Gegenwartsdingen", doch kritisiert er scharf ihre literaturkritische Verwendung als „dogmatische Fuchtel". Erst wenn die Vorgänge in ihrer gesellschaftlichen Tragweite begreifbar, wenn sie für den Erzähler durchschaubar geworden sind, wenn „langes Nachdenken und genaues Erinnern" mitwirken - so heißt es - können wichtige und haltbare Geschichten entstehen. 568 Die allgemeine wirkungsästhetische Intention, die Stoffwahl und Thematik in Kants Roman wesentlich bestimmt, erfährt nun zwei wesentliche Spezifizierungen. Ihr Einfluß auf die Besonderheiten der stofflich-thematischen Festlegungen und auf die Besonderheit der durchgehenden ästhetischen Bewertungsart ist unverkennbar. Zunächst: Das Plädoyer für das Erinnern ist im Roman zugleich auch ein Plädoyer für die Notwendigkeit, der Widersprüchlichkeit des Geschichtsprozesses innezuwerden. Reibungsfläche ist ein Komplex von Denkweisen, die ein dialektisches Verhältnis in der Aneignung der Vergangenheit nicht herzustellen gestatten. Sie werden als Hintergrund der intendierten Funktion des Romans in ihm selbst wieder zum Vorschein gebracht. Reden, in denen nicht ist, „was nicht paßt" (149), die ihre Gegenstände „lieblich, kultiviert und ohne Erinnerung an Gletscher und eisige Zeiten" (411) beschreiben, gehören dazu; Lebensläufe, in denen es „so geordnet und übersichtlich zugegangen ist wie in einer arithmetischen Reihe" (304); die Haltung von „Siegerfn]", die nach den Verlusten nicht fragen (305); die scheinbare Sicherheit, deren Vergessen Verdrängen heißt, und vieles mehr. Kant dagegen sucht eine Haltung, die es erlaubt, „von der Poesie, von der Schönheit, von dem Gewinn" zu reden, ohne über die „Schwierigkeiten und Rückschläge" zu schweigen,569 er sucht nach dem rechten Maß für die Darstellung gesellschaftlich-geschichtlicher Widersprüche. Die Kriterien dieser Haltung werden dem Roman explizit eingegeben. Mit den Gegensatzpaaren der indirekten Rhetorik des Erinnerungshelden lassen sie sich etwa folgendermaßen 308
beschreiben: weder ein wirkungslos nostalgischer Romantizismus noch ein Die-Brücken-hinter-sich-Verbrennen; Vorweisen der Lichtpunkte und dessen, was sich nicht reimt; nicht falsche Ärmlichkeit und nicht falsches Pathos; kein Schmähen der Vergangenheit und nicht der Versuch, Lack auf ihre Risse zu geben. Gegen eine „Enthaltsamkeit", die „uns nicht gut bekommen" (187) ist, wird hier ein Prinzip des Fragens gesetzt, die Neugier, die Aufklärung von Problemen als Tugend. 5 7 0 D e m Erinnerungshelden wird diese Moral in wiederholten Aussagen zugeordnet, vor allem aber wird sie in der inneren Logik des Gestaltaufbaus auch in der Darstellung durchgef ü h r t : Wir erhalten in der Vorgangsfigur einen ideellen Prozeß, in dem zunächst eher zögernd, dann aber unaufhaltsam die Verdrängungen durchbrochen werden, in dem der Erinnerungsheld vom Leichterinnerten, das ihn bestätigt, zum Unbewältigten und auch Nichtgewußten, das ihm Aufgaben stellt, übergeht. Die Figur arbeitet bewußt gegen die charakterisierte Denktendenz im gesellschaftlichen Bewußtsein. Den Sinn der Struktur verdeutlicht ein Vergleich mit der Dramatisierung der Aw/ö. 5 ' 1 Dieser wurde mit Hilfe einer strukturverändernden Szenenumstellung (welche die Gewichte zwischen dem Bestätigenden und Auffordernden verlagerte und welche aus der Rede, die im Roman auf Betreiben des „Vorwärtslers" nicht gehalten werden konnte, eine Rede machte, welche ohne Schwierigkeiten vortragbar war) eine plan affirmative Aussage verliehen. Das Buch hingegen ist durch seine gesamte Anlage darauf aus, den Leser auf den schwierigen Weg einer problematisierenden Selbsterkenntnis mitzunehmen. Die komödische Behandlungsart der Geschichte erlcichtcrt dies hier haben wir das zweite speziellere Moment im Entwurf adäquaten Geschichtsbewußtseins. In der Gedankenarbeit an einer Rede über die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, die als ihr konkretes Material eine episodisch angeleuchtete Kontinuität individuell-kollektiven Geschicks eines bestimmten Gesellschaftsbereichs und Geschichtsabschnitts aufruft, wird eine große historische Leistung zum Vorschein gebracht: das Durchbrechen des Bildungsmonopols als Teil der sozialistischen Revolution, die praktische Widerlegung von bourgeoisem Konservatismus und Standesdünkel. Ein bedeutender menschlicher Sinn der Umwälzungen in unserem Lande wird verdeutlicht: eine Qualifikation im weitesten Sinn, die die Macht alter, die Individuen fesselnder Verhältnisse brach, die die Möglichkeit neuer gesellschaftlicher Beziehungen schuf. Der Roman macht weiter einseh-
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bar: Indem so eine historische Dimension der Gegenwart erschlossen wird, entstehen auch Voraussetzungen, die in der Vergangenheit unbeglichenen Rechnungen zu erkennen; Ansätze, sie zu erledigen; Chancen, sich heutigen Aufgaben neu zuzuwenden. Der Ton ist dabei heiter. 572 * Ein Geschichtsprozeß wird erinnert, durch den die Akteure sich grundsätzlich bestätigt sehen, der sie zugleich in einer dialektischen Verschränkung der Empfindungen lächeln machen kann. Der gewonnene freiere Überblick, der Stolz auf das Erreichte, auf einen Vorgang, in dem auch gelernt wurde, vernünftiger miteinander umzugehen, gestattet es, Widersprüche in Augenschein zu nehmen. Die Darstellung offenbart Kontraste, wie sie ehedem zwischen der emphatisierten Sprache neuen Anspruchs und der Normalität des Prozesses bestanden, zwischen der verändernden K r a f t der vereinigten Bemühungen und der Unreife der Individuen, der Unfertigkeit der Gesellschaft. Und sie zeigt Kontraste, wie sie gegenwärtig bestehen zwischen der unwiederholbaren Lebendigkeit dieses Unfertigen, das sich mit den Individuen bewegte, deshalb jetzt „lustig" (350) erscheinen kann, und den fertigeren Zuständen heute - in denen Bewegung vornehmlich als Gedankenbewegung erscheint oder auch als jene Bewegung, in der sich die ehemaligen Elektriker, Fischer, Waldarbeiter, nunmehr „ R ä t e " verschiedener Art und „Leuchten" der Wissenschaft, auf ihren Dienstreisen befinden, auf den Wegen zu oder von ihren Sitzungen, Besprechungen, Vorlesungen, die ihren Alltag ausmachen. D a s Verhältnis zur Geschichte ist mit dieser doppelten Richtung der Bewertung von der ironischen Art der komödischen Distanz. 5 7 3 * E s geht dabei keineswegs allein und einfach um deren „Ausdruck" - sosehr die ironisch strukturierte Heiterkeit zum Grundbestand des Autors Kant gehört. Indem Erinnerung Vergangenheit vergegenwärtigt, wird - das zeigt der Schreibprozeß - die Distanz erst hergestellt, die Überlegenheit schafft. E s wird - vor unseren Augen - die Beziehung erst erzeugt, die die Freiheit bringt, das Bleibende zu bejahen, das Ungemäße lachend abzutun, mit Ernst sich neuen Aufgaben zuzuwenden. Mit all dem ist das Buch wieder ein Vorschlag. In unsere schwerblütige Literatur mit ihrer traditionell ernsten „Tiefe" brachte K a n t einen neuen Ton. Und dies bewußt. Wie er später erklärte, will er sich nicht als „DDR-Spaßmacher" etablieren; aber solange er sehen muß, daß unsere Literatur „nicht gerade übersättigt" ist „von erheiternden Sachen", will er an der Unterbreitung komödischer Sichtweise festhalten. 574 D a s Lachen ist hier - mit Bergson zu reden - deutlich eine „soziale Geste" 5 7 5 *.
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Nach Apitz' Buch Nackt unter Wölfen wurde Die Aula das in der D D R meist verbreitete Buch unserer Literatur. Der Erfolg beweist, daß seine „Eingaben" positiv beantwortet, die vorgeschlagenen Ansichten als gemäß akzeptiert wurden: Gerade die Haltung der Erinnerungsfigur hatte in den Rezeptionsakten eine zentrale Stelle. 576 * Die gesellschaftliches Denken produktiv auflockernde Wirkung, welche Hermann Kants Roman zweifellos hatte, ist wesentlich Resultat der in ihm durchgeführten spezielleren Intention: des kritischen Bestrebens zur dialektischen Aneigung des eigenen Geschichtsprozesses und des Versuchs zu einer komödischen Distanzierung seiner Widersprüchlichkeit. Dies heißt allerdings noch nicht, daß die hier gemachten Vorschläge durchgreifend angenommen wurden oder daß die Literatur in ihrem weiteren Verlauf sich der Idee der Heiterkeit anschloß. Sie akzentuierte vielmehr - u. a. auch deshalb, weil sich das skizzierte dialektische Verhältnis im gesellschaftlichen Bewußtsein nicht durchsetzte - die tragischen Züge im Entwicklungsprozeß oder nahm der ironischen Distanzierung den heiteren Ton. Mit verschiedener Akzentuierung findet sich das erste dieser Momente in der Aktionsstruktur der Befragung eigener Geschichte, wie sie etwa Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., Erik Neutschs Auf der Suche nach Gatt oder Gerti Tetzners Karen W. (1974) übermitteln. Es handelt sich um Werke, die die Verluste im fortschreitenden Geschichtsgang, die härter auf die Individuen wirkenden Kämpfe und Bewegungen zum Vorschein brachten, die Notwendigkeit, in den Ent-Täuschungen an der Idee eines produktiven Lebens festzuhalten. Das zweite Moment läßt sich mit wieder anders gearteten Akzenten etwa in Karl-Heinz-Jakobs Eine Pyramide für mich oder bei Günter de Bruyn in den rückblickend-bilanzierenden Partien seines Romans Buridans Esel oder seines Buches Die Preisverleihung (1972) beobachten. In der literarischen Diskussion über das uns Gemäße, wie sie im Raster verschiedener ästhetischer Bewertungen der eigenen Geschichte ausgetragen wurde, erwies sich der Kantsche Vorschlag immer wieder als ein - mehr oder weniger bewußt in Rechnung gestellter - Bezugspunkt.
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Der kritische Impuls des Geschichtenerzählern und der unrhetorischen Rhetorik Wenden wir uns von hier aus den wirkungsästhetischen Implikationen der entscheidenden Strukturzüge der Aula näher zu, der Vereinigung von Episodik und entfalteter Reflexion. Der dialektische Versuch zur Aufhellung der Vergangenheit schließt für Kant eine bestimmte Idee vom Zusammenhang individueller Aktivität und geschichtlichem Vorgang ein. In weiterer Spezifizierung der schon benannten wirkurgsästhetischen Ansatzpunkte des Romans - in dem es ja thematisch und zum Teil stofflich um eine Rede zur Würdigung von Vergangenheit, d. h. um deren historiographisch-publizistische Aufbereitung geht - läßt sich als „Reibungsfläche" gerade eine Tendenz unserer Geschichtsschreibung ausmachen, auf die im Zusammenhang de r Autobiographie bereits hingewiesen wurde/' 77 Die Kritik gilt einem geschichtswissenschaftlichen Darstellungsstil, der dazu führt, im Gang durch die Geschichtc allzu großräumig zu verfahren, sich theoretisch in den allgemeinen Linien der historischen Prozesse zu bewegen. Insbesondere wird dabei der Wert von Verfahren bezweifelt, durch die historisches Geschehen anonym wird, das Konkrete als Illustration eines vorausgesetzten Allgemeinen erscheint, die wirkliche Aktion als Resultat von Verordnungen und nicht von Interessen. In der Geschichte vom Entstehen einer Gedenkrede (zugehörig einem historiographisch-publizistischen Genre) wird eine Methode gefordert und demonstriert, die die konkreten geschichtlich bestimmten und geschichtemachenden Vorgänge und Entscheidungen von Menschen, die Gründe für das „Zur-Stelle-Sein oder auch das Versagen" durchsichtig macht. Diese Kritik und diese Forderung durchzieht den Roman als wiederkehrendes Motiv. Man sieht: Kant verteidigt hier romanhaft die Methode seiner eigenen journalistischen und rhetorischen Arbeit. Das Buch stellt sich debattierend in den Prozeß der Bildung von Bewußtsein über Gesellschaft und Geschichte und diskutiert die Formen dieser Bildung. Der Autor hat, wie schon betont, den Kontext später auch theoretisch namhaft gemacht. Indem er sich an die Geschichtsschreibung wendet, konstatiert er, daß bei vielen ein unbefriedigtes Bedürfnis besteht, „die Geschichte greifbarer, erlebbarer, überzeugender" vorgeführt zu finden. Der Hinweis auf die Autobiographien steht in diesem Zusammenhang. 578 Aber mehr: Kant begründet auch die Lebensnotwendigkeit von 312
Erzählliteratur gerade in diesem Kontext. Nicht ein „Schreiber von DDR-Geschichte" (des zitierten Typs) will er sein, sondern ein Schriftsteller, der - unter Einschluß der für die historiographische Darstellung weniger wichtigen Seitenaspekte, auf der Suche nach den wirklichen Vermittlungen zwischen den unscheinbaren Ereignissen des Alltags und dem historischen Prozeß - „Geschichten aus der Geschichte erzählt und sie als Teile der Geschichte begriffen sehen will". 579 D i e von Kant gewählte Episodik als Verfahren, über Geschichten und geschichtliche „Seitenaspekte" Geschichte zu vermitteln, hat ihr Bezugsfeld nicht allein in der Literatur, sondern im gesamten Bereich des gesellschaftlichen Bewußtseins. Im Blick darauf werden die besonderen Aufgaben der Literatur bestimmt. Charakteristisch dabei nun, wie sich im Vergleich zur klassischen Ästhetik das Verhältnis zur Historiographie gewandelt hat. Das Problem besteht nicht wie ehedem in der Haftung der Geschichtsschreibung an der konkreten, aber für die „Idee der Menschheit" (wie es Schopenhauer noch formulierte 5 8 0 ) wenig repräsentativen Einzelheit. Es wird nunmehr in der auf Objektivität und Gesetzmäßigkeit drängenden Verallgemeinerungsart der Historiographie und in ihrer theoretischen Abstraktheit gesehen. Dieses Umfeld läßt gerade die Bindung ans Konkrete, an die „Seitenaspekte" des wirklich erfahrbaren Lebens, die Bindung ans Autobiographische und an den Alltag der Details als das Spezifische l i t e r a r i s c h e r Arbeit heute erscheinen. Es findet sich aber auch ein innerliterarisches Argument für die Begründung der Episodenstruktur. D i e dem Roman eingeschriebene Ästhetik betont nämlich das mögliche Spannungsverhältnis zwischen kleinem und großem Geschehen, die mögliche Umweghaftigkeit der großen Entdeckungen. Sie richtet sich gegen eine Darstellungsart, die den Weg durch die Geschichte heroisiert und bengalisch beleuchtet, und proklamiert als Programm von Bedeutungserkenntnis und -Vermittlung die Anerkennung der Enthüllungskraft von charakteristischen Details, das Aufdecken der komischen Aspekte im Widerspruch von realem Ereignis und sinngebendem Erlebnis bzw. sinngebenden reflektierenden Akten, von alltäglichem und historischem Geschehen. Diese Ästhetik wendet sich dagegen, d a ß Memoirenkringel aus der Literatur ausgeschlossen werden, d a ß das Typische als unmittelbar geschichtlich-gesellschaftliche Repräsentanz des Einzelnen gesetzt wird. Sie will keine Fabeln, die ihre Moral glatt in polierten Charakteren und geschlossenen Verläufen unterbringen, 313
und keine Ehrfurcht vor der Geschichte, die jedes Einzelne auf deren allgemeine Linien bringt und somit pathetisiert. Der Roman liefert das seinem Programm entgegenstehende Literaturkonzept der Zeit, das speziellere Operationsfeld seiner Intentionen in einer Kette von Äußerungen mit. Sie haben durchweg satirischen Charakter, und das zeigt die unversöhnliche Ernsthaftigkeit an, mit der die neuen Vorschläge gemacht werden. Die Anlage des Romans - wie im übrigen auch sein Titel, der die damals übliche fabelresümierende Aussage bewußt vermeidet (267) - , sein lockerer Bau, die Auswahl durchaus kleiner Geschichten, die Aufnahme von Stoff, der in das Gesamtgefüge nur wenig integriert erscheint, ist der Versuch, diese Seite von Programm und Kritik strukturell zu verwirklichen, eine entsprechende Rezeptionsvorgabe zu liefern. Das Bestreben, die Bedeutung der Details nicht emphatisch aufzublähen, vielmehr nach dem Maß der Realität nüchternen Erfahrens zu operieren, ist Resultat der gleichen geschichtsphilosophischen Idee vom Verhältnis zwischen den einzelnen und der Gesellschaft bzw. Geschichte, die auch die zitierten Forderungen an die Historiographie hervorbrachte. Zu dieser Idee gehört auf der anderen Seite aber auch, daß eine dialektische Geschichtssicht die wirklichen Abläufe nicht zur bedeutungslosen Winzigkeit schrumpfen lassen darf. Gerade weil keine unmittelbare Identität von individuellem Geschick und gesellschaftlichem Verhältnis bzw. historischem Gang angenommen wird und der Widerspruch zwischen kleinem und großem Geschehen nicht durch Erfindung einer diese Identität doch herstellenden Fabel verdeckt werden soll, machen sich andere Verfahren nötig, um den Zusammenhang der in die Erinnerung gebrachten Einzelheiten aufzudecken, den in ihnen nicht unmittelbar anwesenden historischen Sinn zu vermitteln: Dies ist die Leistung der Ebene der entfalteten Reflexion. Auf der Ebene dieses Strukturzugs wird der ideologische Charakter des Romans deutlich. Das in den Episoden verschiedener Zeitebenen unterbreitete Material wird hier nach seiner historischen Relevanz befragt und gedeutet. Am Konkreten wird so - wirkungsästhetisch betrachtet - gesellschaftliches Relevanzbewußtsein organisiert und „umverteilt". Dies aber nicht in der Weise objektivierenden historischen Bewußtseins. Die entfaltete Reflexion ist an die Spontaneität und Eigenart des Erinnerungshelden gebunden. Dieser Held ist als Erzähler der im Roman ausgebreiteten Folge von „Bildern, diesen Schwätzern" (404), zu denken. Er erscheint zugleich als „attische Biene" (639), 314
als ein Redner, der eine Folge von Redeentwürfen vor uns ausschüttet, welche in fixierter Form aus einer assoziativreichen Gedankenkette herauswachsen. 581 * Diese Gedankenkette hat ebenfalls schon eine rhetorische Struktur, besser: ist als Teil eines Dialogs angelegt. Beide Formen der entfalteten Reflexion, Rede und Gedankenkette, haben deutlich gezeichnete Adressaten i n der fiktiven Welt des Romans und sind auf deren Überzeugung aus. Als solche Adressaten lassen sich ausmachen: der Erinnerungsheld selbst, insofern er ein geschulter und bewußter Repräsentant der sozialistischen Gesellschaft ist, Träger verallgemeinerter gesellschaftlich-historischer Erfahrung, Kenner der herrschenden literarischen Ansichten und ihrer Sprache; seine Freunde, die ehemaligen Waldarbeiter, Fischer, Schneiderinnen, für die die Rede „ein Glanz sein sollte" und so, daß „beinahe alles gut war" (466); der „Vorwärtsler", dessen Verlangen nach Illustration des schon Bekannten der Redner nicht befriedigen kann. Für die wirkungsästhetische Anlage des Romans ist diese Bindung der rhetorisch organisierten Reflexion an einen fiktionalen Helden und an Adressaten i n der Welt der Darstellung selbst von entscheidender Bedeutung. Die so bestimmten Partien des Buches erhalten auf diese Weise nämlich keine rhetorische Funktion in werkexterner Hinsicht. Die Rhetorik ist hier gänzlich in eine ästhetische Struktur integriert: Es redet nicht der Autor überzeugend auf uns Leser ein; nicht wir, die Leser, haben uns deshalb hier als Objekte der Ansprache zu empfinden, wir sehen vielmehr den Erinnerungshelden vor einem Publikum agieren, das auch wir zu kennen glauben. Wir, die Leser, können uns so möglicherweise in den Sprecher versetzen oder ihn interessiert beobachten, wenn er als „Affe" erscheinen mag, der die Situation genießt (453): Er spricht einige der Ansichten aus, die wir teilen, aber nicht so oft hören. Um diese Lage zu verdeutlichen, wird im Roman ein Zeichen gesetzt: Die Gegenfigur des Erinnerungshelden, die Figur des „Vorwärtslers", hat zu verhindern, daß die Arbeit an der erinnernden Rede, deren Wert für die zentrale Gestalt - und mit ihm auch für uns Leser - unbezweifelbar wird, an ihre Adressaten in der Welt des Romans gelangt. Der Schluß des Buches ist paradox (ein wichtiger Zug in der Skala der komödischen Verfahren, die hier entfaltet werden 582 ); er verweist gerade damit ins Offene: Was in der fiktiven Welt verwehrt wird, daß nämlich die neuen Anstrengungen um die Vergangenheit öffentlich gemacht werden, was dort nur als Verspre315
chen erscheint, daß nämlich „schon noch geredet werden" wird (466) das leistet ja gerade das Buch in der wirklichen Welt. Das heißt aber auch, wenn das Buch Wirklichkeit trifft: Was in der wirklichen Welt dem fiktiven Roman schon möglich ist, ist der wirklichen Rede noch nicht möglich. Vorgreifend auf dieses Verhältnis, das auf Chancen und Eingeschränktheiten literarischer Weltaneigung deutet und das mit dazu führt, daß sich hier Rhetorik indirekt strukturiert, hieß es in der Mitte des Romans bereits: „Vielleicht ist eine Rede doch noch etwas anderes als ein Roman." (267) Im Nachdenken über diesen Unterschied werden wir mitten in die Wirklichkeit geführt. Gesellschaftlichkeit, Kollektivität und Rationalität beim Durcharbeiten von Vergangenem entsprechen einander in Kants Roman. D a s hier vorgestellte Erinnern ist gerade jenes intellektuelle (und deshalb ständig und voll kommentierbare) Erinnern, von dem Proust behauptet hatte, daß es das Wesen der Vergangenheit nicht erreichen könne. 5 8 3 * Nicht ein zufälliger Anruf bringt hier eine „unwillentliche Erinnerung" in Gang, zaubert die Vergangenheit in die Gegenwart herbei, eine Empfindung, die in den Dingen eine verborgene, tatsächlich aus der Subjektivität stammende Wesensbestimmung freigesetzt fühlt. Der Erinnerungsheld geht, wiewohl auch er ein „Erweckter", einem gesellschaftlichen Auftrag nach. Bewußt ruft er Vergangenheit ab. Seine Angelegenheit ist dabei nicht vorzüglich die Empfindung des einzelnen, er konzentriert sich auf die kollektivbedeutenden Aspekte des Vergangenen. Ihm ist bewußt - und deshalb sucht er heute seine Freunde von damals auf, bespricht sich mit ihnen - , daß Er-Innern auch ein Weg nach außen sein muß: „ D i e Wahrheit aber ist nicht nur die Tat, sondern auch deren Folge, nicht nur Motiv, sondern auch Wirkung; ist Vorsatz und Ergebnis; die Wahrheit sind auch die anderen." (410) Dies erst bestimmt die Richtung der HaltungsVorschläge genauer: Empfohlen wird nicht, sich in einem unerhörten Glücksempfinden der mittelmäßigen Gegenwart zu entheben, sich vom Zwang der Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu befreien und ein vom Stoff entschlacktes tieferes Wesen außerhalb der historischen Zeit zu erfassen. Auch hat das Erinnern nicht mit dem Doppelproblem einer Gegenwart fertig zu werden, die als unwirtliche Ö d e entzauberter Haine erscheint, und einer Vergangenheit, die die Illusionszerstörung unaufhaltsam betrieb. D a s Versagen, das im Nachdenken als Moment der Vergangenheit deutlich wird, soll nicht in der Retrospektive, beseelt durch Erinnerung, dem vernichtenden Gang einer
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entfremdeten Geschichte entrissen werden, seine Beschreibung nicht als Leistung gelten, welche eine Essenz der hieroglyphisch werdenden Dinge evoziert. Seine Erkenntnis soll vielmehr über den ästhetischen Raum hinausführen, Motiv werden für neue Aktivitäten und zwar auf der Basis einer fortschreitenden Zeit, die stets einen mehrfachen Bezug offenhält: die Frage danach, was die Vergangenheit war, was sich verändert hat und was bleiben wird. Und schon gar nicht hat der Aula-Held - um auch diese Gegenposition wenigstens anzudeuten - erinnernd über den Trümmern eines Lebens zu sitzen, umgeben von lebendig gebliebenen Gespenstern des Vergangenen (wie es Boll in den Ansichten eines Clowns zeittypisch erschien). Das Gefüge des Erinnerns bei Kant beruht sichtbar auf der Möglichkeit, die Gegenwart in einer lebendig gebliebenen Verbindung zum Vergangenen zu sehen, die Vergangenheit als den selbst gewollten und wesentlich geglückten Gang ins Heute hinein. Als „Gründerzeit" wird Vergangenheit dem Helden in Hermann Kants Roman Die Aula historisch verfügbar: Sie wird ihm - und auch wir, die Leser, werden dazu in der Lektüre verführt - Abschnitt in der Geschichte eines substantiellen Bestrebens, das durch den historischen Veränderungsprozeß bestätigt wurde, eine Zeit, die in der Gegenwart weiterwirkt, die aufzubewahren ist und die kritisierbar wird zugleich in dem, was nicht gelang.
Prosa als energische
Uteraturart
Tendenzbeschreibung und Demonstrationsfälle zeigten, daß für das Entstehen des neuen Zustands in unserer Prosa ein Doppelprozeß von Elementarisierung und Neuaufbau komplexer Formen wesentlich ist. Literarisch-ästhetische Weltaneignung - das zeigen diese Aktivitäten - wird dabei als ein von unserer Literatur noch längst nicht ausgeschrittener Raum vielfältiger Möglichkeiten aufgefaßt. Und mehr: Auffällige Neuansätze liegen gerade in dem Bereich, den der klassische Kanon der Dichtarten und Dichtweisen ausschloß. Die Lebendigkeit der zeitcharakteristischen und entwicklungsbestimmenden Formbildungprozesse stellt unsere Literaturkritik und Literaturwissenschaft vor ernste Probleme. Ihr fehlt weitgehend das begriffliche und terminologische Instrumentarium, die wirklichen Vorgänge adäquat zu erfassen. So wird mit Bezug auf das Gattungsfeld der Prosa nachlässig, 317
entfremdeten Geschichte entrissen werden, seine Beschreibung nicht als Leistung gelten, welche eine Essenz der hieroglyphisch werdenden Dinge evoziert. Seine Erkenntnis soll vielmehr über den ästhetischen Raum hinausführen, Motiv werden für neue Aktivitäten und zwar auf der Basis einer fortschreitenden Zeit, die stets einen mehrfachen Bezug offenhält: die Frage danach, was die Vergangenheit war, was sich verändert hat und was bleiben wird. Und schon gar nicht hat der Aula-Held - um auch diese Gegenposition wenigstens anzudeuten - erinnernd über den Trümmern eines Lebens zu sitzen, umgeben von lebendig gebliebenen Gespenstern des Vergangenen (wie es Boll in den Ansichten eines Clowns zeittypisch erschien). Das Gefüge des Erinnerns bei Kant beruht sichtbar auf der Möglichkeit, die Gegenwart in einer lebendig gebliebenen Verbindung zum Vergangenen zu sehen, die Vergangenheit als den selbst gewollten und wesentlich geglückten Gang ins Heute hinein. Als „Gründerzeit" wird Vergangenheit dem Helden in Hermann Kants Roman Die Aula historisch verfügbar: Sie wird ihm - und auch wir, die Leser, werden dazu in der Lektüre verführt - Abschnitt in der Geschichte eines substantiellen Bestrebens, das durch den historischen Veränderungsprozeß bestätigt wurde, eine Zeit, die in der Gegenwart weiterwirkt, die aufzubewahren ist und die kritisierbar wird zugleich in dem, was nicht gelang.
Prosa als energische
Uteraturart
Tendenzbeschreibung und Demonstrationsfälle zeigten, daß für das Entstehen des neuen Zustands in unserer Prosa ein Doppelprozeß von Elementarisierung und Neuaufbau komplexer Formen wesentlich ist. Literarisch-ästhetische Weltaneignung - das zeigen diese Aktivitäten - wird dabei als ein von unserer Literatur noch längst nicht ausgeschrittener Raum vielfältiger Möglichkeiten aufgefaßt. Und mehr: Auffällige Neuansätze liegen gerade in dem Bereich, den der klassische Kanon der Dichtarten und Dichtweisen ausschloß. Die Lebendigkeit der zeitcharakteristischen und entwicklungsbestimmenden Formbildungprozesse stellt unsere Literaturkritik und Literaturwissenschaft vor ernste Probleme. Ihr fehlt weitgehend das begriffliche und terminologische Instrumentarium, die wirklichen Vorgänge adäquat zu erfassen. So wird mit Bezug auf das Gattungsfeld der Prosa nachlässig, 317
doch hartnäckig von „Epik" oder vom „Epischen" gesprochen. Der Terminus wird ohne weiteres auf lange Romane oder auf kurze Geschichten bezogen, auf ein anschaulich-objektives Erzählen oder auf ein Erzählen, das betont Subjektivität ausstellt. Allgemein ist auch das Verfahren der großen Literaturgeschichte, 584 * wo unter Titeln, die Auskunft über „epische" oder „erzählerische Literatur" versprechen, Betrachtungen nicht nur zum Roman, zur Erzählung oder zur kurzen Geschichte erscheinen, sondern auch zur Reportage oder zur Autobiographie, zur feuilletonistischen Literatur oder zum Essay, Überlegungen nicht nur zum Erzählen, sondern auch zum reportagehaften bzw. memorialen Berichten oder zum essayistischen Reflektieren. Dieser Sprachgebrauch verrät zweierlei: Offenbar werden auf der einen Seite die genannten Gattungen (abweichend von der allgemeinen Terminologie der Literaturwissenschaft der DDR wollen wir hier unter „Gattungen" Formtypen verstehen) bzw. die ihnen zugrunde liegenden Darstellungsweisen zur Literatur im engeren Sinn gerechnet. Bei der Art ihrer Abgrenzung von anderer Literatur (z. B. von der informierenden und reflektierenden Publizistik, den theoretischen oder kasuistischen Formen der Wissenschaft) wird entschieden der Rahmen dessen überschritten, was im Licht der klassischen Ästhetik als Poesie, als „Dichtkunst" galt. Offenbar setzt sich aber auch auf der anderen Seite genau dieser Dichtkunstbegriff wieder durch, indem mit dem genannten Sprachgebrauch als allgemeines Zuordnungsmerkmal der Gattungen des Feldes Prosa, vielleicht als sein Zentrum oder als das eigentliche Ziel der sich auf ihm vollziehenden Arbeiten das Epische behauptet wird - eben eine jener Darstellungsweisen, die allein in der klassischen Ästhetik den Raum des Literarisch-Ästhetischen ausmachen. Die klassische Ästhetik kannte mit ihrem triadischen Schema drei „Dichtweisen", drei „Darstellungsweisen" der Poesie: das Epische, Lyrische, Dramatische. Diese Formierungsweisen waren im ursprünglichen Konzept vielschichtig bestimmt. Ihr Begriff erfaßte - mit unterschiedlicher Akzentuierung - die Art der Organisation eines jeweils besonderen Verhältnisses von Gegenstand und Subjekt der Darstellung, der objektiven und subjektiven Momente in der Darstellung, eines jeweils besonderen Verhaltens des Mitteilenden und des Rezipierenden, also auch der Kommunikation. Aneignungs- und kommunikationsspezifische Gesichtspunkte gingen in den Bestimmungen auf sehr allgemeine Weise zusammen. Diese Kategorisierung war ein erheblicher Fortschritt über die Formtypeneinteilungen älte-
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ren ästhetischen Denkens hinaus und darin selbst ein historisches Produkt: Goethe z. B., der mit seiner Theorie der „Naturformen der Dichtung" zur Ausbildung der klassischen Triade beigetragen hat, betont, daß die Dichtweisen in den poetischen Gebilden, den Dichtarten, oft beisammen auftreten, daß die Dichtarten, also (in unserem Sinn) die Gattungen, im allgemeinen nur durch eine Präferenz der einen oder anderen Dichtweise charakterisiert sind, daß die Dichtweisen sich „erst in einer gewissen Zeitfolge sondern" und daß die Elemente in der Zeitfolge, im Geschmack der Nationen jeweils besonders, doch „bis ins Unendliche mannigfaltig", „wunderlich" zu Dichtarten „zu verschlingen" sind. 585 Der Doppelprozeß von Sonderung und Verschlingung mußte erst ein bestimmtes Niveau erreicht haben, um die Erkenntnis der Dichtweisen zu ermöglichen: D a s triadische Schema enthält vernünftige Abstraktionen. E s enthält aber auch - und in dieser Beziehung ist es ebenfalls historisches Produkt - die ästhetischen Vorstellungen der klassischen Theorie, die aus spezielleren Festlegungen zur Aneignungs- und Kommunikationsspezifik von Kunst den Umfang der ästhetisch formierten sprachlichen Aneignungsweise reduzierte. D a s triadische Schema - das eine zusammenfassende Vorstellung von dieser in verschiedenen Richtungen entfalteten Aneignungsweise bildete - ist zugleich Ausdruck und Moment der Reduktion. Die Dreiteilung muß in doppelter Hinsicht als restriktiv angesehen werden. Mit ihr war auf der einen Seite das, was die beschreibende, die scheltende, die didaktische Poesie hieß, aus der Gruppe der Dichtarten bzw. das Didaktische aus der Gruppe der Dichtweisen ausgeschlossen, war die Gruppe insgesamt von der Redekunst und ihren Zwecken abgesondert. E s ist dies eng verknüpft mit der verschiedenartig argumentierenden Konstituierung eines Begriffs von Poesie als Selbstzweck - mag der nun (wie bei Goethe) auf die Vorstellung von einer Naturgrundlage der Poesie zurückgehen, welche nicht „künstlerisch geängstigt" (d. h. hier: technisch formiert) werden darf, welche „Ausdruck" eines „aufgeregten, erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck" sein soll und welche „entwürdigt" wird, wenn sie der „Redekunst bei-, wo nicht untergeordnet wird"; 5 8 6 oder mag der nun (wie bei Hegel) seine Philosophie in dem zu sich kommenden Geiste haben, welches Ideal sich ästhetisch im Hervorbringen und Genuß des Schönen erfüllt, welches aber eigentliche Zwecke für die Dichtkunst verbietet, ihr „Belehrung, Erbauung, Entscheidung 319
in Rechtsangelegenheiten, Staats Verhältnissen usf." untersagt und überhaupt das Verfolgen einer „Absicht für eine Sache, die erst geschehen, für eine Entscheidung, die erst erreicht werden soll". 5 8 7 Und mit dem klassischen Schema wurde andererseits Poesie auch von der Geschichtsschreibung (einschließlich Biographie und Autobiographie) deutlich abgegrenzt. Dies geschah etwa bei Goethe relativ wertneutral. Seine Überzeugung ist, daß alle Poesie mit Anachronismen arbeitet; daß sie der Vergangenheit eine höhere Bildung, als sie hatte, verleiht; daß sie allen Zuständen das Neuere borgt, um es anschaulich und erträglich zu machen; daß sie das Recht hat, die Geschichte in Mythologie zu verwandeln. D i e Dichtung braucht sich demzufolge der Mühe nicht zu unterziehen, „durch Dokumente Bestätigtes, Unwidersprechliches", „historische Denkmale" allem Einzelnen der Darstellung unterzulegen. 588 Hegel, der - auf der Suche nach einer die Widersprüche des Endlichen lösenden höheren substantiellen Wahrheit - rigoros hier einen Wert setzte, verlangte das „freie poetische Kunstwerk" als Ergebnis einer Aneigungstätigkeit, die, „wenn sie ihrem Stoffe nach den Boden der Geschichtsschreibung betritt", die Umwandlung der unmittelbaren Wirklichkeit schlechthin zu ihrem Hauptgeschäft hat. Für die Poesie gilt es, eine abgegrenzte Totalität zu entwerfen, die mit dem Stoff der Wirklichkeit erfüllt, doch von ihr unabhängig zu sein hat, weil sie das E x i stierende mit seinem innersten Wesen in versöhnenden Einklang bringen soll. Dementsprechend wurde das System der Gattungen auch von jenen Darstellungsweisen befreit, die die Bindung an das, „ w a s vorliegt und w i e es vorliegt", auf der Stirn trugen. 589 (Die aufgehobene Beziehbarkeit des durch einen literarischen Text Vermittelten auf konkrete Realität wurde dann später - unter der Bezeichnung Fiktionalität - zu dem wichtigsten unterscheidenden Kriterium des „sprachlichen Kunstwerks" 5 9 0 . Nicht die Bindung an das Ideal, sondern die Entbindung von Realität machte hier den Wert der Dichtung aus. D i e inzwischen reicher entfalteten dokumentarischen Gattungen und die sie prägenden Darstellungsweisen des Berichtens wurden dabei aus dem Bereich der ästhetischen Aneignungsarten verbannt.) Der klassische Begriff autonomer Dichtkunst entwickelt sich in dieser doppelten Abgrenzung. Argumentationen zur Aneignungs- und zur Kommunikationsspezifik der Funktion von Kunst gehen darin Hand in Hand: D i e zweifache Ausgliederung will der Dichtung ästhetisches Wirksamwerden sichern und als dessen Voraussetzung
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das zur gerundeten Totalität gestaltete Werk. Nur als ein gehaltreich einheitsvoller und selbständiger Organismus vermag es (nach diesem Konzept), auf poetische Weise - die Prosa der Zwecke und der tatsächlichen Geschichte überschreitend - lebendig wieder ins Leben einzutreten. Mit dem Epischen, Dramatischen, Lyrischen ist das Feld für die Möglichkeit solcher organischen Werke abgesteckt. Der geschichtliche Prozeß zeigte nun immer wieder - die Beschränktheit des so bestimmten ästhetischen Feldes. In dem Maße, wie andere als die in der klassischen Theorie vorausgesetzten Bestimmungen der gesellschaftspraktischen Funktion der ästhetischen Aneignungsweise gültig wurden, wie Kunst in eine energischere Beziehung zur gesellschaftlichen Bewegung gebracht und der Künstler als Teil dieser Bewegung aufgefaßt wurde, mußten auch die klassischen Bestimmungen der aneignungsspezifischen Funktion des ästhetischen Bewußtseins und der zu ihr gehörenden organischen Formen ungültig werden oder doch unzureichend erscheinen. „Literatur" und „Dichtung" konnten dabei Gegensätze werden - und die „Literatur" darin war (wie auch immer verschieden) von der Öffnung gegen die Weisen und Formen des Rhetorisch-Operativen oder des Geschichtlich-Dokumentarischen geprägt. Es entstand ein breites Feld literarischer Aneignungsarten, für die der definierte Begriff von Dichtkunst - das zur abgerundeten Totalität gebrachte Werk - nicht bindend war. Jedoch wurde - unter dem Druck der klassischen Theorie - für dieses Feld keine Erklärung gefunden, die verbindlich einen anderen Zusammenhang der genannten Darstellungsweisen und -formen vorschlagen konnte. Sie erschienen sehr oft einfach als „Mischformen" oder als „Abweichungen" von einer Norm, z. B. auf dem Feld der Prosa als Mischform von episch-künstlerischen und unkünstlerischen Momenten, als Abweichung vom epischen Erzählen. Und sie mußten so erscheinen, solange die ästhetisch bestimmte sprachliche Aneignungsweise auf die drei Dichtweisen des klassischen Schemas reduziert wurde. Die Bezeichnung des gesamten Feldes als „episch" steht im Banne dieser Verfahrensweise. Damit aber wird nur ein schmaler Zugang zur Erkundung des vielfältigen Bereichs Prosa eröffnet. Ein breiterer Zugang wäre sofort gegeben, wenn sich herausstellte, daß es vielleicht elementare, ästhetisch bestimmte, sprachliche Formierungsweisen gibt, die doch nicht „Dichtkunst" werden (im Sinne des abgerundeten Werkes und der Fiktionalität der das ästhetische Ideal präsentierenden Darstellung). Die Vielfalt des Feldes, das sich den Bestimmungen der „Dichtkunst" nicht fügt und das wir 21
Schiens tedt
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doch nicht den wissenschaftlichen oder publizistischen Aneignungsweisen zuschlagen wollen, könnte so eine positive Erklärung finden, wie sie ausgehend vom triadischen Schema nicht möglich ist. In einer neueren gattungstheoretischen Untersuchung wurde gesagt: „Die Dreiheit der Grundbegriffe ,episch-lyrisch-dramatisch' aber ist bisher noch kaum in Frage gestellt worden. Niemand hat das Fundament noch einmal überprüft, auf das überall gebaut wurde."' 9 1 Und es wurde von dieser Kritik aus (im System eines Denkens, das die Formierungsweisen mit Emil Staiger als Ausdruck von allgemeinmenschlichen Grundhaltungen begriff) vorgeschlagen, die Triade zu erweitern: durch eine Formierungsweise, die ihre Eigenart in einem akzentuierten, ausgestellten (agitatorischen, didaktischen, kokettierenden usw.) Publikumsbezug findet. Der Vorschlag, so wird erkennbar, will darauf hinaus, von dem klassischen Dichtungsbegriff ausgeschlossene Formierungsarten, welche dort auf der Seite der „Redekunst" stehen, als im engeren Sinne literarische Gattungen zu verstehen. E r verknüpft sich folgerichtig mit einer Polemik gegen die Idee vom autonomen (nichtzweckbestimmten) Charakter ästhetischer Aneignungsart. Zweifellos existiert eine solche Formierungsweise, existieren von ihr bestimmte Gattungen tatsächlich. Problematisch ist freilich ihr ästhetischer Charakter (wenn wir den nicht allein in der sprachlichen Artistik finden wollen). Unsere Untersuchung ergab, d a ß sich das Interesse oder Desinteresse f ü r diesen ästhetischen Charakter historisch-gesellschaftlich herstellt. Sie ergab auch, d a ß die Schwelle, die zwischen der ästhetischen (auf allgemeine Praxis zielenden) Aneignungsweise und der rhetorisch-operativen (im Rahmen des Praktisch-Geistigen bleibenden) Aneignungsweise liegt, unter bestimmten geschichtlich-sozialen Bedingungen an verschiedenem O r t und verschieden hoch angesetzt werden kann. Nicht die Manifestationen allgemeiner ewiger „Grundhaltungen" - sowieso nur theoretische Abkürzungen f ü r Interiorisationen kommunikativen Verhaltens - sind wissenschaftlich interessant, sondern die aneignungs- und kommunikationsspezifischen Bedingungen, unter denen sich Möglichkeiten der Formierungsweisen jeweils historisch in Gattungen ausprägen. Für unsere Literatur gilt heute eine zweifache Bewegung: Eine durchaus erhöhte Aufmerksamkeit auf die Publikumsbeziehungen der literarischen Arbeit führt auch zu betont publikumsbezogenen Formzügen der Prosagattungen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein rhetorisch formiertes Verhältnis zwischen Autor und Leser und deshalb auch nicht um didaktische, agitatorische Formbildungen. D i e Zuwen322
dung zum Leser unter der Funktion kollektiver Verständigung zielt vielmehr eher auf die Anregung zur Reflexion, zur Problematisierung des selbstverständlich Scheinenden (und auf entsprechende Formen), also auf eine Art der literarischen Tätigkeit, die sehr wohl im Raum des Ästhetischen (als einer allgemeinen Praxis) situiert ist. Läßt sich nun auch auf der Seite der Geschichtsschreibung, unter den ebenfalls von der klassischen Ästhetik aus der Dichtkunst verbannten dokumentarischen Gattungen eine elementare ästhetische Formierungsweise ausmachen? Es scheint, als habe schon Hegel sie beschrieben. In seiner Ästhetik fungiert das Epigramm an eigenartiger Stelle. Es steht mit doppelter Zuordnung am Beginn der konkreten Überlegungen zum Epischen und zum Lyrischen. Der scharfe Beobachter Hegel sah hier mehr, als er zu erkennen vermochte, eine einfache, zusammengezogene Darstellungsart, welche „aus der konkreten Welt und dem Reichtum veränderlicher Erscheinungen das in sich selbst Begründete und Notwendige herauszuheben" und auszusprechen sucht, zugleich eine Darstellungsart, welche die Möglichkeit hat, nicht nur auszusagen, „was die Sache" ist, sondern „an diesen Ausspruch irgendeine Empfindung zu knüpfen" und den „Inhalt dadurch aus seiner sachlichen Realität heraus ins Innere" hineinzuverlagern. Lösen wir uns von Hegels engeren Bestimmungen, so wird erkennbar: Das Epigramm, wie es hier gut beschrieben wird, ist nicht episch (erzählende Ausbreitung von Begebenheit) und nicht lyrisch (SichAussprechen eines Subjekts); es hat seine eigene Weise - die Hervorbringung eines gedrängt erklärenden, auf ein menschliches Interesse weisenden Textes, der „gleichsam als eine geistige Hand nach etwas hindeutet" und dabei ein außerhalb von ihm existierendes Objekt zum bedeutenden, wertrepräsentierender Gegenstand konstruiert. "92 Man könnte diese Weise „das Epigrammatische" nennen. Die Formierungsweise des Epigrammatischen ist nicht auf den Formtyp des Epigramms beschränkt (sowenig etwa wie das Epische auf das Epos). Wir finden sie in komplexen Formen wieder, in den Prosaformen des Berichts, der Beschreibung, der Autobiographie, des Essays. Sie geben beschreibend, berichtend, erzählend oder in raschen Synthesen mit, worauf sie zeigen, was sie erklären, was sie bedeutsam machen: die Sache. Sie bleibt hinter der Darstellung immer noch aufgerufen, auch wenn die Autoren sie nun nicht mehr vor sich haben, wenn sie sich ihrer vielleicht erinnern, über sie aus der Ferne nachdenken. In den zugrunde liegenden Aktionen dieser Art regiert die Struktur des Epigrammatischen: Bezug auf eine konkrete Reali21*
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tat, ideelle Verwandlung dieser Realität in einen bedeutenden, wertrepräsentierenden Gegenstand, Aussage dieser Bedeutung, dieses Werts als Bedeutung und Wert der „Sache" selbst. Den Springpunkt dieser Formierungsweise - die deshalb auch sowohl dem Epischen wie dem Lyrischen zuzuordnen war, deren Anerkennung aber tatsächlich manche jetzt bestehende theoretische Schwierigkeit bei Gattungsbestimmungen lösen, vermeintlich dominant Lyrisches oder Episches als dominant Epigrammatisches erweisen würde - können wir in der Besonderheit ihrer Art von Organisation des Verhältnisses von ästhetischem Gegenstand und Realität sehen sowie in der Besonderheit der damit im Zusammenhang stehenden kommunikativen Intentionen. Sie operiert nicht mit Fiktionen, sondern mit idpellen Gestalten am Material der Realität, insofern als das, was auf der Ebene ihres Hindeutens oder ihres Beschreibens, Berichtens, Erzählens, bildhaften Raffens erscheint, Anspruch auf eine konkrete Entsprechung in der Realität erhebt und insofern als für das, was auf der Ebene der ausgesprochenen Urteile des Subjekts erscheint, der Autor eine ernsthafte Verantwortung übernimmt: Er selbst spricht sich hier aus und weist uns auf das, was er als bedeutsam empfand; er stellt uns mit seiner Form nicht in eine „zweite Wirklichkeit", sondern läßt uns in der „ersten". Selbständig in sich ruhende poetische Gestalten, wie sie die klassische Ästhetik für die Dichtung verlangte, kommen so nicht zustande. In jedem Text der Alltagsrede, der Publizistik, der Wissenschaft kann mehr oder weniger epigrammatisch operiert werden. Wo dies geschieht, erhält er - punktuell oder durchgreifend - einen ästhetischen Charakter. Ob diese Art von Weltaneignung in solchen Texten untergeordnete oder in eigenen Gattungen selbständige Wichtigkeit erlangen kann, ist wieder nicht Sache von allgemeinen Grundhaltungen. Es ist dies abhängig von dem Maß der Freiheit, nach dem Menschen zu den Tatsachen des Lebens selbst ein Verhältnis eingehen können, das sich ganz auf die erfaßbaren Bedeutsamkeiten und Werte konzentriert, das somit ästhetisch wird. Und es ist dies abhängig von dem System gesellschaftlichen Bewußtseins, in dem jede aktuelle literarische Tätigkeit steht, von der gesellschaftspraktischen Funktion, die darin dem Ästhetischen gegeben wird. Wieder ist eine zweifache Bewegung in unserer Literatur ein Hinweis auf diese Historizität. Die verstärkte poetologische und praktische Akzentuierung dokumentarischer Momente steht nicht im Gegensatz zum prononcierten Bekenntnis zur Eigenart ästhetischer Weltaneignung. Die strik324
tere Wirklichkeitsbindung setzt sich in epigrammatischen Gattungen und nicht in publizistischen oder historiographischen Formen durch: Der Fluchtpunkt der gesetzten Perspektiven ist ästhetischer Art (und nicht von der Art der aktuellen Information oder der theoretischen Erkenntnis). Solange die direkt leserbezogenen oder die epigrammatischen Formierungsweisen in ihrer eigenartig gattungsbildenden Kraft nicht erkannt werden, wird die Theorie dominant leserbezogene oder epigrammatische Formierungen als episch oder lyrisch erfassen und so nur unzureichend erklären, wird sie z. B. das Epische als Zentrum der Prosa ansehen und verkennen, daß diese sich in mehreren Dimensionen strukturiert, die jeweils mit unterschiedlicher Kraft zur Geltung gebracht werden können. Dies könnte der poetischen Praxis in Produktion und Rezeption gleichgültig sein, wenn nicht die - literaturkritisch, pädagogisch, Verlags- und bibliothekstechnisch vermittelten - Zuordnungen produktions- und rezeptionslenkend wirkten und wenn dabei nicht Normierungen beteiligt wären, die geeignet sind, die Entfaltung der Literatur zu behindern. Die literaturpraktischen Auswirkungen der Typenbildung, wie sie in den Bestimmungen der Gattungen, der Darstellungsweisen vorliegt, treten deutlich hervor, wenn wir uns den bis in unser Denken hineinreichenden klassischen Begriff des Epischen vor Augen halten. Wir berühren damit einen zweiten problematischen Aspekt des Versuchs, das Feld der Prosa als Feld von Epik zu begreifen. Im philosophischen Raster der Objekt-Subjekt-Beziehungen, die für Hegel den Einteilungsgrund der Darstellungsweisen abgaben, wurde die epische Poesie als die Weise bestimmt, „das O b j e k t i v e selbst in seiner Objektivität" herauszustellen. Damit war sie gegen die lyrische Poesie abgegrenzt, deren Inhalt und Form die innere Welt, das betrachtend-empfindende Gemüt, das Sich-Aussprechen des Subjekts sein soll; abgegrenzt auch gegen die dramatische Poesie, in der die Handlung als Objektivität, die aus dem Subjekt kommt, und als Subjektivität, die zur Realisation gelangt, Inhalt und Form abzugeben hat. Spezieller ist das Epische (unter der allgemein von Hegel der Dichtkunst zugemessenen Aufgabe, eine einheitsvolle Totalität herzustellen) die Weise, in der „Form der äußeren Realität . . . die entwickelte Totalität der geistigen Welt" vor der inneren Vorstellung vorüberzuführen, eine „in sich totale Handlung sowie die Charaktere . . . in Form des breiten Sichbegebens" (und nicht in der Vorstellung und lebendigen Leidenschaft eines Erzählers) poetisch zu 325
berichten. 593 Solche Bestimmungen haben wieder als vernünftige Abstraktionen aus der Kunstpraxis Sinn und konnten sich deshalb - in theoretisch-weltanschaulicher Variation - allgemeiner durchsetzen. Freilich vermochten sie schon auf den Roman keine rechte Anwendung zu finden. Dies wird bereits bei Hegel klar, deutlich auch bei Goethe, dessen Überlegungen zum Epischen mit denen Hegels eine gewisse Verwandtschaft haben. Die epische Dichtweise macht es zu ihrem Geschäft, so hatte Goethe zu verstehen vorgeschlagen, klar „erzählend den Verlauf einer gewissen bedeutenden Handlung dem Hörer vorzuführen", so daß dieser - hier verbindet sich bei Goethe die Abgrenzung des Epischen vom Dramatischen (vom PersönlichHandelnden) mit der Abgrenzung des Epischen vom Lyrischen (vom Enthusiastisch-Aufgeregten) - wenig oder gar nicht dabei „mitzuwirken, sondern sich nur lebhaft aufnehmend zu verhalten" habe. Beim Roman aber wird nun nicht mehr wie beim Epischen vom Dichter-Rhapsoden gesprochen, der, bloß Stimme „hinter einem Vorhange", abstrahiert von „aller Persönlichkeit", „in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen" soll.594 Der Roman wird als „subjektive Epopee" bestimmt, in welcher der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln, in welcher nun alles darauf ankommt, daß er eine Weise hat. 595 Gerade das Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Momenten in der Darstellung des Romans erwies sich für die theoretische Reflexion im weiteren geschichtlichen Verlauf zunehmend als unepisch (im angeführten Sinn). Thomas Mann brachte später eine lange Entwicklungstendenz des Romans - seine Konzentration nicht auf äußeres Leben und Handlung, sondern auf inneres Leben und seine Bewegung - auf das Kennwort der „ V e r i n n e r l i c h u n g der Erzählkunst". Den Verlust des Geschmacks „an grob aufregenden, robusten Abenteuern", den Verzicht auf große Vorfälle, das Streben zum „Interessantmachen des Kleinen" sieht er in diesem Prozeß gleichzeitig im Spiel.596 Das Erzählen in unserer Literatur bewegt sich noch in dieser Richtung. Episch, im Sinne eines Hinstellens von bedeutender Objektivität, operieren in unserer Literatur nur einige Autoren - und nur den Arbeiten von Anna Seghers, darunter auch manchen ihrer Erzählungen, kann dabei die Eigenschaft einer Vision zugesprochen werden, die gelassen an Gestalten wiederkehrenden Menschengeschicks die Totalität der Bedeutungswelt einer Epoche ahnbar macht, welche das Individuell- und Kollektiv-Subjektive, das An-den-Tag-Gebundene 326
überschreitet. Für die jüngere Literaturentwicklung ist eine andere Geste, ein anderes Verhalten zum Gegenstand und ein anderes kommunikatives Verhalten charakteristischer. Für sie gilt nicht allein jene Ausschnitthaftigkeit, zu der die Überdimensioniertheit der auf Romanlänge gebrachten Erzählung ebenso gehört wie die Unterdimensioniertheit des auf Erzählungslänge gebrachten Romans, die Lebendigkeit der Kurzgeschichte ebenso wie die mosaikhaften Kompositionen und Montagen kleiner Prosa. Für sie ist kennzeichnend das Ausstellen von Subjektivität, die aktuelle Konflikte durcharbeitet oder der Dialektik der Geschichte nachsinnt. Man beobachtet deshalb immer wieder: Konstituierung von Erzählerfiguren, die es erlauben, die Leser der Geschichten anzusprechen und Reflexion einzubringen; Einführung von Verfahren, die es gestatten, erzählerisches Material aus subjektiver Sicht zu unterbreiten, Erinnern, Nachdenken, Mutmaßen ins Zentrum zu rücken (in diesem Zusammenhang auch eine häufigere Verwendung zurückblickenden Erzählens, daher auch den Aufbau mehrerer Zeitebenen und überhaupt einen freieren Umgang mit der Chronologie). Und immmer mehr Autoren verfahren auch nicht rein episch im einfacheren Sinne des Erzählens - wie immer dies nun als „subjektive Epopee", als „verinnerlichtes" Erzählen verstanden wird. Die Entfaltung der epigrammatisch bestimmten Gattungen im Literaturensemble zeigt dies ebenso wie die größere Beweglichkeit der Bildung komplexer Formen durch die Akzentuierung gerade der epigrammatischen Momente, durch die Vereinigung des Erzählens mit dem Berichten oder dem essayistischen Reflektieren. Selbstverständlich wurde nicht die gesamte Literatur von diesen Bewegungen ergriffen. Sie traten aber gerade in zeitcharakteristischen Werken auf, setzten und setzen sich spürbar weiterhin durch. Man mag diese Bewegungen bedauern und in ihrem Zusammenhang von einer bedenklichen Subjektivierung oder Kopflastigkeit unserer Literatur sprechen. Die hier durchgeführte Analyse versucht begreifbar zu machen, wieso die genannten Tendenzen an einem bestimmten Punkt unserer gesellschaftlich-kulturellen literarischen Entwicklung entstanden sind und worin für eine bestimmte Zeit ihre Produktivität liegt. Das schließt die Anerkennung des Moments von relativer Diskontinuität ein, das auch in der Formbildung zu beobachten ist. Vom Negierten her formuliert, handelt es sich bei den neuen Formtendenzen um Tendenzen der Kritik an dem früher bestimmenden Versuch, Wirklichkeit im Entwicklungs- oder Gesellschaftsroman, in fiktiona327
len Darstellungswelten mit breitem äußeren Begebenheits- oder Handlungsverlauf, mit der Selbstverständlichkeit erreichter historischer Repräsentanz, mit dem Schein von Objektivität zu erfassen. Die Vorstellung der neuen Formideen - die keineswegs als gänzlich neu, doch aber in unserer Literatur als neu anzusehen sind - , wie sie als erster Werner Bräunig in Prosa schreiben. Anmerkungen vitn Realismus gab, zielte z. B. schon genau auf diesen Punkt. Distanz wird hier gefordert, die Raum gibt, „zwischen Autor und Erzähler, Erzähler und Figur, Figur und Leser", die nicht zu unbewußt bleibenden Identifizierungen auffordert, die die vorgetragenen Meinungen kenntlich macht, die nicht den Eindruck erweckt, „als werde objektive Welt objektiv mitgeteilt und nicht, wie das nicht anders sein kann, mittels der Welterfahrung und W e l t a n s c h a u u n g des S u b j e k t s Autor". Und, so meint Werner Bräunig, es gehen die Ideen, es geht ein so wichtiger Gedanke wie „Freundlichere Zeiten kommen nicht, sie müssen gemacht werden" nicht voll auf im Bilde objektiven Gangs. Die Prosa vermag sie einzuweben „ins Getane und Unterlassene, ins Innere einzelner und ins Gemeinsame vieler, ins Gelebte, das aufgehoben ist für künftiges Leben".597 Wichtige Züge der Formveränderung und ihres funktionalen Zusammenhangs sind hier auf essayistische Formeln gebracht worden. Sie offenbaren zugleich auch den polemischen Charakter der neuen Versuche. Warum trotz der in der Geschichte der Literatur längst gewonnenen Einsichten diese neue Polemik nötig war, ist in dem Umstand begründet, daß im Rahmen des marxistischen ästhetischen Denkens erneut eine Bindung des Romans an das epische Prinzip der Objektivität und Totalität stattgefunden hatte und darüber hinaus die Formen des Berichtens, Beschreibens, Reflektierens mit einiger Vehemenz aus dem Rahmen der ästhetischen Aneignungsweisen herausgestellt worden waren. Große Epik, worunter hier u. a. der Formtyp des Romans verstanden wird, hat nach Georg Lukäcs „objektive ä u ß e r e Welt" darzustellen, „das innere Leben des Menschen nur so weit, soweit seine Gefühle und Gedanken sich in Taten und Handlungen, in einer sichtbaren Wechselwirkung mit der objektiven, äußeren Wirklichkeit zeigen". Und sie hat ein „ t o t a 1 e s B i 1 d der objektiven Wirklichkeit" zu geben, sie erhebt „Anspruch auf die Gestaltung der Totalität des Lebensprozesses" der Gesellschaft. Dem Erwecken des rezeptiven Erlebnisses, ein „gestaltetes, lebendiges Abbild der Totalität des Lebens" vor sich zu haken, verdankt die große Epik (wie auch die 328
Tragödie) „ihre tiefe Wirkung, ihre zentrale und epochale Bedeutung im ganzen Kulturleben der Menschheit". Und deshalb gilt es, „echt episch" zu erzählen. Zwar sinkt in der Realität Lukacs zufolge das „dichterische Niveau des Lebens", aber die „wirkliche E p i k " darf sich nicht „aus gesellschaftlichen Gründen" den „Sinn für das Wichtigste am epischen A u f b a u " verwirren lassen. D i e „innere Poesie des Lebens ist die Poesie des kämpfenden Menschen, der kampfvollen Wechselbeziehungen der Menschen zueinander in ihrer wirklichen Praxis". „Kampfvolle und verschlungene Wechselwirkung zwischen ihren Menschen" hat deshalb die epische Darstellung „mit Hilfe der F a b e l " zu gestalten, und dies derart, daß der „Leser . . . in dem reichen Gewebe sich vielfältig verschlingender Motive von dem allwissenden Autor geführt wird, der die besondere Bedeutung jeder an sich unscheinbaren Einzelheit für die endgültige Entwirrung, für die endgültige Offenbarung der Charaktere genau kennt", und der den Leser „sicher" macht, ihn in der Welt der Dichtung „beheimatet". 598 D i e über lange Jahre hinweg, zum Teil bis heute wiederholte Kritik an der sogenannten Subjektivierung, Intellektualisierung oder Lyrisierung „des" Epischen, die Forderung nach dem großen Gesellschaftsroman; die Schwierigkeiten, denen die „entfabelten" Darstellungen in der Kritik begegneten, das Verlangen nach linearen Darstellungen; die Notwendigkeit, daß sich Autoren um die „Gleichberechtigung" der kurzen Geschichte als Mittel sozialistischer Wirklichkeitsaneignung besonders bemühen mußten; die Vorstellung, daß der Bericht seinen Wert vor allem als Vorform des Romans habe; die Polemik mit berichtenden, beschreibenden, reflektierenden Verfahren usw. - dies alles zeigte die Konsequenzen der vorgenommenen Normierungen des (epischen) Romans für die literaturpraktischen Orientierungen an. Was sich im Lichte der Kategorie des Epigrammatischen als „legitime" ästhetische Formierungsart erweist - das gerade erschien hier als ästhetisch „illegitim". E s ging nun bei der Verteidigung des Epischen im Kern nicht um einen Traditionalismus abstrakt der Form, obgleich dies in der Literaturkritik mitunter vergessen wurde. Vielmehr herrschte hier die Vorstellung, daß die in bestimmter Weise interpretierte ästhetische Funktion allein durch bestimmte Formen realisiert werden kann, der Aufruf unzerstückelter Menschlichkeit, unentfremdeten Daseins nur durch das Dichterisch-Typische, das Dichterisch-Gestaltete der geschlossenen Form. Lukacs, bei dem der Zusammenhang deutlich zu329
tage tritt, folgte dabei dem klassischen Programm. Innerhalb des sinkenden dichterischen Niveaus des Lebens, nämlich der „prosaischen Ordnung" der „vorgefundenen Verhältnisse der neueren Zeit", wie es bei Hegel heißt, hat Kunst die verlorene Selbständigkeit und Totalität der Gestalten zu rekonstruieren - durch ausgeführte Figuren etwa der „Empörung gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft selbst". Nur so sah Hegel - und ähnlich Lukács - das Interesse und Bedürfnis „einer wirklichen, individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit" ausdrückbar und aufrufbar, ein Interesse und Bedürfnis, das uns nicht verlassen kann und wird, „wir mögen die Wesentlichkeit und Entwicklung der Zustände in dem ausgebildeten bürgerlichen und politischen Leben als noch so ersprießlich und vernünftig anerkennen". 599 Es ist bekannt, daß in der so angelegten Ästhetik die Formen des unaufgehobenen Widerspruchs systematisch unterschätzt werden mußten. Die Untersuchungen haben gezeigt, wie auch über diese Formen - und über die in sie eingeschlossene Kritik an idealisierenden Rekonstruktionen der Gestalt individueller Selbständigkeit und bewegter Lebenstotalität - Grundintentionen des klassischen ästhetischen Programms verfolgt, Aufrufe eines utopisch-emanzipativen Interesses und Bedürfnisses angelegt werden können. Gerade die nichtepischen Prosagattungen eröffneten dafür Möglichkeiten. Aber auch dort, wo Literatur schlichter, frei von der Emphase des ästhetischen Ideals unter das Gesetz des Austauschs wesentlicher und wichtiger individueller und kollektiver Erfahrung und Ansicht gestellt wurde, bewährten sich die nichtepischen Formierungsweisen. In unserer Gegenwart ist die Entfaltung der von ihnen bestimmten Prosa mit der Herausbildung der Literatur kollektiver Selbstverständigung eng verbunden: Gerade diese nichtepischen Formierungsweisen - wenn auch nicht nur sie, die auf die geschlossene Gestalt im literarischen Bild der Wirklichkeit verzichteten, die sich so auch für die Widersprüche des Lebens bereitwilliger öffneten - gaben neue Möglichkeiten des Entdeckens von Realität, gaben neue Möglichkeiten sozialer Kommunikation, die sich als Gespräch darstellt, gaben Möglichkeiten aktiver Mitarbeit in der Bildung neuen Bewußtseins über uns selbst und über unsere Welt.
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Anmerkungen
Abkürzungen Auskünfte Die Tendenz in der reinen Kunst Erfahrungen Erlebnis und Gestaltung Eröffnungen GLL
Grundrisse GW
Hermann Kant: Referat auf dem VII. Schriftstellerkongreß Lesen und Schreiben
Literatur und Kunst LW
Auskünfte. Werkstattgcspräche mit DDR-Autoren. Hg. v. Anneliese Löffler. Berlin-Weimar 1974. Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bd. 1: Tendenz in der reinen Kunst. Bearb. u. eingel. v. Sigrid Bock. Berlin 1970. Franz Fühmann: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock 1975. Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bd. 2: Erlebnis und Gestaltung. Bearb. u. eingel. V. Sigrid Bock. Berlin 1971. Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk. Hg. v. Gerhard Schneider. Berlin-Weimar 1974. Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Von Manfred Naumann (Leitung u. Gesamtredaktion), Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Kliche, Rosemarie Lenzer. Berlin-Weimar 1973. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (RoheDtwurf). 1857-1858. Berlin 1953. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. (Jubiläumsausg. in 40 Bdn.) Hg. v. Eduard v. d. Hellen u. a. Stuttgart-Berlin 1902-1912. Hermann Kant: Unsere Werke wirken in der Klassenauseinandersetzung. In: VII. Schriftstellerkongreß. Christa Wolf: Lesen und Schreiben. In: Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen. Berlin-Weimar 1972. Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 1 u. 2. Berlin-Weimar 1966. W. I. Lenin: Werke. 40 Bde. Hg. v. Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1959-1968.
331
MEW
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 (u. 2 Erg.-Bde., 2 Verz.-Bde.). Hg. v. Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-1971.
ND
Neues Deutschland. Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. (Ausg. B) Berlin. Neue Deutsche Literatur. Hg. v. Schriftstellerverband der DDR. Berlin. Volker Braun: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. Leipzig 1975. Anna Seghers: Die Aufgaben des Schriftstellers heute. Offene Fragen. In: Die Tendenz in der reinen Kunst. Anna Seghers: [Rede auf dem II. Deutschen Schriftstellerkongreß 1950]. In: Ebenda. Anna Seghers: Der Anteil der Literatur an der Bewußtseinsbildung des Volkes. In: Ebenda. Anna Seghers: Die Tiefe und die Breite in der Literatur. In: Ebenda.
NDL Notate Rede auf der ersten Jahreskonferenz Rede auf dem stellerkongreß Rede auf dem stellerkongreß Rede auf dem stellerkongreß Rede auf dem stellerkongreß
IT. SchriftIV SchriftV. SchriftVII. Schrift-
Schmetterlinge IV. Schriftstellerkongreß
V. Schriftstcllerkongreß
VI. Schriftstellerkongreß
VII. Schriftstellerkongreß
VII. Schrittstellcrkongreß. Arbeitsgruppen TSR
332
Anna Seghers: Der sozialistische Standpunkt läßt am weitesten blicken. In: VII. Schriftstellerkongreß. Joachim Walther. Meinetwegen Schmetterlinge. Gespräche mit Schriftstellern. Berlin 1973. IV. Deutscher Schriftstellerkongreß v. 9. bis 13. 1. 1956. Teil 1 u. 2. Protokolle. Hg. v. Deutschen Schriftstellerverband. Berlin 1956 (Beiträge zur deutschen Gegenwartsliteratur). V. Deutscher Schriftstellerkongreß v. 25. bis 27. 5. 1961. Referate und Diskussionsbeiträge. Hg. v. Deutschen Schriftstellerverband. Berlin 1962. VI. Deutscher Schriftstellerkongreß v. 28. bis 30. 5. 1969. Protokoll. Hg. v. Deutschen Schriftstellerverband. Berlin-Weimar 1969. VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik v. 10. bis 16. 11. 1973. Protokoll. Hg. v. Schriftstellerverband der DDR. Berlin-Weimar 1974. Ebenda. Zur Theorie des sozialistischen Realismus. Autorenkollektiv. Gesamtleitung Hans Koch. Berlin 1974.
Warum schreiben WB
Günter Kunert: Warum schreiben. Notizen zur Literatur. Berlin-Weimar 1976. Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. BerlinWeimar.
1 Die im literarischen Alltag leicht zugängliche Beobachtung, daß die an Prosa gebundenen Literaturinteressen dominieren, wird jetzt durch eine empirische Untersuchung präzisiert (vgl. Dietrich Sommer u. a.: Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst. Berlin-Weimar 1978). Es konnte hier die These aufgestellt werden: „In der gegenwärtigen Gesellschaft bedeutet Lesen (von Literatur im engeren Sinn D. S.) die Lektüre von Prosa-Literatur." (S. 295) 61 Prozent der Leser nämlich gaben Romane, 18 Prozent Erzählungen und Kurzgeschichten, dagegen nur 2 Prozent Theaterstücke bzw. Gedichte als bevorzugte Interessenrichtung an. Die Art der erhebenden Frage führte dazu, daß hier die Wichtigkeit der berichtenden Literatur (etwa der Reportage) nicht erschien - sie trat jedoch im Zusammenhang mit der Erkundung der Lesemotivationen und der bevorzugten Stoffe im Interessenfeld deutlich hervor. Erst dies begründet, weshalb wirklich von Prosa (und nicht von erzählender Literatur) gesprochen werden muß. 2 Hermann Kant: Referat auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 36. 3 Ebenda, S. 32-33. 4 Die zitierte Wendung ist entnommen aus Horst Redeker: Über die ästhetische Funktion des subjektiven Elements in der Kunst. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6 (1958), S. 104. 5 Horst Redeker: „Abbildung und Aktion". Versuch über die Dialektik des Realismus. Halle 1967, S. 7. - Welches Gewicht dieser Akzentwechsel hatte, wird auch deutlich an dem Teil der - in der Folge sowjetischer Diskussionen stehenden - Debatte über die sog. Grundfrage der Ästhetik, über die Frage nach der objektiven Existenz des Ästhetischen, wie er in den Weimarer Beiträgen zu beobachten war. (Vgl. Hans Koch: Marxismus und Ästhetik. Zur ästhetischen Theorie von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Berlin 1961; Norbert Krenzlin: Bemerkungen zu Hans Kochs Buch: Marxismus und Ästhetik. In: WB 9 (1963) 1; Hans Hejzlar: Weiterdenken oder Verwerfen? In: Ebenda, 10 (1964) 2.) Hier wurde der „Überbetonung des Gegenstandes" (Krenzlin, S. 131) und seiner Fassung als Erkenntnisobjekt bei der Suche nach einer objektiven Grundlegung der Ästhetik die Frage nach dem „Wie" der ästhetisch-künstlerischen Aneignung entgegengestellt und „die Tatsache" ins Feld geführt, „daß Kunst e i n p r a k t i s c h e s S c h a f f e n , G e s t a l t e n , M a c h e n ist" (Krenzlin, S. 135). Auf der anderen Seite - und das zeigt, daß es hier keineswegs
333
um einen Streit ging, der sich allein aus dem innertheoretischen Prozeß ergab, sondern vielmehr die F r a g e nach einer Ästhetik als einer angemessenen Kunstprogrammatik zur R e d e stand - wurde dagegen die Anerkennung der Objektivität des Ästhetischen geradezu als „Ausgang und Konsequenz des .Bitterfelder W e g e s ' " behauptet (Hejzlar, S. 2 5 0 ) . E s ist offenbar ein notwendiges Moment des auf der objektiven Existenz des Ästhetischen
be-
harrenden Konzepts, daß hier nicht allein die Rolle des Gegenstandes überhaupt, sondern die Rolle des Gegenwartsgegenstandes an die erste Stelle des kunstprogrammatischen Denkens gesetzt wird. Auch bei Iwanow z. B. erscheint beim gleichen Ausgangspunkt als spezielle Aufgabe der Kunst, „die unmittelbare, gegenwärtige Wirklichkeit,
das Leben und den Kampf
Menschen in der Periode des Aufbaus der kommunistischen
der
Gesellschaft
widerzuspiegeln". Hier aber wird - rigoroser - als eine verschwommene Auffassung von der Gegenwart, ja als Flucht vor den gegenwärtig bewegenden Problemen angesehen, wenn nicht „ein zeitgemäßes Thema, ein Gegenwartsthema",
sondern
eine „zeitgemäße
Behandlung
eines T h e m a s "
erscheint.
( W . Iwanow: D e r sozialistische Realismus. Berlin 1 9 6 5 , S. 1 1 7 . ) 6 Horst Redeker: „Abbildung und Aktion". Versuch über die Dialektik des Realismus. Halle 1 9 6 7 , S. 6 0 - 6 2 . - Den Akzent auf Praxis setzte Redeker schon in dem in Anm. 5 zitierten Aufsatz, als er, Möglichkeiten sozialistischer Kunst resümierend, schrieb: „ E s kommt darauf an, daß sich der Künstler nicht wie ein Spiegel zur Wirklichkeit verhält . . ., sondern selbst praktisch und unmittelbar daran teilnimmt." (S. 1 1 2 ) 7 Philosophisches Wörterbuch.
Hg. v. Georg Klaus u. Manfred Buhr.
10.
neubearb. u. erw. Aufl. Leipzig 1 9 7 4 , S. 1 2 5 9 . 8 Dazu verführt im übrigen der bisher ausgearbeitete Begriff von der Methode in der Theorie des sozialistischen Realismus. Methode nämlich - wie immer genauer dann die gegebenen Bestimmungen inhaltlich erfüllt werden und welches
Verhältnis auch
zwischen
Methode
und Realismus
gilt
-
wird
definiert als System von Schaffensprinzipien, durch das die Kunstschaffenden die künstlerische Widerspiegelung realisieren: Prinzipien der Auswahl, Darstellung
und
Bewertung
von
künstlerischen
Abbilds.
Iwanow:
sozialistische
Der
Lebenserscheinungen,
(Vgl.
die zusammenfassende Realismus.
Berlin
1965,
Aufbauprinzipien
des
Darstellung
bei
W.
S. 2 0 - 3 3 . )
Die
so
umschriebene Methode hat als Ausgangspunkt die gegenständliche
Wirk-
lichkeit, im Werk ihren Zielpunkt. Selbst in TSR, einem Buch, das einen komplexen Kunstbegriff vertritt, in dem mitunter darauf hingewiesen
wird,
d a ß das System der Methode auch die über das Werkschaffen hinausreichenden
gesellschaftlichen
wie
individuellen
Zielsetzungen
des
Schaffens
umgreift, erscheint in der zentralen Definition die Methode rein gnoseologisch als die „Art und Weise des Herangehens an einen Gegenstand, seiner geistigen Aneignung entsprechenden Gestaltung, Darstellung im Kunstwerk"
334
mit Hilfe des .Instruments' Methode d. h. der seinem .inhärenten M a ß ' (S. 3 9 2 ) . -
in der
gemäßen
Wird die Kunst „als F o r m
der
Arbeit" lediglich als Werkherstellungsprozeß aufgefaßt, ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Sie deuten sich in dem Aufsatztitel von Alfred Kurella Kunstwerk als Eigenwert klar an. Die kunsttheoretische Analyse wird hier auf die Untersuchung des „fertigen Werks" verpflichtet, des Werks als „Finalprodukt". Grundwert und Charakter der Kunst ist es danach, objektiv und abgeschlossen „P r o d u k t zu sein". Für solche Theorie ist der Umstand, daß das Produkt „seinen Weg in den Konsum" antritt, ein reines Nachher, einen Wert bezieht es daraus nicht. Diese Kritik richtet sich konkret nur gegen Verfahren empirischer Soziologie. Sie hat jedoch generelle Bedeutung insofern, als hier die Untersuchung des Werkes, seiner Produktionsweise, ausdrücklich gegen die Analyse von Wirkung gestellt wird, die über das „Wesen" des Werkes nichts sagen könne, es nur unterhöhle und auflöse. (Alfred Kurella: Kunstwerk als Eigenwert. In: Sinn und Form 21 (1969) 3.) Die in ähnlich angelegten Ästhetiken immer wiederkehrende Formel vom Sein des Kunstwerks, das offenbar dann unabhängig von den Menschen gedacht wird, die es w e r d e n lassen (vgl. Grundrisse, S. 13: „als Produkt, im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, w i r d das Produkt erst in der Konsumtion", „Produktion ist die Produktion nicht als versachlichte Tätigkeit, sondern nur als Gegenstand f ü r das tätige Subjekt"), weist darauf hin, wie schnell die Rückwandlung der Kunst in einen Betrachtungsgegenstand geschehen kann, wenn deren Tätigkeiten zwar als Arbeit, jedoch nicht als gesellschaftlicher Verkehr verstanden werden. 9 Es seien nur genannt: Günter K. Lehmann: Grundfragen einer marxistischen Soziologie der Kunst. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 13 (1965), S. 9 3 3 - 9 4 7 ; Horst Oswald: Literatur, Kritik und Leser. Eine literatur-soziologische Untersuchung. Berlin 1969; G L L ; Funktion der Literatur. Aspekte - Probleme - Aufgaben. Hg. v. Dieter Schlenstedt u. a. Berlin 1975 (Literatur und Gesellschaft); Dietrich Sommer u. a.: Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst. Berlin-Weimar 1978. 10 Dietrich Sommer: Zum Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur. In: Funktion der Literatur. Aspekte - Probleme - Aufgaben. Hg. v. Dieter Schlenstedt u. a. Berlin 1975, S. 70 (Literatur und Gesellschaft). Ein Begriff der Methode, der die mit dem Problemkreis der Funktion aufgeworfenen Zusammenhänge der künstlerischen Arbeit umschlösse, ist noch nicht befriedigend ausgearbeitet. Er hätte als Ziel nicht nur das Werk, sondern auch dessen Leistungen, als Ausgangspunkt nicht allein das Abzubildende oder Auszudrückende, sondern auch das Feld von Bewußtseinszuständen, auf das die poetische Aktion einwirken will. Damit hätte er auch die Literatur einzubeziehen. Als Gesetz erschiene nicht nur eine Aneignung des Gegenstandes, die seinem Wesen gemäß ist, oder die Aufrichtigkeit des Ausdrucks, sondern, in all dem, die Adäquatheit der Tätigkeit als einer sozialen Aktivität.
335
11 Vgl. Klaus Jarmatz: Der Fortschritt in den Künsten und seine theoretische Behandlung. In: Der Fortschritt in der Kunst des sozialistischen Realismus. Analysen und Aufsätze. Hg. v. Klaus Jarmatz u. Ingrid Beyer. Berlin 1974, S. 28. 12 Vgl. dazu in jüngster Zeit Werner Mittenzwei: Brecht und die Schicksale der Materialästhetik. In: Dialog 75. Positionen und Tendenzen. Berlin 1975. 13 Vgl. Erwin Pracht u. a.: Einführung in den sozialistischen Realismus. Berlin 1975, S. 2 0 9 - 2 1 8 ; TSR, S. 2 6 1 - 2 6 8 ; Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der DDR. 1945 bis 1968. Hg. v. Institut f. Gesellschaftswiss. b. ZK d. S E D . . . unter Leitung v. Werner Mittenzwei. Berlin 1972, Bd. 2. S. 2 2 1 - 2 2 7 ; Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Bd. 11: Autorenkollektiv. Leitung Horst Haase. Berlin 1976, S. 523-524. 14 Auch für die Literatur stellen der Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse auf dem Lande (1960), die Sicherung der Staatsgrenze der D D R (1961), die zusammenfassende Beantwortung der Grundfragen des umfassenden Aufbaus des Sozialismus im Programm des VI. Parteitages (1963) entscheidende Markierungspunkte im Übergang zu einer neuen Phase dar. Unmittelbar auf die Veränderung der Funktion der Literatur in der Gesellschaft wirkten die Anregungen der (später so genannten) ersten Bitterfelder Konferenz (1959). 15 Vgl. etwa Max Walter Schulz' Diskussionsbeitrag auf der ersten Jahreskonferenz des Deutschen Schriftstellerverbandes. (In: Deutscher Schriftstellerverband Mitteilungen. November/Dezember 1966. Beilage, S. 1 9 - 2 0 ) ; oder auch Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Günter de Bruyn in ihren Beiträgen in dem Band Eröffnungen (vgl. S. 122-124 in diesem Band). 16 Günther Deicke: Auftritt einer neuen Generation. In: Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller. Hg. v. Annie Voigtländer. Berlin-Weimar 1972, S. 36-37. 17 Kito Lorenc: Versuch über uns. In: Kito Lorenc: Flurbereinigung. Gedichte. Berlin-Weimar 1973, S. 52. - Vgl. dazu auch Silvia Schlenstedt: . . . reden von uns zu uns. In: Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl u. Patricia Herminghouse. Frankfurt/M. 1976, S. 335-353. 18 Die Ausdrücke „subjektive Authentizität" und „Diagnose der Befindlichkeit" sind charakteristische Stichworte von Christa Wolf bzw. Günter Kunert. 19 Zitiert wurden Äußerungen von Werner Neubert in dem NDL-Rundtischgespräch Wie „agitiert" Literatur? In: NDL 22 (1974) 10, S. 36-39. 20 A. K . Uledow: Die Struktur des gesellschaftlichen Bewußtseins. Eine soziologisch-theoretische Untersuchung. Hg. v. Werner Müller. 2. Aufl. Berlin 1973, S. 229. 21 Ebenda, S. 246-248. 22 Erwin Pracht u. a.: Einführung in den sozialistischen Realismus. Berlin 1975, S. 200.
336
23 Brief von Friedrich Engels an Margaret Harkness v. Anfang April 1882. In: MEW, Bd. 37, S. 43. 24 Erwin Pracht u. a.: Einführung in den sozialistischen Realismus. Berlin 1975, S. 200. 25 Hans Koch: Die Lebenskraft des sozialistischen Realismus. (I). Tiefe und Weite des „neuen Gegenstands". In: N D v. 3. 3. 1971, S. 3. 26 Vgl. Horst Redeker: „Abbildung und Aktion". Versuch über die Dialektik des Realismus. Halle 1967, S. 15-32. 27 Dieser Aspekt unserer Literaturentwicklung wird zum Thema in: Literatur und Geschichtsbewußtsein. Entwicklungstendenzen der DDR-Literatur in den sechziger und siebziger Jahren. Hg. v. Manfred Diersch u. Walfried Hartinger. Berlin-Weimar 1976. 28 Es sei hier auf den Akzent verwiesen, den Kurt Hager bei der Herausarbeitung der Einheit der kommunistischen Gesellschaftsformation auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungen setzt: „Die Praxis hat gezeigt, daß der Sozialismus eine sich dynamisch entwickelnde Gesellschaft ist. Wie recht hatte Lenin, als er darauf aufmerksam machte, daß im geschichtlichen Entwicklungsprozeß des Sozialismus eine Reihe von Übergängen erforderlich sind." (Kurt Hager: Der IX. Parteitag und die Gesellschaftswissenschaften. Rede auf der Konferenz der Gesellschaftswissenschaftler der DDR am 25. u. 26. November 1976 in Berlin. Berlin 1976, S. 12.) 29 Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Halle 1963, S. 272. 30 Vergleichbare Motive fanden sich wenig früher schon in Karl-Heinz Jakobs' Beschreibung eines Sommers (1962) und Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag (1962). 31 TSR, S. 267, 427-428. 32 Johannes Bobrowski: Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater. Berlin 1964, S. 5. 33 Es ist darauf hinzuweisen, daß Alfred Kurella im allgemeinen der gegenständlichen Orientierung, vorzüglich auf Gegenwartsstoff, größere Aufmerksamkeit schenkt. Vgl. Alfred Kurella: [Diskussionsbeitrag]. In: IV. Schriftstellerkongreß, Teil 2; ders.: [Diskussionsbeitrag]. In: V. Schriftstellerkongreß; ders.: Vom Wesen künstlerischer Erkenntnis. In: Alfred Kurella: Wofür haben wir gekämpft? Beiträge zur Kultur und Zeitgeschichte. Berlin-Weimar 1975. 34 Alfred Kurella: [Diskussionsbeitrag]. In: V. Schriftstellerkongreß, S. 251 bis 256. 35 Volker Braun in: Schmetterlinge, S. 100. 36 Jurij BrSzan: [Diskussionsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 182 bis 184. 37 Vom Wert der Geschichte. Interview mit Hermann Kant. In: Auskünfte, S. 274-276. 38 Vgl. Lesen und Schreiben, S. 176. 39 Vgl. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Halle 1968, S. 168, 235. 22 Schlcnstedt
337
40 Christa Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität. In: Eröffnungen, S. 172, 168. 41 TSR, S. 402. 42 Vom Wert der Geschichte. Interview mit Hermann Kant. In: Auskünfte, S. 276. 43 Rosa Luxemburg: Tolstoi als sozialer Denker. In: Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Marlen M. Korallow. Dresden 1972, S. 36. 44 Juri) Brezan: [Diskussionsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 186. 45 Das Revolutionäre in unseren Tagen. Interview mit Erik Neutsch. In: Auskünfte, S. 438. 46 Volker Braun: [Diskussionsgrundlage], In: VII. Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 80. 47 Vgl. Hermann Kant: Referent auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 41. 48 Vgl. Wolfgang Kohlhaase: [Diskussionsgrundlage]. In: VII. Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 13-14. 49 Anna Seghers: [Vorwort zum Roman „Die Rettung"]. In: Erlebnis und Gestaltung, S. 17. 50 Vgl. Kulturpolitisches Wörterbuch. Hg. v. Harald Bühl, Dieter Heinze, Hans Koch, Fred Staufenbiel. Berlin 1970, S. 181. 51 So tendenziell in der sog. materialistischen Literaturanalyse, wie sie zusammengefaßt vorgestellt wurde in: Redaktionskollektiv Alternative: 10 Thesen zur materialistischen Literaturanalyse. In: Alternative 19 (1976) 106, 5. 45-46. 52 Vgl. Kurt Hager: Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Referat auf der 6. Tagung des 2 K der SED, 6. u. 7. Juli 1972. Berlin 1972, S. 42. 53 Juri) Brezan: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. Schriftstellerkongreß, S. 152. Brezan wirft die Frage nach der Funktionsveränderung unserer Literatur ausdrücklich auf und bejaht sie. 54 Volker Braun: Wie Poesie? In: Notate, S. 81. 55 Grußadresse des ZK der SED. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 17. 56 Johannes R. Becher: Über Kunst und Literatur. Hg. v. Marianne Lange unter Mitarbeit des Johannes-R.-Becher-Archivs. Berlin 1962, S. 33-35. 57 Vgl ebenda, S. 2 8 2 - 2 8 3 .
58 Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 79 (vgl. auch S. 41, 49, 78, 145, 190, 199). 59 Hans-Joachim Hoffmann: Kunst ist enger denn je mit dem Volk verbunden. In: N D v. 21. 5. 1976, S. 8. 60 Vgl. Kurt Hager: Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Referat auf der 6. Tagung des ZK der SED, 6. u. 7. Juli 1972. Berlin 1972, S. 35-36. 61 Hanns Eisler: Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Übertr. u. erl. v. Hans Bunge. Gesammelte Werke. Begr. v. Nathan Notowicz. Hg. v. Stephanie Eisler u. Manfred Grabs. Serie 3. Bd. 7. Leipzig 1975, S. 237-247.
338
62 Peter Hacks: Vorwort: In Peter Hacks: Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Frankfurt/M. 1972, S. 10. 63 Werner Mittenzwei: Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriß der BrechtRezeption in der DDR. 1945-1975. Berlin-Weimar 1978, S. 152. 64 Zur Charakterisierung dieser Funktionstypen wurden Äußerungen von Günter Kunert, Fritz Selbmann und Wolfgang Schreyer herangezogen. Näheres dazu im Abschnitt Schreiben - Vorgang unter Leuten in diesem Band. 65 Vgl. dazu Anna Seghers: Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 19; auch: Wie „agitiert" Literaturt NDL-Rundtischgespräch. In: NDL 22 (1974) 10, S. 2 6 - 4 4 . 66 Grundrisse, S. 27. 67 Deutlich stößt z. B. Kant auf das Problem bei der Suche nach der Notwendigkeit in der Beziehung zwischen dem Schönen und dem Wohlgefallen, einer Beziehung, die weder theoretisch objektiv ist noch praktisch geregelt wird. Er findet sie - als Beziehung, die das bloß Angenehme überschreitet in der exemplarischen Notwendigkeit, die nicht apodiktisch ist und doch, als eine Art Sollen, als Anspruch, jedermann Beistimmung ansinnt. Das subjektive - Prinzip dieser Urteilsart liegt für ihn im Gemeinsinn, einem Sinn des Gefühls, das nicht als Privatgefühl, sondern als gemeinschaftliches, subjektiv-allgemeines auftritt, als eine Norm, die als wirklich geltend vorausgesetzt wird. Aus der entstehenden Antinomie einerseits, daß über den Geschmack sich nicht disputieren läßt (d. h. Einhelligkeit nicht durch Beweisgründe zu bewirken ist), andererseits, daß über den Geschmack aber zu streiten (d. h. auf notwendige Einstimmung anderer Anspruch zu machen) ist, rettet sich Kant mit der Annahme eines für jedermann gültigen übersinnlichen Substrats der Menschheit als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils (vgl. Immanuel Kant: Werke. Bd. 7. Kritik der Urteilskraft. §§ 55 bis 57). Die wirkliche Auflösung der Antinomie wird geahnt, wenn der Gemeinsinn in die Dialektik von Autonomie und Heteronomie, d. h. der Sache nach in die geschichtlich-gesellschaftliche Bewegung gespannt wird. Die rezeptiven Subjekte schöpfen Kant zufolge aus denselben Quellen wie der Urheber der exemplarischen Produkte, auf welch letztere sich die Urteile der genannten Art beziehen; sie a h m e n ihn nicht nach. Wohl aber f o l g e n sie nach, indem sie den Vorgängern die Art ablesen, wie sich dabei zu benehmen. Die kulturelle Bedingtheit dieser Urteile kommt in Sicht. Nach Kant sind sie - um nicht einer ersten Rohigkeit immer wieder zu verfallen - der Beispiele bedürftig, die Beifall gefunden haben. (Vgl. ebenda, §§ 30-32.) 68 Grundrisse, S. 26. 69 Vgl. dazu Dieter Sellenstedt: Prozeß der Selbstverständigung. In: WB 22 (1976) 12, S. 2 0 - 2 9 . 70 Vgl. Christel Berger: Zu einigen Aspekten der besonderen Rolle der Erfahrung im künstlerischen Schaffensprozeß. In: Klaus Jarmatz u. a.: Künstlerisches Schaffen im Sozialismus. Berlin 1975. 22*
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71 Bei der Unterscheidung von Adressat und Leser stütze ich mich auf: GLL, S. 52-79. Gegen die dortige Gleichsetzung von Adressat und dem „Bild . . . , das der Autor vom Leser, vom Publikum hat" (S. 33), wird in der vorliegenden Arbeit ein speziellerer, Intentionen des Autors einschließender Begriff vom Adressaten gesetzt. 72 Dieser Begriff unterscheidet sich vom „literarischen Erwartungshorizont", wie ihn Jauß eingeführt hat. (Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. 1970, S. 168-206.) - Später hat Jauß eingeräumt, daß seiner Einführung des Begriffs „Erwartungshorizont" die innerliterarische Herkunft anzusehen ist, daß der „Erwartungshorizont der Alltagsrealität" genauer beachtet werden müsse. (Vgl. Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachw. über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode: In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hg. v. Rainer Warning. München 1975, S. 392-393.) In dieser Richtung wird später noch weiter verdeutlicht, daß die Vorstellung von dem dem Werk implizierten innerliterarischen Erwartungshorizont (als Vorverständnis der Gattung, Form, Thematik) einseitig sei, ergänzt und klarer unterschieden werden müsse vom „gesellschaftlichen Erwartungshorizont", der von den lebensweltlichen Zusammenhängen vorgezeichnet ist: Nur dadurch werde die gesellschaftliche Funktion von Literatur erklärbar. (Vgl. Hans Robert Jauß: Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur. In: Poetica 7 (1975) 3-4, S. 325-345.) 73 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 91-92. 74 Vgl. Anna Seghers: Gedanken zu unserer Zeit. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 235. 75 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 93. 76 Vgl. Rede auf dem II. Schriftstellerkongreß, S. 81-84. 77 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 93. 78 Rede auf dem II. Schriftstellerkongreß, S. 84. 79 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 93. 80 Anna Seghers: Gedanken zu unserer Zeit. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 234. 81 Anna Seghers: [Zum Nachterstedter Brief]. In: Ebenda, S. 238. 82 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 93. 83 Anna Seghers: Der Künstler braucht die Hilfe der Partei. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 248. 84 Vgl. Rede auf dem II. Schriftstellerkongreß, S. 79-83. 85 Anna Seghers: [Zum Nachterstedter Brief], In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 238. 86 Anna Seghers: Der Künstler braucht die Hilfe der Partei. In: Ebenda, S. 248. 87 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 93. 88 Anna Seghers: Der Schriftsteller und die geistige Freiheit. [Rede auf dem
340
I. Deutschen Schriftstellerkongreß 1947]. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 69-70. 89 Ebenda, S. 74. - Es wird hier davon abgesehen, daß der Kontext der zitierten Passage auf das Ausland zielt. Später wird von Anna Seghers auch direkt erläutert, daß sie zwei Zusammenhänge parallelisiert: „Ich habe dieses Beispiel gebracht, weil alle Schriftsteller, die in fremde Sprachen übersetzt werden, schon an diesem Beispiel oft erleben, wie schwer manche Ausdrücke zu verdolmetschen sind. Es ist ziemlich schwierig, alle diese Punkte, die ich Ihnen eben aufgezählt habe, in einer Weise bewußt zu machen, daß sie der Leser sofort begreift." (Rede auf dem II. Schriftstellerkongreß, S. 83.) » 90 Rede auf dem II. Schriftstellerkongreß, S. 82. 91 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 133. - Anna Seghers beruft sich hier auf Überlegungen von N. P. Ochlopkow zum Thema „Konvention". 92 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 99. 93 Ebenda, S. 95. 94 Vgl. ebenda, S. 100-104. 95 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 117. 96 Anna Seghers: Der Künstler braucht die Hilfe der Partei. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 249. 97 Vgl. Anna Seghers: Aufgaben der Kunst, in: Ebenda, S. 198; Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 135. 98 Anna Seghers: [Rede auf dem III. Deutschen Schriftstellerkongreß 1952], In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 85. 99 Vgl. zum Zielgruppen-Konzept Anm. 270. 100 Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 157. 101 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 116. 102 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 105. 103 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 123. 104 Anna Seghers: Der Künstler braucht die Hilfe der Partei. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 248. 105 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 122. 106 Variiert wird eine Passage aus Bertolt Brecht: Die Maßnahme. In: Bertolt Brecht: Stücke. Bd. 4. Berlin 1955, S. 307. 107 Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 158. 108 Ebenda, S. 161-162. 109 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 137. 110 Anna Seghers: [Vorwort zum Roman „Die Rettung"]. In: Erlebnis und Gestaltung, S. 117. 111 Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 19. 112 Vgl. Rede auf dem V. Schrifstellerkongreß, S. 138. 113 Ebenda, S. 132. 114 Anna Seghers: Der Künstler braucht die Hilfe der Partei. In: Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 248.
341
115 Anna Seghers: Ansprache in Weimar.
[Rede auf dem
internationalen
Schriftstellertreffen 1965]. I n : Ebenda, S. 149. 116 Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 156. 117 Rede auf dem V I I . Schriftstellerkongreß, S. 16. 118 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 120. 119 Ebenda, S. 122. 120 So schon in der Rede auf dem I V . Schriftstellerkongreß (vgl. S. 107). 121 Hermann K a n t : Referat auf dem V I I . Schriftstellerkongreß, S. 33. - Kant beruft sich hier auf Ausführungen von Erich Honecker. 122 Vgl. Hermann Kant:
[Diskussionsbeitrag]. In: VI.
Schriftstellerkongreß,
S. 8 ? . 123 Das Bekenntnis zur aktiven Bewältigung des Lebens. Interview mit Fritz Selbmann. In: Auskünfte, S. 195. 124 Hermann Kant: [Diskussionsbeitrag]. I n : V I . Schriftstellerkongreß, S. 87. 125 Ebenda, S. 86. 126 Ebenda, S. 9 0 - 9 1 . 127 Mattin Viertel: [Diskussionsbeitrag]. I n : VI. Schriftstellerkongreß, S. 147. 128 Erik Neutsch: Bei Lesern gelesen: Machtausübung. In: N D v. 9. 6. 1971, S. 4. 129 Vgl. Das Revolutionäre in unseren Tagen. Interview mit Erik Neutsch. I n : Auskünfte, S. 4 4 4 . 130 Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. I n : V I I . Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 2 2 7 . 131 Der Terminus „Literaturgespräch" variiert den in die Literaturwissenschaft der D D R von dem Hallenser Kollektiv für Literatursoziologie schon eingeführten Ausdruck „Kunstkommunikation" (vgl. etwa Dietrich Sommer: Zum Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur. In: Funktion der Literatur. Aspekte -
Probleme -
Aufgaben. Hg. v. Dieter Schlenstedt
u. a. Berlin 1 9 7 5 ) S. 75 [Literatur und Gesellschaft]). Der Ausdruck „Literaturkommunikation" bzw. „Kunstkommunikation" zielt auf den Bereich des gesamten Verkehrs und sollte m. E . auch nur in diesem Zusammenhang gebraucht werden. Der Ausdruck „Literaturgespräch" zielt deutlicher auf den hier gemeinten Bereich der Verständigung über Literaturprozeß und literarische Werke. In der sachlichen Bewertung dieses Bereiches der Literaturkommunikation gibt es keine Meinungsverschiedenheit mit den genannten Autoren. 132 Vgl. z. B. Franz Fühmann: [Diskussionsgrundlage], I n : V I I . Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 2 4 8 - 2 5 0 . 133 Das Bekenntnis zur aktiven Bewältigung des Lebens. Interview mit Fritz Selbmann. I n : Auskünfte, S. 196. 134 Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. I n : V I I . Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 2 2 7 - 2 2 8 . 135 Betont sei an dieser Stelle noch einmal: E s handelt sich hier wie auch bei anderen Akzentuierungen von Tendenzen der literarischen Diskussion um
342
Ideen, die sie einerseits nicht ganz ausmachen und die andererseits auch nicht absolut neu sind. In beiden Hinsichten geht es um neue Schwerpunktsetzungen im Gesamtgefüge des literarischen Denkens. Welche Tradition die vorgestellten Überlegungen haben, zeigt etwa Brecht: „Dem Künstler als Publikum gegenübergestellt, ist das Volk nicht nur der Abnehmer oder Besteller, sondern auch der Lieferant; es liefert Ideen, es liefert Bewegung, es liefert den Stoff und es liefert die Form. Uneinheitlich, sich ständig verändernd, wie es ist." (Notizen über die Formalismusdiskussion. I n : Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 336.) 136 Vom Wert der Geschichte. Interview mit Hermann Kant. I n : Auskünfte, S. 287. 137 Ebenda, S. 288. 138 Vgl. ebenda, S. 287. 139 Hermann K a n t : Referat auf dem V I I . Schriftstellerkongreß, S. 30. 140 Gerhard Bengsch: [Diskusstonsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 140. 141 Heinz Nahke: Sozialistische Volksgestalten als Träger unserer Macht. I n : Fernsehdramatik
im Gespräch. Theoretische Konferenz
des
Staatlichen
Komitees für Fernsehen beim Ministerrat der D D R . 4. 2. 1969. Berlin 1969, S. 13. 142 Max Walter Schulz: Das Neue und das Bleibende in unserer Literatur. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 36. 143 Ebenda. 144 Erik Neutsch: [Diskussionsbeitrag]. I n : Ebenda, S. 7 0 - 7 2 . 145 Vgl. Erik Neutsch: [Diskussionsbeitrag]. I n : Ebenda, S. 72. 146 Volker Braun: Politik und Poesie. I n : Nótate, S. 98. 147 Vgl. Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: L W , Bd. 10, S. 31. 148 Vgl. dazu: Lesen und Schreiben, S. 2 1 6 - 2 1 7 . 149 Diesen Ausdruck gebraucht Max Walter Schulz in: Das Neue und das Bleibende in unserer Literatur. (Vgl. VI. Schriftstellerkongreß, S. 37.) 150 Gerhard
Bengsch:
[Diskussionsbeitrag].
In:
VI.
Schriftstellerkongreß,
S. 139. 151 Anna Seghers: Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 1 5 - 1 8 . 152 Vom Wert der Geschichte. Interview mit Hermann Kant. In: Auskünfte, S. 283. 153 Ebenda. 154 Hermann Kant: Referat auf dem V I I . Schriftstellerkongreß, S. 4 0 - 4 1 . 155 Vgl. ebenda, S. 35. 156 Ebenda. 157 Vgl. etwa Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 79. 158 Johannes Bobrowski: Benannte Schuld - gebannte Schuld? I n : Johannes Bobrowski: Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk.
Berlin
1975, S. 1 9 - 2 1 . 159 Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. I n : Erfahrungen,
343
160 161 162
163 164
S. 191-200. - Es sei hiec angemerkt, daß Fühmann das mythische Element eben als „Element" charakterisiert. Betont wird, daß Literatur nicht mit Mythos gleichgesetzt werden dürfte. Mythos ist in der beschriebenen Rolle aber „ein Wesenskern von Literatur". (In: Ebenda, S. 208.) Franz Fühmann: Vademecum für Leser von Zaubersprüchen. In: Ebenda, S. 109. Vgl. Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 79. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Bd. 4, S. 482. - Vgl. dazu Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 200; Stephan Hermlin: Lektüre. 1960-1971. Berlin-Weimar 1973, S. 248. Karl Marx: [Auszüge aus James Mills Buch „Elements d'economie politiqUe"]. In: MEW, Ergänzungsbd. Teil 1, S. 446-451. Ebenda, S. 461-462. - 1844, vor der entscheidenden Umwälzung der Manschen Auffassung vom Menschen und von den gesellschaftlichen Verhältnissen entworfen, hat der Gedankengang in sich die Idee vom menschlichen Wesen, das das „Wesen eines jeden Individuums, seine eigne Tätigkeit, sein eignes Leben, sein eigner Geist, sein eigner Reichtum ist" (ebenda, S. 451), d. h., das seinen „Sitz und Ursprung . . . unmittelbar in einer allgemein gefaßten menschlichen Individualität hat" (Luden Seve: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin 1973, S. 67). Nur von dieser Voraussetzung her ist denkbar, daß es vom einzelnen unmittelbar vergegenständlicht, von den anderen unmittelbar bestätigt, als eigene Lebensäußerung vollzogen und so als Gemeinwesen unmittelbar verwirklicht werden könnte.
165 Karl Marx: Zur Judenfrage. In: MEW, Bd. 1, S. 370. 166 Bertolt Brecht: Politisches Bewußtsein und Kunstgenuß; Kulturpolitik und Akademie der Künste. In: Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 349-356. 167 Vgl. Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: LW, Bd. 10, S. 34. 168 Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 226-227. 169 Vgl. Helmut Sakowski: [Diskussionsbeitrag]. In: Ebenda, S. 70. 170 Vgl. Karl-Heinz Jakobs. In: Schmetterlinge, S. 24. 171 Vgl. Hermann Kant: [Diskussionsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 87. 172 Günter Kunert: Paradoxie als Prinzip. In: Warum schreiben, S. 283. 173 Vgl. Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Ebenda, S. 287. 174 Heinz Kablow im Rundtisch-Gespräch Wie „agitiert" Literaturi In: NDL 22 (1974) 10, S. 40. 175 Helmut Preißler: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 183. 176 Ich stütze mich hier vor allem auf die Abschnitte Kunstfunktion, Kunstpolitik und Kunstverbalten und Die Bedeutung ästhetischer Bedürfnisse und Interessen für die Persönlichkeits- und gesellscbaftsbüdendeti Wtrkun344
gen der Kunst in der Arbeit von Dietrich Sommer u. a.: Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst. BerlinWeimar 1978. 177 Daß eine praktizierte Kultur im Umgang mit künstlerischer Literatur nicht unbedingt ein allgemeines Kulturkriterium für jedes Individuum bilden kann, wird näher ausgeführt in: GLL, S. 275-290. 178 Vgl. zur Definition der „einfachen Unterhaltung" Anm. 232. 179 Es kann im realistischen Entwurf eines solchen Ideals nicht „die Kunst" sein, die es als Forderung, Ziel aufstellen läßt, sondern nur der historische Prozeß als Kampf um die Erweiterung der Beziehungen, um die geschichtlich mögliche und notwendige Freisetzung aller Kräfte und Tätigkeiten der Individuen. Überlegungen von Marx und Engels zum kommunistischen Ideal verdeutlichen das Prinzip solcher Idealbildung. Sie betonen, daß das in der kommunistischen Propaganda geltend gemachte Ideal, nach dem es „Beruf, Bestimmung, Aufgabe jedes Menschen [sei], sich vielseitig, alle seine Anlagen zu entwickeln, z. B. a u c h die Anlage des Denkens" unabhängig davon, von wem es ausgesprochen werde - nicht als Aufforderung zu etwas Fremdem aufgefaßt werden dürfe. Was hier geltend gemacht werde, sei gerade die Verneinung der durch die Teilung der Arbeit bisher praktisch erzeugten Zertrümmerung (Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, S. 273), sei damit Teil der Vorstellung von den notwendigen revolutionären Aufgaben. 180 Vgl. Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Erfahrungen, S. 197. 181 Vgl. Günter Kunert in: Schmetterlinge, S. 89. 182 Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 15. 183 Vgl. Günter Görlich: Wie Literatur wirkt. In: ND v. 31. 12. 1971, S. 4. Vgl. auch Annemarie Reinhard: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. Schriftstellerkongrefi, S. 215. 184 Hermann Kant: Der Wert unserer Bücher liegt in ihrer Wirksamkeit. In: ND v. 13. 12. 1971, S. 4. 185 Karl-Heinz Jakobs in: Schmetterlinge, S. 24. 186 Karl-Heinz Jakobs im Gespräch mit Eva Kaufmann. (Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 59.) 187 Karl-Heinz Jakobs in: Schmetterlinge, S. 24. 188 Karl-Heinz Jakobs im Gespräch mit Eva Kaufmann. (Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 58.) 189 Ebenda, S. 68. 190 Günter Kunert: Einige Überlegungen zum Gedicht. In: Warum schreiben, S. 242. 191 Vgl. Volker Braun: Wie Poesie? In: Notate, S. 78-79. 192 Diese Doppelung der Werkdimensionen wurde von Roland Barthes, älteren strukturalistischen Überlegungen folgend, als Doppelung der Signifikant-Signifikat-Ebenen schon beschrieben.
345
193 Vgl. dazu J. N. Dawydow: Die Kunst als soziologisches Phänomen. Zur Charakteristik der ästhetisch-politischen Ansichten bei Piaton und Aristoteles. Dresden 1974 (Fundus-Bücher 33/34). 194 Karl-Heinz Jakobs in: Schmetterlinge, S. 29. 195 Karl-Heinz Jakobs im Gespräch mit Eva Kaufmann. (Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 70.) 196 Karl-Heinz Jakobs in: Schmetterlinge, S. 29. 197 Karl-Heinz Jakobs im Gespräch mit Eva Kaufmann. (Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 59.) 198 Vgl. zu dieser möglichen Unterscheidung der Offenheit von literarischen Werken Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M. 1973, S. 29 bis 31. 199 In welcher Weise dies in unserer Literatur als ein „neues" Verfahren aufgenommen wurde, zeigte sich zum erstenmal in Hermann Kants Aula an der bewußt gesetzten Offenheit der Schicksale des Quasi Riek für die Interpretation. Die Aufregung über diese Interpretierbarkeit und das Verlangen nach Eindeutigkeit halten bis heute an. 200 Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Warum schreiben, S. 290. 201 Günter Kunert: Einige Überlegungen zum Gedicht. In: Ebenda, S. 247 bis 248. 202 Vgl. Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Ebenda, S. 293. 203 Günter Kunert: Paradoxie als Prinzip. In: Ebenda, S. 285; vgl. auch ebenda, S. 243, 265, 290. 204 Volker Braun: Das ungezwungne Leben Kasts. Berlin-Weimar 1972, S. 131. 205 Vgl. Volker Braun: Politik und Poesie. In- Notate, S. 103. 206 Volker Braun: Wie Poesie? In: Ebenda, S. 78-79. 207 Volker Braun: Ans Ende gehen? In: Ebenda, S. 28-29. 208 Vgl. Volker Braun: Wie Poesie? In: Ebenda, S. 83. 209 Volker Braun in: Schmetterlinge, S. 101. 210 Die skizzierten Bestimmungen von Grundorientierungen der sozialistischen Leseweise greifen Überlegungen auf, die Heise im Zusammenhang mit der thesenhaften Fassung von Leitgedanken zum Problem des Realismus vorgestellt hat. Auch bei Heise, der das funktionale Konzept des Realismus einer Systematisicrung zuführt, beziehen sich die Leitgedanken nicht allein auf die Produktion, sondern auch auf den Gebrauch und die Aneignung von Kunst. (Vgl. Wolfgang Heise: Zur Grundlegung der Realismustheorie durch Marx und Engels (II). In: WB 22 (1976) 3, S. 133 bis 144.) 211 Vgl. zur Kritik neuerer Rezeptionstheorien in kapitalistischen Ländern: GLL, S. 125-130. 212 Dieser Zusammenhang wurde bereits ausführlicher dargestellt in: Dieter Schlenstedt: Das literarische Werk als Rezeptionsvorgabe. Ein Beitrag zur Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Phil. Diss. Berlin 1975.
346
2 1 3 Den
Begriff „Relevanzfigur" gebraucht Karlheinz Stierle in zweifacher
Funktion: In Kritik der Verabsolutierung der Variablen in der Rezeption (Iser u. a.) wird auf der einen Seite bestimmt, daß die (ideellen) Sachlagen, die der Text exponiert, nach thematischen Relevanzen differenziert sind. Diese Relevanzen
gemäß den sprachlichen und
kompositioneilen
Steuerungen - im Wechselspiel von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, im Wechselspiel von dem durch die sukzessive Durcharbeitung des Themas entstehenden Innenhorizont und dem im Bezug zum außerhalb des Textes Existierenden sich herstellenden Außenhorizont - zu konstituieren ist eine Leistung, die der Rezeption abverlangt wird. D i e Existenz solcher vom T e x t konstituierten Relevanzfigur bewirkt, daß die Unendlichkeit der rezeptiven Bezugsetzungen eine intensive, nicht eine extensive ist, daß zwar der Leser eigene Relevanzachsen des Textes bilden kann, sie als sekundär aber stets auf die primäre des Textes bezogen werden können und müssen. Im Versuch einer genaueren Erörterung der gesellschaftsbildenden Funktion von Literatur wird auf der anderen Seite nun die spezifische Leistung der literarischen Fiktion gerade an die in ihr gegebene Relevanzfigur geknüpft: Sie ermöglicht durch ihre sinnhafte Konstituiertheit Erfahrungen zu machen, wie sie nicht der Wirklichkeit abzugewinnen, wie sie schon aufbereitet, verdichtet sind. Die Relevanzfigur der Fiktion präsentiert versuchsweise Möglichkeiten der Organisation von Erfahrung und offenbart die Art der Bildung von Schemata der Organisation der Erfahrung, sie problematisiert und kritisiert Erfahrungsstereotype und bildet so den Grund dafür, daß die Fiktion Relais gesellschaftlicher Kommunikation wird: Sie gibt in ihrer allgemeinen Bekanntheit die Möglichkeit objektivsubjektiver Orientierungspunkte der Lebenspraxis. (Vgl. Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? I n : Poetica 7 (1975) 3 - 4 , S. 3 4 5 - 3 8 7 . ) - Diese Beobachtungen gelten über die eigentliche Fiktion hinaus für alle ästhetisch-literarischen Formierungsweisen. 214 Nach dem Vorgang von Brecht (Das Typische. I n : Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 3 3 8 - 3 3 9 ) hat diese zwei verschiedenen Relationen Günther K . Lehmann deutlicher dargestellt. künstlerische Arbeit
(Günther K .
Lehmann:
Phantasie und
Betrachtungen zur poetischen Phantasie. Berlin-Wei-
mar 1976, S. 323.) 215 Vgl. Anm. 67. 216 Soziologische Studien, die die Lesepraktiken betreffen, erfassen vorzüglich den Stellenwert des Lesens im Rahmen kultureller Bedürfnisbefriedigung, die literarisch-ästhetischen
Bedürfnisse und die literarischen
Interessen,
auch Bevorzugungen bestimmter Werke bzw. Literaturen. (Vgl. Dietrich Sommer: Über die gesellschaftliche Funktion und Wirkung von Kunst in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft; Achim Walter: Literarischästhetische Bedürfnisse als Wirkungsfaktoren: Dietrich Löffler: Literarische Interessen der Arbeiterklasse in der D D R . - Alle Beiträge in : W B 2 1 (1975) 6.) Auskunft wird dabei auch gegeben über Bevorzugungen be-
347
stimmtet (dargestellter) Persönlichkeits eigenschaften und so daran ablesbarer Gestaltungsarten. (Vgl. dazu noch: Dietrich Sommer: [Diskussionsgrundlage], In: VII. Schriftstellerkongreß.) Es fehlen aber Arbeiten, die die Art und Weise des Erkennens und des Setzens von Achsen der Aufmerksamkeit durch den Leser, die Art und Weise seines Symbol- und Metaphernaufschlusses genauer zeigen. Zwei der wenigen Beispiele dieser Untersuchungsrichtung in der DDR stammen von Dietrich Löffler (Soziologische Probleme der Beziehungen zwischen Wertstrukturen und der Publikumsstruktur. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle Gesellschaftswiss. u. Sprachwiss. Reihe 18 (1969) 2, S. 2 8 3 - 2 8 9 ) bzw Gabriele März/Gisela Zander (Methoden und Probleme der Analyse längerer Werke der Erzählprosa als Rezeptionsvorgabe und erste Überlegungen zur Untersuchung ihrer Aufnahme durch jugendliche Leser. Phil. Diss. Potsdam 1978). 217 Werner Heiduczek: Literatur zwischen Anspruch und Bewältigung. In: ND v. 30./31. 5. 1971. 218 Ebenda. - Wie dieses Problem sich durch unsere Literaturepoche hindurchzieht, zeigt sich an ihrem Anfang in den Diskussionen über den Tod des Ole Bienkopp, in mittlerer Zeit in den Debatten über den Tod des Edgar Wibeau. - Allgemeiner aufschlußreich ist der Gedankengang, den Aitmatow anläßlich des Streits über seinen Weißen Dampfer entwickelte. Er schrieb 1970, es sei richtig zu sagen, daß die Kunst Freude schenken solle, Lebensbejahung und Optimismus. Ebenso richtig sei es aber auch zu betonen, daß sie den Menschen zum Nachdenken veranlassen solle, in ihm Gefühle des Mitleids und des Protestes gegen das Böse erwecken, seine Empörung hervorrufen, seine Trauer und den sehnlichen Wunsch, das mit Füßen Getretene und Zerstörte wiederherzustellen und zu verteidigen, daß sie „auch nach einem besorgten Blick in. die Zukunft und nach einer .Selbstkritik' des Volkes" verlangt. In der Kunst - so Aitmatow - gibt es etwas, was der Methode des indirekten Beweises gleicht: Nicht, daß in ihr der Ausweg gefunden, der Sieg gefeiert wird, ist für ihn das Entscheidende, sondern daß mit ihr die Welt vorwärtsgeführt, die Einsicht der Menschen vermehrt, ihr Gewissen gestärkt, ihr Kampfesmut vergrößert wird. Die Darstellung von Niederlage, Finsternis und Schurkerei kann sehr wohl nur die Form einer Erzählung sein, deren wahrer Inhalt im Herzen der Leser sich erst herstellt: „Den tatsächlichen Sieg bringt das ideell-ästhetische Ergebnis, das heißt eine solche Wirkung der Kunst auf den Leser, daß seine Gefühle und Gedanken .Barrikaden' für die Wahrheit errichten." So verteidigt Aitmatow den Tod seines kleinen Helden: „Ja, der Junge kommt um, aber er bleibt geistig, sittlich überlegen." Er merkt an: Die Rettung des Jungen wäre „lieb" gewesen; sie hätte aber eine Amnestie für das „Böse" bedeutet. Der Tod des Helden dagegen, gerade weil ihm unsere Sympathie gilt, unsere Hoffnungen sich auf ihn beziehen, ist die „unerbittlichste Form, das Böse abzulehnen". (Vgl. Eine
348
notwendige Präzisierung. In: Tschingis Aitmatow: Abschied von Gülsary. Der weiße Dampfer. Über Literatur. Berlin 1974, S. 317-325.) 219 Karl-Heinz Jakobs: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. SchriftsteUerkongreß, S. 113-114. 220 Ebenda, S. 112. 221 Wilhelm Dilthey: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik. In: Wilhelm Dilthey: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte. Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik. Leipzig-Berlia 1924, S. 111. Zum weiteren Zusammenhang vgl. auch S. 190-200. 222 Wolfgang Kohlhaase: [Diskussionsgrundlage]. In: VII. SchriftsteUerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 10-11. (Kohlhaase beruft sich auf Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In: Literatur und Kunst, Bd. 1, S. 276.) 223 Helmut Sakowski: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. SchriftsteUerkongreß, S. 70. 224 Helmut Preißler: [Diskussionsbeitrag]. In: VII. SchriftsteUerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 180. 225 Geheimnis, Gefahr, Gerechtigkeit. Interview mit Wolfgang Schreyer. In: Auskünfte, S. 151-159. 226 Ebenda, S. 143. 227 Christa Wolf z. B. räumt ein, es könnte ein Ideal sein, daß ein literarisches Werk mehrere Rezeptionsebenen bereitstellt (eine für die Suche nach spannungsreicher Handlung, eine für die Suche nach Reflexion). Sie sieht dies jedoch in der gegenwärtigen Praxis wenig vorkommen. Es wird mit einer Zeit gerechnet, da „eine große Zahl von Lesern nicht unbedingt die starke Handlung verlangt, sondern vielleicht etwas anderes". Für sich selbst entscheidet Christa Wolf: „Ich könnte mich nicht hinsetzen und mir sagen: Dieser Stoff müßte jetzt von dir so behandelt werden, daß du sowohl diejenigen erreichst, die eine Fabel suchen, als auch diejenigen, die eine intellektuelle Verarbeitung erwarten!" Diese Entscheidung ist für sie gegenstandsgebunden: Christa Wolf meint, den zeitgenössischen Verhältnissen seien große, einfache literarische Gestalten (von Helden und Vorgängen) nicht so leicht abzugewinnen. - Vgl. Christa Wolf in: Schmetterlinge, S. 122-123. 228 Vgl. Lesen und Schreiben, S. 187. 229 Werner Heiduczek: Literatur zwischen Anspruch und Bewältigung. In: N D v. 30./31. 5. 1971, S. 4. 230 Vgl. Günter Kunert: Paradoxie als Prinzip. In: Warum schreiben, S. 282 bis 284. 231 Vgl. Rede auf dem V. SchriftsteUerkongreß, S. 124. 232 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 14-15. 233 Karl Marx: Das Kapital. Bd. 3. In: MEW, Bd. 25, S. 828.
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234 Peter Hacks: Oper und Drama. In: Sinn und Form 25 (1973) 6, S. 1240. 235 Vgl. dazu Günter Kunert: Paradoxie als Prinzip. In: Warum schreiben, S. 283; Stephan Hermlin: Lektüre. 1960-1971. Berlin-Weimar 1973, S. 242. 236 Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß, S. 123. - Vergleichbare Problemlösungen lieferten auch Johannes R. Becher und Bertolt Brecht. So meinte Becher, ausgehend von der Überzeugung, daß auch das Lesen gelernt sein will: „Der Leser von heute ist nicht der von gestern und wird nicht der von morgen sein . . . Wer mit der Leserschaft als mit einer stabilen Größe rechnet, der wird sich sehr leicht mit billigen und ungekonnten Produkten zufriedengeben in der Meinung, das entspräche dem Geschmack des Lesers." Becher räumt ein, daß es „zurückgebliebene Leser, ja, Nichtleser" gibt, deren Bedürfnis befriedigt werden müßte. Er verweist aber auf Bedingungen und Möglichkeiten des Sozialismus, „die den Leser verändern und ihn ständig an Bildung zunehmen lassen". (Johannes R. Becher: Über Kunst und Literatur. Hg. v. Marianne Lange unter Mitarbeit des Johannes-R.-Becher-Archivs. Berlin 1962, S. 288-290.) - In seiner Kritik der „Enttäuschten", die sagen, daß das Volk hauptsächlich Schund sehen will, und deshalb keine Kunst für das Volk oder eben Schund für das Volk machen, fordert Brecht zu „definieren, was das Volk ist. Und es sehen als eine höchst widerspruchsvolle, in Entwicklung begriffene Menge und eine Menge, zu der man selber gehört." (Notizen über die Formalismusdiskussion. In; Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 336.) An den schon früher entwickelten Gedanken anknüpfend, daß es nicht nur ein Volkstümlichsein, sondern auch ein Volkstümlichwerden gebe, formuliert Brecht: „Die Kunst muß eine breite Verständlichkeit anstreben. Aber die Gesellschaft muß durch allgemeine Entwicklung das Verständnis für Kunst heben. Die Bedürfnisse der Bevölkerung müssen befriedigt werden. Aber im Kampf gegen das Bedürfnis nach Kitsch." (Kulturpolitik und Akademie der Künste. In: Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 393.) 237 Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 105. 238 Vgl. Wolfgang Kohlhaase: [Diskussionsgrundlage], In: VII. Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 11. 239 Jurij Brezan: Antworten auf Fragen. In: NDL 16 (1968) 3, S. 144-147. 240 Vgl. Werner Bräunig: Briefwechsel, die Gruppe 61 betreffend. In: Werner Bräunig: „Prosa schreiben". Anmerkungen zum Realismus. Halle 1968, S. 41. - Bräunig faßt als Einheit: Mitarbeit der Literatur in der Gesellschaft, rechenschaftspflichtige Mitverantwortung der Schriftsteller und die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um die Belange der Literatur. In diesem Zusammenhang steht der Gedanke: „Eben deshalb die Erziehung der Erzieher synchron mit der Erziehung der Massen - wer sagt denn, daß die Massen nicht auch die Erzieher erziehen könnten, nicht auch - in diesem Prozeß eben - Erzieher hervorbrächten." 241 G. A. Nedoschiwins Beitrag Über die Beziehung
350
der Kunst zur
Wirklicb-
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keit wurde Anfang der fünfziger Jahre in mehreren Publikationen in der DDR verbreitet; er repräsentiert zu dieser Zeit einen Standard und wird deshalb hier herangezogen. Zit. wird die Veröffentlichung in: Über Kunst und Literatur. Hg. v. Zentralrat der FDJ. Berlin [1951], S. 55-60. A. I. Burow: Das ästhetische Wesen der Kunst. Berlin 1958, S. 288 bis 289, 318. G. A. Nedoschiwin: Über die Beziehung der Kunst zur Wirklichkeit. In: Über Kunst und Literatur. Hg. v. Zentralrat der FDJ. Berlin [1951], S. 47. Vgl. Bertolt Brecht: Eisler. In: Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 75. - Es heißt bei Brecht: „Für die unterdrückte Klasse hatten die neuen Kunstwerke nichts eigentlich Lehrhaftes; sie dienten nur der Selbstverständigung. Diese Selbstverständigung war ein genußvoller Prozeß. Die Gefühle der Meisterung der Materie waren genußvoll. Im Fortschreiten lag Genuß. Die Künstler hatten nicht den Eindruck, daß sie die Massen belehrten, nicht einmal, wenn sie sie informierten." Günter de Bruyn: Der Holzweg. In: Eröffnungen, S. 141. Christa Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität. In: Ebenda, S. 169, 173. Vgl. Günter de Bruyn: Der Holzweg. In: Ebenda, S. 142-143. Vgl. Christa Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität. In: Ebenda, S. 168-169. Irmtraud Morgner: Apropos Eisenbahn. In: Ebenda, S. 208-209. Ebenda, S. 208. Ein Versuch zur systematisierenden Erfassung dieser Gattungen und ihres Einbaus in ein allgemeines Gattungsschema liegt vor in: Wolfgang Victor Ruttkowski: Die literarischen Gattungen. Reflexionen über eine modifizierte Fundamentalpoetik. Berlin-München 1968. Manfred Jendryschik im Rundtisch-Gespräch Wie „agitiert" Literatur? In: NDL 22 (1974) 10, S. 39. Vgl. ebenda, S. 27, 30. - Auf das ebenso aufschlußreiche wie problematische Gespräch, in dem die widerstreitenden Parteien, wechselseitig stark nur von ihren Vorurteilen geführt, sich kaum einigen konnten, worüber sie redeten, kann hier nicht näher eingegangen werden. Trotz der Berufung auf Lenin fielen dessen allgemein entscheidende und auch für Literatur beachtenswerte Bestimmungen der Agitation und ihres Verhältnisses zur Propaganda (vgl. etwa LW, Bd. 2, S. 331-336) bei dieser Diskussion unter den Tisch. Volker Braun: Interview. In: Notate, S. 128.
255 Volker Braun
256 257 258 259
Politik und Poesie. In: Ebenda, S. 103.
Peter Hacks: Oper und Drama. In: Sinn und Form 25 (1973) 6, S. 1249. Günter Kunert: Paradoxie als Prinzip. In: Warum schreiben, S. 285. Karl Marx: Das Kapital. Bd. 3. In: MEW, Bd. 25, S. 828. Vgl. Peter Hacks: Oper und Drama. In: Sinn und Form 25 (1973) 6,
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260 261 262 263 264 265 266
S. 1249; Günter Kunert: Das Bewußtsein des Gedichts. In: Warum schreiben, S. 261-263. Günter Kunert in: Schmetterlinge, S. 87. Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Warum schreiben, S. 293. Peter Hacks: Oper und Drama. In: Sinn und Form 25 (1973) 6, S. 1245. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 9 4 - 9 6 . Ebenda, S. 275-276. Ebenda, S. 297. Vgl. dazu Martin Fontius' Arbeit Produktivkraftentfaltung und Autonomie der Kunst. Zur Ablösung ständischer Voraussetzfingen in der Literaturtheorie; die Arbeit bildet das 4. Kapitel des Kollektivwerks: Literatur im Epochenumbruch - Funktionen europäischer Literaturen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hg. v. Günther Klotz, Winfried Schröder, Peter Weber. Berlin-Weimar 1977.
267 Vgl. Karl Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MEW, Ergänzungsbd. Teil 1, S. 542-543. 268 Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1965, S. 63. 269 Günter Kunert: Ungunst und Hoffnung. In: Warum schreiben, S. 268. 270 Vgl. Günter Kunert: Manche, einige, gewisse und sogenannte. In: Sinn und Form 24 (1972) 5, S. 1102. - Die Polemik gegen die „Zielgruppen", die bei Kunert im Kontext der Kritik der Zwecke steht, kann sich eigentlich auf keinen inländischen Adressaten beziehen. Konzepte von Zielgruppenliteratur wurden aber in der westdeutschen Werkkreis-Arbeit formuliert. Als wichtige Erkenntnis galt dort: „Wir erfahren . . ., daß ein Text nicht b e s t i m m t e E i g e n s c h a f t e n a n s i c h h a t , sondern nur f ü r b e s t i m m t e P e r s o n e n u n d S i t u a t i o n e n . Dieses wiederum zwingt uns, solche Wirkungen mit einzukalkulieren bzw. die Verwendung der Texte zu planen." (Vgl. Erasmus Schöfer: Die kulturpolitische Situation der BRD und der Stand der Werkkreis-Arbeit. In: Realistisch schreiben. Der Werkkreis in der Entwicklung einer antikapitalistischen Literatur in der Bundesrepublik. Hg. v. Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Springener Protokolle und Materialien, o. O. 1971, S. 22.) Beobachtet wird jedoch, daß die Texte „ganz unerwartete Reaktionen" auslösen, eine „Von-Selbst-Aktivität" entfalten dann, wenn „ein Text jene Grundsachverhalte ausspricht oder erkennbar macht, die das Leben der arbeitenden Bevölkerung bestimmen", dann, wenn „das gemeinsame Sachinteresse von Schreiber und Leser eine Solidaritätsbrücke" schafft (S. 23). Daraus folgt der Versuch, die literarische Arbeit im Werkkreis nach ihrer Brauchbarkeit zu unterscheiden in a) „Basisliteratur", die auf sozial und lokal eng begrenzte Publikumsgruppen zielt, organisierend, direkt in Aktion sich umsetzend wirken soll, und in b) „Allgemeinliteratur", die aktivierende, die Lage und Wege ihrer Änderung aufklärende Wirkungen haben soll, als Adressaten aber auch dann nicht vage alle Menschen oder
352
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alle Arbeiter hat, sondern sich als eine differenzierte „Zielgruppenliteratur" versteht (S. 38-40.) - Über wirkungsästhetische Fragestellungen dieses Zusammenhangs äußerte sich spezieller ein Bericht unter dem Titel Verwendungszusammenhang und Zielgruppen. (In: Ebenda, S. 82-86). Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Warum schreiben, S. 286-287. Vgl. Günter Kunert: Einige Überlegungen zum Gedicht. In: Ebenda, S. 244. Vgl. Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Ebenda, S. 291-293; Günter Kunert: Manche, einige, gewisse und sogenannte. In: Sinn und Form 24 (1972) 5, S. 1103; Günter Kunert: Einige Überlegungen zum Gedicht. In: Warum schreiben, S. 244-247. In Variierung der bekannten Benjamin-Formel von der „Fundierung [der Kunst] auf Politik" (vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Lesezeichen. Hg. v. Gerhard Seidel. Leipzig 1970, S. 382 «Reclams Universial-Bibliothek, 476») zeigt Inge Münz-Koenen, daß die „Fundierung auf Produktion" - begriffen als real-historischer Prozeß der Gestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen, aber auch der Persönlichkeitsentwicklung in der aktiven Beziehung auf diese Bedingungen - „für die Funktionsbestimmung von Literatur von ausschlaggebender Bedeutung" war. (Inge Münz-Koenen: Zur Reportageliteratur der fünfziger Jahre. In: WB 23 (1977) 1, S. 67.) Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Erfahrungen, S. 195.
276 Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Warum schreiben, S. 288-289. 277 Christa Wolf in: Schmetterlinge, S. 124. 278 Subjektive Authentizität und gesellschaftliche Wahrheit. Interview mit Christa Wolf. In: Auskünfte, S. 492. 279 Helga Schütz in: Schmetterlinge, S. 107. 280 Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Erfahrungen, S. 196. 281 Ebenda, S. 164. 282 Günter Kunert in: Schmetterlinge, S. 87. 283 Günter Kunert: Für wen schreiben Sie? In: Warum schreiben, S. 290. 284 Vgl. Kosmos, Träume, Sinnlichkeit - das weite Feld der Lyrik. Interview mit Paul Wiens. In: Auskünfte, S. 107. 285 Vgl. S. 43 in diesem Band. 286 Es handelt sich hier um Randnotizen Brechts in seinem Handexemplar der Hegeischen Ästhetik, deren Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der klassischen Ästhetik von Herbert Claas (Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar. Frankfurt/M. 1977, S. 161-165) dargelegt wird. 287 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: Bertolt Brecht. Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 22, 25, 29, 63. 288 Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In: Literatur und Kunst, Bd. 1, S. 276. 23
!
353
289 Bertolt Brecht: [Über sozialistischen Realismus], In: Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 3 6 2 . 290 Lenin wies in der Diskussion mit Gorki über die Gottbildnerei in aller Schärfe auf den Wirkungszusammenhang
bestimmter Ideen
hin, deren
Sinn, Funktion sich nicht aus den Wünschen des Autors, sondern aus dem objektiven Verhältnis der Klassen ergibt. Bürgerlich - unter den Bedingungen der Klassengesellschaft - nannte er Bestimmungen, die „mit summarischen,
allgemeinen,
,robinsonhaften'
mit bestimmten K l a s s e n
Begriffen
schlechthin
-
nicht
einer bestimmten historischen Epoche" ope-
rieren. (Vgl. Lenin: Brief an Maxim Gorki in der zweiten Novemberhälfte 1913. I n : L W , Bd. 35, S. 104.) 291 Ausgehend von der Überzeugung, daß „große Kunst . . . großen Interessen" zu dienen hat, daß die Schichten ganz verschiedene Interessen haben und daher geistig verschieden reagieren, daß folglich große Kunst „von vornherein nur für e i n e dieser Schichten gemacht werden" könne (vgl. Bertolt Brecht: Über die Eignung zum Zuschauer. I n : Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 1, Berlin-Weimar 1964, S. 7 8 - 7 9 ) , hat Brecht Anfang der dreißiger Jahre ein Programm der Publikumsspaltung formuliert: „Die herrschende Ästhetik verlangt vom Kunstwerk, indem sie eine unmittelbare Wirkung verlangt, auch eine alle sozialen und sonstigen Unterschiede der Individuen überbrückende Wirkung. Eine solche die Klassengegensätze überbrückende Wirkung wird von Dramen der aristotelischen Dramatik auch heute noch erzielt, obwohl die Klassenunterschiede den Individuen immer mehr bewußt werden. Sie wird auch erzielt, wenn die Klassengegensätze der Gegenstand dieser Dramen sind, und sogar, wenn in ihnen für die eine oder andere Klasse Stellung genommen wird. In jedem Fall entsteht im Zuschauerraum auf der Basis des
allen
Dauer
Zuhörern des
gemeinsamen
Kunstgenusses
.allgemein
Menschlichen'
für
die
ein Kollektivum. An der Herstel-
lung dieses Kollektivums ist die nichtaristotelische Dramatik vom Typus der .Mutter' nicht interessiert. Sie spaltet ihr Publikum." (Vgl. Bertolt Brecht: Anmerkungen zur „Mutter". I n : Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 2. Berlin-Weimar 1964, S. 2 1 0 - 2 1 1 . ) 292 Bertolt Brecht: Objektivismus. I n : Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 337. 293 Allgemein geworden ist, daß man sich gegen einen „Rhetorik-Verdacht" absichert. Minimalform dieser Absicherung auch bei Autoren, die an einem mit
bestimmten
Lesern
rechnenden
wirkungsästhetischen
Konzept
fest-
halten, ist die Beteuerung, daß beim Schreiben nicht an Leser gedacht werden kann. Erik Neutsch z. B., der bewußt davon ausgeht, daß er dem gegenwärtigen Leser auf verständliche Weise helfen will, neue Erkenntnisse und Sichtweisen zu gewinnen, schließt die Adressatenbeziehung aus dem Schreibprozeß aus: „Während des Schreibens habe ich
eigentlich
keine konkrete Vorstellung vom Publikum. Die Gedanken sind dann nur bei meinen Figuren, bei ihren Konflikten, bei den Situationen, in die sie
354
geraten und die sie zu bestehen haben." E r sieht die Adressatenbeziehung nur in den Phasen der Vorbereitung und der Kontrolle des Textes voll wirksam: „Aber wenn ich Textentwürfe mache, wenn ich über Strukturprobleme nachdenke, wenn ich Geschriebenes überlese, dann frage ich mich stets: W e r versteht das? H a b e ich die richtige, dem Gegenstand u n d dem Leser angemessene Darstellungsweise gewählt?" (Das Revolutionäre in unseren Tagen. Interview mit Erik Neutsch. I n : Auskünfte, S. 438.) Fast identische Argumentationen finden sich bei mehreren Autoren. (Vgl. Martin Stade in: Schmetterlinge, S. 143; Hasso Laudon in: E b e n d a , S. 150.) Auch Wolfgang Schreyer, dessen Adressatenbild als wirkungsstrategisches Konzept dargestellt wurde, will, d a ß man beim Schreiben nicht an Leser denke, eine bestimmte Wirkung erzeuge, sondern d a ß der Autor sich selbst zum Ausdruck bringe: „ E r muß die eigene Innenwelt freisetzen und von dieser Selbstaussage darf ihn nichts zurückhalten, w e d e r falsche Scham vor den Lesern noch ein Seitenblick auf die Kritiker und Redakteure." (Geheimnis, G e f a h r , Gerechtigkeit. Interview mit W o l f g a n g Schreyer. I n : Auskünfte, S. 155.) 294 . . . die Wahrheit sagen, im Kleinen wie Großen, in Teilen wie im G a n zen. Interview mit Günter de Bruyn. I n : Auskünfte, S. 55. Christopher Caudwell: D . H . Lawrence. Eine Untersuchung über den 295 bürgerlichen Künstler. In: Christopher Caudwell: Studien zu einer sterbenden Kultur. Dresden 1973, S. 47. Vgl. Christa Wolf in: Schmetterlinge, S. 128; vgl. dazu auch Franz Fühmann: Zweiundzwanzig T a g e oder D i e Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 72. Peter Gosse: Befragt nach dem sozialistischen Gedicht, fühle ich mich zu 297 zwei Antworten veranlaßt. I n : Peter Gosse: Ortungen. Gedichte und N o tate. Halle 1975, S. 119. Ebenda, S. 118. 298 Peter Gosse: Situationsbericht. I n : Ebenda, S. 124. 299 Volker Braun: Politik und Poesie. I n : Notate, S. 100. 300 Volker Braun: Interview. I n : Ebenda, S. 133. 301 Volker Braun: [Diskussionsgrundlage]. I n : VII. Schriftstellerkongreß. Ar302 beitsgruppen, S. 83.
296
303 D e r Begriff „wirkungsästhetischer Aspekt" folgt der in G L L , S. 87 gemachten Unterscheidung von Rezeption und Wirkung. 304 Zur „Darstellung" vgl. ebenda, S. 310. Terminus und Begriff gebraucht Franz Fühmann: D a s mythische Element in der Literatur. I n : Erfahrungen, S. 199. Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. I n : Zweite Bitterfeider Konfe306 renz 1964. Protokoll. Berlin 1964, S. 2 0 4 - 2 0 8 . 305
307
2 3*
Es werden hier Überlegungen benutzt, die Ursula Wertheim (Schillers ,.Fiesko" und „Don Carlos". Zum Problem des historischen Stoffs. Weimar 1958) unterbreitet hat.
355
308 Unter „Thema" wird hier - gegen die andere übliche Bedeutung einer einfachen Benennung des Gegenstands - also ein Kohärenzfaktor bzw. Integrationsmechanismus der literarischen Darstellung verstanden. 309 Vgl. Friedrich Engels: Brief an Margaret Harkness v. April 1888. In: MEW, Bd. 37, S. 42. 310 So in: Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß, S. 110; Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 163. 311 Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 163-164. 312 Vgl. Bertolt Brecht: Über das Anfertigen von Bildnissen. In: Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd. 1. Berlin-Weimar 1968, S. 274-275. 313 Vgl. Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. 1938-1955. Berlin-Weimar 1977, S. 105. - Brecht schreibt: „das dichten muß als menschliche tätigkeit angesehen werden, als gesellschaftliche praxis mit aller widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend, der unterschied liegt zwischen .widerspiegeln' und ,den Spiegel vorhalten'." 314 Hans Koch: An der Führui. teilnehmen. In: N D v. 9.4. 1964, S. 4. 315 Erik Neutsch: An meine Freunde von der technischen Intelligenz. In: Forum 17 (1963) 5, S. 21. 316 Eduard Zak: Zwischenbemerkung. In: Sonntag (1964) 10. 317 Horst Redeker: Buch und Wirkung. Abschluß unserer Diskussion über Strittmatters Roman „Ole Bienkopp". In: Erwin Strittmatter. Analysen, Erörterungen, Gespräche. Berlin 1977, S. 163 (Schriftsteller der Gegenwart. 3). 318 Vgl. Anm. 399-401. 319 Vgl. dazu Dieter Schlenstedt: Ankunft und Anspruch. Zum neueren Roman in der DDR. In: Sinn und Form 18 (1966) 3; Eberhard Röhner: Abschied, Ankunft und Bewährung. Entwicklungsprobleme unserer sozialistischen Literatur. Berlin 1969; Eva u. Hans Kaufmann: Erwartung und Angebot. Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR. Berlin 1976 (Literatur und Gesellschaft). 320 Vgl. Fritz Selbmann: [Diskussionsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 158. 321 Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp. Berlin 1963, S. 240. 322 Vgl. z. B. Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der DDR. 1945-1968. Hg. v. Institut f. Gesellschaftswiss. b. ZK d. SED . . . unter Leitung v. Werner Mitteazwei. Berlin 1972. Bd. 2; Eberhard Röhner: Abschied, Ankunft und Bewährung. Berlin 1969; Dieter Schlenstedt: Ankunft und Anspruch. In: Sinn und Form 18 (1966) 3. 323 Vgl. Rulo Melchert: Auf der Suche nach Gatt. In: Forum 27 (1973) 21, S. 12. - Es heißt hier: „ . . . das Modell, nach dem verfahren wird - inzwischen ist es ein Modell: die Suche nach der Vergangenheit, aufhellendes Material wird beigebracht durch Recherchen, wobei zunächst der Recher-
chierende auf Reisen geht, Fakten und Dokumente sammelt, diesen und Jenen ausfragt wie ein Reporter, die eigene Erinnerung bemüht, die sich mehr verlebendigt und sich in das zu Erzählende mischt." - Der Zusammenhang der drei Vorgangsfiguren wird problematisierend erörtert in: Literatur und Geschichtsbewußtsein. Entwicklungstendenzen der DDRLiteratur in den sechziger und siebziger Jahren. Hg. v. Manfred Diersch u. Walfried Hartinger. Berlin-Weimar 1976. 324 So von Anneliese Löffler in ihrem Referat auf dem Kolloquium '77 des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der AdW der DDR. 325 Vgl. dazu Sigrid Töpelmann: Autoren - Figuren - Entwicklungen. Zur erzählenden Literatur in der DDR. Berlin-Weimar 1975. - Die entsprechenden Modelle werden auf S. 185 u. 251 in ihren Hauptelementen und -beziehungen zusammenfassend vorgestellt. 326 Siegfried Wagner/Kurt Bork: Über den Standpunkt des Künstlers zu unserem Kampf. In: N D v. 16.12.1962, S. 4. 327 Erik Neutsch: [Diskussionsbeitrag]. In: Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Protokoll. Berlin 1964, S. 164. 328 In der Hauptsache richtig verstanden. Sonntag-Gespräch mit Erwin Strittmatter. In: Sonntag (1964) 14, S. 4. 329 Vgl. Anna Seghers: Die Entscheidung. Berlin 1959, S. 383-384. 330 Vgl. hierzu z. B. die Angaben über Umfrageergebnisse in: Kultur und Freizeit. Zu Tendenzen und Erfordernissen eines kulturvollen Freizeitverhaltens. Hg. v. Helmut Hanke. Berlin 1971, S. 92-93. 331 Maxim Gorki: Brief an Sergej Grigorjew v. 15. 3. 1926. Zit. nach Ralf Schröder: Maxim Gorki. In: Positionsbestimmungen. Zur Geschichte marxistischer Theorie von Literatur und Kultur. Hg. v. Dieter Schlenstedt u. Klaus Städtke. Leipzig 1977, S. 312 (Reclams Universal-Bibliothek. 708). 332 Vgl. etwa Erwin Strittmatter: Produktivkraft Poesie. In: N D L 21 (1973) 5, S. 5; Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Erfahrungen, S. 199-202. 333 Anna Seghers: Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 156, 162. 334 Friedrich Engels: Brief an Conrad Schmidt v. 27. Oktober 1890. In: MEW, Bd. 27, S. 492-493. - Die Vorstellung selbständiger eigener Entwicklungsreihen leitet sich aus dem genannten Zusammenhang ab. Vgl. Friedrich Engels: Brief an Franz Mehring v. 14. Juli 1893. In: MEW, Bd. 39, S. 97. 335 Vgl. dazu: Lesen und Schreiben, S. 198-204. 336 Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: GW, Bd. 38, S. 286. 337 TSR, S. 368-369. - Zu bezweifeln ist schon der hier aufgestellte Gegensatz von künstlerischer und industrieller Produktion, in der letztere - unter dem Wert der Individualität - schlecht abschneidet. In der Begeisterung über die strikte Individualität der Kunstwerke und der Akte ihrer Produktion werden nämlich im Vergleich zwischen ihnen und den Produkten
357
und Akten der Industrieproduktion zwei verschiedene Sachverhalte aufeinander bezogen. Den logischen Sprung kann eine kleine Überlegung verdeutlichen. Bei der Produktion von Maschinen z. B. wird in Serien quasiidentischer Exemplare (Stücke) ein bestimmter Struktur-Funktions-Mechanismus (Muster) reproduziert. Das „Serielle" dieser Produktion
bezieht
sich auf die Herstellung der Stücke - nicht der Muster, denen wie Kunstwerken, freilich in anderer, z. B . durchaus anderer subjektiver Alt, Individualität zukommt. Es ist ohne Schwierigkeiten erkennbar, daß in der künstlerischen Produktion im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" (Benjamin) ein vergleichbares Verhältnis von Mustern und Stücken und übrigens auch der Arbeitsteilung von Muster- und Stückproduktion herrscht. Bei der Literatur z. B., deren Wesen nicht zuletzt in dieser Reproduzierbarkeit liegt, werden Serien quasiidentischer Exemplare (Bücher) eines bestimmten Struktur-Funktions-Zusammenhangs (Werke) hergestellt. Deshalb kann man nicht ohne weiteres die Stückproduktion der industriellen Arbeit mit der Werkproduktion künstlerischer Tätigkeit vergleichen. Man bewegt sich da auf einer Ebene, in der man auch die Stückproduktion und die Musterproduktion der Industrie vergleichen könnte. Das heißt: Eine Spezifik künstlerischer Arbeil (etwa ihre Einmaligkeit) könnte im Vergleich zur industriellen Produktion nur dann erkannt werden, wenn sie aus der Gegenüberstellung von Industriemustern und Literaturwerken erhärtet werden könnte. Hier verliert sich die scheinbare Evidenz des Unterschieds; es müßte wesentlich genauer argumentiert werden. 338 Vgl. Dieter Schlenstedt: Ankunft und Anspruch. In: Sinn und Form 18 (1966) 3 ; Dieter Schlenstedt: Lehrer und Schüler im Spiegel literarischer Entwicklungen. In: W B 16 (1970) 12. 339 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 983. -
Vgl.
auch Eva u. Hans Kaufmann: Erwartung und Angebot. Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der D D R . Berlin 1976, S. 1 7 - 2 0 (Literatur und Gesellschaft). 340 Grundrisse, S. 387. 341 Max Walter Schulz: „Stegreif und Sattel". Anmerkungen zur Literatur und zum Tage. Halle 1967, S. 15. 342 Werner Bräunig: D i e heute dreißig sind. In: N D L 12 (1964) 5, S. 3. 343 Vgl. Brigitte Reimann: Ankunft im Alltag. Berlin 1962, S. 96. 3 4 4 Christa W o l f : Wo liegt unsere „terra incognita"? In: Forum 17 (1963) 18, S. 30. 345 Hans Koch: Helden in der Entscheidung. In: N D v. 8. 4. 1964, S. 4. 346 Vgl. Erwin Pracht: Der Standpunkt des Autors. I n : N D v. 29. 1. 1966, Beilage 4, S. 2. 347 Werner Bräunig: Die heute dreißig sind. In: N D L 12 (1964) 5, S. 3. 348 Vgl. Christa W o l f : Der geteilte Himmel. Halle 1963, S. 268. - Das Motiv steht in der geschichtsphilosophischen Diskussion der Erzählung in Korrespondenz zum „Sog der Leere" (S. 227).
358
349 Die Zitate finden sich bei Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt. Bd. 1. Berlin-Weimar 1965, S. 529-530 und Bd. 2, 1963, S. 368. 350 Vgl. Max Walter Schulz: „Stegreif und Sattel". Anm^kungen zur Literatur und zum Tage. Halle 1967, S. 17; Klaus Bellin: Ein Gespräch mit Dieter Noll über die „Abenteuer des Werner Holt". In: Junge Kunst 5 (1961) 3, S. 30-31. 351 Vgl. Sechs Personen diskutieren einen Autor. Gespräch über den zweiten Band des Romans „Die Abenteuer des Werner Holt" von Dieter Noll. In: NDL 12 (1964) 4. 352 Max Walter Schulz: „Stegreif und Sattel". Anmerkungen zur Literatur und zum Tage. Halle 1967, S. 25; Klaus Bellin: Ein Gespräch mit Dieter Noll über die „Abenteuer des Werner Holt". In: Junge Kunst 5 (1961) 3, S. 31. 353 Ebenda, S. 30, 32. 354 Vgl. Günter de Bruyn: Der Holzweg. In: Eröffnungen, S. 141. 355 Volker Braun: Das ungezwungne Leben Kasts. Berlin-Weimar 1971, S. 38, 47, 25, 41. 356 Max Walter Schulz: „Stegreif und Sattel". Anmerkungen zur Literatur und zum Tage. Halle 1967, S. 24. 357 Brigitte Reimann: Entdeckung einer schlichten Wahrheit. In: N D v. 8. 12. 1962, Beilage 49, S. 1-2. 358 Franz Fühmann: Vielfalt, Weite, Weltniveau. In: N D v. 24. 3.1964, S. 4. 359 Franz Fühmann: Kabelkran und blauer Peter. Rostock 1961, S. 6 - 7 . 360 Vgl. ebenda, S. 6, 129-130, 132. 361 Franz Fühmann: Vielfalt, Weite, Weltniveau. In: N D v. 24. 3.1964, S. 4. 362 Ebenda. 363 Walter Ulbricht: Fragen der Entwicklung der sozialistischen Literatur und Kultur. In: NDL 7 (1959) 6, Beilage 1, S. 7-12. 364 Karl-Heinz Jakobs: Über mich und mein Buch. In: Karl-Heinz Jakobs: Beschreibung eines Sommers. Berlin 1962, S. 6. 365 Karl-Heinz Jakobs: Drei Briefe über den Aufbau des Erdölverarbeitungswerkes in Schwedt an der Oder. In: Junge Kunst 3 (1959) 10, S. 69. 366 Eduard Claudius: Wintermärchen auf Rügen. In: Eduard Claudius: Hochzeit in den Alawitenbergen. Erzählungen aus drei Jahrzehnten. Halle 1975, S. 301. 367 Walter Ulbricht: Fragen der Entwicklung der sozialistischen Literatur und Kultur. In: NDL 7 (1959) 6, Beilage 1, S. 4, 10. 368 Vgl. dazu Klaus Jarmatz u. a.: Künstlerisches Schaffen im Sozialismus. Berlin 1975, S. 19, 39. 369 Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 62-64. - Christa Wolf charakterisiert die Christa T. ähnlich: „Da sie an der Welt nicht zweifeln konnte, blieb ihr nur der Zweifel an sich." (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Halle 1968, S. 92.) 370 So bezeichnet später, lange nach seinem aufsehenerregenden Abschied
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371 372 373 374 375 376 377 378
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vom „Bitterfelder Weg", Franz Ffihmann seine Erfahrungen. (Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 70.) f Vgl. dazu Dieter Schlenstedt: Zu Problemen des Menschenbildes in der jüngsten sozialistischen Romanliteratur. In: WB 8 (1962) 3, S. 509-518. Franz Fühmann: Kabelkran und blauer Peter. Rostock 1961, S. 127-131. Hans Koch: Für eine Literatur des realen Humanismus. In: N D L 15 (1967) 1, S. 23. Vgl. Christa Wolf: Wo liegt unsere „terra incognita"? In: Forum 17 (1963) 18, S. 31. Vgl. dazu Dieter Schlenstedt: Motive und Symbole in Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel". In: WB 10 (1964) 1. Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Halle 1963, S. 19, 282, 42. Christa Wolf: Wo liegt unsere „terra incognita"? In: Forum 17 (1963) 18, S. 31. Christa Wolf auf einer Autorentagung des Mitteldeutschen Verlags. Zit. nach: „Der geteilte Himmel" und seine Kritiker. Dokumentation. Hg. v. Martin Reso. Halle 1965, S. 278. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW. Bd. 3, S. 273. Christa Wolf: Wo liegt unsere „terra incognita"? In: Forum 17 (1963) 18, S. 31. Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Halle 1963, S. 141. Christel Berger: Über Prosa junger Autoren. In: WB 19 (1973) 4, S. 173. Joochen Laabs: Das Grashaus oder Die Aufteilung von 35 000 Frauen auf zwei Mann. Halle 1971, S. 7. Martin Weber: Sprung ins Riesenrad. Berlin 1969, S. 369-374. Joochen Laabs: Das Grashaus oder Die Aufteilung von 35 000 Frauen auf zwei Mann. Halle 1971, S. 361. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 540-541. Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Rostock 1973, S. 30-31. Werner Neubert: Niete in Hosen - oder . . .? In: N D L 21 (1973) 3. S. 130. Vgl. z. B. ebenda, S. 14, 55. Ulrich Plenzdorf in: Diskussion um Plenzdorf. Die neuen Leiden des jungen W. In: Sinn und Form 25 (1973) 1, S. 243. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 331. Volker Braun: Provokation für mich. Halle 1965, S. 4. Vgl. Volker Braun: Unvollendete Geschichte. In: Sinn und Form 27 (1975) 3, S. 957. Vgl. Werner Neubert: Niete in Hosen - oder . . . ? In: N D L 21 (1973) 3, S. 132. Umschlagtext zu Ulrich Plenzdorf: Die neuen Luden des jungen W. Rostock 1973.
396 Ebenda, S. 108. 397 Ulrich Plenzdorf in: Diskussion um Plenzdorf. Die neuen Leiden des jungen W. In: Sinn und Form 25 (1973) 1, S. 243. 398 Dieses Verfahren beschreibt - und verabsolutiert im Rahmen seiner Ästhetik der Negativität - Wolfgang Iser (Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972). 399 Günter Karl: Experiment im Streitgespräch. Eine Betrachtung zum Film „Der geteilte Himmel". In: N D v. 5. 9. 1964, S. 4. 400 Hans-Jürgen Geisthardt: „Ole Bienkopp" - Roman von Erwin Strittmatter. In: N D v. 29.1.1964, S. 4. 401 Vgl. Max Walter Schulz: Spur der Steine. Roman von Erik Neutsch. In: N D v. 22. 4.1964, S. 4. 402 Hans Koch: Helden in der Entscheidung. In: N D v. 8. 4.1964, S. 4. 403 Walter Ulbricht: Die gesellschaftliche Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik. Referat auf dem VII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin 1967, S. 271. 404 Ebenda. 405 Horst Redeker: Not oder Tugend des Dichters? Über die Beziehungen zwischen Künstler und Gesellschaft. In: N D v. 22. 1. 1966, Beilage 3, S. 2. 406 Inge v. Wangenheim: Treffpunkt Bitterfeld. In: N D v. 21.2.1964, S. 4. 407 Erik Neutsch: An meine Freunde von der technischen Intelligenz. In: Forum 17 (1963) 5, S. 21. 408 Vgl. zum Begriff Edith Braemer: Problem „Positiver Held". Ein Diskussionsbeitrag. In: NDL 9 (1961) 6 - Kriterium ist hier nicht (allein) die Ausstattung des Helden mit progressiven politisch-moralischen Ideen, sondern (vor allem) seine Funktion im Gestaltungsgefüge, seine Aggressivität im Sinne erneuernder Aktivität, umwandelnden Eingreifens. Mit W. Jermilow {Literaturnaja Gaseta v. 9. u. 12.6.1951) wird bestimmt: „Der positive Held des sozialistischen Realismus steht selbst im Angriff, eine Position, die dadurch ermöglicht wird, daß er von einem handelnden, immer aktiven Kollektiv getragen wird." (S. 44). Braemer konstatiert 1961, daß es bisher in der großen epischen Form nicht gelungen sei, einen dem antifaschistischen positiven Helden adäquaten „positiven Helden der Periode des sozialistischen Aufbaus zu gestalten" (S. 61). 409 Vgl. dazu die Thesen Arbeit in der epischen Gestaltung. (Dieter Schönstedt in Zusammenarbeit mit Eva Nahke); in: WB 11 (1964) 2. 410 Vgl. Bernhard Seeger: Herbstrauch. Halle 1961, S. 320. 411 Vgl. dazu Dieter Schlenstedt: Der produktive und der überflüssige Mensch. In: Revolution und Literatur. Zum Verhältnis von Erbe, Revolution und Literatur. Hg. v. Werner Mittenzwei u. Reinhard Weisbach. Leipzig 1971. (Reclams Univexsal-Bibliothek. 62.) 412 Eduard Claudius: Menschen an unserer Seite. Berlin 1951, S. 79-80. 413 Auf die Unendlichkeit des nun in Gang gesetzten Prozesses weist Inge
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v. Wangenheim hin (vgl. „Die Geschichte und unsere Geschichten". Gedanken eines Schriftstellers auf der Suche nach den Fabeln seiner Zeit. Halle 1966, S. 65). Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp. Berlin 1963. Die folgenden Zitate finden sich auf S. 31 (pass.), 239, 258, 143 (pass.), 308, 244, 12, 7 (pass.), 418, 420, 418. Schriftsteller an der Basis. In: NDL 13 (1965) 6, S. 70. Lucien Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin 1973, S. 377. Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. In: Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Protokoll. Berlin 1964, S. 205-211. - Wirkungsästhetische Aspekte des Ole Bienkopp untersucht Reinhard Hillich in: Erwin Strittmatter. Analysen, Erörterungen, Gespräche. Berlin 1977 (Schriftsteller der Gegenwart 3). Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Über das Lehrgedicht. In: GW, Bd. 38, S. 71-72. Schriftsteller an der Basis. In: N D L 13 (1965) 6, S. 71, 78. Ebenda, S. 69. Erik Neutsch: An meine Freunde von der technischen Intelligenz. In: Forum 17 (1963) 5, S. 21. Schriftsteller an der Basis. In: N D L 13 (1965) 6, S. 69. Walter Benjamin macht bei Gelegenheit seiner Rezension von Brechts Dreigroscbenroman (Walter Benjamin: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Leipzig 1970, S. 303 «Reclams Universal-Bibliothek. 476») den wichtigen Unterschied zwischen „Anweisung . . . auf die Praxis" und Anweisung „an" die Praxis. Unbeschadet ihres genaueren Bezugs auf das „plumpe Denken" ist diese Überlegung geeignet, die Vorstellung vom „operierenden Schriftsteller" (vgl. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. In: Ebenda, S. 355) zu differenzieren. Schriftsteller an der Basis. In: NDL 13 (1965) 6, S. 68. Eduard Zak: Held des Übergangs. In: Sonntag (1963) 48, S. 10. Vgl. Inge v. Wangenheim: Treffpunkt Bitterfeld. In: N D v. 21. 2. 1964, S. 4. Horst Redeker (Buch und Wirkung. In: Erwin Strittmatter. Analysen, Erörterungen, Gespräche. Berlin 1977, S. 168 [Schriftsteller der Gegenwart. 3]) betont, daß die literarische Gestalt nicht repräsentativ für eine soziologische Gruppe ist. Grundrisse, S. 438-440. Ebenda, S. 387. Schriftsteller an der Basis. In: NDL 13 (1965) 6, S. 69. Vgl. Gerhard Hendel: Weder Anarchist noch Spießer. In: Sonntag (1964) 11. Gespräch mit ihrem Autor. Literaturdiskussion auf der Baustelle. In: N D v. 16. 10.1964, S. 4.
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Der Autor und sein Held. In: Junge Generation (1964) 8, S. 61. Vgl. Anm. 218. Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp. Berlin 1963, S. 427. Ebenda, S. 83. Weitere Seitenangaben im Text. Vergleichbare, wenngleich anders organisierte und anders funktional bestimmte Anredeformen finden sich sporadisch schon in dem frühen Erzählungsband Eine Mauer fällt (1953). In Ole Bienkopp tritt die Anrede zunächst in unfesten Formen etwa S. 32 u. S. 81 auf, ehe sie dann mit der zitierten Formel versehen wird. Sie bleibt im ersten Teil des Romans vereinzelt. Gegen solche Züge literarischen Lebens richtet Strittmatter auch immer ausdrücklich seine polemischen Spitzen - von der Rede auf dem IV. Schriftstellerkongreß (vgl. IV. Schriftstellerkongreß, Teil 2, S. 5) bis hin zu den kunstprogrammatischen Äußerungen im zweiten Band des Wundertäters (vgl. bes. Erwin Strittmatter: Der Wundertäter. Bd. 2. Berlin-Weimar 1973, S. 135, 403). Ebenda, S. 325. Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 64. Volker Braun: Wie Poesie? In: Notatc, S. 78 Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. In: IV. Schriftstellerkongreß, Teil 2, S. 6. Vgl. Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp. Berlin 1963, S. 148. Vgl. ebenda, S. 328, 419. Erwin Strittmatter: [Diskussionsbeitrag]. In: V. Schriftstellerkongreß, S. 115. Vgl. die Interpretation von Heinz Nahke: Sozialistische Volksgestalten als Träger unserer Macht. In: Fernsehdramatik im Gespräch. Theoretische Konferenz des Staatlichen Komitees für Fernsehen beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1969, S. 41-42. Benito Wogatzki: Jetzt gehen wir aufs Ganze. In: BZ am Abend v. 7. 2. 1969, S. 6; Benito Wogatzki: Entdecken - interessant, aufregend. In: ND v. 9. 4. 1969, S. 4. Klaus Gysi: Kultur und Kunst in der sozialistischen Menschengemeinschaft. Rede auf der 5. Sitzung des Staatsrates der DDR. In: Sonntag (1967) 51, S. 11, 3. Heinz Nahke: Sozialistische Volksgestalten als Träger unserer Macht. In: Fernsehdramatik im Gespräch. Theoretische Konferenz des Staatlichen Komitees für Fernsehen beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1969, S. 42. Hans Koch. Für eine Literatur des realen Humanismus. In. NDL 15 (1967) 1, S. 23-24. Klaus Gysi: Die Kunst im Kampf für die sozialistische Gemeinschaft. Rede auf der 13. Sitzung des Staatsrates der DDR. In: ND v. 19. 10. 1968, S. 4.
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4 5 2 Ebenda. 4 5 3 Haas Koch: Für eine Literatur des realen Humanismus. I n : N D L
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(1967) 1, S. 25. 4 5 4 Vgl. Hans Konrad: Spuren der Steine? I n : N D v. 6. 7 . 1 9 6 6 , S. 4. 4 5 5 Vgl. Volker Braun: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. I n : Nótate, S. 1 7 - 1 8 . 4 5 6 Marx betont, Resultat historischen Prozesses sei die allgemeine Entwicklung der Produktivkräfte und die Universalität des Verkehrs als Basis, diese die Möglichkeit der universellen Entwicklung der Individuen. D i e wirkliche Entwicklung der Individuen von dieser Basis aus bestimmt er „als beständige Aufhebung ihrer S c h r a n k e ,
die als Schranke gewußt
ist und nicht als h e i l i g e G r e n z e gilt". Dem Gedankengang vorausgesetzt ist der andere, daß alle „Formen, worin das Gemeinwesen die Subjekte in bestimmter objektiver Einheit mit ihren
Produktionsbedin-
gungen, oder ein bestimmtes subjektives Dasein die Gemeinwesen selbst als Produktionsbedingungen unterstellt", „notwendig nur limitierter und prinzipiell limitierter Entwicklung der Produktivkräfte" entsprechen, daß die Entwicklung der Produktivkräfte sie auflöst und ihre Auflösung selbst Entwicklung der Produktivkräfte ist. (Grundrisse, S. 440, 396.) 457 Brigitte Reimann: Brief an Annemarie Auer v. 3. 10. 63. I n : Was zählt, ist die Wahrheit. Briefe von Schriftstellern der D D R . Mit einem Nachw. v. Werner Liersch. Halle 1975, S. 299. - D a ß Wohnungsbau hier für Bau der Formen menschlichen Zusammenlebens, Gesellschaftsbau steht, wird im Roman mehrfach thematisch ausgeworfen (vgl. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 153, 156, 223, 2 7 0 pass.). 4 5 8 Brigitte Reimann: Brief an Annemarie Auer v. 26. 11. 63. I n : Ebenda, S. 3 0 3 - 3 0 4 (Hervorhebung - D . S. ). 4 5 9 Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1 9 7 4 ; die folgenden Zitate finden sich auf S. 382, 384, 263, 119, 262, 582, 521. 4 6 0 Erik Neutsch: Spur der Steine. Halle 1964, S. 637. - Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, mit welcher Art von Vokabular Neutsch die Aktivitäten seines Helden versieht, der doch die „Zeit der Befehle" (S. 682) zu kritisieren hat: Horrath „erteilte seine Befehle", er „trieb die Mitglieder der Parteileitung" (S. 637), er „kommandierte" (S. 696) usw. D i e unkontrollierte Sprachverwendung zeigt im ganzen Buch mehr, als der Autor selbst wollte. 461 Zu dieser Wahrheit muß gestanden werden. Sonntag-Gespräch mit dem Schriftsteller Alfred Wellm. I n : Sonntag (1969) 23, S. 6. 4 6 2 Alfred Wellm: Pause für Wanzka oder D i e Reise nach Descansar. BerlinWeimar 1968, S. 361, 26, 27, 119. 4 6 3 Dem widerspricht die märchenhafte Schlußlösung des Romans von Wellm nur scheinbar. In bezug auf die Absichten des Autors, der zum Ausdruck bringen wollte, daß sich „unter unseren, unter sozialistischen Bedingungen das Gerechte" gesetzmäßig durchsetzt (vgl. Zu dieser Wahrheit muß ge-
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standen werden. In: Sonntag (1969) 23, S. 6), muß sie sogar als paradox bezeichnet werden: Es bedarf außerordentlicher Anstrengungen und eines großen Glücksfalls, daß sich im Roman das Gerechte durchsetzt. Eben dies ruft nach einer anderen Normalität bei der Lösung der Konflikte. Klaus Gysi: Kultur und Kunst in der sozialistischen Menschengemeinschaft. Rede auf der 5. Sitzung des Staatsrates der DDR. In: Sonntag (1967) 51, S. 11, 4. Hans Koch: Für eine Literatur des realen Humanismus. In: N D L 15 (1967) 1, S. 23-24. Erik Neutsch: Die Kunst ist schöpferisch. Gedanken zum 11. Plenum. In: N D v. 19. 2.1966, S. 4. Klaus Gysi: Die Kunst im Kampf für die sozialistische Gemeinschaft. Rede auf der 13. Sitzung des Staatsrates der DDR. In: N D v. 19.10. 1968, S. 4. Klaus Gysi: Kultur und Kunst in der sozialistischen Menschengemeinschaft. Rede auf der 5. Sitzung des Staatsrates der DDR. In: Sonntag (1967) 51, S. 4. Zu dieser Wahrheit muß gestanden werden. Sonntag-Gespräch mit dem Schriftsteller Alfred Wellm. In: Sonntag (1969) 23, S. 6. Vgl. Erik Neutsch: Spur der Steine. Halle 1964, S. 444. Alexander Abusch: [Diskussionsbeitrag]. In: Die Aufgaben der Kultur bei der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft. Protokoll der 5. Sitzung des Staatsrates der DDR vom 30. November 1967. Berlin 1967, S. 65. (Schriftenreihe des Staatsrates. H. 2) - Zu den literarischen Konsequenzen vgl. etwa Fritz Selbmann: Konflikte in der sozialistischen Literatur. In: N D v. 10. 5. 1969, S. 11. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Berlin 1974, S. 472. Ebenda, S. 118; Christa Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität. In: Eröffnungen, S. 174. Günter Kunert: Von der Schwierigkeit des Schreibens. In: Text und Kritik. (1975), 46. S. 11-13. Grundrisse, S. 80. Herbert Otto: Die Sache mit Maria. Berlin-Weimar 1976, S. 86, 239, 309. Volker Braun: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. In: Notate, S. 18. Inge v. Wangenheim: „Die Geschichte und unsere Geschichten". Gedanken eines Schriftstellers auf der Suche nach den Fabeln seiner Zeit. Halle 1966, S. 37-38, 51. Vgl. zum Problem des psychologischen Dynatnismus Luden Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin 1973 (besonders den Abschnitt Entwicklungsgesetze und Probleme der erweiterten Reproduktion der Persönlichkeit). Das hier angesprochene Verhältnis bildet seit 1952 einen wichtigen Gegenstand des Nachdenkens von Anna Seghers (vgl. Die Tendenz in der reinen Kunst, S. 89, 161).
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481 Waltet Ulbricht: Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur. In: Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Protokoll. Berlin 1964, S. 83. 482 Max Walter Schulz: Prüfung unserer Menschlichkeit. In: „Der geteilte Himmel" und seine Kritiker. Dokumentation. Hg. v. Martin Reso. Halle 1965, S. 2 3 3 . 483 Inge v. Wangenheim: „Die Geschichte und unsere Geschichten". Gedanken eines Schriftstellers auf der Suche nach den Fabeln seiner Zeit. Halle 1966, S. 52, 6 5 - 6 6 . 4 8 4 Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Halle 1963, S. 180, 62, 105. 485 Schriftsteller an der Basis. In: N D L 13 (1965) 6, S. 69. 4 8 6 Erwin Strittmatter: O l e Bienkopp. Berlin 1963, S. 2 3 9 - 2 4 0 . 487 Rede auf der ersten Jahreskonferenz, S. 166. 488 Vgl. Georg Lukäcs : Der historische Roman. Berlin 1955, S. 91. 4 8 9 Johannes Bobrowski: Levins Mühle. 34 Sätze über meinen
Großvater.
Berlin 1964, S. 26. 4 9 0 Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora
Beatriz nach
Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Berlin-Weimar 1974, S. 9 (pass.). 491 Die Rettung des Saragossameeres. Märchen. Hg. v. Joachim Walther u. Manfred Wolter. Berlin 1976, S. 3 6 0 - 3 6 1 . 492 Vgl. Anna Seghers: Rede auf dem V I I . Schriftstellerkongreß, S. 2 0 ; Anna Seghers: [Motto der „Schönsten Sagen vom Räuber Woynok"]. In: Erlebnis und Gestaltung, S. 16. - Vgl. auch Kurt Batt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werk. Leipzig 1973, S. 1 3 2 - 1 3 7 . 493 Christa W o l f : Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche
Geschichten.
Berlin-Weimar 1974, S. 17. 494 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: Bertolt
Brecht:
Schriften zum Theater. Bd. 7. Berlin-Weimar 1964, S. 1 5 ; ders.: D e r Dreigroschenprozeß. In: Literatur und Kunst, S. 185. 495 So etwa bei Joachim Walther und Manfred Wolter (vgl. Anm. 491).
-
Das Problem wurde zum Gegenstand des Streites zwischen Heinz Plavius (Zur DDR-Gegenwartsliteratur im HinstorS Verlag. Beobachtungen - Anmerkungen -
Tendenzen. Rostock 1976) und Gerhard Dahne (Verlags-
arbeit gefestigt und konzeptionellen Vorlauf erhöht. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 144 (1977) 4). Plavius erachtet den Umstand, daß „Parabel, Symbole, Legende, Märchen, Groteske" in unserer Literatur im Zusammenhang mit der „wachsenden Subjektivität", wie er meint, und der „Entdeckung des Ich durch Phantasie" (S. 13) - stärker in Erscheinung treten, als Wachstum des „spezifische[n] Anteils fiktiver Elemente" (S. 8). Dabei wird eingeräumt, daß in bezug auf diese Formen, die als „Erweiterung der Möglichkeiten des Realismus" (S. 16) anzusehen seien, in unserer Theorie mit ihrer bestimmten Geschichte eine „gewisse Unsicherheit" der Begriffbildung beobachtet werden muß (S. 15). - Dahne wiederum versteht nun jede typisierende Aneignung der Wirklichkeit als fiktiv; dies ist
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für ihn Notwendigkeit des bildhaften Denkens, und es gilt ihm dabei für gleich, „ob die Kunstwirklichkeit durch Umstrukturierung des Materials phantasievoll erzeugt wird oder durch dessen Aufhebung in Formelemente wie Märchen, Legende, Parabel, Symbol usw.": „Dies ist ein Grund dafür, daß ein Autor gleicherweise mit Tatsachen, mit dokumentarischem, in der Wirklichkeit nachprüfbarem Material die künstlerische Fiktion herstellen kann." (S. 57). 496 Vgl. dazu Heinz Nahke: Kritische Bemerkungen zu: „Wetterleuchten um Wadrina" von Wolfgang Neuhaus. In: Zur Literaturdiskussion. [Berlin] 1956 (Beiträge zur deutschen Gegenwartsliteratur. 9). 497 Karl-Heinz Jakobs: Tanja, Taschka und so weiter. Berlin 1975, S. 5. 498 Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 61. 499 Vgl. Eva Kaufmann: Dem Leben auf die Schliche kommen . . . Besonderheiten des Erzählens bei Karl-Heinz Jakobs. In: Ebenda, S. 81. 500 Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: Ebenda, S. 61; vgl. Karl-Heinz Jakobs in: Schmetterlinge, S. 30. 501 Leser äußern sich zur neuen deutschen Literatur. Ein Beitrag der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken zum IV. Deutschen Schriftstellerkongreß. Hg. v. Zentralinstitut für Bibliothekswesen. Berlin 1955, S. 20. 502 Manfred Jendryschik: Johanna oder Die Wege des Dr. Kanuga. Halle 1972, S. 172-173. 503 Christa Wolf: Schmetterlinge, S. 121, 128, 131, 133. 504 Franz Carl Weiskopf/Kurt Hirschfeld: Um den proletarischen Roman. Rundfunkgespräch. In: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten. 2. durchges. u. erw. Aufl. Berlin-Weimar 1967, S. 196. 505 Vgl. ebenda, S. 765-766. (Vgl. auch die Diskussion in: Literatur der Weltrevolution 1 (1931). Zweite Internationale Konferenz der Schriftsteller in Charkow. Sonderheft. S. 19, 187, 190.) 506 Ernst Ottwalt: „Tatsachenroman" und Formexperiment. In: S. Anm. 504, S. 468, 470, 464. 507 Volker Braun in: Schmetterlinge, S. 102-103. 508 Anna Seghers: Der Bienenstock. In: Anna Seghers: Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden. Berlin 1959, S. 6 - 7 . 509 Wolf gang Kohlhaase: [Diskussionsgrundlage], In: VII. Schriftstellerkongreß. Arbeitsgruppen, S. 12. 510 Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 190. 511 Christa Wolf: Brief an Gerti Tetzner v. 23. 8. 1965. In: Was zählt, ist die Wahrheit. Briefe von Schriftstellern der DJDR. Mit einem Nachw. v. Werner Liersch. Halle 1975, S. 16-17. 512 Gerhard Branstner in: Schmetterlinge, S. 17-22. 513 Jan Koplowitz: [Diskussionsbeitrag]. In: VI. Schriftstellerkongreß, S. 107.
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514 Ebenda. - Vgl. dazu auch Dieter Strützel in der Diskussion Reportage weiter im Gespräch-, in: NDL 17 (1969) 4, S. 14-15. Es heißt dort, daß bewegende Literatur in der Reportage dann entsteht, wenn hinter der Sachinformation der sensitive Zeitgenosse sichtbar wird, „der sich die Dinge nicht leicht macht, der sich nicht mit zunächst einmal naheliegenden Antworten oder Erklärungen zufriedengibt, dem ich also die Mühe des Erkenntnisprozesses, des Eindringens, des ein Verhältnis-Ausbildens durchaus anmerke". In der Diskussion spielten zwei Dimensionen der Entfaltung von Möglichkeiten der Reportage eine Rolle. Auf der einen Seite vertrat Jan Koplowitz gegen den „Bericht" das Konzept einer konkret (z. B. auf Betriebsebene in die Steigerung der Arbeitsproduktivität) eingreifenden Literatur (S. 7); Jean Villain gegen die „Story" eine Reportage von Dokumentationscharakter, deren Operativität als Aufklärung bestimmt wurde, darin, daß sie „Menschen über ihre Welt informiert, . . . ihnen die gesellschaftlichen Prozesse, in denen sie stecken, transparent" macht (S. 8). Auf der anderen Seite machte Fritz Selbmann den Unterschied zwischen einer journalistischen Reportage, die für den bestimmten Zweck, z. B. „für die Information" arbeitet, und einer literarischen Reportage, die „bestimmten künstlerisch-ästhetischen Qualitäten entspricht". Dabei wurde nun die ästhetische Qualität der literarischen Reportage wie auch der literarischen Autobiographie strukturell in ihren „Sprachlösungen", funktional in der Erzeugung von ästhetischem „Vergnügen" festgemacht - und dabei vereinfacht: Die ästhetische Sprachstruktur von Reportagen usw. besteht nicht allein in „Metaphern, Sprachgleichungen, teilweise auch Sprachneuschöpfungen" und die ästhetische Funktion nicht allein im „Vergnügen" (S. 13-14). 515 Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 61. 516 Karl-Heinz Jakobs: Tanja, Taschka und so weiter. Berlin 1975, S. 9-10. 517 Günter Kunert: Warum Ortsbeschreibungen? In: Günter Kunert: Ortsangaben. Berlin-Weimar 1971, S. 146. 518 Günter Kunert: An einen Leser in der Sowjetunion. Brief v. 19. 6. 1972. In: Was zählt, ist die Wahrheit. Briefe von Schriftstellern der DDR. Mit einem Nachw. v. Werner Liersch. Halle 1975, S. 206. 519 Günter Kunert: Der andere Planet. Ansichten von Amerika. Berlin-Weimar 1974, S. 6 - 9 . 520 Fritz Selbmann: Alternative Bilanz Credo. Halle 1969, S. 5. 521 Vom Wert der Geschichte. Interview mit Hermann Kant. In: Auskünfte, S. 304. 522 Vgl. Ruth Werner: Mit klarem Horizont läßt sich besser schreiben. In: N D v. 31. 5. 1978, S. 5. 523 Fritz Selbmann: Alternative Bilanz Credo. Halle 1969, S. 6, 224. 524 Franz Dahlem: Am Vorabend des zweiten Weltkrieges. Bd. 1. Berlin 1977, S. 7-9.
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525 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. Halle 1891, S. 268. 526 In: Lore Wolf: Ein Leben ist viel zu wenig. Berlin 1973, S. 5. 527 Annemarie Auer: Die kritischen Wälder. Ein Essay über den Essay. Halle 1974. Die Zitate finden sich auf S. 34, 61, 72, 140, 75, 81, 135, 137, 37. 528 Vgl. Ruth Werner: Sonjas Rapport. Berlin 1977, S. 340. 529 Franz Fühmann: Nachwort. In: Wieland Förster: Begegnungen. Berlin 1974, S. 129. 530 Werner Bräunig: „Prosa schreiben". Anmerkungen zum Realismus. Halle 1968, S. 17-18, 22, 18-19, 11. 531 Produktivkraft Poesie. Gespräch zwischen Erwin Strittmatter und Heinz Plavius. In: NDL 21 (1973) 5, S. 6. 532 Schriftsteller an der Basis. In: NDL 13 (1965) 6, S. 72, 75. 533 Lesen und Schreiben, S. 198. 534 Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Berlin-Weimar 1974, S. 257, 259; Irmtraud Morgner in: Schmetterlinge, S. 45, 50-51, 4 5 - 4 6 . 535 Werner Bräunig: „Prosa schreiben". Anmerkungen zum Realismus. Halle 1968, S. 23. 536 Ursula Roisch: Geschichte als Geschichten. In: Günter Jäckel/Ursula Roisch: Große Form in kleiner Form. Zur sozialistischen Kurzgeschichte. Halle 1974, S. 106. 537 Manfred Jendryschik: Geschichten über Geschichten. In: Bettina pflückt wilde Narzissen. 66 Geschichten von 44 Autoren. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Manfred Jendryschik. Halle 1973, S. 429-436. 538 Vgl. dazu bes. Günter Jäckel: Nachrichten und poetische Informationen. In: Günter Jäckel/Ursula Roisch: Große Form in kleiner Form. Zur sozialistischen Kurzgeschichte. Halle 1974. 539 Erwin Strittmatter: Die blaue Nachtigall oder Der Anfang von etwas. Berlin-Weimar 1972, S. 139-140. 540 Karl Marx: Hefte zur epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie. In: MEW, Ergänzungsbd. Teil 1, S. 219. 541 Vom Wert der Geschichte. In: Auskünfte, S. 313. 542 Eine Geschichte, in der nichts los ist ist der ironische Titel einer Erzählung von Peter Gosse. 543 Werner Bräunig: [Klappentext], In: Gewöhnliche Leute. Halle 1969. 544 Werner Bräunig: „Prosa schreiben". Anmerkungen zum Realismus. Halle 1968, S. 2 3 - 2 4 . 545 Meine Jugend, deine Jugend und ein neues Buch. Ein Gespräch mit Eduard Claudius. In: ND v. 27. 6. 1964. Beilage 26, S. 1. 546 Eduard Claudius: Wintermärchen auf Rügen. In: Eduard Claudius: Hochzeit in den Alawitenbergen. Erzählungen aus drei Jahrzehnten. Halle 1975, S. 301. - Weitere Seitenangaben im Text. 24
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547 Vgl. Carola Vollmann: [Leserbrief], In: Forum 17 (1963) 5, S. 13. 548 Meine Jugend, deine Jugend und ein neues Buch. Ein Gespräch mit Eduard Claudius. In: N D v. 27. 6. 1964. Beilage 26, S. 1. 549 Ebenda. 550 Im Auftrage unserer Leser: NBI fragt - Autoren antworten. In: Neue Berliner Illustrierte (1966) 44, S. 19. 551 Erich Köhler: Der Krott oder Das Ding unterm Hut. Rostock 1976, S. 93, 50, 61. 552 Günter de Bruyn: Buridans Esel. Halle 1968, S. 16, 236, 16, 83, 139. 553 Erich Köhler: Der Krott oder Das Ding unterm Hut. Rostock 1976, S. 75-76. 554 Günter de Bruyn: Buridans Esel. Halle 1968, S. 153, 140. 555 Klaus Schlesinger: Alte Filme. Rostock 1975, S. 90. 556 Wolfgang Hartwig: Eduard Claudius. In: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen. Autorenkollektiv. Hg. HansJürgen Geerdts. Bd. 1. Berlin 1974, S. 211. 557 Meine Jugend, deine Jugend und ein neues Buch. Ein Gespräch mit Eduard Claudius. In: N D v. 27. 6. 1964, Beilage 26, S. 1. 558 Eva Kaufmann: Interview mit Karl-Heinz Jakobs. In: WB 21 (1975) 5, S. 55. 559 Vgl. Bertolt Brecht: Über das Anfertigen von Bildnissen. In: Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd. 1. Berlin-Weimar 1968, S. 274 bis 275. 560 Günter Jäckel: Nachrichten und poetische Informationen. In: Günter Jäckel/Ursula Roisch: Große Form in kleiner Form. Zur sozialistischen Kurzgeschichte. Halle 1974, S. 43, 50. 561 Vgl. Annemarie Auer: Die kritischen Wälder. Ein Essay über den Essay. Halle 1974, S. 150, 59. 562 Vom Wert der Geschichte. In: Auskünfte, S. 274, 279, 297, 295, 299. 563 Hermann Kant: Die Aula. Berlin 1965, S. 346-347. - Weitere Seitenangaben im Text. 564 Vom Wert der Geschichte. In: Auskünfte, S. 299, 307, 298, 303. 565 Vgl. Hermann Kant: Referat auf dem VII. Schriftstellerkongreß, S. 45-46. 566 Vom Wert der Geschichte. In: Auskünfte, S. 276, 274, 276. 567 Ebenda, S. 290-291. 568 Ebenda, S. 308. 569 Hermann Kant in einem Rundfunkgespräch. Zit. nach: Klaus Walther: Geschichte, Geschichten und Romane. In: Märkische Volksstimme v. 9. 1. 1966. 570 Vgl. zum Prinzip des Fragens Hermann Kant: Die Aula. Berlin 1965, S. 304, 410, 438, 441. 571 Vgl. Leonore Krenzlin: Hermann Kant - Leben und Werk. Phil. Diss. Berlin 1978, S. 103-107. 572 Es ist gegen die Aula eingewandt worden, daß die Schnurren, Anekdoten
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und Schränke Kants, die Episodik oder deren Handhabung ein tieferes Durchdringen des Materials verhindern, daß mit allzu leichter Hand das Ernsthafte im Unerledigten der Vergangenheit beiseitegeschoben wird und daß dies besonders dort auffallen muß, wo die individuelle moralische Problematik der Figur zu geschärft auftritt. Ob ein Teil der erzählten Geschichten nicht eigentlich tragisch ist oder ob der Witz von Witzen nicht gerade dadurch möglich wird, daß man nicht an alles denkt, macht der Roman selbst auf spielerische Weise problematisch (S. 314, 377). Freilich lassen sich die Feststellungen der Kritiker auch als Zeugnisse für ein Verkennen von Gesetzmäßigkeiten und Leistungen des Komischen lesen. 573 Der Ausdruck „Ironie" meint hier gerade die verschränkte Wertung, in der Großes klein und Kleines groß erscheint, Vergangenheit und Gegenwart wechselseitig kritisch ins Verhältnis gesetzt werden. Spezifischer handelt es sich um eine Ironie, die sich nicht allgemein auf der Dialektik von Identifizierung und Distanzierung erhebt (vgl. Edith Braemer: Hier wird schon geredet. In: Forum 19 (1965) 20, S. 7 - 8 ) , die vielmehr dieses Verhältnis historisch faßt - unterschieden von jener für Kant durchaus traditionsbildenden Ironie Thomas Manns, die sich aus der wechselseitigen Kritik von Geist und Leben ergibt. 574 Vom Wert der Geschichte. In: Auskünfte, S. 312-313. 575 Vgl. Henri Bergson: Das Lachen. Jena 1914, S. 17. - Dieser Aspekt der - übrigens deutlich vitalistisch geprägten - Gedanken Bcrgsons über die „Funktion des Lachens" als einer „Art sozialer Feuertaufe" (S. 91) ist durchaus anregend. 576 Vgl. dazu die Umfrageergebnisse der Pilotstudie des Hallenser Soziologenkollektivs, wie sie von Dietrich Löfflet in dem Aufsatz Sozialistische Probleme der Beziehungen zwischen Werkstrukturen und der Publikumsstruktur dargestellt wurden. (Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle 18 (1969) 2.) Auf die Frage, was am meisten an Kants Roman interessiert hat, antworteten 51 Prozent der Befragten positiv auf die Vorgabe: „Die Art und Weise, in der Robert Iswall seine Nachforschungen anstellt, die Gedanken, die er dabei hat und wie er es beschreibt" (S. 286). 577 578 579 580
Vgl. S. 278-279. Vom Wert der Geschichte. In: Auskünfte, S. 304. Ebenda, S. 312. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. Halle 1891, S. 268. 581 Daß die geringe Ausstattung der Figur mit praktisch-gegenwärtigen Aktivitäten erhebliche Konsequenzen hat, zeigt Heinz Czechowski: Noch einige Fragen zu Hermann Kants Roman. In: Forum 20 (1966) 13, S. 6 - 7 . Hermann Kahler („Die Aula" - eine Laudatio auf die D D R ; in: Sinn und Form 20 (1966) 1, S. 267-273) liefert eine säuberliche Aufzählung des „literarisch Ungelösten" in Kants Roman.
582 Zum Ensemblecharakter des Komischen in der Aula vgl. auch Werner 24»
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Neubert: Komisches und Satirisches in Hermann Kants Roman. In: WB 12 (1966) 1, S. 15-26. Differenzen im Aufbau der Erinnerung bei Proust und Kant ergeben sich aus allgemeineren weltanschaulich-poetischen Zusammenhängen; ein direkter polemischer Bezug soll hier nicht behauptet werden. - Zur Struktur der auf die Erinnerung gebauten ars poética bei Proust Tgl. Manfred Naumann: Einleitung. In: Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt. Berlin 1974, S. 5-53. Vgl. etwa: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 10, 1917 bis 1945. Autorenkollektiv. Leitung Hans Kaufmann. Berlin 1973, S. 487-558; Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Bd. 11. Autorenkollektiv. Leitung Horst Haase. Berlin 1976, S. 523-636. - In der Geschichte der deutseben Literatur läßt sich zugleich die Tendenz beobachten, das Gattungsfeld als „Prosa" zusammenzufassen. Johann Wolfgang Goethe: Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans. In: GW, Bd. 5, S. 224. Ebenda, S. 222; vgl. dazu auch: Johann Wolfgang Goethe: Über das Lehrgedicht. In: Ebenda, Bd. 38, S. 71-72. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 896. Johann Wolfgang Goethe: Adelchi. In: GW, Bd. 38, S. 64. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 897, 893. Vgl. dazu Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einleitung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948, S. 12-14. Vgl. Wolfgang Victor Ruttkowski: Die literarischen Gattungen. Reflexionen über eine modifizierte Fundamentalpoetik. Bern-München 1968, S. 9. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 937-938, 1003. Ebenda, S. 934. Johann Wolfgang Goethe: Adelchi. In: GW, Bd. 38, S. 66; Johann Wolfgang Goethe: Über epische und dramatische Dichtung. In: Ebenda, Bd. 36, S. 152. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Ebenda, Bd. 38, S. 255. Thomas Mann: Die Kunst des Romans. Vorlesung für Princeton-Studenten. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke. Bd. 11: Altes und Neues. Berlin 1955, S. 465-466. Werner Bräunig: Briefwechsel, die Gruppe 61 betreffend. In: Werner Bräunig: „Prosa schreiben". Anmerkungen zum Realismus. Halle 1968, S. 47-48; Werner Bräunig: Prosa schreiben. In: Ebenda, S. 22. Georg Lukács: Der historische Roman. Berlin 1955, S. 90-91; Georg Lukács: Erzählen oder Beschreiben. In: Georg Lukács: Probleme des Realismus. Berlin 1955, S. 104, 118, 117, 140, 120.
599 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Berlin 1955, S. 216.
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Personenregister
Aitmatow, Tschingis 229 348 Apitz, Bruno 166 311 Auer, Annemarie 281 Baierl, Helmut 29 Barlach, Ernst 82 Barthes, Roland 345 Bastian, Horst 175 Becher, Johannes R. 13 40 139 350 Becker, Jurek 28 Benjamin, Walter 278 353 362 Berger, Christel 200 Bergson, Henri 310 371 Bobrowski, Johannes 28 80 259-260 Boll, Heinrich 317 Braemer, Edith 361 Branstner, Gerhard 273 Braun, Volker 29 39 78 96 99 100 bis 101 119 127 147-148 183 206 bis 207 234 249-250 271 272 295 Bräunig, Werner 175 177 283 286 288 328 350 Brecht, Bertolt 13 43 63 69 84-85 111 115 133 139-142 153 262 288 307 343 347 349 350 351 353 354 Bredel, Willi 210 Brizan, Jurij 2 9 - 3 0 32 36 39 118 bis 119 166 210 215 220 225 261 338 Bruyn, Günter de 16 25 122 123 143 146 160 171 181 295-296 303 311 336
Büchner, Georg 178 Burow, A. I. 119-120 Caudwell, Christopher (d. i. Christopher St. John Sprigg) 144 Claas, Herbert 353 Claudius, Eduard 22 122 189 210 215 250 288-302 Czechowski, Heinz 371 Dahlem, Franz 279 Dahne, Gerhard 366 Döblin, Alfred 306 Eisler, Hanns 43 115 140 240 Endler, Adolf 260 Engels, Friedrich 153 345 Förster, Wieland 282 Fühmann, Franz 40 78 81-83 119 135 137-138 161 186-187 191 192 262 271 282 344 360 Goethe, Johann Wolfgang 320 326 Gorki, Maxim 168 354 Görlich, Günter 25 176 Gosse, Peter 147 Gotsche, Otto 210 Gratzik, Paul 161 Greßmann, Uwe 260 Günther, Egon 250
170 319
373
Hacks, Peter 116 134 240 260 Hager, Kurt 337 Hastedt, Regina 186 190 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 130 bis 131 140 174 231 275 319-320 323 325-326 330 353 Heiduczek, Werner 25 106-108 114 161 Heine, Heinrich 307 Heise, Wolfgang 346 Hermlin, Stephan 161 280 Hillich, Reinhard 362 Hirschfeld, Kurt 268 Honecker, Erich 342 Iser, Wolfgang 361 Iwanow, W. W. 334 Jacobs, Karl-Heinz 25 29 32 94-95 9 8 - 9 9 108 119 185 188-189 262 265 266 270 276 302 311 337 Jauß, Hans Robert 340 Jendryschik, Manfred 126 266-267 270 287 Jermilow, W. W 361 Kahler, Hermann 371 Kant, Hermann 9 16 25 28 29 30 32 35 68-69 72-73 78 79 117 119 159 168 169 171 203 276 279 284 288 303-317 339 342 346 371 372 Kisch, Egon Erwin 277 Kläber, Kurt 269 Klein, Eduard 210 214 224 225 236 241 250 Knappe, Joachim 25 171 175 194 bis 195 196 Knauf, Erich 269 Köhler, Erich 171 210 260 295 296 Kohlhaase, Wolf gang 111 349 Koplowitz, Jan 368 Kunert, Günter 78 95 99-100 132 bis 133 134 135 138 246 277-278 336 339 352
374
Kurella, Alfred 2 8 - 2 9 335 337 Laabs, Jochen 176 201 202 Laudon, Hasso 355 Lehmann, Günther K. 347 Lenin, W. I. 75 86 337 351 354 Löffler, Anneliese 357 Löfiler, Dietrich 348 371 Lorenc, Kito 260 Lukàcs, Georg 257 259 328-330 Luxemburg, Rosa 35 Malraux, Andre 28 Mann, Thomas 326 371 Marchwitza, Hans 22 189 210 266 Marcuse, Herbert 132 Marx, Karl 49 83 198 226 247 287 345 364 März, Gabriele 348 Medwedew, P. N. 13 Morgner, Irmtraud 122 123 260 285 bis 286 303 336 Müller, Armin 29 214 Münz-Koenen, Ingeborg 353 Nachbar, Herbert 186 Nedoschiwin, G. A. 119 350 Neubert, Werner 336 Neutsch, Erik 16 23 25 26 32 69 72 74-75 164 171 176 210 214 220 223 224 225 228 241 243 250 311 354 364 Nikolajewa, Galina (d. i. Galina Jewgenjewna Woljanskaja) 243 Noll, Dieter 166 175 177 179 180 199 Novalis 148 Ochlopkow, N. P. 341 Otto, Herbert 248 Ottwalt, Ernst 269 Owetschkin, W. W. 187 Perse, Saint-John 148 Plavius, Heinz 366
Plechanow, G. W. 13 Plenzdorf, Ulrich 204 205 207 209 Preißler, Helmut 113 Proust, Marcel 316 372
Tannert, Christa 291 Tetzner, Getti 25 311 Tolstoi, L. N. 36 Turek, Ludwig 269
Redeker, Horst 334 362 Reimann, Brigitte 26 157-158 171 176 182 185-186 190 203 206 241-242 246 337 Rilke, Rainer Maria 151 Rücker, Günther 161
Uledow, A. K.
Sakowski, Helmut 26 112 Schlesinger, Klaus 171 276 296 Schmidt-Elgers, Paul 192 Scholochow, M. A. 108-109 Schopenhauer, Arthur 279-280 313 Schreyer, Wolfgang 113 339 355 Schütz, Helga 137 Schulz, Max Walter 74 161 175 179 180 184 199 251 336 343 Seeger, Bernhard 214 215 Seghers, Anna 13 22 25 53 54-67 77-78 93 102 115 117 119 121 143 153 161 164 168 193 215 245 250 253 261-262 267 271-272 280 326 341 365 Selbmann, Fritz 67-68 71 210 279 339 368 Sève, Luden 219 Stade, Martin 355 Staiger, Emil 322 Stierle, Karlheinz 347 Strittmatter, Erwin 16 22 25 26 70 71 86 88 150-151 158 159 164 165 171 210 216 219-236 250 251 252 260 284 287 363
18-19
Viertel, Martin 69 73 Villain, Jean 368 Vollmann, Carola 291 Walther, Joachim 200 366 Wangenheim, Inge von 249 251 361 bis 362 Weber, Hans 200 Weinert, Manfred 203 Weiskopf, Franz Carl 268-269 Wellm, Alfred 16 25 241 243 245 364 Werner, Ruth 279 281-282 Wertheim, Ursula 355 Wiens, Paul 140 Wittdorf, Jürgen 291 298 Wogatzki, Benito 237 241 Wohlgemuth, Joachim 185 Wolf, Christa 16 23 24 25 28 29 3 0 - 3 1 32 37 78 122 123 136 146 165 171 176 177 190 192-193 194 196-197 199 202 209 246 251 bis 252 262 267-268 271 273 285 291 292 300 311 336 349 359 360 Wolf, Lore 280 Wolter, Manfred 366 Zander, Gisela Zweig, Arnold
348 306
375
In der gleichen Schriftenreibe sind u. a. erschienen: Wolfgang Klein
Schriftsteller in der französischen Volksfront Die Zeitschrift „Commune" 1978 • 384 Seiten • 1 2 , - M Werner Herden
Wege zur Volksfront Schriftsteller im antifaschistischen Bündnis 1978 • 236 Seiten • 7,50 M Frank Wagner
„ . . . der Kurs auf die Realität" Das epische Werk von Anna Seghers (1935—1943) 2. Auflage 1978 • 318 Seiten • 1 0 , - M Christoph Trilse
Antike und Theater heute Betrachtungen über Mythologie und Realismus, Tradition und Gegenwart, Funktion und Methode, Stücke und Inszenierungen 2. Überarb. Auflage 1979 • 348 Seiten • 12,50 M Norbert
Kren^lin
Das Werk „rein für sich" Zur Geschichte des Verhältnisses von Phänomenologie, Ästhetik und Literaturwissenschaft 1979 • 192 Seiten • 6 , - M Heinrich Olscbowsky
Lyrik in Polen Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert 1979 • 237 Seiten • 7,50 M Ludwig Kicbter
Slowakische Literatur Entwicklungstrends vom Vormärz bis zur Gegenwart 1979 • 272 Seiten- 8,50 M Hans-Joachim Fiebacb
Kunstprozesse in Afrika Literatur im Umbruch 1979 • 301 Seiten • 9,50 M Autorenkollektiv
unter Leitung von I. Mim^-Koenen
Literarisches Leben in der DDR 1945 bis 1960 Literaturkonzepte und Leseprogramme 1979 • 346 Seiten • 1 1 - M