Ausgesetzte Schöpfung: Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers [Reprint 2015 ed.] 3484150955, 9783484150959

Die Arbeit erweist die von 1906 bis 1937 entstandene Prosa Else Lasker-Schülers als paradigmatisch für die literarische

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German Pages 535 [536] Year 2002

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Table of contents :
Siglenverzeichnis
I. Exposition: statt einer Einleitung
II. Raum-Grenzen und Grenz-Räume in der Moderne
1. Jenseits des Tauschprinzips oder die Verräumlichung des Horizonts
2. Erkundungen einer anderen Topik: Wege der Psychoanalyse
2.1. Das Ich im Prozeß: zum Konzept der Bahnung
2.2. Hieroglyphen, Traumschrift, Urworte
2.3. Der Widerstand gegen die Theorie: Psychoanalyse und/als Literatur
3. Geschlechterräume und die Hysterisierung der Kultur
3.1. Freud und das Rätsel der Weiblichkeit
3.2. Weininger oder das Weib ist Nichts
III. Vater-Name und Text-Körper: ›Das Peter Hille-Buch‹
1. Figuren des Übergangs
1.1. Von Welt zu Welt: Zarathustras Wanderung
1.2 Zeugnis und Autorschaft
1.3. Der Gekreuzigte: Symbol und Körper
2. An-Spruch und Erwählung
2.1. Der Chiasmus der Eingangsszene
2.2. Ruth und Sulamith: das Aussetzen der Vätergenealogie
2.3. Wahl und Serialität
2.4. Die Sprache der Liebe im Modus des Imaginären
2.5. Dieu Créateur und Dieu Générateur in der Tradition jüdischer Mystik
3. Das Begehren des Anderen
3.1. »Was will eine Mutter?« - Inzesttabu und Nullpunkt der Literatur
3.2. Petrus und die Frauen
4. Der Name des Vaters im Körper des Textes
4.1. Zur Metaphernstruktur des Namens
4.2. Name und Körper Gottes in der Kabbala
4.3. Der »Grabstein über dem Ereignis«: Datum und Textgrenze
IV. Souveränität und Maskerade
1. Der König ist tot, es lebe der Dichter! – Zum Topos des Dichtersouveräns
2. Rituale und Exzesse der Herrschaft
2.1. Die Wege der Tino von Bagdad: Grenzgänge und Privilegierungen
2.2. Souveränität und Gewalt: Aspekte einer Theorie des Opfers
3. Scheherazade und der Schleier der Geschichten
4. Unheimliche Begegnungen: die Verwandte der Tyrannen
4.1. Unfall und Bedeutung: das Entsetzen des Souveräns
4.2. Der Richter und seine Hinrichtung
5. Symbole der Souveränität
5.1. Königsgrab und Hieroglyphe
5.2. Die tanzende Mumie
5.3. Der Himmel im Ring
6. Die Jenseitsmaschine: Übergänge und Spaltungen
6.1. »Fleischgewordene Götter«: Priesterkönige bei Frazer und Freud
6.2. Gott lieben: Vereinigungsphantasien, Mystik und mehr
6.3. Ödipus und sein Vater: jenseits der Kastration
7. Jussuf und der lammblutende Hirtenrock
8. »Ich bin das Tor« – der König als Schwelle und Hohlraum
8.1. Raumkonstitution und Briefstruktur: Jussuf und Ruben
8.2. Der Ursprung ist zwei: die »Venus von Siam« als Muttergottheit
8.3. Theben und der Körper des Königs
8.4. Umhüllung und Fallgrube: der Prachtmantel des Kaisers
9. Kunst und Krieg: der Souverän und der Ausnahmezustand
9.1. Der Erste Weltkrieg und der »Wildkrieg« Jussufs
9.2. Fetisch Kriegskleid und das Phantasma des totalen Krieges
V. Elemente einer Poet(h)ik der Gabe
1. Rückhaltlos: zu einem nicht-transzendentalen Selbst- und Fremdbezug
1.1. Die Ringe der Parabel oder Ethik und Ästhetik in der Moderne
1.2. Das Antlitz des Anderen: zum ethischen Sprachkonzept Emmanuel Lévinas’
2. Die Sorge um den Anderen – Religion und Dialog in ›Der Scheik‹
2.1. »Das streitende Amen«
2.2. Versöhnung jenseits des Todes
2.3. Horchen auf die Spur: Anruf und Klage
3. Übersetzung und Ambivalenz
3.1. Babel und die Grenze technischer Perfektion
3.2. Turmbaumeister und Eulenspiegel: der prekäre Ort der Vaterfigur
3.3. Zionismus und Messianismus im ›Wunderrabbiner von Barcelona‹
3.3.1. Antisemitismus als Interpretationsakt
3.3.2. Verantwortung und Schuld: die Position des höchsten Priesters
3.3.3. Unfall und Begegnung: zur Heterogenität des Zwischenraums
3.3.4. Katastrophe und Rettung: Refigurationen der Moses-Gestalt
4· Gotteskinder: christliche und jüdische Gedenkrituale in »Arthur Aronymus‹
4.1. Die weihnachtliche Bescherung und der Teufel
4.2. Dem Fremdkörper zu Leibe rücken: Hexenverbrennung und Konversion
4.3. Die Thora im Tragkleid
4.4. Pesach: das Erinnern des Übergangs
5. Raum geben: die Aufgabe der Schöpfung im ›Hebräerland‹
5.1. Wunsch(t)räume: kritische Anmerkungen zur Rezeption
5.2. Der gebahnte Weg: Schrift und Raum
5.3. Im Zeitspalt: Überstürzung und Dehnung der Zeit
5.4. Verspätung und Erwählung
VI. Schlußwort
VII. Literaturverzeichnis
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Ausgesetzte Schöpfung: Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers [Reprint 2015 ed.]
 3484150955, 9783484150959

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 95

DOERTE BISCHOFF

Ausgesetzte Schöpfung Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2002

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

D21 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bischoff, Doerte: Ausgesetzte Schöpfung : Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers / Doerte Bischoff. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Hermaea; N.F., Bd. 95) ISBN 3-484-15095-5

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

XI

I.

Exposition: statt einer Einleitung

ι

II.

Raum-Grenzen und Grenz-Räume in der Moderne

9

ι . Jenseits des Tauschprinzips oder die Verräumlichung des Horizonts

16

2. Erkundungen einer anderen Topik: Wege der Psychoanalyse 2.1. Das Ich im Prozeß: zum Konzept der Bahnung . . . 2.2. Hieroglyphen, Traumschrift, Urworte 2.3. Der Widerstand gegen die Theorie: Psychoanalyse und/als Literatur 3. Geschlechterräume und die Hysterisierung der Kultur

28 29 33 52

. .

68

3.1. Freud und das Rätsel der Weiblichkeit 3.2. Weininger oder das Weib ist Nichts III.

72 79

Vater-Name und Text-Körper: >Das Peter Hille-Buch< . . . . ι . Figuren des Übergangs i . i . Von Welt zu Welt: Zarathustras Wanderung 1.2 Zeugnis und Autorschaft 1.3. Der Gekreuzigte: Symbol und Körper 2. An-Spruch und Erwählung 2.1. Der Chiasmus der Eingangsszene 2.2. Ruth und Sulamith: das Aussetzen der Vätergenealogie 2.3. Wahl und Serialität 2.4. Die Sprache der Liebe im Modus des Imaginären . . . 2.5. Dieu Créateur und Dieu Générateur in der Tradition jüdischer Mystik

97 105 109 115 128 133 134 141 151 156 162 V

3· Das Begehren des Anderen 3.1. »Was will eine Mutter?« — Inzesttabu und Nullpunkt der Literatur 3.2. Petrus und die Frauen 4. Der Name des Vaters im Körper des Textes 4.1. Zur Metaphernstruktur des Namens 4.2. Name und Körper Gottes in der Kabbala 4.3. Der »Grabstein über dem Ereignis«: Datum und Textgrenze IV.

168 170 183 189 192 198 205

Souveränität und Maskerade

209

ι . Der König ist tot, es lebe der Dichter! - Z u m Topos des Dichtersouveräns

209

2. Rituale und Exzesse der Herrschaft 2.1. Die Wege der Tino von Bagdad: Grenzgänge und Privilegierungen 2.2. Souveränität und Gewalt: Aspekte einer Theorie des Opfers

220

3. Scheherazade und der Schleier der Geschichten

232

4. Unheimliche Begegnungen: die Verwandte der Tyrannen 4.1. Unfall und Bedeutung: das Entsetzen des Souveräns 4.2. Der Richter und seine Hinrichtung

245 246 254

5. Symbole der Souveränität

262

5.1. Königsgrab und Hieroglyphe 5.2. Die tanzende Mumie 5.3. Der Himmel im Ring 6. Die Jenseitsmaschine: Übergänge und Spaltungen 6.1. »Fleischgewordene Götter«: Priesterkönige bei Frazer und Freud 6.2. Gott lieben: Vereinigungsphantasien, Mystik und mehr 6.3. Ödipus und sein Vater: jenseits der Kastration . . . . 7. Jussuf und der lammblutende Hirtenrock

220 227

266 271 276 282 282 288 301 307

8. »Ich bin das Tor« — der König als Schwelle und Hohlraum VI

317

8.1. Raumkonstitution und Briefstruktur: Jussuf und Ruben 8.2. Der Ursprung ist zwei: die »Venus von Siam« als Muttergottheit

317 324

8.3. Theben und der Körper des Königs 8.4. Umhüllung und Fallgrube: der Prachtmantel des

327

Kaisers

331

9. Kunst und Krieg: der Souverän und der Ausnahmezustand

335

9.1. Der Erste Weltkrieg und der »Wildkrieg« Jussufs . . 9.2. Fetisch Kriegskleid und das Phantasma des totalen Krieges V.

Elemente einer Poet(h)ik der Gabe ι . Rückhaltlos: zu einem nicht-transzendentalen Selbst- und Fremdbezug 1.1. Die Ringe der Parabel oder Ethik und Ästhetik in der Moderne 1.2. Das Antlitz des Anderen: zum ethischen Sprachkonzept Emmanuel Lévinas'

335 342 355

355 357 364

2. Die Sorge um den Anderen — Religion und Dialog in >Der Scheik< 2.1. »Das streitende Amen« 2.2. Versöhnung jenseits des Todes 2.3. Horchen auf die Spur: Anruf und Klage 3. Übersetzung und Ambivalenz 3.1. Babel und die Grenze technischer Perfektion 3.2. Turmbaumeister und Eulenspiegel: der prekäre Ort der Vaterfigur 3.3. Zionismus und Messianismus im >Wunderrabbiner von Barcelona< 3.3.1. Antisemitismus als Interpretationsakt 3.3.2. Verantwortung und Schuld: die Position des höchsten Priesters 3.3.3. Unfall und Begegnung: zur Heterogenität des Zwischenraums 3.3.4. Katastrophe und Rettung: Refigurationen der Moses-Gestalt

370 370 375 388 398 398 401 409 411 416 428 432 VII

4· Gotteskinder: christliche und jüdische Gedenkrituale in >Arthur Aronymus
Hebräerland
Keimzelle< war zudem die Arbeitsgruppe mit Maja Pflüger, Birgit Wägenbaur, Susanne Komfort-Hein und Elisabeth Müller, die viel mehr war als ein fachliches Diskussionsforum. Dem D A A D sei Dank für die Finanzierung eines Forschungs-Aufenthalts in Jerusalem. Dem Rosenzweig-Institut danke ich dafür, daß ich während der Dauer meines Aufenthaltes an dessen Kolloquium teilnehmen durfte. Für kritische Anregungen zu meinem Projekt sowie zu vielen Fragen, die das deutsch-jüdische Verhältnis betreffen, bin ich vor allem Itta Shedletzky, Jakob Hessing und Jürgen Nieraad ( f ) zu Dank verpflichtet. Besonders danken möchte ich in diesem Zusammenhang auch Dorothe Bach und Raphael Gross. Weitere Stipendien haben nicht nur die finanzielle Arbeitsgrundlage gesichert, sondern mir auch neue Kontakte und Arbeitskontexte eröffnet. Dem Evangelischen Studienwerk Villigst danke ich für die Unterstützung einer Arbeitsgruppe zur Ritualtheorie. Der DFG verdanke ich, daß ich als Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Theorie der Literatur und Kommunikation« mit den Konstanzer Literaturwissenschaften ein besonders anregendes akademisches Umfeld kennenlernen konnte. Stellvertretend fur alle, die mich in dieser Phase auf neue Gedanken gebracht, meine Beiträge und Texte kritisch unter die Lupe genommen und insgesamt ein >Biotop< geschaffen haben, in dem ich mich wohl gefühlt habe, möchte ich Aleida Assmann, Bettine Menke, Emilia Ippolito, Manfred Weinberg, Jana Ziganke und Julika Funk danken. Annette Keck, die mir wichtige Gesprächspartnerin in allen Fragen der Geschlechterforschung und der literarischen Moderne war, danke ich für ihr offenes Ohr in allen Lebenslagen sowie dafür, daß sie immer Zeit für kritische Lektüren und Kommentare gefunden hat. Eine große Hilfe bei Korrekturen und Überarbeitungen waIX

ren mir auch Dirk Vaihinger, Olaf Eigenbrodt, Jan Metzler, Sigrid Köhler und Susanne Komfort-Hein. Martina Wagner-Egelhaaf danke ich, daß sie mir die Fertigstellung der Arbeit ermöglicht und eine neue Perspektive eröffnet hat. Last not least danke ich meinen Eltern, daß sie durch ihre nicht nur materielle Unterstützung zur Fertigstellung der Arbeit beigetragen haben.

X

Siglenverzeichnis

Die im Text den Zitaten nachgestellten Siglen beziehen sich auf die dreibändige Ausgabe der Werke Lasker-Schülers, die 1959—1960 von Friedhelm Kemp und Werner Kraft im Kösel-Verlag herausgegeben und 1996 textidentisch bei Suhrkamp neuaufgelegt wurden: Lasker-Schüler, Else: Gesammelte Werke in drei Bänden, hg. v. Friedhelm Kemp und Werner Kraft, Frankfurt/M. 1996. Band I: Gedichte Band II: Prosa und Schauspiele Band III: Verse und Prosa aus dem Nachlaß Die einzelnen Prosastücke, deren Ersterscheinungsdatum hier jeweils in Klammern vermerkt wird, sind wie folgt abgekürzt: AA

Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters (1932), in: G W

E

II, s. 5 5 7 - 5 9 2 Essays, in: G W II, S. 217 — 287

G

H IRA

Gesichte (1913), in: G W II, S. 1 3 7 - 2 1 6 Das Hebräerland (1937), in: G W II, S. 7 8 5 - 9 7 1 Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger (1925), in:

GW II, S. 505-555 Κ M ΜΗ

Ν NL ΡΗΒ PvT

Konzert (1932), in: G W II, S. 5 9 3 - 7 8 4 Der Malik. Eine Kaisergeschichte (1919), in: G W II, S. 3 9 3 489 Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen (1912), in: G W II, S. 289—391 Die Nächte der Tino von Bagdad (1907), in: G W II, S. 5 9 - 9 2 Verse und Prosa aus dem Nachlaß, G W III Das Peter Hille-Buch (1906), in: G W II, S. 7 - 5 7 Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch (1914), in: G W II,

s. 9 3 - 1 3 5 W

Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921), in: G W II, S. 4 9 1 504 XI

Drei Bände mit Briefen, die besonders häufig zitiert werden, sind ebenfalls mit Siglen nachgewiesen: BI BII BKK

Lieber gestreifter Tiger. Briefe von Else Lasker-Schüler, Erster Band, hg. v. Margarete Kupper, München 1969 Wo ist unser buntes Theben. Briefe von Else Lasker-Schüler, Zweiter Band, hg. v. Margarete Kupper, München 1969 Else Lasker-Schüler: Briefe an Karl Kraus, hg. v. Astrid GehlhoffClaes, Köln, Berlin 1959

Anmerkung zur Zitierweise: Generell wird bei der ersten Nennung die vollständige bibliographische Angabe im Anmerkungsapparat nachgewiesen. Alle folgenden Nennungen werden abgekürzt mit Verfassernamen und Kurztitel. Bei der ersten Nennung von Aufsätzen werden jeweils die Seitenzahlen angegeben; die Seite, auf der sich das genannte Zitat findet, wird in Klammern angefugt.

XII

I. Exposition: statt einer Einleitung

Und Grammaton war ein Dichter und das war sein Unglück, denn er konnte nicht zwei von drei unterscheiden

In einer frühen Erzählung Else Lasker-Schülers wird in den biblischen Stammbaum der Patriarchen eine Figur hineingeschmuggelt, die man im Text der Genesis vergeblich sucht. 1 Genau genommen sind es sogar drei Figuren, die als Söhne Methusalems ausgegeben werden, ohne sich doch nahtlos in die Ahnenreihe der biblischen Väter einzufügen. 2 Denn das Geschehen, das sich um diese Brüder entfaltet, mündet in ein Katastrophenszenario, das die genealogische Kette abrupt abbrechen läßt. Das Unglück beginnt mit dem Tod Methusalems, der getreu der biblischen Überlieferung neunhundertneunundsechzig Jahre alt wird. Die beiden älteren Brüder sind sich schnell einig, wie sie die väterliche Hinterlassenschaft unter sich aufteilen. Ohne große Schwierigkeit gelingt es dem fünfhundertjährigen Zwillingspaar, den jüngeren Bruder zu übervorteilen und ihn von jeder Teilhabe an Haus und Besitz auszuschließen. Denn Grammaton, der Dichter, hatte sich zuvor nie mit dem Verkauf von Ländereien und Viehherden abgegeben. Daher kann er, so heißt es, zwei und drei nicht unterscheiden, und so leuchtet ihm sofort ein, daß, wie die Brüder ihm weismachen, das Erbe wohl in zwei, nicht aber in drei Teile geteilt werden könne. Obwohl er keinen Raum im väterlichen Haus sein eigen nennen kann und er den ökonomischen Angelegenheiten fernbleibt, findet Grammaton zunächst doch eine Möglichkeit, sich der von den Brüdern okkupierten Ordnung einzuschreiben. Denn »er dachte, ich kann meine goldenen Gedanken nur prägen in Sternen und Zeichen in die Säule, die das Dach meines Vaterhauses trägt.« (N 91) Während die Ordnung der Brüder streng binär organisiert ist und sich alles ihr Zugehörige im Modus von Besitz und Tauschwert bestimmen läßt, bedeutet die künstlerische Be-

1

Es handelt sich um die Geschichte >Der Dichter von Irsahab«, die sich in dem 1907 erschienenen Geschichtenbuch >Die Nächte der Tino von Bagdad< findet. (N 9 0 - 9 2 )

2

V g l . Gen 5. Das Kapitel zählt die Liste der Geschlechterfolge nach A d a m auf und überbrückt so den Zeitraum bis zur Sintflut, denn er endet m i t der Geburt der Söhne Noahs.

I

schriftung der tragenden Säulen ihres Hauses einen ihr nicht subsumierbaren Uberschuß. Was den Brüdern als Grenze und Fundament des von ihnen bewohnten Raumes gilt, wird durch die Bilderschrift, die Grammaton ihnen einprägt, überdeterminiert. Denn offenbar lassen sich die Sterne und Zeichen nicht ohne weiteres entziffern. Anders als den Viehherden und Ländereien, mit denen die Brüder umgehen, entspricht ihnen kein bestimmbarer Gegenwert, der den Besitz der Brüder bereichern könnte. Aus der Sicht des Brüderpaars bedrohen sie diesen sogar, denn sie schelten Grammaton »einen Heimlichen, der sich vergriff an ihrem Eigentum«, und vertreiben ihn schließlich endgültig »aus Vater Methusalems reichem Garten.« ( N 9 1 ) Der Moment, in dem sich das Paradies der gleichen Brüder darin zu verwirklichen scheint, daß sie den unökonomischen Rest, mit dem sie die Dichtung des Jüngeren in Verbindung bringen, verbannen, markiert den Umschlagspunkt, dem die Erzählung ihre Dynamik verdankt. Denn mit der Etablierung einer Sphäre der reinen Ökonomie und Entsprechung, die darin reflektiert wird, daß seine Bewohner Zwillinge sind, wird eine Ausgrenzung produziert, die sich nicht mehr im Sinne einer sozialen oder politischen Marginalisierung beschreiben läßt. Die Kunst, die Grammaton verkörpert, hat von diesem Augenblick an keinen Ort mehr innerhalb der Symbolordnung. Wenn sie revolutionär ist, so doch nicht darin, daß sie die Stützpfeiler und Symbole der Macht als ideologische Festschreibungen entlarvte, die konkurrierende Weltsichten ausgrenzten oder verdrängten. Denn die Diskrepanz zwischen einer herrschenden Wahrheit und der Kontingenz möglicher Weltentwürfe auszustellen, fehlt ihm die materielle Grundlage: die Säulen als »Tempel seiner Kunst«. So entwickelt er einen Haß gegen die Brüder, der exzessive Züge annimmt. Seine entfesselte Zerstörungswut richtet sich nicht nur auf die anmaßenden Brüder, sondern auf das ganze von ihnen beanspruchte Erbe. Dabei erweist sich sein Zerstörungswille als ebenso radikal wie unmöglich. Denn je wütender er die Brüder und ihre Nachkommen verfolgt, umso schneller werden diese, den Köpfen einer Hydra gleich, ersetzt: »ebenso schnell wuchsen sie wieder auf, von Kindeskindeskind aus Kindeskindeskindeskind und starb der Vater, so ersetzte ihn ein Sohn in der Nacht.« (N 92) Die Vätergenealogie, die hier als Mordserie verfremdet wird, scheint unendlich. Grammatons Versuch, sie restlos auszulöschen und sich jenseits ihrer und zugleich an ihrer Statt zu behaupten, muß zwangsläufig scheitern, denn: »die ganze Stadt war mit ihm verwandt«. Die zu Tötenden lassen sich nicht distanzieren, gerade der mörderische Akt läßt die Verwandtschaft zwischen dem Aggressor und seinem Haß2

Objekt hervortreten. Zuletzt heißt es zwar, es sei Grammaton gelungen, »das Geschlecht Methusalem« auszurotten und mit ihm die Stadt und deren tragende Säulen, den Tempel seiner Kunst. Doch am Ende der Geschichte steht keine Vision der Befreiung des Benachteiligten und Ausgegrenzten, 3 sondern ein merkwürdiges Körperbild: In den Höhlen von Grammatons Schultern hockt ein Rabe mit Namen Henoch, den in der Bibel der Vater Methusalems trägt. Im Bild des gehöhlten Leibes manifestiert sich so zuletzt die Vergeblichkeit der Distanzierung und Auslöschung eines Anderen, ohne das die eigene Existenz nicht gedacht werden kann. In Rabengestalt >bewohnt< der genealogische Vor-Vater den Körper desjenigen, der sein Geschlecht hatte auslöschen wollen. Zugleich tritt dieser - verdoppelte, in sich gefaltete — Körper an die Stelle der Ordnung, die die Brüder und wohl auch deren Vorfahren zuvor bewohnt hatten. Die Abfolge der Szenen läßt sich demnach im Sinne wechselnder topologischer Konfigurationen lesen. Während die Figur des Dichters zunächst als Außenseiter innerhalb der Ordnung verortet wird, in der er noch einen Tempel für seine Kunst findet, wird er infolge der totalen Vereinnahmung des väterlichen Erbes durch die Brüder aus dieser ausgestoßen. Das Vaterhaus — zunächst noch gemeinsamer Bezugspunkt und Aufenthaltsort — verliert seine gemeinschaftsstiftende Funktion, indem ihm gegenüber nur noch zwei miteinander unvereinbare Haltungen, nämlich totale Inbesitznahme oder Vernichtung, möglich erscheinen. Der Versuch, das Vaterhaus oder die Väter-Genealogie in ihrer Gesamtheit auszulöschen, ist nur die Kehrseite des phantasmatischen Projekts, das Ererbte restlos aufzuteilen und eindeutigen Zwecken zu unterwerfen. In beiden tritt eine Räumlichkeit zutage, die sich auf keine einheitliche Topographie abbilden läßt. Denn das väterliche Haus und Territorium kollabiert durch die beiden totalisierenden Gesten, deren Agenten sich in keinem möglichen Raum begegnen können. Zuletzt bleibt zwar Grammaton am Leben, doch läßt er sich offenbar nicht mehr als handelnde Figur in einem Symbolraum verorten. Vielmehr erscheint sein Körper dem väterlichen Symbolraum gleichgesetzt. Indem sich ihm jedoch ein Fremdkörper einschreibt, der weder Subjekt noch Objekt, weder Ich noch Anderer ist, stellt er die Spal3

Die hier vorgeschlagene Lektüre unterscheidet sich grundlegend von Vivian Liska: Die Dichterin und das schelmische Erhabene. Else Lasker-Schülers >Die Nächte der Tino von Bagdads Tübingen, Basel 1998, S. 1 4 6 - 1 5 7 . Liska widmet dem >Dichter von Irsahab< zum ersten Mal eine eingehendere Interpretation, die sich in der These zusammenfassen läßt, in der Geschichte werde die »fröhlich-apokalyptische Vernichtung des Vatergeschlechts als befreiende Erlösungsvision« modelliert.

3

tung der vom Vater verbürgten Ordnung zu Schau. 4 Der Körper Grammatom, der sich auch als Buchstabenkörper lesen läßt, 5 weist somit als gespaltener Repräsentant der Symbolordnung auf ein Spannungsfeld von Identität und Differenz, Behausung und Unbehaustsein, in dem das Verhältnis von Körper und Schrift auf radikale Weise ausgelotet wird. Die kurze Skizze der Erzählung >Der Dichter von Irsahab< ist geeignet, im Sinne einer Exposition einige Perspektiven auf das zentrale Anliegen dieser Arbeit, ihre wichtigsten Thesen und Analyseschwerpunkte zu eröffnen. Die Auseinandersetzung mit einer anderen Räumlichkeit, die radikal Heterogenes aneinandergrenzen läßt, ohne es doch im Sinne einer Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem zu vermitteln, charakterisiert die Prosatexte Lasker-Schülers in entscheidendem Maße. Indem sie die implizite Referenz auf eine die Gegensätze verbindende oder transzendierende Vaterinstanz in Frage stellen, lassen sie in der jeweils erzählten Ordnung Brüche und Spaltungen zutage treten. Diese können nicht mehr als zu überbrückende Abgründe im Raum, als diesen strukturierende, prinzipiell überschreitbare Grenzen, gekennzeichnet werden. Vielmehr legen sie die Konstitutionsprozesse topologischer Modelle und Strukturen offen. Eben hierin offenbaren diese Texte, wie im einzelnen gezeigt werden soll, ihre spezifische Modernität. Im folgenden Kapitel (II) wird nach typischen Raumkonstellationen in der Moderne gefragt, wobei auf einige philosophische und literarische Beispiele Bezug genommen wird, die das diskursive Dispositiv der Jahrhundertwende charakterisieren. Dabei wird gezeigt, inwiefern der beschriebene Impuls, sich der Vater-Ordnung in ihrer Gesamtheit zu bemächtigen, ein logisches Pendant in Verschiebungen und Destabilisierungen der symbolischen Geschlechterordnung findet. Denn die traditionsreiche Leitdifferenz von männlich und weiblich, von väterlichem Gesetz und mütterlicher Materie, wird in dem Augenblick instabil, in dem die Materialität oder Körperlichkeit der väterlichen Ordnung hervortritt. In der Geschichte Grammatons geschieht dies bereits, als von der Prägung der tragenden Säulen die Rede ist. Die Unterwerfung der Materie unter die 4

Der Andere oder das Andere werden in dieser Arbeit grundsätzlich groß geschrieben, um hervorzuheben, daß es sich um zentrale Begriffe eines (theoretischen) Diskurses über Alterität handelt, der ihre strategische Funktion im Kontext von Figuren und Konzeptionen von Identität befragt. Das große A ist damit zunächst nicht im Lacanschen Sinne verwendet; es bezeichnet keine Stelle innerhalb eines bestimmten Theoriegebäudes, sondern verweist lediglich darauf, daß hier ein Begriff zur Diskussion steht. Wo die Lacansche Unterscheidung zwischen großem Anderen und kleinem Objekt a im Kontext dieser Arbeit eine Rolle spielt, wird dies ausdrücklich erläutert.

5

Gramma (griech.): Buchstabe

4

Herrschaftsfiinktion ist hier allerdings noch gewahrt, ihre Gestaltung und Formung durch ein patriarchales Prinzip wird selbst durch die Bilderschrift Grammatons nur ansatzweise unterlaufen. Anders im Schlußbild der Erzählung: Hier vollendet sich die Usurpation der väterlichen Position im Bild eines gehöhlten Körpers, der nicht als mütterlich-gebärender vereindeutigt werden kann. Die Raumordnung, so zeigt sich, entsteht nicht durch das Einwirken des (männlichen) Logos auf die ungeformte (weibliche) Natur. In dem Augenblick, wo beide entgegengesetzte Prinzipien zusammenzufallen scheinen, der Gestaltende mit der gestalteten Materie eins zu werden scheint, wird deutlich, daß sich mit letzterer keine Fiktion einer homogenen Ursprungssphäre mehr verbinden kann. Denn statt einer Versöhnung der Gegensätze und Differenzen in einem absoluten Raum wird ein Raum-Spalt, eine Heterotopic 6 an der Oberfläche des Textes, erkennbar. Der Körper-Raum, der ein nicht-assimilierbares Anderes in sich eingefaltet hat, läßt sich nicht vor dem Horizont einer transzendenten Vater-Instanz situieren. Zugleich versperrt er den Rückgriff auf die Vision einer mütterlich-kosmischen Ungeschiedenheit. Die Abwesenheit des Weiblichen in der hier einführend betrachteten Geschichte ist somit weder zufällig noch ungewöhnlich fur diejenigen Texte der literarischen Moderne, in denen auf verschiedene Weise die Vaterfunktion ausgehöhlt wird. Denn wo das Andere nicht mehr als Weibliches fixiert und distanziert werden kann, treten Figurationen jenseits von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Gesetz und Körper hervor, die mit dem Konzept einer Topographie auch das der Geschlechterdichotomie als diskursivem Ordnungsfaktor zur Disposition stellen. Mit dem III. Kapitel beginnen die close readings der Lasker-Schülerschen Texte. Im Mittelpunkt steht hier zunächst das >Peter Hille-BuchZarathustra< und das >Hohelied< des Alten Testaments - werden die den Text charakterisierenden seriellen Strukturen, die auch in der Mordserie des >Dichters von Irsahab< erkennbar sind, nachvollzogen und in ihrer Relevanz für die Heraus-

6

Z u diesem Begriff, der im folgenden noch genauer erläutert wird, vgl. Michel Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 3 4 - 4 6 .

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bildung einer >anderen Topik< befragt. Die Gesten der Benennung und der Erwählung, auf die der Text in Anspielung auf biblische Szenen und Motive immer wieder zurückkommt, werden als Indiz fur den poetischen Versuch gewertet, das Ereignis eines Schöpfungs- oder Ursprungsakts im Text zu markieren, das ihm als Schwelle oder Grenze zugleich immer äußerlich bleibt. Dabei verknüpft sich die Frage nach der Anwesenheit oder Materialisierung der Schöpferinstanz im Text jeweils mit der Problematik, wie diese dargestellt, wie von ihr Zeugnis abgelegt werden kann. In diesem Zusammenhang spielen die vom Text zitierten biblischen Szenen, die im Sinne einer modernen Repräsentationsproblematik adaptiert werden, eine wichtige Rolle. Insgesamt wird hier verfolgt, inwiefern das topologisch organisierte Textgefuge von einer Tropologie durchkreuzt wird, die den Raum der Narration auf ein ihm nicht-assimilierbares Anderes hin öffnet und atopische Einschlüsse produziert. Es soll gezeigt werden, daß sich in der Reihung und Wiederholung solcher Konstellationen ein Textverfahren herausbildet, das in allen folgenden Prosatexten und insbesondere im dreißig Jahre später entstandenen >Hebräerland< aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Das IV. Kapitel ist dem Komplex der Souveränität bei Lasker-Schüler gewidmet. Allein die Vielzahl der Herrscherfiguren und vor allem die jahrzehntelang durchgehaltene Selbst-Figuration als »Prinz von Theben« legen es nahe, nach der poetologischen Signifikanz dieser repräsentativen und repräsentierenden Schwellenfiguren für eine moderne Ästhetik zu fragen. Eine innovative Perspektive auf die in der Forschung schon häufiger betrachteten Gesten der Selbstermächtigung und Selbststilisierung des Ich als männlich-kriegerischer Herrscher eröffnet sich hier wiederum durch die eingehende Analyse der Raumstrukturen. In diesem Kapitel soll eine Entwicklung von einem Schleier-Paradigma, das die orientalisierenden >Nächte der Tino von Bagdad< noch prägt, hin zu einem Paradigma des Fetisch nachgezeichnet werden, das sich vor allem in den Texten um das imaginäre Reich Theben (>Der Prinz von ThebenDer Malikanderen Raum< zum poetischen Entwurf Thebens, von der weiblichen Figur der Tino von Bagdad zum männlich-androgynen Kaiser für die narrative Topik jeweils

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hat. Der >Dichter von IrsahabNächteNächteMalikWolkenbrücke < berichtet wird, die den Palast eines muslimischen Herrschers mit dem Haus seines jüdischen Freundes verbindet. Der heterotope oder atopische Zwischenraum, der immer wieder als R a u m einer Begegnung lesbar wird, die nicht gleichbedeutend mit Vermittlung oder Versöhnung der Differenzen ist, wird hier mit dem Modell einer modernen Ethik verknüpft. Dies wird in der Analyse an vier werkgenetisch relativ weit auseinanderliegenden Texten diskutiert, wobei das Exilbuch >Das Hebräerland< gleichsam als Coda betrachtet wird, da es alle in den vorhergehenden Kapiteln explizierten Aspekte noch einmal aufnimmt und miteinander verschränkt. Der Titel des Kapitels verweist zudem auf die Bedeutung des — anthropologischen und philosophischen — Konzepts der Gabe, deren unterschiedlicher diskursiver Status innerhalb einer Ethik der Aufklärung (Lessing) und der Moderne (Lasker-Schüler) zu Beginn erläutert wird. Der Fokus auf die Gabe weist noch einmal auf die Position des Souveräns zurück, insofern diese traditionell durch den Überfluß an Gütern bestimmt ist, deren Demonstration in der totalen Verausgabung (im sogenannten >PotlatschHebräerland< zum >Peter Hille-Buch< und setzt die verschiedenen Schwerpunkte, welche die durchaus für sich stehenden Kapitel formulieren, noch einmal zueinander in Beziehung.

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II. Raum-Grenzen und Grenz-Räume in der Moderne

[E]s gehört zum Wesen des Ursprungs, immer durch das verhüllt zu werden, dessen Ursprung es ist. (Maurice Blanchot) Aujourd'hui la littérature - la pensée - ne se dit de lieu, de site, de chemins et de demeure: figures naïves, mais charactéristiques, figures par excellence, où le langage s'espace afin que l'espace, en lui, devenu langage, se parle et s'écrive. (Gérard Genette, Figures)

Der literarische und philosophische Diskurs der Moderne stellt eine Grenze zur Disposition, die das aufklärerische Denken in signifikanter Weise strukturiert hatte. In ihren >Philosophischen Fragmenten< zur D i a lektik der Aufklärung< diagnostizieren Horkheimer und Adorno einen »selbstzerstörerischen« Impuls gerade jener Gesten der Mythenzertrümmerung und Entzauberung der Welt, die die Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Subjekte hatte begründen sollen.1 Für die Autoren war es evident, daß zwischen der »neuen Art von Barbarei«, in die sie die europäische Zivilisation — 1944 — versinken sahen, und den aufklärerischen Grundprinzipien von geschichtlichem Fortschritt, kritischer Selbstbehauptung und universaler Humanität ein Zusammenhang bestand. In der Überzeugung, daß es sich bei dem durchschlagenden Erfolg, den die NaziIdeologie hatte, keineswegs um einen noch dialektisierbaren Rückschlag oder eine temporäre Regression handelte, sondern vielmehr um das Zutagetreten einer innersten Komplizität von Mythos und Logos, forderten sie dazu auf, die beiden gemeinsame Struktur einer ursprünglichen Verkennung offenzulegen. Wo immer eine menschliche Gemeinschaft sich über eine Grundunterscheidung, etwa die zwischen Sakralem und Profanem, vermittelt durch Priester und rituelle Vorschriften, organisiert habe, sei, so die Autoren, ein Substitutionsprinzip bereits angelegt, das die Na-

1

Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt/M. 1990, S. 1 , 9.

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tur verdopple und durch ein menschengemachtes Sinngefuge zu beherrschen versuche. Sobald >der Andere< auftaucht und dem Eigenen gegenübertritt, ist >das Andere< als unheimliche Kontingenz oder »numinose Unbestimmtheit« verdeckt und der Darstellung innerhalb des binär organisierten Kosmos entzogen. 2 Wie Blumenberg formuliert, rückt mit dieser Einsicht ein >Jenseits< des Gegensatzes von Mythos und Logos ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Jener »Îoitsprung«, den man als Initialgestus des kritischen Vermögens der Vernunft »in der Ferne der Vergangenheit« verorten zu können geglaubt hatte, 3 beginnt nun als uneinholbare Differenz zwischen dem Benannten und dem Unnennbaren die Erklärungen und Bilder der Welt heimzusuchen. Der A k t der Benennung, der als einziger diese Differenz, wenn nicht bezeichnet (da er ja das Zeichen erst einsetzt), so doch in sich aufnimmt, wird dort verleugnet, wo das Prinzip der Vertretung, der Ersetzbarkeit einer Sache oder einer Person durch ein Zeichen universellen Anspruch erhebt. Gerade die bürgerliche Gesellschaft ist Horkheimer und Adorno zufolge »beherrscht vom Äquivalent«, insofern sie ein umfassendes System der Vermittlung entworfen habe, das alle Beziehungen seiner Elemente untereinander gleichsam >ohne Rest< reguliere. Das Kontingente, Einzigartige werde Begriffen unterworfen und einem System eingefügt, das nichts als Begriffe, nichts als die Funktion von Trennung und Distanzierung kenne. Indem kein Raum bleibt fur ein prinzipiell nicht Repräsentierbares, das sich der universellen Austauschbarkeit widersetzte, konstituiert sich dieses System als ein geschlossenes: »Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.« 4 Grenzfall eines durch und durch zweckrationalen Weltbezugs wäre damit der Versuch, die selbsterrichtete sinnhafte Welt absolut zu setzen und abzuriegeln gegen die Spuren von Zufall und Kontingenz. In der eingangs zitierten Erzählung vom >Dichter von Irsahab< entspricht diesem Extremfall der Impuls der Zwillings-Brüder, das Vatererbe vollkommen ihrer Ökonomie zu unterwerfen und den durch Grammaton erzeugten Sinnüberschuß restlos auszugrenzen und zu leugnen. Das >DraußenVersi< suggeriert Ekel, II

Horkheimer und Adorno heben in ihrer Aufklärungskritik vor allem die zerstörerische Kraft hervor, die im Moment des Umschlags der Herrschaftsdynamik in Selbstzerstörung auch das kritische Subjekt mit sich reißt. Ihre Ausführungen legen nahe, daß das vom Diktat des Zweckrationalismus unterschlagene oder totalitär okkupierte Draußen allein vom denkenden Subjekt bewahrt und geschützt werden könne.7 Demgegenüber haben andere rationalitätskritische Ansätze im Umfeld von Phänomenologie, Psychoanalyse und Poststrukturalismus die Chance hervorgehoben, die sich mit der Kritik transzendentaler Subjektivität verbinden kann. Nicht die Abschaffung des Subjekts, wohl aber die Eröffnung eines »Raum[es] des Schreibens«, 8 in dem dessen Konstitutionsprozeß erkennbar bleibt, wird hier als radikale Geste der Mythenzertrümmerung begriffen. 9 Julia Kristeva spricht in ihrer Analyse moderner Literatur von deren »Textpraxis«, die die Repräsentationsfunktion von Sprache unterlaufe, indem sie die evozierte topologische Ordnung als inszenierte ausstelle. Sie bezeichnet diese als eine »dramatische Ökonomie, deren >geometrischer Ort< sich nicht repräsentieren läßt (er spielt sich ab).« 1 0 Das Subjekt erscheint weder als eine handelnde Figur im erzählten Raum noch als räumliche Konfiguration, deren Struktur diejenige der erzählend nachgeahmten Welt reflektiert. 1 1 Es ist vielmehr derselben Bewegung ausgesetzt, die den Raum auf den das Ich empfindet, wo es mit einem Fremden konfrontiert wird, zu dem es keine Beziehung herstellen, das es aber auch nicht auf Distanz halten kann. Die Ästhetik der Abscheu und der Fragmentierung ist, wie genauer zu zeigen sein wird, insgesamt typisch für die hier untersuchten Prosa-Texte. 7

Vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 47f.: »Mit der Preisgabe des Denkens [ . . . ] hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt. Indem sie alles Einzelne in Zucht nahm, ließ sie dem unbegriffenen Ganzen die Freiheit, als Herrschaft über die Dinge auf Sein und Bewußtsein der Menschen zurückzuschlagen. Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt.«

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Vgl. Anm. 5. Vgl. Michel Foucault: Zum Begriff der Übertretung, in ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 69—89, (S. 80): »Der Zusammenbruch der philosophischen Subjektivität, ihre Zersplitterung im Innern einer Sprache, die sie entmachtet, sie aber vervielfacht in dem Raum, in dem sie als Lücke steht, ist wahrscheinlich eine der Grundstrukturen des heutigen Denkens.«

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Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 226. Kristeva zitiert an dieser Stelle ihrerseits Philippe Sollers: Programme, in: Tel Quel 3 1 (1967), S. 3. Damit ist deutlich, daß strukturalistische Theotiemodelle, die ihrerseits den Raumbegriff bei der Analyse von Texten in den Vordergrund stellen, nicht geeignet sind, die spezifisch atopischen oder heterotopischen Bildsysteme und Inszenierungen, um die es in den hier diskutierten Texten geht, zu beschreiben. Wenn etwa Lotman hervorhebt, das Kunstwerk stelle »ein endliches Modell der unendlichen Welt« dar und lege gerade durch seine Begrenztheit »Zeugnis ab von der Konstruktion der Welt als ganzer«, so wird die Befangenheit dieses Analysemodells in einem topologischen Denken erkennbar, das von den

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sein Anderes hin öffnet und die verhindert, daß sich Strukturen und Orte zu einer kohärenten Sinn-Ordnung fügen. Der Moment, an dem Subjekt und Raum nicht mehr in ein Verhältnis der Analogie oder der Situierbarkeit des einen im anderen gesetzt sind, sie vielmehr — wie im >Dichter von Irsahab< — zusammenfallen, ist zugleich der, an dem der imaginäre Charakter ihrer Identität zutage tritt. Ebenso wie sich das Subjekt nicht mehr zu einem Anderen in Beziehung setzen kann, etwa indem es dieses zu beherrschen oder zu kontrollieren versuchte — im Falle Grammatons sind Inbesitznahme und Zerstörung des Vater-Hauses eins —, kann sich der Raum nicht mehr als strukturierter konstituieren, der mindestens durch eine Grundunterscheidung aufgespannt wird. 1 2 Maurice Blanchot, der sich in seiner Studie über den »literarischen Raum« ebenfalls Texten der Moderne zuwendet, beschreibt, daß diese eine besondere Beziehung zu einem nicht mehr vermittelbaren ganz Anderen, dem Exzeß, dem Undarstellbaren des Todes unterhalten. Der literarische Raum, der durch diesen spannungsvollen Bezug entsteht, repräsentiert oder umfaßt nichts, eher ist er als Schauplatz einer kontinuierlichen Verfehlung und Entgrenzung zu beschreiben. Z u m Fluchtpunkt des Werkes, das sich in der Moderne aus allen Repräsentationspflichten entlassen findet, da es sich keines Transzendenz-Bezugs mehr vergewissern kann, wird, so Blanchot, sein eigener Ursprung. Diesen aber kann es sich nicht im Sinne einer Bezeichnung und Situierung im Textraum aneignen, weil er dadurch zugleich vollendet wie ausgelöscht würde: »l'oeuvre devient la recherche de son origine et veut s'identifier avec son origine, >vision horrible d'une oeuvre pureDichtenThebenrestringierte< und »allgemeine Ökonomie< gegenüberstellt. Die Pointe besteht dann darin zu zeigen, inwiefern beide aufeinander bezogen sind: »Eine Beziehung zwischen einer différance, die wieder auf ihre Kosten kommt, und einer, die

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denfels hat in einer phänomenologischen Untersuchung der Konzepte von Andersheit und Fremdheit »zwei Arten der Ausgrenzung« unterschieden. 24 Den »Grenzen eines Feldes, sei es ein Handlungs-, Rede- oder Gesichtsfeld«, stellt er die Schwellen als Grenzzonen gegenüber, an denen sich die Ordnung oder das Subjekt einer Fremdheit aussetzt, die nicht auf Distanz gehalten und folglich nicht zur Folie oder zum Rahmen eines Selbstentwurfs werden kann: Was jenseits der Schwelle lockt und erschreckt, gehört nicht mehr zum Spiel mit eigenen Möglichkeiten, sondern bedeutet Herausforderung der eigenen Freiheit durch Fremdartiges, das in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet. Wir haben es mit Heterotopien und Atopien zu tun, deren Anderswo als Außer-ordentliches unserer jeweiligen Ordnung entgleitet. 25

Der Begriff des Entgleitens deutet auf das Unheimliche und Beunruhigende, das der Erfahrung der Schwelle innewohnt. Während auch jenseits der Grenze >etwas< vermutet wird, das keinen Platz in der vom wahrnehmenden Subjekt bewohnten Raumordnung hat, so wird die von ihm ausgehende Bedrohung dadurch abgemildert, daß es als prinzipiell erkennoder erfahrbares Anderes konzipiert wird, das lediglich >noch nicht< Teil seiner Welt ist. 26 In diesem Sinne ist die Grenze eine Figur des Logozentrismus, während die Schwelle auf dessen Krisen oder Aporien hindeutet, insofern das Andere nicht mehr als relativ Fremdes umrissen werden kann, das letztlich doch demselben (wenn auch unvollständig erkannten oder realisierten) Gesetz unterliegt. Wer den Logos hat, so formuliert Waldenfels, dem ist im Grunde nichts mehr fremd. Denn der Anspruch abendländischer Vernunft und Subjektivität sei es jeweils gewesen, »Abgründe und Klüfte, die eines vom anderen trennen, [...] auf Begriffsbrücken« zu übereben nicht wieder auf ihre Kosten kommt, das Setzen der reinen Gegenwart, ohne Verlust, die mit derjenigen des absoluten Verlusts, des Todes, verschmilzt. Durch solches Aufeinanderbeziehen von restringierter Ökonomie und allgemeiner Ökonomie verschiebt man das Projekt der Philosophie selbst in ihrer privilegierten Gestalt als Hegelianismus und schreibt es neu ein. Man gewöhnt die Auflebung - la relève - daran, sich anders zu schreiben. Vielleicht ganz einfach, sich zu schreiben. Oder besser, ihrer Konsumption der Schrift Rechnung zu tragen.« Derrida: Die différence, S. 45. 24 s

Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1 9 9 1 , S. 3 1 .

' Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 3 i f . Waidenfels bezieht sich hier auf Foucault.

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Das >noch nicht< kann sich durchaus auch auf endzeitliche oder utopische Entwürfe einer anderen Welt beziehen, deren Verwirklichung infolge eines Fortschreitens auf einer linearen Zeitachse erreicht wird, die aber dennoch im Sinne eines oppositionellen Schemas in eine Beziehung zum Jetzt und Hier gesetzt wird: »Die Ausgrenzung entspricht der Differenz von Hier und Dort, Jetzt und Einstmals oder Späterhin. Ausgeschlossen ist vorläufig oder auf immer Unerreichbares, das dennoch in meiner oder unserer prinzipiellen Reichweite liegt, bis hin zu den Utopien, die noch keinen Ort in unserer Welt gefunden haben.« Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 3 1 .

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queren.27 Der Mensch situiert sich selbst nicht mehr einfach diesseits oder jenseits einer trennenden Linie, sondern extrapoliert den »Blickwinkel eines Dritten, der über den Dingen steht und sozusagen den Blick auf beide Seiten der Grenze richtet«. 28 Indem er sich selbst zu diesem den ganzen Raum überblickenden Dritten in Beziehung setzt, wird er zum Teilnehmer und Garanten eines Dialogs, der letztlich auf einen Monolog mit verteilten Rollen verkürzt ist, 29 da jede Konfrontation des Gegensätzlichen von der Voraus-Setzung gerahmt wird, 30 Différentes könne auf eine zugrundeliegende Identität zurückgeführt werden. Die eingangs zitierte Skepsis, die Horkheimer und Adorno bezüglich der dem Aufklärungsdiskurs innewohnenden Totalisierungsanstrengung artikulieren, läßt sich auch als Warnung reformulieren, diese Voraus-Setzung eines Kommunikationsrahmens nicht mit den relativen Grenzen zu verwechseln, die das Verhältnis zum Anderen regeln. Denn wenn es sich im Falle letzterer um je kontingente Möglichkeiten handelt, das Selbst im Bezug zum Anderen zu bestimmen und zu situieren, so liefe der Versuch, diese Grenzziehung absolut zu setzen, wie in den angeführten Textbeispielen auf eine Identifizierung des Subjekts mit dem gesamten Raum hinaus. Die beschriebene dritte Position erscheint in diesem Moment nicht mehr als extrapolierte und damit als idealer Bezugspunkt unerreichte, sondern als vom Subjekt eingenommene und verkörperte. Dies aber löscht die Spannung zwischen seiner Teilhabe am Dialog einerseits und seiner Identifikation mit der die kommunizierenden Seiten überbordenden SyntheseFigur der Vernunft andererseits aus. Sein Verhältnis zum Anderen wäre nicht mehr durch eine prinzipiell gegebene, aber der momentanen Erfüllung entzogene Verständigungsmöglichkeit bestimmt, sondern durch den Anspruch, im Anderen bereits im Hier und Jetzt das Eigene vollständig repräsentiert und gespiegelt zu finden. Wie das Beispiel der Lasker-Schülerschen Erzählung deutlich macht, wird die zeitliche Perspektive als Figur des Aufschubs oder des Intervalls, die die skizzierte Spannung zwischen den beiden Positionen in sich aufnimmt, im Moment der phantasmatischen Realisation aber nicht völlig 27 28 29 30

Ebda., S. 35. Ebda., S. 34. Ebda., S. 44. Waidenfels bezieht den Rahmenbegriff einerseits im Sinne Ervin Goffmans (»Rahmenanalyse«) auf »Handlungs- und Rederäume«, auf die »Gesprächsbedingungen«, die eine Kommunikationssituation überhaupt erst ermöglichen, andererseits auch auf Foucaults Konzept der Diskurse, »in deren positiven Ordnungen Thematisierung, Typisierung, Normalisierung und Normierung, also Auswahl-, Ausschluß- und Kontrollverfahren ihren Platz finden.« Waidenfels: Der Stachel des Fremden, S. 48f.

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vernichtet. In dem Augenblick, in dem die Brüder das Vaterhaus in Besitz nehmen, jedes differenzielle Element ausstoßen und die ökonomische Ordnung absolut setzen, wird die (selbst-)zerstörerische Vernichtungsserie Grammatons ausgelöst, die in der beschriebenen Raum-Spaltung gipfelt. Die Zeitstruktur der Genealogie, deren Ordnungsprinzip zunächst aufgerufen wird, erscheint im Bild des Urahnen, der sich in Rabengestalt in den Körper Grammatons einnistet, ausgesetzt und entstellt. Sie wird gleichsam in den Raum eingefaltet und damit, wie Derrida immer wieder formuliert, verräumlicht. 31 Grammaton wird zur Figur einer Urschrift im Sinne der Dekonstruktion, die das Zusammenfallen von Zeichen und Welt nicht etwa als ursprüngliche Einheit und Referenzpunkt der Schrift, sondern als Bewegung einer Selbst-Teilung konzipiert, welche das Register von Präsenz und Repräsentation übersteigt. Denn anstatt selbst (ein Ursprüngliches) zu bedeuten, stellt sie die Funktionsweise des Bedeutens zur Schau. Ein Element, »das auf der Szene der Anwesenheit erscheint«, wird dadurch bedeutend, daß es sich auf andere, im Moment abwesende Elemente einer Kette bezieht, deren Teil es ist. 32 Die dekonstruktive Wendung, die Derrida dieser strukturalistischen Überlegung gibt, artikuliert sich in der Feststellung, daß es sich hier nicht allein um die Abwesenheit eines vorhergehenden oder nachfolgenden Elements desselben Systems handelt. Vielmehr dringe die Abwesenheit oder das Andere dieser systemischen Gesamtheit in den Bedeutungssprozeß ein oder genauer: sei als sein konstitutives Ursprungsereignis immer schon in ihn eingedrungen. Ein Intervall m u ß es [d.i. das einzelne Element, D. B.] von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei, aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, m u ß gleichzeitig die Gegenwart in sich selbst trennen, das heißt in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, besonders die Substanz oder das Subjekt. Dieses dynamisch sich konstituierende, sich teilende Intervall ist es, was man Verräumlichung nennen kann, Raum-Werden der Zeit oder ZeitWerden des Raumes [ . . . ] . 3 3

Wenn Foucault einmal feststellt, die »aktuelle Epoche« sei »die Epoche des Raumes«, die die Obsession, die das 19. Jahrhundert für die Geschichte hatte, ablöse, 34 so markiert die Lasker-Schülersche Erzählung ge-

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32 33 34

Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/M. 1992,8. Ii8f. »Die Verräumlichung (mit anderen Worten die Artikulation) des Raumes und der Zeit, das Raum-Werden der Zeit und das Zeit-Werden des Raumes, ist immer das Nicht-Wahrgenommene, das Nicht-Gegenwärtige und das Nicht-Bewußte«. Derrida: Die différence, S. 39. Ebda., S. 39. Vgl. auch ebda., S. 34. Foucault: Andere Räume, S. 34.

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nau den Übergang oder Umschlag dieser beiden Dispositive. Zugleich zeigt sie, daß das Subjekt der Aufklärung diesen Umschlag nicht überlebt. Denn in dem Moment, in dem es seinen Platz im Raum nicht mehr von einem transzendentalen Blickpunkt her bestimmen kann, hypertrophiert es selbst zum Raum und wird zugleich als Körperraum von einer nichttransformierbaren Differenz ausgehöhlt.35 Konstruktionen aufklärerischen Denkens wie die des Gesellschaftsvertrags, der die Subjekte im selben Moment als frei Handelnde entwirft, wie diese sich ihm als allgemeinem Gesetz unterwerfen, tendieren dazu, Subjekt und Raum als geschlossene Entitäten zu analogisieren. Als neuzeitliche Ausprägungen des Logozentrismus reduzieren sie jede Schwelle auf eine Grenze, die zwei klar definierbare Bereiche voneinander scheidet. Das zum Träger und Medium der Vernunft hypostasierte Subjekt erfüllt allgemeine Prinzipien, indem es als kritisches, unterscheidendes handelt. Deshalb können seine Urteile (die es selbst als Leerstelle ausklammern) als rest-lose Vergegenwärtigungen der Moralgesetze gelten, die gleichzeitig vernünftig sind. Das Zeit-Paradoxon, das sich in der hierbei impliziten Vorstellung verbirgt, jemand könne »bei seiner eigenen Empfängnis anwesend sein«, könne sozusagen als noch nicht Existierender »den Auftrag vergeben, ihn zu erschaffen«,36 ist damit sowohl für die Konstruktion des Subjekts als auch für die desjenigen Raumes konstitutiv, dem als Geltungsbereich der Vernunft ein universaler Status zugesprochen wird. Dessen Grenzen entstehen gleichzeitig mit den Grenzen des Subjekts, die dieses von den Objekten, auf die es sich beziehen kann, trennen. Charakteristischerweise erscheint dieser Raum (der dem Innen- und Handlungsraum des Subjekts analog ist) dem bürgerlichen Denken jedoch gerade nicht als mythischer. Vielmehr wird seine Quintessenz, die Rationalität, als Inbegriff und Werkzeug der Mythenzertrümmerung begriffen. Insofern diese als permanente dynamische Bewegung eines historischen Fortschritts gedacht wird, wird der Raum verzeitlicht, das Paradox seiner Einsetzung im permanent aufgeschobenen Versprechen zukünftiger (Ein-) 35

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Die zahlreichen Bilder eines Nicht-Verdaulichen, die die Literatur der Moderne von Flaubert bis Döblin geradezu obsessiv verwendet, können als Figurationen des Auftauchens einer nicht mehr anzueignenden Differenz begriffen werden. Vgl. hierzu etwa Annette Keck: Die Metamorphosen Jacks, des Bauchaufschlitzers. Ein avantgardistischer Prospekt auf das neuzeitliche Verhältnis von Anatomie und Anthropophagie, in: Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften, Tübingen 1999, S. 1 3 7 — 1 5 6 . Hinweise auf das Verhältnis von Introjektion und moderner Poetologie bei Flaubert verdanke ich vor allem Jana Ziganke. Slavoj Zizek: Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1 9 9 3 , S. 1 3 3 .

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Lösung in der Schwebe gehalten und zugleich verdeckt. Reinhard Koselleck hat gezeigt, inwiefern die Geschichtsphilosophie logisches Supplement bürgerlicher Selbstlegitimation war, insofern sie es ermöglichte, die Produktion binärer Oppositionen als Grundmuster bürgerlicher Kritik aufrechtzuerhalten, ohne deren widersprüchliche Voraussetzungen enthüllen zu müssen. Durch die Bezugnahme auf universale Begriffe der Moral und der Humanität, die als Endziel wie auch treibende und legitimierende Kraft dieses in Dualismen sich fortzeugenden Denkens gesetzt wurden, stellte es sich unablässig selbst, wie Koselleck formuliert, einen »ungedeckten Wechsel auf die Zukunft« aus. 37 Mensch und Bürger, das Idealbild der Zukunft und der Ort, von dem aus dieses entworfen bzw. angestrebt wird, werden stillschweigend identifiziert, wodurch die besondere politische — man könnte auch sagen ideologische oder mythische — Qualität der neuen moralischen Universalismen unsichtbar gemacht wird. 3 8 Es werden Ansprüche formuliert, Aussagen durch Bezugnahme auf absolute Wahrheitskriterien wie Natur oder Moral abgesichert, wodurch die Komplizität zwischen Wunschökonomie und Wirklichkeitskonstitution unlesbar wird. Zwar hängt das Fortschreiten auf jenen Zustand zu, in dem die Differenzen aufgehoben oder ausgelöscht sein sollen, vom handelnden Subjekt ab, dieses selbst scheint aber der Dynamik entzogen. Das Paradox, das mit der Gleichursprünglichkeit von Individuum und Gesellschaftsvertrag bzw. Gemeinwillen bereits umrissen ist, wiederholt sich im Entwurf einer zukünftigen natürlichen Gemeinschaft, die — von den sukzessive emanzipierten Subjekten herbeigeführt — deren Struktur und Funktion zuletzt notwendig auflösen müßte. So sind das Subjekt ebenso wie der Raum der natürlichen Gemeinschaft gar nicht unabhängig von der Zeitstruktur zu denken, die die K l u f t zwischen entworfenem und aktuell realisiertem Sein letztlich offenhält, indem sie sie immer neu setzt und verschiebt. Allerdings ist diese Perspektive, die diese K l u f t als konstituierende erkennt und nachzeichnet, innerhalb der geschichtsphilosophisch beglaubigten Denkordnung prinzipiell nicht einnehmbar. Die ihr eingeschriebene Aporie, sich einerseits auf einen festen Boden unzweifelhafter Gegebenheiten zu stellen und sich andererseits nur über Differenzierungen, über Zweifel und Kritik geltend machen zu können, wird erst erkennbar, wo die zeitliche Struktur wieder in eine räumliche überfuhrt wird.

37 38

Reinhard Koselleck: Kritik und Krise, Frankfurt/M., 6. Aufl. 1989, S. 140, 1 5 7 . Vgl. ebda., S. 139. 21

Dies aber manifestiert sich im modernen Kunstwerk, indem dieses die »zentralen Perspektivträger«, 39 die eine raumzeitlich gegliederte Welt überblicken, die sie kraft ihres eigenen Ordnungsvermögens zugleich repräsentieren, radikal in Frage stellt. Verschiedene Studien zur Entwicklung literarischer Raumentwürfe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert haben gezeigt, daß diese sich in der Moderne grundlegend wandeln. So lassen sich Raumdarstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie Eckard Lobsien vorgeschlagen hat, als »transzendentale Landschaften« beschreiben,40 insofern sie stets auf die Bedingung ihrer Möglichkeit, das schöpferische, die Welt ordnende Subjekt, zurückverweisen. Die Einheit des Raumes spiegelt so die Einheit der Subjektivität; in der Betrachtung der Landschaft wird der Betrachter seiner selbst als Erkenntnissubjekt inne, das durch die Bestimmung von Differenzen, Strukturen und Relationen einen Bedeutungsraum konstituiert. 41 Als prototypische Grenzfigur, die das neuzeitliche Sehen organisiert und kennzeichnet, hat Albrecht Koschorke das Phänomen des Horizonts beschrieben. Die Horizontlinie ist im Gegensatz zur mythischen Vorstellung vom Weltrand keine die Welt an sich begrenzende Zone oder Markierung, sondern beschreibt als perpektivische das Verhältnis eines einzelnen Betrachters zum Weltganzen. Insofern sie mit ihm >mitwandertFrontier-Mentalität< der Nordamerikaner korrespondiert mit einer unendlichen progressio, einem >und so weiterleeren< Chronologie einfügte. Indem es nicht nur Scharnier ist, das zwei gleiche Teile aufeinander abbildete, oder Grenze, die sie ineinander übergehen ließe, sondern im Ubergang einen doppelten Boden zu erkennen gibt, findet eine »Verräumlichung« statt, die einem herkömmlichen Topologie59 60 61 62

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Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 236. Vgl. zum Begriff der Bahnung auch Derrida: Die différence, S. 44. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 238. Vgl. Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1994, S. 100. Freud: Notiz über den »Wunderblock«, S. 369.

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Verständnis entgegensteht. Die Spur ist nicht einfach eine Spur im Raum und damit ohne weiteres lesbar. In ihrem Reliefcharakter wird sie zur Spur des Raumes, die das Andere des Symbolsystems, innerhalb dessen Autor, Schrift und Leser gleichermaßen situiert sind, herauskehrt. Als Kehrseite der Schrift schreibt sie ihrer Vermittlungs- bzw. Bedeutungsfunktion einen Überschuß ein, der auf die ihr immer schon zugrundeliegende Abtrennung hindeutet. Denn die Schrift oder Spur re-präsentiert nicht eine Wahrnehmung oder einen ehemals präsenten Bewußtseinsinhalt, vielmehr demonstriert die verräumlichte Spur, daß es »die reine Wahrnehmung« nicht gibt: [ . . . ] w i r w e r d e n nur als Schreibende d u r c h die Instanz in uns, die i m m e r schon die W a h r n e h m u n g , o b sie n u n äußerlich oder innerlich ist, ü b e r w a c h t , geschrieben. D a s >Subjekt< der Schrift existiert n i c h t , versteht m a n darunter irgendeine souveräne E i n s a m k e i t des Schriftstellers. D a s S u b j e k t der S c h r i f t ist e i n System v o n B e z i e h u n g e n z w i s c h e n den Schichten: des W u n d e r b l o c k s , des Psychischen, der G e s e l l s c h a f t , der W e l t . I m Innern dieser Szene ist die p u n k t u e l l e E i n f a c h heit des klassischen S u b j e k t s unauffindbar. 6 4

Die Tatsache, daß Freud in der >Notiz über den »Wunderblock«< ausdrücklich auf einen Schriftbegriff zurückgreift, der vor das Zeitalter des Buchdrucks, vor die Möglichkeit einer Vervielfältigung des Geschriebenen oder gar die heute mögliche papierunabhängige digitale Speicherung zurückgreift, ist dabei bemerkenswert. Im Gegensatz zu diesen beiden Schriftformen der Neuzeit läßt sich bei der Vorstellung einer geritzten Wachstafel die Schrift nicht von dem Material, dem sie sich einprägt, trennen.65 Wenn es das Charakteristikum des von Foucault beschriebenen >Zeitalters der Repräsentation ist, einen »abgeschlossenen Raum« zu er64

Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, S. 344^; zu dem Aspekt, daß »Erinnerung sich auf >etwas< [bezieht], das >im eigentlichen Sinne< gar nicht vergessen werden konnte, weil es nie war« vgl. auch Bettine Menke: Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte, in: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, Frankfurt/M. 1991, S. 7 4 — 1 1 0 , (S. 84); sowie Birgit Erdle: Traumatisierte Schrift. Nachträglichkeit bei Freud und Derrida, in: Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposium 1995, hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart, Weimar 1997, S. 78—93.

65

Die Wachstafel steht zudem fur ein klassisches mnemotechnisches Modell, das zuerst von Plato beschrieben wurde. Vgl. Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 1 6 46; Harald Weinrich: Typen der Gedächtnismetaphorik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 2 3 - 2 6 ; Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt/M. 1990. Lachmann weist darauf hin, daß das dem Wachs eingeprägte Zeichen ursprünglich mit der Praxis verknüpft war, von den Gesichtern der Toten einen Wachsabdruck zu nehmen. (Ebda., S. 26) Der Abdruck scheint den Körper noch unmittelbar zu bewahren, da er sich der Berührung mit ihm verdankt, zugleich jedoch setzt er den Tod des Körpers voraus.

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richten, in dem jedes Zeichen einen bestimmten Ort beansprucht, die Sprache als solche mithin nahezu unsichtbar wird, 66 so deutet sich hier ein Versuch an, diese Geschlossenheit zu überschreiten. Die Problematisierung des Begriffs der Bahnung in Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit von Wahrnehmung und Bewußtheit läßt die Sprache in ihrem irreduziblen Schriftcharakter hervortreten. Anstatt als Medium der Repräsentation erscheint sie hier an der Schwelle der Repräsentation, die zugleich die von ihren Prozessen nicht loszulösende Grenze des (sich erinnernden, sich einer Sache bewußten) Ich markiert.

2.2. Hieroglyphen, Traumschrift, Urworte Die Rückwendung zu scheinbar elementaren Formen von Schrift-Bildlichkeit, die Freud durch seine Wiederentdeckung der platonischen Wachstafelmetapher inszeniert, präsentiert sich nicht als bloße Wiederentdeckung ursprünglicher Stadien von Psychogenese und Kulturentwicklung. Die nicht zerlegbare Konfiguration aus Schrift und Materie, die im Mittelpunkt der Abhandlung über den Wunderblock steht, bricht vielmehr mit der Vorstellung einer anfanglichen oder wesenhaften Ungeschiedenheit von Zeichen und Bezeichnetem, die der repräsentationeile Schriftbegriff voraussetzt. Zwar bringt diese Schrift-Bild-Konfiguration den >Umweg< der Bezeichnung tendenziell zum Verschwinden, gleichzeitig aber kehrt sie eine irreduzible Spaltung oder Ritzung im Ursprung hervor, die diesen der Aneignung durch den Sinngebungsprozeß entzieht. Gerade indem sie ein Aufscheinen des Ganzen im Einzelnen verwehrt, läßt sie sich zu einem modernen Kunstkonzept in Beziehung setzen, das sich traditionellen mimetischen Verfahren widersetzt. Denn sie ist weder im Sinne eines sakralisierten, der Alltagsökonomie enthobenen Anderen aufzufassen, dessen Kultwert, wie Benjamin in seinem Kunstwerkessay schreibt, auf eine die Differenzen überbordende Ganzheit hindeutet.07 Noch ist sie geeignet, die Dialektik von Nähe und Ferne, mit der Benjamin den Begriff der Aura verbindet, als Vermögen des schöpferischen Subjekts zu identifizieren, das fur die Echtheit und Originalität des Geschaffenen einstünde. Die geritzte Tafel, das gemeißelte Relief oder das geprägte Metall treten in diesem Denkmodell nicht als Zeugnisse eines schöpferischen Ereignisses 66 67

Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 1 1 2 , i i 4 f . Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung), in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt/M. 1 9 9 1 , S. 4 7 1 - 5 0 8 , (S. 475, 480, 483).

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auf, das seine Einzigkeit Benjamin zufolge seinem »Eingebettetsein in den Zusammenhang einer Tradition« verdankte. 68 Die Spur, welche die Bahnung ist, tritt als Grenzmarkierung gleichsam zwischen das Profane und das Sakrale und läßt diese ordnungsstiftende Grundunterscheidung undeutlich werden, indem sie sie überdeterminiert. Die Funktion der Grenze (etwa der Tempelmauer), den Bereich des Sakralen zu markieren und als Ort göttlicher Präsenz zu vereindeutigen, wird in dem Moment unterlaufen, wo sie selbst als Schrift, als Grenz-Schrift, erkennbar wird. Diese bezeichnet nicht etwas außer ihr Existentes, sondern den Vorgang einer Verräumlichung, der die (Re-)Präsentation einer ursprünglichen Spaltung aufschiebt und auf Distanz hält. Wenn in der Geschichte Grammatons dieser zunächst seine künstlerischen Zeichen in die Säulen des Herrscherhauses prägt, so deutet sich hier bereits das Hervortreten einer solchen Grenz-Schrift an. Denn in dem Augenblick, in dem er diese Säulen zu seinem Tempel, dem Tempel seiner Kunst macht, können sie nicht mehr klar im Sinne der Herrschaftsordnung interpretiert werden. Das >Tempelprojekt< des Künstlers steht dem Projekt der Brüder, das Vaterhaus insgesamt zum Tempel ihrer Macht zu machen, unversöhnlich gegenüber. Die Grenze zwischen Profanem und Sakralem beginnt problematisch zu werden, wo der sakrale Raum, in dem sich gleichsam der göttliche Anspruch, das Ganze zu verkörpern, verbirgt, sich verdoppelt und seine Eindeutigkeit einbüßt. Im Trauerspielbuch beschreibt Benjamin die Spannung zwischen einer »Heiligkeit der Schrift« und einer »profanen Buchstabenschrift«. 69 Während erstere »sich in Komplexen, die zuletzt einen einzigen und unveränderlichen ausmachen oder doch zu bilden trachten«, ausprägt, besteht letztere aus »Schriftatomen«, die der medialen Funktion von Schrift durch beliebige Kombinierbarkeit optimal angepaßt scheinen. Beide sind diesen Ausführungen zufolge zwar »am weitesten« voneinander entfernt, aber doch nicht grundsätzlich voneinander zu scheiden, da die eine die andere immer impliziert. »[I]mmer wieder wird der Konflikt von sakraler Geltung und profaner Verständlichkeit sie [d.i. die Schrift, D. B.] betreffen«, schreibt Benjamin, womit offenbar auf den Rahmen oder Horizont des Verstehens angespielt ist, dessen Setzung - wie oben beschrieben — immer 68

Ebda., S. 4 4 1 . V g l . auch ebda.: »der einzigartige Wert des >echten< Kunstwerks ist immer theologisch fundiert.« Indem die Aura des Kunstwerks als »sonderbares Gespinst aus R a u m und Zeit« (ebda., S. 440) ein zeitliches und räumliches Kontinuum symbolisiert und sakralisiert, wird deren Totalität als geschlossene präsentiert.

69

Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I . i , S. 2 0 3 - 4 0 9 , (S. 3 5 1 ) .

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eine sakrale Dimension behält. Umgekehrt kann sich auch die sakrale Schrift dem »einzigen und unveränderlichen« Komplex, in dem das Göttliche oder die Welt restlos aufgehoben wäre, nur annähern. Die Hieroglyphenschrift wird in diesem Sinne nicht nur als historische Ausprägung einer frühen Schriftform verstanden, sondern generell als Schrift, die »sich ihres sakralen Charakters« versichert. In ihr »drängt das Geschriebene zum Bilde«, was immer wieder auch als Vorgang einer Verräumlichung beschrieben wird. Die Hieroglyphik gewinnt in der Benjaminschen Habilitationsschrift eine besondere Bedeutung, insofern er sie als besonders charakteristisches Schriftphänomen des Barock identifiziert, dem seine Abhandlung über das Trauerspiel gewidmet ist. Zugleich jedoch stellt Benjamin selbst die Bezüge zu seiner eigenen Zeit ausdrücklich her. »Frappante Analogien« erkennt er zwischen Expressionismus und Barock und resümiert: F o r d e r u n g ist den beiden eigentümlich. D i e G e b i l d e dieser Literatur wachsen nicht sowohl aus d e m Gemeinschaftsdasein auf, als daß sie durch g e w a l t s a m e Manier den Ausfall geltender Produkte in d e m Schrifttum zu verdecken trachten. Denn wie der Expressionismus ist das Barock ein Zeitalter weniger der eigentlichen K u n s t a u s ü b u n g als eines unablenkbaren Kunstwollens. [ . . . ] D a s höchste Wirkliche der K u n s t ist isoliertes, abgeschlossenes Werk. Z u Zeiten aber bleibt das runde W e r k allein dem E p i g o n e n erreichbar. D a s sind die Zeiten des >Verfalls< der K ü n s t e , ihres >Wollensetwas< — nämlich das Geheimnis göttlicher Autorität, das Geheimnis des Numinosen — ist, sondern darin, daß sie die Grenze solcher Totalitätsfiktion figuriert. So wird in der Wiederaufnahme der Hieroglyphen als Urform der Schrift deren Funktion der »hieratische[n] Ostentation«,78 also des Ausdrucks der das Symbolsystem insgesamt repräsentierenden Autorität, als skripturaler Effekt ausgestellt. Die Entgegensetzung von heiliger und profaner Schrift, wie sie Benjamin zunächst vornimmt, wird damit im Verlauf der Argumentation fragwürdig. Denn während die Heiligkeit der Autorität an Schrift geknüpft zu sein scheint, bewahrt diese die Erinnerung an ein Jenseits, ein Anderes dieser allumfassenden Autorität. Hieroglyphenschrift und Buchstabenschrift bleiben so supplementär aufeinander bezogen. 79 Die Vorliebe Benjamins fiir topische Metaphern ist in diesen Ausfuhrungen evident. Dabei fällt auf, daß sie auch bei ihm dazu dienen, die Grenzen topologisierender Modelle des Weltverstehens auszuloten und Spuren einer >anderen Topik< nachzuzeichnen. Diese manifestieren sich nicht nur darin, daß »durch die tektonische Struktur des Ganzen« eine Teilung gehe, 80 sondern auch in der unendlichen Fülle und Vervielfältigung der Bildkomplexe, von denen jede die Totalität der Welt als gebrochene, ruinöse spiegelt. Den Doppelcharakter der Hieroglyphen als Schrift und Bild haben Hieroglyphenforscher schon früh hervorgehoben, indem sie darauf hinwiesen, daß die scheinbare Ähnlichkeitsbeziehung, die diese Schriftzeichen zu den Dingen der Welt unterhalten, gerade nicht auf einem getreuen Abbildverhältnis beruht. Tatsächlich verweisen die Hieroglyphen nicht auf je eine bestimmte Sache, sondern rufen ganze Bedeutungskomplexe auf. Das Bild eines Adlers oder einer Schlange etwa ist lediglich in einem komplexen Sinne ein »sprechendes«, insofern es nicht nur das jeweilige Tier meint, sondern ein Ensemble der ihm zugeschriebenen Eigenschaften und Fähigkeiten. Wie William Warburton erläutert, sind Hieroglyphen 78

Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 346. Wenn Benjamin den hieratischen Charakter der Hieroglyphen betont, so bezieht er diesen zunächst auf einen religiös sanktionierten Anspruch, »etwas dem göttlichen Denken Entsprechendes [zu schaffen], da die Gottheit das Wissen aller Dinge nicht als eine wechselnde Vorstellung sondern gleichsam als die einfache und feste Form der Sache selbst besitze.« (Ebda., S. 346. Benjamin zitiert hier Marsilius Ficinus); Die Hieroglyphenschrift heißt ägyptisch »die Schrift der Gottesworte«, vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 170.

79

Zur Dekonstruktion der von Benjamin behaupteten Differenz beider Schrifttypen vgl. Bettine Menke: Sprachfiguren. Name — Allegorie — Bild nach Walter Benjamin, München 1 9 9 1 , S. 1 8 6 - 1 9 7 . Ebda., S. 3 7 1 .

80

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als »Zeichen fur mehrere Dinge« bereits Abkürzungen oder Verdichtungen im Vergleich zu einer bloßen Fülle von Bildern, die — idealtypisch — möglichst realistisch jedes Tier oder jeden Gegenstand duplizieren. 81 Hieroglyphe oder Piktogramm setzen also immer schon einen Betrachter voraus, der das mit dem Bild konnotierte Umfeld interpretieren kann. Umgekehrt läßt sich dann aber, sofern man die Hieroglyphen als ursprünglichste, sinnlichste Schriftform akzeptiert, die Vorstellung von einer präfigurierten, also buchstäblich nicht-figuralen oder verschrifteten Welt nicht aufrechterhalten. Die Vielzahl menschlicher Welt- und Selbstkonzeptionen ist offenbar nicht auf eine objektive, allen Menschen gemeinsame Wahrnehmung zurückzuführen, wie (früh-)aufklärerische Überlegungen zu einer mathematisierten, auf Hieroglyphen basierenden Universalsprache, die man etwa bei Vico oder Leibniz findet, suggerierten. 82 Das Interesse an den Hieroglyphen im Barock und wiederum in der Moderne (und d. h. auch Benjamins Interesse) erklärt sich denn auch weniger durch den Wunsch nach einer theologisierenden Feststellung eines universalen Sinnhorizonts, als vielmehr durch das Fragwürdigwerden einer solchen Orientierungsperspektive. Die Heiligkeit, die mit den ägyptischen Schriftzeichen verbunden wird, wird nicht als Ausweis ihrer unmittelbaren Natur- oder Gottverbundenheit betrachtet, sondern als Hinweis auf ein distanzgebietendes Anderes, das sich nicht ohne weiteres verstehend aneignen läßt. Das impliziert auch, daß nicht einfach ein staunendes Verharren, in dem sich im theologischen Kontext die Distanz gegenüber dem Heiligen oder Erhabenen ausdrückt, eingefordert und einem aufgeklärtnüchternen Weltbezug gegenübergestellt wird. Wenn die Auseinandersetzung mit der heiligen Bilderschrift doch das Staunen lehren soll, so nur insofern dieses einen >philosophischennoch< möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.«

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sie verwendenden Menschen mit der ausgedrückten göttlichen Welt in Kontakt zu bringen. Im Gegensatz zu der von ihr abgeleiteten Kursivschrift wurde sie vielmehr ausschließlich in sakralen Zusammenhängen verwendet, die mit denen politischer Herrschaftsdemonstration und -legitimation identisch waren. Als Inschriften vor allem auf Tempelwänden und monumentalen Gebäuden war sie wichtiger Bestandteil jenes »monumentalen Diskurses«, dessen besondere »Mythomotorik« darauf ausgerichtet war, Herrschaft zu sakralisieren und zeitlicher und räumlicher Variabilität zu entziehen. 84 Die Bilderschrift ist hier von dem Material, in das sie eingeprägt wird, nicht ablösbar, sie bildet mit diesem als materiellimmaterielle Konfiguration jene entscheidende Grenze, die die Gesellschaft insgesamt strukturiert. Die Grenzziehung zwischen Sakralem und Profanem, Innen und Außen zieht die Blicke auf sich und fordert eine Lektürehaltung heraus, ohne sie jedoch mit der Herausgabe eines vom Ort ablösbaren Sinns zu belohnen. Die Inschrift stellt die Raum-Ordnung nicht einfach dar, sie setzt sie ein. Die mit der Inschrift eingeführte Verdopplung erhält eine Spannung aufrecht zwischen einem Prinzip der Ersetzung (einer Sache oder Gegebenheit durch ein Zeichen) und dem einer paradoxen Gleichzeitigkeit, das die repräsentationeile Funktion von Schrift aushöhlt. Als Figur der Inschrift deuten die Hieroglyphen darauf hin, »daß der skripturale Raum [...] an die Natur des sozialen Raums, an den perzeptiven und dynamischen Aufbau des technischen, religiösen und ökonomischen Raums gebunden ist«. 85 Damit aber tritt, so Derrida in der >GrammatologieInschrift< nicht als Urform einer bezeichnenden, Haus und Sein lediglich repräsentierenden Schrift zu verstehen, sondern selbst gleichsam »als Behausung«. Sie gibt der politischen, ökonomischen oder sprachlichen Ordnung Raum, ohne sich selbst ihren Gesetzen vollständig zu unterwerfen und ohne auf die konstruierende Fähigkeit eines Subjekts rückbeziehbar zu sein.86 Es handelt sich damit weniger um eine in Ausdehnung und Eigenschaften beschreibbare Örtlichkeit, als vielmehr um den kontinuierlichen Prozeß einer Eröffnung der Möglichkeit, Orte und Plätze, Beziehungen und Grenzen überhaupt erst zu setzen und zu bestimmen. Hieroglyphenschrift markiert damit auf mindestens zweifache 84

85 86

Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 1 7 0 - 1 7 4 . Vgl. hierzu ausfuhrlicher auch Kap. IV.5.1. Derrida: Grammatologie, S. 497. Vgl. Jacques Derrida: Chora, Wien 1990, S. 1 3 , 28, 35; sowie Derrida: Grammatologie, S. 498.

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Weise die Grenze des Symbolischen: zum einen als Bilderschrift, die der Welt ähnlich ist und sie zugleich ersetzt und die somit metonymische und metaphorische Sprachfunktion unauflöslich miteinander verknüpft. Zum anderen als Inschrift, die die »Räumlichkeit des Raums« nicht nur bezeichnet, sondern hervorbringt.8"7 Ihr Auftauchen in literarischen Texten der Moderne markiert somit Abgründe, an denen die textuelle Raumordnung auf ihre Konstitutionsbedingungen zurückgeworfen wird. Konsequenz ist eine radikale Infragestellung von Repräsentation, sofern diese ein Gefüge von Orten simuliert, deren Verhältnis durch relationale Bezüge bestimmt ist. W e n n es einen Chasmus in der M i t t e des Buches g i b t , eine Art A b g r u n d [ . . . ] , d i e Eröffnung eines Ortes, >in< d e m alles z u g l e i c h Platz

nehmen und

werden k ö n n e n soll [ . . . ] [ , dann affiziert] d i e s e erzeugte Abgründigkeit

reflektiert (mise en

abyme) die Formen eines Diskurses über die Plätze, n a m e n t l i c h d i e p o l i t i s c h e n Plätze [ . . . ] , eine P o l i t i k der Plätze, die g a n z u n d gar durch die B e a c h t u n g v o n O r t e n (Posten in der Gesellschaft, der R e g i o n , d e m Territorium, d e m Land) k o m m a n d i e r t wird, als Orte, die D i s k u r s t y p e n oder D i s k u r s f o r m e n z u g e w i e s e n werden [ . . . ] . 8 8

In den Lasker-Schülerschen Texten begegnet man immer wieder Hieroglyphen, die als Grenz-Schrift Mauern, Pyramiden oder der Stirn eines Menschen eingeschnitten sind. Auch die »Bilder und Zeichen«, die Grammaton den Säulen einprägt, können als Hieroglyphen identifiziert werden. In einem vielfach diskutierten Gedicht Lasker-Schülers bringt sich das lyrische Ich selbst sogar ausdrücklich mit einer basalen Schrift-Bild-Konfiguration in Verbindung: »Ich bin der Hieroglyph, der unter der Schöpfung steht«.®9 Insofern im folgenden ausschließlich Prosatexte analysiert werden, verweist dieser Vers, der den Lektüren als programmatisch vorausgestellt wird, auch auf eine Grenze dieser Untersuchung: die vielfältigen Bezüge, motivlichen und strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Prosa und 87

Ebda., S. 498. Vgl. hierzu auch Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 2 1 5 - 2 2 5 . De Certeau unterscheidet zwischen raumschaffenden Handlungen (der Bewegung eines Subjekts durch den Raum) und einem symbolischen Verhältnis zum Raum, das diesen als Gegenstand abstrakter Topologien (etwa Karten) als Gesamt-Schauplatz ordnet. Vor dem Hintergrund dieser historisch argumentierenden Analyse ließe sich formulieren, daß die moderne Literatur offenbar die irreduzible Differenz dieser beiden Weisen des Bezugs zum Raum zur Schau stellt: Die abstrakte Raumkonstruktion erfaßt die Kontingenz des Realen nie vollständig.

88

Derrida: Chora, S. 34L Es handelt sich um das Gedicht >Mein stilles LiedMein stilles LiedGeneralabrechnung< entlarvt Bänsch jedoch nicht nur die Funktionalisierung Lasker-Schülers und ihrer Texte als »Seelenwärmer«, 94 sondern demontiert die von ihm untersuchte Dichtung gleich mit. Während er das >stille Lied< recht genau betrachtet, immer wieder auf es zurückkommt und dabei eine Reihe aufschlußreicher Beobachtungen formuliert, laufen die Schlüsse, die er aus ihnen zieht, doch immer darauf hinaus, daß er den Versen Hermetik und Unlesbarkeit attestiert: »Das ganze Gedicht läßt im unklaren, ob seine Rätsel einer verbor90

91 92 93 94

Sissel Laegreid: Nach dem Tode - oder vor dem Leben. Das poetische Projekt Else LaskerSchülers, Frankfurt/M. 1997. Dieter Bänsch: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes, Stuttgart 1 9 7 1 . Ebda., S. 1 - 2 0 . Ebda., S. VII (Vorwort). Ebda., S. 2 1 5 .

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genen Absicht des Autors oder einer Verwirrung im dichterischen Bewußtsein entspringen.« 95 Hier soll nun nicht weiter den wenig produktiven Verurteilungen nachgegangen werden, auf die Bänsch seine Analysen jeweils zuspitzt und die inzwischen längst auch in anderen Studien als fragwürdig zurückgewiesen worden sind. 90 Interessant sind sie im Kontext dieser Arbeit vor allem darin, daß sie den Widerstand der Texte und Gedichte gegen einen hermeneutischen Zugriff symptomatisch zur Schau stellen. Dies läßt sich gerade an dem Satz vom Hieroglyphen, an dem Bänsch Anstoß nimmt, gut belegen. 97 Denn während Bänsch bezweifelt, daß die Hieroglyphen-Metapher in der Moderne noch plausibel für eine Verrätselung des Sinns und ein In-Sich-Verschlossensein des Ich verwendet werden könne, da die ägyptischen Hieroglyphen zu dieser Zeit längst entschlüsselt gewesen seien,98 scheint es in dem fraglichen Bild um mehr als den Dualismus von offenliegendem und verborgenem Sinn, von möglicher Lektüre und Unlesbarkeit, zu gehen. Zunächst ist es wichtig zu betonen, daß die Zusammenfuhrung von Schrift und Welt den alten Topos von der Welt als (zu lesendem) Buch aufgreift. 99 Auch die Tatsache, daß sich die Schrift, in der sich die Welt darbietet, als hieroglyphische und damit nicht einfach entzifferbare präsen-

95

Ebda., S. 6. V g l . auch ebda., S. 7: »Das Gedicht selber bewegt sich im Kreise.« Und: »Wiederum öffnet sich der anscheinend unaufhebbare Zirkel, in dem eine Unklarheit auf die andere stößt.« Schließlich nimmt Bänsch zu anderen Gedichten desselben Bandes Zuflucht, denn: »Indem das Gedicht als vergeblich befragtes zerfallt, lenkt es den Blick auf seine Umgebung.« (Ebda., S. 10.)

96

V g l . etwa Meike Feßmann: Spielfiguren. Die Ich-Figuration Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors, Stuttgart 1992, S. 7 15; 1 3 1 - 1 4 5 .

97

V g l . Bänsch: Else Lasker-Schiiler, S. 1: »Es gibt Sätze, in denen sich Dichtung zur Abbreviatur ihrer selbst zusammenzieht.«

98

Dieses Argument berücksichtigt freilich nicht die bereits erörterte Bedingung, die das Bildzeichen überhaupt erst entzifferbar macht: die Bedeutung ist nicht selbst-evident oder eindeutig auf einen bestimmten Gegenstand bezogen. Wenn sie jedoch einen ganzen Bedeutungskomplex aufruft, so stellt sich das Problem der Übersetzung in besonderem Maße, denn dieser Komplex wird kaum in einer anderen Sprache, geschweige denn über die Distanz von Jahrtausenden hinweg »entschlüsselt« werden können.

99

V g l . Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, S. i 7 f . Die lange Tradition der Verbindung von Natur und Buch sieht Blumenberg durch zwei Aspekte begründet: »Einmal [aus] Konkurrenz mit dem einen Buch, seiner Autorität, seiner Ausschließlichkeit, seinem Bestehen auf Inspiration. Z u m anderen Faszination durch die Macht, die das Buch in sich selbst dadurch aufbringt, daß es Herstellung von Totalität leistet. Die Kraft, Disparates, weit Auseinanderliegendes, Widerstrebendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit zu begreifen [ . . . ] , ist dem Buch, woran auch immer es sie exekutiert, wesentlich.« D a ß der Topos von der Welt als Buch bei Lasker-Schüler virulent ist, hebt auch Bänsch hervor, vgl. etwa Bänsch: Else Lasker-Schüler, S. 2.

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tiert, ist ein zentraler Bestandteil dieser topologischen Verknüpfung. 1 0 0 Dieses Bild beruht zunächst auf der Grundunterscheidung zwischen chiffrierter Schöpfung und der Instanz ihrer Entzifferung, dem Menschen. Der eigentliche Sinn, den die unlesbaren Zeichen verschlüsseln oder verbergen, bleibt allein Gott als dem Schöpfer der Welt zugänglich. Die Vorstellung von der Welt als Buch voller verrätselter Zeichen legt demnach einerseits nahe, daß der Schöpfer sich gleichsam menschlicher Mittel bediene, daß er nämlich ein Buch verfasse, das nicht nur zur Lektüre einlade, sondern auch auf seinen Autor als seinem allwissenden Urheber verweise. Andererseits erscheint der Rückbezug auf diese Auktor-Instanz aus innerweltlicher Perpektive problematisch, die Verstellung des Sinns markiert die Differenz von menschlich-beschränkter Perspektive und allmächtiger Position Gottes. In der Romantik, in der die Metapher von der Hieroglyphenschrift eine neue Konjunktur erlebt, wird diese Differenzierung relativiert. Der Mensch steht selbst im Zentrum der Schöpfung; ihrer verborgensten Wahrheit und damit seiner eigenen präreflexiven Identität kann er paradoxerweise nur innewerden, indem er auf den Mangel und das Fehlgehen jeder medialen Bezugnahme auf das Ich wie auf die Welt reflektiert. 1 0 1 Wenn die Struktur seiner Subjektivität derjenigen der Welt analog ist, so wird er zu ihrer privilegierten Erkenntnisinstanz, die jedoch nicht hinter die Ent-stellung seiner selbst als Erkenntnissubjekt, das auf die Reflexion angewiesen ist, zurückfallen kann. Doch auch wenn die Totalität der Welt im Hier und Jetzt unlesbar bleibt, so zeichnet sie sich doch im totalisierenden Selbst-Entwurf ab, der das räumliche Ganze der Welt aufscheinen läßt. Novalis formuliert etwa in diesem Sinne: »Zur Welt suchen wir den

ICO

Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 18: »Die Natur, einmal als Buch verbildlicht, soll eben diese Qualität eines Ganzen aus einem Wurf schon haben und sich darin bewähren, die im Begriff vorweg erzwungene Einheit unter Gesetzen als auch nachvollziehbare, erwerbbare Einsicht zu begründen. Den Vorgriff auf Vertraulichkeit dann wieder zu ernüchtern, erfordert einen so ärgerlichen Zusatz wie den, ein Buch sei die Natur zwar, aber ein in Hieroglyphen, in Chiffren, in mathematischen Formeln geschriebenes — das Paradox eines Buches, das sich dagegen verwahrt, Leser zu haben.«

101

Vgl. hierzu Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt/M. 1989, S. 257. Frank spricht hier in einer Novalis-Analyse von der »zweiten Reflexion«, durch die sich das Denken einer »Selbstzerstörung« aussetze. Vgl. auch ebda., S. 260: »Die Reflexion vermag zwar durch Selbstnegation die falsche Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit zu korrigieren, kann sich aber nicht als Urheber ihres Seins, auch nicht ihrer Selbsttransparenz, anschauen. Als das, was Relate zur Einheit des Se/tobewußtseins zusammenhält, kommt eine unverfugliche Identität jeder Form von Bewußtsein immer schon zuvor. Das negative Selbstverhältnis der Reflexion dementiert mithin nur den Anspruch, selbst das Seiende, selbst Realgrund der Identitätsrelation zu sein.«

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Entwurf — dieser Entwurf sind wir selbst — Was sind wir? personificirte allmächtige Punkte.«I02 Auch bei Lasker-Schüler findet man den Vergleich des Ich mit einem Punkt, der offenbar nicht als Teil der Welt, sondern als Wiederholung der weltlichen Totalität im Kleinen gedacht wird. Anders als in der romantischen Konzeption erscheint jedoch diese Totalität nicht als vollkommenes Zusammenspiel von Geist und Materie, als Restitution ihrer vorgängigen Einheit. Der Punkt, der das Ich ist, wird vielmehr als ein »tätowierter« imaginiert. 103 Das hieroglyphische Schrift-Bild des Ich ist also einem Körper eingraviert, der sich seiner — wie immer verschlüsselten — Bedeutung nicht subsumieren läßt. Im Moment des Erscheinens des Ich als punktuelle Totalität wird dieser >andere< Körper vielmehr versehrt, geritzt und damit zum Zeichenträger des Absoluten gemacht. Das Gewaltsame dieser Operation bleibt jedoch erkennbar. Es wird nicht, wie in den aphoristischen Bildern Hardenbergs, als dessen immanente Gespaltenheit in das Subjekt verlegt, sondern markiert dessen Urszene als einen Akt der Einschreibung, der ihm in radikaler Weise unzugänglich bleibt. Anstatt auf die eigene Totalität in einer Geste der Negation als entzogene zu reflektieren, erscheint das Ich einem Anderen ausgesetzt, ohne dessen Entzifferungsanstrengung es nicht zu sich kommen kann: »Ich fühle, daß auf meiner Stime ein Gebot steht, daß [sie!] auf der Tafel Moses stand oder im Koran. Vielleicht können Sie es entziffern« (BI 38), heißt es in dem bereits zitierten Brief, dem auch die Figuration des Ich als Punkt entstammt. Das Ich erscheint hier als Träger einer göttlichen Schrift, die wiederum Welt und Buch in einer Figur zusammenschießen läßt. Die damit nahegelegte Identität von Schöpfer und Geschöpf, Schreibendem und Geschriebenen ist jedoch durch eine ursprüngliche Enteignung charakterisiert. Diese läßt sich nicht auf die oben beschriebene Differenz von Gott und Mensch zurückfuhren. Denn die Frage, die das Motiv des tätowierten Punktes aufwirft, welcher >andere< Körper darin eigentlich die dem Ich vorausgehende Materie ist, beantwortet sich hier: es handelt sich um den Körper des Ich oder um die Materialität der Welt, deren Ritzung überhaupt erst dem Ich/ der Welt Raum gibt.

102

Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (Poëticismen), in: Schriften, Bd. II, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Darmstadt 1965, S. 5 0 5 - 6 5 1 , (S. 541). Zur Vorstellung einer Korrespondenz von innerer und äußerer Welt in der Romantik vgl. auch Johannes Harnischfeger: Die Hieroglyphen der inneren Welt. Romantikkritik bei E. T. A. Hoffmann, Opladen 1988, S. 2 2 4 - 2 3 6 .

103

B I 38: »Und ich, ein Punkt aber ein tätowierter, er ist nicht auszumerzen.«

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Dieses merkwürdige Selbst-Bild kann also mit Hilfe des Freudschen Konzepts der Bahnung präzise beschrieben werden. Der Ursprung oder das Wesen des Ich läßt sich wie schon in den romantischen Entwürfen auf niemanden anderes als eben dieses Ich zurückfuhren. Anders als in den philosophischen Fragmenten des Novalis präsentiert sich dieses Ich jedoch nicht als transzendentales, sondern findet sich auf eine Szene der Schrift verwiesen, in der es in seiner Körperlichkeit markiert wird (das SchriftMal auf der Stirn) und die es gleichzeitig als Markierung eines Körpers (das Tätowiertsein) erscheinen läßt. Hier kann nicht mehr zwischen Signifikant und Signifikat unterschieden werden, denn die Materialität des Zeichens und die des Bezeichneten oszillieren. Die Schrift erscheint selbst in den Prozeß der Bedeutungsbildung verstrickt, ohne sich als Medium der Welterkenntnis aus ihm emanzipieren zu können. Der Moment, in dem das Ich zum Schöpfer seiner selbst wird, sich an die Stelle Gottes am Ursprung oder im Zentrum der Welt setzt, bleibt undarstellbar, da er an jene bahnende Bewegung geknüpft ist, die die materielle Grundlage der Bezeichnung im selben Moment entzieht, wie es sie als Ursubstanz, als Einheit der Schöpfung, imaginär konstituiert. A n dieser Stelle sei noch einmal an die Grammaton-Geschichte erinnert, in der zuletzt das Körper-Raum-Bild des gehöhlten Körpers diesen zu einem Raumzeichen werden läßt, das weder auf die Totalität des Raumes verweist, noch diese gleichsam als Mikrokosmos wiederholt. Indem ihm ein Fremdkörper einbeschrieben bleibt, der nicht eliminiert oder distanziert werden kann, wird er zur Hieroglyphe, die nicht eine entzogene Allbedeutung verbirgt, sondern vielmehr deren ursprüngliche Ent-Stellung im monströs-paradoxen Bild vorfuhrt. Daß es sich hier um eine für die Lasker-Schülerschen Texte paradigmatische Konstellation handelt, wird auch durch weitere Bilder bekräftigt, die in dem erwähnten Brief dem Motiv des tätowierten Punkts und dem des Gesetzes-Mals auf der Stirn an die Seite gestellt werden: »meine Schläfen sind schon Höhlen« und »in unseren Wangen sollen Dämme und Abgründe sich bilden.« (BI 38) Die Physiognomie, die traditionell mit der lesbaren Oberfläche der Welt analog gesetzt wurde, 1 0 4 verwehrt hier die hermeneutische Lektüre — nicht 104

Vgl. Novalis: Aus den Fragmenten und Studien 1799/1800, in: Schriften, Bd. III, S. 763: »Religiosität der Physiognomik. Heilige, unerschöpfliche Hyeroglyphe jeder Menschengestalt, Schwierigkeit Menschen wahrhaft zu sehn. [...] Einzelne Offenbarungsmotnente dieser Hieroglyfe.« Sowie Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 2 0 0 - 2 0 2 . Blumenberg zitiert Lichtenbergs Kritik an Lavaters aufklärerischem Versuch, die menschlich-individuellen Gesichter den Kategorien der Lesbarkeit auszusetzen: »Jetzt sind es Zeichen an der Stime, die man deuten will, ehemals waren es Zeichen am Himmel«, was Lichtenberg mit den Worten quittiert: »Wir urteilen stündlich aus dem Gesicht, und irren stünd-

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weil der Schlüssel zu ihren Rätseln verloren wäre, sondern weil sie in ihrer Materialität, als Körperoberfläche, von Faltungen und Klüften durchsetzt ist, die den lesenden Blick ins Leere gehen lassen. Damit aber läßt sich das individuelle Gesicht nicht mehr als dessen hieroglyphischer Ausdruck auffassen. Die Zentralität des Subjekts, die Novalis in seinen Fichte-Studien beschwört, wenn er formuliert: »Das Ich hat eine hieroglyphystische Kraft«, 1 0 5 wird im Gegenteil radikal ausgehöhlt. Vor diesem Hintergrund kann der Vers vom Ich als »Hieroglyph, der unter der Schöpfung steht«, als Hinweis auf eine Ent-Stellung des Ursprungs interpretiert werden, die die Vorstellung von der ver-stellten Ursprungs- und Schöpferinstanz überbietet. 1 0 6 Das Ich ist als transzendentales, schöpferisches Subjekt nicht mehr »Verschlüßler seines eignen Textes«, 107 sondern scheint einer Heterogenität preisgegeben, die die Text-Welt wie auch ihren Schöpfer betrifft. Der Ort des Ich unter der Schöpfung ist demnach als atopischer zu lesen, da er sich der räumlichen Totalität der Schöpfung nicht einfügen läßt. Als ihr Fundament begrenzt und begründet er sie, öffnet sie aber zugleich auf ein ihr nicht assimilierbares Anderes hin. Indem er sich dem Blick aufdrängt, unterbricht dieser aus dem textuellen Ordnungsgefüge (her-)ausgesetze Ort das raum-zeitliche Kontinuum. Insofern er die Geltung der innerhalb der Symbolordnung wirksamen Wahrnehmungsmuster und Beglaubigungsverfahren suspendiert, kann ihm selbst keine eigene Bedeutung zugeschrieben werden. Er ist ausgesetzte Schöpfung im doppelten Sinne dieser Wortverbindung: Suspension der Ordnung und verworfener, nicht-integrierbarer Rest zugleich. Ausgesetzte Schöpfung nimmt die Performativität der Schöpfung, den Akt ihrer Unterbrechung und Wiedereinsetzung in den Blick. Gleichzeitig verknüpft diese Wendung die Schöpfung - schöpferische Kreativität wie ihr Produkt, das Geschöpf bzw. das

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lieh.« Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik wider die Physiognomen, in: Schriften und Briefe, Bd. 2, hg. v. Franz H. Mautner, Frankfurt/M. 1983, S. 7 8 - 1 1 6 , (S. 79)· Novalis: Philosophische Studien der Jahre 1795/96 (Fichte-Studien), in: Schriften, Bd. II, S. 27-296, (S. 107). Damit wird noch einmal der Lektüre Bänschs widersprochen, der zwar das Wortbild »Hieroglyph« als »Lieblingsbegriff« der Romantik wie des Barock identifiziert, diese Information jedoch nicht im Sinne eines systematischen Vergleichs mit seiner Verwendung in den Lasker-Schiilerschen Texten nutzt. Vgl. Bänsch: Else Lasker-Schiiler, S. 99 — 101. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 248: »Das Ich ist Verschlüßler seines eigenen Textes; daher steht es diesem mit der Ahnung gegenüber, den Schlüssel zu besitzen, aber auch als sein Selbstwiderstand, ihn zu gebrauchen.« Vgl. dagegen etwa bei Lasker-Schüler die Bemerkung des Ich: »Auf Meiner Stirn beginnt sich ein Hieroglyph einzugraben, der Mir fremd ist.« (M 422)

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Geschaffene - mit dem Zustand der Verworfenheit, des Ausgesetztseins. 108 Die Zusammenfuhrung von Totalität und Verworfenem, von Subjekt und Abjekt, 1 0 9 kennzeichnet, wie im folgenden zu zeigen sein wird, das Lasker-Schülersche Textverfahren in besonderem Maße. Die Konfigurationen von Schrift und Körper, von Schriftkörpern, wie sie in dem besonderen Einsatz des Hieroglyphenmotivs erkennbar werden, lassen sich als typische Strukturelemente dieses Verfahrens lesen. Wie der knappe Aufriß dieser Problematik am Beispiel des Satzes vom Hieroglyphen unter der Schöpfung bereits demonstriert, sind diese Bilder häufig sehr komplex und gerade wegen ihrer Resistenz gegenüber einem hermeneutischen Zugriff nicht auf eine bestimmte Bedeutung reduzierbar. Tatsächlich scheinen die Verschriftungen des Körpers und die Verkörperungen der Schrift, die in diesen Texten miteinander verschränkt werden, auf eine der größten Herausforderungen hinzudeuten, die moderne Literatur auch heute noch an ihre Leserschaft stellt. 1 1 0 Dies mag auch der Grund sein, warum die Prosatexte Lasker-Schülers lange Zeit — bis in die Mitte der achtziger Jahre, als vor dem Hintergrund feministischer Literaturdebatten eine Auseinandersetzung mit klassischen Konzepten von Autorschaft und Subjektivität begann — von der Forschung weitgehend unbeachtet blieben oder aber, wie im Falle Bänschs, als unlesbar verworfen wurden. 1 1 1 Die vorliegende Arbeit diskutiert die Körper-Schrift-Problematik vor dem Hintergrund Freudscher Konzeptionen, die zeitgleich mit den behandelten Prosa-Texten entstanden. Sie versucht, neue Beschreibungsmodi zu 108 109

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Vgl. hierzu besonders Kap. V. dieser Arbeit. Der Begriff des Abjekts wird im Zusammenhang mit den Textlektüren noch genauer erläutert. Hier ist er zunächst als Umschreibung eines >Anderen< zu verstehen, das sich im Gegensatz zum Objekt in keine geregelte Beziehung zum Subjekt setzen läßt und dessen souveränen Status daher - wie die Beispiele zeigen - aushöhlt. Vgl. Katharina Sykora: Ver-Körperungen. Weiblichkeit - Natur - Artefakt, in: Raum und Verfahren. Interventionen 2, hg. v. Jörg Huber und Alois Martin Müller, Basel, Frankfurt/M. 1993, S. 89—103. Sykora untersucht verschiedene Konstellierungen von Natur und Artefakt, Kunst und Körper, die das westliche Denken geprägt haben. Während sie einerseits historische Veränderungen herausarbeitet, betont sie andererseits die Zählebigkeit der Vorstellung vom (weiblichen) Körper als dem natürlichen Zeichen, das eine Repräsentationsökonomie, die bis heute unsere Wahrnehmung wesentlich bestimmt, aufspanne und stütze.

" ' Bereits 1980 erscheinen zwei Monographien zu Lasker-Schüler, die jeweils die Zusammenhänge von Leben und Werk hervorheben und, insofern sie nach Referenzbeziehungen suchen, das problematische Verhältnis von Schrift und Körper nicht in den Blick bekommen. Dennoch haben beide in mancher Hinsicht die Voraussetzung fur weiterführende Lektüren geschaffen, indem sie das Werk in seiner Gesamtheit erschlossen haben. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, Heidelberg 1980; Erika Klüsener: Else Lasker-Schüler, Reinbek b. Hamburg 1980. Insofern die Auseinandersetzung

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profilieren, die aus der skizzierten hermeneutischen Sackgasse herausfuhren. In ihrem Riickbezug auf Freud stellt sie sich, wie in der von Derrida inspirierten Auseinandersetzung mit dem Konzept der Bahnung bereits deutlich wurde, in einen Kontext poststrukturalistischer Relektiiren psychoanalytischer Schlüsseltexte, die sich in jüngster Zeit ausdrücklich der Frage nach dem Verhältnis von Text und Körper zugewendet haben. 112 In der >Traumdeutung< vergleicht Freud die ägyptische Hieroglyphenschrift mit der Traumarbeit. Die wichtigen Aspekte der Verdichtung, Verschiebung und vor allem die Rücksicht auf Darstellbarkeit erkennt er in ihrer verrätselten Bildstruktur wieder, deren Sinn sich auch den zeitgenössischen Lesern nicht leicht offenbart habe. 113 Die Lektürearbeit des Psychoanalytikers entspreche damit der des >alten Ägypterskenstark< wie >schwach< bedeutet, oder die lateinischen Wörter >altus< fur >hoch< und >tief< oder >sacer< für >heilig< und >verfluchte In jeder sinnhaften Verkettung dieser Elemente mußte, so Freud in der Nachfolge Abels, ein weiteres, ein sogenannter lautlicher oder bildhafter »Determinant«, hinzugefügt werden, um den Unsinn in Sinn zu überführen. 117 Kultur beginnt offensichtlich mit diesem Schritt der Interpretation, die zunächst als bloße Akzentsetzung, später — mit dem Auseinanderfallen der Urwörter in zwei jeweils einsinnige — als Abspaltung und Vergessen der >anderen Hälfte< erscheint. In den primitiven Ausdrucksformen sind alle Komponenten der Sprache noch bewahrt, einschließlich derer, die an ihren ambivalenten Ursprung erinnern: Es ist offenbar, alles auf diesem Planeten ist relativ und hat unabhängige Existenz, nur insofern es in seinen Beziehungen zu und von anderen Dingen unterschieden wird [ . . . ] . Da jeder Begriff somit der Zwilling seines Gegensatzes ist, wie konnte er zuerst gedacht, wie konnte er anderen, die ihn zu denken versuchten, mitgeteilt werden, wenn nicht durch die Messung an seinem Gegensatz? [ . . . ] Da man den Begriff der Stärke nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze zur Schwäche, so enthielt das Wort, welches >stark< besagte, eine gleichzeitige Erinnerung an >schwachKulturhöhe< zu bescheinigen: »Nun war aber Ägypten nichts weniger als eine Heimat des Unsinnes. [...] Ein Volk, welches die Fackel der Gerechtigkeit und Kultur in so dunklen Zeiten entzündete, kann doch in seinem alltäglichen Reden und Denken nicht geradezu stupid gewesen sein... Wer Glas zu machen und ungeheure Blöcke maschinenmäßig zu heben und zu bewegen vermochte, mufl doch mindestens Vernunft genug gehabt haben, um ein Ding nicht für sich selbst und gleichzeitig für sein Gegenteil anzusehen.« Freud: Uber den Gegensinn der Urworte, S. 230. Freud: Über den Gegensinn der Urworte, S. 2 3 1 . (Es handelt sich wiederum um ein Zitat von Karl Abel: Übet den Gegensinn der Urworte, Leipzig 1884, S. 15.)

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Freuds Anliegen ist nun darauf gerichtet zu zeigen, daß sich die doppelsinnigen Urworte der Mitteilungsfunktion der Sprache entziehen. Ein Indiz dafür erkennt er in der Tatsache, daß sich die gegensätzlichen Bedeutungen, wo sie noch als »zusammengeschmolzene« Einheit vorkommen, in kein sinnhaftes Verhältnis setzen lassen. Das »Nein«, das die Unterscheidung einfuhrt und ermöglicht und das die Aufspaltung der zweideutigen Wörter initiiert, strukturiert die Ordnung des Realitätsprinzips, die Widerspruch und Doppelsinn nicht duldet. In der Bilderschrift der Hieroglyphen, in den Urworten wie auch im Traum erscheint dieses Prinzip aufgehoben oder doch weitgehend außer Kraft gesetzt: »Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt.« 1 1 9 Dabei handelt es sich offenbar um eine Darstellung, die ihre eigenen Entstehungsbedingungen zur Schau stellt, mithin dem Symbolsystem sowohl angehört, wie auf seine Eröffnung, seinen nicht-darstellbaren ambivalenten Ursprung hindeutet. Solange »hinzugefugte« Determinanten zur Konstitution eines Sinns notwendig sind, bleiben die Verknüpfungsregeln und Relationen zwischen den Elementen als supplementäre sichtbar. Ihr Geltungsbereich umfaßt nicht die Sprache insgesamt, sondern nur ihre Sinn und Bedeutung stiftende Funktion. Die zunehmende Auseinanderlegung der Wortkomplexe in einsinnige Elemente, die mit Hilfe eines grammatischen Codes vielfach verknüpfbar werden und damit offenbar an Flexibilität und Genauigkeit in der Bezeichnung unterschiedlichster Inhalte gewinnen, scheint zunächst einen >Fortschritt< zu bedeuten. Sie geht aber einher mit der Überlagerung eines prinzipiell undarstellbaren Bruchs, der in der Ambivalenz des Urwortes noch geborgen war, durch ein System von Relationen, die jeden Bruch, jede Trennung zwischen Buchstaben, Worten oder Sätzen, überbrücken zu können scheinen. Eine phantasmatische Schließung des Sprachsystems deutet sich dabei jeweils dort an, wo eine Identifizierung von Brücke und >Ur-Spurarchearche< zu behaupten, D. B.] als auch dieser Durchstreichung gerecht werden. Nach den Gesetzen der Identitätslogik ist er widersprüchlich und unzulässig. Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier [...], daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät. Folglich muß man, um den Begriff der Spur dem klassischen Schema zu entreißen, welches ihn aus einer Präsenz oder einer ursprünglichen Nicht-Spur ableitete und ihn zu einem empirischen Datum abstempelte, von einer ursprünglichen Spur oder Ur-Spur sprechen. Und doch ist uns bewußt, daß dieser Begriff seinen eigenen Namen zerstört und daß es, selbst

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auf eine weitgehende Verdrängung der letzteren hinausläuft, angestrebt wird.

2.3. Der Widerstand gegen die Theorie: Psychoanalyse und/als Literatur Freuds Archäologie der Psyche wie auch der Kulturentwicklung unternimmt es, die Kehrseite des Fortschritts, des Bewußtseins und des Subjekts aufzuspüren. 121 Dabei wirft sie die Frage auf, ob dieses Andere des Ich noch im Sinne topologischer Modelle gedacht werden kann, etwa indem das Unbewußte als Kellergewölbe des vom Ich bewohnten Hauses imaginiert wird. 1 2 2 Die programmatische Feststellung, das Ich sei nicht mehr Herr im eigenen Haus, scheint jedoch über diese Vorstellung einer dunklen Seite des Ich bereits hinauszuweisen. Denn wo die Souveränität des Ich nicht nur eingeschränkt, sondern ingesamt destabilisiert ist, beginnen sich auch die klaren Strukturen seines Wohnraumes aufzulösen. Wie bereits die Beispiele der ambivalenten Urworte, der hieroglyphischen Bilderzeichen und der Bahnung oder Ur-Spur demonstrieren, stehen im Zentrum der psychoanalytischen »Entdeckungen« häufig Konfigurationen, die einer logisch-linearen Auslegung widerstehen. Das seit einigen Jahren wieder erwachte Interesse der Kulturwissenschaften an der Psychoanalyse läßt sich vor allem auf deren Bemühen zurückfuhren, idealistische Setzungen des Subjekts oder des Sinns nicht als Ausgangsgrößen, sondern als Momente oder Effekte diskursiver Prozesse zu lesen. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, inwieweit man in der Zeit um die Jahrhundertwende Diskursmustern begegnet, die die Denkraster der Repräsentations- und Identitätslogik attackieren und die sie prägenden binären Oppositionen in eine Bewegung versetzen, die sich nicht mehr als dialektische begreifen läßt. Freuds Texte werden vor

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wenn alles mit der Spur beginnt, eine ursprüngliche Spur nicht geben kann.« Derrida: Grammatologie, S. I07f. Archäologie wird hier im Sinne Foucaults als Vorgehensweise verstanden, die »weder formalisierend noch interpretative verfahrt und so eine Totalisierung des Untersuchungsobjekts durch sinnhafte Verknüpfung historischer oder empirischer Daten bzw. Dokumente im Sinn der Ideengeschichte vermeidet. Archäologisch ist demnach eine »immanente Beschreibung« eines Diskurses »in seinem ihm eigenen Volumen als Monument«, d.h. in seinen spezifischen Spielregeln und Ordnungsstrukturen. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M., 4. Aufl. 1990, S. 14t., 1 9 3 , 198. Zur Verwendung des Archäologie-Begriffs im Zusammenhang mit der Psychoanalyse vgl. Ulla Haselstein: Entziffernde Hermeneutik. Zum Begriff der Lektüre in der psychoanalytischen Theorie des Unbewußten, München 1 9 9 1 , S. )8£. Vgl. etwa Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt/M. 1987, S. 3 0 - 5 0 .

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diesem Hintergrund nicht auf ihre Thesen und Aussagen hin untersucht, vielmehr treten ihre Verfahrens- und Argumentationsweisen in den Vordergrund. Anstatt psychoanalytische Denkfiguren als Muster oder Methode der Literaturbetrachtung dieser vorauszusetzen oder zugrundezulegen, richtet sich die Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Darstellungsmodus, die Stile und Schreibweisen, in denen die Psychoanalyse ihre >Ergebnisse< präsentiert. Daß dabei die Grenze zwischen literarischen und — nach herkömmlichem Verständnis — wissenschaftlichen Texten undeutlich w i r d , 1 2 3 liegt im Interesse dieser Arbeit. Es geht nicht so sehr darum zu zeigen, inwieweit psychoanalytische Kategorien rezipiert und literarisch umgesetzt werden, als vielmehr darum, Analogien und Unterschiede in den jeweiligen Textstrategien nachzuzeichnen. Auf den ersten Blick suggerieren vor allem frühere Texte Freuds, daß die von ihm aufgespürten Ambivalenzen durch Einführung einer Metaperspektive des allwissenden Analytikers und Übersetzers wiederum domestiziert werden sollen. In der zentralen metapsychologischen Schrift >Jenseits des Lustprinzips< gesteht Freud denn auch ein, daß seine Psychoanalyse in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten auf Widerstände in der analytischen Praxis gestoßen sei, die die Revision einer zunächst vorrangig hermeneutischen Ausrichtung (»Die Psychoanalyse war vor allem eine Deutungskunst« 1 2 4 ) notwendig mache und eine Hinwendung zu einer immer stärker mimetischen Annäherung an ihren Gegenstand nahelege. Anstatt daß der Analytiker die Erzählungen des Analysanden deutet und ihn zu einer Erinnerung vergangener Ereignisse anhält, wird nun der Beobachtung Rechnung getragen, daß es offenbar ein Verdrängtes gibt, »vielleicht gerade das Wesentliche«, 1 2 5 das nicht erinnert werden kann. Es findet seinen Ausdruck nicht in der Rede des Patienten, die sich der Interpretation durch den Analytiker geradezu darzubieten schien. Vielmehr affiziert jenes 123

Freuds Texte sind in jüngerer Zeit immer wieder als literarische beschrieben worden, vgl. etwa Harold Bloom: Poetics of Influence. New and selected criticism, New Haven 1988, S. 187: »Freud's power as a writer made him the contemporary not so much of his rivals and disciples as of the strongest literary minds of our century. We read Freud [...] as we read Proust or Joyce, Valéry or Rilke or Stevens.« Sowie ebda., S. 188: »Freud's text both exemplifies and explores certain limits of language, and therefore of literature, insofar as literature is a linguistic as well as discursive mode.« Auch Zeitgenossen haben bereits Texte Freuds wegen ihrer künstlerischen Qualität geschätzt. Thomas Mann etwa sah in >Totem und Tabu< »die rein künstlerisch höchststehende unter den Arbeiten Freuds, nach Aufbau und literarischer Form ein allen großen Beispielen deutscher Essayistik verwandtes und zugehöriges Meisterstück«. Zitiert nach Ilse Grubrich-Simitis: Editorische Vorbemerkung zu Totem und Tabu, in: Studienausgabe, Bd. IX, S. 288-290.

124 I2

Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 228. ' Ebda.

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Verdrängte als »Widerstand in der Kur« die Analysesituation selbst. 120 Das Lektürebegehren des Analytikers wird durch die Tendenz des Analysanden gestört, ein Verdrängtes »als gegenwärtiges Erlebnis« in seinem Verhältnis gegenüber dem Analytiker zu wiederholen. Wenn jedoch dieser »Wiederholungszwang«, den Freud als typisches Moment der sogenannten Ubertragungssituation ausmacht, tatsächlich um ein wesentlich nicht-Erinnerbares kreist, stellt sich die Frage, ob dieser Widerstand von der Kur überhaupt überwunden werden kann. Einerseits scheint Freud diese Möglichkeit als natürliches Ziel der Analyse vorauszusetzen und lediglich besondere Analyseverfahren empfehlen zu wollen, mit denen den skizzierten Widerständen begegnet werden könne. Andererseits sucht man die Ausarbeitung derartiger Verfahren vergeblich, stattdessen tritt die Setzung der eigenen Position als souveräner Analytiker zunehmend als problematische in den Vordergrund, bzw. an die Oberfläche des Textes: In der Regel kann der Arzt dem Analysierten diese Phase der Kur nicht ersparen; er [...] hat dafür zu sorgen, daß ein Maß von Überlegenheit erhalten bleibt, kraft dessen die anscheinende Realität doch immer wieder als Spiegelung einer vergessenen Vergangenheit anerkannt wird. Gelingt dies, so ist die Uberzeugung des Kranken und der von ihr abhängige therapeutische Erfolg gewonnen. 127

Das >Wie< der Selbstbehauptung des Analytikers erfährt hier keine nähere Erläuterung, die Betonung liegt ganz auf dem >DaßIch< (das sowohl bewußte wie unbewußte Aspekte hat) und Urverdrängtem abzeichnet, 128 so fragt sich, ob dieses Andere des Ich dieIiS

Ebda., S. 229. Der Titel dieses Kapitels »Der Widerstand gegen die Theorie« zitiert sowohl diese Formulierung Freuds wie auch einen Aufsatz von Paul de Man, in: Romantik. Literatur und Philosophie, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt/M. 1987, S. 8 0 - 1 0 6 . De Man arbeitet mögliche Gründe heraus, warum die Literaturtheorie von der hermeneutisch verfahrenden Literaturwissenschaft sowie der Philosophie so hartnäckig bekämpft wurde (ebda., S. 93); darüberhinaus kennzeichnet er den Widerstand als immanenten, wesentlichen Bestandteil des theoretischen Diskurses selbst: »Der Widerstand gegen die Theorie ist ein Widerstand gegen die rhetorische oder tropologische Dimension der Sprache«. (Ebda., S. i o i f . )

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Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 229. Ebda.

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sem überhaupt vermittelt werden kann. Wenn Freud schließlich hervorhebt, daß Ubertragungsphänomene und eben auch »ein Wiederholungszwang« ebensogut »im Leben nicht neurotischer Personen« anzutreffen seien, so wird die Rolle des Analytikers als Therapeut und objektiv Wissender auf fundamentale Weise problematisiert. J e mehr das Symptom im analytischen Lektüreprozeß selbst insistiert, anstatt von ihm aufgeklärt und abgearbeitet werden zu können, umso mehr tritt ein »aus der psychoanalytischen Theorie Verdrängtes« in ihre diskursive Praxis ein und hindert sie buchstäblich an Fest-Stellungen. 129 Neuere, vor allem von Lacan inspirierte Relektüren der Freudschen Psychoanalyse haben sich nicht ohne Grund immer wieder auf >Jenseits des Lustprinzips< bezogen, nicht nur weil Freud dort selbst zentrale Aspekte seiner Theorie in Frage stellt, sondern auch weil hier besonders eindrücklich »der Zusammenhang zwischen seiner Technik und seiner Entdekkung« zutage tritt. 1 3 0 Die zentrale Entdeckung des Textes ist die Existenz eines Todestriebs, der die Erklärungslücke, welche durch beobachtete Phänomene wie dem des Wiederholungszwangs entstanden war, schließen soll. Obgleich Freud zu Beginn des Aufsatzes ankündigt, zusätzlich zu den bislang für seine Arbeit wichtigen Begriffen der Topik und der Dynamik nun noch den der Ökonomie einfuhren zu wollen, wird schnell deutlich, daß hier das Prinzip der Ökonomie, nämlich die Möglichkeit des Austausches, der Relationierung der einzelnen Elemente, seine zentrale Funktion verliert. Zwischen Lustprinzip und Todestrieb gibt es keine Vermittlung, keine Zirkulation wie zwischen Lust und Unlust, Traum und Wachzustand, bewußt und unbewußt. Das aber bedeutet, daß ihr Verhältnis auch nicht von einem unabhängigen dritten Ort aus beschrieben werden kann, vielmehr schreibt sich der Riß, den der irreduzible, nicht-dialektisierbare Dualismus, den Freud hier fordert, impliziert, in seinen Text selbst ein. 1 3 1 Birgit Erdle hat gezeigt, daß traumatische Schocks, die Freud für den Wiederholungszwang verantwortlich macht und die, da sie den

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Vgl. Erdle: Traumatisierte Schrift, S. 78, 89. Vgl. Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft nach Freud, in: Schriften, Bd. II, Weinheim, 3. Aufl. 1 9 9 1 , S. 1 5 - 5 5 , (S. 39). Vgl. Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (Das Seminar, Buch II), hg. v. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin, 2. Aufl. 1 9 9 1 , S. 295^ Dort heißt es: »Es mag den Anschein haben, als erkläre die Freudsche Theorie bis zu einem gewissen Grad alles, einschließlich dessen, was sich auf den Tod bezieht, im Rahmen einer geschlossenen Libido-Ökonomie, die reguliert wird vom Lustprinzip und der Rückkehr zum Gleichgewicht und die definierte Objektbeziehungen enthält. [...] Die Bedeutung von Jenseits des Lustprinzips ist, daß das nicht ausreicht. [ . . . ] Das Leben will nicht heilen.«

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Reizschutz des Ich durchbrechen und das Lustprinzip außer Kraft setzen, auf eine Vor-Zeit des Ich, ein Jenseits seiner Topologie, verweisen, auch den Text selbst betreffen. So kann von einer »Traumatisierung der Schrift« insofern die Rede sein, als mit immer neuen Szenen und Darstellungsverfahren versucht wird, das neue Modell zu beschreiben, dem keine Darstellung aber vollständig gerecht zu werden scheint, denn jedes Kapitel setzt, ohne sich auch nur um einen plausiblen Ubergang zu bemühen, wieder anders und neu an. Es bleibt, wie Freud selbst bemerkt, ein »großes X « , das sich ständig verschiebt, die Operation des Textes vorantreibt, das aber verhindert, daß sie in einem (wissenschaftlich) befriedigenden Abschluß gipfelte. 1 3 2 Die Lücke, die das — gegen Ende des Aufsatzes eingeführte — Konzept des Todestriebs weniger ausfüllt als markiert, läßt sich nicht schließen. Vielmehr umkreist der Text sie als die >Einbruchstelle systematischen Verunsicherungen < von >Jenseits des Lustprinzips< rigoros abgelehnt oder ignoriert haben. 1 3 4 Die Zensur, der die radikaleren Implikationen von Freuds >Entdeckung< vielfach ausgesetzt waren, dokumentiert einen Widerstand gegen die Analyse, die eine mise en abymeStruktur des eigenen Verfahrens zum Vorschein bringt, die den Status wissenschaftlicher Aussagen problematisiert. Ihre Setzungen scheinbar objektiven Wissens werden so auf die Performativität der Einsetzung und Selbstvergewisserung der souveränen Position des Wissenden verwiesen: 1 3 5 132

Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 240; Erdle: Traumatisierte Schrift, S. i i f . Vgl. auch Elisabeth Bronfen: N u r über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994, S. 34. >33 Vgl. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 2 8 3 ^ Lacan: Das Drängen des Buchstaben, S. 42; Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Entstellung der Psychoanalyse, Wien 1990, S. 233: »Die Besonderheit der Psychoanalyse läßt sich nicht an ihrer therapeutischen Wirksamkeit messen, sondern allein an ihrer Beziehung zur Wissenschaft.« 134 135

Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 495, 500. Vgl. Jacques Lacan: Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, in: Schrif-

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[...] in censoring Beyond the Pleasure Principle as >non-scientificfather of the psychoanalytic movements of an inherent exile of psychoanalysis: an exile from the presence-to-itself of psychoanalytic truth; an exile from a non-mythical access to truth; an exile, that is, from any final rest in a knowledge guaranteed by the self-possessed kingdom of a theory, and the constrained departure from this kingdom into an uncertain psychoanalytic destiny of erring.1^

Die Prominenz topischer Metaphorik, die Shoshana Felman hier als Spezifikum der Psychoanalyse benennt, erhellt noch einmal die bereits erläuterte paradoxe Beziehung psychoanalytischer Denkexperimente, die sich an den Rändern der modernen Wissenschaften vom Menschen bewegen, zum Raum und ihre Suche nach einer »anderen Topik«. 137 >Königtum< und >Exil< erscheinen hier nicht als Gegensätze, vielmehr ist von einem inhärenten Exil< die Rede, das die Grenze des von der Theorie abgesteckten Territoriums undeutlich werden läßt. Diese Sicht auf die Psychoanalyse als einer Praxis, die permanent einen Raum als Geltungsbereich erzeugt, zugleich aber dessen >doppelten Boden< hervortreten läßt, entspricht einer Beschreibung Foucaults, der die Diskursivität der Psychoanalyse hervorhebt. Daß, wie Felman schreibt, immer wieder versucht worden ist, den Platz oder die Positionen des >Vaters der Psychoanalyse< festzulegen, ist Foucault zufolge kein Zufall. Begreift man Freuds Autorschaft im Sinne einer »Diskursivitätsbegründung«, so bedeutet dies, daß der Gründungsakt des Diskurses den von ihm initiierten Transformationen grundsätzlich heterogen ist. 138 Insofern er durch die den Diskurs kennzeichnenden Rück-Wendungen auf ihn als auktorialer Gründungsautorität nicht eingeholt werden kann, stellt er als >exilierter Kern< gleichsam den eigentlichen diskursiven Motor dar. Wenn jedem Appell zu einer Rückkehr zum eigentlich Gemeinten, Ursprünglichen ein Vergessen vorausgehen muß, so ist dieses Vergessen doch nur scheinbar ein »von außen angebracht [er]« Riegel:

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ten I, S. 184 (»[...] es gibt keinen andern Widerstand gegen die Analyse als den des Analytikers selbst.«) Shoshana Felman: Beyond Oedipus: The Specimen Story of Psychoanalysis, in: Lacan and Narration. The Psychoanalytic Difference in Narrative Theory, hg. v. Robert Con Davis, Baltimore 1 9 8 3 , S. 1 0 2 1 - 1 0 5 3 , (S. 1042). Lacan: Die Ausrichtung der Kur, S. 1 9 1 ; Jacques Lacan: Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: Schriften, Bd. II, hg. v. Norbert Haas, Weinheim, 3. Aufl. 1 9 9 1 , S. 2 3 1 - 2 5 8 , (S. 2 3 3 f . ) . Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 7 - 3 1 , (S. 28).

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[...] er gibt ihr [i.e. der Diskursivität, D. B.] sein Gesetz; die Diskursivitätsbegründung, die in Vergessenheit geriet, ist zugleich die Begründung fur den Riegel und der Schlüssel, mit dem man ihn öffnen kann [...]. Überdies richtet sich diese Rückkehr auf das, was in einem Text präsent ist, genauer noch, man kommt auf den Text selbst zurück, auf den Text in seiner Nacktheit und zugleich auf das, was im Text als Loch, als Abwesenheit, als Lücke markiert ist. 1 3 9 Diese elliptische Bewegung eines Zurückkommens auf etwas, das dadurch doch nicht abgegolten oder erschöpft werden kann, sondern in die Wiederholung eine uneinholbare Differenz einschreibt, kennzeichnet damit nicht erst die Geste Lacans, Derridas, Foucaults, Webers oder Felmans, die sich alle auf die Texte Freuds zurückwenden, sondern eben bereits diese Texte selbst. 1 4 0 Freuds Position als Begründer des Diskurses überbordet dessen Regeln, wodurch alle ihn organisierenden zeitlichen und räumlichen Daten und Kontinuen mit diskontinuierlichen Brüchen durchsetzt scheinen. I m Gegensatz zu einer bestimmte Untersuchungsobjekte

fixierenden

Wissenschaft läßt sich das Verfahren der Psychoanalyse, wie bereits bemerkt, eher als ein mimetisches charakterisieren. Dieser Begriff stammt nicht von Freud selbst, sondern von J u l i a Kristeva, die sich jedoch ihrerseits ausführlich auf Freud bezieht. 1 4 1 In der >Revolution der poetischen Sprache< betrachtet sie die innovative Schreibpraxis von Texten der literarischen Moderne u. a. unter Zuhilfenahme von Kategorien und Denkfiguren, die sie in der Psychoanalyse Freuds und Lacans vorgeprägt findet und die sie modifiziert. Obgleich diese Modelle zunächst tendenziell eher den Status einer Methode oder Beschreibungsmodalität für die Analyse poetischer Texte zu haben scheinen, wird doch andererseits deutlich, daß Kristeva sowohl bei Mallarmé, Lautréamont, Joyce und anderen wie auch bei Freud einen ähnlichen Gestus der »Wiederaufnahme« einer vom Symbolischen verdrängten Prozessualität nachzeichnet. Die für das symbolische Feld und seine Ökonomie konstitutive Grenzziehung nennt sie »das Thetische«, wodurch der Charakter ihrer — dem Subjekt vorausgehenden bzw. es konsti139 140

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Ebda., S. 28. Ich würde daher Felman nur zum Teil zustimmen, wenn sie an anderer Stelle schreibt: »Freuds originality is indeed not unlike the originality of a trauma, which takes on meaning only through the deferred action of a return. Freud's discovery of the unconscious can thus itself be looked at as a sort of primal scene, a cultural trauma, whose meaning [ . . . ] comes to light only through Lacan's significantly transferential, symptomatic repetition.« Shoshana Felman: What Difference does Psychoanalysis make?, in dies.: Jacques Lacan and the Adventure of Insight. Psychoanalysis in Contemporary Culture, Cambridge/Mass. 1987, S. 5 3 - 6 7 , (S. 54). Der Begriff der Mimesis spielt in den Textanalysen eine zentrale Rolle und wird dort noch einmal ausführlicher erläutert, vgl. insbes. Kap. IV.4.

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tuierenden — Setzung besonders hervorgehoben w i r d . 1 4 2 Der durch diese Thesis konstituierte Raum ist durch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Signifikant und Signifikat gekennzeichnet; seine Modalität ist die der Bedeutungsbildung und des Errichtens von differenziellen Sinngefügen. Mimetisch ist Kristeva zufolge ein Textverfahren, das diesen M o dus sprengt, da es nicht Aussagen und Sinnzusammenhänge konstituiert, sondern den Prozeß der Bedeutungs¿¿/í/««g selbst nachahmt. Es aktualisiert das Thetische als Moment einer Setzung (des Subjekts), ohne deren Kehrseite, die Verwerfung einer Heterogenität, die sich der Ordnung des Subjekts nicht einfügen läßt, zu »verdunkeln«: Zum Prozeß vorstoßen hieße dann, das durchdringen, was fur das Subjekt Zeichen ist, und die heterogene Sphäre seiner Bildung neu herstellen. Als ständige Grenziiberquerung schließt diese Praxis die Sinngebung nicht in ein System ein, vielmehr kann sie sich nur verwirklichen, indem sie sich gleichzeitig den Gesetzen dieses Prozesses stellt [...]. Subjekt und Sinn sind fur sie nur Momente. 143 In der andauernden Bewegung einer Reaktualisierung, die kein authentisch Ursprüngliches freisetzt, sondern den Rahmen von Objektbezug und sinnhafter Bedeutungsbildung immer wieder aufs Spiel setzt, 1 4 4 ist die mimetische Praxis dem Wiederholungszwang und der Übertragungssituation, die Freud beschreibt, verwandt. Wie dort geht es nicht darum, ein Gewesenes oder andernorts Präsentes erneut zugänglich zu machen. Denn die Rückwendung zum Ursprung destabilisiert die Instanz des >großen Anderen< (in der Psychoanalyse besetzt vom >wissenden< Analytiker) und konfrontiert das Feld des Wissens oder das Feld des Seins mit einem Anderen, das in ihm nicht aufgehoben werden kann. Die Thesis als regulierende Grenze des Symbolischen wird, wie Kristeva immer wieder formuliert, in ihrer Einzigkeit »auseinandergefaltet« 1 4 5 , so daß an der Grenze des Symbolischen und damit zugleich in seinem Innern eine Verräumlichung zum Vorschein kommt. Bei dem Versuch, diese andere Topik zu beschreiben, greift Kristeva immer wieder auf Freuds Konzept der Bahnung zurück. 1 4 6 142

143 144

145 146

Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 4Óf. Vorstellungen und Urteilen, die als Setzungen des Subjekts betrachtet werden können, stellt Kristeva eine umfassendere Setzung gegenüber. So spricht sie von einem »gesetzten Ego, das dank seiner Setzung einem Raum Sinn verleihen kann, dessen Setzung der Bildung des Ego vorausgegangen ist.« Weiterhin fragt sie: »Ist die thesis nicht vor allem eine These des >Ichthetische Funktion< des Urteils ist?« Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 109. Kristeva benutzt selbst gelegentlich den Begriff des Rahmens, vgl. etwa Die Revolution der poetischen Sprache, S. 70, 1 2 7 . Ebda., S. 70, 88. Ebda., S. 36, 39, 5 1 , 66.

59

An dieses anknüpfend entwickelt sie ein eigenes Modell, das mit zwei verschiedenen Raumvorstellungen arbeitet, die sich jedoch nicht im Sinne einer Opposition oder zeitlichen Abfolge gegenüberstehen. Dem Raum des Symbolischen wird ein zweiter, der der »semiotischen Chora«, gegenübergestellt: »das Semiotische — Bahnungen, Energieschübe, Zergliederung des körperlichen, sozialen Kontinuums wie auch des signifikanten Materials«. 147 Beide scheinen sich zunächst in das klassische genetische Schema: präödipale Phase der Mutternähe und Abtrennung von der Mutter nach Entdeckung der Kastration, dyadische und triadische Struktur, einfügen zu lassen. Tatsächlich besteht Kristeva aber auf der Disjunktivität, der »gespaltenen Vereinigung«' 48 dieser beiden Bereiche. Sie überlappen sich, ohne daß der letztere den ersteren in sich aufnehmen oder ihn ein fur alle Mal hinter sich lassen würde. Die »Symbolisierungen« sind immer unvollständig, nicht alles läßt sich im »Rahmen einer geschlossenen Libido-Okonomie« denken. 149 Die Ordnung des Begehrens - auch als Ordnung der Geschlechterdifferenz lesbar 150 - , die in vielen psychoanalytischen Entwürfen und Adaptionen dadurch in Gang gesetzt wird, daß die Mutter als der ursprünglich heimatliche Ort des (männlichen) Individuums plötzlich entzogen und dem Kind von einem Dritten (dem Vater) streitig gemacht wird, findet sich hier mit einem radikal Anderen konfrontiert. Denn der Differenz liegt im Modell Kristevas ausdrücklich keine Erfahrung der Einheit und Ungeschiedenheit voraus, auf welche sich die Sehnsucht des Lebens nach Vervollständigung durch das bzw. die Andere (in der Liebe, in der Dichtung) richten könnte. 1 ' 1 Insofern diese näm147

Ebda., S. 52. Zur Problematik, topische Modelle verwenden zu müssen, um ein Jenseits des Topischen zu beschreiben vgl. auch ebda., S. }6f. Dort bemerkt Kristeva, daß »die chora zwar bezeichnet und reguliert werden, aber nie endgültig hergestellt werden kann, so daß sie sich wohl ermitteln und gegebenenfalls mit Hilfe einer Topologie beschreiben läßt, sich aber der Axiomatisierung entzieht.« (S. 30f.) In einer Fußnote kennzeichnet sie den Kompromiß, den wissenschaftliche Sprache eingehen muß, um diesem Dilemma Rechnung zu tragen, als »Bastard-Denken« (ebda., S. 232, Anm. 17).

148

Ebda., S. 58. Ebda., S. 1 5 1 : Es »zeichnet sich allmählich ab, [ . . . ] daß das Begehren die Mechanismen des Sinngebungsprozesses nicht erschöpfen kann.« Vgl. Teresa de Lauretis: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film and Fiction, London 1987, S. 5: »The cultural conceptions of male and female as two complementary yet mutually exclusive categories into which all human beings are placed constitute within each culture a gender system, a symbolic system or system of meanings, that correlates sex to cultural contents according to social values and hierarchies. [ . . . ] The sex-gender system, in short, is both a sociocultural construct and a semiotic apparatus, a system of representation which assigns meaning«.

149

150

151

Vgl. hierzu auch Annette Keck: »Avantgarde der Lust«. Autorschaft und sexuelle Relation in Döblins früher Prosa, München 1998, S. 53.

60

lieh — als klassische Begründungsfigur literarischen Weltbezugs - auf Oppositionen wie die von Eigenem und Fremdem, Schreibendem (Mann) und Beschriebener (Frau), Mangel und Erfüllung, angewiesen bleibt, bewegt sie sich bereits innerhalb eines bestimmten symbolischen Rahmens. Dieser verdankt sich der Illusion, eine synthetisierende Aufhebung der Trennung sei prinzipiell (früher, in Zukunft oder in wenigen erfüllten Augenblicken) denkbar. Jenseits der Sprache, der Substitution und der Vermittlung findet sich bei Kristeva nichts Unmittelbares. Vielmehr konzipiert sie die Chora, die sie im Anschluß an Piatons >Timaios< als schwierig zu erfassende »Mutter und Aufnehmerin alles gewordenen Sichtbaren« 1 ' 2 bezeichnet, als eine bewegte Sphäre der Spaltungen und Diskontinuitäten. Der »mütterliche«, »rhythmische Raum«, von dem paradoxerweise gesagt wird, er gehe »jeder Räumlichkeit und Zeitlichkeit« voraus, 1 5 3 wird »im Zeichen von Destruktion, Aggression und Tod zum Fundament« des symbolischen Gesetzes. Dabei handelt es sich offenbar um ein zweifelhaftes Fundament, das dem Gesetz ebenso Grund wie Abgrund, Gewähr wie Bedrohung ist. Für das Subjekt, das seinen Ort nur im Symbolischen hat, bedeutet dies, daß die »semiotische chora« sowohl sein »Geburtsort« wie gleichzeitig auch »der Ort seiner Negation« ist. 1 5 4 Es ist also kaum zu übersehen, daß auch Kristeva sich hier an den späteren Freud von >Jenseits des Lustprinzips < anlehnt, der die grundlegende Ambivalenz des »Triebes« als der psychosomatischen Ausgangskonfiguration hervorhebt, indem er die Libido-Ökonomie durch den ihr nicht integrierbaren Todestrieb supplementiert: 1.2

Piaton: Timaios, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Ernesto Grassi, Hamburg 1959, S. 1 4 1 —213, (S. 173); dort heißt es weiter: »[...] wenn wir behaupten, es sei ein unsichtbares, gestaltloses, allempfängliches Wesen, auf irgendeine höchst unzugängliche Weise am Denkbaren teilnehmend und äußerst schwierig zu erfassen, so werden wir keine irrige Behauptung aussprechen.« Bevor Gott ordnend eingreift und Gestaltungen und Zahlen formt, imaginiert Piaton eine »Amme des Werdens«, an der sich nichts »im Gleichgewicht« befindet; »ungleichmäßig schwebend wird sie selbst durch jene [Gestaltungen der Erde und Luft] erschüttert und erschüttert, in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene.« (S. 1 7 4 O

1.3

Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 3Óf. Kristeva spitzt hier die fur die Psychoanalyse charakteristische Dopplung von Topik und Atopischem im Begriff der Chora zu: »Wäre die platonische chora die >Nennbarkeit< des Rhythmus (der wiederholten Trennung)? Warum dann überhaupt den ontologisierten Terminus wiederaufgreifen, nur um mit ihm eine Artikulation zu bezeichnen, die der Setzung vorausgeht? — Weil der platonische Terminus eine fur den Diskurs unüberwindliche Schwierigkeit klar zum Ausdruck bringt: Wird ein Vorgang [ . . . ] erst einmal benannt, wird er auch in eine symbolische Position eingebracht. [ . . . ] Und weil die Motilität Voraussetzung für den symbolischen Raum ist, der ihr gegenüber zwar heterogen, aber gleichzeitig unerläßlich ist für sie.« (S. 2 3 2 , Anm. 1 7 )

154

Ebda., S. 39.

61

Der Trieb als in sich selbst geschiedene bzw. widersprüchliche Struktur — jeweils >positiv< und >negativ< erzeugt aufgrund einer solchen Verdopplung eine >DestruktionswellerealisiertSelbstWeib< gegrübelt, verliert ihre autorisierende Kraft in dem Augenblick, in dem deutlich wird, daß sich auch Frauen unter den Angesprochenen befinden. Die männerbündische Komplizenschaft, deren konstitutive Funktion für die Herausbildung der bürgerlichen Ordnung von dem universalisierenden Gestus aufklärerischer Maximen verdeckt w u r d e , 1 " wird hier als solche problematisch. »Meine Damen und Herren!«, beginnt Freud, »Die ganze Zeit über, während ich mich vorbereite, mit Ihnen zu sprechen, ringe ich mit einer inneren Schwierigkeit. Ich fühle mich sozusagen meiner Lizenz nicht sicher.« 200 Da er von den vor ihm sitzenden Frauen kaum erwarten könne, daß sie über die Weiblichkeit traditionsgemäß nachgesonnen hätten, weil sie »selbst dieses Rätsel« seien, kann der Redner nicht mehr auf das stillschweigende Einvernehmen vertrauen, das zuvor den Rahmen bereitgestellt hatte, in dem sich das wissenschaftliche Fragen und der Blick auf das Untersuchungsobjekt hatte verorten können. Die Verunsicherung artikuliert sich in wiederholter Bezugnahme auf die weiblichen Analytiker, die den Herren der Profession immer wieder »tief eingewurzelte Vorurteile gegen die Weiblichkeit« vorgeworfen hätten, sowie auf Feministinnen, die es nicht gern hörten, wenn man auf die mangelnde Ausbildung des weiblichen Uber-Ich und seine Konsequenzen (minderer Anteil an der Kulturschöpfung) hinwiese. 2 0 1 Daß Freud Untersuchungen einiger Kolleginnen anführt, um seine Thesen über die weibliche Psychogenese zu untermauern, mag zum einen auf deren Funktionalisierung als »Schutzschild gegen Feministen und Feministinnen« hindeuten, 202 es zeigt aber auch, daß >die Frau< oder >das Weibliche
Kitt der Brüderlichkeit (Reinhart Koselleck), der sich dann mit der Konstituierung der bürgerlichen Öffentlichkeit als > Männerbund < voll entfalten wird.« 200 201 202

Freud: Über die Weiblichkeit, S. 544. Ebda., S. 548, 560. Vinken: Dekonstruktiver Feminismus, S. 10.

75

sich offenbar vervielfältigen und nicht mehr umstandslos als das zu erforschende Andere apostrophiert werden können. Das unverstandene Andere gibt nach wie vor Rätsel auf, aber es ist schwieriger geworden, sich als lesendes männliches Subjekt ihm als Weibliches gegenüber zu positionieren. Unsicherheit und regelrechter Unwillen spricht aus den abschließenden Bemerkungen Freuds, in denen er den typischen »Mann um die Dreißig« der gleichaltrigen weiblichen Patientin gegenüberstellt. Während der Mann in der Regel als »jugendliches, unfertiges Individuum« erscheine, das sich der Analyse bereitwillig aussetze und die »Möglichkeiten der Entwicklung«, die sie ihm eröffne, kräftig nutze, verhielten sich die Frauen starr und renitent und blieben in vielen Fällen gänzlich unbeeinflußbar. 203 Dieser weibliche Widerstand gegen die Theorie bzw. gegen die Kur gewinnt vor dem Hintergrund, daß es sich bei den Nachwuchsanalytikerinnen durchaus um Dreißigjährige gehandelt haben dürfte, eine besondere Brisanz. Während die männlichen Zuhörer von Freud als Söhne behandelt werden, die sich von der väterlichen Autorität beeindrucken und formen lassen und die von ihm vorgezeichneten Wege beschreiten, stellen die erwähnten Frauen — Patientinnen, Studentinnen, Feministinnen — eine zunehmend unkalkulierbare Größe dar, durch die der Schauplatz des Hörsaals oder der Analyse tendenziell entgrenzt wird. Der Vortrag reflektiert so exemplarisch die veränderte historische Situation, die durch das Erstarken der Frauenbewegung und den Auftritt von Frauen in Bildungsinstitutionen, im Berufsleben und allgemein in der Öffentlichkeit gekennzeichnet war. Eine diskursanalytische Perspektive erlaubt es, das damit einhergehende Aufbrechen der bürgerlichen Trennung von privatem und öffentlichem Raum, weiblicher und männlicher Sphäre, mit den oben geschilderten Entwürfen einer »anderen Topik< in Verbindung zu bringen. 2 0 4 So markiert die Auseinandersetzung mit der Hysterie, von der die Freudsche Psychoanalyse ihren Ausgang nahm, eine Schnittstelle, die die veränderte Formation des Wissenschaftsdiskurses mit einer anderen Rede über die Geschlechter kurzschließt. Ausgangspunkt der 1 8 9 3 von Freud und Breuer veröffentlichten >Studien über Hysterie< ist eine eigentümliche Widerständigkeit, die diese seit langem weiblich konnotierte Krankheit dem ärztlichen Bemühen entgegenstellte. Jedes »noch so eingehende Krankenexamen« müsse fruchtlos bleiben, wo die Patientin das traumati203 204

Freud: Über die Weiblichkeit, S. 564. Zur Dominanz von Raumraetaphorik in der Symbolisierung der Geschlechterdifferenz vgl. Margaret Higonnet, Joan Templeton: Reconfigured Spheres. Feminist Explorations of Literary Space, Amherst 1994.

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sehe Ereignis, das als Ursache ihrer Symptome gelten müsse, nicht erinnern und zur Sprache bringen könne, da es nie ihrem bewußten Erleben zugänglich gewesen sei. 205 Die analytische Kunst könne sich daher nicht darin erschöpfen, verborgene Zusammenhänge ans Licht zu bringen und Verdrängtem zur Repräsentation zu verhelfen. Das weibliche Untersuchungsobjekt präsentiert nicht einfach unverstandene Zeichen, zu deren Lektüre der Analytiker den passenden Code oder Schlüssel liefern kann. Vielmehr exponiert die hysterische Symptomatik eine Körpersprache, die sich nicht ohne weiteres in die logisch-kohärenten Darstellungsformen wissenschaftlicher Sprache übersetzen läßt. 2 ° 6 Die Hysterikerinnen konfrontieren den Analytiker häufig bereits mit genau der Schwierigkeit, die Freud später als Übertragung beschrieben hat. Da sie keinen anderen Z u gang zu dem Trauma der Vergangenheit finden können, als den Vorgang, in den es eingebettet ist, zu wiederholen und damit »in statum nascendi« zu bringen, 2 0 7 wird der Analytiker in die traumatische Situation mit hineingezogen. In den >Studien zur Hysterie< dominiert freilich noch die Z u versicht der beiden Autoren, die Trance-Zustände, die diese heilende Reaktivierung des Traumas begünstigt, gezielt induzieren zu können, um so den »Fremdkörper«, als der das Trauma im psychischen Gleichgewicht des Ich erscheint, gleichsam chirurgisch zu entfernen. 208 Wie gezeigt, weicht diese Gewißheit in >Jenseits des Lustprinzips darstelltanders SchreibenStudien über Hysterie< haben zahlreiche künstlerische A u s einandersetzungen

mit

hysterischen

Phänomenen

und

Bildkomplexen

a n g e r e g t ; 2 1 1 an kaum einem T h e m a läßt sich u m 1 9 0 0 so deutlich die A u f l ö s u n g traditioneller Grenzziehungen von objektiv-neutraler W i s s e n schaftssprache und künstlerisch-figuraler Darstellung nachvollziehen. Dies kann als Indiz dafür gelten, daß das kulturelle Imaginäre, das die diskursiven R a h m e n b e d i n g u n g e n dominanter Fragestellungen und Verfahrensweisen determiniert, hier a u f neue W e i s e an die Oberfläche kultureller Praktiken und Inszenierungen getreten ist. A m deutlichsten k o m m t dies in der A m b i v a l e n z z u m A u s d r u c k , die den unterschiedlichen Versuchen eignet, das H y s t e r i s c h - W e i b l i c h e in Bilder und A r c h i v e zu bannen, u m es als A u s d r u c k des Körpers, der bislang als die unzugängliche Sprache des A n deren galt, endlich doch zu erschließen und zu übersetzen. Freuds Texte stehen exemplarisch für viele andere aus dieser Z e i t , insofern sich in ihnen der A n s p r u c h , das Projekt der A u f k l ä r u n g konsequent w e i t e r z u f ü h r e n , 2 1 2 mit einem radikalen F r a g w ü r d i g w e r d e n der Subjektposition v e r k n ü p f t , dessen Souveränität dieses Projekt entwirft. D e n n das (forschende, erkennende) S u b j e k t , das d e m Objekt seiner Begierde (zu erkennen) jeden Rest an Rätselhaftigkeit und Eigentümlichkeit abspricht, indem es sich dieses

210

Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt/M. 1980, S. 15. Irigaray liest dort ebenfalls den Freudschen Aufsatz >Über die Weiblichkeit und konstatiert: »Es ist also die Erwartung der Entdeckung einer Unbekannten, bei der die Objektivität des wissenschaftlichen, zumindest des anatomischen Diskurses über die Differenz der Geschlechter haltmacht und ins Straucheln kommt.« Zur impliziten Problematisierung der Autor-Souveränität bei Freud vgl. auch meinen Aufsatz »Mit derselben Geste«. Körpergedächtnis und Repräsentation — eine Freud-Lektüre, in: DVjs 72 (1998), Sonderheft »Medien des Gedächtnisses«, S. 1 3 2 — 156.

211

In den Fotographien und Bildern, die der Freud-Lehrer Jean-Martin Charcot als eine neue Form der ordnenden Aufzeichnung im Sinne einer »fotographischen Ikonographie« zusammenstellte, fanden derartige Bebilderungen und Inszenierungen ihr Vorbild. Vgl. Georges Didi-Hubermann: Invention de l'Hystérie. Charcot et l'Iconographie Photographique de la Salpêtrière, Paris 1982; hier zitiert nach Marianne Schüller: Hysterie als Artefaktum. Zum literarischen und visuellen Archiv der Hysterie um 1900, in dies.: Im Unterschied, S. 8 1 - 9 4 , (S. 86f.).

212

Vgl. Sigmund Freud: Zur Psychotherapie der Hysterie, in: Studien über Hysterie, S. 271 — 322, (S. 299): »Man wirkt, so gut man kann, als Aufklärer, wo die Ignoranz eine Scheu erzeugt hat, als Lehrer, als Vertreter einer freieren oder überlegenen Weltauffassung [...]; man sucht dem Kranken menschlich etwas zu leisten, soweit der Umfang der eigenen Persönlichkeit und das Maß von Sympathie, das man fiir den betreffenden Fall aufbringen kann, dies gestatten.«

78

vollständig unterwirft, rührt damit zugleich an die strukturellen Voraussetzungen seiner eigenen Existenz. So ist die Euphorie, alte Horizonte zu entgrenzen, den dark continent des Weiblichen auszuleuchten und das Andere, den Körper und die Dinge, zum Sprechen zu bringen, ebenso Signatur der Epoche wie die vielbeschwöre Angst vor einer Hysterisierung oder Feminisierung der Kultur. 2 1 3 Die »auftrumpfende Subjektivität« kehrt ihren eigenen imaginären Charakter hervor, wo sie sich des universalen Geltungsrahmens ihrer selbst zu versichern sucht. 2 1 4 In dem Maße, in dem sie die Position des Dritten nachzuerzeugen sich anschickt, vollzieht sie selbst jene mimetische Operation, die Kristeva zufolge die Ordnung der Repräsentation, in der sich das (männliche) Subjekt hatte verorten können, aushöhlt. Das phantasmatische Begehren nach vollständiger Darstellung und Durchdringung des weiblichen Geheimnisses läßt die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt undeutlich werden und öffnet jenen »anderen Schauplatz«, auf dem das Gesetz des Symbolischen und damit die Instanz des wissenden Dritten aufs Spiel gesetzt werden. 2 1 5

3.2. Weininger oder das Weib ist Nichts Wenn dieser Schauplatz sich im Diskurs über Hysterie abzeichnet, dann lassen sich gerade solche Zeitstimmen als symptomatisch kennzeichnen, die mit aller Energie eine neue Geschlechterontologie gegen die vermeintliche Dissoziation aller verläßlichen Orientierungen durchzusetzen bemüht waren. Otto Weininger etwa kündigt bereits im Vorwort zu seiner einflußreichen Studie >Geschlecht und Charakter< an, es gehe ihm nicht um »die 213

Vgl. Richard von Kraffc-Ebing: Nervosität und Neurasthenische Zustände, Wien 1895. Krafft-Ebing bezeichnet sein eigenes Zeitalter als »nervöses« (ebda., S. 10). Vgl. hierzu auch: Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. Zum Hysteriediskurs um 1900 und die Hysterie als Symptom einer »Krankheit der Repräsentation« vgl. Keck: »Avantgarde der Lust«, S. 1 1 2 , vgl. auch ebda., S. 4 7 - 5 4 .

214

Vgl. Sabine Kyora: Junggesell(inn)en-Ästhetik: Carl Einstein — Gertrude Stein, in: Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt, hg. v. Annette Keck und Dietmar Schmidt, Berlin 1994, S. 8 5 - 1 0 1 , (S. 89). Vgl. Irigaray: Speculum, S. 178: »Die Hysterie aber [...] spielt sich auf einem anderen Schauplatz ab als dem, der durch seine Beziehung zur Repräsentation bereits kodifiziert ist. Aus dem Sprechen verdrängt, unter-sagt in >hieroglyphischen< Symptomen - eine Bezeichnung, in der man Vorgeschichtliches vermutet - , wird man es in dieser Geschichte gewiß nicht mehr hervorholen können. Es sei denn, man bringt sie dazu, sich unter Mißachtung ihres eigenen Geschlechts an den Spielen der männlichen Tropen und Tropismen zu beteiligen.« Vgl. auch Keck: »Avantgarde der Lust«, S. 104: »Dem Künstler kann also Ende des 19. Jahrhunderts der weibliche Körper nicht mehr vom Leib gehalten werden«.

215

79

Frauen«, sondern um eine letztgültige und systematische Bestimmung dessen, was »die Frau« wesenhaft ausmache. 2 ' 6 Sein Bemühen zielt, auch wenn er vor allem am Anfang seiner Studie ausdrücklich betont, daß sich die Geschlechtscharaktere nie rein ausprägten, in letzter Konsequenz darauf, eine absolute Differenz von Männlichem und Weiblichem nachzuweisen. Tatsächlich scheint sich das gesamte Buch an zeitgenössischen Diagnosen und Tendenzen abzuarbeiten, die eingangs zitiert werden und die vor allem ein Undeutlichwerden der Geschlechterdifferenz nahelegen: Also ist es nichts mit den Geschlechtsunterschieden? Da wäre es ja fast geraten, Männer und Weiber überhaupt nicht mehr zu unterscheiden?! Wie helfen wir uns aus der Frage? Das Alte ist ungenügend, und wir können es doch gewiß nicht entbehren. Reichen die überkommenen Begriffe nicht aus, so werden wir sie nur aufgeben, um zu versuchen, uns neu und besser zu orientieren. 217 Wie auch Breuer und Freud, die er wiederholt zitiert, weist Weininger medizinische Thesen über die bisexuelle Natur des Menschen ebenso zurück wie die Forderungen der Frauenbewegung nach Emanzipation und Gleichberechtigung. D i e »Frauenfrage« erscheint in ihren verschiedenen diskursiven Ausprägungen als Skandalon und hauptsächlicher Anlaß der gesamten Schrift. 2 1 8 D i e Art, in der ihr Autor mit sich steigernder Vehemenz gegen Entwicklungen ankämpft, deren Existenz er nicht umhin kann anzuerkennen und denen er bis zu einem gewissen Grade sogar eine Berechtigung einräumt, ähnelt jedoch einem K a m p f gegen Windmühlen. Denn wenn er einerseits davor warnt, die individuellen Unterschiede bei Männern und auch bei Frauen geringzuschätzen, und feststellt, es »schwankt oder oszilliert nämlich jeder Mensch zwischen dem Manne und dem Weibe in ihm hin und h e r « , 2 1 9 so ist doch seine Beweisführung insgesamt darauf gerichtet, dieses offenbar beunruhigende Schwanken zu eliminieren und durch eindeutige Begriffe stillzustellen. »Man ist«, so heißt es später wiederholt, »entweder Mann oder Weib, und dieses Sein, das 2,6

117

218

2,9

In ihrer Studie über die Hysterie rechtfertigt sich Christina von Braun dafür, daß sie sich eingehend mit »mediokrefn]« Denkern wie Otto Weininger auseinandersetzt. Ihre guten Gründe gelten auch für diese Arbeit, die weniger auf der Suche nach den philosophischen Feinheiten der Geschlechterdebatte um 1900 als vielmehr darum bemüht ist, den Diskurs, an dem auch die untersuchten Texte Lasker-Schülers partizipieren, in seinen wichtigsten Aspekten nachzuzeichnen. Vgl. hierzu Christina von Braun: Nicht ich. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt/M., 3. Aufl. 1990, S. 1 1 . Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903), München 1980, S. 6. Ebda., S. 79: Es »muß zum ersten Male auf jene Frage eingegangen werden, deren theoretischer und praktischer Lösung dieses Buch recht eigentlich gewidmet ist, [...] auf die Frauenfrage.« (Herv. D. B.) Ebda., S. 64 und ηο(.

8o

Problem der U n t e r s u c h u n g von A n f a n g an, bestimmt sich jetzt nach d e m Verhältnis eines Menschen zur E t h i k und zur L o g i k « . 2 2 0 D i e E n t k o p p e l u n g von Sex und Gender,221

die sich in der zeitgenössi-

schen Debatte andeutete, w i r d so einerseits nachvollzogen, dann aber w i r d ihre Identität i m Sinne einer letztgültigen Setzung wieder etabliert. Insbesondere der letzte Teil des Buches ist von apodiktischen

Behauptungen

dominiert, die der Frau »organische V e r l o g e n h e i t « , 2 2 2 Hysterie, N e i g u n g zu Kuppelei und ähnliches unterstellen. D i e geschlechtliche Z u o r d n u n g ist daher i m m e r eindeutig: »Man

ist Mann oder man ist Weib, je nachdem ob

man wer ist oder nicht. « 2 2 3 O b man » w e r ist«, läßt sich nicht e t w a nach beobachtbaren sozialen Gegebenheiten oder nach der eigenen Erfahrung — die bei Frauen ohnehin keine verläßliche Kategorie darstelle — bestimmen. D i e neue, eigentliche und statische O r d n u n g dekretiert W e i n i n g e r vielmehr g e g e n die Unübersichtlichkeit und B e w e g l i c h k e i t der Phänomene. A n der F r a u e n b e w e g u n g stört ihn vor allem ihre D y n a m i k und ihr emanzipatorischer A n s p r u c h auf Veränderung, den er in einer rigorosen Z u r ü c k weisung jeder historischen Perspektive für » U n s i n n « erklärt: » D e r U n s i n n der Emanzipationsbestrebungen tion.« [...]

224

liegt

in

der Bewegung,

in der

Agita-

D i e Vorstellung, diese B e w e g u n g müsse »erst R a u m schaffen

fur eine u n g e h e m m t e ,

volle geistige

Entwicklung

der

Frau«,225

scheint ihm, der eine strikte Trennung von Geschlechterräumen zu resti-

220 221

222

223

224

225

Ebda., z.B. S. 242. Zur Unterscheidung von biologischem Geschlecht und soziohistorisch kodierter Geschlechtsrolle vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1 9 9 1 , S. io, 4 7 - 6 2 . Die neuere feministische Theorie, fìir die Butler einsteht, hat sich bemüht, diese Differenz, auf der frühere feministische Ansätze insistierten, wiederum zu dekonstruieren. Auch der vermeintlich natürliche (Geschlechts-)Körper, so das Argument, läßt sich als diskursiv erzeugtes Konstrukt identifizieren (»tatsächlich wird sich zeigen, daß das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist«, ebda., S. 26). Das neu erwachte Interesse an Autoren wie Weininger, die die Körperlichkeit der Frau (und damit konsequenterweise auch die des Mannes) diskursiv zu beherrschen, und das heißt in diesem Fall: zum Verschwinden zu bringen versuchen, ist vor dem Hintergrund dieser neuen Aufmerksamkeit fur die Kategorie des Körpers zu sehen. Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 356. Dort diagnostiziert Weininger »die organische, ich möchte, wenn es gestattet wäre, am liebsten sagen: die ontologische Verlogenheit des Weibes.« Vgl. auch ebda., S. 369. Ebda., S. 383. In dem Nachdruck von >Geschlecht und Charakter reinen Körpers < setzt die Tötung des Körpers voraus — zu diesem Grenz-Fall der Repräsentation, der seine eigene Phantasmatik preisgibt, arbeitet sich Weininger in selbstzerstörerischer Konsequenz unermüdlich vor. 255 Diese Denkbewegung ist keine dialektische mehr, da sie die Gegensätze nicht vor einem gedachten, idealen Horizont aufzuheben vermag. Vielmehr demonstriert sie, daß die Realisierung dieses idealen Bezugsrahmens (durch das Männliche) an eine Verwerfung (des Weiblichen) geknüpft ist, die ein unräumliches Anderes erkennbar werden läßt. 250 Wenn Weininger die Liebe als das vermittelnde Band zwischen den Geschlechtern zurückweist und anstelle einer Erhebung der Frau ihre Aufhebung fordert, läßt sich dieser Begriff nicht mehr im Sinne Hegels begreifen. Nicht die Versöhnung der Gegensätze taucht an seinem Horizont auf, sondern die Negation und zugleich Radikalisierung der Differenz. Nietzsche klingt durch, wenn es heißt, das Weib sei »als solches zu 2

» Ebda., S. 326. Ebda., S. 323. (Herv. im Text). 2,5 Bekanntlich nahm sich Weininger im Alter von 23 Jahren, kurz nach Erscheinen von •Geschlecht und Charakters das Leben. Die Inszenierung dieses Freitodes im Sterbezimmer von Beethoven als dem Repräsentanten deutscher Klassik und genialen Kiinstlertums deutet auf einen Konnex zwischen Schrift und Leben, der sich über den phantasmatischen Versuch Weiningers herstellt, sich die Grenzen der eigenen Subjektivität anzueignen. Vgl. hierzu Jacques LeRider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien, München 1985, S. 1 1 — 58; Keck: »Avantgarde der Lust«, S. 1 1 0 (»Weiningers selbstmörderische Autographie bestätigt und etabliert den Körper als Ort der Repräsentation des Anderen in dem Moment, in dem er ihn ausstreicht.«); sowie auch Gilman: Jüdischer Selbsthaß, S. 1 5 4 , 158. 256 Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 402. Dort heißt es noch einmal in Abwehr der klassischen Vorstellung von der Identität von Weiblichkeit und Schönheit: »Die Liebe soll[te] die Schuld überdecken, statt sie zu überwinden, sie erhebt das Weib, statt es aufzuheben.« 254

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verneinen«, Körper, Sexualität und Weiblichkeit gälte es insgesamt zu überwinden. 257 Neben der göttlichen Allmacht taucht eine Leere auf, die Weininger auch »Gegenpol der Gottheit« nennt. 258 Die »Furcht vor dem lockenden Abgrund des Nichts« ist nicht so sehr Furcht vor der Sinnlichkeit als vor der Sinnlosigkeit, vor dem Un-Sinn des Seins. 2 ' 9 Zugleich deutet sich jedoch die Labilität seiner Ver-Nichtung des Weiblichen an. Die Interpretation, die Weininger fïir die Hysterie findet, macht dies besonders anschaulich. Ist sie ein Zeichen fïir den »Bankerott des aufgeprägten oberflächlichen Schein-Ich«, so wirft dieser Befund zugleich die Frage auf, wie der zutagetretende abgründige Nicht-Sinn gegenüber dem männlichen Subjekt auf Distanz gehalten werden kann. Denn der Versuch, >das Weibliche< als Projektions/7¿'A männlicher Identität zu verwerfen, läßt dessen doppelte Funktion als ProjektionsjfÄ/m erst recht erkennbar werden. Der Begriff des Schirms, den die feministische (Film-)Theorie als zentrale Figur eines klassischen Weiblichkeitskonzepts identifiziert hat, bezeichnet sowohl die (materielle) Fläche, auf der ein Bild erscheint, das den Effekt ganzheitlicher Körperlichkeit hervorbringt, wie auch seine trennende, abschirmende Funktion. 200 Das Abgeschirmte tritt als das >radikale Andere< genau in dem Moment zutage, wo das ideale (Selbst-)Bild dem Subjekt nicht mehr von außen zukommt, sondern als dessen vollendeter Selbst-Ausdruck imaginiert wird. Diese Operation prägt den Text Weiningers, der sich in dem Augenblick, in dem er das Anderssein des Weiblichen, das auf das männliche Ich den Schatten eines Mangel wirft, verwirft und stattdessen das vollkommene Sein anzueignen versucht. Im selben Augenblick beginnt das von dem idealen Weiblichkeitsbild abgeschirmte ganz Andere als abgründiges Nicht-Sein die Selbstbehauptungsversuche in diesem Text heimzusuchen. Denn wenn das Weibliche jene imaginäre Grenzziehung figuriert, die es dem männlichen Subjekt erst ermöglicht, sich zu einer Universalität in Beziehung zu setzen, birgt es auch die Kehrseite dieser Ganzheitsfiktion. 261 Weiningers Projekt einer Ver-Nichtung 2,7 258 259 260

261

Ebda., S. 402, 456. Ebda., S. 3 9 8 f . Vgl. Anm. 239. Zusammenfassend vgl. hierzu Bettine Menke: Verstellt - der Ort der Frau und die Stimme des Textes, in: Theorie - Geschlecht - Fiktion, hg. v. Nathalie Amstutz und Martina Kuoni, Frankfurt/M. 1994, S. 185—204, (S. I94Í). Weininger insistiert folgerichtig auch immer wieder darauf, daß die Grenze dem männlichen Prinzip wesentlich sei: »Der Mann hat Grenzen, und bejaht, will Grenzen [...]. Für die Frau gibt es nirgends Grenzen ihres Ich, die durchbrochen werden könnten, und die sie zu hüten hätte.« Ebda., S. 385.

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des Weiblichen und einer paradoxen Verabsolutierung des Männlichen als Raumgrenze und Raum ohne Grenzen entkommt der Ambivalenz des freigesetzten Imaginären nicht. Die Emphase seiner Setzungen und Verwerfungen, die die Argumentation immer wieder entgleisen läßt, deutet auf die Rhetorik einer Selbstinszenierung, die sich keines Grundes außerhalb ihrer selbst mehr versichern kann. Insofern läßt sich der Gestus auch dieses Textes als hysterischer kennzeichnen: 202 Der Logos ist ihm nicht mehr selbstverständliche Voraus-Setzung seines Sprechens, vielmehr wird er als solche permanent inszeniert und (nach-)erzeugt. Während Weiningers Junggesellenmaschine darauf zielt, das männliche Schöpfer-Subjekt von jeder Abhängigkeit von einem Anderen zu befreien und seine Autarkie zu begründen, problematisiert sie doch zugleich die Möglichkeit der Repräsentation, deren Grundstruktur als Referenz auf ein außersprachlich Präsentes in Frage gestellt wird. »Sie ent-kleidet den Schein des Seins«, wie de Certeau in deutlicher Nähe zu Weiningers Hysterie-These schreibt. 203 Doch diese Maschine, die ultimative Maschine, die die Differenz von Körper und Zeichen, Mann und Frau, auflöst, steht nicht im Dienste des Subjekts, das sie ersinnt. Sie ist vielmehr der Schauplatz des hysterischen (nicht vom Standpunkt des Logos aus fixierbaren) Körpers und damit der Schauplatz derjenigen >anderen Topik Geschlecht und Charakter< sei noch einmal darauf hingewiesen, daß der Text Weiningers, an dem sich Grundkonstellationen des diskursiven Dispositivs um 1900 besonders gut nachvollziehen lassen, exemplarisch für viele andere steht. Weitere vor allem literarische Beispiele für die »Junggesellenästhetik«, die dieses Dispositiv kennzeichnet, sind neuerdings unter dem Stichwort Auto(r)erotik erschlossen worden. Der Begriff beschreibt das Phänomen einer »Okkupation und Exorzierung des Weiblichen« und die phantasmatische Selbstermächtigung eines männlichen Schöpfersubjekts, das den Jahrhundertwende-Dis-

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Z u diesem Schluß kommt Slavoj Zizek in seiner Auseinandersetzung mit Weininger aus der Sicht Lacanscher Psychoanalyse: »does not the unbearable tension in Weininger's subjective position attest to the hysterical nature of his speech? For that reason, Weininger is still worth reading.« Slavoj Zizek: Otto Weininger, or, >Woman Doesn't Exists in ders.: The Metastases of Enjoyment. Six Essays on Woman and Causality, London, New York 1994, S. 1 3 7 - 1 6 4 , (S. 161).

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De Certeau: Kunst des Handelns, S. 274. Von Braun bringt die Hysterie ihrerseits mit der Vorstellung des Körpers als (beherrschbarer, reproduzierbarer) Maschine, die das abendländische Denken prägt, in Zusammenhang: »Die hysterische >Körpermaschine< ist keine, weil sie ihre Funktionsweise immer wieder verändert.« Vgl. von Braun: Nicht ich, S. 2 1 .

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kurs in besonderem Maße charakterisiert.26' So läßt sich zeigen, daß sich die für Weininger typische Ablehnung einer Idealisierung der Liebe und der Weiblichkeit ebenso bei Carl Einstein, Alfred Döblin oder Thomas Mann, aber auch etwa bei Gertrude Stein beobachten lassen.266 Der Begriff der Avantgarde gewinnt vor dem Hintergrund neuerer Lektüren, die ihn mit der Frage nach Geschlechterrhetorik und Weiblichkeitsbildern in der Moderne verknüpfen, neue Konturen. 207 Er trägt dazu bei, die traditionsreiche Differenz von männlicher Kreativität und weiblicher Materialität vom Moment ihrer Krise und ihres phantasmatischen Umschlags im Diskurs um 1900 in den Blick zu nehmen. Dabei demonstriert sie sowohl die >Hysterisierung< der männlich-souveränen Autorposition, als auch die Abgründigkeit und Vervielfältigung von Weiblichkeitsimagines, die auf den Prozeß ihrer Konstituierung zurückverwiesen werden. So kommen nicht allein Schreibstrategien männlicher Autoren in den Blick, vielmehr wird danach gefragt, inwiefern die kritische Schwelle souveräner Selbstsetzung, die den idealen Horizont des Selbstentwurfs zugleich aneignet wie verliert, Raum für neue Verfahren der (Selbst-)Inszenierung schaffen, die sich anders als zuvor auf die Kategorie Geschlecht beziehen. Die vorliegende Arbeit über Else Lasker-Schüler will zeigen, daß die Prosatexte dieser Autorin der Moderne nicht nur an dem skizzierten autoerotischen Diskurs partizipieren,268 sondern daß sie originelle Bildkomplexe und Verfahrensweisen entwickeln, deren Analyse neues Licht auf die Strukturen dieses Diskurses werfen kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Weiblichkeit und Avantgarde, die immer auch eine Frage nach den Möglichkeiten weiblicher Autorschaft unter sich verändernden Bedingun-

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267 268

Annette Keck, Dietmar Schmidt (Hgg.): Auto(r)erotik. Gegenstandlose Liebe als literarisches Projekt, Berlin 1994. Vgl. dazu meine Rezension: Die Junggesellenästhetik. Über Auto(r)erotik in der Literatur und das »Opfer des Weiblichen« - Ein Blick auf neue Studien, in: Frankfurter Rundschau, 2 5 . 7 . 1 9 9 5 , S. 16. Vgl. etwa die Äußerung Carl Einsteins: »Liebesgeschichten haben nur Sinn fur von J u gend an kastrierte, schwer frauenleidende Personen. « Zitiert nach Sabine Kyora: Junggesell(inn)en-Ästhetik, S. 86. Oder die Ausführungen der Ich-Figur in Döblins >Die Memoiren des Blasierten«: »Ich las von der Liebe wie von einer Nordpolexpedition oder dem Uberfall eines Eisenbahnzugs durch Indianer. Man sagte mir, daß ich auch einmal lieben würde; aber bei dem Gedanken erfüllten mich Furcht und Betrübnis wie vor einer Krankheit.« Zitiert nach Annette Keck: >Schmackhaftes Erinnernc Auto(r)erotik und Melancholie - Alfred Döblins >Memoiren des Blasierten«, in: Keck/Schmidt: Auto(r)erotik, S. 5 7 - 6 8 , (S. 59). Vgl. hierzu Keck: »Avantgarde der Lust«, S. 9 - 1 3 . Vgl. etwa Lersch-Schuhmacher: Zur Allegorese des Weiblichen, S. 62t. Dort ist von der >hysterischen Struktur« der Lasker-Schülerschen Texte die Rede, die Lersch-Schuhmacher zufolge als »Psychopathographie« beschrieben werden können.

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gen kultureller und politischer Repräsentation 1 s t , 2 6 9 spielt dabei sicherlich eine w i c h t i g e Rolle. W e n n sie dennoch nicht explizit als Leitfrage dieser Untersuchung profiliert wird, so weil eine vorschnelle >Erklärung< der beobachtbaren textuellen Phänomene m i t dem Geschlecht der A u t o r i n vermieden werden s o l l . 2 7 0 E s bleibt daher den Textlektüren vorbehalten, die Funktion und B e d e u t u n g der Geschlechterdifferenz i m R a h m e n der jeweils entfalteten thematischen und poetologischen Reflexionen zu b e schreiben. So soll gerade auch den Widerständen R e c h n u n g getragen w e r den, die die Lasker-Schülerschen Texte feministischen Lektüren

immer

wieder entgegengesetzt haben. Lasker-Schüler als Frauenrechtlerin zu v e r einnahmen, verbietet bereits eine flüchtige Lektüre ihrer Briefe, in denen jeder G e d a n k e an weibliche Solidarisierung oder G e m e i n s c h a f t schroff zurückgewiesen wird. » [ I ] c h bin i m m e r w i e ein V o g e l frei — nicht frei i m Sinne der Frauenrechtlerinnen m i t breitem Fußstampfen«. ( B I 5 2 ) Z u gleich macht die Briefeschreiberin aus ihrer Verachtung für betont >weibliche< K l e i d u n g ( B I 3 9 ) , für die Ausstaffierung einiger Frauen als » P u p p e n « und »gepuderte Schlendermädchen« ( B I 4 6 ) keinen H e h l .

Andererseits

teilt sie aber einem Briefpartner mit: »ich kann v o n allem abgesehen >den Mann< nicht ausstehen. Ich hoffe, Sie sind bartlos und überaus g a n z ohne schwülstige V e r n u n f t . « ( B I 3 8 ) D e r ablehnende A f f e k t betrifft also >Frau
Avantgarde< in der Literatur« an sich keineswegs n e u . 2 7 6 W i e Drucilla Cornell formuliert hat, ist dieses vor allem durch den beiden gemeinsamen Versuch motiviert, » d e m Imaginären eine S t i m m e zu v e r l e i h e n « . 2 7 7 D o c h das I m a g i n ä r · W e i b l i c h e , das zuvor das männliche Subjekt sprechen und schreiben g e m a c h t hatte, kann keinen A u s d r u c k >für sich< finden. D e n n i m selben

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stehe. Vgl. hierzu auch den — allerdings wenig ergiebigen — Aufsatz von Gisela BrinkerGabler: The Primitive and the Modern: Gottfried Benn and Else Lasker-Schüler. Woman/ Women in Expressionism, in: Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven/Views and Reviews, hg. v. Ernst Schürer und Sonja Hedgepeth, Tübingen, Basel 1999, S. 45 — 56. In der Literatur versperrt die Tendenz, eine »Erotisierung des Sprachkörpers« zu diagnostizieren und dieses Verfahren als Charakteristikum weiblicher Autorschaft zu beschreiben, die Einsicht, daß mit dem Gegensatz von Mann und Frau auch der von Geist/ Buchstabe und Körper/Erotik überschritten wird. Vgl. etwa Feßmann: Spielfiguren, S. 163. Feßmann kommt auch zu dem Schluß, daß »das Spiel mit der Geschlechtszugehörigkeit fur Else Lasker-Schüler seine Grenze offenbar in der Gebärfähigkeit der Frau findet« (ebda., S. 185) - eine These, die in der vorliegenden Arbeit bestritten wird, vgl. z.B. IV.5.3.

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Drucilla Cornell: Das feministische Bündnis mit der Dekonstruktion, in: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, hg. v. Barbara Vinken, Frankfurt/M. 1992, S. 2 7 9 - 3 1 6 , (S. 302Í.). Vgl. außerdem: Inge Stephan und Sigrid Weigel (Hgg.): Weiblichkeit und Avantgarde, Hamburg 1987; Barbara Lersch-Schuhmacher: Über Weiblichkeit und Modernität. Befragung eines Konzepts, in: Vorträge des Germanistentages Berlin 1987, hg. v. Norbert Oellers, Tübingen 1988, S. 3 2 0 - 3 3 8 ; Gisela BrinkerGabler: Feminismus und Moderne: Brennpunkt 1900, in: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Bd. 8.2., Tübingen 1982, S. 2 2 8 - 2 3 4 ; Christine Buci-Glucksmann: Walter Benjamin und die Utopie des Weiblichen, Hamburg 1984.

277

Cornell: Das feministische Bündnis mit der Dekonstruktion, S. 303.

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Moment, in dem der Horizont oder Rahmen der Repräsentationsordnung als kontingente Voraus-Setzung einer Subjektposition erkennbar wird, kann diese nurmehr vorübergehend, als inszenierte Setzung, eingenommen werden, die ihr Anderes, den Abgrund des Nicht-Sinns oder der Verwerfung, nicht dauerhaft auf Distanz halten kann. Es handelt sich also nicht um den Versuch, einen anderen Raum jenseits des Imaginären ausfindig zu machen, sondern um eine, wie Teresa de Lauretis formuliert hat, »passage in discontinuous space«:278 I d o not m e a n a m o v e m e n t from o n e space to another b e y o n d it, or o u t s i d e [ . . . ] f r o m t h e s y m b o l i c space constructed b y the sex-gender s y s t e m to a >reality< external t o it. For clearly, no social reality exists for a g i v e n society o u t s i d e o f its p a r t i c u l a r sex-gender system [ . . . ] . W h a t I m e a n , instead, is a m o v e m e n t f r o m the space represented by/in a representation, by/in a discourse, by/in a sex/ g e n d e r s y s t e m , t o the space not represented y e t i m p l i e d (unseen) in t h e m . A w h i l e a g o I used the expression >space-offReinheit< beansprucht; im Gegenteil wird einer Kombination theoretischer Ansätze der Vorzug gegeben, dessen heuristischer Wert in den Lektüren jeweils diskutiert wird.

278 279

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De Lauretis: Technologies of Gender, S. 19. Ebda., S. 25f. Dort heißt es auch: »avant-garde cinema has shown the space-off to exist concurrently and alongside the represented space, has made it visible by remarking its absence in the frame or in the succession of frames«. V g l . Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. 1991. Der Diskursanalyse geht es, so Foucault, darum zu »analysieren, wie jene Entscheidung zur Wahrheit, in der wir gefangen sind und die wir ständig erneuern, zustande gekommen ist, wie sie wiederholt, erneuert und verschoben worden ist.« (Ebda., S. 39.) »Vom Diskurs« auszugehen heißt dann, »auf seine äußeren Möglichkeitsbedingungen zu[zu]gehen; auf das, was der Zufallsreihe dieser Ereignisse Raum gibt und ihre Grenzen fixiert.« (Ebda., S. 35.)

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III. Vater-Name und Text-Körper: >Das Peter Hille-Buch
Die Nächte der Tino von B a g d a d s >Der Prinz von ThebenMein Herz< oder >Der Malik< kreisen um ein Ich, das sich mal eher weiblich, mal eher männlich, mal tänzerisch, mal kriegerisch, mal träumerisch, mal machtbewußt inszeniert und dabei immer im engen Bezug zu dem erzählten Raum entworfen wird. »Ich-Figurationen« sind diese Experimente mit Autorschaft und Repräsentation an der Schwelle eines abgrenzbaren Werk-Korpus treffend genannt worden. 2 Meike Feßmann hat versucht, mit diesem Begriff eine typisch moderne Form des literarischen Spiels mit Masken und Identitäten zu beschreiben, das auf programmatische Weise die Grenzen von Literatur und Leben, Fiktionalem und Faktischem undeutlich werden läßt. Dieses Beschreibungskonzept der impliziten Poetologie LaskerSchülers hebt den imaginären Status ihrer Selbstbilder (Tino von Bagdad, Jussuf von Theben) hervor, insofern es zeigt, daß sie auf die Sprach-Spiele, in denen sie erzeugt werden, verwiesen bleiben. So trägt es den Strategien dieser Texte Rechnung, die dargestellten (Ich-)Figuren aus ihrer Referenzfunktion herauszulösen und die Verfahren der Inszenierung auch im Hinblick auf vermeintlich außerliterarische Prozesse der Ich-Bildung und Identifizierung zu reflektieren. 3 1

2

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Zitiert nach: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1993, S. 1 9 1 , 476. Es handelt sich um eine Auslegung der Bibelstelle Jes 4 3 , 1 0 (»Ihr seid meine Zeugen.«). Feßmann: Spielfiguren, S. 1 1 6 - 1 3 0 . Vgl. auch Lersch-Schuhmacher: Zur Allegorese des Weiblichen, S. 6 1 : »Else Lasker-Schüler ist eine Schriftstellerin des zwanzigsten Jahrhunderts, die die Auflösung der Ich-Position in einem Text und deren Rekonstitution in einer Kunstfigur, oder, präziser, in einer Kunstfiguration, auf sehr radikale und sehr rigorose Weise betrieben hat.« Vgl. Feßmann: Spielfiguren, S. 1 1 3 : Insofern die Spielfigur den Verweis auf die reale

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Zur Charakterisierung dieses Textverfahrens benutzt Feßmann immer wieder die Begriffe des Zwischen- oder Schwellenraums, was ihren Ansatz für die hier vorgeschlagene Fokussierung des Verhältnisses von Schrift und Raum interessant werden läßt. Der Zwischenraum, den die Ich-Figurationen an der Grenze von Biographie und Fiktion entfalten, wird von Feßmann als »imaginäre[r] Raum der Sprache« bezeichnet.4 Allerdings verbirgt sich hinter dieser Klassifizierung nicht der psychoanalytische Begriff des Imaginären, den die vorliegende Arbeit für die Textlektüren profilieren möchte. Feßmanns Spielraum ist, vereinfacht gefaßt, ein den alltäglichen Ordnungen der Rede entzogener Bereich, der deren Setzungen und Fixierungen die Vervielfältigung von Sinn und die Potentialität von Bedeutungen gegenüberstellt. In ihm werden räumliche Grenzziehungen in der Schwebe gehalten, wobei die Ich-Figur jeweils verschiedenen Ordnungen zugleich angehört und in keiner eindeutig situiert werden kann. Zwar wird die evozierte Raumvorstellung ausdrücklich gegen topographische Modelle abgesetzt, die den Text als geschlossenen, strukturierten Raum konzipieren. Doch auch wenn betont wird, daß die Figuren nicht im TextRaum verortet werden könnten, sondern vielmehr als Figurationen der Textgrenze beschreibbar würden, so wird doch der Eindruck eines homogenen räumlichen Gefüges erweckt. Denn der Spielraum der Figur bleibt auf die immer aufgeschobene, in Aussicht gestellte Verkörperung oder Realisierung, das Zusammenfallen von Zeichen und Körper, Fiktion und Realität, bezogen.5 In Feßmanns Modell erscheint dieser Aufschub gleichsam der Figur selbst eingeschrieben, wodurch sie als verräumlichte dem TextRaum analog gesetzt wird. Damit bleibt das Modell der Vorstellung verhaftet, das Schreibprojekt habe sich der idealen, restlosen Identifikation von Schrift und Körper als Horizontlinie seiner eigenen Experimente der Überschreitung ständig neu zu vergewissern. Wenn Feßmann betont, diese Vergewisserung ginge jeweils einher mit der Betonung einer uneinholbaren Distanz gegenüber diesem idealen Bezugspunkt, der >realen< Verkörperung der Figur, so erkennt man jenes Argumentationsmuster wieder, das im vorausgegangenen Kapitel im Zusammenhang mit der Projektion des idealen Bezugsrahmens transzendentaler Subjektivität diskutiert wurde. Das aber bedeutet, daß

4 5

Person immer nur andeutet und verspricht, aber nie im Sinne einer Identifikation einlöst, »spielt die Sprache dort, wo sie figuriert, mit dem referentiellen Bezug - d. h. sie spielt mit der Möglichkeit einer Realisierung - und wehrt ihn zugleich ab.« Ebda., S. 160. Die Poetologie Lasker-Schülers verkörpert sich, Feßmann zufolge, in dem »Traum einer Sprache, in der das Zeichen Körper wäre und der Körper Zeichen«. Ebda., S. 208.

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das Konzept der »Spielfiguren«, das zunächst für die Beschreibung der für Lasker-Schüler typischen Grenzgänge zwischen Literatur und Leben, Schrift und Körper, sehr plausibel erscheint, letztlich einem Subjektivitätsund Repräsentationsdenken verpflichtet bleibt, welches von vielen Texten der literarischen Moderne radikal in Frage gestellt wird. Wenn dieses Konzept im folgenden aufgegeben wird, so ist zugleich immer zu zeigen, inwiefern die untersuchten Texte Lasker-Schülers über die durch es implizierte Bewegung einer idealen Selbst-Setzung und der Reflexion auf dessen Uneinholbarkeit hinausgehen. Insofern die Begriffe des Raumes, der Verräumlichung und des Imaginären, die bei den Textanalysen eine wichtige Rolle spielen, in der Forschungsliteratur bereits verwendet worden sind, dort aber häufig anders konzeptualisiert wurden, trägt deren Beschreibung und Diskussion hier auch zur Profilierung des eigenen Ansatzes bei. Die Überlegungen, die in diesem Kapitel zum Verhältnis von Vatername und Schriftkörper, mithin also zu dem Spannungsfeld zwischen dem Repräsentanten der Symbolordnung und der Materialität der Schrift, die ihre Repräsentationsfunktion unterläuft, angestellt werden, orientieren sich im wesentlichen an dem ersten Prosabuch Lasker-Schülers. Wenn das 1906 erschienene >Peter Hille-Buch< hier exemplarisch für typische Problemstellungen und Schreibverfahren bei Lasker-Schüler behandelt wird, so wird ihm ein weit größerer literarischer >Wert< zugemessen als etwa in Feßmanns Monographie, die in ihm die »Spielfigur« noch unvollständig ausgeprägt findet und es daher lediglich als Vorform späterer Inszenierungen der Grenzen von Biographie und Fiktion betrachtet. Sie vertritt die Auffassung, das Schreibprojekt Lasker-Schülers habe sich hier noch nicht — wie angeblich in späteren Texten — von einem ihm äußerlichen Mittler sowie von den Zeit- und Raumgesetzen der realen Biographie gelöst. 6 Die Tatsache, daß der Titel dieses Buches nicht wie die genannten nach ihm entstandenen Prosabücher auf die Ich-Figuration verweist, sondern eine dem Ich gegenübergestellte Figur benennt, scheint zunächst für diese These zu sprechen. Will eine Analyse des >Hille-Buches< seiner besonderen Stellung innerhalb des Prosa-Werks gerecht werden, so wird sie daher bei dieser im Titel benannten Figur ansetzen und danach fragen, wie deren Verhältnis zur Ich-Figur gestaltet ist. Der heute kaum noch bekannte Dichter Peter Hille spielte in den ersten Jahren des Jahrhunderts als Weggefährte und väterliche Orientierungsfigur offenbar eine wichtige Rolle im Leben Lasker-Schülers. Prominentes und wohl auch besonders charismatisches Mitglied der »Neuen Gemein6

Feßmann: Spielfiguren, S. 150.

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schaft«, einer lebensreformerischen Gruppierung, der sie sich in diesen Jahren anschloß, stand Hille fiir eine betont antibürgerliche, bohemehafte Lebenshaltung, die sich mit einem emphatischen Begriff freien Künstlertums verband. 7 Beides mag auf Lasker-Schüler, die sich in dieser Zeit aus ihrer ersten bürgerlichen Ehe löste und deren erste Versuche als Lyrikerin ebenfalls in diese Phase fielen, in der sie sich Künstlerzirkeln und Gruppierungen, die alternative Lebens- und Kunstexperimente auf ihre Fahnen geschrieben hatten, öffnete, einen gewissen Eindruck gemacht haben. 8 Die Frage bleibt, ob sich dieser Eindruck im Sinne einer Erinnerung an überwältigende Begegnungen mit dichterischer Schöpferkraft und menschlicher Größe, als deren Inbegriff Hille in einer Reihe von Texten LaskerSchülers stilisiert erscheint, niederschlägt. Bleibt die Ich-Figur in diesem Buch tatsächlich, wie es zunächst den Anschein hat, auf die Rolle der Beeindruckten, Beeinflußten und ehrfürchtig die Gebote der väterlichen Figur ausführenden Novizin reduziert? Läßt sich, so wäre weiter zu fragen, das Verhältnis des >Hille-Buches < zu späteren Prosatexten wirklich allein im Modus eines >Noch-Nicht< beschreiben, oder wird in der Gegenüberstellung der titelgebenden Vaterfigur mit der Figur des schreibenden Ich nicht vielmehr eine komplexere Konstellation sichtbar, die typische Strukturmodelle späterer Erzählungen präfiguiert? In dem ihm gewidmeten Buch erscheint Hille als eine Prophetengestalt ( P H B 58), um die herum sich ein Kreis Gleichgesinnter geschart hat, die mit ihm auf die Wanderung gehen: heraus aus der Stadt in die Natur oder in die Gesellschaft wunderlicher Sagengestalten. Die einzelnen kurzen Episoden des Textes gestalten dabei jeweils verschiedene Stationen dieser Wanderung: im Wald, am See, am Flußufer, in der Höhle, in der Kalkfelsenschlucht, bei Onit von Wetterwehe, bei der Zauberin Hellmüte usf. Gibt sich die Erzählung zum einen als persönliche Erinnerung des schreibenden Ich an den 1904 verstorbenen Hille, so ist sie andererseits wie eine Heiligenlegende angelegt, wobei einige Passagen deutlich an den Lebensweg Jesu erinnern. Wie auch in den übrigen Prosabüchern sind biographische Anspielungen nicht schwer zu erkennen, Namen von Freunden werden leicht chiffriert (aus Herwarth wird Goldwarth u.ä.), Lasker-Schülers

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Zur »Neuen Gemeinschaft«, ihren Wortführern und den sie prägenden lebensphilosophischen und ästhetischen Programmen vgl. Kliisener: Else Lasker-Schüler, S. 5 1 — 53; Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 61 —65; neuerdings ausführlich auch Christine ReißSuckow: »Wer wird mir Schöpfer sein!!« Else Lasker-Schülers Entwicklung als Künstlerin, Konstanz 1997, S. 9 0 - 1 3 2 . V g l . Reiß-Suckow: »Wer wird mir Schöpfer sein!!«, S. 34: »Der Mann, der Else LaskerSchüler am Anfang ihrer Karriere am meisten beeindruckte, war Peter Hille.« IOO

Sohn Paul spielt als Kind der Ich-Figur mit Namen Pull mit. Angesichts des stark mythisierenden Erzählgestus ist es dennoch erstaunlich, wie bereitwillig die Rezeption dieses Buch als (bloß) biographisches Dokument klassifiziert hat. 9 Gerade die Tatsache, daß Peter Hille als Dichter dargestellt wird und Lasker-Schiiler ihre eigene Initiation als Künstlerin im >Hille-Buch< und auch später immer wieder von der Begegnung mit Hille ableitet, hat dazu geführt, daß man in diesem Buch das Verhältnis von väterlichem Mentor und gelehrig-bewundernder Schülerin dokumentiert gesehen hat. 10 Zeitgenössische Rezensionen etwa sprechen von einem »Hymnus für den hingeschiedenen Dichter«, dem die Jüngerin »einen Altar« errichte, vor dem sie selbst niederknie. 11 Auch die Forschung hat das Buch meist als Hommage an den Freund und Weggenossen begriffen, als »schwärmerisches Erinnerungsbuch«, 12 mit dem Lasker-Schüler Hille ein Denkmal setze. Dieter Bänsch sieht in der Figurierung Hilles durch Lasker-Schüler als quasi-göttlicher Prophet eine »dichterische Installierung einer erhabenen Vater-, Mittler- und Führerfigur«, die »zur Stützung ihrer immer schon brüchigen Identität« gedient habe. 13 Weniger vernichtend urteilen Studien, die in der Beschreibung der Hille-Figur als religionsübergreifende Prophetengestalt ein charakteristisches Motiv der Lasker-Schülerschen Texte ausmachen, das auf deren Anliegen hindeute, religiöse und literarische Impulse zu vermitteln. 14 In ihrer Auffassung, im 9

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V g l . Feßmann: Spielfiguren, S. 148. Feßmann rechnet »das Peter Hille-Buch zu einem der wenigen Texte, die sich tatsächlich psychologisch und biographisch deuten lassen.« V g l . Reiß-Suckow: »Wer wird mir Schöpfer sein!!«, S. 25: »Else Lasker-Schüler betrachtete daher auch Peter Hille als eine Art Mentor und väterlichen Freund.« V g l . auch ebda., S. 89. Dort ist zwar von einer »Meister-Jüngerin-Attitüde im Peter Hille-Buch« die Rede, dennoch liest Reiß-Suckow das Buch ausschließlich biographisch: die Selbständigkeit Tinos stehe für die wachsende Autonomie Lasker-Schülers als Künstlerin. Figur und reale Person werden austauschbar und damit offenbar im Sinne unmittelbarer Abbildlichkeit behandelt: »Tino gewinnt und verliert im väterlichen Freund eine Heimat. [ . . . ] Trotzdem geht Tino gefestigt aus dieser Freundschaft hervor, ebenso hatte Else LaskerSchüler Kraft aus der Freundschaft mit Peter Hille gezogen.«

" So Hedwig Dohm in ihrer Besprechung des Buches in >Der TagHille-Buch< gehe es in erster Linie um die Darstellung einer herausgehobenen, von einer außerliterarischen, göttlichen Macht legitimierten, Macht und Wissen verkörpernden Vater-Figur, unterscheiden sich diese Lektüren jedoch nicht von denjenigen, die das Buch aufgrund desselben Befunds abwerten. Tatsächlich können sich solche Interpretationen auf eine Reihe von Textpassagen nicht nur im >Hille-Buch< selbst, sondern auch in Essays und Prosabüchern bis in das Exilwerk hinein berufen, 15 in denen Hille explizit als ehrfurchtgebietender schöpferischer Mensch gefeiert wird. 16 In dem 1932 veröffentlichten Band >Konzert< etwa folgen drei Aufsätze über »St. Peter Hille« aufeinander. »Alle Propheten sind große Dichter gewesen, wie Peter Hille es war«, heißt es dort etwa. (K 679) Mit Blick auf ihr >Hille-Buch< fragt sich die Schreibende zudem, ob es ihr wohl »gelang, seine göttliche Eigenschaft den Lesern zu offenbaren?« (K 681), denn sie habe »ein ganzes Buch: Mythen über [ihren] Gottkameraden geschrieben«. (K 686f.) Die Überhöhung und Mythisierung der Hille-Figur findet in diesen Essays eine Fortsetzung, was die These, Lasker-Schüler habe die frühe Phase der Schwärmerei fur einen drittklassigen Poeten später überwunden, unplausibel erscheinen läßt. Neuere Lektüren haben das >Hille-Buch< vor allem als Reflexion auf einen dem schreibenden Ich von außen zukommenden Autornamen gelesen. Bereits in der Eingangsepisode erhält das Ich von der Hille-Figur den Namen Tino, der als Figuration einer orientalischen Prinzessin die LaskerSchülerschen Selbst-Inszenierungen in den folgenden Jahren dominieren wird. Marianne Schuller beschreibt die Eröffnungssequenz des Buches als »Szene einer zweiten Geburt«, da das Ich, das sich von seiner bürgerlichen Existenz und dem mit ihm verbundenen Namen gelöst habe, »den [neuen] Namen aus der ins Heilige gesteigerten väterlichen Hand als Gabe« empfange. 17 An dieser Be- oder Ernennung des Ich als Dichterin in der Nachweisen des Textes ist die Arbeit von Stephanie Bettina Heck: Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag. Prophetie im Werk Else Lasker-Schülers, Frankfurt/M. 1996, S. 19fr. Heck beschränkt sich darauf, Aspekte der Prophetenfigur vor dem Hintergrund religiöser Vorbilder und Traditionen zu beschreiben. Uber die literarische Funktion oder Bedeutung einer solchen Anverwandlung religiöser Motive gibt diese Arbeit keine Auskunft. 15 16

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Zur Bezugnahme auf Peter Hille im 1 9 3 7 erschienenen >Hebräerland< vgl. H 836, 887. Der Text >Sterndeuterei< aus dem Band >Gesichte< ist »St. Peter Hille in Ehrfurcht« gewidmet. (G 145) Marianne Schuller: Maskeraden. Schrift, Bild und die Frage des Geschlechts in der frühen Prosa Else Lasker-Schülers, in: Zwischen Schrift und Bild. Entwürfe des Weiblichen in literarischen Verfahrensweisen, hg. v. Christina Krause u.a., Heidelberg 1994, S. 4 1 — 55, (S. 4 4 - 4 6 ) . Vgl. auch fast wörtlich Marianne Schuller: »Ich bin Wasser darum bin ich

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folge der orientalischen Erzählerin Scheherazade, 18 die offenbar eine reale Grundlage im Verhältnis Hilles zu Lasker-Schüler hatte, 1 9 kristallisiert Feßmanns Interpretation zufolge der zentrale Konflikt des Textes. Indem die Begründung der eigenen Autorschaft an die andere, väterliche Figur geknüpft wird, bleibe das Ich den von ihr ergehenden Vorschriften und Zuschreibungen unterworfen. Der Versuch, zu einer künstlerischen Unabhängigkeit zu finden, bleibe daher immer verstrickt in die Vorgaben, die Hille mit seiner Namensverleihung implizit oder explizit gemacht habe. 20 Aus dieser Perspektive stellt sich das >Hille-Buch< als Dokument eines fortschreitenden und konfliktreichen >Ablösungsprozesses< dar. 21 Die angeführten Lektüren und Wertungen des ersten Prosabuches Lasker-Schülers eint bei aller Unterschiedlichkeit die Diagnose, daß in ihm die Bedeutung einer machtvoll-erhabenen Vaterfigur für die Situierung und (Selbst-)Bewußtwerdung des Ich ausgelotet werde. Ganz gleich, ob man hier eine Verortung des Ich in einem religiösen Kontext, in einer Gemeinschaft von Künstlern oder darüberhinausgehend in einer Tradition schöpferischer Menschen in Szene gesetzt sieht, die Position der Vaterfigur wird als Orientierungsstifter und Repräsentant eines das Ich überbordenden historischen oder symbolischen Zusammenhangs gesetzt. Selbst wo argumentiert wird, der Text gestalte vor allem das Konfliktpotential, das eine solche Konfrontation des Ich mit dem Symbolgesetz berge, wird das Verhältnis der beiden zentralen Figuren zueinander analog der biographisch >verbürgten< Konstellation festgeschrieben: Die um fünfzehn Jahre jüngere Lasker-Schüler erlebt ihre Initiation in eine andere, von Hille verkörperte Ordnung. Im Gegensatz zu diesen impliziten Festschreibungen der väterlichen Symbolinstanz versucht die folgende Analyse des >Hille-Buches< zu zeigen, inwiefern diese selbst vom Text als Effekt seiner rhetorischen Praktiken und Inszenierungen ausgestellt wird. Die Hille-Figur wird damit aus den

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keine Frau.« Z u Else Lasker-Schülers melancholischer Prosa, in: Fragmente. Schriftenreihe fur Kultur-, Medien- und Psychoanalyse 44/45 (1994), S. 1 1 - 2 4 , (S· 12). Vgl. hierzu ausfuhrlich Kap. IV.3. Vgl. Peter Hille: Else Lasker-Schüler (1902), in: Else Lasker-Schüler. Dichtungen und Dokumente, hg. v. Ernst Ginsberg, München 1 9 5 1 , S. 565. Dort wird Lasker-Schüler bereits »Prinzeß Tino« genannt. Feßmann: Spielfiguren, S. i4Óf. Ohne nähere Beweise, die sich dem Text an sich auch schwerlich entnehmen lassen, behauptet Feßmann: »Peter Hille hat Lasker-Schüler nicht einfach nur zur Dichterin ernannt, sondern er wollte, daß sie die repräsentative Dichterin der Versöhnung zwischen Judentum und Christentum werde.« Das >Hille-Buch< liest Feßmann als Versuch der Dichterin, sich von dieser »Aufgabe«, die ihre eigene, jüdische Herkunft verleugne, freizumachen. (Ebda., S. I53Í.) Ebda., S. 148.

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biographischen oder religiösen Referenzbeziehungen gelöst und als TextFiguration gelesen, deren Bedeutung fur die Etablierung und Begrenzung des beschriebenen Raumes ausdrücklich reflektiert wird. Damit aber erscheint auch das Verhältnis zwischen den beiden einander gegenübergestellten Figuren ebenfalls in einem anderen Licht. Tino wird nicht auf die Rolle der Empfangenden, sich dem neuen Gesetz beugenden, es anbetenden oder verwerfenden Initiandin festgelegt. Vielmehr wird sie, wie auch die Hille-Figur, als Element einer vom Text entfalteten Konstellation beschrieben, die Symbolisierungen, Namen und Identitäten auf den Prozeß ihrer (sprachlich-rhetorischen) Konstitution verweist. Wo die Figuren nicht als personalisierbare Instanzen, als Verkörperungen bestimmter Vorbilder oder Funktionen, sondern als Momente von Symbolisierungsprozessen aufgefaßt werden, wird die Tragweite und Komplexität der Benennungsszene am Beginn des Buches erst eigentlich erkennbar. Denn wo sich zeigen läßt, daß Körper und Stimme der Figuren nicht als Merkmale derselben, in sich konsistenten und abgrenzbaren personalen Instanz konzipiert werden, sondern in einer Weise gegeneinander gestellt werden, daß ebendiese homogene Instanz in Frage gestellt wird, beginnt eine Lektüre, die das >Hille-Buch< als radikales Schreibexperiment ernst nimmt. Sobald die Punktion der Vaterfigur für die im Text selbst reflektierten Sinn- und Ordnungsprozesse in den Mittelpunkt des Interesses rückt, werden zudem zwei wichtige Intertexte erkennbar, mit denen das >HilleBuch< eng verflochten ist. Sowohl Nietzsches >ZarathustraHille-Buch< in Aufbau und Textgestus verwandt ist, 22 wie auch das alttestamentarische >HoheliedHille-BuchHohenlieds< sind im Werk Lasker-Schiilers verschiedentlich nachgewiesen worden. Vgl. etwa Hermann: Raum - Körper - Schrift, S. 37; Hessing: Else LaskerSchüler, S. 9of. Keine Analyse jedoch hat sich bislang seiner spezifischen Textstruktur und damit seiner Bedeutung als Intertext für das >Hille-Buch< wie auch für andere Prosatexte Lasker-Schiilers gewidmet.

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Texte im >Hille-Buch< vielstimmige Resonanzen, die die Vaterfunktion als zentrales Ordnungs-Prinzip abendländischer Kultur - von der Bibel bis zur modernen Umschrift der christlichen Passion bei Nietzsche — ausstellt, indem sie ihre Einsetzung als rhetorische erkennbar werden läßt.

ι . Figuren des Übergangs immer muß ich über Gottes Grab. Ich glaub fast er ist tot und die Bibel ist seine Gedenktafel. Mein Peter Hille Buch ist meine Spielbibel (Else Lasker-Schiiler, Briefe)

Der Bezug des >Peter Hille-Buches< auf die reale Person, deren Namen es im Titel trägt, wird durch die poetisierende Abwandlung dieses Namens in den erzählten Episoden selbst abgeschwächt. Dort nämlich wird die Prophetenfigur durchgängig Petrus genannt, wodurch verschiedene biblische Bezüge aufgerufen werden. Im Neuen Testament verleiht Jesus Simon, einem seiner Jünger, den Namen Petrus und bestimmt diesen im selben Moment zu einem Fundament seines Glaubens-Gebäudes: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen«. 24 (Mt 16,18) Indem das >Hille-Buch< Petrus zu Anfang und gegen Ende noch einmal als Felsen erscheinen läßt, spielt es also nicht nur mit der Bedeutung dieses Eigennamens, sondern zugleich mit dem (biblischen) Akt der Fundierung eines Glaubenssystems oder Symbolzusammenhangs. In zahlreichen Passagen des Alten Testaments wiederum erscheint Gott selbst als Fels. David etwa besingt ihn einmal in einem Lied: »Der Herr ist mein Fels und meine Burg / und mein Erretter.« (2. Sam 22,2) Im Psalter heißt es ähnlich: »Denn er ist mein Fels, meine Hilfe, mein Schutz, / dass ich gewiß nicht fallen werde.« (Ps 62,3> 25 Gelegentlich wird der Fels als diejenige Instanz beschrieben, die den Verzweifelten hören kann: »Schreit der Betrübte im Schmerz seiner Seele, / so wird Gott, sein

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Sofern nicht anders vermerkt, wird aus der Lutherbibel, Taschenausgabe ohne Apokryphen, Stuttgart 1995, zitiert. Offenbar hat Lasker-Schüler, deren Texte sich häufig auch auf das Neue Testament beziehen, verschiedene Bibeln benutzt bzw. gekannt. Textstellenvergleiche etwa mit der Übersetzung der hebräischen Bibel durch Leopold Zunz jedenfalls fallen nicht überzeugend aus.

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Vgl. Ps 1 4 4 , 1 - 2 : »Gelobt sei der Herr, mein Fels, der meine Hände kämpfen lehrt und meine Fäuste, Krieg zu fuhren, mein Hilfe und meine Burg, / mein Schutz und mein Erretter.«

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Fels, auf sein Wehgeschrei hören.« (Sir 4,6) 2 0 Das >Hille-Buch< scheint beide Assoziationen zu überblenden, wodurch die Rollen von Namensgeber und Benanntem, Gott und des in seinem Namen sprechenden Jüngers oder Propheten, ineinander spielen. Der Eindruck, daß Petrus nicht auf eine Mittlerrolle gegenüber einer transzendenten Instanz reduziert werden kann, sondern selbst als göttlich erscheint, wird durch die schon genannten Essays über Peter Hille bekräftigt. Dort heißt es nicht bloß, daß Hille »in Sich wie in Gott schon« lebte, es wird auch geschildert, daß er als >lieber Gott< angesprochen worden sei und daß er »den Hauch Gottes mit Sich« getragen habe, »der ihn nicht allein nach seinem Ebenbilde schuf, ihm auch noch seinen Zauber gab.« (K 684) Für Hille, so heißt es, gab es auf der Erde keinen Ort, den er seine Heimat hätte nennen können, dafür aber habe ihn sein Mantel »wie der Sternenmantel die Erde« bekleidet. (K 689) Dieses Bild, das den Körper Petrus' mit dem Weltkörper identifiziert, ist im >Hille-Buch< selbst auf verschiedene Weise vorgeprägt. Zunächst verkörpert Petrus für die zu Beginn kindliche, in fremder Umgebung sich befindende und orientierungslose Ich-Figur den festen, Halt und Orientierung stiftenden Felsen. Eine ganze Reihe topographischer Metaphern wird aufgeboten, um zu veranschaulichen, inwieweit die Zentralfigur Petrus zur Grenzen und Strukturen gewährleistenden >heimatlichen« Instanz für die Tino-Figur wird. Das erzählende Ich beschreibt ihn nicht nur als »steinerne Urgestalt« ( P H B 10,54), a u f die sich ehrfurchtsvolle Blicke richten und um die herum getanzt wird, sondern auch als »leuchtendes Land« ( P H B 10), als »Heimat der Jubelnden« (PHB 1 2 ) oder als »wandernde Landschaft« (PHB 1 2 ) . 2 7 An anderer Stelle wird der Körper des schlafenden Petrus als »hochatmendes Meer« (PHB 25) beschrieben. Offenbar ist der während der Wanderung durchschrittene Raum von dieser Figur nicht abzulösen. Petrus bewegt sich nicht durch einen ihm vorgängigen Raum, indem er seine Konturen topographisch nachzeich26

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Zit. nach: Neue Jerusalemer Bibel, Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, neu bearb. u. erw. Ausgabe, hg. v. Alfons Deissler und Anton Vögtle, Freiburg, 9. Aufl. 1985. Dieses Motiv macht die Distanz deutlich, in der der Lasker-Schülersche Text hier bereits zu den naturmystischen Entwürfen im Umkreis der »Neuen Gemeinschaft« erscheint. Das Schema des Bruchs mit der städtischen Welt der Zivilisation und der Hinwendung zur Natur, den Zyklen der Jahreszeiten und der Witterung, wird zwar aufgegriffen, aber durch Bilder wie das von der wandernden Landschaft überformt. Vgl. hierzu auch eine Passage im >Hebräerlandwandernden Landschafts in meinem ersten Buch: Das Peter-Hille-Buch.« (H 887)

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nete, Entfernungen zurücklegte und Wege abschritte. Raum und Figur werden vielmehr bis zur Identifizierung einander angenähert. Petrus ist nicht allein als handelnde Figur Thema der Erzählung, seine Umrisse und die ihm zukommende Körperlichkeit werden vielmehr mit den Grenzen des repräsentierten Raumes, die die Grenzen der Welt sind, in Verbindung gebracht. Seine Herkunft und Heimat erklärt er Tino einmal, indem er auf die »silberdunkle Linie« deutet, »die Himmel und Erde vereinte.« ( P H B 1 2 ) So wird er ausdrücklich zu dem Horizont in Beziehung gesetzt, 28 der, wie im vorausgehenden Kapitel erläutert, zwar einen Raum begrenzt und den sich auf ihn hin entwerfenden Menschen beheimatet, der selbst aber nicht als bewohnbarer Ort gedacht werden kann. Die beiden hier betrachteten Motive, mit denen Petrus assoziiert wird, der Felsen und die Landschaft, erweisen sich damit als zusammengehörig. Sie figurieren jeweils eine Schwelle, die nicht von einer dritten, göttlichen Instanz verbürgt und auf Distanz gehalten wird. Denn wenn im Bild des Felsens Prophet (NT) und Gott (AT) gleichermaßen verkörpert scheinen, so deutet sich an, daß Gott als transzendente Figur selbst in die Position des Mittlers eingerückt wird, allerdings ohne daß die beiden zu vermittelnden Pole, Mensch und Gott, Erde und Himmel, noch eindeutig bestimmt und unterschieden werden könnten. Ganz analog zeichnet sich auch in dem Bild von der - im Gegensatz zur wandernden Grenze, als die Koschorke den Horizont beschreibt — wandernden Landschaft eine Überschreitung ab, die von keinem transzendenten Bezugspunkt mehr geregelt und perspektiviert wird. Wo die Figur am Schwellenort des Horizonts situiert erscheint, wird dieser selbst verräumlicht. Die sich abzeichnende Verkörperung des eigentlich unkörperlichen Fluchtpunkts der Raumordnung läßt zudem den Gegensatz von weltlicher Materialität und göttlicher Transzendenz fragwürdig werden. Die projizierte Position des Dritten, auf die sich das transzendentale Transgressions-Modell bezieht, fällt hier tendentiell mit der Position des Zweiten zusammen, der sich als (körperliches) Du dem Ich gegenüberstellt. Von dieser Vertauschung der beiden Positionen von Alterität, der relativen Andersheit des — andersgeschlechtlichen, einem anderen Glauben zugehörigen — Gegenüber einerseits und der absoluten Andersheit Gottes andererseits, wird im folgenden immer wieder die Rede sein. Als genuin moderne Operation findet sich diese Vertauschung in Nietzsches >Zarathustra< vorgeprägt, dessen wichtigsten Motive und Struktur28

Vgl. auch den erwähnten Essay, wo es heißt: »Peter Hille, der dichtende Prophet, glich dem Horizont.« (K 686)

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elemente sich nahezu ausnahmslos im >Hille-Buch< aufspüren lassen. Die Sehnsucht Zarathustras, der wie Petrus sowohl als Propheten- wie als Gründungsfigur einer Symbolordnung modelliert wird, richtet sich nicht auf einen der Welt entzogenen Gott. »Heimat fand ich nirgends: unstät bin ich in allen Städten und ein Aufbruch an allen Thoren«, charakterisiert er sich selbst einmal als einen, dessen Ort von der Bewegung permanenter Überschreitung nicht abgelöst werden kann. 29 Dabei handelt es sich nicht um eine Überschreitung des Körperlich-Irdischen auf eine jenseitige, geistig-göttliche Welt hin, sondern vielmehr um eine Selbst-Überwindung, die, anstatt den Körper zu verwerfen, sich »einen höheren Leib« schafft. 30 Dieser >höhere Leib< ist gleichsam der Körper Gottes, der damit aus seiner transzendenten Position gelöst wird: »Mensch war er, und nur ein armes Stück Mensch und Ich«. Die Proklamation vom Tode Gottes, die im >Zarathustra< mehrmals wiederholt wird und in der Nietzsches radikale Metaphysik-Kritik zur Formel gerinnt, 31 ist nicht als bloße Verwerfung dieser Position zu verstehen. Indem das Ich sich an die Stelle Gottes setzt, wird die Geste der Selbstermächtigung und Ver-Göttlichung des Menschen zugleich an das Hervortreten der Leiblichkeit des Absoluten geknüpft. Dieses jedoch materialisiert sich nicht als dem Ich greifbare, von ihm anzueignende Substantialität (der Welt, der Erde, des eigenen Körpers etc.), sondern bleibt der Bewegung der Überschreitung ausgesetzt. Die Wissenden, von denen Zarathustra spricht, glauben nicht an ein Jenseits, an Hinterwelten, sondern an »Leib und Erde«: »ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich.« 32 Die Verknüpfung und Vertauschung des Kantschen >Ding an sich< mit der Körperlichkeit des Subjekts stellt noch einmal die oben beschriebene Operation zur Schau: Die begrenzte Alterität des nach christlicher Vorstellung zu überwindenden Körpers wird mit der absoluten Alterität des der Erkenntnis entzogenen, sie aber gleichwohl strukturierenden transzendentalen Objekts kurzgeschlossen.33 Der Leib tritt dem Wissenden bei Nietzsche nicht als Objekt der Erkenntnis gegen29

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Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Kritische Stadienausgabe, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari; München, 2. Aufl. 1988, S. 1 5 5 . Ebda., S. 37. Wie Petrus wird der »Übermensch«, von dem Zarathustra predigt, als Meer beschrieben, vgl. ebda., S. 1 5 . Vgl. auch ebda., S. »Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!« Vgl. ebda., S. 1 4 , 1 0 2 , 1 1 5 . Ebda., S. 38. Zum Verhältnis von Kant und Nietzsches >Zarathustra< vgl. auch Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 22.

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über, vielmehr wird er mit einem Selbst gleichgesetzt, das sich einzig in seinem Impuls »über sich hinaus zu schaffen« 34 manifestiert. Als solches aber läßt es sich in keiner von Gott oder dem vergöttlichten Menschen selbst geschaffenen Welt verorten.

i . i . Von Welt zu Welt: Zarathustras Wanderung Ebenso wie Nietzsches Zarathustra den Lebensweg und die Passion Christi nachahmt und überbietet, erscheint auch Petrus mehrfach als Christusfigur. Als engste Vertraute und einzige Begleiterin auf vielen Stationen der Wanderung wird Tino etwa auch Zeugin seines Aufstiegs in den Himmel. 35 Dieses Hinübergehen ist nun aber sehr deutlich nicht als ein Wieder-Eingehen in Gott gestaltet, das ein (christliches) Erlösungswerk vollendete. Zwar wird angedeutet, daß das Ziel von Petrus' »schwere[r] Wanderung« (PHB 53), die ihn über die beschriebene Welt hinausführt, der »himmlische Stern« sei. (PHB 53) Tatsächlich wird jedoch die Dichotomie von Welt und Himmel, Mensch und Gott, Leben und Tod im Text aufgegriffen und unterlaufen. So wird an die Stelle der christlichen Vorstellung, Jesus fahre in den Himmel hinauf, das Bild eines >Hineinwachsens< gestellt, wodurch der Körper der Petrus-Figur mit einer Zwischenräumlichkeit verknüpft wird. 36 Insofern diese sich nicht als Übergangszone zwischen zwei getrennten Bereichen beschreiben läßt, wird die Figur nicht auf eine vermittelnde Funktion festgelegt. Denn indem der Himmel als >anderer Stern< erscheint, die Wanderung zudem ausdrücklich als eine »von Welt zu Welt« (PHB 53) apostrophiert wird, 37 deutet sich eher eine Verdopplung der >Welt< an als deren Komplettierung oder Rettung durch einen transzendenten Bezug. Petrus verkörpert damit offensichtlich nicht nur, wie beschrieben, die eine Erde oder Welt, deren Ursprung und Grenzen sich auf einen göttli34

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Nietzsche: Zarathustra, S. 40t. Dort heißt es auch: »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« Während es zunächst noch metaphorisierend heißt: »Petrus' Antlitz wurde immer verfaltigter und abgewandter, und es war, als wüchse es in den Himmel hinein« (PHB 48), wird die darauffolgende Episode expliziter: »ich sah, wie schmal seine Schultern waren, aber wie gewaltig sein Haupt stieg«. (PHB 49) Auch hier greift der Text auf die Bildlichkeit des >Zarathustra< zurück. Vgl. Nietzsche: Zarathustra, S. 52 bzw. S. 359: »so allein wächst der Mensch in die Höhe, wo der Blitz ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz.« (Herv. im Text). Ausdrücklich fragt Petrus Tino einmal: »Was wirst Du tun, wenn ich auf einem anderen Stern wandle?« (PHB 49)

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chen Schöpfungsakt zurückfuhren ließen, vielmehr werden diese Grenzen der Welt mit seinem Körper unmittelbar in Beziehung gebracht. Indem Petrus die weltliche Totalität einerseits verkörpert, andererseits aber in ihr abwesend ist, insofern er aus ihr verschwindet, wird sein Status als nichttranszendentale Schwellenfigur noch einmal bekräftigt. Petrus ist jene Instanz, um die die Handlung und die Figuren zentriert sind, er stellt den Sinnhorizont dar, von dem aus sie ihre Konturen und ihren Aktionsradius beziehen. Mit Lacan gesprochen tritt er in der Vater-Funktion des transzendentalen Signifikanten, also in der des Phallus auf, der »die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit« bezeichnet. 38 Das Zustandekommen von Bedeutung innerhalb eines von ihm begrenzten Symbolraums kann er jedoch nur solange gewährleisten, wie seine eigene Machtposition als gegebene erscheint. 39 Sobald jedoch die Abwesenheit, das Verschwinden des obersten Garanten des Symbolischen als dessen Kehrseite aufscheint, wird der Phallus seinerseits als Effekt einer imaginären Setzung erkennbar, die den >Mangel im Seinüber sich Hinausschaffen< läßt sich nicht auf die Vorstellung, in der (Kunst-)Schöpfung könne der Tod überwunden und das Vergängliche verewigt werden, reduzieren. Die Parallelführung von Leben und Tod, Körper und Geist (bzw. ewiges Leben) zeichnet die Spur des Todes vielmehr in das Geschaffene wie auch in den sich selbst Schöpfenden und Zu-Grunde-Richtenden ein. Dieses Werk, das zugleich das Selbst des Künstlers ist, erscheint damit als eines, das nicht abgeschlossen werden kann, sondern in infiniter Bewegung stets über einmal gefundene Formen, über sich selbst, hinaustreibt. Schöpfer und Geschaffenes, Ich, Gott und Welt werden identifiziert, um als nicht faßbare, da in sich geteilte Totalitäten immer wieder auf den uneinholbaren eigenen Ursprung zurückzukommen.43 In einer Nietzsche-Lektüre formuliert Gilles Deleuze: Die ewige Wiederkunft ist das Unbegrenzte des Vollendeten selbst, das univoke Sein, das sich von der Differenz aussagt. In der ewigen Wiederkunft steht die Chao-Erranz der Kohärenz der Repräsentation gegenüber: sie schließt die Kohärenz eines sich repräsentierenden Subjekts ebenso aus wie die eines repräsentierten Objekts. Die ¿?ípetition steht der Repräsentation gegenüber. 44

Auch Zarathustra verläßt irgendwann die Welt, von der es einmal heißt: »was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden«.45 Nietzsche läßt das Leben als Allegorie >persönlich< auftreten und mit dem wandernden Propheten einen Dialog führen, dem die Dialoge zwischen Tino und Petrus im >Hille-Buch< sehr ähnlich sind. So stellt das Leben fest: »ich weiss es, daß du mich bald verlassen wirst«, was Zarathustra bejaht: »aber du weisst es auch«. 40 An anderer Stelle heißt es: »Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, [...] nicht zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: — ich komme wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten«. 47 Sein 42 43

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Nietzsche: Zarathustra, S. 83. Nietzsches Formulierung des >Zu-Grunde-Gehens< verknüpft die Hinwendung auf den Grund, den Ursprung, mit der Vernichtung und Auslöschung desselben. Vgl. hierzu Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 254. Vgl. auch ebda., S. 256: »Ein Ursprung wird nur in einer Welt festgesetzt, die das Original ebenso wie die Kopie anficht, ein Ursprung setzt einen Grund nur in einer Welt fest, die bereits in das universale 2.UGrunde-Gehen gestürzt ist.« Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 84. Der Übersetzer Joseph Vogl merkt an, daß der Neologismus chao-errance aus chaos und errance (Irrfahrt, Umherirren) gebildet sei. (Ebda., Anm. 22.) Nietzsche: Zarathustra, S. 1 1 0 . Ebda., S. 285. Ebda., S. 276. 112

Verschwinden stiftet, wie das Verschwinden Petrus' im >Hille-Buchderselben WeltHille-Buch< von der allgemeinen Trauerzeremonie und dem Grabstein-Symbol distanziert, so wird das sich abzeichnende andere Todes-Verständnis eng mit dieser Figur verknüpft. Ausdrücklich heißt es im Text, der zuvor nahezu das gesamte Personal des Buches am Grab des Propheten noch einmal versammelt: »Ich aber stand fern vom Grabe.« (PHB 56) Wie die Ich-Erzählerin sich hier am Rande des ritualisierten Totengedenkens hält, scheint auch der Text insgesamt die mit diesem Ritual identifizierte Praxis des Denkmalsetzens kritisch zu reflektieren. Denn wenn sich das >Hille-Buch< bereits durch seinen Titel 48 49

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Ebda., S. 48 bzw. S. 194. Die Formulierung Nietzsches, dasselbe finde sich im »Grössten und auch im Kleinsten«, läßt sich mit der Leibnizschen Monadologie in Verbindung bringen. Vgl. etwa Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1 9 9 3 , S. 144. Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 22: »Die Form der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr ist die brutale Form des Unmittelbaren, die Form, in der sich Singulares und Universales vereinigen, und die jedes allgemeine Gesetz entthront, die Vermittlungen zerschmelzen und die dem Gesetz unterworfenen Besonderen untergehen läßt.« Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1 9 9 1 , S. 52f., vgl. auch S. 30, 33Í. Vgl. auch ders.: Logik des Sinns, S. 322f.: »Die Kohärenz der Repräsentation wird von der ewigen Wiederkehr durch etwas ganz anderes ersetzt, durch ihr eigenen ChaosHerumirren. [...] Der Kreislauf der ewigen Wiederkehr ist ein stets exzentrischer Kreis fur ein stets dezentriertes Zentrum.« Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 256.

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als Denkmal konstituiert, so entsteht dieses doch offensichtlich nicht allein dadurch, daß eine historische Figur in ihrem Sein und Wirken bis zum Tode beschrieben und dadurch auf ein bestimmtes Bild fixiert würde. Auf diese Funktion läßt sich der Text schon deshalb nicht festlegen, weil die Voraussetzung fur eine solche literarische Ikonisierung gar nicht eindeutig gegeben ist: Der Tod der Titelfigur nämlich, an den die Trauergäste in der beschriebenen Episode als ein stattgehabtes, einmaliges Ereignis glauben, ist im Text nicht als solches faßbar. Indem der Tod der Titelfigur als >ewig wiederkehrenden Ubergang im Sinne Nietzsches modelliert wird, wird die Schwierigkeit des Textes, sich als Denkmal zu konstituieren, erkennbar. Denn wenn er den Tod jener Figur, derer er gedenkt, nicht voraussetzen und auf Distanz halten kann, wird ihm die Schwelle zwischen Leben und Tod, aktueller Präsenz und Erinnerung problematisch. Das erinnernde Gedenken muß fehlschlagen, wo sich das Objekt einer solchen Repräsentation jeder Begrenzung durch räumliche und zeitliche Einschnitte entzieht, ihr Verschwinden und ihre Geburt in paradoxer Gleichzeitigkeit erscheinen. Wenn also Tino »fern vom Grabe« bleibt, so wohl auch, weil sie um die Problematik >weißPetrus erprobt meine Leidenschaft Petrus Grab< wird auch dieser Bezirk als »stille[r] Garten« bezeichnet ( P H B 36), wodurch die beiden Episoden aufeinander bezogen werden. Als sie sich diesem Garten nähern, belehrt Petrus Tino über die erhabene Figur, an die dieser Ort erinnert: »>Die Berge des Hochlands von Iran durchstreiften seine Vorfahren [ . . . ] und er formte in den Wolken den neuen Menschen aus der lachenden Mittagssonne seiner Heimat.Ich räume auf!StyxTinoHille-Buch< nicht als das Andere des väterlichen Gesetzes zu positionieren. Den Phallus empfangend und als Waffe gebrauchend, wird sie in die Nähe der Figur gerückt, die die Psychoanalyse die »phallische Mutter« nennt. 66 Als Figur, die die beiden Register des Habens und des Seins miteinander versöhnt und so der Geschlechterdifferenz vorauszugehen scheint, erweist sie sich zugleich als imaginäre Figur par excellence. Im Moment ihrer Aufrichtung, die im Text mit der Begründung der Autorschaft des (weiblichen) Ich verknüpft wird, scheint eine Gewalt auf, die sich nicht innerhalb der symbolischen Ordnung situieren läßt: Es bleibt offen, ob dieser Körper aufgrund einer ihm von außen zugefügten Verletzung blutet oder ob er Spuren eines durch ihn verübten Gewaltaktes trägt. Verletzt/verletzend wird er mit dem Gründungsmoment des Symbolischen in Verbindung 65 66

Derrida: Sporen, S. 1 3 1 f. V g l . Freud: Die Weiblichkeit, S. 557; Lacan: Die Bedeutung des Phallus, S. 1 2 2 ; Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent: Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin, Heidelberg, New York 1 9 9 1 , S. 227.

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gebracht, dessen Hervortreten den transzendentalen Signifikanten in sich selbst spaltet, von sich selbst entfernt: »Die klaffende und entfernte Öffnung dieser Entfernung gibt der Wahrheit Raum und die Frau öffnet-entfernt sich darin von sich selbst. Es gibt kein Wesen der Frau, denn die Frau öffnet und entfernt (sich) von sich selbst.« 67 Wenn im Innern der heiligen Stätte des Prophetengrabs im Text eine weibliche Autorschaft begründet wird, so nicht als Behauptung einer vom männlich-phallischen Prinzip gewaltsam ausgegrenzten weiblichen Körperlichkeit. Eher zeichnet sich hier eine »weibliche Operation«68 ab, die den Phallus nicht einfach >fur sich< beansprucht, sondern ihn auf den Schauplatz seiner Einsetzung zurückverweist. Jenseits des Geschlechterdramas wird die Aufrichtung des symbolischen Signifikanten als imaginärer Effekt erkennbar, der von seiner Kehrseite, einer (gewaltsamen) Verwerfung, gezeichnet bleibt. Auch hier treibt also der Signifikant des Symbolischen über sich hinaus. Die Szene läßt sich so als Engführung der Reflexion des Textes auf seinen eigenen Ursprung lesen, die bereits in den Motiven der verkörperten Welt und der Ewigen Wiederkunft zum Ausdruck kommt. In dem Augenblick, in dem die Frage nach der Legitimität jener Instanz auftaucht, die das Erzählte durch eigene Zeugenschaft beglaubigt, konfrontiert der Text seine Leser mit einer Unbestimmtheit, die zur Vorsicht gegenüber seinen Referenz- und Repräsentationssignalen mahnt. Auf ein bislang noch nicht betrachtetes Motiv der beschriebenen Szene wäre vor diesem Hintergrund noch näher einzugehen. Die Konfrontation Tinos mit der widerwärtig-besitzergreifenden »Katzin« ist als Zusammentreffen Lasker-Schülers mit der Schwester Nietzsches, Elisabeth FörsterNietzsche, interpretiert worden. Diese hatte als Nachlaßverwalterin ihres Bruders dessen Texte vielfach eigenmächtig geändert und verfälscht. 09 Auch hier jedoch erschöpft sich das Motiv nicht durch den Verweis auf den biographischen Hintergrund des Buches. In Nietzsches >Zarathustra< werden Katzen immer wieder mit Frauen in Verbindung gebracht: »Katzen sind immer noch die Weiber«. 70 Schleichende, unaufrichtige Wesen, verkörpern sie zugleich eine trügerische Ruhe, eine Geborgenheit im Begrenzten. Metonymische Reihungsstrukturen stellen zwischen Frauen und Wolken eine Ähnlichkeitsbeziehung her:

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68 69 70

Derrida: Sporen, S. 1 3 5 . Vgl. auch ebda., S. 146: »Zwischen der Frau — auftritt die Frau.« Vgl. Derrida: Sporen, S. 1 3 7 . Reiß-Suckow: »Wer wird mir Schöpfer sein!!«, S. 7 i f . Nietzsche: Zarathustra, S. 73.

122

D e n ziehenden Wolken bin ich g r a m , diesen schleichenden R a u b - K a t z e n : sie nehmen dir und mir, was uns g e m e i n ist, — das ungeheure unbegrenzte J a und Amen-sagen. Diesen Mittlern und Mischern sind wir g r a m , den ziehenden Wolken: diesen H a l b - und H a l b e n , welche weder segnen lernten, noch von G r u n d aus fluchen.71

Frauen, deren Funktion darin besteht, die Illusion eines abgeschlossenen Raumes zu vermitteln, indem sie wie Wolken das Unendliche des Himmels verschleiern, werden als zu überwindende Mittlerfiguren beschrieben. Nicht segnen und fluchen zu können, deutet auf eine beschränkte Position hin, der eigenes Schöpfertum, die Macht, Gott zu fluchen oder/und an seine Stelle zu treten, versagt bleibt. Darüber hinaus - und hier könnte man den Bezug auf die Nietzsche-Schwester durchaus einbeziehen — macht die >Katzen-Frau< das wirkliche, geniale Schöpfertum dadurch zunichte, daß sie es begrenzt und festschreibt und so daran hindert, >über sich selbst hinaus< zu weisen. Versteht man die >KatzinHilleBuch< das Grab des Propheten besetzt hält, in diesem Sinne, so wird deutlich, wie sich das Motiv in die Szene einfügt. Der Gründungsakt der Autorschaft ist zugleich der, an dem eine begrenzte Vorstellung von Weiblichkeit, die diese auf die Funktion der Vermittlung einer göttlichen Idee, eines Tugend- oder Moralgesetzes, festlegt, überwunden wird. So werden die beiden nun schon mehrfach beschriebenen Vermittlungskonzepte deutlich gegeneinander gestellt: Der geregelten Ökonomie der Geschlechterordnung wird die aufs Ganze zielende Geste der Usurpation und Verwerfung des obersten Signifikanten gegenübergestellt. Indem der Text die Problematik reflektiert, vom Absoluten, von der göttlichen Vater-Figur selbst Zeugnis zu geben, anstatt ein Ereignis in seinem Namen zu bezeugen, hält er dessen Geltung in der Schwebe. »Das Unendliche erscheint demjenigen nicht, der es bezeugt.« 7 2 Der »Garten des Propheten« läßt sich als einer von mehreren heterotopischen Orten kennzeichnen, die Tino und Petrus auf ihrer gemeinsamen Wanderung besuchen. 73 Foucault beschreibt Heterotopien auch als Orte, 71 72

73

Ebda., S. 208. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, S. 3 2 1 . Lévinas schränkt den Zeugnisbegriff sogar ausdrücklich auf dieses aporetische Sich-Hinwenden zu dem eigenen, nicht-repräsentierbaren Seinsgrund ein: »Zeugnis, diese einzigartige Struktur, Ausnahme von der Regel des Seins, irreduzibel auf die Vorstellung — Zeugnis gibt es nur vom Unendlichen.« Ein anderer wäre etwa das Haus der Zauberin Hellmuthe, das, wie etwa auch die jüdische Synagoge, zu der »rissige Steinstufen« (PHB 24) fuhren, nur durch »eine lange, verwitterte Halle« (PHB 32) betreten werden kann, was darauf hindeutet, daß der Weg das Raum- und Zeitkontinuum des Textes nicht einfach durchquert, sondern Risse und Abgründe zutage treten läßt.

123

die mit allen anderen Stätten einer (Raum-)Ordnung verbunden und doch ihr gegenüber überdeterminiert sind. 7 4 Dies ist in der hier betrachteten Szene ganz deutlich, insofern sie den Ursprung der Erzählfunktion und des durch ihr bezeugendes Erzählen aufgespannten Raumes, als an sich undarstellbares Ereignis figuriert. Alle anderen Orte des Buches, alle Stationen der Wanderung, sind mit diesem Ort verknüpft. Die Räumlichkeit der heiligen Stätte, in die sich Tino hier begibt, läßt sich nicht dem durchschrittenen Symbolraum, in dem die Figuren agieren und miteinander kommunizieren, einfügen. Insofern die Szene zudem ein von der Ich-Erzählerin offensichtlich nicht erinnerbares und damit auch nicht kohärent beschreibbares Ereignis umspielt, wird sie darüber hinaus auch aus dem zeitlichen Kontinuum der Erzählung herausgesprengt. Sie deckt damit ein Strukturprinzip des Textes auf, das Chronologie wie Topographie überbordet. Wenn die Szene sich ausgerechnet am Ort eines Grabes abspielt, so deutet dies noch einmal darauf hin, daß die traditionsbildende Erinnerung an die verstorbene Vater- oder Prophetenfigur sich keines festen Bezugspunktes versichern kann. Dies konnte auch schon in der Analyse der Friedhofsszene gezeigt werden. Die Bezüge zwischen den beiden Episoden, deren zentraler Ort jeweils ein »stiller Garten« ist, legen den Schluß nahe, daß auch die Episode >Petrus erprobt meine Leidenschaft den Tod der Titelfigur problematisiert. Das »Grab des Propheten«, so läßt sich folgern, ist das Grab Petrus', dessen Verortung in der gleichnamigen Episode offengehalten wird. Etwa in der Mitte des Buches — lange vor der eigentlichen Friedhofsepisode — wird hier eine Art Bestattung der Titelfigur im Text simuliert. Ihr Grab erscheint als heterotoper Ort, der die Struktur des Textes insgesamt im Kleinen wiederholt. Ebenso wie der Text die narrative Verknüpfung zugunsten einer Verräumlichung oder Heterotopisierung der Ereignisse zurücktreten läßt, ist auch das Verhältnis der Vater- oder Prophetenfiguren, von denen er spricht, nicht als das einer zeitlichen Folge beschreibbar. Christus, Zarathustra, Nietzsche, Petrus und nicht zuletzt Tino erscheinen als unvergleichliche und in ihrer Einzigartigkeit nicht repräsentierbare Grenzfiguren, die sich allenfalls im Modus einer Reihung, einer Wiederholung des Differenten, aneinanderfugen. Damit wird noch einmal der schon früher angedeutete Befund bekräftigt, daß Petrus und Tino weder in einem Hierarchieverhältnis zueinander stehen, noch in einem der Sukzession, etwa bezüglich der privilegierten Rolle, das Gebäude der >Welt< (weiter-)zutra-

74

Foucault: Andere Räume, S. 39—41.

124

gen. 75 Der Übergang von einer Figur zur anderen ist vielmehr diskontinuierlich, und das heißt, durch keinen gemeinsamen Rahmen oder Sinnhorizont vermittelt. So konnte gezeigt werden, daß die entscheidende >Begegnung< der beiden mit einem Distanz- und Selbstverlust verbunden ist, der sie zueinander zugleich in maximale Nähe wie unerreichbare Ferne setzt. Eine ähnliche Konstellation findet sich in einem späteren Abschnitt, der ebenfalls den Tod, oder genauer: das Verschwinden der Titelfigur in eine enge Verbindung mit der Problematik des Erzählens bringt. Er geht der Friedhofsszene voraus und ist, wie die fünf vorausgehenden, mit >Petrus und ich auf den Bergen< betitelt. 76 Damit ist bereits eine Wiederholungsstruktur angedeutet, die die lineare Chronologie der Erzählung aushöhlt. Wurden zuvor noch die wechselnden Stationen der Wanderung aufgezählt, so gerät diese Bewegung hier ins Stocken. Die Hauptfiguren Petrus und Tino werden wie schon in der Szene am Prophetengrab nicht mehr durch die Begegnung mit anderen in verschiedenen Situationen und an unterschiedlichen Orten konturiert, vielmehr fokussiert die Erzählung sie nunmehr allein in der Konstellierung zueinander. So wird jenes unnennbare Ereignis nochmals eingekreist, das die besondere Bedeutung begründet, die sie füreinander als symbolischer Vater bzw. als Zeugin desselben haben. Tatsächlich ereignet sich das Verschwinden Petrus' im Moment größter Nähe der beiden Figuren zueinander. Als Petrus beginnt, eine Geschichte zu erzählen, die auf eine engste Vertrautheit mit Tinos Herkunft und Identität schließen läßt, beginnen die Sprecherpositionen ununterscheidbar zu werden. Die Umrisse der Figuren werden undeutlich. Im selben Moment jedoch, in dem sich die vollkommene Identität der Figuren andeutet, schlägt diese in eine radikal unüberbrückbare Distanz um. In einer der folgenden Episoden, >Ich suche ihnHille-Buch< mehrfach eine Rolle spielt und die bereits durch die Namensgebung thematisch wird, findet offenbar eine Entsprechung in den Heiligen- und Prophetenstatuen, denen im christlich-sakralen Raum ein bestimmter Platz zukommt. Der »Gipfel«, der Petrus von den anderen jedoch unterscheidet, spielt wiederum

das heißt des Phallus, und zwar nicht des Phallus an sich, sondern des Phallus, sofern er einen Mangel/ein Fehlen darstellt.«

128

auf Nietzsches Vokabular an 8 ° und ruft damit jene Bilder der Verkörperung der Welt und des >Über-sich-Hinausgehens< auf, von denen bereits ausführlicher die Rede war. Mit dieser Kontrastierung wird die folgende Szene eingeleitet, die den gekreuzigten Christus ins Zentrum der Betrachtung rückt. Als das Symbol des Christentums schlechthin ist das Kreuz doch zugleich auch fur die jüdische Betrachterin nicht vollkommen fremd oder bedeutungslos. Christus ist, wie Lasker-Schüler in ihren Schriften mehrfach hervorhebt, selbst Jude. 8 1 Als solcher gehört er beiden Religionen an, ohne daß er jedoch als Grenz- oder Ubergangsfigur Verständigung stiften könnte. Aus christlicher Perspektive muß vielmehr die Vorgeschichte und damit das Judentum ihrer Gründungsfigur verworfen werden. Die Geburt Jesu als Sohn Gottes und das Opfer dieses von Gott kommenden und wieder zu Gott gehenden >Lamms< markiert den Ursprung christlichen Glaubens, auf den sich die Gläubigen in Gedächtnisfeiern und Symbolen beziehen. Den Juden, die außerhalb dieses Symbolraums bleiben, wird paradoxerweise die Schuld für den Mord an dem christlichen Gottessohn zugewiesen — paradox deshalb, weil sie damit gleichzeitig als Stifter des zentralen christlichen Symbols wie als Leugner desselben erscheinen.82 In der Passage, in der Petrus und Tino dem Kreuz gegenübertreten, wird das Symbol des Gekreuzigten aus der Fixierung und Eindeutigkeit, die es aus christlicher Perspektive hat, herausgelöst. Dies geschieht durch die Vergegenwärtigung der Kreuzigungsszene, in der der Jude getötet und sein Körper in das christliche Gründungssymbol transformiert wird: »Und am Kreuz harrte der Nazarener; er litt unendlich, so festgenagelt, so blutgenagelt, so hergegeben . . . >Nimm ihn vom Kreuz, nimm ihn vom Kreuz!< - [...].« (PHB 18) Die letzten Worte sind nicht eindeutig einem Sprecher zugeordnet, wahrscheinlich aber als Aufforderung Tinos an Petrus 8

° Vgl. etwa Nietzsche: Zarathustra, S. 48.

81

Vgl. etwa die Auseinandersetzung mit Christus in dem kurzen Text >SterndeutereiMoses und die monotheistische Religion< schreibt Freud über die Durchsetzung des Christentums: »Nur ein Teil des jüdischen Volkes nahm die neue Lehre an. Jene, die sich dessen weigerten, heißen noch heute Juden. [ . . . ] Sie mußten von der neuen Religionsgemeinschaft [...] den Vorwurf hören, daß sie Gott gemordet haben.« Freud räumt diesem Vorwurf insofern eine gewisse Berechtigung ein, als daß er den Gottes- oder Vatermord als Ursprungsmoment jeder Gemeinschaftsbildung erkennt. Er bleibt seinen Lesern jedoch die Erklärung schuldig, »warum es den Juden unmöglich gewesen ist, den Fortschritt mitzumachen, den das [in der christlichen Eucharistie gefeierte, D. B.] Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Entstellung enthielt.« Sigmund Freud: Moses und die monotheistische Religion, in: Studienausgabe, Bd. I X , Frankfurt/M. 1974, S. 455 —581, (S. 581).

i49f.)

129

zu verstehen. Indem der Nazarener als fortgesetzt leidender Mensch in einem Wartezustand erscheint, wird er, dessen Tod dem christlichen Dogma zufolge den Garant für alles Mit-Leiden, fur die Nächstenliebe, darstellt, selbst zum bemitleideten Nebenmenschen. Seine Position als universaler Stellvertreter — er nimmt alle Sünden auf sich — wird in dem Moment geleugnet, in dem das »phantasmatische Szenario«, 83 als welches man die Darstellung seiner Passion lesen kann, aus dem Symbolzusammenhang, der es hat erstarren lassen, herausgelöst wird. Die Paradoxie, den Juden die Schuld für einen Mord anzulasten, ohne den die eigene Religion ohne Fundament wäre, fuhrt auf die Spur dessen, was das Bild des Gekreuzigten als christliches Ursymbol verbirgt: Es erinnert, wie Georges Bataille ausgeführt hat, zwar einen Gewaltakt am Grunde der Ordnung, bettet diesen aber von vornherein in das Feld des Göttlichen ein (indem es sich eben um Gottes Sohn handelt), dem die Gewalt gleichsam nur von außen zustößt. Die radikale Verausgabung in den Überschreitungsritualen älterer Religionen, die die Ordnung insgesamt aufs Spiel setzen, also gleichsam den Vater und nicht bloß den Sohn morden, wird dieser Lesart zufolge im Christentum nicht überwunden, sondern — mit entsprechenden Konsequenzen — verstellt.® 4 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint die Szene des >Hille-BuchsauflebenKreuzabname< etwa oder die bilderstürmerische Zerstörung des Kreuzsymbols — darauf folgte. Sie bleibt, ohne weiter erörtert zu werden, sozusagen im Raum stehen. Der zitierten Aufforderung folgt lediglich ein Gedankenstrich, dem der Satz »Und draußen betete die Erde zur Sonne« ohne Übergang folgt. ( P H B 18) Die Schwelle der Kirche, die die beiden offenbar in dem Moment, den der Gedankenstrich markiert, übertreten, wird so mit derselben nicht-darstellbaren Ambivalenz assoziiert, mit der auch das Kreuzsym83

Slavoj Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien, Berlin, 2. Aufl. 1992, S. 233. Dort heißt es: »Das größtmögliche Opfer, die Kreuzigung, der Tod von Gottes Sohn, ist gerade der äußerste Beweis, daß Gottvater uns mit einer allumfassenden unendlichen Liebe liebt und uns dadurch aus der Angst des >Che vuoi?< [>Was willst Du?ZarathustraIch< in einem Übergangszustand verortet. Vgl. Anm. 1 7 .

137

crus — als Vaterfigur und Namensgeber - das Symbolische repräsentiere, verharrt ihre Lektüre trotz des sprachtheoretischen Vokabulars in dem Deutungsschema des >Hille-Buches< als (autobiographisch grundiertem) Entwicklungsroman. 98 Damit liegt hier auch ein Mißverständnis des Modells vor, das Kristeva in der »Revolution der poetischen Sprache< entwikkelt und auf das auch die vorliegende Arbeit in ihrer methodischen Konzeption immer wieder zurückgreift." Denn während Kristeva und auch Lacan, auf den sie sich in erster Linie bezieht, zwar gelegentlich von einem >vorher< und einem >nachher< sprechen,100 um den Moment des Eintritts in das Symbolische zu kennzeichnen, betonen sie andererseits ausdrücklich, kein Modell einer linearen zeitlichen Abfolge oder Entwicklung liefern zu wollen. Die genetischen Beschreibungen erscheinen damit als heuristische Konstruktionen, die ebenso wie die topologischen Beschreibungsmuster zugleich als unzureichend für die Darstellung eines »anderen Schauplatzes der Schrift< gekennzeichnet werden. So betont Kristeva, daß »das Subjekt immer semiotisch und symbolisch ist«, weshalb »kein Zeichensystem, das von ihm erzeugt wird, ausschließlich >semiotisch< oder >symbolisch< sein« könne, sondern in ihm immer beide Register wirksam seien. 101 In der Eingangsszene des >Hille-Buches< wird zwar ein thetisches Moment im Sinne Kristevas evoziert, dieses wird aber gerade nicht an eine (Vater-)Instanz, geschweige denn auf der Handlungsebene an die PetrusFigur zurückgebunden. Der Einschnitt, der die Subjektgenese wie auch jegliches Symbolhandeln begründet und ihm zugleich entzogen bleibt, ist hier nicht allein, wie es die psychoanalytische Urszene nahelegt, als differenzierender Einspruch des Vaters, als Zertrennen der Mutter-Kind98

95 100

Draguhn schreibt explizit von der »Entwicklung von Tinos Sprachfähigkeit«. Christine Draguhn: Figuren und Zeichen in Else Lasker-Schülers Dichtung, Bonn 1985 (Staatsarbeit, unveröffentlicht), S. 3 2 , 44. Vgl. Kap. II.2.3. Vgl. etwa Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 5 1 . Dort ist vom Semiotischen als einer »Etappe oder [...] Sphäre« im Prozeß der Subjektbildung die Rede. Kristevas Darstellung ist durchzogen von Beschreibungen, die die Existenz einer Zeitachse suggerieren. So erscheint das Semiotische als erste, das Symbolische als zweite Modalität (S. 35), wobei erstere »zeitlich vor dem Zeichen und der Syntax« (S. 40) angesiedelt wird und mit der »Heraufkunft« (S. 5 1 ) der zweiten deren Besonderheit »verdunkelt werde« (S. 51). Insofern ist ihre Beschreibung tatsächlich vielfach mißverständlich und hat nicht zufällig vielen (Fehl-)Lektüren Vorschub geleistet, die in ihr vor allem ein Entwicklungsmodell dargelegt gesehen haben.

' O I Ebda., S. 35. Vgl. hierzu Kap. II.2.3. dieser Arbeit. Z u Lacan vgl. in diesem Zusammenhang Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1993, S. 54: »Was es hier festzuhalten gilt, ist die Tatsache, daß es Lacan letztlich weniger um die Genese einer solchen Konzeption des Ich und des Imaginären geht [...]. So würde Lacan heute seine Ichtheorie sicher nicht mehr mit dem Epitheton >genetisch< versehen.«

138

Dyade durch den hinzutretenden Dritten, zu verstehen. Vielmehr wird er in den Text, als Schnitt-Punkt einer chiastischen Anordnung von Lebendigem und Totem (Erstarrtem, Verstummtem) eingefaltet. Erscheint die Stimme, die sich vom Stein losreißt, zunächst als eine »Stimme-von-jenseits-des-Grabes«, 102 eine Stimme ohne Gesicht und Körper, so ist andererseits der ausgesetzte Körper stimmlos und damit von der Artikulation oder gar Befriedigung seiner Bedürfnisse abgeschnitten. Der »Mord am Körper«, den das »Hereinbrechen der Sprache« Kristeva zufolge als strukturelle Gewalt impliziert, 103 läßt sich nicht auf der histoire-Ebene

des Tex-

tes einholen oder verorten. Zwischen dem vorsprachlichen Körper und der Sprache gibt es keinen kontinuierlichen Übergang und kein Entsprechungs- oder Repräsentationsverhältnis. Als Moment eines der sprachlich konstituierten Identität und Körperlichkeit immer schon eingeschriebenen Verlusts ereignet sich dieser >Mord< vielmehr in den Lücken und Leerstellen des Textes, die sich nicht in ein symbolisches Kontinuum überfuhren lassen. Wenn der Text mit dem Wort »Ich« beginnt, so wird die Identifizierung des hier sprechenden Subjekts durch den beschriebenen Chiasmus zugleich verunmöglicht. Wie Eva Meyer in ihren Überlegungen zum »Chiasmus als Organon der Überschreitung« dargelegt hat, führt die von der Logik verdrängte rhetorische Figur des Chiasmus auf einen »schwierigen Ort« jenseits topischer Repräsentationsmodelle. 104 Die Kreuzfigur, 102

Vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel, in ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt/M. 1993, S. 1 3 1 - 1 4 6 , (S. 141). An einem Text von Wordsworth, >Essays upon Epitaphs«, zeichnet de Man eine doppelte Bewegung nach, in die das tropologische System des Textes verstrickt ist: zum einen den Versuch, dem Toten (Stein) eine Stimme zu verleihen, also mittels Sprache (wieder-) zubeleben, zu re-präsentieren. Zum anderen kann er zeigen, daß der Tendenz des Textes, die Rhetorizität dieser Prosopopöie zu verbergen, unauflöslich an deren Zur-Schau-Stellung geknüpft bleibt. Die Evokation einer (einheitlichen) sprechenden Figur wird ständig durchkreuzt (de Man beschreibt explizit »chiasmische Figuren, welche die Zustände des Lebens und des Todes mit den Attributen des Sprechens und des Schweigens überkreuzen«, [ebda., S. 1 4 1 ] ) von der der Prosopopöie innewohnenden latenten Bedrohung, »daß man nämlich, wenn man den Tod sprechen läßt, durch die symmetrische Struktur der Trope zugleich auch impliziert, daß die Lebenden mit Stummheit geschlagen und in die Gefühllosigkeit ihres eigenen Todes eingefroren sind«. (Ebda., S. 142.) Abschließend stellt er fest: »Sobald wir die rhetorische Funktion der Prosopopöie als eine setzende begreifen, die mittels der Sprache Stimme oder Gesicht verleiht, begreifen wir auch, daß wir nicht des Lebens beraubt sind, sondern der Gestalt und der Empfindung einer Welt, die nur in der privativen Weise des Verstehens zugänglich ist. Tod ist ein verdrängter Name fur ein sprachliches Dilemma [...]«. (Ebda., S. 145.)

103

Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 83. Es handelt sich um das dritte Kapitel ihres Buches: Zählen und Erzählen. Für eine Semiotik des Weiblichen, Wien, Berlin 1983, S. 1 1 5 - 1 4 9 , (S. 126).

104

139

griechisch >ChiIch< lesen läßt, inszeniert eine »Selbstrückbezüglichkeit«, eine Rück-Wendung des sprechenden Ich auf sich selbst und damit auf den uneinholbaren Moment der Setzung seines eigenen Ursprungs. 1 0 5 »Wenn der Chiasmus das Hereinziehen des Jenseits in das Diesseits hypothetisch repräsentiert«, schreibt Meyer, »müssen [ . . . ] topische Repräsentationen [die etwa die Unterscheidung von innen und außen aufrechterhalten, D. B . ] ergänzt werden durch die der Schranke«. 1 0 6 Damit aber wird der Repräsentationsbegriff, in demselben Sinn wie in der de Manschen Diskussion chiasmischer Figuren der Belebung und Symbolisierung, unterlaufen und in einen unabschließbaren Prozeß der Bedeutungsbildung eingeschrieben. 107 Indem der Text >Petrus der Felsen< seine rhetorische Konfiguriertheit zur Schau stellt, entfaltet er also einen Schwellenraum, in dem die Figuren und Orte des Textes nicht eindeutig situiert werden können. Anstatt daß sie in ihren Relationen zueinander beschreibbar würden, werden sie auf eine Konstellation verwiesen, die ihre körperlichen Umrisse und ihre Souveränität als Subjekte als rhetorische und damit kontingente Setzungen kenntlich macht. Daraus läßt sich allerdings nicht folgern, daß hier Subjektivität und Körperlichkeit, zentrale Kategorien eines ideologiekritischen Diskurses, vollständig entwertet und der Macht eines sie immer schon determinierenden Symbolischen ausgeliefert wären. 1 0 8 Ebensowenig wird nahegelegt, sie seien von einem die Sprache souverän handhabenden Schöpfersubjekt als Spracheffekt ohne materielles Substrat beliebig produzierbar. Die Besonderheit des Textes besteht vielmehr darin, daß er die

105 ,o6 107

108

Ebda., S. 1 2 2 , 128, 1 6 5 . Ebda., S. 1 4 3 t Ebda., S. 144. In den Blick genommen werden »die Zwischenräume, als Diskontinuitäten gedacht, die sich niemals eindeutig aufeinander abbilden im Hier und Jetzt eines konkreten Subjekts, um fortan dasselbe Zeitmaß fur die Zeit der Erinnerung und die Zeit der Zukunft als maßgeblich einzusetzen, sondern die sich gegenseitig verschieben, sich in Reihen und Ähnlichkeiten ordnen und das zurückbehalten, was nicht in Erscheinung tritt. Keine Erinnerung an etwas, das einstmals geworden sein muß, sondern lebendiges Werden, bevor es in die tote Ewigkeit des Gewesenen eingegangen ist.« So läßt sich ein Vorwurf, der immer wieder gegenüber poststrukturalistischen Sprachtheorien sowie gegen die Psychosemiotik Lacans vorgebracht wird, reformulieren. Wie jedoch Derridas vielzitiertes Diktum, il n'y a pas dehors texte (Derrida: Grammatologie, S. 274), nicht mit der Deklaration eines »anything goes< oder einer Abschaffung des Subjekts verwechselt werden darf, wie vielfach geschehen, ist auch Lacans Insistieren auf der sprachlichen Verfaßtheit des Subjekts (»die Sprache samt ihrer Struktur existiert, bevor ein beliebiges Subjekt in einem bestimmten Moment seiner geistigen Entwicklung in sie eintritt«), nicht gleichbedeutend mit dessen Unterwerfung unter den Diskurs. Vgl. Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: Schriften, Bd. II, Ölten 1975, S. 1 5 - 6 0 , (S. 19).

140

Figuren und damit auch die Instanz des Ich einem Sprachprozeß aussetzt, der Körper und Zeichen aufeinander bezieht, ohne sie aufeinander abzubilden. Das Zeichen fur die Figur, der Eigenname oder das Wort >IchEthik der Differenz< in der Lasker-Schülerschen Prosa nachgezeichnet wird. In anderen Bibelübersetzungen wird der Abstieg vom Berg durch die weibliche Figur Sulamith motiviert: »Aus dem Libanon, 0 meine Braut, aus dem Libanon lockst du mich; du zwingst mich zum Abstieg vom Amanagipfel«. Vgl. Die Heilige Schrift des Alten

141

wird eng mit der Begegnung der beiden Figuren verknüpft, indem der (stumme) Blick Sulamiths das sprechende Ich — je nach Bibelübersetzung — verzaubert, in Bann schlägt oder beherzt macht. Die Formulierung, das Ich werde durch die väterliche Stimme vom Berg >auserlesenHilleBuch< wie in einer Reihe weiterer Texte Lasker-Schülers eine wichtige Rolle spielt. 1 1 1 Der Begriff verknüpft das Motiv einer göttlichen Wahl mit dem Prozeß des »Er-Lesens«. Seine Polyvalenz ruft zum einen die Assoziation eines Aufsammelns und Findens auf, zum anderen scheint sie auf den textuellen Charakter des wechselseitigen Konstitutionsprozesses aufmerksam zu machen. Sie deutet darauf hin, daß sich Tinos Identität, ihre Einzigartigkeit, weder einem reflexiven Akt der Selbsterkenntnis verdankt, noch einer Bestimmung durch eine ihr äußere Instanz. Die stattdessen insinuierte Bewegung des Aufsammelns ist dagegen an ein Moment des Zu-Falls geknüpft: Tino fällt Petrus im wörtlichen Sinne zu, ohne daß er ihre Herkunft ermitteln oder ihr Kommen nachvollziehen könnte. Dies ist in der Eröffnungsszene bereits angedeutet, wenn davon die Rede ist, Tinos Name sei zerrissen, und die Nacht habe ihre Wege ausgelöscht. ( P H B 9) In einer späteren Episode des >Hille-BuchesPetrus und ich auf der Wanderung< überschrieben ist, wird dieser Zu-Fall Tinos noch einmal ganz explizit thematisiert. Als dort nämlich Petrus von einer Figur namens Onit von Wetterwehe gefragt wird, wer seine Begleiterin sei, 1 1 2 antwortet er: »Ja, das möchtest Du gerne wissen — gefunden habe ich sie — irgend ein fremder, gebräunter Stern hat sie wohl aus der Hand fallen lassen.« ( P H B 1 2 ) Geht Petrus zuletzt »von Welt zu Welt« (PHB 53), so erscheint nun auch die Ankunft Tinos als eine gleichermaßen diskontinuierliche Reise, als Herabfallen von einem anderen S t e r n . " 3 Das Attribut »gebräunt« verweist wiederum auf das >HoheliedPetrus und meine Liebe< etwa besingt ihn die Ich-Erzählerin als einen Schaffenden, der nichts aus sich selbst hervorbringe, sondern fremde Süßigkeiten auflese: »Er ist ein Schöpfer, wie er so hinwandelt lächelnd, lächelnd . . . Ein Schöpfer, und er sammelte in seinen großen Güten den Honig meines Glückes für eine neue Welt, die er auf der Schulter trug.« (PHB 30) Daß hier ausgerechnet Honig

168 169

Vgl. Buber: Die Erzählungen der Chassidim (Vorwort), S. 22Í., 26, 100. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M., 5. Aufl. 1993, S. 300: »Der Prozeß nämlich, in dem Gott sich in sich selbst zeugt, gebiert und entwickelt, gelangt nicht rein in Gott selbst zum Abschluß. Es gibt Stücke des Restitutionsprozesses, die dem Menschen überantwortet sind. Nicht alle Lichter, die in den Kerker der bösen Gewalten gefallen sind, erheben sich von selbst. Es ist also mit anderen Worten der Mensch, der dem Antlitz Gottes die letzte Vollendung gibt, der Gott als den König und mystischen Gestalter aller Dinge erst eigentlich in sein Himmelskönigtum einsetzt und dem Gestalter selbst die letzte Gestalt gibt.« Vgl. hierzu auch Harold Bloom: Kabbalah and criticism, New York 1975, S. 38—43. Z u der Bedeutung der »alten mystischen Vorstellung der Abhängigkeit Gottes vom Menschen« für die Literatur der Moderne vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, S. 7 1 .

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gesammelt wird, fuhrt wiederum direkt auf die Bildlichkeit des >HohenliedsHille-Buch< klingt das erotische Spiel der Geschlechter, das im >Hohenlied< mit dem (fruchtbaren) Land der Bibel verknüpft wird, wiederum nur leise nach. Doch die Verwendung der Motive scheint den strukturellen Impuls des Liebesliedes hier sogar noch zu verstärken. Der Bau der Welt durch Petrus wird davon abhängig gemacht, daß er das Glück der anderen Figur, Tinos, aufsammelt. Während im >Hohenlied< die Liebenden füreinander gleichsam das Gelobte Land sind, in dem Milch und Honig fließen, betont die Passage des >Hille-Buches< die Geste des Sammeins oder Lesens, die zwischen die Figuren tritt und sie doch in einzigartige Nähe zueinander wie zu der Welt als ganzer bringt. Die zitierte Passage, in der Petrus die neue Welt gleich einer AntäusGestalt auf den Schultern trägt, bringt zudem den Körper der Schöpferfigur noch einmal ins Spiel. Wird die Welt einerseits von ihm getragen, so bedeutet sein Tod oder Verschwinden andererseits den Zusammenbruch dieses Lebensraums. Nachdem Petrus offenbar »von Welt zu Welt« gegangen ist, heißt es: »und der Himmel fiel auf die Welt herab in wilden Tränen.« (PHB 54) Zuvor wird Petrus nicht nur, wie erwähnt, mit der Horizontlinie, »die Himmel und Erde vereint« (PHB 12), in Verbindung gebracht, sondern auch als eine Art Säule beschrieben, die über den Mond hinaus in den Himmel emporwachse. (PHB 1 2 ) 1 7 0 Die Säulenmetaphorik aber ist in den kabbalistischen Beschreibungen des Zaddik rekurrent. Der »Gerechte« ist in der Kabbala die »Figur des vollkommenen Menschen« und damit sowohl mit Ursprungsvorstellungen - er ist der >Erstgeschaffene< (Adam Kadmon) — wie auch messianisch aufgeladen. 171 Seine herausgehobene Position läßt ihn an Gott grenzen, er verkörpert einen Aspekt oder eine Seite Gottes und ist somit nicht klar von diesem zu unterschei170

171

Vgl. auch P H B 49: »ich sah, wie schmal seine Schultern waren, aber wie gewaltig sein Haupt stieg, wie ein Ruf aus der Höhe über die Erde. >Mit wem redest Du, Petrus?< Seine Lippen bewegten sich leise gegen Westen. >Ich rede mit dem Fernsten, der mich geleiten wird.Gerechter< ist ihr Name, nach den [irdischen] Gerechten. Und sind Gerechte auf Erden, so wird sie stark, wenn aber nicht, so erschlafft sie, und sie trägt die ganze Welt, denn es heißt: Der Gerechte ist der Grund der Welt. Ist sie aber schlaff, so kann die Welt nicht bestehen. 1 7 3

Der Phallus scheint hier gleichzeitig sterbliches Organ wie Symbol der Allmacht und Unsterblichkeit zu sein. Doch offensichtlich wird die Entgegensetzung von Gott und Welt, sterblich und unsterblich, Körper und Zeichen (Symbol) durchgestrichen. 174 Denn das Bild von der Säule und dem von menschlicher Konstruktionsleistung abhängenden Bau der Welt läßt zwei Modi hervortreten, die sich diesen Entgegensetzungen nicht einfügen lassen. Gott und die Welt - oder auch: Gott als Welt - scheinen entweder existent oder nicht-existent sein zu können, der Zusammenbruch der absoluten Machtposition erscheint prinzipiell möglich. Jenseits der Register von Sein und Haben, die innerhalb des Symbolischen die männliche und die weibliche Position in bezug auf den Phallus bestimmen, wird hier offenbar der Status des Phallus aus seiner Setzung gelöst und in einer ambivalenten Schwebe gehalten. 175 Die Verkörperung der Macht läßt auch ihre Schwäche hervortreten, die nicht nur die Schwäche des (sterblichen) Repräsentanten Gottes auf Erden ist, sondern auf einen Mangel in der Allmacht Gottes hindeutet. So wird plausibel, weshalb die anthropomorphe Gottesvorstellung im Zaddik eng mit dem Motiv der gefallenen Lichtfunken verbunden wird. Der Zaddik ist eine radikale Schwellen- und Übergangsfigur, insofern er das Getrennte (Erde und Himmel) vermittelt, zugleich aber selbst derjenige ist, der einer Trennung oder Spaltung ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß die Kabbala 172 173 174

175

Ebda., S. 9 0 - 9 3 . Ebda., S. 90. Zu diesem Begriff, der auf das ambivalente Zugleich des Setzens und Verwerfens von Bedeutung verweist, das Derrida auch in seinem Konzept der »Ur-Spur« zu umschreiben versucht, vgl. Derrida: Grammatologie, S. 107. Lacan: Die Bedeutung des Phallus, S. 130: »Dies geschieht über das Dazwischentreten eines Scheins, der an die Stelle des Habens rückt, um es auf der einen Seite zu schützen, auf der andern den Mangel im andern zu maskieren«. Vgl. auch Butler: Bodies that matter, S. 62t., 89.

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stark von sexuellen Bildern durchsetzt ist, die unmittelbar auf das göttliche Wesen bezogen werden. Das wird vor allem dadurch deutlich, daß ihm ein weibliches Prinzip, die sogenannte Schechina, hinzugesellt wird. Das >Hohelied< ist vielfach die Matrix fiir die Beschreibungen der >heiligen EheHohelied< Bezug nimmt, eine fundamental subversive Energie am Werk ist, haben Vertreter der monologisch-monotheistischen Dogmatik natürlich nicht übersehen. Wenn Scholem schreibt, die Darstellungen der sexuellen Vereinigung eines weiblichen und männlichen Prinzips (und die zugrundeliegende Vorstellung einer männlichen und weiblichen Produktivität) im Herzen religiösen Schrifttums hätten »den sehr verständlichen Protest der Gegner der Kabbalisten seit jeher hervorgerufen«, 1 7 8 impliziert dies mehr als nur das Wissen um die Prüderie und Weltfremdheit der Hüter des Monotheismus. Es reflektiert, daß deren Legitimationsbasis ins Wanken gerät, wo die Unterschiede, etwa zwischen Männlichem und Weiblichem, sich nicht mehr durch ein übergeordnetes väterliches Prinzip regulieren lassen. Restituieren solche Darstellungen, die im volkstümlichen Chassidismus einen fruchtbaren Boden fanden, körperliche Sinnlichkeit und Anschaulichkeit im Religiösen, so stellen sie doch zugleich die göttliche Allmacht durch die Vision ihrer Verkörperung in Frage. Indem der göttliche Körper, in den Worten Lacans, der Signifikant des >großen AnderenHohelied< die konstitutive Grenze des Monotheismus. Es bleibt zwar auf dessen Horizont hin orientiert, der ihm als heiligem Text Struktur und Sinn verleiht, bettet ihn aber zugleich in einen Prozeß der Zeichenbildung und Verkörperung ein, der den phantasmatischen Grenz-Fall einer Identifizierung des Gotteskörpers in den Blick nimmt. Die Beschreibung des Zaddik als Figur des Phallus, dem gleichsam seine Körperdimension zurückerstattet wird, führt somit über die Feststellung hinaus, er repräsentiere göttliche Autorität. Der Zaddik ist, wie auch der Petrus des >HilleBuchesErfullung< ihres Begehrens nach Vereinigung und Identifizierung entzieht. Die Geste der Abtrennung wird also als väterliche verein168

deutigt, wodurch allein der Mensch, nicht aber Gott als über den Gegensätzen Stehender von der mütterlichen Einheit abgetrennt scheint. Diese Interpretation der ersten Teilung als eine vom Schöpfer-Gott veranlaßte und allein in ihm aufzuhebende ist die theologisch-dogmatische Interpretation des Monotheismus. In der kabbalistischen Tradition wird sie dagegen als Interpretation, und das heißt als kontingente, Ambivalenz in Eindeutigkeit überfuhrende Geste ausgestellt. In der Analyse der Sprache der Liebe als einer >Sprache des ImaginärenHohelied< konstituiert, wurde bereits deutlich, daß die Ökonomie der sexuellen Differenz in diesem Diskurs der Liebenden an seine Grenze getrieben wird. Die Erfüllung der Liebe wird nicht, wie allegorische Lektüren des >Hohenliedes< nahelegen, als eine Vereinigung in Gott, eine Aufhebung des Sexuellen im Kosmischen, gelesen. Die Erfüllung des Begehrens und der Abbruch der Beziehung der Liebenden sind vielmehr nicht voneinander zu lösen. Es läßt sich nun zeigen, daß gleichzeitig mit dem Tod als Gegenpol der (göttlichen) Liebe im >Hohenlied< auch die Figur der Mutter im Text auftaucht. Ebenso wie der Tod als gleichberechtiger Aspekt Gottes und nicht als ein in einer göttlich-ewigen Liebe zu überwindender präsentiert wird, erscheint auch die Mutter nicht als dem Vatergott komplementäre Figur, die mit diesem eine Einheit bildet, indem sie die Geschlossenheit des Symbolischen verkörpert. Die Restitution ihres Ortes im Text produziert vielmehr Lücken und Ambivalenzen, die sein Sinngefüge aushöhlen. Diese Suche nach dem mütterlichen Ort wird auch vom >Hille-Buch< in ähnlicher Weise inszeniert. Im folgenden soll daher wiederum im Vergleich der beiden Texte den texuellen Verfahren nachgespürt werden, in denen sich der Impuls reflektiert, den mütterlichen Raum als Inbegriff des Vor-Symbolischen und daher Nicht-Symbolisierbaren zu verorten. Insofern die sich abzeichnenden Räume sich jedoch gerade nicht mehr als weibliche oder mütterliche (Innen-)Räume bestimmen lassen, wird eine Begehrensstruktur erkennbar, die das topologische System der Texte entgrenzt und die (sexuelle) Begehrensökonomie verausgabt. Dieser Befund legt es nahe, dem Komplex des Mütterlichen andere verwandte Strukturexperimente der Texte an die Seite zu stellen. Die Klammer der Analysen, die in diesem Teilkapitel unternommen werden, bildet daher die Thematisierung dieser Grenze der Begehrensökonomie, die mit dem Aufscheinen eines anderen, ihr nicht subsumierbaren Begehrens zutage tritt. In der Terminologie der Psychoanalyse läßt sich hier von einem >Begehren des Anderen< sprechen, wobei mit diesem >großen Anderen < sowohl auf das Vater-Symbol als auch auf den Körper der Mutter als (wiederum vom Vater monopolisiertes) Sinnbild 169

der Einheit, angespielt wird. Die Frage, was die phallische Instanz als Flucht- und Endpunkt des (menschlichen) Begehrens ihrerseits begehrt, weist über die symbolische Ökonomie hinaus. Denn in dem Augenblick, in dem sie selbst als mangelhafte, ein Anderes außerhalb ihrer selbst begehrende, vorgestellt wird, hält sie das Spiel der Differenzen nicht mehr im Rahmen, sondern wird selbst von ihm affiziert. 1 7 9

3 . 1 . »Was will eine Mutter?« — Inzesttabu und Nullpunkt der Literatur In der bisherigen Beschreibung des >Hohenliedes< wurde betont, daß sich die Liebenden zwar anreden, sich durch immer neue ideale Entwürfe wechselseitig zum Leben erwecken, daß sie in diesem imaginären Modus jedoch nicht zueinander kommen. Dem scheint eine Passage zu widersprechen, in der Sulamith verzweifelt in der ganzen Stadt nach dem Geliebten sucht und ihn schließlich findet. Doch auch hier kommt es nicht zu einer explizit erotischen Annäherung der Liebenden, vielmehr heißt es: » [ . . . ] da fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn und ließ ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus, in die Kammer derer, die mich geboren hat.« (Hld 3, 4) Diese merkwürdige Referenz auf die Mutter der Geliebten taucht noch an drei anderen Stellen auf, worin sich ihre zentrale Rolle für die Dynamik und Strukturierung des Textes bekundet. Immer wieder wird, gerade im Moment großer Nähe der Liebenden, die Mutter als >Gebärerin< in Erinnerung gerufen. Der Ort, an dem der Bräutigam die Braut findet, ist zugleich der, an dem ihre Mutter mit ihr »in Wehen kam«. (Hld 8,5) Ebenso wie der Status desjenigen, der >vom Berg herabsteigt Hohelied < und die ihm verwandte mystische Tradition die von der monotheistischen >Vaterreligion< verdrängten Elemente älterer Mythologien, in denen die »Vorstellung der Großen Mutter« lebendig war, teilweise Wiederaufleben läßt und zu integrieren versucht. 1 8 0 Handelte es sich tatsächlich um die Integration eines Ausgegrenzten, so bliebe der Rahmen des väterlichen Gesetzes intakt, während lediglich das von ihm Umfaßte einer Neudefinition unterläge. Dies ist jedoch im >Hohenlied< und, wie noch zu zeigen ist, auch im >Peter Hille-Buch< gerade nicht der Fall. Das Auftauchen der Mutter geschieht nicht im Sinne einer Restitution ihrer Position innerhalb der dargestellten Ordnung, sondern läßt sich als Symptom fur eine Destabilisierung der Darstellungsfunktion und des Sinns verstehen, die nur solange verbürgt sind, wie die Position des >großen Anderen< ihren Absolutheitsanspruch behaupten kann. Julia Kristeva hat in ihren >Geschichten von der Liebe< bemerkt, daß die berühmte Frage Freuds, »Was will das Weib?«, möglicherweise nur »der Widerhall einer grundlegenderen Fragestellung« sei: »Was will eine Mutter?« 1 8 1 Das Begehren der Mutter bringt das »Abjekt«, wie Kristeva das vom Symbolischen verworfene Andere nennt (vgl. das Lacansche Objekt a), zum Vorschein, indem es die Position des großen Anderen, des Phallus, als eine vorführt, der etwas mangelt. Innerhalb der Logik der Kastration erscheint die Mutter als die, die den Phallus nicht hat, die die Identifikation (durch das männliche Kind) damit verwehrt und zugleich — weil sie das Objekt des Begehrens des Vaters ist — als solches für das Kind verboten ist. Der Grund für die Loslösung des Kindes von der Mutter, nämlich ihr Mangel, wird dieser Szene aber erst mit dem Eintritt in die Symbolordnung nachträglich unterlegt. Wenn Lacan, Kristeva oder Zizek vom »Begehren der Mutten sprechen, so versuchen sie damit eine Dynamik zu beschreiben, die auf jenen Uberschuß zielt, der mit der Aufrichtung der Vaterordnung und der Logik von >Haben< und >Sein< produziert wird und der innerhalb dieser Ökonomie nicht (wieder) angeeignet werden kann. 1 8 2 Es handelt sich um einen Rest, der das Begehren des Subjekts, das nach Lacan immer »das Begehren des An180

Scholem: V o n der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 1 5 6 .

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Kristeva: Freud und die Liebe, S. 4 5 .

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V g l . Kristeva: Freud und die Liebe, S. 4 4 Í . ; Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker, S. 2 3 9 : » W e n n der Name-des-Vaters als die Instanz der A n r u f u n g , der symbolischen Identifizierung fungiert, so markiert das Begehren der Mutter mit seinem unauslotbaren >Che vuoi?< eine bestimmte Grenze, an der jede A n r u f u n g notwendigerweise scheitert.«

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deren« ist, 1 ® 3 da es an dessen Ort entspringt, gleichsam aus der Fassung bringt. Wenn nämlich die phallische Instanz (die zunächst mit der Mutter identisch ist) nicht vollständig in der Funktion aufgeht, das Idealich des Kindes zu begründen, bleibt das Fundament seiner Identität instabil. Das Subjekt kann sich der phallischen Instanz als dem Ursprung und Horizont seines Begehrens dann nicht vollständig versichern, wenn diese als in sich verdoppelte erscheint. Genau dies aber kennzeichnet die >imaginäre< Phase der Identifikation, in der das Kind sein Idealbild von außen, nämlich über die phallische Elterninstanz empfängt, zugleich aber erfährt, daß diese Instanz >nicht eins< ist. Indem sie selbst als begehrende erkennbar wird, ist sie ihrer Funktion, das imaginäre Ich des Kindes zu fundieren, schon nicht mehr vollständig unterworfen. Die Frage danach, wen oder was die Mutter begehre, drängt das Kind zu der Antwort, »die die narzißtische Leere enthüllt: Jedenfalls nicht michPhallus< gerade darauf beruht, daß er als universaler, unteilbarer und einzigartiger Signifikant erscheint, der sich auf die Ordnung als ganze bezieht, dann bringt das Aufscheinen seines Begehrens und seiner Körperlichkeit diese phallische Funktion zu Fall. Die erwähnte Passage des >Hohenlieds< deutet dies an, indem sie das begehrte Objekt von der Geliebten auf die Mutter verschiebt. Der Geliebte, der seinerseits in die göttliche Position gerückt wird, sieht sich an diesem Ort mit einem weiblichen Anderen konfrontiert, zu dem er keine Beziehung herstellen kann. Jenseits der sexuellen Ökonomie deutet sich eine Verdopplung der phallischen Instanz an. Dies bekräftigt der Text auch dadurch, daß es sich um ihre Mutter, die Mutter der Fremden, handelt. Damit scheint eine zweite, matrilineare Genealogie auf, die sich dem väterlichen Gesetz weder unterordnet, noch sich ihm einfach an die Seite stellen läßt. Denn wenn der Phallus die Symbolordnung einfaßt, die die Dinge trennt und in ein Geflecht möglicher Relationen einbindet, so werden diese Identitäten und Verknüpfungen durch das Auftauchen einer zweiten phallischen Instanz 183

184 185

Diese Formel wiederholt Lacan in mehreren Schriften, vgl. z.B. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 165. Kristeva: Freud und die Liebe, S. 45. Kristeva bezieht sich mit diesem Ausdruck, der auf die Negation des Ich infolge der Destabilisierung der mütterlichen Identifikationsmatrix anspielt, auf das Stück Becketts >Nicht ichHohenlieds< unterminiert den Geltungsanspruch des Phallus, indem es ihn imitiert und verdoppelt. 1 8 6 Anstatt väterliches Gesetz und mütterliche Natur, Produktion und Reproduktion gegenüberzustellen, taucht hier ein präödipales Register auf, das weder männlich noch weiblich ist, noch die Gegensätze in sich vereinigt. Kristeva weist darauf hin, daß die Mutterimago als »archaischer Pol der Idealisierung« bei Freud konzeptuell dem »Vater der persönlichen Vorzeit« 1 8 7 entspricht. »Mit den Geschlechtsmerkmalen beider Elternteile ausgestattet«, entspricht er weder dem Phallus als transzendentalem Signifikanten,

noch einem von diesem substantiell Unterschiedenen. Vielmehr

markiert er eine Schwelle, an der die Setzung idealer Ganzheit ebenso wie deren Verwerfung ihren ambivalenten Ort hat. Insofern ist diese erste phallische Instanz nicht als selbst fest konturierbare oder konturierende zu denken, sie deutet vielmehr auf die Performativität und Iterabilität, die dem Symbolischen eignet. 1 8 8 Damit aber werden alle Positionen, die innerhalb des von ihm eingefaßten Raumes festgelegt werden, ihrer Eindeutigkeit beraubt.

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Parallelen zu dem Textverfahren Nietzsches, zu dem von >Zarathustra< beschrittenen W e g >von Gipfel zu Gipfel· ohne vermittelndes Drittes, sind dabei durchaus zu erkennen. In seinem Aufsatz über >die Frau« in den Texten Nietzsches hebt Derrida gerade diese Verdopplung der zentralen Instanz als >weibliches< Verfahren im Sinne Nietzsches und in dessen eigener Schreibweise hervor: »Damit das simulacrum eintritt, ist es nötig, im Raum zwischen mehreren Stilen zu schreiben. Wenn es Stil gibt - insinuiert die Frau (bei) Nietzsche, muß es mehr als einen geben. Zwei Sporen zumindest, so lautet die Bedingung. Zwischen ihnen der Abgrund: hier ist der Anker zu werfen, zu wagen, vielleicht zu verlieren.« Derrida: Sporen, S. 163. Z u dieser »Re-Stilisierung« als Merkmal weiblichen »Schreibens« vgl. Cornell: Das feministische Bündnis mit der Dekonstruktion, S. 297.

187

Freud: Das Ich und das Es, S. 299; Kristeva: Freud und die Liebe, S. 46. Kristeva spricht in diesem Zusammenhang u.a. vom Liebenden als einem »Narziß, der ein Objekt hat«, mit diesem aber gleichsam hysterisch verfahre, sich ihm also in einer perpetuierten Bewegung der Identifizierung und Verwerfung aussetzt. Die erste — phallische — Idealisierung etabliert einen Anderen, mit dem sich das Ich verwechseln kann: »das aber entfernt uns bereits von der primären Befriedigung durch die Mutter und verweist uns auf das hysterische Universum der Liebesidealisierung.« Kristeva: Freud und die Liebe, S. 38. Z u dem viele (feministisch-)psychoanalytisch argumentierende Arbeiten durchziehenden Widerspruch, einerseits das Väterliche und das Mütterliche als geschlechtstypologisch unterscheidbare Instanzen zu betrachten, andererseits aber das ödipale Schema entkräften zu wollen, vgl. Susanne Lummerding: »Weibliche« Ästhetik? Möglichkeiten und Grenzen einer Subversion von Codes, Wien 1994, S. 50: »Konsequent wäre vielmehr ein Ersatz des Mutter/Vater-Schemas an sich. Die Begriffe >Mutter< oder >Vater< für eine solche Ersatzinstanz sind in diesem Zusammenhang daher kontraproduktiv. Aus solch mißverständlicher Begrifflichkeit resultieren meines Erachtens auch Phänomene wie die Mythologisierung von Mutterschaft — wobei die oben angesprochene präödipale/phantasmatische Instanz mit der realen/biologischen Mutter verwechselt wird - ,

188

173

Im >Hohenlied< etwa ist keine der Figuren eindeutig von der jeweils anderen abgrenzbar. Dies wird abermals durch den Hinweis auf die den Text heimsuchende Mutter deutlich, die nicht nur als Mutter der Braut erscheint. So formuliert letztere den Wunsch, der Bräutigam möge zu ihr in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen: »Ach, wärest du doch mein Bruder, an der Brust meiner Mutter genährt!« (Hld 8,1) Mehrmals ist zudem auch in der Rede des Bräutigams von der Braut als »Schwester« die Rede. Die erotische Geschlechterbeziehung wird demnach — durch die Verknüpfung der Geliebten mit der (eigenen) Mutter - auf eine Inzestbeziehung hin überschritten. Die geheiligte, absolute Liebe berührt sich hier mit der inzestuösen, verbotenen. Das Inzestverbot, das der Mythos von Odipus, den Freud als zentralen Gründungsmythos des abendländischen Phallogozentrismus profiliert, als erste gemeinschaftsstiftende Grenzziehung benennt, wird von der dialogischen Struktur des >Hohenliedes< in der Schwebe gehalten. Damit wird dieses Tabu nicht als universelles Faktum präsentiert, wie es Lévi-Strauss in seiner >Strukturalen Anthropologie< versucht, wenn er seine »allgemeine Existenz« in allen menschlichen Gesellschaften behauptet, insofern es die Grundunterscheidung von Natur und Kultur markiere. 189 Es wird vielmehr in seinem Charakter als Einsetzung oder Einschnitt wieder in das Symbolische, dessen Grenze es zu sein vorgab, eingeschrieben. Der mütterliche Körper, den der Text mit dem Moment und Ort der Geburt der Liebenden verbindet, fungiert hier nicht als Zeichen für den Ursprung oder für ein authentisch Natürliches. Zwar markiert er einen privilegierten Ort und den Moment idealer Vereinigung der Liebenden: die regressive Verschmelzung beider im selben Mutterschoß, die totale Identifizierung vor jeder Identität. Doch dieser ideale Ort oder Augenblick erweist sich zugleich als unmöglicher, denn hier kippt die gesamte Ordnung des Bezeichnens in einen nicht-signifizierbaren Abgrund: Die Verschiebung des Verhältnisses zur Mutter, zur Natur, zum Sein als zum fundamentalen Signifikat ist gewiß der Ursprung der Gesellschaft und der Sprachen. Aber darf man auch weiterhin vom Ursprung sprechen? Ist der Begriff Ursprung oder fundamentales Signifikat etwas anderes als eine Funktion, die zwar unerläßlich ist, aber hineingestellt und eingeschrieben in das Bedeutungssystem, das vom Verbot inauguriert worden ist? [...] Selbst das, was wir mit dem Namen Inzestverbot sagen, nennen, beschreiben, kann sich dem Spiel

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welche, als ausschließliches Rollenangebot verstanden, einen Rückfall in die traditionelle Ghettoisierung bedeutet.« Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, Bd. I, Frankfurt/M., 5. Aufl. 1 9 9 1 , S. 6ifif.

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nicht entziehen. Es gibt einen Punkt im System, an dem der Signifikant nicht mehr durch sein Signifikat ersetzt werden kann, und daraus folgt, daß das mit keinem Signifikanten so schlicht und ungetrübt geschehen kann. Denn der Punkt der Nicht-Ersetzbarkeit ist auch der Orientierungspunkt des ganzen Bedeutungssystems; er ist der Punkt, an dem das fundamentale Signifikat als der Endpunkt aller Verweise versprochen und zugleich enthüllt wird als das, was mit einem Schlag das ganze Zeichensystem zerstören würde. Alle Zeichen sagen und untersagen ihn zugleich. Die Sprache ist weder das Verbot noch die Übertretung, sie koppelt sie endlos aneinander. 190 Dieser » P u n k t der Nicht-Ersetzbarkeit« ist der O r t des Phallus, der nicht mehr den idealen B e z u g s p u n k t des Begehrens darstellt, sondern selbst nurmehr als gespaltener erkennbar wird, dessen >Sein< von der ständigen W i e derholung seiner Ein-Setzung a b h ä n g t . ' 9 1 D e r M o m e n t , in d e m die Position der G e l i e b t e n (oder eben des männlichen Liebenden) am O r t der M u t t e r undeutlich wird und sich die A m b i v a l e n z des Liebesdiskurses in einer Szene verdichtet, entzieht sich offenbar der Darstellbarkeit und manifestiert sich, w i e auch die Idealisierungen der Liebenden, als sprachliche F i g u r der Evokation eines u n m ö g l i c h e n Zusammenhangs. V o r diesem H i n t e r g r u n d soll nun die vielleicht merkwürdigste, hermetischste Passage des >Hille-Buches< genauer analysiert werden. Es handelt sich u m den fünften m i t >Petrus und ich auf den Bergen< betitelten A b schnitt, in dem das Verschwinden und die erneute Versteinerung Petrus' thematisiert wird. H i e r spielt sich nicht nur der entscheidende Ü b e r g a n g ab, der Petrus zu einem steinernen Z e i c h e n werden läßt, die Textstruktur wird z u d e m in einer k o m p l e x e n mise-en-abyme-K&nstrüktiori

kondensiert.

Der Episode g e h t Petrus' A n k ü n d i g u n g voraus, er werde demnächst »auf einem anderen Stern« wandeln. ( P H B 49) A l s Tino traurig reagiert, erzählt Petrus ihr, u m sie zu trösten, »Träume und Märchen aus den Städten der G o l d m u t t e r « . ( P H B 49) D a m i t wird bereits ein mütterlicher O r t angek ü n d i g t , den die folgende Episode umkreist. Diese ist u m die K o m p l e x e Tod und M ü t t e r l i c h k e i t organisiert und läßt besonders deutliche A n k l ä n g e an das >Hohelied< erkennen. D i e Erzählung Petrus', m i t der er Tinos M e lancholie angesichts seines offenbar nahen Verschwindens zu vertreiben sucht, läßt sich nicht leicht wiedergeben, da der Text zwischen Figurenrede und kommentierender Erzählstimme wechselt und zudem scheinbar unzusammenhängende Motive aneinandergereiht werden. Vordergründig ist der O r t der Erzählung V e n e d i g , was eine Reihe von Assoziationen zuläßt, ne-

190 191

Derrida: Grammatologie, S. 456. V g l . Butler: Bodies that matter, S. 89: »If the phallus is a priviledged signifier, it gains that priviledge through being reiterated.«

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ben der >Stadt im Wasser« hier vor allem die eines Ortes, der schon früh einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte und an dem Juden und Nicht-Juden durch gegenseitige Handelsbeziehungen einen engen U m gang pflegten. Diese Stadt wird von der Ich-Erzählerin biographisch aufgeladen: A m liebsten hörte ich von der Lagunenstadt, der Lieblingsstadt meiner Mutter; dann stiegen Wohlgeriiche auf, die mich einwiegten. Schon ihre Vorfahren mit dem Zeichen Davids waren die Gäste der Dogen gewesen. »Manchmal dünkt es mich«, sagte Petrus, » D u hast dieselben Augen meines tiefsten Traumes.« A u f seinem Herzen stand er geschrieben mit den Sternenlettern meiner Mutter. ( P H B 50)

Erinnern, Erzählen und Lesen scheinen ineinanderzugleiten, die Unterscheidung zwischen erzählendem Subjekt, erzählter Geschichte und einer Hörerin oder Leserin dieser Geschichte wird zunehmend unmöglich. A n dieser Stelle kommt — zum ersten Mal explizit — die Mutter, ihre Mutter, ins Spiel. Der Erzähler der Venedig-Geschichte gleitet offenbar in die Position ihrer Mutter, deren Sprache ein >Einwiegen< gewesen ist, also eher ein rhythmischer, Geborgenheit und Nähe versichernder Gesang, dessen Bedeutung hinter die Materialität der stimmlichen Artikulation zurücktritt, welche außerdem synästhetisch mit olfaktorischen Eindrücken verknüpft wird. Die Nähe zwischen Tino und Petrus nimmt an dieser Stelle demnach eine dyadische Qualität an: unmittelbares Erleben, Geborgenheit, Einbettung in einen Uberlieferungszusammenhang (»schon ihre Vorfahren [·..]«). Doch diese Erinnerungsspur, die eine weibliche (bzw. jüdische) genealogische Linie verfolgt, welche harmonisch mit der Geschichte der Dogen, den katholischen Patriarchen der Stadt, 1 9 2 verflochten scheint, reißt im folgenden abrupt ab. Offenbar läßt sich die Erzählposition als >mütterlichenormalen< Gesichtsfeld nicht niederschlagen kann. 199 Die Augen von Petrus' tiefstem Traum, von denen in der Passage des >Hille-Buches< die Rede ist, sind zugleich die Augen Tinos. Sie gleitet in die Position seines Imaginären, ihre Augen jedoch sehen mehr als er selbst, ihr Blick konstituiert und zersetzt die Fundamente seiner Identität. Daß schließlich sein Blick ins Leere geht, läßt sich somit als Symptom einer •97 V g l . ebda., S. 258. In der (pathologischen) Spaltung von Ich und Über-Ich sieht Freud Momente der Doppelgängervorstellung wieder auftauchen: »Die Tatsache, daß eine solche Instanz [i.e. die des Gewissens, D. B.] vorhanden ist [...], macht es möglich, die alte Doppelgängervorstellung mit neuem Inhalt zu füllen und ihr mancherlei zuzuweisen, vor allem all das, was der Selbstkritik als zugehörig zum alten überwundenen Narzißmus der Urzeit erscheint.« 198

199

Gert Mattenklott: Das gefräßige Auge, in: Die Wiederkehr des Körpers, hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt/M. 1982, S. 2 2 4 - 2 4 0 , (S. 224). Blanchot: L'espace littéraire, S. 25.

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konsequenten Destabilisierung des mit der Vaterfigur identifizierten Registers des Visuellen lesen: »Und sein Blick versank in Tausendtiefen«. (PHB 50) Die Petrus-Figur wird zu einer steinernen »Gestalt«, einem leblosen Denkmal, das den Zustand vom Anfang des Buches (>Petrus der FelsenHohenliedes< bedenkt, strukturell dieselben Implikationen hat: Die zentrale Position des »großen Anderen< wird durch das Aufscheinen einer zweiten, mütterlichen Instanz verdoppelt und zugleich gefährdet. Hatte ein ähnlicher Schwellenmoment zu Beginn den Eintritt der Figuren in die symbolische Ordnung bedeutet, deren Einsetzen in diesem Moment in der Schwebe gehalten wurde, so ereignet sich nun ein Abbruch ihrer rahmenstiftenden Funktion: »ich stürzte die Berge herab, mir voraus mein Herz, über die Wiesen und Hecken, und ein Turm war mein Kopf; ich konnte mich nicht wiederfinden [es folgen anderthalb Zeilen Gedankenstriche]«. (PHB 50) Hier läßt sich noch einmal ein deutlicher Widerhall des >Hohenliedes< erkennen, in dem der Hals der Geliebten mit dem Davidsturm verglichen wird (Hld 4,4) und es heißt: »Aber als ich meinem Freund aufgetan hatte, war er weg und fortgegangen. Meine Seele war außer sich, daß er sich abgewandt hatte.« (Hld 5,6) Die Vieldeutigkeit des Textes in dieser Passage und in den vorausgehenden Versen legt nahe, daß es sich bei dem weiblichen Gemach, das da geöffnet wird, sowohl um ein einfaches Zimmer, einen topologisch definierbaren Raum, handelt, als auch um einen atopischen Ort, den der Geliebte, weil er als Ort des weiblichen Geschlechts durch Mutterschaft und Geburt 180

überdeterminiert ist, nicht betreten kann. Seine Flucht wäre dann zwingend, ihre Ohnmacht nur ein weiteres Symptom dieser unmöglichen Verbindung, die sich an der Grenze von Sprache und Bewußtsein, an der Grenze auch des Liebesdiskurses abzeichnet. Im >Hille-Buch< wird das Auftauchen eines mütterlich-atopischen Ortes, an dem Identität und Differenz zusammenstürzen, mit dem Moment der Instituierung (s)eines steinernen Denkmals verknüpft. Wenn man diesen Moment als selbstreflexive Geste des Textes, eben als dessen mise-enabyme, liest, wird deutlich, daß die Erzählfunktion hier einer radikalen Unentscheidbarkeit ausgesetzt ist. Der Moment nämlich, in dem der vom Titel indizierte Gegenstand des Textes, der Text insgesamt als Hille-Denkmal, eine feste, erstarrte Form anzunehmen beginnt, erscheint gleichzeitig als unheimlicher Moment einer Ab-Spaltung, die sich sowohl im Eindruck einer Wiederholung (»ich hatte ihn schon einmal so gesehen«) wie auch als Hinabstürzen der Ich-Figur manifestiert. Gleichzeitig werden das »väterliche Prinzip der Trennung und Erstarrung und das >mütterliche< Prinzip dyadischer Verbundenheit und Auflösung von Trennungen aufgerufen, so daß diese als nicht klar zu unterscheidende Aspekte desselben kritischen Moments erscheinen. 200 A n die Stelle der Opposition von Zeichen und Körper, Symbolischem und Vorsymbolischem tritt eine nicht sistierbare Bewegung von Setzungen eines haltgebenden Rahmens und Abspaltungen, die als »Reste der ersten Symbolisierungen« 2 0 1 zu immer neuen Setzungen treiben. Bildhaft verdichtet findet sich diese Bewegung in einer winzigen Sequenz innerhalb der Episode, in der das Venedig-Motiv noch einmal aufgegriffen wird. Als mögliche Umschrift seines »tiefsten Traumes< führt sie noch einmal auf die in Frage stehende Problematik von Erzählen, Erinnern und dem Einsetzen des Sprechens: »Vor seinem Dome steht St. Marco. Die golddurchäderte Marmorpalme zu seinen Füßen entfiel seiner Hand, als er aus seiner Nische trat und die fremde Signora segnete.« (PHB 50) Die Statue des Evangelisten und Stadtheiligen Venedigs, auf den vor allem auch dessen politische Autorität gegründet wurde, 2 0 2 tritt in dieser Szene als verlebendigte aus ihrer Nische, um eine fremde Frau zu segnen. In diesem Moment aber entfällt ihr die Marmorpalme, die offenbar Teil des

200

201 203

Zur Vermischung männlicher und weiblich-mütterlicher Symbolik bei Lasker-Schüler vgl. auch Lersch-Schuhmacher: Zur Allegorese des Weiblichen, S. 6 8 - 7 7 . Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 154. Vgl. Anm. 192.

181

Heiligenbildes ist. 2 0 3 Sie verweist noch einmal auf das >Hoheliedetwas< festhält, ihre Verlebendigung, ist offenbar gleichbedeutend mit der Reaktualisierung ihrer quasi-göttlichen Macht (zu segnen), wie auch mit einem Fallenlassen, das den Verlust der weiblich konnotierten Palme impliziert. 204 Der Segen der väterlichen Autorität, die eine religiöse oder politische Identität stiftet, wird damit zugleich als Moment einer Spaltung und eines Verlusts ausgestellt. Dabei erscheint in diesem äußerst kondensierten Szenario nicht allein die Geste der Vaterfigur als ambivalente — segnend und verwerfend zugleich —, als Symbolfigur wird sie ihrerseits auf den Prozeß ihrer Einsetzung verwiesen. Der Schwellencharakter der Szene manifestiert sich in der Überkreuzung von Belebung und Versteinerung (der Vater-Figur), der ein Gehalten- und ein Fallengelassenwerden auf Seiten der weiblichen Figur entspricht. Damit liest sich die Konstellation als Wiederholung der Eingangsszene. Offenbar ist die hier aufgerufene symbolische Vater-Funktion nicht von einer Reaktualisierung, dem iterierten A k t ihrer Belebung zu trennen. Sie wird in die Position der phallischen Instanz in dem oben erläuterten Sinne gerückt. Diese macht sich als gespaltene kenntlich, indem sie nicht abgelöst von einer alternierenden Bewegung der Setzung und Verwerfung ihre zentrale sinnstiftende Funktion etablieren kann. So wird deutlich, daß die Attribute >männlich< und >weiblich< oder auch >väterlich< und > mütterl i c h hier keiner Figur zugeschrieben werden können. Als oppositionelle erscheinen sie vielmehr in der Szene selbst in der Schwebe gehalten, denn in deren Dynamik artikuliert sich ein »Begehren des Anderen«, das der integrierenden und fundierenden Vaterinstanz nicht subsumiert werden kann, sondern die Bedingungen seiner Möglichkeit erkundet: W e n n der Name-des-Vaters als die Instanz der A n r u f u n g , der symbolischen Identifizierung fungiert, so markiert das Begehren der Mutter mit seinem unauslotbaren >Che vuoi?< eine bestimmte Grenze, an der jede A n r u f u n g notwendigerweise scheitert. 2 0 '

Die Frage »Was will eine Mutter?« wird von der beschriebenen Passage, in der sowohl die Petrus- als auch die Tino-Figur in eine mütterliche 203

204

205

Es ist fragwürdig, ob Lasker-Schiiler hier eine tatsächlich existierende Markus-Statue beschreibt. A m oder im Markusdom gibt es keine entsprechende Figur. Insofern die Palme als »golddurchäderte« erscheint, wird zum einen auf ihre filigrane Körperähnlichkeit angespielt, zum anderen aber auf die in der vorausgehenden Passage erwähnte »Goldmutter«, zu deren Städten Venedig gezählt wird. Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker, S. 2 0 1 . Z u r Erläuterung des >Che vuoi?< vgl. A n m . 83 u. 1 4 2 .

182

Position gleiten, als prinzipiell unbeantwortbare aufgeworfen. Sie manifestiert sich lediglich in einer Destabilisierung der Erzählfunktion, der Grenzen und Referentialität des Textes. So wird das Projekt der erinnernden Repräsentation, das das >Hille-Buch< insgesamt zu verfolgen scheint, auf seine eigenen Bedingungen, seine impliziten Setzungen und Abspaltungen, zurückgeworfen. Die Schwelle zwischen Präsenz und Repräsentation, Körper und Zeichen, wird nicht einfach überbrückt, sondern insistiert als zentrale Kluft im Textkörper selbst.

3.2. Petrus und die Frauen Die beiden Hauptfiguren des >Peter Hille-Buches< lassen sich, wie gezeigt, in kein eindeutiges Verhältnis zueinander setzen. Auch wenn sie nicht ausdrücklich als Liebende beschrieben werden, werden sie Begegnungen ausgesetzt, die sexuell konnotiert sind; auch wenn er als väterlicher Freund und sie als dessen Schutzbefohlene und Schülerin erscheint, wird dieses Verhältnis der Abhängigkeit und Vorgängigkeit immer wieder umgekehrt. 2 0 6 Da das >Hille-Buch< in seiner gesamten Struktur als Denkmal, das von einer Figur für die andere errichtet wird, auf die Beziehung dieser beiden Figuren zueinander ausgerichtet ist, spielen ihre jeweiligen Begegnungen mit anderen Figuren der Erzählung eine untergeordnete Rolle. Im Hinblick auf die hier untersuchte Frage nach den Artikulationsweisen eines >anderen BegehrensTausendundeiner Nacht< erzählt er daraufhin drei Episoden, die sein Verhältnis zum anderen Geschlecht oder genauer: die Unmöglichkeit eines solchen Verhältnisses illustrieren. Dreimal, so berichtet Petrus, sei ihm eine Braut versprochen gewesen. Dreimal jedoch sei es nicht zur »Herzensfeier« gekommen, da sich ihm bereits an deren Vorabend, »in der Zeit der Brautschaft«, das zweite, vielleicht das wahre Gesicht der begehrten Frauen offenbart habe. (PHB 16) Dieses zweite Gesicht ist offensichtlich das Gesicht des Todes. Hinter dem Schleier der Frau verbirgt sich nicht die gerühmte Schönheit, sondern ein Totenkopf: A u s einem Morgenschlummer holten mich seine [eines Kalifen, D. B . ] Sklaven auf einer Karawane weißer Kamele, Brautschau zu halten unter seinen Töchtern. Ihr Schönheit wurde im Lande gepriesen; aber als sie im Geschmeide den Kalifensaal betraten und ihre Schleier lüfteten, fiel ich in eine vierzigtägige Ohnmacht. Sie hatten alle Totenköpfe. ( P H B 16)

Der Schleier, der bis zur Ehe als gesellschaftlich sanktionierte Form kanalisierten Begehrens die Geschlechter unterscheidet und ihren Kontakt untersagt, verhüllt hier nicht das (weibliche) Geschlecht, dessen >Genuß< damit auf bestimmte soziale Rahmenbedingungen eingeschränkt würde, sondern er verdeckt vielmehr den Abgrund des Genießens selbst. 207 Die Szene markiert den Schleier als einen Schirm, der die Geschlechterdifferenz als oppositionelle Struktur einsetzt und aufrechterhält. Er wird in seiner Funktion als Grenze zwischen den Geschlechtern zitiert, um über diese hinaus auf eine andere Grenze zu verweisen: die Grenze des Symbolischen, an der sich das von diesem abgespaltene Andere, das Reale im Sinne Lacans, zeigt. Diese Demonstration des Realen läßt sich jedoch offenbar nicht mehr im Register des Visuellen beschreiben. Während der Schleier als Projektionsfläche erscheint, die das Weibliche (als verhülltes) sichtbar werden läßt, kann der Blick hinter den Schleier keinen Körper mehr fixieren. Die relative Entzogenheit der Frau gegenüber dem männlichen Blick und

207

Vgl. Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker, S. 197: »durch das Phantasma lernen wir, >wie man begehrtChe vuoi?reinen< trans-phantasmatischen Begehrens (das heißt des >Todestriebes< in seiner reinen Form). «

184

Begehren wird durch den radikalen Entzug substituiert, den der Tod für den Sehenden bedeutet: Er kann nicht gesehen werden. 208 Erscheint Petrus in der Rolle des Außenseiters und Grenzgängers, der bürgerlichen Konventionen skeptisch oder ablehnend gegenübersteht, so wird hier doch deutlich, daß sich damit keine Befreiungsvision verknüpft. Sein Blick hinter die Verschleierungen entdeckt kein aus der bürgerlichpatriarchalen Ordnung ausgegrenztes Anderes, das in diese reintegriert werden könnte. Denn das Schleier-Motiv spielt hier offensichtlich nicht auf ein unterdrücktes weibliches Begehren, einen gewaltsam zugerichteten weiblichen Körper an, den es der Unterwerfung unter das männliche Begehren zu entziehen gelte. Petrus wird nicht als Befreier auf der Seite der Frauen modelliert, sondern erscheint diesen im Gegenteil eher als Bedrohung. Nicht zufällig bittet ihn eine der weiblichen Figuren der Erzählung, sein Begehren im Zaum zu halten. Während sie die sozialen Normen und Beschränkungen repräsentiert, tendiert er dazu, sie zu mißachten und dadurch die Ordnung der Geschlechter aus den Angeln zu heben: U n d meine dritte F l a m m e war ein träumendes Prinzeßchen [ . . . ] . D a s bat mich in der Zeit der Brautschaft, es nur alle dreißig Tage zu besuchen. Aber die Sehnsucht trieb mich, einmal vor der Zeit seine Lippen zu küssen — da hatte m e i n Prinzeßchen nur ein halbes Gesicht — es war ein M o n d m ä d c h e n . (PHB 16)

Ähnlich wie in der zuvor zitierten Episode, in der sich der weibliche Körper im Blick Petrus' plötzlich in eine Erscheinung des Todes verwandelt, ist das Weibliche auch hier nicht als solches fixierbar. Es erweist sich als imaginäres Konstrukt, das nur innerhalb bestimmter regulativer Grenzen seinen Status als Körperbild wahrt. Petrus, der diese zeitlichen und räumlichen Bestimmungen mißachtet und sich »vor der Zeit« dem Anderen nähert, findet an seinem Ort wiederum nicht den Körper der Frau, sondern ein »halbes Gesicht«, also einen monströsen, fragmenthaften Körper, der sich dem menschlich-symbolischem Universum nicht einfügen läßt. Das Begehren der Petrus-Figur ist exzessiv, insofern es die Geschlechterdifferenz überbordet und sie auf einen nicht-symbolisierbaren Rest hin öffnet. 208

Dies Oszillieren zwischen der relativen und der absoluten Grenze deutet auf genau die tropologische Operation moderner Texte, die im II. Kapitel der vorliegenden Arbeit detailliert beschrieben wurde. Es sei in diesem speziellen Zusammenhang, in dem die Grenze zwischen den Geschlechtern und diejenige, die die Geschlechterordnung von deren verleugneter Kehrseite trennt, einander angenähert werden, noch einmal auf die Arbeit von Elisabeth Bronfen verwiesen. Die weibliche Leiche interpretiert sie als hochsignifikante Schaltstelle, an der die symbolische Ordnung sich über die »GeschlechterIllusion« immer wieder neu hervorbringt, indem sie das radikale Andere, das Undarstellbare des Todes, überschreibt. Vgl. Bronfen: Nur über ihre Leiche, z.B. S. 56, 84, 2 1 1 .

185

Wenn das halbe Gesicht mit dem Mond in Verbindung gebracht wird, so verbirgt sich hier noch einmal ein Hinweis auf den Charakter des Weiblichen als Reflexionsfläche, die wie der von der Sonne beschienene Himmelskörper kein eigenes Licht produziert. Der anklingende Gegensatz von Tag und Nacht, dessen Verknüpfung mit der männlich-weiblich-Opposition eine lange mythologische Tradition hat, wird hier allerdings nicht auf eine ursprüngliche — männlich konnotierte - Lichtquelle bezogen. Dem Blick, den Petrus auf die Frauen richtet, bietet sich das Andere nicht als vollständig reflektiertes Spiegelbild, sondern als halbes, mangelhaftes. Als solches verweist es auf die Konstruktionsweise des idealen, ganzen Bildes als Effekt einer nur temporären Fixierung durch den > Blick < der Sonne zurück. 2 0 9 Auch die erste Begegnung mit einer Frau, von der Petrus berichtet, wird als krisenhaft darstellt, weil Petrus »am Vorabend der Herzensfeier seine Auserwählte vor ihrer Burg begehrte«. (PHB 16) Die räumliche und zeitliche Entgrenzung seines Begehrens, auf die hier bereits deutlich Bezug genommen wird, ent-stellt nicht nur das Weibliche, sie droht auch, ihn selbst zu verschlingen·, »und in der Schlinge ihres Halses erstickte meine sündige Ungeduld«. (PHB 16) Wird die Erzählung Petrus' zunächst von der Frage initiiert, warum er unvermählt geblieben sei, so öffnet sie schließlich, anstatt einen plausiblen Grund zu liefern, einen Ab-Grund, in den die Geschlechterökonomie sowie die Sinnökonomie des Textes hineinstürzen. Denn die Passage läßt sich nicht nur als Reflexion auf das Verhältnis von Weiblichkeit und Tod sowie auf die Begehrensökonomie, die das Symbolische aufrechterhält, lesen, sie beschreibt auch den Status der Titelfigur, die auf den Text als ganzen verweist. Insofern Petrus als Vaterfigur gestaltet ist, die nicht nur Halt und Orientierung verbürgt, sondern darüberhinaus den gesamten Text-Raum regelrecht verkörpert, betrifft es das Textgefüge des >Hille-Buchesgroßen Anderen< lesen, das aus der Symbolordnung immer schon verbannt sein muß: Der Vater als Name-des-Vaters, reduziert auf die Gestalt einer symbolischen Autorität, ist >tot< (auch) in dem Sinn, als er nichts vom Genießen, von der Lebenssubstanz weiß: Die symbolische Ordnung (der große Andere) und das Genießen sind radikal inkompatibel. 211 Die Passage schreibt also gleichsam ein »Jenseits des Lustprinzips« in den Text ein, indem sie das Register des Visuellen, in dem ein begehrtes Objekt jeweils situiert wird, überschreitet. 212 Dabei tritt der Blick selbst hervor, der dieses Feld organisiert, der aber in ihm selbst nicht gesehen, nicht zum Objekt werden kann. Den reinen Blick, der nicht etwas sieht, sondern die Sehfunktion und die Objektkonstitution als solche betrifft, bringt Lacan mit dem Objekt a in Verbindung. Dieser mit der Urverdrängung, also in dem Moment, in dem eine phantasmatische Matrix für alle Objektbeziehungen eingesetzt wird, abgespaltene Rest bedroht die Stabilität des schauenden oder begehrenden Subjekts, sofern er im Bereich des Symbolischen >insistiertgroßen Anderen< als universalen Bezugsrahmen und ideale Identifikationsinstanz erscheinen läßt. 2 1 4 Das Verschwinden seiner Medialität im Gesehenen lenkt davon ab, daß der Blick der des Subjekts ist und damit das, was er als objektive Gegebenheit präsentiert, das (V)Erkennen seiner imaginären Identität voraussetzt. Die Szenen des >Hille-BuchesPetrus und ich auf den Bergen< (PHB 50), in der ebenfalls die Distanz, die das Feld des Begehrens aufspannt, durch Formulierungen wie »Augen meines tiefsten Traumes« zum Verschwinden gebracht wird. Z u m Verhältnis von Blick und Symbolraum vgl. auch die in Kap. I I . i . erläuterten Ausfuhrungen von Maurice Blanchot. V g l . hierzu auch: Schwering: Imagination und Differenz, S. 40—43. Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker, S. 222. Vgl. die parallele Formulierung Lacans, das Begehren sei immer »das Begehren des anderen«. Vgl. etwa Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 247.

187

legt werden. Das Ideal, mit dem die allmächtige und allwissende Position des großen Anderen gleichsam als Horizont aller Symbolisierungen gebannt wird, ist selbst ein Phantasma: ein »imaginäres Szenario, welches das Leere, die Öffnung des Begebrens des Anderen ausfüllt«. 2 ' 6 Insofern sich Petrus in seiner Erzählung als jemand zu erkennen gibt, dessen Blick ins Leere geht und durch den in der Ordnung des Begehrens ein unheimliches Anderes zutage tritt, ruft er bei seinen Zuhörern eine tiefgreifende Verunsicherung hervor: U n d als Petrus seine Liebesabenteuer zu erzählen beendet [sie!] hatte, versteckten sich die schönen Prinzessinnen hinter den Säulen und N i s c h e n des Saales; d i e Kavaliere lächelten beklommen, u n d selbst seinen Lieblingen bangte. U n d Weißgerte sagte zu O n i t von Wetterwehe: » S a t a n ist e r . . . . Ich furchte m i c h vor i h m . « ( P H B i 6 ) 2 " 7

Aber natürlich verfehlt auch der Versuch, Petrus mit dem Bösen zu identifizieren, die grundlegende Ambivalenz, die dieser Vaterfigur eignet. Gerade weil ihr ein quasi-göttlicher Status zukommt, ruft ihre zutagetretende Komplizität mit dem >ganz Anderen«, das die Basis der Gemeinschaft insgesamt erschüttert, eine Irritation hervor, die sich nicht in den Kategorien von gut und böse fassen läßt. Die Ordnung wird auch am Schluß der Episode nicht wiederhergestellt. Dies wird etwa darin deutlich, daß Petrus die ihm angetragene Rolle eines Priesters, der darüber entscheiden soll, welche Buße welcher Sünde angemessen sei, ironisch zurückweist. Die weibliche Figur Weißgerte nämlich, die mit Petrus zuvor auf die Liebe angestoßen hatte (»wenn D u Dich nicht über sie erhoben hast«, P H B 15), weist sich selbst offenbar die Schuld an der Exzessivität zu, die in Petrus' Rede zum Vorschein kommt. Doch »Petrus-Satan« bietet ihr und damit den Lesern keine entlastende Erklärung, indem auch er »ihre übermütige Rede« für die beunruhigenden Geschichten, die er selbst erzählt hat, verantwortlich macht. Die Schuldfrage bleibt wie auch die Frage nach dem Gegenstand seines Begehrens offen. Weißgerte, die vom Gastgeber Onit von Wetterwehe hatte erfahren wollen, »wer der vergötterte Bettelmann und sein Kind sind?«, und von diesem lediglich darauf verwiesen worden war, es selbst herauszufinden ( » D u wirst es mir bald selbst sagen«, P H B 15), wird so auf ihr eigenes unerfülltes Begehren zu wissen zurückverwiesen. Auf dem Feld der Liebe, auf dem sie Petrus herausfordert, um auf diese Weise sein Begehren und seine Identität zu ergründen, läßt dieser 216 217

Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker, S. 2 3 1 . Vgl. Mk 8,33. Dort bezeichnet Christus Petrus als Satan, da er nicht denke, »was göttlich ist«.

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sich jedenfalls nicht erobern. Deshalb aber wird er von der losen Rede und den Verführungsversuchen der Frau auch nicht wirklich berührt. Durch nichts weist er deren Bedeutsamkeit deutlicher zurück als durch die Empfehlung, die er der Zerknirschten schließlich gibt: »wenn Dich zu büßen sehnt, schöne Fürstin, magst Du mit Deiner kleinen goldenen Zahnbürste die Zinnen Deines Palastes putzen.« (PHB 17) Indem er leichthin das Bedürfnis, ein (versöhnendes) Opfer zu bringen, abwehrt und eine allein weltlicher Pracht dienende, durchaus absurde und komische Beschäftigungstherapie empfiehlt, bekräftigt er noch einmal, daß die von ihm ausgehende Irritation durch keinerlei unterwürfiges oder opferbereites Verhalten seitens seiner Jünger zu heilen ist. Der Grund für seine Ambivalenz liegt nicht im falschen, despektierlichen Verhalten der Mitglieder der Gemeinschaft ihm gegenüber, sondern in ihm selbst.

4. Der Name des Vaters im Körper des Textes Wurde Petrus bisher ausgehend von seiner Rolle als Mentor und namengebende Autorität als Vaterfigur apostrophiert, so konnte doch andererseits gezeigt werden, daß das >Hille-Buch< diese zentralisierende und ordnungsstiftende Position mit ihrer Kehrseite verschränkt. Petrus ist nicht einfach >der FelsenHohenlied< und zu einer Schreibweise des ImaginärenHille-Buch< wesentlich strukturieren und durch die gerade auch der Name Petrus' als Vater-Figur in den Blick genommen wird. Insofern die ausdrückliche Thematisierung der Benennung das Verfahren des Textes noch einmal reflektiert, läßt es sich gut mit den Lacanschen Begriffen beschreiben. Denn dessen Konstruktion des Vaternamens nimmt auf das imaginäre Register, das im Innern des Symbolischen fortwirkt, 189

B e z u g . D e r N a m e - d e s - V a t e r s oder auch i m Plural, die

Namen-des-Va-

t e r s , 2 1 8 markieren eine Stelle i m Symbolischen, an der die B e g r ü n d u n g oder E r ö f f n u n g einer S y m b o l o r d n u n g und die gleichzeitig sich ereignende A b s p a l t u n g eines Symbolisierungsrests strukturell (noch) erkennbar sind. D e r N a m e - d e s - V a t e r s hält die m i t d e m Prinzip des Vaters verknüpften Assoziationen von originärer Z e u g u n g oder H e r v o r b r i n g u n g auf Distanz. D i e Funktion des Namens-des-Vaters ist vielmehr unauflöslich an eine Signifikantenstruktur g e k n ü p f t u n d damit niemals m i t einem >realen< V a ter (einem Familienvater, Mentor, Herrscher, Führer) i d e n t i s c h . 2 1 9

Ob-

gleich dasjenige Seminar Lacans, das sich ausdrücklich d e m N a m e n - d e s Vaters w i d m e n sollte, nur unvollständig gehalten und bis heute nicht veröffentlicht w u r d e , 2 2 0 lassen sich verstreute A u s f ü h r u n g e n zu diesem zentralen K o n z e p t doch dahingehend zusammenfassen, daß der Vatername vor allem ein ambivalentes Phänomen beschreibt. D e r Vatername ist z u m einen der, von d e m >wir alleVater< der Lehre, die nicht auf diesen zurückgeführt und damit vereindeutigt werden kann, verweist. Vgl. seine Bemerkungen in Encore (Das Seminar, Buch XX), S. 75: »tatsächlich bin ich [aus Sainte-Anne, D. B.] nicht ausgeschlossen worden, ich habe mich zurückgezogen, das ist sehr anders, aber das ist mir wichtig, darum geht's uns hier nicht, um so mehr als der Term ausgeschlossen in unserer Topologie all sein Gewicht hat.« Regnault: The Name-of-the-Father, S. 67.

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werden kann und dessen Status als bezeichnender daher selbst nicht legitimierbar und festlegbar i s t . 2 2 2 W i r d seine Funktion, welche zugleich die Voraussetzung fur die eigene (Namens-)Identität ist, in Frage gestellt, »fällt« das Subjekt in ein i m a g i näres Register zurück, in dem die Basis der eigenen Identität immer w i e der gesetzt und verworfen w i r d . 2 2 3 D e r Fall oder A b s t u r z Tinos in der beschriebenen mise-en-abyme-Szene

illustriert ebendiese R i i c k w e n d u n g des

Textes auf die Performativität seiner eigenen Fundierung. A l s Einschnitt in den Textkorpus — markiert durch die sich überstürzenden, aneinandergereihten M o t i v e und schließlich nurmehr durch eine K e t t e von Bindestrichen — teilt er ihn in seinem materiellen A s p e k t , d e m der Signifikanten, von sich selbst. D i e zutagetretende S p a l t u n g ist also eine, die der U n t e r scheidung von Signifikant und S i g n i f i k a t v o r a u s l i e g t , 2 2 4 sie ebenso e r m ö g licht w i e über sie hinausweist. D i e Z u s a m m e n f ü h r u n g Petrus' m i t der Vaterfigur, die an dieser Stelle in das Register des Mütterlichen gleitet u n d d a m i t auf die sogenannte phallische Phase der Identifizierung zurückgeworfen w i r d , zeigt, daß von einer (literarischen) Verkörperung

einer Vater-Instanz im

>Hille-Buch
Gott< apostrophiert) »zurück auf die des Geschaffenen« gehe, »von dem sie subjektiv geschaffen« sei. Damit handelt es sich beim Namen-des-Vaters um eine phantasmatische Setzung, die dem Subjekt vorausgeht und doch aufs engste mit seinem Konstitutionsprozeß verbunden ist: »Die Bedeutung des Phallus, haben wir gesagt, muß im Imaginären des Subjekts durch die Vatermetapher evoziert werden.« Lacan: Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, S. 94 bzw. S. 90.

223

Vgl. Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1990, S. 122: »Durch den Einsturz des Trägers des Symbolischen, des Namens-des-Vaters, verliert das Subjekt die es repräsentierende Ebene der Signifikanten. Es fällt damit in die unvermittelte Dimension zurück, die sich mit gleichem Recht >real< oder >imaginär< nennen läßt«. Zur Verbindung des Freudschen FortDa-Spiels mit der Vatermetapher vgl. auch Lacan: Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, S. 108. Vgl. Lacan: Das Drängen des Buchstabens, S. 32. Über die im folgenden genauer zu erläuternde Metaphernstruktur dieses Zwischenraums heißt es dort: »Der schöpferische Funke der Metapher entspringt nicht der Vergegenwärtigung zweier Bilder, das heißt zwei gleicherweise aktualisierter Signifikanten. Er entspringt zwischen zwei Signifikanten«.

224

191

wodurch die Rahmenfunktion des Titels, sein Bezug zur Einheit des Textkorpus, problematisch w i r d . 2 2 5 So steht in seinem N a m e n , in dem der Text geschrieben ist und von dem er zugleich handelt, diese R a h m e n f u n k tion selbst auf dem Spiel. Das wird nirgends deutlicher als in jenen Passagen, in denen Tino die Rolle zufällt, Petrus mit seinem N a m e n anzurufen und damit die Vaterfigur selbst zu benennen.

4 . 1 . Z u r Metaphernstruktur des N a m e n s Während Petrus in der Eingangsszene des >Hille-Buches< als Benennender erscheint, der Tino ihren N a m e n g i b t , wird diese an einer späteren Stelle aufgefordert, ihrerseits ihm seinen N a m e n zu sagen. Allerdings k o m m t Tino dieser Bitte nicht ohne Vorbehalt nach. A n die Stelle eines Eigennamens tritt in ihrer Benennungsgeste eine Formel, die seine Identität weder bekräftigt noch negiert, sondern offenhält: » N u n sind wir ein Sternenleben zusammen gewandert,« — erinnerte mich Petrus — »und D u hast mir nie meinen Namen genannt.« Und ich sagte: »Jeder Nachtwolke, jedem Tag habe ich Deinen Namen genannt, und die Sonne hat ihm einen Altar gestickt... und einmal wird mich ein Leben Menschen wie Mauern umschließen, die Deinen Namen hören wollen. Und meine Stimme wird ein Ozean sein. Du heißt wie die Welt heißt\« ( P H B 3 8 ) 2 2 6

Dieser Abschnitt ruft auf verschiedene Weise die Benennungsszene in Erinnerung, die bereits im Zusammenhang m i t der Erwählungsproblematik diskutiert wurde. A u c h dort spricht Tino nacheinander die sie umgebenden J ü n g l i n g e — hier sind es die Elemente der äußeren Welt - an, wobei die Reihenstruktur des so Benannten auf einer Distanz zu dem N a m e n Petrus' beruht, der selbst der Szene fernbleibt. H i e r nun nennt Tino der W e l t , indem sie sie in einer adamitischen Sprachgeste benennt, seinen Namen. D a m i t erscheint ihr Sprechen nicht eigentlich als stellvertretendes Sprechen im N a m e n einer göttlichen Instanz. Vielmehr stellt es i m Bezug zur Außenwelt und zu anderen Menschen den Horizont der Welt als gemeinsamen Bezugsrahmen in wiederholten Akten der Namensnennung immer neu her. Der Bezug etabliert sich daher nicht als Referenz auf ein Außersprachliches, sondern als ein performativer sprachlicher Prozeß. D i e darin zutagetretende serielle Struktur der Benennung wird in der oben angeführten Textstelle durch eine Formel supplementiert, die sie noch einmal in kondensierter Form reflektiert. Wenn das angesprochene 225 226

Zur rahmenden Funktion des Titels vgl. Derrida: Préjugés, S. 80—85. Herv. im Text.

192

D u »heißt w i e die W e l t heißt«, trägt es offenbar denselben N a m e n w i e die W e l t . Dieser N a m e w i r d jedoch nicht ausgesprochen, sondern lediglich in der ihn verdoppelnden Formel a u f g e r u f e n . 2 2 7 Sie taucht ihrerseits w i e derholt — insgesamt dreimal — im Text auf, etwa als Tino von anderen nach der Identität Petrus' gefragt w i r d ( P H B 4 0 ) , ohne je durch einen konkreten Eigennamen aufgelöst zu werden. Gerade weil sie ihn suspendiert und seine N e n n u n g aufschiebt, insistiert sein Name und d a m i t das, was durch seine N e n n u n g jeweils auf Distanz gehalten w i r d , in dieser Formel. Diese figuriert die Struktur der Metapher, insofern sie eine Ü b e r tragung von einem O r t oder Bereich zu einem anderen herstellt und dabei doch mehr ist als bloße V e r b i n d u n g oder G r e n z l i n i e . 2 2 8 D i e N a m e n s f o r m e l ordnet Petrus, der i m m e r wieder als Schöpferfigur apostrophiert w i r d , der von ihm geschaffenen W e l t g l e i c h , 2 2 9 ohne daß jedoch dabei die evozierte Identität zwischen i h m und der W e l t sprachlich — eben in einem N a men — realisiert würde. D e r Vergleich, der durch die Partikel >wie< hergestellt w i r d , g i b t sich als »entfaltete M e t a p h e r « zu e r k e n n e n , 2 3 0 gerade weil er durch keinen B e z u g auf ein tertium comparationis fixiert werden kann, sondern allein auf den leeren A k t der (wiederholten) Benennung rekurriert.

227

228

Insofern der Vergleich ohne Benennung des Vergleichsmaßstabes in der Schwebe gehalten wird und der Name der >dritten Instanz< selbst verdoppelt wird, greift Feßmanns Interpretation der Szene zu kurz, wenn sie meint, die Dichtung spreche hier nicht mehr im Namen einer anderen Person, sondern »im Namen der Welt«. Feßmann: Spielfiguren, S. 155. Neuere Metapherntheorien, die die Auffassung, eine Metapher substituiere lediglich eine ursprüngliche, wörtliche Bedeutung, zurückweisen, betonen, daß das innovative Potential der Metapher gerade darin bestehe, daß die beiden in eine Nähe gerückten Bedeutungen weder klar voneinander zu trennen sind, noch vollkommen miteinander verschmelzen, indem etwa die eine die andere vollständig in sich aufnimmt. Eben hierin wird sie, diesen Theorien zufolge, zu einem Paradigma von Text bzw. Sprache überhaupt. Vgl. etwa Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher, München 1986, S. 186: »die Metapher zeigt das Wirken der Ähnlichkeit, weil in der metaphorischen Aussage der Widerspruch auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung die Differenz aufrecht erhält; das >SeIbe< und das >Verschiedene< sind nicht einfach vermengt, sondern bleiben einander entgegengesetzt. Durch dieses spezifische Merkmal wird das Rätsel im Innersten der Metapher bewahrt. In der Metapher wirkt das >Selbe< trotz des > Verschiedenen^«

229

Zur Abgrenzung der (einen) Welt als äußerem Referenzobjekt und der vom Text jeweils konstituierten Welten vgl. Ricoeur: Die lebendige Metapher, S. 2 1 5 : »aufgrund seiner spezifischen Struktur entfaltet das literarische Kunstwerk eine Welt unter der Bedingung, daß die Referenz der deskriptiven Rede suspendiert wird. Mit anderen Worten, im literarischen Kunstwerk entfaltet die Rede ihre Bedeutung als Bedeutung zweiten Grades und zwar durch die Suspension der erstgradigen Bedeutung der Rede. «

230

Vgl. die Ausführungen Ricoeurs zum Metaphernbegriff bei Aristoteles, Ricoeur: Die lebendige Metapher, S. 33f. »Für Aristoteles bedeutet die Abwesenheit eines Vergleichspunkts in der Metapher nicht, daß, wie man von Quintilian an sagt, die Metapher ein verkürzter Vergleich wäre; vielmehr sei der Vergleich eine entfaltete Metapher. «

193

Der Name der zentralen Figur läßt sich damit als ein verräumlichter begreifen, insofern er durch eine Übertragungs-Figur beschrieben wird, die sich, ganz im Sinne des psychoanalytischen Übertragungsbegriffs, über einem entzogenen (traumatischen) Ursprung entfaltet, ohne diesen selbst darzustellen. Eine ähnlich leere Namensformel, die die Identität ihres Referenten allein in einer paradoxen Verdoppelungs-Struktur (ver-)birgt, findet sich im Alten Testament. Dort fragt Moses Gott, wie die Israeliten ihn fortan nennen sollen: [ . . . ] wenn ich nun zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: D e r G o t t eurer Väter hat mich zu euch gesandt! und sie mir sagen werden: W i e ist sein N a m e ? , was soll ich ihnen sagen? G o t t sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. (Ex 3 , 1 3 - 1 4 ) 2 3 1

Auch hier wird kein Eigenname genannt, sondern dieser vielmehr in einer zirkulären, tautologischen Artikulationsstruktur in der Schwebe gehalten. Die Paradoxie, die der Verdopplung der Identitätsbehauptung innewohnt, wird damit im alttestamentarischen Glaubens- oder Symbolsystem an der zentralen Stelle piaziert. Der Name-des-Vaters als Gottesname erscheint als die Um-Schreibung eines nicht-benennbaren Abgrundes. 2 3 2 Der Text des > Hille-Buches* greift diese Struktur in abgewandelter Form auf. Gabe und Entzug des einen Namens, die in der Bibelstelle mit der göttlichen Position verknüpft sind, werden hier mit der zweiten Figur, mit Tino, in Verbindung gebracht. Diese >löst< ihre Aufgabe erinnernden Gedenkens, indem sie den Namen des Erinnerten mit der Totalität des von ihr entworfenen Universums in Beziehung setzt, ohne sie zur Deckung zu bringen. Damit wird sowohl die Benennung des Anderen wie auch die Fundierung der eigenen Sprecherrolle als die einer Benennenden in der Schwebe gehalten.

231

Diese Passage ist in verschiedenen Bibelübersetzungen unterschiedlich wiedergegeben worden. Die angeführte aus der Lutherbibel findet sich etwa auch in Scholems Auseinandersetzung mit dem Gottesnamen. V g l . Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in ders.: Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt/ M. 1 9 7 0 , S. 7 - 7 0 , (S. 1 1 ) . Die Jerusalemer Bibel übersetzt »Ich bin der >Ich-bin-daHebräerlandlch Bin, Der Ich Sein Werde!1 am that I am< — that's a hole, isn't it? A hole [ . . . ] swallows things up, and sometimes spits them out again. What does it spit out? The name, the Father as a name«. In: Ornicar 5, S. 54, hier zitiert nach Regnault: The Name-of-the-Father, S. 7 3 .

194

Im Zusammenhang mit der Diskussion des >Hohenlieds< wurde bereits auf das Ineinandergleiten der Position des (menschlichen) Gegenüber und der des (göttlichen) Dritten hingewiesen, durch das die Sprache der Liebenden charakterisiert ist. In den wechselseitigen idealisierenden Benennungen wird jeweils die vermittelnde Symbolordnung ausgesetzt, der Geliebte verkörpert für die ihn Ansprechende die Totalität ihrer Welt und umgekehrt. So deutet sich an den mit dem >Hohenlied< verflochtenen Textstellen im >Hille-Buch< bereits an, was die Benennungsszene schließlich explizit gestaltet: Der Name der Figuren, die sich auf der Handlungsebene begegnen, und die Funktion, die Lacan den Namen-des-Vaters nennt und die auf das Textganze bezogen ist, werden ununterscheidbar. Die Problematisierung des Namens und der Benennung läßt damit ein dem Text Äußeres, die Figur seiner Grenze, in dessen Raum- und Handlungsgefüge eindringen. Ähnlich wie in der Sprachphilosophie Walter Benjamins erweisen sich die immer wieder anklingenden quasi-theologischen Bezüge auf einen Schöpfergott zu Strukturelementen einer textuellen Selbstreflexivität transformiert. Benjamin bringt den Namen in einen engen Zusammenhang mit dem schöpferischen Wort Gottes, das die Dinge »in ihrem Eigennamen« überhaupt erst hervorgerufen habe. 233 Der Schöpfungsakt wird mithin als ein Ereignis in der Sprache konzipiert, das jedoch der menschlichen Sprache nicht unmittelbar zugänglich, in diese nicht übersetzbar ist. Als »der Nennende«, der selbst nicht der Sprache unterstellt, von Gott »nicht benannt« ist, kann allerdings der Mensch, Benjamin zufolge, einen »innigsten Anteil« an dem schöpferischen göttlichen Wort erlangen. 234 Im Akt der Benennung seiner Welt nämlich wird die Mitteilungsfunktion der Sprache unterbrochen, wodurch diese auf sich selbst »in ihrer absoluten Ganzheit« bezogen wird: »Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt.« »Die Sprache [ . . . ] spricht sich nur da rein aus, wo sie im Namen spricht, das heißt: in der universellen Benennung.« 235 Als Teil menschlicher Sprache verweist der Name auf ein ihr unzugängliches Äußeres, auf den Akt ihrer Einsetzung. Zum privilegierten Zeichen eines Einzigartigen, Nicht-Vermittelbaren, wird er nicht durch die Referenz auf einen bestimmten Menschen, sondern vielmehr durch die in ihm 233

234

535

Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1 9 7 7 , S. 1 4 0 - 1 5 7 , (S. 155). Ebda., S. 149, vgl. auch S. 150: »Der Eigenname ist die Gemeinschaft des Menschen mit dem schöpferischen Wort Gottes.« Ebda., S. 144, 145.

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aufscheinende Grenze sprachlicher Referentialität. Indem er auf die »Gabe der Sprache« überhaupt Bezug nimmt, markiert er den Ort einer Spaltung innerhalb der »endlichen Sprache«, an dem eine »unendliche Sprache« als deren Kehrseite berührt wird. Indem Benjamin betont, daß die Benennungsaktivität des Menschen auf einem Übersetzungsvorgang beruhe (der »Übersetzung des Namenlosen in den Namen«), 230 wird deutlich, daß sich diese andere, unendliche Sprache lediglich in einer Übertragungsbewegung kenntlich macht, ohne je als >etwas< Eigentliches, der Sprache Vorgängiges fixiert werden zu können. Skizziert wird eine sprachliche Aktivität, die die Welt benennt, ohne sie vollkommen anzueignen. 237 Indem der Name sich nicht restlos mit den Dingen verbindet, sondern an einen Übertragungsvorgang — in dem die von Gott eingesetzte, sogenannte »Sprache der Dinge« einen Pol darstellt — geknüpft bleibt, erscheint eine Differenz in ihn eingetragen, die der Sprache als repräsentierender einen irreduziblen Überschuß einschreibt.238 Eben ein derartiger Abstand des ausgezeichneten Signifikanten zu sich selbst aber tritt in der beschriebenen Benennungsformel des >Hille-Buches< zutage. Die in ihr manifeste »Verräumlichung« des Namens kehrt eine Ambivalenz am Grunde der Sprache und des Textes hervor: Es muß benannt werden, und doch ist die im Namen evozierte »eigentliche Bedeutung« immer nur »Schein«. 239 Der Eigenname, wie er sich an der Schwelle dieses Textes präsentiert, läßt sich als eine »Metapher der Metapher« beschreiben, insofern er die strukturellen Bedingungen metaphorischen Sprechens und damit der Möglichkeit der Bedeutungskonstitution qua Sprache zur Schau stellt. Derrida hat in einer Auseinandersetzung mit dem Benjaminschen Essay >Die Aufgabe des Übersetzers< den Ausdruck »ammétaphore« vorgeschlagen, um den »nom de Dieu«, den Namen des Vaters, zu umschreiben: Der Überset256 237

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Ebda., S. 1 5 1 . Vgl. zu diesem Komplex auch Bernd Stiegler: Die Aufgabe des Namens. Zur Funktion des Eigennamens in der Literatur des 20. Jahrhunderts, München 1994, z.B. S. 59; sowie Matthias Waltz: Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre, Frankfurt/M. 1 9 9 3 . Benjamin spricht von einer »Überbenennung« der Dinge in der Sprache der Menschen. Benjamin: Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, S. 1 5 5 . Im Passagenwerk bringt Benjamin die Passage mit dem Namen in eine enge Verbindung, wobei er hinzufügt: »Im Innersten dieser Namen arbeitet der Umsturz«. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. V.2, Frankfurt/M. 1 9 9 1 , S. 1 0 0 1 . Derrida: Grammatologie, S. 162. Dort heißt es explizit: »Das Eigentümliche des Namens entgeht nicht der Verräumlichung [...]. Die Metapher gibt dem Eigennamen seine Gestalt. Eine eigentliche Bedeutung gibt es nicht, ihr >Schein< ist eine notwendige Funktion - die auch als solche analysiert werden muß — im System von Differenzen und Metaphern. «

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zer, der eine Übertragung von einer Sprache in eine andere vornimmt, behandelt beide, so das Bild Benjamins, »als Bruchstücke einer größeren Sprache«. 240 Er ist aufgefordert, ihre Verwandtschaft herauszustellen, sie — wiederum unter Zurückstellung der Mitteilungsfunktion der Sprache — wie die Bruchstücke eines Gefäßes aneinanderzufugen, um so ihrer jeweiligen Besonderheit wie auch ihrer notwendigen Begrenzung Rechnung zu tragen. Doch selbst ein hypothetisches universales Übersetzungswerk müßte die göttliche Sprache verfehlen: das Gefäß (l'amphore) bleibt geöffnet und schließt sich nicht zu einer umfassenden Totalität: La traduction devient alors nécessaire et impossible comme l'effet d'une lutte pour l'appropriation du nom, nécessaire et interdite dans l'intervalle entre deux noms absolument propres. Et le nom propre de Dieu se divise assez dans la langue. 2 4 1

Die Kluft einer Undarstellbarkeit, die von jedem Eigennamen, der vorgibt, eine singulare Referenz zu etablieren, verdeckt wird, tritt in der textuellen Ausfaltung des Namens-des-Vaters als des paradigmatischen Grenz-Falls der Sprache und der Benennung zutage. Peter (Hille) und Petrus sind, wenn sie auch eine Übersetzung (ineinander) herausfordern und in jedem Fall eine Nähe suggerieren, keine identischen Namen. In der Aneinanderfügung, die das >Hille-Buch< durch die Zusammenstellung von Titelname und Name der Hauptfigur unternimmt, bleibt vielmehr eine Differenz sichtbar, die >seinen Namen< als denjenigen kennzeichnet, an dem die Anrufung oder Benennung - wie die oben erläuterte Formel gezeigt hat — ins Leere geht: A m Punkt der Anrufung des Namen-des-Vaters [ . . . ] kann also im Anderen schlicht und einfach ein Loch antworten, das durch das Fehlen der Metaphernwirkung ein Loch hervorruft, das dem Platz der phallischen Bedeutung entspricht. 2 4 2

Der »Platz der phallischen Bedeutung« aber ist, um den Bogen noch einmal zu den zuvor diskutierten Aspekten zurückzuschlagen, in der Lacanschen Terminologie der Platz der Mutter, der nur als von sich selbst differierender gedacht werden kann. Er taucht zwischen phantasmatischer Setzung des (transzendentalen) Signifikanten und dessen Verwerfung, als

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Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV. 1 , Frankfurt/M. 1 9 9 1 , S. 9—21, (S. 18). Jacques Derrida: Des tours de Babel, in: Psyché. Inventions de lautre, Paris 1987, S. 2 0 3 - 2 3 5 , (S. 207); zum Begriff der ammétaphore, vgl. S. 222, 225; zur Konstruktion einer >Metapher der MetapherHille-Buches< nicht überdeckt oder geschlossen, sondern in einem wiederum sehr verdichteten Bild ausgestellt. Dort nämlich schreibt Tino »in die Erde: Er heißt wie die Welt heißt«. ( P H B 57) Sein Name wird also zuletzt in der oben beschriebenen Formel in die Erde eingeschrieben. 243 In die Oberfläche jener (Text-)Welt, die immer wieder mit dem Körper Petrus' in Zusammenhang gebracht wird, wird damit jener Zwischenraum eingetragen, den der ent-faltete Name im Text eröffnet. Die Schreibweise gibt sich damit im Freudschen Sinne als eine bahnende zu erkennen, die — jenseits der mitteilenden, repräsentierenden Sprachfunktion — jenen ersten A k t der Trennung sichtbar macht, der der Trennung von Signifikant und Signifikat immer schon vorausliegt. Läßt sich der Text insgesamt als Versuch lesen, den Namen des Vaters als privilegiertes Zeichen nicht vorauszusetzen, sondern ihn in den Körper des Textes (wieder) einzuschreiben, so wird diese Zusammenführung von Materialität und Sprache in der Schlußszene noch einmal ausdrücklich ins Bild gesetzt.

4.2. Name und Körper Gottes in der Kabbala Das Schlußbild des >Hille-BuchesSt. Peter Hiüe< überschriebenen späteren Essays. Dort heißt es: »Und heute schreibe ich nicht nur auf dem Bogen seinen Namen nieder, ich präge es in die Haut aller Schläfen: er heißt, wie die Welt heißt, Ewigkeit!« (K 690) Die Passage ist insofern nicht so konsequent wie die Szene des >Hille-Buchsin-die-Erde-Schreibens< hier sogar noch radikalisiert, indem das Ich seinen Namen in die Haut >aller< menschlichen Schläfen einprägt. Das im vorausgehenden Kapitel diskutierte Motiv des tätowierten Hieroglyphen taucht hier in abgewandelter Form wieder auf.

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sich die Schreibende beruft, und der Materialität des Weltkörpers, der als ganzer den Namen der göttlichen Figur trägt. Der Name ist dadurch zugleich das Zeichen, das auf den Schöpfer hindeutet, wie der Körper des Schöpfers selbst. Einen möglichen Aufschluß über das hier gestaltete Verhältnis des Gottesnamens zur Materialität der Welt liefert die Spur, die vom >Hille-Buch< zur Tradition jüdischer Mystik fuhrt. 2 4 4 In der beschriebenen Textpassage erscheint der Vater-Name gewissermaßen als Grenzfall der Schrift, insofern er zwar einerseits Signifikant ist, sich aber andererseits nicht als Element einer Signifikantenkette situieren läßt, da er nur als in sich gespaltener genannt oder geschrieben werden kann. Die Bedeutung für das Ganze — die Welt oder das Buch - trägt nur er, aber er trägt sie nur, indem er einen Abgrund, eine Leere in sich birgt. Indem er geschrieben wird, zerteilt sich die Materialität der Welt (oder die Signifikantenstruktur des Buches), deren Grenze damit zwar markiert, nicht aber bezeichnet werden kann. Sein Name, der für die Schrift insgesamt einsteht, läßt sich nicht als göttliches Wort, als reiner Logos begreifen, der die weltliche Materie aus sich heraus schüfe und in dem diese zuletzt aufgehoben erschiene. Der transzendentale Signifikant gewinnt seine Funktion als Garant der Bedeutungsbildung und der Referenz auf Außersprachliches vielmehr nur aufgrund einer Zerteilung, die der Entgegensetzung von Zeichen und Körper, Sprache und Welt vorausliegt. In der Kabbala wird die Tora, also die heilige Schrift, in ihrer Gesamtheit als Name Gottes beschrieben, der sich jedoch weder im Text selbst offenbart, noch ihm gänzlich äußerlich ist. 245 In diesem Namen >spricht< Gott sich selbst, 246 für die Menschen ist er jedoch unaussprechbar, da er 244

Wenn hier und im folgenden vereinfachend von >der Tradition jüdischer Mystik< oder >der Kabbala< die Rede ist, soll damit nicht die Homogenität des schwer eingrenzbaren Korpus der Texte unterstellt werden, die sich diesen Begriffen im weitesten Sinne zuordnen lassen. Scholem bemerkt zu dieser Problematik: »So etwas wie >die Lehre der Kabbalisten< gibt es nicht.« Gershom Scholem: Z u r Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich i 9 6 0 , S. 1 2 0 . V g l . hierzu auch Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1 9 9 8 , S. 3 1 - 3 4 . Insofern es für die Argumentation der vorliegenden Arbeit nicht entscheidend ist, welcher Strömung oder welchem Vertreter der Kabbala eine zitierte Vorstellung zugeordnet werden muß (und welche konkurrierenden Vorstellungen innerhalb dieser Tradition ihr möglicherweise entgegenstehen), sondern lediglich besonders markante und breit rezipierte Bilder und Konfigurationen diskutiert werden, wird hier zur näheren Differenzierung auf die jeweils zitierten Quellentexte verwiesen.

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Scholem: Die jüdische Mystik, S. 2 2 9 . Der Autor des Sohar etwa, den Scholem hier zitiert, betont häufiger, daß das »Ganze der Tora nichts anderes als der eine große und heilige N a m e Gottes« sei, der nicht »verstanden« werden, dessen Bedeutungsftille man sich nur annähern könne.

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V g l . Scholem: Der N a m e Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, S. 1 5 . V g l . auch ebda., S. 44t.: »Der wahre N a m e Gottes [ . . . ] ist eben dieser Urname, eine Offenbarung

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ihnen nicht mitgeteilt wird, sondern nur durch eine Versenkung in die Zeichen, aus denen die Tora besteht, erschlossen werden kann. Denn er erscheint in den Buchstaben geborgen, deren ständig neue Auslegung und Rekombination die Annäherung an den einen Namen verspricht, ohne sie doch jemals einzulösen. Der »Urname Gottes« wird zudem mit der »Gestalt des Alls« identifiziert und immer wieder mit anthropomorphen Körperbildern kosmischen Ausmaßes in Zusammenhang gebracht. 247 Gott, Weltall und Schrift werden so zu einer Einheit, die letztlich kein Außen hat. An die Stelle der Frage nach dem Verhältnis dieser Größen zueinander — etwa der Frage, ob Gott der Welt vorausgeht oder ob er durch die Schrift dargestellt werden kann — tritt damit die Aufmerksamkeit für den Rand dieser Schöpfung, die Gott als Schrift ist. Der Gottesname ist die Figur für diesen Rand. Dies wird besonders in der mystischen Rede vom Gottesnamen als Siegel der Schöpfung anschaulich, durch das diese »in ihren Grenzen zusammengehalten wird«. 248 Ausdrücklich wird der Name sogar am Ort des Horizonts situiert, wenn er mit dem schöpferischen Akt der Teilung von Himmel und Erde in Verbindung gebracht wird. Zugleich heißt es, Gott habe »den Abgrund« aller Schöpfung »verschlossen und mit seinem gewaltigen und gepriesenen Namen versiegelt«. 249 So umfaßt der Name die Totalität der göttlichen Welt, indem er eine Trennung (von Himmel und Erde) vollzieht und gleichzeitig einen Abgrund auf Distanz hält, der das durch die entstandenen Differenzen aufgespannte Universum insgesamt bedroht. Sofern aber der Name nicht auf Gott verweist, sondern Gott sich in ihm offenbart, ist auch er von dieser Abgründigkeit betroffen. Gott ist als Name die Schwellenfigur, die die Verräumlichung der Weltgrenze in sich birgt.

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des göttlichen Wesens, die an sich selbst, nicht an irgend etwas außerhalb von ihm gerichtet ist.« Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 2 1 . Vgl. auch ebda., S. i8f. Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, S. 18. Vgl. auch ebda., S. 23. Ein anderer, von Scholem hier zitierter Mystiker beschreibt die Buchstaben des Tetragrammaton, die Elemente des Gottesnamens, als »die Siegel, die an der Schöpfung angebracht sind und sie vor dem Auseinanderbrechen bewahren. « Ebda. Vgl. hierzu auch dekonstruktivistische Reflexionen über negative Theologie. In einem fiktiven Dialog, in dem unter anderem auf die mystische Struktur des Gottesnamens Bezug genommen wird, schreibt Derrida etwa, der Name exponiere »the mark of a scar in that place where the impossible takes place«. Dieses Ereignis des Unmöglichen, wird näher umschrieben. »[A]n event, if I understand right, that would have the form of a seal, as if, witness without witness, it were committed to keeping a secret, the event sealed with an indecipherable signature, a set of initials, a line [dessin] before the letter.« Jacques Derrida: Sauf le nom (Post-Scriptum), in ders.: On the Name, hg. v. Thomas Dutoit, Stanford 1995, S. 3 3 - 8 5 , (S. 59f.).

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Wenn Gott kein (entzogenes) Absolutes ist, sondern vielmehr die Bewegung einer differentiellen Bahnung der Sprache in ihrem eigenen >KörpereinräumtHille-Buch< einverleibte Datum läßt sich — ebenso wie der Titel — als ein solcher Brücken-Ort lesen, dessen Status als ambivalente Grenzmarkierung vom Text nicht verborgen, sondern erkundet und ausgestellt wird. Damit wird der Text zu einem Denkmal, das, während es ein zu Erinnerndes statuiert, in seiner eigenen Materialität gespalten erscheint. Das Datum, das auch das Verschwinden der Petrus-Figur markiert, weist über die bloße Entgegensetzung von Tod und Sprache, Vergessen und Andenken hinaus. An seiner Stelle zeichnet sich eine Kluft im Innern des Textes ab, die dessen referentieller Funktion ein ihr konstitutives Moment der Verfehlung und des Überschusses einschreibt. Paul Celan hat in seiner Büchnerpreisrede die Frage gestellt, ob es nicht das Merkmal moderner Gedichte sei, des Datums, von dem sie sich herschreiben, eingedenk zu bleiben. Gerade dieser Gestus, so führt er weiter aus, drücke eine Hoffnung aus, nicht nur in allereigenster Sache zu sprechen, den eigenen Ursprung mithin zu hypostasieren, sondern »gerade auf diese Weise auch [...] in eines Anderen Sache zu sprechen — wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache.«268 Diese Reflexionen über das Datum lassen sich, auch wenn Celan selbst von Gedichten ausgeht, 2 0 9 durchaus auf das Schreibverfahren des >Hille-Buches< beziehen. Das Datum hebt sowohl die Einmaligkeit eines Ereignisses hervor, wie es auch — als ein von außen Gegebenes, dem Text selbst Außeres - dessen Enteignung gegenüber dem Sinnvermögen des Textes impliziert. Das vom Datum markierte Ereignis ist damit, wie Derrida in einem Buch »für Paul Celan« betont hat, einmalig im engsten Sinne des Wortes, nämlich als ein Mal, ein Merkmal.210 Wenn in der beschriebenen mise-en-abyme-Passage alle Positionen, das Erzählte und die Erzählfunktion, ineinanderstürzen und sich ein nicht-artikulierbarer, nicht-lesbarer Abgrund im Innern des Textes auftut, so wird das Datum, das unmittelbar darauf folgt und gewissermaßen aus dem Text herausragt, als ein solches Merk-Mal erkennbar. Es erinnert 267

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Dies und das folgende vgl. Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, in ders.: Vorträge und Aufsätze, Bd. II, Tübingen 1967, S. 2 6 - 3 3 . Paul Celan: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Darmstadt, am 22. Oktober i960, in: Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt/M., 3. Aufl. 1983, S. 4 0 - 6 2 , (S. 53). Ausgangsbeispiel Celans ist der von ihm selbst im Gedicht aufgegriffene >20. Jänner< in Büchners Lenz. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 1986, z.B. S. 4 1 .

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nicht ein bestimmtes Geschehen, sondern einen Einschnitt, von dem der Text seinen Ausgang nimmt und der ihm als Mal oder klaffende Wunde eingeschrieben bleibt. Derrida spricht vom Datum auch als einem »Grabstein über dem Ereignis«. 271 Als solcher verdeckt es das Unnennbare des Todes und markiert es zugleich. Insofern die Episode den gesamten Text des >Hille-Buches< auf einen (Null-)Punkt konzentriert und bündelt, der Fluchtpunkt und Abgrund zugleich ist, infiziert sie auch die anderen Abschnitte, den Handlungsablauf sowie die Figuren mit einer nicht reduzierbaren Ambivalenz. Weder ist Petrus alias Peter Hille als Gegenstand der Erzählung faßbar, noch widmet diese sich in erster Linie der Beschreibung seines Todes und Verlusts. Der vom Text immer wieder herausgestellte Mangel des >großen Anderen< macht sich vielmehr auf jeder Ebene des Textes geltend. So läßt sich das Buch insgesamt als Denkmal lesen, das auf die Problematik seiner Aufrichtung, auf die Problematik von Erinnerung und Überlieferung, verweist, indem es die Ambivalenz seiner Gründungsfigur und damit die Rhetorizität der Geste der Selbstbegründung hervorkehrt. Dies geschieht vor allem dadurch, daß die Materialität des Textes immer wieder hervortritt. Das Textkorpus präsentiert sich nicht als ein homogenes Gefuge von Signifikanten, das eine Lektüre herausfordert, vielmehr scheitert die (hermeneutische) Lektüre an jenen Einschnitten, die die Signifikantenkette durchschlagen und die einzelnen Signifikanten spalten. Nicht zufällig stürzt die Narration an der Stelle ab, an der der Körper der Mutter an der Oberfläche des Erzählten zu erscheinen beginnt. Scheint dieser zunächst eine vorsprachlich-körperliche Symbiose und damit eine Unmittelbarkeit des Austausches und der Berührung zu versprechen, so wird hier der imaginäre Charakter dieser Ursprungs- und Vereinigungsvision demonstriert. Wo Körper und Sprache sich berühren, kündigt sich keine Erfüllung an, vielmehr klafft eine Lücke, die die Unzugänglichkeit des (mütterlichen) Körpers zur Schau stellt 272 und den eigenen Ursprung zwischen (mütterlichem) Körper und (väterlicher) Benennung in der Schwebe hält. 271 272

Ebda., S. 26. Butler hat den abgespaltenen, verworfenen Fremdkörper des Objekt a mit dem undarstellbaren Körper der Mutter in Verbindung gebracht, wodurch sie genau die unauflösliche Ambivalenzbeziehung zwischen entzogenem (mütterlichen) Körper und väterlicher Verkörperung des Gesetzes beschreibt, in die sie im >Hille-Buch< gesetzt werden. Vgl. Butler: Bodies that matter, S. 70: »The materiality of the signifier is thus the displaced repetition of the materiality of the lost maternal body. [ . . . ] To the extent that the referential impulse is to return to that lost originary presence, the maternal body becomes, as it were, the paradigm of figure for any subsequent referent. This is in part the function of the Real in its convergence with the unthematizable maternal body in Lacanian discourse. The Real is that which resists and compels symbolization.«

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IV. Souveränität und Maskerade

Im Nichts - wer steht da? Der König (Paul Celan) Der Herr ist König, bekleidet mit Hoheit (Psalm 9 3 )

ι. Der König ist tot, es lebe der Dichter! - Zum Topos des Dichtersouveräns Else Lasker-Schüler war fur ihre Zeitgenossen und ist in der Vorstellung vieler bis heute der »Prinz von Theben«. Ihre Selbststilisierung als Herrscher über ein imaginäres Reich, als Dichterin im Fürstenstand hat sie auf allen ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksebenen derart konsequent und variationenreich durchgehalten, daß tatsächlich ihr Bild als Autorin mit ihrer privilegierten Maskerade als »Prinz Jussuf« verschmolzen ist. Einige ihrer Zeichnungen, die mit »Selbstbildnis« betitelt sind, sowie zahlreiche Skizzen, mit denen sie Briefe und Manuskripte ausschmückte und ergänzte, zeigen die Jussuffìgur mit ihren typischen Herrschaftsinsignien wie Kriegsschmuck oder Sternenmantel. Diese Bilder illustrieren vielfach Szenen der Prosatexte, die den Prinzen, der später in die Position eines Malik (arab. für König) oder auch des Kaisers über Theben erhoben wird, charakterisieren: Als kämpferischer Krieger tritt er auf, aber auch als »Liebeskaiser«, dessen Wange Herzen oder Blumen zieren. Vor allem in den Briefen, die immer wieder um die Identität des schreibenden Ich kreisen, wird die Verflechtung von Autor-Ich und Ich-Figuration besonders anschaulich. In diesen an reale Personen versandten und keineswegs bloß fiktiven Texten werden Schreiberin und Maske nie ausdrücklich getrennt. Das Leben, aus dem den verschiedenen Briefpartnern viele Details mitgeteilt werden und dessen existentielle Sorgen und Nöte häufig Anlaß und Thema des Briefes sind, ist immer schon und zugleich das Leben Jussufs. Sein Aufenthaltsort, der Ort des Absenders also, ist die Herrscherresidenz (in) Theben: »Nichts [im Ν ein Stern] haben Franz Werfel und ich gesprochen als Gedichte und als er gegangen war sang mein Palast 209

noch.« (BI 93) Dabei werden mehr oder weniger deutlich rekonstruierbare Daten aus dem Leben Lasker-Schülers umstandslos in den >königlichen< Bericht eingestreut. So etwa in einem Brief an den Verleger Kurt Wolff: Ich hab so lang gezögert, aber nun schreib ich doch. Es sieht so aus, als ob ich nun Feste in Theben geben könnte, aber mein [sie!] Tribute sind in Wien im Geldturm [...]. Sie sind so feinfühlend und ich der Prinz von Theben bittet Sie mir für das Essaybuch das Honorar zu senden [...]. (BI 100)

Auch den Literaturwissenschaftler Richard Meyer erreicht ein postalischer »Überfall« des sich mit »verehrenden Ceremonien« empfehlenden Prinzen von Theben: Da Sie, verehrter Professor, nun einmal Sich um meine Stadt, (ich bin regierender Prinz, kein einfacher, hergelaufener Bürger) bekümmert haben, meiner [sie!] Stadt Theben mit einem handschriftlichen Schreiben beehrt haben, so erlaube ich mir Sie zu fragen, wollen Sie es der Schillerstiftung klar machen? [ . . . ] Ich will Sie aber auf die Sieges-Säule meiner Stadt stellen - es sollen Ihnen Feste gegeben werden [ein Stern] und immer sollen Teppiche von den Dächern meiner Stadt hängen, wenn Sie die betreten. Also kann nie genug Tribut bezahlt werden meiner Stadt und Mir der Repräsentation wegen. (BII 5 1 )

Die Sicherung der Existenz, um die es in den zahllosen kaum verhüllten Bitt- und Brandbriefen Lasker-Schülers geht, wird hier wie in vielen weiteren Beispielen als Aufrechterhaltung eines fürstlichen Status modelliert. Indem auf Geld selten anders denn als Tribut Bezug genommen wird, den es entweder »freiwillig« zu zahlen oder aber mit Gewalt einzutreiben gilt, 1 wird es seiner Funktion als universales, von allen Vertrags- oder Verhandlungspartnern gleichermaßen akzeptiertes Tauschmittel entkleidet. 2 Geld wird in Lasker-Schülers thebanischem Kosmos grundsätzlich nicht verdient, sondern gegeben, verschwendet und geraubt: »ich raube nur für mich, für meine Feste für meine Damaste und bin frei.« ( B K K 4 1 ) Die faktische Abhängigkeit der freischaffenden Künstlerin von Honoraren, Engagements zu Lesungen und Verträgen mit Verlegern wird dabei implizit geleugnet, denn der Prinz oder König schließt keine Verträge, und sein Handeln läßt sich nicht als Arbeit kategorisieren, da er nicht den Regeln einer bürgerlichen Ökonomie unterworfen ist. Wie bei richtigen Königen korrespondiert der monarchischen Ausnahmestellung gegenüber den Gesetzen der gesellschaftlichen Mängelverwaltung und Güterverteilung eine andere Sprache, die Sprache der Könige.

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2

In einem Brief an Karl Kraus heißt es: »Ich bin von N a t u r Räuberhauptmann, jedes Geschöpf muß mir freiwillig oder gewalttätig Tribut zahlen.« ( B K K 4 1 ) Feßmann: Spielfiguren, S. 2 1 5 .

2IO

Diese ist nicht den (Sprach-)Gesetzen eines jeweiligen Landes unterworfen, die ihren höchsten Repräsentanten im König finden und ihre Legitimität von ihm ableiten, sie müssen vielmehr ihrerseits ohne eine übergeordnete Vermittlungsinstanz und ohne ein ihrem Austausch vorausliegendes Regelsystem auskommen. Im Umgang mit den Briefpartnern steht daher häufig weniger der Austausch von Informationen und Meinungen im Vordergrund, vielmehr wird der briefliche Kontakt selbst immer wieder zur Disposition gestellt. Es geht weniger um Formen der Kommunikation, um Verständigung und Vermittlung, als um den Akt der Begründung oder des Abbruchs einer Beziehung. Karl Kraus wird einmal mitgeteilt: Ich will nicht behaupten, Sie können meine Schrift lesen -

namentlich dann

wohl nicht wo sie zu Hieroglyphen wird. [ . . . ] Ich bin nicht zu versöhnen, Sie brauchen keine Angst haben. Ich mache mir nie eine Ehre aus etwas. Ich erkläre hiermit - : unsere freundschaftlichen wie diplomatischen Beziehungen für erledigt. Der Prinz von Theben. ( B K K 40)

Da nach der Verkündung dieses königlichen Beschlusses der Briefwechsel keineswegs wirklich eingestellt wird, tritt die Geste der Etablierung oder des Abbruchs eines sprachlichen Kontakts gegenüber der Mitteilungsfunktion von Sprache hervor. Die Anrede eines Kommunikationspartners als »König« deutet auf einen wechselseitigen Respekt, der ohne einen gemeinsamen Verstehenshorizont auskommt. Kurt Wolff etwa wird fast durchgehend mit dem Königstitel, der vielfach den Namen ganz verdrängt, angesprochen. Die ihm gegenüber sehr deutlich inszenierte Selbsternennung zum König (»Ich bin seit einigen Tagen König geworden«, B I 95) wird dadurch in ein besonderes Licht gerückt. In der königlichen Ebenbürtigkeit spiegelt sich nicht nur die Zurückweisung einer einseitigen Abhängigkeit, sondern auch die Abwehr von Verbriiderungs- oder Verständigungsversuchen, die jene unüberbrückbare Differenz, die zwischen zwei Souveränen und deren Herrschaftsbereichen notwendig besteht, mißachten. 3 Als Ehrentitel und Auszeichnung ist der Königsname bei dem Freund Senna Hoy (alias Johannes Holzmann) zu verstehen, den LaskerSchüler 1 9 1 4 vergeblich aus einem russischen Gefängnis zu befreien versucht hatte, bevor er dort starb. Im Sinne eines Nachrufes beschreibt sie ihn anschließend: »Er war ein König und er mußte regieren und fand das 3

Einem anderen ihrer Verleger, Alfred Flechtheim, nahm Lasker-Schüler dessen Versuche übel, sich mit ihr über die Feststellung ihrer gemeinsamen jüdischen Identität zu verbrüdern: »>Wir sind gleichen Blutes, Prinz von Thebens brüllte er mich bei jeder Begegnung schon von weitem an.« (IRA 509) Später konstatiert sie, die Kategorie des Blutes in ironischer Absicht aufgreifend: »unsere Blutuntersuchung ergab völlige Ungleichheiten. « (IRA 5 1 5 )

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Heer nicht seinesgleichen, das ihm treu geblieben wäre. Ein heiliger Feldherr, der fur seine Sache für sein Blut und fur die gepeinigte Menschheit in den Tod ging.« ( B K K 66) In überschwenglichem Pathos, das den Gepriesenen hier zu einer Christusgestalt werden läßt (»Man trug Jesus zum zweiten Mal zu Grabe«, B K K 66), wird er zu einer jener Ubergangsfiguren der Vorstellungswelt Lasker-Schülers, wie sie im vorhergehenden Kapitel beschrieben wurden.4 Zwar deutet die explizite Evokation des christlichen Opfermotivs in diesem Zitat in einer fiir Lasker-Schiiler eher untypischen Weise auf die Figur des stellvertretenden Opfers eines einzelnen fur die menschliche Gemeinschaft, aber die Modellierung dieses Selbstopfers als Wiederholung jenes theologisch-symbolischen Gründungsaktes läßt eine signifikante Bearbeitung der zitierten Figur erkennen. Im christlichen Kreuzsymbol taucht der Königstitel explizit auf: Die Inschrift I N R I steht für die von den Kreuzigern höhnisch gemeinte Benennung: Jesus Nazarenus Rex Judaorum. Der König der Juden, der als solcher bereits bei seinem Einzug nach Jerusalem von den Jüngern angerufen worden war (Lk 19,38), gebietet nicht über ein weltliches Königreich, sondern wird, als Sohn des >Königs der Könige« (Ps 96;97;99), zum Vermittler zwischen irdischer Existenz und himmlischem, ewigem Reich. Lasker-Schülers Anklageschrift gegen ihre Verleger, >Ich räume auf!Aufräumen< zitiert unverhüllt die neutestamentarische Geschichte: »Mein Entschluß steht unerschütterlich fest: Aufräumen! Heißt er: Die Händler aus dem Tempel jagen! Denn die Kunst ist uns Dichtern aller Künste ein teures Heimathaus.« (IRA 517) 5 Die Raummetaphorik spielt in diesem Essay eine zentrale Rolle. Poetologische Reflexionen artikulieren sich in dem Kampf, den das Ich gegen alle >unkünstlerischen< Elemente fuhrt, die das Haus, den Tempel oder einfach den Frei-Raum der Kunst bedrohen. Dabei stellt sich die Frage, wie das Haus oder der Tempel der Kunst, der hier gegen fremde Vereinnahmungen verteidigt wird, strukturell kon-

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Dafür spricht auch eine weitere Benennung, die sie für den Verstorbenen findet: »ein großer, gewaltiger Engel«. ( B K K 72) Vgl. außerdem: »Was haben wir Dichter mit Händlern zu tun« (IRA 527); »Ich will aufräumen, säubern unsern Tempel mit der reinen Quelle des Zornes« (IRA 541); als illegitime »Einbrecher« in den Tempel der Kunst werden außerdem »Kitsch« und »der Kunstgewerbliche« genannt: »Schlägt seinen duftenden Bazar auf im Vorhof unseres heiligen Hauses.« (IRA 548) Zum Vergleich die Bibelpassage: »Und Jesus ging in den Tempel hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß die Tische der Geldwechsler um und die Stände der Taubenhändler und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): >Mein Haus soll ein Bethaus heißem; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus.« (Mt 21,12t)

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zipiert ist. Zunächst scheint es, als handele es sich um den Versuch, einen sakralen Bereich zu restituieren, der in der modernen Gesellschaft negiert oder vom Warenfetischismus okkupiert worden ist. Hierfür spricht die Verknüpfung des Künstlerischen einerseits mit dem Königtum, andererseits aber mit dem Priesteramt. Beide Figuren sind bei Lasker-Schüler nicht voneinander zu trennen: »Es soll der Dichter mit dem König gehen. Natürlich kulturell zu verstehen. Darum fühlen wir Dichter aller Künste uns auch nur unter uns geborgen. [ . . . ] Sind wir Dichter der Künste etwa nicht Priester?« (IRA 5 4 5 - 5 4 7 ) Im Konzept eines Priesterkönigtums kommt eine Souveränität zum Ausdruck, die sowohl demjenigen eignet, der privilegierten Zugang zum Heiligtum hat, als auch dem, der die höchste gesellschaftliche Macht innehat. Beide Funktionen, die jeweils die weltliche Ordnung auf eine göttliche Legitimationsinstanz transzendieren, werden von den israelitischen Königen des Alten Testaments verkörpert. So verwundert es nicht, daß Lasker-Schüler auf »Propheten und die großen Könige« ( I R A 526) Bezug nimmt, um ihrem Konzept des Dichtersouveräns Kontur zu verleihen. Im Vordergrund steht also nicht so sehr die Behauptung eines sich vom Politischen absetzenden Raums der Kunst. Mit den Priesterkönigen tritt vielmehr jene Sakralität hervor, deren >Mehrwert< der Gesellschaft als Sinnquelle dient, die aber auch zum Ausgangspunkt einer Subversion ihrer Gesetze und Hierarchien werden kann. 6 Mit diesen beiden Polen — Legitimation und Sinnstiftung einerseits, Subversion andererseits — ist zugleich der Ort der Kunst bezeichnet, deren Geschichte sich auch als Geschichte der Souveränität schreiben läßt. 7 Die Figurationen des Künstlers als König über ein »Land Dichten« ( B K K 82),® die die Lasker-Schülersche Poetologie bestimmt, deutet zunächst auf eine Tradition, die mit dem Kunstprogramm der Avantgarden, in deren zeitgenössischem Kontext sie zu verorten ist, 9 endgültig verab6

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Vgl. Rita Bischof: Souveränität und Subversion. Georges Batailles Theorie der Moderne, München 1984, S. 23. Vgl. ebda., S. 28f.: »die Nähe von Poesie und Souveränität war immer schon gegeben. Die Poesie hat Anteil an der Geschichte der Souveränität, mit der sie gleichursprünglich ist. Entstanden im Schatten der archaischen Souveränität hat sie sich zunächst als eine der Formen des Sakralen entwickelt.« Vgl. auch die Formulierung an anderer Stelle: »Ich kann eingehn in mein Dichttum, wie groß ist mein Dichttum, tausende Morgen und Nächte groß«. ( B K K 2 1 ) Vor allem ihr Briefroman >Mein Herz< liest sich geradezu als Programm einer avantgardistischen Bohemeexistenz: »Ich erlebe alle Arten des Herzens, nur den Bürger nicht« (MH 381); vgl. dazu Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1 9 7 1 , S. 1 2 8 - 1 3 4 .

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schiedet schien. Deren K r i t i k richtete sich g e g e n einen K u n s t b e g r i f f , der aufs engste m i t der bürgerlichen Gesellschaft verflochten war, insofern er beanspruchte, ihre ideale Form zu entwerfen. D e r Künstler, der aus d e m Bann monarchischer M a c h t herausgetreten war, die zu verherrlichen oberstes Z i e l seiner K u n s t gewesen w a r , 1 0 rückte selbst an den Platz, den zuvor der K ö n i g besetzt hatte. Seine A u f g a b e , von der sich sein privilegierter Status ableitete, bestand darin, stellvertretend einen Z u s a m m e n h a n g

zu

gestalten oder sogar zu verkörpern, der über die gesellschaftliche W i r k l i c h keit hinauswies. D a s g i l t insbesondere fur die deutsche Tradition einer Verherrlichung des Dichterfürsten, die eng an die Herausbildung der kollektiven Identität einer deutschen Kulturnation gebunden ist. D i e » D i c h ter-Theologie« der G o e t h e z e i t 1 1 setzt den genialen Dichter an die Stelle des Monarchen und stattet ihn m i t einer Repräsentationsfunktion aus, die in einer gewissen A n a l o g i e zum königlichen G o t t e s g n a d e n t u m durchaus sakrale Z ü g e t r ä g t . 1 2 D a s von i h m geschaffene » R e i c h der D i c h t u n g « 1 3 w i r d nicht einfach als G e g e n e n t w u r f zur politischen Realität begriffen, sondern dient einer verspäteten N a t i o n * (Plessner) als ideales Identifikationsmodell. A l s »Priester der N a t i o n « wird der K ü n s t l e r zu einer Transformationsinstanz, in der sich das Nationale auf ein Universales hin überschreitet, von dem es seine Legitimation bezieht. O b diese Universalie >GottHumanitätGeistigkeit< oder aber >Volkscharakter< heißt, ist dabei strukturell gesehen irrelevant. 10

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Georges Bataille: Die Souveränität, in ders.: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, S. 45 — 86, (S. 74O. Vgl. dazu auch Bischof: Souveränität und Subversion, S. 29: »Die Dichter, Künstler, Komponisten, Architekten schufen zu allen Zeiten den Glanz, der für die Anderen vom Souverän ausstrahlte. Der Schein, den die Kunst produziert, ist der Souveränität wesentlich.« Vgl. Gerhard vom Hofe, Peter Pfaff und Hermann Timm (Hgg.): Was aber bleibet stiften die Dichter. Zur Dichter-Theologie der Goethezeit, München 1986. Vgl. auch Bischof: Souveränität und Subversion, S. 30. Dort ist im Zusammenhang mit dem frühbürgerlichen Genie-Kult auch von der »Vergottung des Künstlers« die Rede. Vgl. hierzu Clemens Pornschlegel: Der literarische Souverän. Zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg 1994, S. 91: »Die Bibel ist nicht ausgeschlossen aus dem neuen Reich oder gar kritisch zersetzt [...], sie ist — gerade mangels weltlichem Souverän — aufbewahrt und aufgehoben in der absoluten und absolut projektierten (deutschen) Poesie, die sich an ihre Stelle setzt und sie noch einmal kongenial fortschreibt aus dem Impuls genau jener Geistlichkeit, die ihr Antwort auf fehlende Staatlichkeit ist.« Der Goethe-Kult, in dem diese Sakralisierung des genialen Künstlersubjekts sich vor allem manifestiert, hat auch in der Lasker-Schülerschen Prosa seine Spuren hinterlassen. So berichtet das Ich mehrmals von der schwärmerischen Verehrung Goethes durch seine Mutter, ohne sich davon ausdrücklich zu distanzieren. Allerdings wird Goethe nicht der Platz des einzigartigen Genies, sondern der Status des Priesterkönigs eingeräumt, der ihn auf eine Stufe mit anderen Künstlern und nicht zuletzt dem Ich selbst stellt. (K 645 — 648) Pornschlegel: Der literarische Souverän, S. 78.

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Priesterlich ist diese Vermittlung einer Wahrheit des >Eigenen< durch den Dichter darin, daß der Akt seiner Vermittlung in einem ihm vorgängigen Schöpfungszusammenhang aufgehoben zu sein scheint. 14 Die Vergöttlichung seiner exemplarischen Subjektivität macht den Sprechakt, mittels dessen eine kollektive Identität als vorsymbolische Wesenheit behauptet wird, als solchen unsichtbar: Als Rede eines Genies erhält das Behauptete Wahrheitsstatus. 15 Insofern das einzigartige Individuum beispielhaft vom Universellen Zeugnis ablegt, erscheint dieses ihm eingeschrieben. 10 Die Vermittlung des Anderen, Göttlichen und das Göttliche selbst sind nicht klar voneinander zu unterscheiden. Schöpferisches Subjekt und die von seiner Figur exemplifizierte Instanz seiner Legitimation sind in einem unauflöslichen Zirkel ineinander verschlungen. Die Figur des »literarischen Souveräns« verkörpert also eine Universalität, die als solche, zumal auf der Ebene des Alltäglichen, Nicht-Künstlerischen oder Politischen, noch nicht verwirklicht, sondern allenfalls versprochen, dichterisch präfiguriert ist. Sie birgt in sich eine Kluft, durch die sich die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft als autonome bestimmt und durch die sie zugleich als deren Versprechen und ideale Möglichkeit auf diese bezogen bleibt. Die mit diesem Künstler-Konzept behauptete Souveränität bleibt also den Grenzen, die sie selbst erzeugt, unterworfen. Der kulturelle Raum, den er im schöpferischen Akt ansichtig macht, ist, wie der politische Raum der Nation, den er zu überformen vorgibt, Effekt dieser Grenzziehung. In der Vorstellung, diese gelange in ihrer Verkörperung durch den Souverän zur Anschauung, manifestiert sich die Äquivalenz von Dichter und König. Beide verweisen durch ihre herausgehobene Position auf den Akt der Einsetzung jener Ordnung, deren Repräsentanten sie sind und die sich in ihnen zugleich auf ein (göttliches) Anderes hin überschreitet. Der Souverän, der in der Geschichte so häufig König genannt wird, ist der, »der 14

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Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München, 5. Aufl. 1965, S. 4 0 0 - 4 0 4 . Pornschlegel (Der literarische Souverän, S. 79) spricht von einer »Alchimie der Repräsentation«: »den Leuten durch sich selbst zeigen, was sie im Grunde und im Wesen selbst sind, das Deutsche in seinen Normen legitimieren durch sich selbst ...«. Vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. 1992, S. 54: »Der Begriff des Allgemeinen oder Universellen und der mit ihm verbundene Wert kapitalisieren hier alle Antinomien, weil sie sich an Begriff und Wert des Beispielhaften binden müssen; dieses schreibt das Universelle dem Leib eines Singulären, eines Idioms oder eine [sie!] Kultur ein. [ . . . ] die Selbstbehauptung einer Identität erhebt stets den Anspruch, auf den Anruf oder die Anweisung des Universellen zu antworten.« (Die Figur des »Kaps«, die Derrida hier für einen eurozentrischen Europadiskurs in Anschlag bringt, läßt sich auf die Figur des exemplarisch-genialen Künstlers übertragen.)

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darüber steht«, der Gipfel der gesellschaftlichen Rangordnung, deren Rechtfertigung und Gesetzmäßigkeit er in sich birgt. 1 7 In der Lasker-Schiilerschen Konzeption künstlerischer Souveränität wird diese Position an der Spitze der Symbolordnung zitierend aufgegriffen, ohne daß sie sich jedoch in ihr erschöpfte. »Der Dichter vermag eher eine Welt als einen Staat aufzubauen« (IRA 530), heißt es einmal, wodurch der staatstragenden, kollektive Identität stiftenden Rolle des Künstlers eine deutliche Absage erteilt wird. Indem ein die Nation oder den Staat überbordendes Ganzes, eine Welt, als Horizont dichterischer Produktivität benannt wird, wird die Möglichkeit ihrer Instrumentalisierung für konkrete politische Zwecke zurückgewiesen. Hierin trifft sich dieses Kunstverständnis mit dem der Avantgarde. In ihrer doppelten Frontstellung gegen Kunstmarkt und Kunstautonomie versuchte diese, die >falsche Totalitär des bürgerlichen Kunstideals zu entlarven und die von ihm verschleierten Brüche und Ausgrenzungen sichtbar zu machen. 1 8 Der Souveränitätsbegriff der Avantgarde gründet sich auf eine umfassende Repräsentationskritik. Die Überschreitung soll nicht mehr in der exemplarischen Figur präfiguriert und domestiziert werden, vielmehr ist ihr revolutionärer Gestus auf eine Zertrümmerung aller Identitäts- und Sinnfiguren ausgerichtet. Die Entdeckung und Freisetzung des von der offiziellen Kulturdas Ganze< nun explizit an diesen geknüpft. Die literarischen und essayistischen Versuche, das Exemplarische und das Universale, Kunst und Welt, zu einer differenzlosen Einheit zu verschmelzen, exponieren den künstlerischen A k t als Schöpfungsakt zugleich von Selbst und Welt. Das Ganze, das von keiner dem Subjekt übergeordneten Autorität mehr verbürgt wird, muß, so scheint es, immer wieder aufs neue behauptet werden, da es außerhalb dieses sprachlichen Performativs keine Substanz und kein Fundament hat. In der Verschiebung der Figurierung des neuzeitlichen Künstlers vom König (Dichterfürsten) zum Führer spiegelt sich auch eine Verschiebung des Souveränitätsbegriffs. So weist die Verschlingung von Ich und Welt und der ins Grenzenlose gesteigerte Schöpfungsanspruch des Künstlersubjekts bereits auf den totalitären Impuls, der das diskursive Dispositiv des 20. Jahrhunderts charakterisiert. 23 Noch immer ist die Kunst die Sphäre der Überschreitung, aber sofern sie nicht mehr auf Figuren und Körper zurückgreifen kann, die diese Überschreitung exemplarisch vollziehen und ausbalancieren, verliert auch sie ihre Funktion, die Grenzen einer Identität, einer Körperschaft, zu setzen und zu markieren: Als Überschreitung in Permanenz tendiert sie zum Exzeß. Während die Vorstellung von einer väterlichen, über die Differenzen und Hierarchien innerhalb der Ordnung gebietenden Autorität, an den unterteilten Raum als Ordnungsschema gebunden bleibt, bringt die Führermythologie diesen zum Verschwinden. Sie teilt die Welt nicht mehr auf oder ein, 2 4 sondern erobert sie ganz, verleibt sie einem hypertrophen Ich ein, das nicht mehr als Stellvertreter oder Fürsprecher auftreten kann, da die Differenz zwischen Benennendem und Benannten zum Verschwinden gebracht wird. Das Exempel verschmilzt mit dem Signifikat, der gott-

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einem leibhaftigen Repräsentationsverhältnis« wandelt. Speziell zu Lasker-Schüler vgl. Hermann: Raum - Körper - Schrift, S. 1 5 3 . In diesem Sinne interpretiert Pornschlegel auch Heideggers in seinen Studien zu Hölderlin entwickeltes Konzept von der »Diktatur des Dichters«. Pornschlegel: Der literarische Souverän, S. 2 1 4 — 2 3 3 . Carl Schmitt hat hierfür den alten Begriff des Nomos vorgeschlagen. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des J u s Publicum Europaeum, Köln 1950. »Das griechische Wort für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste Landnahme als die erste Raum-Teilung und -Einteilung, für die Ur-Teilung und UrVerteilung ist: Nomos.« (Ebda., S. 36.) »Nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung« (ebda., S. 40), »die volle Unmittelbarkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft; er ist konstituierendes geschichtliches Ereignis«. (Ebda., S. 42.)

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gleiche Mensch mit Gott. Der Körper des repräsentativ Sprechenden und der Körper der räumlichen Gesamtheit, die er figuriert, sind gleichermaßen prekär. Die phantasmatische Qualität dieser metaphorischen Übertragung wird dabei offensichtlich: auf politischer Ebene hat der Führermythos die Auslöschung des Anderen zur Konsequenz: An die Stelle der Unterscheidung und Grenzziehung tritt die Einverleibung alles Differenten. In dem totalitären Begehren der Nationalsozialisten, das das Jüdische nicht mehr nur als das Andere markiert, sondern dieses endgültig zu vernichten trachtet, findet dieses Herrschaftsphantasma seinen brutalsten Ausdruck. 25 Vorgeprägt ist es in der sich zu Beginn des Jahrhunderts abzeichnenden Tendenz, patriarchale Herrschaftsphantasien absolut zu setzen und die Abhängigkeit des Subjekts von einem Differenten zu leugnen. Indiz für solche Totalisierungen des männlichen Schöpfersubjekts ist dabei häufig der Versuch, das Weibliche als Inkarnation der Differenz aus dem Diskurs der Selbstermächtigung durch Einverleibung oder Exorzierung zu tilgen. 26 Die autoerotische Führerfigur, die so verschiedene Ausprägungen und Gesichter in der ersten Jahrhunderthälfte annimmt, ist jedoch nur ein möglicher Ausdruck des Dispositivs, das das Dilemma der Kunst unter den Bedingungen der Moderne beschreibt. Ein weiterer ist das Experiment mit der Souveränität, als das Lasker-Schülers Herrschermythologie gelesen werden kann. Im folgenden sollen die verschiedenen Phasen ihrer Auseinandersetzung mit Souveränitätskonzepten herausgearbeitet werden. Dabei wird zu zeigen sein, inwiefern Körperlichkeit und Körpermetaphorik jeweils eine wichtige Rolle spielen. Denn insofern die Macht des Herrschers immer wieder als grenzenlose, auf die Welt insgesamt abzielende entworfen wird, tritt die Frage nach dem Verhältnis von quasi-göttlichem Souveränitätsanspruch und der Materialität der beherrschten Welt in den Vordergrund. Die Szenarien der Welteroberung und -beherrschung lassen die phantasmatische Verkennung hervortreten, auf der die Vorstellung einer zugrundeliegenden Identität von Natur und Geist, Welt und Gott, beruht. Die Verkörperung der Welt, die einer Darstellung des Idealen, Göttlichen entspricht, wird damit als Grenzfall eines onto-theologischen Einheitsdenkens markiert, das die Möglichkeit einer Versöhnung der Gegensätze in einem allumfassenden Prinzip des Logos voraussetzt. Zugleich stellt sie

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Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart 1990, S. 62; Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München 1987, S. 29, 55. Keck/Schmidt: Auto(r)erotik (Vorwort), S. iof.

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die Grenze einer Konzeption vom Körper zur Schau, der als das Andere des Logos von diesem als seinem ursprünglichen Schöpfer schließlich (wieder) angeeignet und beherrscht werden kann. Die Körper in den Lasker-Schülerschen Texten sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie sich vervielfältigen, daß ihre Grenzen undeutlich werden und selbst ihr Anfang und Ende, Geburt und Tod, ihren Status als Markierungen von Einmaligkeit verlieren. Dadurch widersetzen sie sich Herrschaftsansprüchen und kollektivsymbolischen Einheitsentwürfen, die auf Körpermetaphern zurückgreifen, um sich selbst zu legitimieren. Denn jener von diesen Vorausgesetze, metaphorisch usurpierte Natur-Körper erscheint hier nicht als Urzustand, der wiedererlangt bzw. angeeignet werden könnte. Indem Körper bei Lasker-Schüler immer im Zusammenhang mit Kleidern und Verkleidungen dargestellt werden, die ihm nicht nur symbolische Bedeutung verleihen, sondern die ihn als solchen überhaupt erst hervorbringen, wird das Konzept eines vorsymbolischen, >reinen< Körpers problematisch. Der Körper des Souveräns ist nicht von seiner Maskerade zu trennen; das königliche Gewand bezeichnet nicht nur einen Körper als privilegierten, es hält die Verkörperung dieser höchsten Position in der Schwebe. Lasker-Schülers Versuche, Autorität und Souveränität strukturell zu fassen und mit Hilfe einer Figuration des Ich als Herrscher schließlich einen eigenen, zeitgemäßen Kunstbegriff zu entfalten, lassen sich vor dem Hintergrund der Entdeckung dieser Unsicherheit lesen. Gott ist tot, aber seine Stelle ist nicht usurpierbar, sie erweist sich als Abgrund, »mit Hoheit umkleidet« (Ps 93), 2 7 der damit gleichzeitig der Ort der Fülle wie der Leere ist.

2. Rituale und Exzesse der Herrschaft 2.x. Die Wege der Tino von Bagdad: Grenzgänge und Privilegierungen Die Herrscherfigur Jussufs und das ihm zugeordnete Reich Theben bestimmen nicht von Anfang an die Selbstentwürfe Lasker-Schülers, die die Problematik künstlerischer Souveränität ausloten. Frühe Prosatexte wie auch die in dieser Zeit — bis etwa 1 9 x 0 - verfaßten Briefe identifizieren vielmehr das Ich mit der weiblichen Figur der Tino von Bagdad, die bereits im >Peter Hille-Buch< auftaucht. In der Rolle des Souveräns tritt eine 27

Dieser Wortlaut findet sich in der Jerusalemer Bibel. In der Lutherbibel heißt es: »Der Herr ist König und herrlich geschmückt; der Herr ist geschmückt und umgürtet mit Kraft.«

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ganze Reihe orientalischer Herrscherfiguren auf: Kalifen, Sultane, Fakire, Großmogule und Schelks. Während der Malik später als Priesterkönig zum Symbol oberster Macht wird, 2 8 das nicht nur alle Binnendifferenzen der von ihm repräsentierten Ordnung überbordet, sondern zugleich von der Spur eines ihr heterogenen Anderen gezeichnet ist, sind >Die Nächte der Tino von Bagdad< noch stärker durch die Differenzierung von Herrschaftsraum und dem von ihm Ausgegrenzten organisiert. Beruht die Herrschaftsposition des Malik wesentlich darauf, daß er die Grenzen Thebens immer wieder überschreitet und neu setzt, so ist es in den >Nächten< die Figur der Tino, die die Grenzen der jeweils dargestellten Herrschaftsordnung überschreitet und damit eine Krise der Souveränität herbeifuhrt. In diesem Schema, das die einzelnen Erzählungen des Geschichtenbandes vielfältig variieren, wird das radikale Experiment mit der Souveränität, das sich mit der Jussuf-Figur verbindet, präfiguriert. Insofern hier jedoch statt der einen, ambivalenten Figur zwei Figuren in den Blick genommen werden, die sich nicht im selben Symbolraum verorten lassen, tritt die Problematik der Raumgrenze und ihrer Verkörperung durch den Souverän als unmögliche Relation zwischen diesen beiden Figuren hervor. Immer wieder wird der jeweilige Herrscher mit einer Figur konfrontiert, die sich nicht der von ihm repräsentierten Raumordnung einfügt, sondern ihre Grenze von außen überschreitet. So tritt das Ereignis eines »konstituierenden, raumordnenden Ur-Aktes«, das vom Herrscher als »Nomos Basileus« repräsentiert wird, als problematischer Akt der Ausgrenzung und Abspaltung zutage. 29 Die folgende Analyse geht, einer konventionellen Lektüreweise entsprechend, zunächst von der Existenz zweier Figuren einer erzählten Handlung aus und versucht, das Verhältnis, in das sie zueinander gesetzt werden, zu 28

Im >Malik< heißt es einmal ausdrücklich: »Meine Würde als unfehlbarer Priester, die Ich am Tage Meiner Krönung bekleiden werde, erfüllt mich mit Sternen und Sonnen.« ( M 4 2 1 ) Die Formulierung >eine Würde bekleiden< ist wohl nicht zufällig schief: während in der bürgerlichen Welt Ämter von Personen bekleidet werden, die Differenz zwischen Mensch und sozialer Position also prinzipiell aufrechterhalten wird, wird die Königswürde verliehen, um sich fortan mit der ausgezeichneten Person unauflöslich zu verbinden. Wenn sich der Malik hier mit dieser Würde bekleidet, wird die dififerenzlose Verkörperung der Souveränität durch die Figur des Königs in Frage gestellt. Vgl. hierzu Kap. IV.8.

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Den Begriff des »Nomos Basileus« wird von Pindar benutzt, um den Bezug der königlichen Position zu dem Moment auszudrücken, in dem die Ordnung eingesetzt und begründet wird. Indem Carl Schmitt ihn aufgreift, betont er die Verknüpfung von Raumordnung und Herrschersymbol und nähert sich einer theoretischen Beschreibung des Ereignisses der Raumkonstitution an, das die problematische Position des Königs als Grenze des Gesetzes und der Unterscheidungen beleuchtet. Schmitt: Der Nomos der Erde, S. 4 2 - 4 5 (»Der Nomos als Herrscher«), vgl. auch Anm. 24. Auch Jussuf nennt

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beschreiben: Handelt es sich um Gegenspieler, Konkurrenten, Geliebte oder (Bluts-)Verwandte? Alle diese Möglichkeiten werden aufgerufen, und doch läßt sich das, was sich schließlich zwischen ihnen, an der Grenze der Herrschaftsordnung, ereignet, mit keinem dieser vertrauten Muster menschlicher Beziehung erschöpfend beschreiben. Denn die Integrität der Figuren wird der Handlung nicht voraus-, sondern in ihrem Verlauf aufs Spiel gesetzt. Dabei werden die angedeuteten Relationen, in die sie zueinander treten, jeweils auf ihre Grenze, die Bedingung ihrer Möglichkeit mithin, überschritten. Grenzfall ihrer Beziehung sind daher nicht (sexuelle) Vereinigung oder Erzfeindschaft, sondern Identität und Differenz, die sich der Darstellung des Figurenspiels entziehen. Das Verfahren, mit dem Trennendes und Verbindendes zwischen Herrschersouverän und Ich-Erzählerin festzustellen versucht wird, ähnelt dem Blick durch ein Brennglas, der eine Anordnung von Dingen fokussiert, die sich im selben Moment - durch die verbrennende Wirkung der gebündelten Sonnenstrahlen - in ihrer Materialität auflösen. Insofern auch der Leser/die Leserin der Geschichten mit der Schwierigkeit konfrontiert wird, einerseits eine Ordnung überblicken zu wollen, in der die Figuren bestimmte Positionen einnehmen und andererseits zu dem erzählten Raum nicht den dazu notwendigen Abstand wahren zu können, entspricht der Problematik dieses Blicks die der Lektüre. Auch diese wird in ihrem Versuch, den Text entweder verstehend-identifizierend anzueignen oder zu distanzieren, fortwährend in Frage gestellt. Verfolgt man die von den Geschichten entfalteten Motive und Figurenkonstellationen im einzelnen, eröffnet sich jedoch eine Vielfalt von Möglichkeiten, dieses Nebeneinander von Ordnungsbegehren und Undarstellbarkeit, von analytischem Zugriff und dem ins Leere gehenden, sein Objekt auflösenden Blick genauer zu beschreiben. In den Episoden der >Nächte< spielt, wie auch später in den ThebenTexten, die Raumfiktion eine wichtige Rolle. 3 0 Auch Tino von Bagdad trägt im Namen den Hinweis auf einen Herkunftsort; zugleich deutet er auf ihren fürstlichen Status. Als »Dichterin Arabiens« (N 72) kommt ihr offenbar die Rolle derjenigen zu, die die Welt des Orients künstlerisch

sich im >Malik< offenbar in Anspielung auf jene archaische Machtposition »Basileus«. (M 4 1 6 , 420) 30

Genau genommen kann der Gegensatz zwischen den im Orient angesiedelten Texten um die Prinzessin von Bagdad und denen, die ein Reich Theben entfalten, nicht aufrecht erhalten werden. Bereits in den >Nächten< gibt es ein Theben, über das ein Herrscher mit dem Titel eines Fakirs gebietet. Andererseits spielen auch bei der Ausschmückung des thebanischen Raumes orientalische Requisiten eine Rolle.

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repräsentiert. Dabei bleibt offen, ob sie selbst dieser Welt angehört, sie >von außen< widerspiegelt oder ob sie sie literarisch erschafft. Denn obgleich ihr Name und die Beschreibung ihrer Kleidung sie als Orientalin kennzeichnen, läßt sie sich keinem Raum eindeutig zuordnen. Auch wenn mehrere Geschichten Bagdad als Heimat- und Herkunftsort Tinos erwähnen, 3 1 schildern andere ihn als Herrschaftsbereich eines Tyrannen, dessen Machtmonopol ihre eigene Anwesenheit auszuschließen scheint. In >Ached Bey< beispielsweise veranschaulicht schon die Eingangsszene, daß der Kalif die Herrschaft über Bagdad verkörpert. Bereits hier ist die Metapher der Verkörperung von Macht nicht klar von dem Bild des >natürlichen< Körpers, auf das sie zurückgreift, zu trennen. Tino nämlich beobachtet »von einem Kuppelfensterchen aus«, wie der gesamte Herrschaftsraum mit dem Wechsel von Tag und Nacht in einer regelrechten Identifizierung mit dem Körper des Kalifen aus- und wieder eingefaltet wird: »Über Bagdad ruht sein Bart und mit jedem Stern, der aufsteigt am Himmel, entschwindet eine Falte seiner faltenschweren Stirn« ( N 65). Die Verortung Tinos, die der Titel zu suggerieren scheint, stellt somit kein strukturierendes Element der Geschichten dar, sie wird in ihnen vielmehr zum Problem. Das Organisationsprinzip der >Nächte< läßt sich nicht durch einen allen Geschichten gemeinsamen Handlungsraum, den des Orients, beschreiben. Was die durch keinen linearen Erzählzusammenhang aneinander geknüpften Episoden vielmehr verbindet, ist der Versuch, die Grenzen und damit das Gründungsereignis der dargestellten Machtordnungen in den Blick zu nehmen. Während die Position der Herrscher fast immer eine statische ist — sie halten sich in ihrem Palast auf und begeben sich nicht außerhalb der Grenzen ihres Reiches 32 —, erscheint die Tino-Figur als paradigmatische Grenzgängerin. Die mit ihr assoziierten Transgressionen werden einige Male explizit gestaltet: In der Erzählung >Plumm Pascha< unternimmt Tino etwa zusammen mit ihrem »Sohn Pull« 3 3 von Bagdad aus eine Reise nach Ägypten, in der Eingangsszene des >Fakir von Theben< schließt sie sich einigen nach Theben ziehenden Priestern, unter ihnen der Fakir, an, in >Der Khedive< wird der Grenzübertritt von ihrem Vater mit Gewalt erzwungen, 34 und in >Der Großmogul von Philoppopel< gelangt das Ich 31

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Ζ. B. >Plumm PaschaDer Magiers >Ein Brief meiner Base Schalômes >Der FakirDer Kreuzfahrers letztere drei Erzählungen finden sich im >Prinz von ThebenDer Fakir von Thebens die im folgenden noch genauer betrachtet wird. Dieser taucht bereits im >Hille-BuchTürhüterszenePlumm PaschaMinnPrinz von Theben< ist noch einmal von ihm als einem »weißbärtigen Pascha« die Rede, PvT 105), in jedem Fall steht die Konstellation Tino-Herrscherfigur im Vordergrund. 35

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In >Das blaue Gemach« ist die Ich-Figur »grenzenlos traurig« und sehnt sich nach ihrem »blauen Gemach« (N 61), in der verwandten Geschichte >Der Khedive< ist das allerdings unaussprechliche Heimweh ausführlich ausgestaltet. In >Ached Bey< und >Minn< wird das Ich als Besucherin im Palast ihres Onkels (es handelt sich um zwei verschiedene Figuren) vorgestellt. In einigen wenigen Texten taucht eine Figur namens Tino auch in der dritten Person auf (z.B. in >Der KhediveFremdkörper< in der Herrschaftsordnung ver-

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Ich-Figur in einer klar strukturierten Herrschaftsordnung provoziert wiederholt Rituale, z.B. Festlichkeiten, an denen alle teilnehmen. Diese lassen sich aber nicht im Sinne eines kodifizierten Empfangs einer Fremden oder als Versuch ihrer Integration interpretieren. Denn anstatt den Übergang des Fremden ins Eigene darzustellen oder zu ermöglichen, lassen sich diese Rituale nicht in ihrem >normalen< Ablauf als temporäre Ausnahmezustände halten, sondern kippen in einen Exzeß. Dieser wird mal durch den Tod der Tino-Figur (>Der KhediveMinnDer Fakir von Theben< etwa bluten die Frauen der Stadt immer dann, wenn der Gewaltherrscher sie berührt und zwar »vierzig Tage lang«. Sobald er — der einzige Herrscher, der die Grenze seines eigenen Machtbereichs überschreitet — in der Ferne auftaucht und die Frauen ihn erkennen, »beben ihre Leiber wie zur Kindsstunde«. (Ν 71) 3 9 Der Moment der Geburt fällt hier also zusammen mit

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breiten. (>Ached BeyAbigail der Drittes PvT 1 2 3 ; >Der MalikDer Derwisch< heißt es: »An die geöffneten Haremsfenster drängen sich die Frauen«, PvT 104.) Vgl. das ähnliche Motiv am Ende des >Malikfromme WerkeDie Nächte der Tino von Bagdad< die besten Voraussetzungen fur Entwürfe königlicher Lebenswelten und Existenzweisen bereitzustellen. Tatsächlich sind die wichtigsten Figuren in Anlehnung an das Figurenarsenal von >Tausendundeiner Nacht< fast ausnahmslos Hochgeborene, 57 Fürsten und Prinzessinnen, denen es materiell an nichts mangelt. A n einem europäischen Orientalismus, der um 1 9 0 0 noch einmal Konjunktur hat, 5 8 partizipieren diese Texte, indem sie in der Schilderung unbegrenzter Reichtümer — Edelsteine, luxuriöse Kleider und Gemächer — ein Gegenbild zur kapitalistischen Warengesellschaft des Westens entwerfen. Fast zwanzig Jahre vor Lasker-Schülers Streitschrift >Ich räume auf!< ( 1 9 2 5 )

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Ganz im Sinne Freuds (und auch Lacans) formuliert Girard: »Wir gehen davon aus, daß die Gründungsgewalt die Matrix aller mythischen und rituellen Bedeutungen ist. Das kann im eigentlichen Sinne nur auf eine sozusagen absolute, vollkommene, ganz spontane, einen Grenzfall darstellende Gewalt zutreffen.« Das Heilige und die Gewalt, S. 168. Vgl. dazu Toril Moi: The Missing Mother: The Oedipal Rivalries of René Girard, in: Diacritics 12 (1982), S. 2 1 - 3 1 , (S. 26): »the fascinating and ambivalent circulation of desire between René and Sigmund never ceases. Girard constantly claims superiority over Freud.« Und ebda., S. 30: »Freud is Girard's haunting rival, daunting double and castrating father.« Vgl. die wörtliche Übersetzung des lateinischen superaneus: hochgeboren. Vgl. Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne: Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1996; Peter Sprengel: Exotismus bei Paul Scheerbart und Else Lasker-Schiiler. Zur Literatur der Boheme, in: Begegnungen mit dem >FremdenPeter Hille-BuchEine Quelle ist Eure Freundin, die nicht mündet, eine Quelle, die aufsteigt und Euch plötzlich überströmte« (PHB 29) Die hier suggerierte Fülle und Unmittelbarkeit scheint den typischen Topoi, mit denen um die Jahrhundertwende eine umfassende Sprachkrise diagnostiziert wird, zunächst diametral entgegensetzt. Man könnte meinen, daß hier der etwa von Hofmannsthal beklagten Fragmentierung aller Zusammenhänge und der Entfremdung zwischen Ich und Welt, die ein Versiegen der künstlerischen Quellen und das Verstummen des Dichters zur Folge habe, 6 ' die Welt des Orients und die weibliche Erzählstimme als ursprünglicher und unverbrauchter Gegenentwurf im romantischen Sinne kontrastiert wird. 6 2 Es stellt sich also die Frage, ob die Klage des Hof59

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In dem Essay >Sterndeuterei< heißt es später in diesem Sinne: »wir Künstler sind einmal bis tief ins tiefste Mark und Bein Aristokraten.« (G 1 5 1 ) Vgl. B I 39 (Brief an Jethro Bithell): »ich komme nach London [...] im Feierkleid - ich habe eine echte goldene Jacke von einer griechischen Prinzessin geschenkt bekommen und ein Armband mit Knöpfen aus Amethist von einer dichtenden Königin aus ganz liladunklem Amethist, das trage ich um mein Fußgelenk. Und mein Kleid ist aus matter, schwarzer Seide«. Einige Briefe legen eine weitgehende Identität oder Austauschbarkeit von Tino und Scheherazade nahe. Zwar werden sie häufiger mit Tino gezeichnet, aber auch Scheherazade erscheint einmal als Brief-Signatur (dahinter in Klammern: Else Lasker-Schüler). (BI 25) Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), Frankfurt/M. 1979, S. 4 6 1 - 4 7 2 , (S. 466): »Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.« In Friedrich Schlegels »Rede über die Mythologie< heißt es etwa: »Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen [...]. Im Orient müssen wir das Höchste Romantische suchen.« In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, München 1 9 6 1 , Bd. 2, S. 3 1 1 - 3 2 2 , (S. 3i9f.).

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mannthalschen Lord Chandos, das Subjekt könne die Phänomene nicht mehr deuten und in Beziehung setzen, da sie sich ebenso wie die Teile seines eigenen Körpers von ihm abzulösen begännen, durch Lasker-Schülers Tino/Scheherazade implizit zurückgewiesen wird. Verfolgt man jedoch die Quellenmetaphorik in den >Nächten< weiter, so wird deutlich, daß die Figur keineswegs als ungebrochene, zusammenhangstiftende Schöpferinstanz figuriert wird: [ . . . ] ihre Lippen murmelten immer süße Gesänge... [ . . . ] . Und ihre Glieder glühten von den rauschenden Farben ihrer Gedanken. Ein Feuerberg war sie, der an seinem Feuer verdorrt, eine bunte Quelle, die nicht von ihrem Schäumen erzählen darf und in ihrem eigenen Gesprudel ertrinkt. ( N 73F.) 6 3

Betrachtet man die Geschichte >Der Khediveweiblichen< Begehrens« äußere. Berman: Orientalismus, S. 3o8f.

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historischen, geographischen und religiösen oder mythischen Kontexten e n t s t a m m t e n . 6 6 W i c h t i g s t e s M e r k m a l eines solchen Orient-Konstrukts ist, w i e E d w a r d Said formuliert hat, seine Fremdartigkeit und Andersheit g e genüber einem gleichzeitig homogenisierten europäischen W e s t e n . 6 7

Ne-

ben den Bildern des Überflusses und des Luxus, der rauschenden Feste und großzügigen Geschenke sind es vor allem solche der G e w a l t , der unbegrenzten Herrschermacht und exzessiven Sexualität, in denen ein von der westlichen K u l t u r Verdrängtes artikuliert scheint. Tatsächlich sind die G e schichten der >Nächte< stark von diesen T h e m e n und M o t i v e n g e p r ä g t . 6 8 Das häufig unvermittelte Nebeneinander von Szenen der Befreiung von Konventionen durch Rausch, Spiel und Tanz einerseits und solchen der Bedrohung durch blutige Rituale und extreme G e w a l t andererseits spricht fur die These, daß hier ein kulturelles Imaginäres evoziert w i r d , in d e m W u n s c h t r ä u m e und Angstphantasien eng beieinander liegen. D i e sich an diese Feststellung anschließende Frage, w i e dieses kulturelle U n b e w u ß t e , mit dem Hofmannsthal den Orient auch einmal identifizierte, 6 9 hier ver-

66 67

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69

Ebda., S. 2 9 5 - 2 9 7 . Edward W. Said: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1 9 9 1 , S. 22, 50. Die Rede vom Orient kennzeichnet er als einen aus westlicher Perspektive unternommenen Versuch, einen unüberschaubar großen und fernen, amorphen Bereich zu einem klar definierten Raum des Anderen zu machen. Orientalismus ist daher für ihn »a discursive formation« mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Charakteristika. Dabei hat, was sich als Repräsentation gibt, nur sehr wenig mit realen Gegebenheiten gemein. Neben den wiederkehrenden Beschreibungen von Festen (»Um mich zu belustigen, feiert der Khedive Freudenfeste... Dudelsackpfeifer und Flötenspieler machen helle, grüne Musik. [...] Der Weinschenk und die Speiseträger tragen Krokodilmasken, und Spaßmacher mit buntgeschminkten Händen und Füßen drehen Kreise mit ihren wilden, weiten, schellenbehangenen Röcken«, Ν 62) und grausamen Herrscherritualen werden auch sexuelle Perversionen und Gewaltphantasien in den orientalischen Harem verlegt (»Hinter dem Vorhang unter der Taube des Mohammeds, die sanfte Behüterin des Harems, stehen scharfe und zackige Gestelle, Peitschen und Pechfackeln. Meine Tanten und Basen haben mich heute Abend ganz vergessen; ich weiß nur, daß sie so spitz wie Dolchstiche durch meine Träume schreien wie Mütter, deren tote Kinder ihre Leiber zerfleischen«, PvT 108). Zu diesem Ensemble von Sinnlichkeit und Gewalt als orientalischem Genre-Tableau vgl. Said: Orientalism, S. 102, 1 1 8 . Im Anschluß an ihre Feststellung, Lasker-Schülers Orient sei nicht als bloße Idealisierung zu beschreiben, behauptet Berman merkwürdigerweise, es handele sich bei dem Dargestellten daher um eine »Metapher für genau die moderne, kapitalistische Gesellschaft«, der viele Zeitgenossen durch eskapistische OrientUtopien zu entfliehen versuchten. Und sie fährt fort: »Tino von Bagdad ist eine moderne Frau, die ihre soziale Rolle in der sich verändernden Gesellschaft zu entwerfen sucht.« (Berman: Orientalismus, S. 342) Insofern weder der Metaphernbegriff, noch die überraschende Feststellung, die orientalische Prinzessin Tino sei eine »moderne Frau«, genauer erläutert wird, bleibt diese Analyse unbefriedigend. Hugo von Hofmannsthal: Wiener Brief [II], in: Reden und Aufsätze II (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), Frankfurt/M. 1979, S. 185 — 196, (S. 195): »[Wien] ist die porta Orientis auch für jenen geheimnisvollen Orient, das Reich des Unbewußten.«

235

mittelt wird, wird von Berman aber nicht beantwortet. Ihre These, daß Lasker-Schüler in ihrer orientalisierenden Prosa einen »programmatische^] Ort des Andersseins« oder der »Differenz« entwerfe, 70 verharrt letzten Endes in demselben oppositionellen Schema, das auch die Unterscheidung von Orient und Okzident strukturiert. Wenn zudem behauptet wird, die Ich-Erzählerin Tino trete vor allem in vermittelnder Funktion auf, indem sie Dialoge zwischen religiösen und kulturell divergenten Gruppen initiiere, 71 wird die zentrale Problematik, die diese Texte exponieren, verkannt. Denn bei den wiederholten Grenzüberschreitungen Tinos handelt es sich eben nicht um A k t e der Vermittlung, vielmehr provozieren sie immer wieder den Zusammenbruch aller Grenzen und setzen so jeder möglichen Vermittlung ein Ende. Spätestens in den >Nächten< erfährt die Identifikation der Ich-Erzählerin mit Scheherazade eine Bearbeitung, die sie aus der Rolle einer nahezu unerschöpflichen Quelle der Reichtümer und Geschichten herauslöst. Zwar obliegt dem Ich offensichtlich die Produktion eines kulturellen Imaginären, indem es wie in einem Experiment einer écriture automatique Traumsequenzen hervorbringt. 72 Sie fügen sich jedoch nicht zu einer kontinuierlichen Narration. Diese ist vielmehr immer wieder von Rissen und

70

Berman: Orientalismus, S. 295, 3 ιγί. Der »Ort der Differenz« wird als strategischer A k t jüdischer Selbstdefinition historisch kontextualisiert. Gerade die Identifizierung mit einer >AndersheitNächte< vor allem als autobiographisches und gesellschaftskritisches Buch liest, in dem Lasker-Schüler »verschiedene Möglichkeiten einer Frau durch[spiele], aus ihrer Rolle auszubrechen.« Diese scheiterten meist an »gesellschaftlichen Barrieren«, indem die Geschichten »eine Begrenztheit der Ausdrucksmöglichkeiten sowohl der Dichter als auch der Frauenfiguren« veranschaulichten. ReißSuckow: »Wer wird mir Schöpfer sein!!«, S. 2 i o f . , 240f. Zur Interpretation der >Nächte< als Entwurf einer Gegenwelt vgl. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 108.

71

Berman: Orientalismus, S. 3 0 i f . In der das Buch abschließenden Episode wird ausdrücklich auf den Traumcharakter verwiesen, denn dort heißt es: »Sechs Feierkleider, aus Traumseide gesponnen, rauschen in meinem Nachtgemach auf goldenen Bügeln in Glasschränken. Ich bin die Prinzessin von Bagdad und wandele in der Großmondzeit durch helle Rosengärten um heimliche Brunnen. Der aufgeblühlte Mondstern duftet zwischen Wolkenschwarz — ich lege mich

72

Schlummer in seinem Schoß « ( N 92) Der Lektüre Iris Hermanns zufolge »verrät« der Text hier seine Poetik, wobei sie die Metaphorik der verknüpften Fäden als paradigmatisch fur die Schreibweise Lasker-Schülers betrachtet, insofern diese einzelne Sequenzen »traumlogisch«, keiner Handlungslogik folgend, verknüpfe. Hermann: Raum — Körper - Schrift, S. 174. Die Betonung eines Modus der Verknüpfung, die sich aus dieser in der Tat sehr versöhnlich wirkenden Schlußszene abzuleiten scheint, ignoriert jedoch die zahlreichen regelrechten Abbrüche des Erzählens, die beispielsweise in der unmittelbar vorausgehenden Episode in der wiederholten Folge disharmonischer Vokale (»i! ü! h i i i è!!«) einen Ausdruck findet.

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Abgriinden markiert, an denen die Erzählfunktion abbricht. Die Fiktion eines unendlichen Produktionsvorgangs, der heterogenste Elemente miteinander verflicht und dem Leser/Betrachter schließlich ein Gewebe darbietet, das zur Entzifferung einlädt, wird damit in Frage gestellt. Die Figur der Ich-Erzählerin hat in der Tat eine kritische Funktion in diesen Texten. Stiftet sie einerseits eine gewisse Kohärenz, da sie als herausgehobene Figur unterschiedliche Orte und Kontexte beschreibt oder perspektivierbar macht, so wird deren Struktur durch sie zugleich aufgelöst. Das paradoxe Unternehmen dieser Geschichten äußert sich in den Versuchen der Erzählerin, ins Zentrum ihrer eigenen Geschichten einzudringen. Das wesentliche Charakteristikum eines Imaginären, daß es nämlich, wie Lacan schreibt, Grundlage fiir räumliche Bezüge und für die Verortung des Ich im Raum nur dadurch wird, daß ein >Aufspringen im Innernwebende < Instanz zurückwenden und ihren Ort im Text als einen a-topischen markieren. Im Unterschied zu dem Titel der Märchensammlung >Tausendundeine Nacht< benennt der der >Nächte der Tino von Bagdad< ausdrücklich die Figur der weiblichen Erzählerin. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, daß weniger das exotische Setting der Geschichten, als vielmehr die strukturelle Position dieser Figur zum Angelpunkt ihrer Handlungsverläufe und Szenarien wird. So wird die besondere Problematik betont, die sich mit dem Geschlecht der Erzählerfigur verbindet, welches auch in der Rahmenerzählung der Märchensammlung keineswegs nebensächlich ist. 74 Die in den >Nächten< immer wieder variierte Konstellierung von Ich- und Herrscher-Figur, die eine weibliche und eine männliche Position einander annähert und schließlich über die Geschlechterordnung hinausweist, hat ihr Vorbild in dieser Rahmengeschichte. Mit einem Unterschied: In den 73 74

Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, S. 66f. Foucault bezieht sich in seinem Vortrag >Was ist ein Autor?< auf >Tausendundeine Nacht< als einem Paradigma fiir das Erzählen schlechthin, insofern es den drohenden Tod immer weiter hinausschiebe. Bemerkenswert ist dabei, daß er das Geschlecht Scheherazades vollkommen zu unterschlagen scheint: »man sprach, man erzählte bis zum Morgengrauen, um dem Tod auszuweichen, um die Frist hinauszuschieben, die dem Erzähler den M u n d schließen sollte. Die Erzählungen Scheherazades sind die verbissene Kehrseite des Mords, sie sind die nächtelange Bemühung, den Tod aus dem Bezirk des Lebens fernzuhalten.« Foucault: W a s ist ein Autor, S. ι i f . A u c h in anderen Studien zur Rezeption von »Tausendundeiner Nacht< wird das Geschlecht der Erzählerin neutralisiert, vgl. Andrea FuchsSumiyoshi: Orientalismus in der deutschen Literatur, Hildesheim, Zürich, N e w York 1 9 8 4 , S. 3 3 : »dort gelingt es dem Erzähler, sich durch die Erfindung eines Märchens aus einer gefährlichen Situation zu retten.«

237

>Nächten< ist die Erzählerin selbst in die Geschichten eingetreten, das Verhältnis von Rahmen und Gerahmtem, Erzählinstanz und Erzähltem, wird also immer wieder explizit zum Thema. 7 5 Die nächtlichen Erzählungen, mit Hilfe derer Scheherazade den zum Mord entschlossenen Gewaltherrscher auf Distanz hält, konstituieren keine Gegenwelt zu dessen tyrannischer Willkürherrschaft, sie transformieren, besänftigen und zivilisieren sie. Herrschaftsraum, Königtum und die Ordnung der Geschlechter werden von ihr gerade nicht unterminiert; das Erzählen setzt überhaupt erst die für sie konstitutiven Grenzen und schafft so die Voraussetzung für einen relativen Frieden. Die Schlußepisode schließt den Rahmen der Märchenerzählung mit einem happy end, in dem Scheherazade aufhört zu erzählen und den König um Gnade anfleht. Dieser gewährt sie ihr umso lieber, als sie ihm die drei Söhne präsentiert, die sie im Laufe der verstrichenen Zeit — das Erzählen, das im Grunde die Hochzeitsnacht unendlich wiederholt, erstreckt sich immerhin auf tausendundeine Nacht — geboren hat. Die Königsfamilie ist damit komplett, und die Freude über das Ende der mörderischen Kette der Gewalt, die nacheinander alle »Töchter des Volkes« das Leben gekostet hatte, wird durch verschwenderische Gaben des Königs an sein Volk sowie eine Lobpreisung Allahs zusätzlich zum Ausdruck gebracht. 7 0 Beides sind typische Signale für die Festigung der Souveränität des Königs, der damit demonstriert, daß er über einen Überfluß an Reichtümern verfügt, 7 7 und dessen herausgehobene Stellung darüberhinaus durch Gott legitimiert und transzendiert wird.

75

Vgl. den allerdings nicht weiter ausgeführten Hinweis von Marianne Schuller: Maskeraden. Schrift, Bild und die Frage des Geschlechts in der frühen Prosa Else Lasker-Schülers, in: Christina Krause u.a. (Hgg.): Zwischen Schrift und Bild. Entwürfe des Weiblichen in literarischen Verfahrensweisen, Heidelberg 1994, S. 4 1 - 5 5 , (S. 47): »Scheherazade erzählt, um den von der Begierde des Herrschers drohenden Tod aufzuschieben. Else LaskerSchüler erzählt, daß das Erzählen selbst an einen Tod geknüpft ist.«

76

Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, vollständige deutsche Ausgabe, übertragen v. Enno Littmann, Bd. VI.2, Frankfurt/M. 1976, S. 6 4 4 - 6 4 6 . Vgl. Marcel Mauss über die Konstitutionsprozesse ethnischer Gesellschaften. Der sog. »Potlatsch«, eine rituelle totale Verausgabung der angehäuften Reichtümer, stellt ein wichtiges Element und Zeichen von Herrschaft dar. »Totale Leistung liegt in dem Sinne vor, daß wirklich der ganze Clan durch die Vermittlung seines Häuptlings kontrahiert für alle seine Mitglieder«, und »Ein Häuptling muß Potlatsch geben [...]. Er kann seine Autorität [ . . . ] nur dann aufrechterhalten, wenn er beweisen kann, daß er von den Geistern begünstigt wird, daß er Glück und Reichtum besitzt.« Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften, in: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1989, S. 9—144, (S. 17 bzw. 71). Zum verschwenderischen Geben als Königsgeste in historischer Perspektive vgl. auch: Jean Starobinski: Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt/M. 1994, S. i8f. Vgl. auch Feßmann: Spielfìguren, S. 2 1 7 .

77

238

Die Erzählungen Scheherazades bilden einen Übergang von der chaotischen Situation, die den Anfang der Rahmenerzählung bestimmt und die in der Mordserie des Königs an den Frauen gipfelt, zu dem Zustand der Ordnung an deren Schluß. Der zivilisierende Transformationsprozeß wird also an die weibliche Figur der Erzählerin geknüpft. 7 8 Ihre Produktivität äußert sich nicht nur darin, daß sie als eine schier unerschöpfliche Quelle von G e schichten erscheint, sondern auch in ihrer weiblich markierten Rolle als G e bärerin. 7 9 Dabei ist es aufschlußreich, daß Scheherazade nicht als geniale Erfinderin

eingeführt wird, die mit eigenen Ideen und Imaginationen den

blutrünstigen König auf Distanz zu halten vermag — vielmehr hat sie alle Bücher gelesen, die Annalen und die Lebensbeschreibungen der früheren Könige und die Erzählungen von vergangenen Völkern; ja, es wird erzählt, sie habe tausend Bücher gesammelt, Geschichtsbücher, die von den entschwundenen Völkern und von den einstigen Königen handelten, und auch Dichterwerke. 80 Die Erzählerin verkörpert regelrecht das gesamte Archiv kulturellen Wissens. Ihre weiblich markierte Körperlichkeit und die von ihr erzählten Geschichten werden aufs engste miteinander verknüpft. Erst durch das Erzählen erzeugt Scheherazade bei ihrem Gegenüber eine Spannung, die dessen Tötungsabsicht aufschiebt und so die Kette der Gewaltexzesse durchschlägt: Sie webt gleichsam die Geschichten wie einen Schleier um sich, der als Zeichen des Weiblichen die Faszination des männlichen Blikkes erregt und damit auch erst ihren weiblichen Körper — als begehrten und gebärenden — konstituiert. War zuvor das Begehren des Königs als ein exzessives erschienen, das in der Aneignung des Anderen keine Grenze mehr kannte und immer aufs neue auf dessen Vernichtung abzielte, indem dem sexuellen A k t jeweils unmittelbar der Mord folgte, so wird es durch die Intervention Scheherazades nun wieder auf einen Rahmen verwiesen. Die Rahmenerzählung setzt also das Begehren zwischen den Geschlechtern und die Existenz eines kulturellen Raumes, innerhalb dessen es Instanzen der Bewahrung und Übermittlung des Vergangenen g i b t , nicht einfach voraus, sondern ahmt den Prozeß ihrer Konstitution nach. Das kulturschaffende Begehren, so zeigt sich, setzt erst dort ein, wo Liebe und Tod oder anders formuliert: Eros und Todestrieb auseinandertreten und einen 78

79

80

Scheherazade ist gelegentlich auch als »Erzähltherapeutin« bezeichnet worden, vgl. Wiebke Walther: Tausendundeine Nacht, München, Zürich 1987, S. 86. Vgl. Sandra Naddaff: Arabesque. Narrative Structure and the Aesthetics of Repetition in the 1001 Nights, Evanston/Ill. 1 9 9 1 , S. 5: »Shahrazad is characterized by nothing if not her fertility — both narrative and otherwise — [• •]«• Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, Bd. I . i , S. 26.

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R a u m des aufgeschobenen Todes zwischen sich aufspannen. Es kann erst dort zirkulieren, w o eine sprachlich-textuell erzeugte Grenze, ein Schleier aus Geschichten, zwischen die Geschlechter tritt, die sich d a m i t überhaupt erst als Positionen in einer binär organisierten Geschlechterordnung

fixie-

ren lassen. D i e Verschleierungs- und die G e w e b e - M o t i v i k , m i t denen das Erzählen hier verbunden w i r d und die in den Lasker-Schülerschen >Nächten< ebenfalls ein bestimmtes S c h ö p f u n g s p a r a d i g m a evozieren, rufen zudem

Assoziationen

an eine Reihe mythologischer

Beschreibungen

des

weiblichen A n t e i l s an der Kulturschöpfung wach: A l s Spuren einer g e meinsamen W u r z e l von Text und textura (von texere: weben,

flechten,

kunstvoll z u s a m m e n f ü g e n ) führen sie i m m e r wieder auf ein Muster w e i b l i cher P r o d u k t i v i t ä t , das Natürliches und G e m a c h t e s , K ö r p e r und Text, in einer Figuration b a n n t . 8 1 Betreibt eine solche mythisierte W e i b l i c h k e i t z u m einen die N a t u r a l i sierung des kulturell Produzierten, so ist ihr zugleich das W i s s e n u m ihre diskursive Verfaßtheit eingeschrieben. D e r B e g i n n der arabischen M ä r c h e n s a m m l u n g zeigt dies umso deutlicher, als er andere Weiblichkeitsentwürfe dem der Scheherazade gegenüberstellt. 8 2 schrieben

werden,

die gerade das G e g e n t e i l

I n d e m dort Frauen beweiblicher

Produktivität,

nämlich Chaos u n d Unkontrollierbarkeit verkörpern, w i r d die K o n t i n g e n z eines m i t (natürlicher) Produktivität assoziierten Konzepts von W e i b l i c h keit zusätzlich unterstrichen. Im weniger oft zitierten Vorspann der eigentlichen Scheherazade-Geschichte sind es gerade die Frauen, die sich der 81

Vgl. etwa die Moiren (griech.) oder Parzen (lat.), die den Schicksalsfaden spinnen, die Rolle der Penelope in der Odyssee, die, solange sie auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, täglich »ein feines/Übergrosses Geweb« herstellt, das jedoch nie ein fertiger Mantel wird, da sie es nachts immer aufs neue wieder auflöst. So schiebt sie gleichsam den — symbolischen — Tod Odysseus', der in dem Moment, in dem sie sich mit einem anderen verbände, besiegelt wäre, ihrerseits hinaus. Diese Strategie, mit Hilfe derer sie die sie bedrängenden Freier auf Distanz hält, wird ausdrücklich als »erfindsame List«, als weibliches Geheimnis gekennzeichnet. (Horn.Od. 2 , 9 4 - 1 1 9 ) Ein weiteres Beispiel ist der von Ovid gestaltete Mythos von Philomele, die auf grausame Weise vergewaltigt und der Zunge beraubt wird, woraufhin sie mit Hilfe eines Gewebes, in das hinein sie das Blut ihrer Wunde webt, von der Gewalttat Zeugnis ablegt. (Ov.met. 6,382 — 584) Auch hier tritt das Gewebte zwischen ihren unablässig geschändeten Körper und den Täter und gebietet seinem Tun Einhalt. Vgl. hierzu auch Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 562: »Man meint, daß die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben, aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens.«

82

Zur Kontrastierung der beiden Weiblichkeitsbilder vgl. z.B. Mia I. Gerhardt: The art of story-telling. A literary study of the thousand and one nights, Leiden 1963, S. 398: »in striking contrast to this black picture of womanhood, Shehrezad appears on the scene self-sacrificing, chaste, learned; she, too, is bold and resourceful, but she uses her gifts nobly, not viciously.«

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etablierten (Herrschafts-)Ordnung entziehen und sie durch ihr Verhalten aus den Angeln heben. Einen Moment der Herrschaftsschwäche nämlich, der dadurch gekennzeichnet ist, daß der König Schahzaman sein Reich vorübergehend zu verlassen sich anschickt, um seinen Bruder zu besuchen, nutzt dessen zurückgelassene Frau sofort zu ausschweifendem Tabubruch. Da der König etwas zu Hause vergessen hat, muß er noch einmal dorthin zurückkehren: [ . . . ] da fand er seine Gemahlin auf seinem Lager ruhend, wie sie einen hergelaufenen schwarzen Sklaven umschlungen hielt. Als er das sah, da ward ihm die Welt schwarz vor den Augen, und er sprach bei sich: >Wenn dies geschehen ist, während ich die Stadt noch nicht verlassen habe, wie wird diese Verruchte es erst treiben, wenn ich lange bei meinem Bruder in der Ferne weile?Andere< rahmen und auf ein Bild festlegen zu können. Doch der männliche Versuch, die in der Frau verkörperte unheimliche Differenz stillzustellen (»dann tötete er sie, um seiner Ehre gewiß zu sein« 87 ), erweist sich als phantasmatisch: Gerade wo die Frau in eine Schachtel eingesperrt wird, die wiederum in einen Kasten eingeschlossen ist, der auf den Grund des Meeres versenkt wird, kippt das Herrschaftsverhältnis um, und die Herrschaftszeichen gehen in weiblichen Besitz über. Anstatt in ihrer Körperlichkeit (ihrem Begehren) festgelegt werden zu können, konfrontiert die Frau die Könige und souveränen Herrscher mit der Kontingenz und den Abgründen ihrer Macht. Schachtel und Kasten erscheinen jeweils als Supplement, das den Körper einschließen und verfügbar machen soll. Als »gefährliches Supplement« 8 8 jedoch vervielfältigen sie sich, was im Bild der aufgereihten Sie-

86

Die Brüder erkennen also, daß ihre Souveränität von der Spiegelfunktion der als ideales Gegenüber imaginierten Weiblichkeit abhängt. So ist es nur konsequent, daß sie, kaum daß sie sich von der Schamlosigkeit und Untreue ihrer Frauen überzeugt haben, feststellen: »Auf, laß uns fortziehen, so wie wir sind; wir brauchen keine Königswürde mehr«. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, Bd. I . i , S. 2 3 .

87

Ebda., S. 26. V g l . Jacques Derrida: Grammatologie, S. 2 4 4 , 2 5 0 : »Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. Es kumuliert und akkumuliert die Präsenz. [ . . . ] Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, u m zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an(die)-Ste!le-von\ wenn es auffüllt, dann so, w i e wenn man eine Leere füllt. Wenn es Bild

88

242

gelringe lesbar wird, die allesamt Zeichen patriarchaler Souveränität (im Plural) über abgegrenzte Herrschaftsräume sind. Anstatt zeichenförmige Hülle zu sein, die eine Bedeutung aufbewahrt und sicherstellt, erweist sich jene Schachtel als black box der Pandora, die all den Schrecken birgt, der geeignet ist, die Ordnungsprinzipien der Geschlechterdifferenz und die Vorstellung von einer natürlich gegebenen Körperlichkeit außer Kraft zu setzen. Während die >NächteHille-Buch< etwa wird das Scheitern eines Tauschgeschäfts (erworben werden soll ein Himbeerstrauch) durch die unendliche Verschachtelung des Angebotenen illustriert: Ich schenke Dir ein Döschen [ . . . ] mit einem kleinen Döschen darin, und in dem kleinen Döschen ist noch ein kleineres Döschen, und in dem kleineren Döschen ist noch ein ganz, ganz kleineres Döschen darin, und ein ganz kleines Döselinken ist in dem ganz, ganz... ( P H B 2 0 )

Die Vervielfältigung der Schachtelungen kann das begehrte Objekt auch hier nicht fassen, d. h. ersetzen oder erwerben. Sie geht als infiniter Prozeß ins Leere. 89 In dem nach den >Nächten< entstandenen Briefroman >Mein Herz< taucht das Schachtel-Motiv wiederum in Zusammenhang mit der Ich-Figur auf, die ihr eigenes Innerstes, ihr Herz als Schachtel modelliert. Auch dessen Inhalt wird durch die Versenkung auf den Grund des Meeres nicht an einem festen Ort gehalten, im Gegenteil: Ich habe nun kein Geheimnis mehr, mein Herz kann keins verwahren, es steht im A m t der Welt. Meere kommen und spülen seine Heimlichkeiten ans Land, es erwacht mit dem Morgengrauen und stirbt am Sonnenuntergang. Aber immer ist mein Herz von Seide, ich kann es zuschließen, wie ein Etui. ( M H 3 4 8 )

Auch im >Malik< wird das Motiv aufgegriffen, wobei der wiederum nicht dauerhaft zu fixierende Schachtel-Inhalt nun der gesamte Raum Theben ist. Es ist die Rede »von dem kleinen Kaiser, der das große Theben morgens aus einer Schachtel nahm und es abends von seinem Oßman wieder hineinlegen ließ.« (M 4 3 7 ) Es fällt also auf, daß vor allem diejenigen Motive der Rahmenerzählung von >Tausendundeiner Nacht< von Laswird, dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Präsenz.« Zur Kette und Vervielfältigung der Supplemente vgl. ebda., S. 27 if. 89

Auch hier findet sich bereits das Motiv, daß das begehrte Objekt - es handelt sich ja hier um etwas Eßbares - nicht nur nicht angeeignet werden kann, sondern darüber hinaus in seiner Substantialität vernichtet wird: »Auf einmal fing er laut an zu schreien, denn das Erdmännchen hatte in der Zeit alle die süßen, roten Himbeeren aufgegessen«. (PHB 20)

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ker-Schiiler aufgegriffen und weiterentwickelt werden, die sich dem von der Scheherazade-Figur verkörperten Ordnungsprozeß widersetzen. Das Diskontinuierliche des Erzählens wird, wie der immer wieder aufgenommene Tag- und Nachtwechsel und im letzten Beispiel auch der Wechsel der Figuren zeigt, unterstrichen. Das mit dem >Nächtlichen< Identifizierte, also Geheimnisvolles, Träume, Phantasien, sexuelle Wünsche etc., kann sich dadurch nie zu einem homogenen Raum des Erzählten verdichten. Damit aber wird die Schleier-Metaphorik, die in der Anverwandlung der Ich-Figur an Scheherazade zunächst für ein bestimmtes Paradigma des Erzählens zu stehen schien, radikal in Frage gestellt. Nicht ein Schleier der Geschichten wird hier gewebt, der ein Anderes, WeiblichRätselhaftes verbirgt. Die Geschichten exponieren vielmehr jenen Moment, in dem der Schleier (der Ich-Erzählerin) reißt und der Blick (des Souveräns oder des Lesers) ins Leere geht. Das rätselhafte Andere kann nicht mehr in der Bestimmung als >weiblichnächtlich< oder >traumhaft< gerahmt werden. Über das Fehlgehen der Gewebemetapher zur Beschreibung der Lasker-Schülerschen Texte geben auch einige Briefpassagen Aufschluß, die im Bild der Teppichfransen einen Überschuß oder Rest veranschaulichen, der sich dem Gewobenen nicht vollständig einfügt. Bezeichnenderweise wird dieser Überschuß mit einem Weiblichen in Verbindung gebracht: Und an den Seiten des Teppichs hängen Fransen herab bis zur Erde, man könnte darauf treten, mein Vetter hat darauf getreten, wie er auf alle Frauen trat. Fransen sind halbe Menschen, sie können sich auch nicht verinnerlichen mit dem Ganzen, sie hängen herab und blicken nicht auf wie das Muster des Teppichs [ . . . ] . (BI 50)

An anderer Stelle heißt es, die Fransen eines Perserteppichs dürften nicht betastet werden, »weil sie so leicht zu vernichten sind und weil sie dann häßlich aussehen; und die Fransen, die aus einem herrlichen Gewebe wie Finger herabhängen, sind nicht zu verkuppeln und ich liebe sie, weil sie Mond und Sterne haben.« (BI 5 1 ) 9 0 Wo die Enden der verwobenen Fäden die Vermittlung mit dem >Ganzen< verweigern, werden sie zu kleinen Welten mit eigenem Sternenhimmel, womit sie das Souveränitätsmotiv mit dem Unscheinbaren, Überschüssigen verbinden.

90

In >Arthur Aronymus< taucht das Motiv später noch einmal auf: »Des kostbaren Teppichs Fransen wurden täglich gepflegt. Wie lauter Finger vieler frommer Hände hob ein Abend wehen bisweilen sie manchmal empor.« (AA 561)

244

4· Unheimliche Begegnungen: die Verwandte der Tyrannen In der Rahmenerzählung von >Tausendundeiner Nacht< werden (herrscherliche) Souveränität und (weiblich-erzählerische) Maskerade eng miteinander verknüpft. Erst durch den Schleier der Geschichten, mit denen sich Scheherazade dem unmittelbaren Zugriff des Tyrannen entzieht, wird der König zum souveränen Repräsentanten einer Herrschaftsordnung. Seine Position verdankt sich, wie gezeigt, einer Verkennung, die die Ordnung der Geschlechter und des Begehrens überhaupt erst einsetzt. In den im folgenden analysierten Geschichten der >Nächte< wird diese Verkennung oder Verschiebung auf unterschiedliche Weise nachgeahmt, so daß sie als eine imaginäre Operation der Grenzziehung und Raumkonstitution erkennbar wird. Nachahmung oder Mimesis beziehen sich dabei also nicht auf das Dargestellte, das biographische, psychische oder historische Gegebenheiten mehr oder weniger getreu Reflektierte, sondern auf die den Darstellungs- und Sinngebungsprozessen vorausliegenden oder genauer: immanenten Setzungen. Kristeva schreibt: Die mimesis hat an der symbolischen Ordnung teil nur insofern, als sie unbestimmte konstitutive Regeln oder — wenn man so will — Grammatikalität nach-erzeugt; [...]. Indem die poetische mimesis die Konstituierung des Symbolischen als S i n n imitiert, verursacht sie nicht nur die Auflösung der denotativen Funktion, sondern auch der dem Thetischen vorbehaltenen Funktion, das Subjekt zu setzen. Darin übertrifft die moderne poetische Sprache jede klassische (theatralische oder romaneske) m i m e s i s ' , sie greift nicht nur die Denotation (Setzung des Objekts), sondern auch den Sinn (Setzung des aussagenden Subjekts) an. 91

Indem Lasker-Schülers Tino-Figur sowohl Scheherazade als mythischer Gründungsfigur erzählerischer Produktivität ähnelt, wie auch denjenigen Frauen, deren nicht funktionalisierbares Begehren die Ordnung aus den Angeln hebt, wird sie auf einer Schwelle angesiedelt, an der Produktion und Destruktion basaler Sinnstrukturen koinzidieren. Einerseits wird sie als Grenzgängerin zu dem jeweiligen Souverän in ein Spiegelverhältnis gesetzt, scheint also dessen Position der Allmacht und Einzigartigkeit zu bestätigen. Andererseits aber verbindet sich mit ihr immer wieder etwas, das der Ermächtigung und Idealisierung der Herrscherfigur entgegensteht und diese daher auf fundamentale Weise bedroht. Der Spiegel (der Erzählerin) funktioniert in keiner dieser Geschichten als bloßes Medium der Iden91

Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 67. Zum mimetischen Verfahren im Zusammenhang mit einer Poetik der Moderne vgl. auch Keck: »Avantgarde der Lust«, S. 43. Vgl. auch Kap. II.2.3. der vorliegenden Arbeit.

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tität, als neutrale Oberfläche, die die Strukturen der Souveränität lediglich abbilden oder reflektieren würde. Ebenso wie der Schleier in dem oben beschriebenen Zusammenhang sind die Bilder und Phantasmen, die auf dieser Oberfläche erscheinen, nicht bloß die Wahrheit verfehlende, verstellende und verbergende Zeichen. Jenseits der Verkennung oder Verschiebung liegt, wie die Rahmenerzählung von >Tausendundeiner Nacht< eindrücklich zeigt, keine freizulegende Wahrheit, sondern eine gewaltvolle, in ihrer Ambivalenz endlos proliferierende Bewegung, in der Aneignung (Heirat, Besitz der Frau) und Auslöschung (Mord) unauflösbar aneinander geknüpft sind.

4 . 1 . Unfall und Bedeutung: das Entsetzen des Souveräns In der Erzählung >Der Großmogul von Philoppopel< wird die Ich-Figur nicht nur ausdrücklich als »Dichterin« beschrieben, ihre Funktion gegenüber dem Herrscher besteht auch darin, ihn zu übersetzen, ihn möglichst getreu zu repräsentieren. Daß überhaupt die Notwendigkeit eines solchen stellvertretenden Sprechens auftritt, wird damit begründet, daß der Großmogul einen Unfall in Gestalt eines Insektenstiches »auf die Spitze seiner Zunge« ( N 77) erleidet und fortan nicht mehr reden kann. Oder genauer: er bildet sich ein, nicht mehr reden zu können, denn die Kausalität zwischen Unfall und Verstummen wird ausdrücklich als von ihm selbst konstruierte dargestellt. Zudem hält er Tino, die sich unter die vielen angereisten Ärzte und Weisen mischt, so in den Palast gelangt und später zu seiner einzigen engen Vertrauten wird, mehrstündige Vorträge. Die Geschichte beginnt also im Grunde nicht so sehr mit einem Unfall als mit der Interpretation desselben. Die Folge des Verstummens ist, daß das gesamte Land den Großmogul ins Zentrum des Interesses rückt, von seiner Heilung hängt angeblich ab, ob sich der Balkan gegen andrängende Feinde behaupten kann. 92 Die Pointe liegt nun darin, daß Tino denselben Unfall erlitten hat, also von demselben Insekt zur selben Stunde in die Zunge gestochen und, wie es heißt, ihrer Sprache beraubt wurde. Auch in ihrem Fall bedeutet das nicht prinzipielles Verstummen, schließlich wird sie zur ersten Sprecherin im Staat. Aber auch sie kann sich nicht (mehr) unmittelbar ausdrücken, sondern muß den Umweg über den Palast, den Kontakt zu seinem Repräsentanten und die dort geltende »Sprache« gehen. Daß es ihr gar nicht um den Großmogul und dessen Heilung geht, ihr Begehren 92

Z u einer zeithistorischen Interpretation der Geschichte vgl. Liska: Die Dichterin und das schelmische Erhabene, S. 1 2 4 - 1 3 5 .

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sich vielmehr über diesen (und das von ihm verkörperte Reich) hinausgehend auf einen Anderen richtet, wird durch die fünfmalige Erwähnung des Namens Hassan illustriert, der zugleich mit einer dichterischen Suche nach einem >Mehr< verknüpft wird: »Ich weile bei ihr ihres wunderherrlichen Sohnes Hassan wegen, denn ich bin eine Dichterin. Hassan und ich weinen immer abends heimlich unter großen Sternen — wir können uns nicht heiraten«. (N 78) Die Dichterin und der Tyrann sind also wechselseitig aufeinander angewiesen. Ihr Zugang zu dem, was außerhalb des von ihm verkörperten Symbolischen (seiner Sprache und seines Herrschaftsraums) liegt, fuhrt an seiner Position nicht vorbei, sondern durch sie hindurch, über sie hinaus. Sein Begehren wiederum scheint insgesamt darauf ausgerichtet zu sein, sich selbst der Sprache und aller vermittelnden Medien zum Ausdruck seiner selbst zu enthalten (»auf andere Weise sich verständlich zu machen, lehnt er mit Finsternis ab«, Ν ηη), um gerade dadurch zu einer zentralen, geheimnisvoll-sakralen Figur zu werden. 93 Die unheimliche Ähnlichkeit Tinos wird von ihm zunächst als Erfüllung einer solchen Selbst-Sakralisierung mißdeutet. Mit ihrem Erscheinen fühlt er sich mehr als durch alle ärztliche Aufmerksamkeit in seiner Identität bestätigt. Das Erkennen dieser Einheit wird dabei deutlich als gewaltsamer Akt, als Vergewaltigung markiert: Aber der erhabene Herr hebt das rotumbartete Haupt näher meinen zaubernden Lippen, und seine Stimme erschallt dröhnender wie je zu seinen Redezeiten. A u f sein Quastenkissen zieht er mich neben sich und er betastet meine W a n gen, meine Augen, meine Stirne, und der Schleier zerreißt, und mein Atem flattert nur noch unter seiner schweren Freude. » W i r sind jetzt ein Staat, ein Volk!« ruft er. ( N 7 9 )

Um ihre eigenen Ziele zu erreichen, fügt sich Tino dieser Illusion. Sie prätendiert, daß sie dem Herrscher als ebenfalls Verstummte nahe sei, sie ißt und trinkt dasselbe wie er, es wird ihr sogar ein mit seinem identisches Kleid angefertigt. Eine Weile gelingt es Tino, eine Spaltung aufrechtzuerhalten, indem sie einerseits dem Herrscher Identität vortäuscht und andererseits ihre privilegierte Position nutzt, um die Gesetze und Ordnungs93

Dabei ist sein Amt zunächst gar nicht das höchste im Staat, sondern das eines Ministers. Der Sultan jedoch, der ebenfalls Erwähnung findet, ist auf dessen Künste angewiesen und erst mit seinem Verstummen wird der Großmogul zum eigentlichen Zentrum der dargestellten Ordnung. Liska interpretiert die Erzählung als Schilderung einer Subversion der vom Sultan verkörperten erhabenen Position durch ironische und groteske Strategien der Ich-Figur. Ihre strukturelle Komplizität wird jedoch nicht analysiert. Vgl. Liska: Die Dichterin und das schelmische Erhabene, S. 1 3 1 .

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strukturen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Als Übersetzerin der herrscherlichen Rede genießt sie dessen Autorität (»was der Großmogul von Philippopel geruht zu entfalten, ist heilig wie die Worte des Korans«, Ν 8 1 ) , was ihr die Freiheit gibt, geradezu revolutionäre Forderungen als von höchster Stelle erlassene Gesetze auszugeben: »von der Brüstung des Reichspalastes wiederhole ich gegenwärtig der versammelten hohen Gesellschaft der Staatsmänner entstellt die neue Steuerfrage betreffend die Zollerhebung von Spezereien fremder Länder.« ( N 80) Mittels solcher Entstellungen dessen, was der Großmogul ihr selbst »abendlich eng aneinandergeschmiegt zur Insektenstunde« ( N 80) eröffnet hat, gelingt es ihr zu erwirken, daß Zollgesetze und Grenzen insgesamt gelockert werden. Dadurch gelangen nicht nur immer mehr Reichtümer — vom »Luxus der Bosporusstadt, von seinen verborgenen Goldfeldern und Diamantbergen« ist die Rede — ins Land, werden Spezereien anderer Länder eingeführt, auch fremde Menschen (»Neger und auch abendländische Arbeiter«, Ν 8 i ) und sogar Tiere, die plötzlich nicht mehr als zu vernichtendes Ungeziefer, sondern als aristokratische Mitbewohner mit einem Anrecht auf eigene Paläste gelten, finden Platz in diesem von Tino initiierten Projekt einer bunteren, offeneren und poetischeren Welt. Und doch ist dieses nicht von dem Opfer abzulösen, das Tino dem Herrscher, an dessen »Anhänglichkeit [sie] gefesselt« (N 80) ist, unablässig bringen muß. Hassan, Sinnbild der erfüllten Sehnsucht und der utopischen Umgestaltung der Welt in ein Paradies der Liebe und Gewaltfreiheit, bleibt unerreichbar, und so hält sich die Freude Tinos an ihren Erfolgen in Grenzen: »Ich aber höre nichts mehr von dem wunderherrlichen Hassan — freue mich nicht mehr über die Pracht ringsum und nicht mehr über die mir dargebrachten Ehren«. (N 80) Der Moment jedoch, in dem Tino beschließt, die ihr mit der eigenen Anverwandlung an das Identitätsphantasma des Herrschers gesetzten Grenzen zu überschreiten, ist für beide Seiten ein katastrophischer. Kaum hat sie ihm die Illusion geraubt, daß sie sein vollkommenes Spiegelbild sei, daß beider Verständigung oder Identifizierung schweigend, also ohne sprachliche Hürden oder Vermittlungen möglich sei, gerät er im engen Wortsinn >außer siehe »ich habe dem Großmogul von Philoppopel gesagt, daß ich wieder reden könnte. Aber seine gelben Kuppelaugen, die noch eben dankerfüllt zum Himmel leuchteten, sind aus den Höhlen getreten, seine roten Haare stehen wie wilde Blitze gezückt«. (N 8 1 ) Die Mitteilung ent-setzt den Großmogul in seiner Machtposition, weil sie die Fiktion der totalen Vereinigung mit dem Anderen, das ihm hier in der Gestalt Tinos entgegentritt, zunichte macht. In diesem Moment kann er seine Autorität nicht mehr

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unter Berufung auf den einzigartigen Unfall, der ihm widerfahren ist, begründen. Denn der Stich des Insekts, das bemerkenswerterweise auch als >fremd< (N 77) gekennzeichnet wird, kann nicht mehr eindeutig, im Sinne einer Sakralisierung der souveränen Position, interpretiert werden. Das Hinzutreten der Ich-Erzählerin läßt vielmehr die Ambivalenz dieses von beiden erlittenen Unfalls hervortreten. Denn ihr, die im selben Moment, in dem der Mogul sich als über der Sprache stehender setzt, ihre eigene Sprache verliert, bleibt nur diese einzige Möglichkeit, ihrem unterdrückten und ausgegrenzten Begehren Ausdruck zu verleihen: sich bis zur Identifizierung der Position des Souveräns anzunähern, um sie dann von innen her zu unterlaufen und auszuhöhlen. Beide Positionen sind insofern symmetrisch, als sie das Gegenüber brauchen, um sich selbst Ausdruck zu verschaffen und zu bestätigen. Aber ihr Begehren zielt doch in beiden Fällen auf die Aussetzung von Grenzziehungen und Differenzen und damit in letzter Konsequenz darauf, das Gegenüber zum Verschwinden zu bringen. Eine Lösung, die zwischen den Ansprüchen des Herrschers auf eine herausgehobene Position der Autorität und denen der Dichterin auf Entfaltung eines anderen, utopischen Reiches, in dem die Grenzen durchlässig und Gegensätze vertauscht werden, vermittelte, kann es hier nicht geben. Die Geschichte demonstriert die radikale Unvereinbarkeit und Unvermittelbarkeit ihrer Ansprüche. Die Symmetrieachse, die den Text zunächst zu strukturieren scheint, wird nicht vorausgesetzt, sondern in aller Radikalität auf ihre Konstitutionsbedingungen hin befragt. Denn in dem Moment, in dem der Herrscher Tinos Nähe und Hingabe als Verstellung erfährt, erweist sich die (körperliche) Vereinigung als Verkennung einer unüberwindlichen Differenz, die als eine die Einheit zerstörende Dynamik unauflösbar an diese geknüpft ist. Die Verbindung von Vereinigungsphantasmen, die ausdrücklich auf politische Größen wie Staat und Volk bezogen werden, mit Körperbildern ist hier sehr deutlich gestaltet. Das sexuell konnotierte Bild der Vereinigung wird mit dem des monströsen Körpers des Großmoguls kontrastiert, der in dem Augenblick, in dem er sich seines (weiblichen) Gegenübers nicht mehr versichern kann, nurmehr als entstellter erscheint. Die aus ihren Höhlen getretenen Augen, ein bei Lasker-Schüler häufiger auftauchendes Motiv, 94 lassen sich als Zeichen dieser Entstellung lesen, die das vorsprachliche Sein des Körpers in Frage stellt und die Grenze von Sinn94

Ζ. B. in der ersten Geschichte des >Prinz von Thebens >Der Schedo, auf die im folgenden Kapitel noch näher eingegangen wird, oder in einer Passage aus dem Buch >GesichteDer Derwisch< heißt es über die Augen des Tyrannen: »die Wimper des Priesters ergreift mich; der Schatten seiner leeren Augenhöhlen fállt über die blutende Stadt. In Allah ruht sein frommsüchtiger Vater, der ihm die runden Lichte ausgestochen hat.« (PvT 106) Ebda., S. 85. Ebda., S. 85. V g l . auch ebda., S. 83: Der Blick wirft das A u g e »aus sich selbst hinaus, läßt es bis an die Grenze geraten, da, wo es sich aufbäumt unter der gleich zunichte werdenden Erleuchtung seines Seins und läßt nichts zurück als die kleine, weiße blutgeäderte K u g e l eines aus seiner Höhle getretenen Auges, dessen weiße Masse jeden Blick ausgelöscht hat. Und an der Stelle, wo einst der Blick entstand, ist nun nur noch die Höhle in einem Schädel, einer Nachtlampe, vor der das herausgerissene Auge das Lid schließt, ihm so den Blick nimmt und dieser Abwesenheit trotzdem das Schauspiel eines unzerstörbaren Kerns bietet, den jetzt der tote Blick gefangenhält. In der Distanz der Gewaltanwendung wird das A u g e absolut gesehen, außerhalb seines Blicks: das philosophierende Subjekt ist aus sich selbst hinausgeworfen worden, wird bis an seine Grenzen

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In den Geschichten der >Nächte< wird eine solche »Zweitsprache« immer wieder mit der Tino-Figur, die dem Souverän gegenübertritt, in Verbindung gebracht. Sie kann nicht durch sich selbst sprechen, sondern nur vom Ort des Souveräns aus, den sie destabilisiert, indem sie ihn als abhängig von einer ersten verkennenden Interpretation erscheinen läßt. Das seltsame Motiv des doppelten Insektenstichs läßt sich als die Körper markierendes Ursprungs-Ereignis lesen, dessen vereindeutigende Interpretation durch den Souverän in dem Augenblick zusammenbricht, wo Tinos Stummheit als Verschleierungsmanöver erkennbar wird. Ihre Verstellung wird dabei gerade nicht nur als Verschleierung eines Versuchs dargestellt, das von der Machtordnung Ausgegrenzte (Poetische, Differente) wieder in diese einzuführen. Vielmehr wird mit der Grenze dieser Vermittlung auch die äußerste Grenze der Ordnung, an der der Souverän auf seine eigene Leere trifft, gestaltet. Der Körper des Souveräns, der zugleich privilegiertes (geheiligtes) Zeichen für die Gesamtheit des Symbolischen ist — das hier ausdrücklich als Staat- oder Volkskörper figuriert i s t " —, ist selbst nur der Effekt einer entstellenden Interpretation eines nicht-kausalen, nicht heilbaren ursprünglichen Einschnitts, oder wie hier: Einstichs in den Körper. 100 Die monströsen Körperbilder markieren den eigentlich unmöglichen Versuch, den Körper als (Oberflächen-)Effekt einer Verschleierung erkennbar zu machen, die nicht eine originär-substanzielle Einheit verbirgt, sondern eine irreduzible Differenz und Spaltung im Innern des Symbolischen und der Souveränität. Der Ort der Erzählerin im Text ist somit der der Souveränität, sofern diese nicht nur äußerste Grenze, privilegierter Ort einer Symbolordnung ist, sondern als deren Schwelle zugleich einen anderen Raum, eine Verräumlichung der Grenze selbst, bezeichnet. Die Konstellierung der beiden

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verfolgt, und die Souveränität der philosophischen Sprache spricht aus der Tiefe dieser Distanz, in der maßlosen Leere, die das herausgetretene Subjekt hinterlassen hat.« Vgl. Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (1842), in: Sämtliche Werke, Bd. 2 (Philosophische Kritiken und Grundsätze), hg. v. Friedrich Jodl, Stuttgart-Bad Canstatt, 2. Aufl. 1959, S. 2 2 2 - 2 4 4 , (S· 244): »Im Staate werden die wesentlichen Qualitäten oder Thätigkeiten des Menschen in besonderen Ständen verwirklicht; aber in der Person des Staatsoberhauptes wieder zur Identität zurückgeführt. Das Staatsoberhaupt hat alle Stände ohne Unterschied zu vertreten; vor ihm sind sie alle gleich nothwendig, gleich berechtigt. Das Staatsoberhaupt ist der Repräsentant des universalen Menschen.« Unheilbar erscheint das Verstummen des Großmoguls in der Geschichte, weil sich dessen Ursache nicht als von außen kommende nachweisen läßt: der Stich des >fremden Insekts« ist außerhalb der Sinnökonomie angesiedelt, die Identität und Differenz voneinander scheidet. Das Fremde ist hier zugleich das Eigenste, nämlich der Grund der sakralisierten Position des Großmoguls.

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Figuren der Erzählung enthüllt einerseits die zur Etablierung der souveränen Position notwendige Geste der Sakralisierung — der Großmogul wird von einer scheinbar von außen kommenden Instanz, von dem fremden Insekt, (ausgezeichnet, so daß er fortan nurmehr als >erhabener Herr< ( N 7 7 , 79—81) tituliert wird. Andererseits wird dieser geheiligten Position durch das Hinzutreten von Tino eine Ambivalenz eingeschrieben, die in ihr nicht im Hegeischen Sinne aufgehoben werden kann, sondern sie von sich selbst differieren läßt. Daß die Begegnung zwischen Erzählerin und Souverän eine unheilbare Differenz zutage treten läßt, macht die Geschichte noch durch ein weiteres Szenario deutlich. Nachdem sich nämlich im Land die Kunde verbreitet hat, der Großmogul sei tobsüchtig geworden, gibt man Tino die Schuld. Der Abgrund der Ordnung und des Sinns, der fur einen Moment aufgeklafft war, wird durch Tinos Vertreibung wieder geschlossen: »Man reißt mir das Gewand vom Körper, den Schleier vom Antlitz, schneidet meine langen Locken ab, und der Sultan hat den Zorn über mich gesprochen - und vertrieben werde ich aus dem Garten des Reichspalastes.« ( N 82) Die unheimliche Ähnlichkeit wird durch die Abspaltung des Elementes überwunden, das hier durch Tino verkörpert wird. Man nimmt ihr alle weiblichen Attribute und verstößt sie aus einer Ordnung, in der damit wieder alle Unterscheidungen, also männlich und weiblich, Reden und Schweigen, Mensch und Tier etc. restituiert sind. Tino aber befindet sich, nach dieser mimetischen Wiederholung eines Aktes der Verwerfung, der offenbar mit der Aufrichtung des Symbolischen eng verknüpft ist, in einem Außen, in dem ihr jede weitere Suche nach dem Begehrten verwehrt ist: Der von ihr aufgesuchte Hassan erkennt sie nicht und verhöhnt sie, und auch die Tante weist sie ab. Der Bereich des Außen, in den sie als Figuration des Abjekts, des verworfenen Anderen, das sich weder als Subjekt noch als Objekt darstellen läßt, 1 0 1 gestoßen wird, verknüpft sich wiederum mit dem Tierischen. Einziges Gegenüber Tinos ist nunmehr ein Esel: »Und abends liegen wir unter dem großen Mondhaupt, mein Esel und ich, und ich deute mein Geschick, die eingeschnittenen Bilder seiner haarigen Haut! « (N 82) Das Abjekt als Gegenfigur des Souveräns 101

Vgl. die Weiterentwicklung des Konzeptes der Verwerfung, die Kristeva in ihrem Buch >Pouvoirs de l'horreur< mit dem Begriff des Abjekts beschreibt. Wiederum auf den Freudschen Begriff der Urverdrängung Bezug nehmend, präzisiert sie nun, daß das Ich (»moi«) von dem abgespaltenen Anderen, das sein alter ego sei, welches es nicht integrieren oder distanzieren könne, >besessen< sei: »un Autre qui me précède et me possède, et par cette possession me fait être. Possesion antérieur de mon avènement [ . . . ] Inhérence de la signifiance au corps humain.« Julia Kristeva: Pouvoirs de l'horreur. Essai sur l'abjection, Paris 1980, S. 18.

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kann >sich< nur in einer Schrift erkennen, die den Einschnitt in den Körper nicht verdeckt, sondern sichtbar macht. Insofern zudem hier der Leib eines Tieres geritzt erscheint, wird die Problematik desjenigen imaginären Aktes, der den (menschlichen) Körper als dem Bezeichnungsprozeß vorausliegende Einheit setzt, sogar auf doppelte Weise noch einmal zur Schau gestellt. Das Zeichen für das universal Menschliche (vgl. Feuerbach) verdankt sich, wie das Bild deutlich macht, einer gewaltsamen Grenzziehung, die den Bereich des Menschlichen überhaupt erst konstituiert. 102 Das Schlußbild der Erzählung, das Tino als in einen Raum außerhalb der Ordnung Verstoßene beschreibt, der zugleich an deren Konstitutionsprozeß geknüpft ist, deutet schließlich eine Begegnung an, die den Orientalismus der >Nächte< noch einmal kommentiert: »Und ein Abendländer kommt und fragt mich nach dem Preis eines Eselrittes am Ufer des Bosporus«. (Ν 8 2 ) 1 0 3 Hier erscheint die Ich-Erzählerin schließlich in einer Position, die jede Idee kultureller Vermittlung bzw. Erneuerung der westlichen Zivilisation aus den Quellen orientalischer Fülle und Imagination ad absurdum führt. Dem offensichtlichen Bemühen des Touristen, den Orient in seiner vermeintlichen Ursprünglichkeit mittels eines bezahlten Eselritts zu erleben, steht die Situation Tinos als aus dem orientalischen Kontext des Palastes Vertriebene entgegen. N i m m t man an dieser Stelle die oben vorgeschlagene Interpretation ernst, daß die Geschichte die Überschreitung einer Schwelle gestaltet, die im entscheidenden Moment der Begegnung durch eine Verwerfung wieder rückgängig gemacht wird, so deutet sich hier auch der Herkunftsort Tinos an, der mit dem Ort der Autorin Lasker-Schüler koinzidiert. 104 Abend- und Morgenland begegnen sich nicht durch die erzählerische Vermittlung, sondern treffen nur im Modus der Verwerfung und Verfehlung zusammen, die sich mit dem Identifi-

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Kristeva schreibt, die Abjektion »nous signifie les limites de l'univers humain.« Kristeva, Pouvoirs de l'horreur, S. 18. Der Bezug auf das Abendland findet sich in den >Nächten< noch an zwei weiteren Stellen. Einmal ist davon die Rede, daß sich neben dem Harem »die schwere Fahne des Botschafters wie eine fremde, abwehrende Hand« erhebe (N 62), offenbar ein Hinweis auf Kolonisation. Expliziter wird es in der Geschichte >Der Sohn der Lîlames wo der kindliche Herrscher Konstantinopels selbst ins Abendland, in die »Kaiserstadt der Deutschen« reist, um dort mit einer zweiten exotischen Kuriosität, einem »Elefantenriesenmonstrum aus Ostindien« zusammenzutreffen (N 88), das dort ausgestellt wird. Die Selbst-Erniedrigung des als Dichter-Souverän gestalteten Prinzen kommentiert die Ich-Erzählerin zuletzt mit den Worten: »Mir aber rannen schmerzende Tränen über das Herz « (N 90). Ähnliche >Sprünge< zwischen der Welt des Textes und der seiner Autorin gibt es in der Lasker-Schülerschen Prosa häufiger. Über den Malik heißt es einmal, er »träumte, es wäre eine abendländische Dichterin in einem kleinen Kämmerlein hoch in einem Turme und spiele mit dem Mond und seinen Sternen Zickzack.« (M 487)

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kationsversuch unmittelbar verbindet. Der Abendländer der Erzählung scheint die Verkennung dieser unüberwindlichen Differenz noch einmal zu verkörpern. Denn sofern er Geld fiir den Eselritt und den Anblick Tinos im Fez bezahlt, glaubt er offenbar (wie zuvor der Großmogul) daran, das Andere erfahren und in seinen Besitz bringen zu können. Die Analyse zeigt aber, daß diese Position gerade nicht Quintessenz der Lasker-Schülerschen Texte ist. Diese exponieren vielmehr jede Souveränität als illusionär, die sich als über den Gegensätzen stehende wähnt. Lasker-Schülers Orient wird von Souveränen repräsentiert, die sich als geheime Doppelgänger der Erzählerin erweisen und umgekehrt. Damit ist ersterer der Weg verstellt, etwas anderes als ihr eigenes Imaginäres zu erfassen, das sich doch immer in dem Moment, wo es sich als Idealbild zu realisieren scheint, wieder entzieht. 4.2. Der Richter und seine Hinrichtung In einigen Geschichten wird die Beziehung zwischen dem souveränen Herrscher und der Dichterin auch als Verwandtschaftsverhältnis gestaltet. Dieser Befund scheint zunächst der zuvor formulierten These zu widersprechen, daß Tino jeweils von außen, eine Schwelle überschreitend, in einen ihr fremden patriarchalen Herrschaftsbereich hineingelangt. Es läßt sich jedoch zeigen, daß dies etwa in den Erzählungen >Ached Bey< oder >Minn< keineswegs bedeutet, daß Souverän und Dichterin durch eine vorsymbolische Verbindung aufeinander bezogen wären. Im Gegenteil: Gerade indem sie immer wieder als Onkel und Nichte erscheinen, wird auf eine Grenzziehung angespielt, mit der das Symbolische einsetzt, ohne daß dieses Ereignis auf eine Naturprozeßhaftigkeit zurückgeführt werden könnte. Die entscheidende Begegnung der beiden ähnelt in >Ached Bey< der Vereinigungsszene aus >Der Großmogul von Philippopelsexuierte< Konstellation zwischen Vater und Sohn, die als Konkurrenten gegenüber der Mutter auftreten, angenommen wird, 1 0 6 kommt das strukturalistische Modell von Lévi-Strauss ohne solche Voraussetzungen aus. 107 Als Basiselement der Verwandtschaftsstruktur beschreibt er das »Avunkulat«, worunter die in vielen primitiven Gesellschaften zu beobachtende besondere Beziehung zu dem Onkel mütterlicherseits verstanden wird. O b der Onkel als (vaterähnliche) Autorität verstanden wird oder zu ihm eine besondere Vertraulichkeit hergestellt werden kann, der privilegierte Status dieser sozialen Beziehung läßt sich in jedem Fall darauf zurückfuhren, daß ihr das Inzestverbot und die damit verbundene Verschiebung eingeschrieben ist: Der ursprüngliche und unreduzierbare Charakter des Verwandtschaftselements, wie wir es definiert haben, ergibt sich tatsächlich unmittelbar aus der allgemeinen Existenz des Inzestverbots. Dieses bedeutet, daß in der menschlichen Gesellschaft ein Mann eine Frau nur von einem anderen Mann erhalten kann, der sie ihm als Tochter oder als Schwester abtritt. Man braucht also nicht zu erklären, wie der Onkel mütterlicherseits in die Verwandtschaftsstruktur hineingerät: er erscheint dort nicht, er ist unmittelbar gegeben, er ist deren Bedingung. 1 0 8

In der Geschichte >Ached Bey< wird offensichtlich die Verräumlichung, die mit dem »Verwandtschaftsatom« der Onkelbeziehung verbunden ist, rückgängig gemacht. Der Text legt nahe, daß die Machtordnung des Kalifen über einem verdrängten Begehren errichtet ist, dessen Erfüllung mit der Auflösung ihrer Strukturen einhergeht. Uberall im Palast trifft Tino auf Spuren von »Naemi«, deren Beziehung zu dem Kalifen zweimal als »Jüdin seiner Jugend« benannt wird. (N 65, 67) Insofern das ausgegrenzte >Fremde< mit Attributen des Jüdischen und Weiblichen assoziiert wird, die Tino wieder in die Ordnung einzuführen scheint, wird nahegelegt, daß sie auch zu Naëmi, der Grenzgängerin der biblischen Ruth-Geschichte, in einer engen Beziehung steht. Ist die deutlich sexuell konnotierte Begeg-

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Freud übernimmt von Frazer die These, nicht die Inzestscheu sei angeboren, sondern im Gegenteil stelle der Inzest einen natürlichen Impuls dar. Erst das Verbot der sexuellen Vereinigung mit den nächsten Personen jedoch sei kulturschaffend, indem immer neue Ersatzobjekte fur das eine, verbotene Objekt gefunden würden, das die Wiedervereinigung mit der Mutter und damit ein Ende des Begehrens verspricht, wodurch die Erfüllung endlos verschoben wird. V g l . z . B . Freud: Totem und Tabu, S. 409, 4 1 4 .

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Die Voraussetzung, die wiederum seinem System zugrundeliegt und die vielfach kritisiert wurde, ist die Annahme, daß primitive Gesellschaften auf Frauentausch basieren: LéviStrauss: Strukturale Anthropologie, Bd. I, S. 62, 74f.

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Ebda., S . 6 1 .

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nung zwischen den beiden Figuren bereits als »abgeschwächte Form des Inzests« 1 0 9 lesbar, so wird darüberhinaus eine verdrängte inzestuöse Konstellation dadurch angedeutet, daß Naëmi in die Position der Schwester des Oheims gerückt wird. Als seine Nichte könnte Tino dann zugleich seine eigene Tochter sein, sofern man den Inzest zumindest als mögliches Ereignis der Vergangenheit in Betracht zieht. Die Geschichte läßt sich jedoch nicht als Kriminalgeschichte lesen, die ein definitv stattgehabtes Verbrechen allmählich aufdeckte. Vielmehr bleibt das Ereignis, das Tino und den Kalifen in eine Beziehung setzt, die sich nicht als eine zwischen klar voneinander abgrenzbaren Subjekten beschreiben läßt, als solches unbestimmt. Naëmis Judentum deutet zudem auf eine andere Schwesternschaft: die enge, aber gerade darum sich gegenseitig ausschließende Beziehung zwischen den beiden monotheistischen Religionen Islam und Judentum. In beiden Fällen ist eine Verbindung angedeutet, die sich nicht symbolisch repräsentieren läßt, deren Verwerfung vielmehr für die Kalifen-Ordnung konstitutiv ist. Wie auch in der Geschichte >Der Großmogul< steht der sexuelle Akt in engem Zusammenhang mit dem Versuch des Herrschers, seine Macht zu totalisieren, d.h. auch noch die Elemente, die der unmittelbaren und ausnahmslosen Wirksamkeit seiner herrscherlichen Gewalt entgegenstehen, auszulöschen oder einzuverleiben. Einer der Todgeweihten nämlich, die in den Vorhöfen der Macht der Urteilsvollstreckung harren, widersteht auf rätselhafte Weise seiner Tötungsgeste: »der Kopf des jungen Fremdlings sitzt noch trotzig im Nacken.« (N 66) Die herrscherliche Gewalt scheint in ihrem eigenen Herrschaftsbereich an eine unüberwindliche Grenze zu stoßen. Die Macht zu ihrer Überwindung und damit zur Tötung des später auch als jüdisch gekennzeichneten Fremdlings gewinnt der Kalif erst in dem Augenblick, in dem er sich der an seiner Seite sitzenden Nichte Tino bemächtigt: »Die große Hand meines Oheims flattert in meinen Schoß, aber ich kann den sich aufbäumenden Hieroglyphen im Pochen seines Pulses nicht deuten.« ( N 66) Doch auch wenn der Fremdling im selben Moment, in dem Tinos Körper vom Herrscher unterworfen wird, tatsächlich stirbt, so fällt wiederum die endgültige Aufrichtung der Herrschermacht mit deren Kollaps zusammen: »Mein Oheim, der Kalif, liegt im Palast tot auf seiner großen Hand.« Die »Hieroglyphen seiner großen Hand«, die den Machtcode verschlüsseln, 1 1 0 sind gerade im Moment der größten Nähe nicht entzifferbar. 109 1,0

Feßmann: Spielfiguren, S. 178. Vgl. ebda., S. 174.

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Tino ist auch hier weder neutrale Vermittlerin einer orientalischen Fremdheit oder Ursprünglichkeit, noch eine Scheherazade, die durch ihre dichterische Produktivität die Gewaltherrschaft in eine friedliche Ordnung überführte. Zwar wird zuletzt ein Raum jenseits der zusammengebrochenen Machtordnung des Kalifen beschrieben, doch handelt es sich dabei nicht um eine Friedensutopie, in der die Gegensätze versöhnt und alles Verdrängte und Ausgegrenzte restituiert wäre. Auch wenn, wie Meike Feßmann betont, sich offensichtlich die Attribute des zuvor verdrängten Weiblichen und Jüdischen zuletzt ausbreiten und vervielfältigen, so ist dies doch zugleich mit sehr beunruhigenden und bedrohlichen Bildern verknüpft. Tinos Tanz, der schließlich den ganzen Raum auszufüllen scheint (»ich tanze über die Wellen der Meere, wirble den Sand der Wüste auf«, Ν 6η) symbolisiert nicht nur, wie Feßmann schreibt, »eine fast mythische Verkörperung elementarer Kräfte« durch die Erzählerin. 1 1 1 Denn zum einen verdunkelt er »wie eine finstere Wolke« Bagdad, verstellt also den Blick eher, als daß er eine unbegrenzte Perspektive eröffnete. Z u m anderen wird die Vorstellung einer Verkörperung des ganzen Raumes oder einer ursprünglichen Kraft durch ein weiteres monströses Körperbild zurückgewiesen: »Alle meine schwarzen Perlen sind eingesunken wie Höhlen«. (N 67) Im Gegensatz zu dem Bild der aus den Höhlen getretenen Augen handelt es sich hier nicht um die Ausstülpung einer Körpergrenze, sondern um die Einstülpung eines Fremdkörpers, nämlich des normalerweise nur auf der Haut aufliegenden Schmucks. 1 1 2 Damit ähnelt das Motiv zugleich dem der geritzten Tierhaut, das ja ebenfalls eine ursprüngliche Spaltung und Versehrung des Körpers figuriert. Indem es sich zudem um »schwarze Perlen« handelt, die als eingesunkene wie schwarze Löcher erscheinen müssen, wird in verstellter Form ebenfalls das Motiv der »ausgestochenen Lichte« wiederholt. 1 1 3 111

Ebda., S. 1 7 5 . Insgesamt greift die von Feßmann vorgeschlagene Interpretation der Geschichte, daß sich hier zwei Ordnungsmuster gegenüberstehen, zum einen das der herrschaftlichen Zentralisierung und Eindeutigkeit und zum anderen das der entgrenzenden und zerstäubenden Vervielfältigung von Sinn, zu kurz, da es den Zusammenhang der beiden Prinzipien und damit die Konstellation Erzählerin-Souverän nicht beschreiben kann. Ähnliches gilt für die Lektüre Liskas, die in der Feststellung gipfelt, hier werde das Prinzip des Tyrannen und das des Dichters (das mit jüdischen Attributen verknüpft werde) gegenübergestellt, wobei sich das Ich von der Seite des ersteren zur letzteren hinwende und schließlich eine »messianische Erlösung« gestalte. Liska: Die Dichterin und das schelmische Erhabene, S. 95 — 100.

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Zum Schmuckmotiv vgl. auch weiter unten die Betrachtung der Erzählung >Ich tanze in der MoscheeNächte< einsetzen. Vgl. Anm. 96 (und folgende). Die Farbe Schwarz, die in dieser Erzählung als Zeichen

1,5

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Die Erzählerin verkörpert also nicht das Andere der Machtordnung, vielmehr werden Verkörperung und Repräsentation von Macht gleichsam an ihrer Schwelle in den Blick genommen. Zweimal taucht der Körper der Ich-Figur an entscheidenen Stellen der Erzählung auf, und in beiden Fällen wird er als Zeichen einer Totalität verworfen. Das erste Mal verbindet sich die Hand und damit der Machtcode des Kalifen mit ihrem Schoß, was als kritischer Versuch der ultimativen Aneignung eines Differenten beschrieben wird. Weder erfährt der Körper hier den Sinn der Macht (die Hieroglyphen bleiben unentzifferbar), noch läßt er sich diesem unterordnen. Er markiert lediglich die Schwelle, an der die Souveränität sich als totale Herrschaft setzt und im selben Moment kollabiert. Der Moment, in dem Gesetz und Körper verschmelzen, indem ersteres sich ihm unmittelbar einprägt, in dem also das Gesetz ohne Rest verkörpert wird, wird als phantasmatischer kenntlich gemacht. Das monströse Körperbild im zweiten Teil der Erzählung wiederholt und spiegelt gewissermaßen noch einmal diese Konstellation: Als Zeichen einer räumlichen Totalität spaltet sich der Körper (und der Raum) in sich selbst. In der Forschungsliteratur ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die Geschichte >Ached Bey< in ihren Motiven und Strukturen eine große Ähnlichkeit zu Kafkas >Strafkolonie< besitzt. 1 1 4 Dabei ist allerdings anzumerken, daß >In der Strafkolonie< später, nämlich erst 1 9 1 9 , veröffentlicht wurde, während die >Nächte der Tino von Bagdad< bereits 1907 erschienen. Die Parallelen zwischen beiden Geschichten, die das Verhältnis von Gesetz und Macht, Schrift und Gewalt erkunden, erschöpfen sich nicht allein in dem beiden gemeinsamen Hinrichtungsszenario, dessen ausführendes Organ (hier die Hand des Kalifen, dort die >Schreibmaschine< des Gesetzes) zusammenbricht, als sie zum Äußersten getrieben sich gegen sich selbst richtet. 1 1 5 Eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Geschichten, die das hier diskutierte Thema der Souveränität genauer ausleuchtet, besteht zudem in der Verknüpfung des auslösenden Moments, das die Maschinerie der Gewalt gleichsam entgleisen läßt, mit einem die Grenze der Machtordnung von außen überschreitenden Besucher. Der Figur der IchErzählerin bei Lasker-Schüler steht bei Kafka der Reisende gegenüber, der des Anderen an mehreren Stellen eine Rolle spielt, erinnert zum einen an die Schwarzen, denen in >Der Großmogul von Philoppopel< Arbeit im Land verschafft werden sollte, darüberhinaus aber auch an die Rahmenerzählung von >Tausendundeiner NachtDer Prinz von ThebenNächte< aufweist, wird jedoch die große Nähe zwischen den Lasker-Schülerschen Texten und den kulturanthropologischen Versuchen Freuds evident. Die folgende Analyse soll zeigen, inwiefern sich diese Texte wechselseitig kommentieren. Die Freudschen Modelle, und insbesondere der von ihm >erfundene< Mythos vom Mord am Urvater, 192 werden nicht so sehr als wissenschaftlich fundierter Bezugstext der Lektüren betrachtet, denn als ein gleichrangiges zeitgenössisches, also genuin modernes Textdokument.

6.2. Gott lieben: Vereinigungsphantasien, Mystik und mehr >Tschandragupta< ist sowohl der Titel der Lasker-Schülerschen Erzählung wie auch der Name ihres Protagonisten. Die Tino-Figur kommt hier nicht mehr vor, dennoch sind ihre Spuren noch deutlich erkennbar. Die Besonderheit der Erzählung besteht darin, daß sie eine jüdische Ordnung, für deren Aufrechterhaltung und Abgrenzung gegenüber Fremden die souveräne Figur des Oberpriesters einsteht, mit einer anderen, offenbar primitiven Religion im Sinne Freuds konfrontiert. Der Konflikt bahnt sich an, als der Sohn des Stammeshäuptlings Tschandragupta mit der Tochter des Oberpriesters der Juden ein Kind zeugt: »den nennt Tschandragupta: Tschandragupta und nach seines Weibes Vater, dem Melech.« (PvT 99) Dieser Sohn hat also zwei Namen, aber keine Heimat, der er sich ganz zugehörig fühlte. Die Konstellation ist hier insofern aufschlußreich, als 191 192

Freud: Totem und Tabu, S. 433. Z u m Status des Mythos bei Freud vgl. Felman: Beyond Oedipus, S. 1039, 1 0 4 4 Í V g l . auch Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 214: »Darum liegt das Gewicht von Totem und Tabu darin, daß es ein Mythos ist, vielleicht, wie man gesagt hat, der einzige Mythos, zu dem die Moderne fähig war.«

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das J ü d i s c h e nicht per se m i t Heimatlosigkeit in eins gesetzt wird. I m Gegenteil: D i e jüdische O r d n u n g , zu der Tschandragupta, der hier als F i g u r der Übertretung die N a c h f o l g e von Tino übernommen hat, Z u t r i t t begehrt, verschließt sich i h m . 1 9 3 A l s F r e m d l i n g wird er dort zunächst f ü r einen E n g e l gehalten, dann aber, als sein schleierartiges Federkleid — Z e i chen für den Grenzübertritt, der als ein >Flug an allen Sternen vorbei< gestaltet ist — sich spaltet und er erwacht, sehen die Leute, »daß er kein Gottgesandter ist und sie höhnen i h n « . ( P v T 9 9 ) Es bleibt offen, was die Leute hier tatsächlich sehen; i m Vordergrund steht -

und dies erinnert an

die Struktur der >NächteNächtePère-Version der Sprache< zur Kennzeichnung einer Sprach-Praxis, die die »Aushöhlung der Phantasmen« betreibe, indem sie die mütterliche und die väterlich-göttliche Position zusammenführe. Julia Kristeva: Reines Schweigen. Die Vollkommenheit der Jeanne Guyon, in dies: Geschichten von der Liebe, Frankfurt a.M. 1989, S. 284 — 303, (S. 298f.).

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greifen nicht, wieso der Oberpriester dem F r e m d l i n g die A u f n a h m e in die jüdische O r d n u n g verweigert. D e r n i m m t zwar den Fremden als G a s t in sein H a u s auf, aber seine Opfergaben verschmäht er »sanft«. ( P v T 1 0 0 ) 1 9 6 Offenbar ist i h m bewußt, daß diese -

es handelt sich e t w a u m ein aus

Elefantenzahn geschnitztes Räucherbecken »für den A l t a r J e h o v a s « ( P v T 1 0 0 ) — den jüdischen G o t t nicht ehren können, da sie m i t Elementen einer anderen R e l i g i o n vermischt s i n d . 1 9 7 Ü b e r die Vergeblichkeit seiner B e m ü h u n g e n , den O p f e r k u l t und den A l t a r J e h o v a s

>rein< zu halten,

scheint auch er sich aber offensichtlich nicht im klaren. D e n n die A n k u n f t Tschandraguptas setzt schließlich eine D y n a m i k in G a n g , die die Position des Oberpriesters selbst, die Existenz der jüdischen G e m e i n s c h a f t und zuletzt auch ihres Gottes auslöscht. D i e Z u r ü c k w e i s u n g der außergewöhnlichen G a b e n durch den Priester fuhrt zu einem doppelten Exzeß. Z u m einen steigert Tschandragupta seine G a b e n bis zu einer Verausgabung seiner selbst: A n s t a t t Tiere und Pflanzen opfert er Teile des eigenen Körpers: Aber Tschandragupta sinnt, das hartherzige Herz des Priesters zu gewinnen. Mühsam gräbt er nach Gold in den Wäldern der Oase und belegt den Hügel, auf dem der ersehnte Gottestempel steht, mit seinem Fleiß. Prägt ein Stück Leben seines Nackens nach der edelsten Münze des Judenlandes und legt das atmende Gold zu dem verglommenen. (PvT 1 0 1 ) D i e Passage führt das religiöse Begehren Tschandraguptas zusammen m i t d e m M o t i v des Geldes als universalem Tauschmittel. N o c h einmal w i r d deutlich, daß er das oberste (»edelste«) S y m b o l des Judenlandes nachzuerzeugen versucht und seine U n t e r w e r f u n g unter dieses S y m b o l deshalb zugleich dessen Sturz v o r b e r e i t e t . 1 9 8 D e n n der mimetische A k t wiederholt 196

*97

198

Die Gaben Tschandraguptas, die bis hin zur Selbst-Verausgabung immer exzessiver werden, ähneln denen des Khediven in der früher beschriebenen Geschichte. Wie diese erreichen sie das begehrte Ziel nicht, sondern zerstören, als Begehren des Begehrens des Anderen (das in diesem Falle als Tinos unstillbares, nicht auf den Khediven gerichtetes Heimweh erscheint), seine Funktionsbedingungen. Es sei jedoch bemerkt, daß nicht das Opferritual an sich Anstoß erregt, sondern die Umstände der Opferung (Ausführender, Opfergaben etc.). Auch im Alten Testament sind Opfer für den einen, jüdischen Gott durchaus an der Tagesordnung, sie werden sogar (wie etwa im Fall Isaaks, der dann durch ein Opfertier ersetzt wird) ausdrücklich von Gott angeordnet. Allerdings gibt es auch Passagen, in denen er das Opfern untersagt, etwa als der Opferdienst des Gomorrha-Volkes angeprangert wird: »Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke.« (Jes 1 , 1 1 ) »Bringt mir nicht mehr dar so vergebliche Speiseopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Greuel!« (Jes 1 , 1 3 ) Zum Begriff der Mimesis sei auf die bereits angeführte Definition Kristevas verwiesen. Außerdem aber auch auf Girard, der mimetischen Wunsch (eine konkurrierende Machtposition nachzuahmen, was in die Krise des Opferkultes fuhrt) und rituelle mimesis (die

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den Prozeß der Symbolisierung, auf dem das oberste Machtsymbol aufruht: Es handelt sich, wie beschrieben, um einen gewaltsamen Akt, einen »Mord am Körper« (Kristeva), der den Körper bedeutend werden läßt, indem er den Signifikanten in seiner Materialität der Funktion als Repräsentant >der Welt< oder >des Körpers< unterwirft. In den charakteristischen Bildern der Lasker-Schülerschen Texte, zu denen auch das angeführte gehört, wird dieses tote Zeichen hier mit einem Spiegelbild seiner selbst konfrontiert. Dieses jedoch birgt ihm gegenüber einen entscheidenden Überschuß: Zeichenkörper und bezeichneter Körper sind noch nicht klar voneinander getrennt. Das Zeichen >atmet noch< und markiert daher jenen Moment des ersten Einschnitts, in dem der Körper sich selbst der (Münz-)Prägung aussetzt, um bezeichnet werden zu k ö n n e n . 1 " Das Dilemma Tschandraguptas, keiner Ordnung ganz und gar anzugehören und deshalb ohne sozialen Halt, ohne Identität und auch ohne Gott zu sein, spitzt sich hier in der Problematisierung von Opferritual, Signikationsprozeß und Verkörperung zu. Die Katastrophe, der Zusammenbruch der Opferökonomie und aller gemeinschaftsstiftenden Symbole, ist in diesem Moment unabwendbar. Die Menschen, die wie Tschandragupta selbst das Verbot des Priesters allein mit dessen Hartherzigkeit erklären und offenbar eine göttliche Wahrheit hinter den priesterlichen Verboten und den durch ihn vermittelten (Um-)Wegen zu Gott freisetzen wollen, wenden sich gegen den Oberpriester und fordern »sein Opfer«. (PvT 1 0 2 ) Aber dessen Absetzung mündet nicht in die Erlösung von Gesetz und Verbot und in die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung, sondern in die Entfesselung einer alles affizierenden, alle Strukturen und Identitäten mit sich reißenden Gewalt. Diese Gewalt wird mit Tschandraguptas exzessivem Begehren in Verbindung gebracht, seine Heimsuchung des Judenvolkes ist jedoch viel mehr als die schicksalhafte Entgleisung eines einsamen, unverstandenen »Amokläufers«. 200 Es handelt sich weder um eine von außen kommende Gewalt, noch um eine, die sich mittels Gastfreundschaft und interreligiöser Tole-

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verstellte, verschleiernde Nachahmung eines vermeintlichen Gründungsakts) unterscheidet. Girard: Das Heilige und die Gewalt, S. 2 1 7 — 2 1 9 . Das Motiv des atmenden Kunstwerks ist in der gesamten Prosa Lasker-Schiilers häufig anzutreffen. So heißt es etwa in >Ich räume auflc »Jeder wahre Dichter unter den Künstlern erreicht die Zeit, Kunst und Dilettantismus zu unterscheiden, Lebendes und Lebloses, Beweglichkeit oder Stillstand, Gutes oder Schlechtes. [ . . . ] Des Dilettanten Erzeugnis ist unlebendig Ding, erfreut sich nicht am Wechselspiel der Atmung« (IRA 548) und »Mögen dem Gedicht, dem Bilde, der Skulptur oder der Vertonung, ja sogar mehrere Glieder fehlen, immer bleibt es dennoch Körper, da es vom Odem belebt, atmet und sich so unterscheidet vom Machwerk«. (IRA 549) So hieß die Geschichte in der Erstausgabe, und auch mit dieser Figur identifizierte sich die Briefschreiberin Lasker-Schüler: »ich bin selbst der Amokläufer [...], es giebt kaum

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ranz, wie sie der Oberpriester offensichtlich zu üben versuchte, hätte auf Distanz halten lassen. Mit Tschandragupta kehrt die Erinnerung an ein namenloses Ursprungsopfer ins Zentrum der Ordnung zurück. Und doch kann von Erinnerung letztlich keine Rede sein, denn die Wiederkehr dieser Gründungsgewalt zerstört alle Instanzen, denen innerhalb der Ordnung das Gedenken des Ursprungs (in Gott) oblag. Die Gewalt, die zuletzt als durch ihn verkörperte umgeht, betrifft die gesamte Ordnung und läßt sich, ganz analog zu der von Girard beschriebenen Gewalt des ersten, »versöhnenden« Opfers, nicht mehr begrenzen bzw. im Rahmen halten: »Mit geöffnetem Rachen irrt der Fremdling an die Wände der Häuser vorbei. Die verscheuchten Rosen der Hecken flattern auf, sein Atem peitscht die Bäume und Sträucher um. Über die tobende Menge setzt er, >wer wagt Schaitan zu bezwingenN«. (PvT 1 0 2 ) 2 0 1 Und zuletzt: »Niemand hemmt den Wandel des Melech's Enkel. Auch im ergrauten Feierkleid der tempelalte Knecht nicht.« (PvT 1 0 3 ) Bei Girard liest sich die Beschreibung der Ursprungsgewalt, die durch eine Krise des Opferkultes freigesetzt wird, folgendermaßen: Während die Institutionen und die Verbote, die auf der gründenden Einmütigkeit beruhten, absterben, irrt die souveräne Gewalt unter den Menschen umher, und es gibt niemanden mehr, der sich ihrer auf Dauer bemächtigen könnte. Anscheinend immer bereit, sich mit den einen oder anderen zu prostituieren, entzieht sich der Gott letztlich immer, und sein W e g ist von Trümmern gesäumt. 202

Die »souveräne Gewalt« ist hier also nicht nur jene Gewalt, die der (menschliche) Souverän qua privilegierter Machtstellung und/oder göttlicher Erwählung ausüben kann, sondern eine umfassendere, die die Ambivalenz der Souveränität und des Göttlichen selbst zur Schau stellt: Allmacht und Selbstzerstörung zugleich. Tschandragupta verkörpert diese souveräne Gewalt, wobei sein Körper zugleich wiederum als in sich gespaltener, monströser erscheint. Bereits in der Mitte der Erzählung wird seine »Sehnsucht nach den Juden« mit einem Körperbild in Verbindung gebracht, das diesen als in sich selbst verschlungenen zeigt: »Glieder waren

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etwas, das ich nicht in meiner Hand getötet habe, jedes Gesetz, paßte es mir zur Stunde nicht, und alles womit sichs der Bürger bequem macht«. (BI 48) Die grammatikalisch inkorrekte Formulierung, der Fremdling irre »an die Wände der Häuser vorbei«, macht offensichtlich die paradoxe Gleichzeitigkeit von Struktur und Auflösung, von Häuserwänden (durch die man hindurchbrechen oder an denen man vorbeiirren kann) und Entgrenzungen deutlich. Girard: Das Heilige und die Gewalt, S. 2 1 1 . Es handelt sich hier um eine Analyse der >Bakchen< des Euripides. Das Kapitel ist bezeichnenderweise übertitelt mit »Vom mimetischen Wunsch zum monströsen Doppelgänger«.

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aus seiner Glieder Glieder gewachsen, die sich sehnsüchtig verschlungen hielten, wie die vielarmigen Götzen seiner Heimat.« (PvT 100) 2 0 3 Dem Begehren nach dem anderen Geschlecht weicht hier die Selbstberührung: Der Körper, der nicht mehr geschlechtlich markiert ist, vervielfältigt seine Glieder. Er ist nur noch auf sich selbst bezogen und stellt aber gerade darin eine Gefahr fur die geordnete Welt, in der er aufgetaucht ist, dar. Als grotesker Leib, wie ihn Bachtin als Element der Volkskultur und der Renaissance-Kunst beschrieben hat, tendiert dieser Körper, der durch herausragende oder herausstrebende Teile die eigenen Grenzen »überschreiten will«, zu einer Entgrenzung, die ihn sich schließlich auf die ganze Welt ausdehnen läßt: 2 ° 4 Der groteske Leib ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen. Er ist immer im Aufbau begriffen, im Erschaffenwerden. Und er baut und erschafft selbst den anderen Leib. Außerdem schlingt dieser Leib die Welt in sich hinein und wird selber von der Welt verschlungen. 205

Lebensanfang und Lebensende, Selbstschöpfung und Selbstvernichtung sind unauflöslich ineinander gewoben. An die Stelle einer Vereinigung der (von Gott geschaffenen, in Gott aufgehobenen) Gegensätze tritt eine Heterogenität, die sich durch keine dritte Instanz versöhnen läßt. Tschandraguptas »letztes Opfer«, das er verzückt zwischen seinen Zähnen trägt, ist Schlôme, die Tochter des Oberpriesters. Obgleich eine geregelte Geschlechterbeziehung bzw. eine sexuelle Szene angedeutet wird (»Schlôme salbt ihre Glieder wie zur Hochzeit«, PvT 102), gerät ihre Begegnung zum unkontrollierbaren Gewaltexzeß, der alle Differenzen tilgt, ohne Einheit und Erlösung herbeizufuhren. Wenn Tschandragupta zuletzt »in den Schleiern Schlömes« auftritt, sich im Tempel »hinter den Gittern« 200 zwischen die Frauen setzt und 203

Eine ganz ähnliche Beschreibung findet sich in einem Brief Lasker-Schiilers, in dem das Ich von sich behauptet: »Ich sitze wie ein steinerner Papst, ein kaltes Götzenbild mit tausend Fratzen, vielarmigverschlungenen Armen, die sich nicht heben zur Versöhnung«. (BI 40) Versöhnung findet dort nicht mehr statt, wo die verschiedenen Arme als Teile einer Figur erkennbar werden, die keiner vermittelnden dritten Instanz mehr unterworfen ist, da sie diese selbst - als gespaltene - ist.

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Vgl. hierzu Hermann: Raum - Körper - Schrift, S. 1 0 9 - 1 1 4 . Hermann fuhrt eine Reihe von Bildern aus Lasker-Schülerschen Texten an, in denen die Körper »außer sich« geraten sind. Dabei nimmt sie vergleichend auch auf Körperbilder bei Rabelais Bezug. Auch Feßmann schlägt bereits den Begriff der Groteske für die Textlektüre vor. Feßmann: Spielfiguren, S. 2 0 1 . Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, Frankfurt/M. 1990, S. 16. Auch die herausquellenden Augen und den aufgerissenen Mund, »dieses klaffenden und verschlingenden leiblichen Abgrunds«, nennt Bachtin als Charakteristika des grotesken Leibes. Angespielt wird auf die häufig vergitterte Empore der traditionellen Synagoge, die als

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sich zudem »wie ein kindtragendes Weib« (PvT 103) bewegt, so bedeutet dies keineswegs, daß er nun als Frau seinen Platz in der Ordnung gefunden hätte. Das Zusammenfallen der weiblichen Position und der des Souveräns, das sich hier andeutet, entspricht offensichtlich keiner utopischen Alternative zu der zuvor geschilderten patriarchalen Ordnung. Eher drückt sich hier eine Übersteigerung von Fremdheit und Differenz aus: Hinter dem Schleier verbirgt sich nicht mehr das Weibliche als rätselhafte Andersheit, die sich mit dem Körper, mit Geburt und Ursprung verknüpft, sondern ein monströser, die Geschlechterdifferenz überbordender Körper. Auch er ist, wie der Körper einer schwangeren Frau, >nicht einsumherirrende Gewaltam eigenen Leibe< reflektiert: Als Zeichen der höchsten Macht ist er zugleich der mit ihrer Aufrichtung verbundenen Gewalt als Täter ebenso wie als Opfer ausgesetzt. Mit Tschandragupta wird die jüdische Ordnung insofern von einem Fremden 207

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Auch Frazer berichtet von derartigen Ritualen, in denen der amtierende König entweder durch Selbstopfer oder durch einen Mann vom königlichen Stamme getötet wird. Frazer: Der goldene Zweig, S. 4 0 0 - 4 1 3 . Vgl. Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt/M. 1986, S. 99: »Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest.«

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heimgesucht, das sich auch als >primitives< Wissen um die Gewaltförmigkeit religiöser Repräsentation — als Urform jeder kulturellen Repräsentation — umschreiben läßt. Die Texte Freuds ebenso wie die Lasker-Schiilers lassen sich als Symptome der Rückkehr eines solchen Wissens in der Moderne lesen. Die Figur des autoritären Vaters verliert durch die Konfrontation mit einer fremden, aber doch verwandten Vatergestalt ihren Status als privilegierter Mittler einer Transzendenz, deren vermeintliche >Vergeistigung< und Reinheit der Abstraktion damit zugleich in Frage gestellt wird. Der Körper Gottes, der sinnliche Bezug zu Gott - diese Motive prägen bereits das >Peter Hille-BuchTschandragupta< wird das Thema des >fleischgewordenen menschlichen GottesGenießen jenseits des PhallusLiebesgang< (zur Vereinigung mit dem »königlichen Tempel« (PvT 127), nicht: in ihm\2I5) auf sich zu nehmen, geht Singa schließlich selbst: A u f dem Acker die Ähren und die Stöcke der Weinberge begannen zu brennen und die Herzen der Menschen in Theben waren zu Asche verfallen und die Flügelgestalten an den Brunnen der Gärten flogen auf. Und Singa, die Mutter des Melechs, ließ ihre Wangen jung malen, ihre Lippen schminken wie zur Liebesnacht, und sie trug goldene Ringe an den Zehen und Düfte im Haar und all Volk stand um den Tempel, bis sie ihn zerzaust verließ; ihre Glieder waren zerfressen, die Fetzen ihrer jungen Kleider hingen ihr um den Leib und ihre zerdrückten Augen tränten. (PvT I 2 7 f . )

Auch hier handelt es sich also um ein Begehren, das sich nicht innerhalb der Geschlechterordnung ansiedeln läßt. Es zielt vielmehr auf den Tempel als jenem Ort, der das Geheimnis der Geschlechterdifferenz und zugleich das Geheimnis Gottes (ver-)birgt. Doch wie auch im Beispiel der Pyramiden entpuppt sich dieser Ort zugleich als ein atopischer: Seine Symbolfunktion hängt davon ab, daß er den Abgrund, der an der Stelle des transzendentalen Symbols aufklafft, verhüllt. Er ist also, wie das Federkleid Tschandraguptas, ein Schleier, der nicht etwas, sondern nichts verhüllt. Der Ort der Wahrheit ist uneinnehmbar und, dies zeigen solche und ähnliche Textpassagen bei Lasker-Schüler, vor allem nicht mit dem Weiblichen

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Der Tempel wurde, wie die vorhergehende Geschichte berichtet, aus dem Gebein des toten Königs erbaut. Das bedeutet, daß das Gebäude — die Umhüllung mithin, die das Symbol der Wohnung Gottes auf Erden konstituiert — wiederum kein »reines Zeichen< ist, sondern aus nicht bestatteten Körperteilen als nach außen gekehrten Reliquien besteht. Damit reiht sich das Motiv ein in eine Kette anderer >noch lebender Zeichen«: die geritzte Haut, das atmende Gold, das Häuptlingshaupt auf dem Vorhang etc.

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oder Mütterlichen als Ursprungsort allen Seins zu identifizieren. Auch diese Versionen des Anderen sind nur aufgrund einer Verschleierung zu denken, die die des transzendentalen Signifikanten selbst ist. Denn im Innern des Gotteshauses ist die Mutter nicht als marienhafte Gebärerin des verehrten göttlichen Königs aufgehoben. Die Unbeflecktheit und Reinheit Marias, deren Leib im engen Sinne des Wortes von Gott gesegnet ist und die die prekäre Schwelle zwischen Geist und Fleisch, Gott und Sohn als eine heilige verkörpert, 2 1 0 wird hier durch das Bild des zerrissenen mütterlichen Körpers konterkariert.

6.3. Ödipus und sein Vater: jenseits der Kastration In den betrachteten Texten wird auf unterschiedliche Weise eine >Schwelle zum Jenseits< in den Blick genommen, die von den Priestern und Königen repräsentiert wird, solange die Opfer- oder Tauschökonomie der jeweiligen Symbolordnung intakt ist. Zuletzt steht dem irdischen Raum einer solchen gemeinschaftsstiftenden Ordnung meist eine Konstellation monströser Körperbilder gegenüber, die diese Schwelle nicht mehr verkörpert, sondern sie als Einschnitte, Zerstückelungen, Höhlungen und atopische Räume in die Ordnung selbst eingefaltet hat. 2 1 7 Die Geschichte >Der DerwischDer Prinz von Theben< auf >Tschandragupta< folgt, variiert das Thema des »verlorenen Jenseits« noch einmal in etwas veränderter Konfiguration der Personen und der Handlung. Bemerkenswert ist hier, daß die Figur des Priesterkönigs, des Derwisch, von Anfang an in eine engste körperliche Beziehung zu dem Gotteshaus gesetzt wird. Bereits die Szene des vor der Moschee tanzenden Derwisch erinnert an das Tanz-Motiv aus 216

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Analog findet in der Bibel (bes. natürlich im Neuen Testament) die »Konzeption einer theozentrischen Liebe« ihren deutlichsten Ausdruck und Beweis in der göttlichen Gabe des Sohnes. Vgl. dazu Julia Kristeva: Gott ist Agape, in dies.: Geschichten von der Liebe, Frankfurt/M. 1989, S. 1 3 4 - 1 4 4 , (S. 134). Zum Begriff der Einfaltung sei hier noch einmal auf Derridas Nietzsche-Lektüre verwiesen: »Sobald die Frage der Frau die entscheidbare Opposition zwischen dem Wahren und dem Nicht-Wahren suspendiert, [...] das hermeneutische Projekt, das den wahren Sinn des Textes postuliert, fur untauglich erklärt, die Lektüre vom Horizont des Sinns des Seins oder der Wahrheit des Seins befreit, vom Produktionswert des Produkts oder vom Gegenwartswert des Anwesenden, entfesselt sich die Frage des Stils als Frage der Schrift, die Frage einer spornenden Operation, die stärker ist als jeder Gehalt, jede These und jeder Sinn. Der geschärfte Sporn (des Stils) durchstößt den Schleier, zerreißt ihn, nicht nur, um das Ding selbst zu sehen oder hervorzubringen, sondern er löst die Opposition selbst auf, die auf sieb zurückgefaltete Opposition des verschleiert/entschleiert, die Wahrheit als Hervorbringen, als Entschleierung/Verheimlichung des Produkts in seiner Anwesenheit.« (Herv. D. B.) Derrida: Sporen, S. 153.

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den >NächtenTanz in der Moschee< zu Beginn der >Nächte< eine Schwelle zum Symbolischen figuriert. In dem Moment, in dem der Tanz vorbei ist und die Position des Derwisch etabliert, wird offenbar eine weitere Figur aus der von diesem nunmehr repräsentierten Ordnung ausgestoßen: »Ich reiche ihm [dem >wiedergeborenen< Derwisch, D. B.] Labung im Kelch der Derwischlilie und blase den aufgewirbelten Sand Ismael Hamed zu, der lehnt am Dorn der Oase und hat das Jenseits verloren.« (PvT 104) Während das Gotteshaus als sich mit dem Tanz konstituierender Ursprungs- oder Innenraum, dessen Mauern das Heilige vom Profanen trennen, mit der Mutter des Derwisch in Verbindung gebracht wird, heißt es von seinem Vater, er ruhe »[i]n Allah«. (PvT 106) Für seinen Übergang ins Jenseits ist offensichtlich der Sohn verantwortlich, denn der hat statt der Augen zwei leere Höhlen, die nicht sehen und selbst nicht angesehen werden dürfen: ein nun schon bekanntes Motiv eines monströsen Körpers am Ort der Souveränität, das hier bereits in der Eingangsszene auftaucht. Es wird mit dem Ödipusmotiv enggeführt, denn der Vater, so heißt es, habe ihm, dem Derwisch, »die runden Lichte ausgestochen«. (PvT 1 0 6 ) 2 1 8 Genau besehen ist diese Wendung paradox, denn der Vatermörder kann eigentlich nicht selbst dem Vater zum Opfer fallen, vielmehr ist das Zeichen der Kastration im Falle des mythischen Ödipus ein Menetekel, das den Vatermord erinnert, aber nicht den Vater als agierenden, bestrafenden,

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Vgl. hierzu auch Hermann: Raum - Körper - Schrift, S. 1 3 7 - 1 3 9 . Hermann beschreibt den Text vor allem als eine Artikulation von »Gefühlswertefn]«, als literarischen Ausdruck extremen Schmerzes oder Verlustes: »In der äußersten Depression bekämpft das Ich sich selbst in Phantasien von Gewalt, die den Schmerz nur noch als in Gemetzeln erlittene Qual zu artikulieren wissen. >KastrationPeter Hille-Buch< als eine Diskontinuität, der die göttliche Instanz selbst unterworfen ist. Genauer müßte man wohl im Plural von göttlichen Instanzen sprechen, denn deren Vervielfältigung gehört, wie das Zitat belegt, ebenso zum Lasker-Schülerschen Gottesbegriff wie die Möglichkeit des göttlichen Todes oder Untergangs. Der Bezug zwischen den Gott-Königen ist kein hierarchischer, und dennoch wird das Verhältnis zwischen ihnen als eines beschrieben, das mehr ist als eine freundschaftliche Beziehung. »Wer wird mir Schöpfer sein?« (MH 373), hatte das Ich des vorausgehenden Briefromans >Mein Herz< gefragt, und diese Frage bleibt als Anspruch an ein außerhalb Thebens situiertes Gegenüber auch im >Malik< zentrales Strukturelement. Der Akt der Identitätssetzung bleibt der Symbolgewalt des Malik letztlich entzogen, was gerade durch dessen Streben nach Totalisierung seiner Machtposition, nach seiner eigenen Vergöttlichung also, deutlich wird.

554

Der sich eingrabende Hieroglyph wird ausdrücklich mit einer von Ruben ausgehenden Gewalt gegenüber dem Malik verknüpft. Es handelt sich also um eine vom (Körper des) Malik nicht zu distanzierende oder zu kontrollierende Gewalt, die ihn zu einem nicht eindeutig entzifferbaren Zeichen werden läßt.

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8.2. Der Ursprung ist zwei: die »Venus von Siam« als Muttergottheit Als Grenz-Figur wird der Malik auch dadurch gestaltet, daß er permanent über das eigene Territorium hinausgeht, um Kriege zu fuhren und Eroberungen zu machen. Das Begehren, das seine Eroberungsfeldzüge leitet, erweist sich dabei als grenzenloses, da es offenbar darauf abzielt, alles Differente anzueignen und seinem eigenen Machtbereich einzuverleiben. Eindrückliches Beispiel hierfür ist sein Versuch, die »Venus von Siam«, die zugleich Standbild wie Göttin eines Nachbarvolkes zu sein scheint, in seinen Besitz zu bringen: »Ich werde die Venus von Siam bringen lassen in Meine Stadt; sieh, Ruben, und wenn ich ganz Siam hinmorden müßte im Kampf. Was der Basileus begehrt, gehört ihm.« (M 420) Während der Briefpartner Ruben im ersten Teil des Romans diesem Begehren offenbar zunächst entgegentritt (»die Du mich hindertest, vor Meiner Krönung zu erkämpfen«, M 422), gelingt die Eroberung schließlich doch. Was immer auch der biographische Hintergrund dieser merkwürdigen Bekenntnisse gewesen sein mag - Lasker-Schüler hat an anderer Stelle selbst verraten, daß sich eine bekannte Schauspielerin hinter der Benennung verbirgt: »Die Venus von Siam ist Kete Parsenow« (E 274) —, fur die Gestaltung der Souveränität im >Malik< ist vor allem ihre Modellierung als Muttergöttin bemerkenswert. Denn der Malik begehrt, wie immer wieder festgestellt wird, keineswegs die Frauen, denen er Verachtung oder Gleichgültigkeit entgegenbringt und die in der Beschreibung seines männerbündisch strukturierten Imperiums nur in Ausnahmefällen Erwähnung finden.255 Seine Männlichkeit definiert sich nicht in Abgrenzung von einem Weiblichen, mit dem er sich (körperlich) zu verbinden trachtete. Venus, die Göttin der Liebe, repräsentiert und reguliert hier nicht das Begehren zwischen den Geschlechtern. Auch ihre Körperlichkeit und Sinnlichkeit erstarrt vielmehr zu einem steinernen Zeichenkörper, der das Herrschersymbol des Malik zu verdoppeln scheint: [ . . . ] die geraubte Venus von Siam betrachtete er nur wie ein unvergleichliches K u n s t w e r k . » A n dem starren Kultus, den der Malik um seine Mondfrau baut«, so nannten die Menschen in Theben die siamesische Venus, »wird sie zu Alabaster werden.« ( M 4 4 8 )

Indem diese Venus ausgerechnet die »von Siam« ist, wird die Assoziation eines Zwillingspaares aufgerufen, das ursprünglich einen gemeinsamen

255

Vgl. etwa M 448: »Nur daß Assers Herz am Wesen der Frauen hing, verargte vielfach die Freude des Kaisers an seinem Häuptling. Denn Jussuf Abigail verbarg seine Abneigung gegen alles Weib, schon als Prinz von Theben.«

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Körper besaß, der aber zur Aufrichtung eines patriarchalen Symbolsystems, an dessen Spitze eine Vaterfigur, ein Gott, Priester oder König, thront, gewaltsam zertrennt werden mußte. Der Raub der »Gottfrau« (M 463) erscheint demnach im >Malik< strukturell äquivalent zu anderen, in den >Nächten< beschriebenen Versuchen, ein mit der Aufrichtung der patriarchalen Symbolordnung verworfenes Anderes wieder in diese einzuführen. Doch Lasker-Schiilers Experimente mit der Souveränität münden auch hier weder in Matriarchatsvisionen, noch in Utopien androgyner Herrscher und Götter. 2 5 6 Die Aneignung des (eigenen) Ursprungs, der hier durch die Muttergottheit als Symbol einer kulturellen Frühphase evoziert wird, führt keineswegs zu einer Befreiung unterdrückter Weiblichkeit und Körperlichkeit. Als exzessives Begehren stellt sie vielmehr einmal mehr eine Version des monströsen Körpers zur Schau, dessen einzelne Teile füreinander weder (Liebes-)Objekte sind, noch sich zu einer (androgynen) körperlichen Einheit zusammenfügen. An dieser Stelle wird auch erkennbar, inwiefern Lasker-Schülers Bildsystem von dem Freuds abweicht. Hatte nämlich letzterer in >Totem und Tabu< eingestehen müssen, daß er den Platz der Muttergottheiten in sein Modell von Urhorde, Totemmahlzeit und Herausbildung eines patriarchalen Monotheismus nicht recht zu integrieren wisse, 2 5 7 so kann LaskerSchüler dies offenbar durchaus. Statt der Beschreibung des kulturellen und symbolischen Gründungsaktes als Tötung eines Urvaters, suggerieren ihre Texte, daß die zerschlagene erste Einheit, der zerstückelte Ur-Körper, kein geschlechtlich markierter war, sondern männliche und weibliche Attribute als siamesischer Zwilling vereinte. Während Freud den Vatermord durch das Begehren der Söhne nach den Frauen motivieren muß, das er andererseits erst nach dem Mord und mit dem Entstehen ökonomischer Strukturen einsetzen läßt, kann Lasker-Schüler auf die Annahme einer dem Symbolischen vorgängigen Begehrensstruktur und Geschlechterdifferenzierung verzichten. A m Anfang war die Spaltung und daher nicht ein ganzer, 256

257

Zur Projektion kultureller Ursprünge auf vermeintlich matriarchale Kulturen vgl. vor allem das 1 8 6 1 erschienene, den Zeitgenossen Lasker-Schülers präsente Werk Johann Jakob Bachofens: Das Mutterrecht, Frankfurt/M. 1975. Bachofen behauptet, daß ursprüngliche weibliche Gottheiten nicht nur die Erde figurierten, sondern daß das Matriarchat »an allem Anteil haben muß, was des Weibes Naturanlage vor jener des Mannes auszeichnet«. Dazu zählt er Harmonie, Religion und vor allem Liebe. (Ebda., S. 23.) Freud: Totem und Tabu, S. 4 3 2 . Freud faßt hier seine These zusammen, daß zuerst ein Urvater alle Macht und vor allem alle Frauen monopolisiert hatte, woraufhin er getötet wurde und im Verlauf verschiedener Kulturstufen in der Gestalt eines Vatergottes wiederkehrte. Er fugt hinzu: »Wo sich in dieser Entwicklung die Stelle für die großen Muttergottheiten findet, die vielleicht allgemein den Vatergöttern vorhergegangen sind, weiß ich nicht anzugeben.«

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männlicher Körper, der das weibliche Begehren monopolisierte, sondern der monströse, zerstückelte Körper, der sich in keinem Ursprungsbild eindeutig fassen läßt. Dies wird bestätigt, wenn der Malik berichtet, er verpflichte alle Frauen darauf, allein für ihn zu schwärmen. (M 428) Damit wird er in die Position des Freudschen Urvaters gerückt, hinter der dann aber noch die Figur der Venus von Siam auftaucht. Diese besitzt er keineswegs bereits allein durch seine uranfängliche Machtfülle, er muß sie vielmehr erst in einer Zurschaustellung herrscherlicher Gewalt (von »Hinmorden« ist die Rede) rauben. Auch im Geschichtenbuch des >Prinz von Thebens in dessen AbigailEpisoden sich einige dem >Malik< sehr verwandte Passagen finden, taucht die Venus von Siam bereits auf. Hier wird die Gewalt des Eroberungszuges, infolgedessen alles Fremde in die eigene Ordnung überführt wird, explizit mit einer großen Gefahr für das Priesterkönigsamt Jussufs in Zusammenhang gebracht: Viele gefangene Heiden zogen dem glücklichen Siegeszug voran; ihre Göttin ließ Abigail verhüllt auf den Schultern seiner Kriegssklaven in den Tempel tragen. Er vergaß, daß er Gott mit dem Kultus beleidigte. Aber die Zebaothknaben bauten eine goldene Mauer aus ihren leuchtenden Leibern um ihren Melech und schützten seinen Odem, und lauschten den Worten seiner sprechenden Träume, und sie bereicherten ihre Sprache, daß jeder Fremde, der die Zebaothknaben sprechen hörte, sich der Schönheit ihrer Rede kaum entziehen konnte. ( P v T 1 2 3 O

Der Kult um die Venus sprengt das monotheistische Glaubenssystem, dem Abigail 2 5 8 seine hohe Position verdankt. Der Tempel als Ort des Heiligen und des Übergangs vom Diesseits zum Jenseits wird hier in seiner Schwellenfunktion uneindeutig, da er plötzlich zwei Göttern Platz bieten muß. Damit aber wird auch die Position des Priesterkönigs fragwürdig, der sich nicht mehr nur dem Gottesdienst verschreibt, sondern dessen Begehren offenbar auf jenen Schwellenmoment gerichtet ist, an dem die Symbolisierung Gottes an dessen Zerstückelung und Verdopplung grenzt. Gerade mit dieser ausdrücklich als gefährlich und prekär beschriebenen Konstellation aber wird die produktive Kraft des Malik verknüpft. Seine »sprechenden Träume« und die dadurch inspirierte Schönheit der Rede seiner engsten Vertrauten verdankt sich dem Versuch, das radikal Heterogene - hier im Bild von der Venusgöttin im Tempel Gottes — in der Sprache zu 258

Dieser Beiname Jussufs taucht häufiger auf. In der Bibel ist Abigail ein Frauenname (1. Sam 25,3). Abigail wird Davids Frau, nachdem sie ihn als denjenigen erkannt hat, der die > Kriege des Herrn< (1. Sam 25,28) führt und dessen Leute fremde Boten beschützen: »sie sind wie Mauern um uns gewesen Tag und Nacht«. (1. Sam 25,16)

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bergen. Es handelt sich um eine nicht-theologische Sprache, die die zentrale Sprecherfigur auf einer Schwelle situiert, die von keiner transzendenten Instanz abgesichert oder beglaubigt werden kann, weil sie die Kehrseite Gottes, seine uranfängliche Gespaltenheit, markiert.

8.3. Theben und der Körper des Königs Betrachtet man das Verhältnis der Ich-Figur als Kaiser von Theben zu dem Briefpartner Ruben oder zu der Venus von Siam, so wird bereits deutlich, daß ersterer nicht bloß einen Raum bezeichnet oder als geschlossene Ganzheit verkörpert, sondern daß sich an ihrer Stelle zugleich eine Kluft oder Höhlung dieses Raumes auftut. Ganz explizit wird diese prekäre Position des Souveräns im Text der Krönungsrede, der den in Briefen abgefaßten ersten Teil des Romans mit dem zweiten, einige Jahre später hinzugefugten, verbindet. Dort heißt es in der Ansprache des gekrönten Malik an sein Volk: »Ich, der Malik, bin das Schloß zu der Kette, die ihr bilden sollt« (M 4 3 1 ) , und etwas später wird noch einmal die Briefstruktur aufgegriffen mit der Mitteilung: »>Ruben, Mein Volk liebt Mich, Ich bin sein Tor; nicht ein Spalt fuhrt sonst zu ihm.Ich räume auf!das Blutfließen einer Ader< bedeuten, den Schauer der Schlacht laßt uns einen Mantel um unsere Schultern legen.« (M 4 3 1 )

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Staates, andererseits das Haupt desselben Körpers, als dessen Glieder die Untertanen galten. 201 Das Repräsentationsproblem, das in solchen Souveränitätskonzepten zum Ausdruck kommt, besteht nicht nur darin, daß ein sterblicher Körper einen über seinen Tod hinaus weiterbestehenden sozialen oder politischen >Körper< darstellen muß, sondern auch darin, daß der Körper des Königs durch seine symbolische Funktion verdoppelt wird. Denn die Einheit des Körpers, auf die die Metapher vom corpus repraesentatum262 zurückgreift, wird genau in dem Moment fragwürdig, wo der Königskörper zum herausgehobenen Zeichen wird. Der Körper des Königs ist, wie es bei Shakespeare heißt, »a thing of nothing«. 263 Jeder Versuch, ihn zu treffen oder zu verletzen, geht in die Leere, weil seine Substanz bloßer Schein ist. Er bedeutet das Ganze überhaupt nur dadurch, daß an seinem Ort eine Leere verhüllt wird, durch deren Verbergen das soziale Feld aufgespannt werden kann. Damit erscheint der Königskörper als Umhüllung oder Hohlraum, der der von ihm repräsentierten Ordnung zugleich angehört wie ein ihr unvereinbares Heterogenes in sich (ver-) birgt. 264 Eben dies artikulieren die zitierten Passagen aus dem >Malik< in aller Deutlichkeit. Der Malik ist Theben, und im selben Moment, in dem diese Identifikation behauptet wird, wird er als Tor, als Durchgang ohne eigene Substanz, gekennzeichnet. Insofern die Grenze zwischen dem Körper des Malik und dem Raum Theben nicht klar gezogen werden kann, tritt die Spaltung, die im Herrschersymbol sichtbar wird, auch im Körper der Gemeinschaft hervor. Das zeigt sich beispielsweise darin, daß der König seine Position nicht durchgehend besetzt, sondern in regelmäßigen Abständen von seiner Gegenfigur, dem »Neger Oßman«, ersetzt wird. Gleichzeitig wird Jussuf als Kaiser abgesetzt und unterwirft sich dem »braunen Basileus«. (M 434) Das Motiv des Positionentauschs bringt im Gegensatz zu einer geregelten Thronfolge oder Stellvertretung eine Differenz der königlichen Position zu sich selbst zum Vorschein. Knüpft die Konstellation Jussuf-Oßman an die Tradition des Verhältnisses des Königs zu seinem Hofnarren an, so geht 261

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Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 1 7 , 37, 238f. Ebda., S. 220. Der Begriff steht in einer Tradition mit der Bezeichnung der Kirche als corpus mysticum sowie mit anderen synonym fur den Staatskörper gebrauchten Begriffen wie corpus fictum oder imaginatum. William Shakespeare: The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark, in: The Complete Works, hg. v. Stanley Wells und Gary Taylor, Oxford 1986, S. 735-777, (Akt IV, Szene II, S. 763). »Hamlet: The body is with the King, but the King is / not with the body. The King is a thing — / Guildenstern\ A thing, my lord? / Hamlet: Of nothing.« Vgl. hierzu Zizek: Grimassen des Realen, S. 1 2 4 - 1 3 0 .

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sie doch darüber hinaus, indem sie beide Positionen als umkehrbare präsentiert. 205 Im Text findet dieser Positionentausch am sogenannten »Oßmanstag« regelmäßig statt: Ruben, Ich habe auch Meinen treuen Neger Oßman bedacht. Ich erfüllte damit den unerfüllbarsten Gedanken seines Lebens. Er soll einen Tag im Jahr Kaiser sein, Kaiser über Theben! Ich selbst werde des Dunkelhäutigen Untertan sein inmitten seines Eintagsvolks. ( M 4 i 8 f . ) 2 0 6

Dieser zeitlich streng begrenzte Rollen-Tausch erinnert an Umkehrrituale primitiver Gesellschaften, in denen die Inhaber entgegengesetzter gesellschaftlicher Positionen diese vorübergehend aufgeben und sich in die jeweils andere fugen müssen. Die etwa von Turner beschriebenen Rituale der Statusumkehrung erinnern in mancher Hinsicht an die von Frazer und Freud beschriebenen Krönungsrituale, die häufig mit blutiger Gewalt gegen die zu Priesterkönigen Ernannten verbunden sind. In beiden Fällen wird eine Schwelle des Symbolraumes erkennbar, an der die sozialen Positionen nicht festgelegt sind. Der Zustand des temporären Chaos, in dem Tabus gebrochen und normalerweise nicht erlaubte Gewalt — etwa gegenüber dem König - ausgeübt werden darf, läßt die Strukturen einer Ordnung hervortreten, indem er ihre Auflösung und Wiedereinsetzung immer wieder aufs neue in Szene setzt. 207 Im >Malik< wird der Ausnahmezustand, den die Kaiserkrönung Oßmans bedeutet, dadurch hervorgehoben, daß dieser, der als »viel elementarer« (M 424) als Jussuf charakterisiert ist, eine schier grenzenlose Freßbegierde entfaltet, die auch vor Menschen nicht Halt macht. Diese monströse Eigenheit scheint sowohl Furcht wie Belustigung hervorzurufen, stellt aber offenbar keine ernsthafte Bedrohung für Theben dar, sondern trägt sogar zur Festigung seiner Strukturen bei. 2 0 8 265

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Zum Narren als »Gegenüber« des Königs, der mit ihm die »Position des Außerhalb« teile, vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, S. 25 sowie ebda., S. 1 6 2 , wo vom Narren als »umgekehrten Doppelgänger des Königs« die Rede ist. Vgl. außerdem die z.T. ausfuhrlicheren Passagen M 462, 465^, 486. Turner: Das Ritual, S. 160: »Solche Riten können als Rituale der Statusumkehrung bezeichnet werden, in deren Verlauf die Untergebenen ihre Übergebenen oft verbal verunglimpfen, ja selbst körperlich mißhandeln.« Turner betont die Markierungsfunktion derartiger Riten: »Rituale der Statusumkehrung dagegen machen in ihren Symbol- und Verhaltensmustern soziale Kategorien und Gruppierungen sichtbar, die als selbstverständlich und sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Beziehungen zueinander als unveränderlich gelten.« (Ebda., S. 168.) Langfristiger Effekt solcher Übergangszustände sei es demnach, »die sozialen Definitionen der Gruppe umso stärker zu betonen.« (Ebda., S. 164.) Vgl. etwa M 424: »Er riß sein dunkel Maul auf, die Irsahabhäse mit seinen spitzgefeilten Zähnen zu zerreißen.« Oder M 434: »Aber gestern feierten wir noch den Oßmanstag. Ich und der Herzog hatten unsere helle Freude an dem fressenden, braunen Basileus. Er saß auf Meinem Dach in Meinem Mantel mit der Spielkrone, die Du Mir schenktest, auf dem Oßmanshaupte, und fraß einen schwarzen Hammel mit der Wolle und dem Schwanz

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Auch Oßman ist kein Stellvertreter des Malik in einem demokratischen Sinne. Während nämlich das Repräsentationssystem einer Demokratie die Trennung von Amt und Person dadurch gewährleistet, daß der Ort der Macht leer bleibt und von niemandem besetzt oder verkörpert werden kann, 209 findet hier gleichsam eine doppelte Verkörperung der höchsten Macht statt. Die Königsposition wird also nicht durch ein Gefüge von sozialen Relationen ersetzt, sondern abwechselnd von zwei einander entgegengesetzten Figuren besetzt. Hier deutet sich eine Verdoppelung der Figur an, was durch Formulierungen wie »schwarzer Malik« (M 466) bekräftigt wird, insbesondere aber durch das bereits zitierte Bild von Theben als einer Art Spielzeugland, das von seinem »kleinen Kaiser« morgens »aus einer Schachtel« genommen und abends von dessen Oßman wieder hineingelegt werde. (M 4 3 7 ) Die Herrscherfigur des Kaisers von Theben ist komplex gestaltet und läßt sich zu einer Reihe von Typen politisch-sozialer Herrschaft und Repräsentation in Beziehung setzen. Es zeigt sich jedoch, daß der monarchische oder sogar tyrannische Gestus, der in den wiederholten Einsetzungen und Selbstbehauptungen der Jussuf-Figur als Malik zutage tritt, nicht als formale Regression dieses literarischen Textes zu historisch überholten Repräsentationsstrukturen zu verstehen ist. Die ausdrückliche Zurückweisung eines Stellvertretungsprinzips, das man in politischen Kategorien als demokratisches bezeichnen würde, ist nicht gleichbedeutend mit einer Glorifizierung der Monarchie oder gar der narzißtischen Verherrlichung des schreibenden Ich als Führerfigur. Gleichwohl sind der >Malik< sowie die Ich-Figurationen Lasker-Schülers als königlicher Herrscher in Zusammenhang zu sehen mit einer tiefen, den Beginn des 20. Jahrhunderts charakteauf. [...] Die Schwermütigen wurden vor Lachen gesund, den Krüppeln wuchsen die Glieder wieder; alle wollten sie den schmausenden Basileus sehen« sowie M 435Í.: »Oßman, der unersetzliche schwarze Knecht, verkürzte dem Kaiser die Zeit, indem er ihn belustigte, einen Kosaken nach dem andern, die sich ihnen auf der Wanderung feindlich in den Weg stellen würden, auffraß.« =69 V g l hierzu die Ausführungen von Zizek: Grimassen des Realen, S. 1 3 0 — 1 3 7 . In einer Auseinandersetzung mit der These von Claude Lefort, die »demokratische Erfindung« habe darin bestanden, den Ort der Macht nicht nur vorübergehend, für die Zeit eines Interregnums, sondern dauerhaft leer zu lassen, betont Zizek: »die Tatsache, daß >der Thron leer ist< —, ist nunmehr der einzig >normale< Zustand. [...] Innerhalb des demokratischen Horizonts [...] ist jeder, der den Ort der Macht einnimmt, per definitionem ein Usurpator. Innerhalb dieses Horizonts ist nur erlaubt, daß ein politisches Subjekt vorübergehend mittels der Wahllegitimation Macht ausübt; sein Status ist genaugenommen der eines Stellvertreters. Wir sind uns der Distanz bewußt, die den Ort der Macht als solchen von jenen trennt, die die Macht zu einem gewissen Zeitpunkt ausüben. Demokratie wird gerade durch diese unüberwindbare Grenze definiert, die jedes politische Subjekt daran hindert, mit dem Ort der Macht konsubstantiell zu werden.«

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irisierenden Skepsis gegenüber einem abstrakten Repräsentationsmodell, das den >leeren Thron< zum Garanten für die Gleichheit und Souveränität der Individuen machte. Die Darstellung ritueller Formen der Gemeinschaftsbildung und Herrscherinitiation sowohl auf der Motivebene wie in der Textstruktur (Briefroman) ist als genuin moderne Reflexion einer Krise der Souveränität zu verstehen, sofern diese als höchste und ungeteilte Gewalt begriffen worden ist. 2 7 0 Der Souveränität, wie sie in den Texten Lasker-Schülers erscheint, wird gleichsam der Körper zurückerstattet, ohne daß sie dadurch restlos verkörpert wäre. Denn der Körper des Malik, der auch als Raum Thebens figuriert ist, ist selbst dem Wechsel von Erhebung und Sturz, Ausfaltung und Einschachtelung immer wieder aufs neue ausgesetzt. Es ist charakteristisch für die Lasker-Schülerschen Schreibexperimente, daß die Gespaltenheit und Ambivalenz der Souveränität nicht nur an den Rändern des Text-Raumes, sondern als konstitutives Moment in seinem Zentrum erkennbar wird.

8.4. Umhüllung und Fallgrube: der Prachtmantel des Kaisers Während die Motive der siamesischen Venus, des Ich als Tor oder Kettenschloß sowie des »Oßmanstages« bereits auf das Königssymbol als Ort einer Heterogenität hinweisen, die von ihm zugleich verhüllt wird, thematisieren die Beschreibungen der Kleider und Verkleidungen Jussufs ausdrücklich diesen Zusammenhang. Mehrmals entzieht dieser sich der Bürde seines kaiserlichen Amtes, indem er sich - häufig an einem Oßmanstag — in einfacher Tracht unter sein Volk mischt (M 478) oder als Spaßmacher in einer »grüngestrichenen Flachsperücke« (M 463) unerkannt bleibt. Der Wechsel des Kleides erscheint oft ebenso abrupt wie der Positionentausch zwischen Kaiser und Oßman. Eine zirkusähnliche Vorstellung des als Gaukler verkleideten Jussuf etwa endet in plötzlichem Kleiderwechsel: Die Gäste zu ergötzen, schwang sich der Malik über die Geländer der Galerien der Pavillione, kletterte den Stamm einer Bambusstaude empor und schaukelte auf dem Gipfel reitend in weitem Bogen auf und nieder. Jedesmal, wenn das biegsame Rohr wie ein Pfeil wieder zur Höhe glitt, schrien die Ritter vor Entsetzen auf und die Häuptlinge befanden sich in banger Verzweiflung, aber da sie ihrem Spielgefährten nicht das Spiel verderben wollten, sein Inkognito nicht zu lüften wagten, schüttelten sie den schwarzen Kaiser Oßman gewaltsam aus seinem Schlaf, der brüllte jäh, ein A l p abwälzend, Jussuf Abigail am H i m 270

Vgl. den Abriß zur Genese des Souveränitäts-Begriffs von Helmut Quaritsch in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 1 1 0 4 — 1109.

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melstor plötzlich erblickend, seinen Namen und fing den zur Erde schwingenden kaiserlichen Gaukler in seinem Prachtmantel auf. ( M 4 6 4 )

Der Übergang vom Gaukler zum Kaiser, vom Inkognito der Flachsperücke zurück in den herrscherlichen Mantel — womit offenbar auch der Oßmanstag beendet ist - und vom Himmelstor zur Erde wird als ein Zu-Fall beschrieben. Jussuf wird von Oßman und zugleich von seinem eigenen Mantel aufgefangen, der Umschlagsmoment ist der, in dem sein Name genannt wird. Der Mantel, der zuvor einmal als »letzte Haut« des Kaisers benannt und mit dessen Hautzeichnungen in eins gesetzt worden war (M 449), bietet ihm Halt und Schutz und scheint ungewöhnliche Grenzüberschreitungen zu ermöglichen. Denn er bezeichnet nicht nur den durch ihn umhüllten Körper als königlichen, sondern den Wechsel von An- und Abwesenheit des Königs. Gegen Ende des Buches wird der Königsmantel noch einmal zum zentralen Motiv des Textes. Dort deutet sich zunächst doch eine Stellvertretung an, denn Salomein, einer der engsten Vertrauten des Malik, will sich an seiner Statt der meuternden Menge opfern: »Aber Salomein saß im Mantel des Kaisers auf dem Thron, den Tod fur seinen Spielgefährten erwartend«. (M 478) Tatsächlich gelingt es dem Malik nicht, diesen Tod zu verhindern — die aufgebrachte Schar ersticht Salomein, den sie für den Malik hält. (M 479) Diese Szene leitet die Schlußsequenz ein, in deren Folge sich der Malik schließlich selbst erhängt. Der Tod in Stellvertretung wird damit für die Herrschaft nicht zur Rettung, sondern markiert den Anfang von ihrem Ende. Es zeigt sich also, daß der Mantel nicht dazu geeignet ist, zu maskieren und damit einen Körper für den anderen zu setzen. In Theben lassen sich die Körper nicht austauschen. Einer steht für alle und zwar nicht im Sinne einer Symbolisierung, sondern eher im Sinne einer Identifizierung. Die Szene, in der der Malik sich über den Tod Salomeins entsetzt, mündet denn auch in die Feststellung der Ähnlichkeit zwischen dem Malik und seinen Thebanern: Und als der Malik von dem Tode seines Salomeins erfuhr, stieg er aufs Dach seines Palastes, schrie mit den wilden Raben, die am Himmel in Scharen vorbeiflogen, so grenzenlos, daß jedes Haus in Theben in seiner starken Wurzel schwankte, wie beim Erdbeben, und tanzte den Trauertanz bis zum Morgen vor allem Volk, und keiner unter den stillgewordenen Menschen Thebens war, der nicht Erbarmen fühlte, reumütig mit ihrem gestraften Kaiser; waren sie doch alle nach seinem Angesicht geschnitten. (M 4 7 9 )

Diese Formulierung erinnert zum einen an das biblische Motiv, daß Gott den Menschen >nach seinem Bilde< (Gen 1 , 2 7 ) schuf. Z u m anderen aber ruft es jene Körperritzungen ins Gedächtnis, die in den Lasker-Schüler-

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sehen Texten immer wieder einen bahnenden ersten Einschnitt markieren, mit dem das Symbolische anbricht, dessen Bedeutung aber nicht eindeutig entziffert werden kann. Der Malik erscheint dadurch, wie schon zuvor, in der Rolle Gottes, wobei allerdings der künstlerische Zuschnitt der Materie hervorgehoben wird, dem er, der »Kaiser unter Kaisern«, ebensogut selbst unterliegt. Das Kleid des Königs läßt sich auch hier wieder nicht als Zeichen seiner Unantastbarkeit und unangefochtenen Souveränität lesen. Noch einmal verbindet sich mit ihm die paradoxe Konstellation der gleichzeitigen An- und Abwesenheit des königlichen Signifikanten, denn durch die Identifizierung aller Menschen Thebens, und damit auch Jussufs und Salomeins, markiert der Tod des einen zugleich die Ohnmacht und den tödlichen Sturz des anderen. 271 Das Königskleid ermöglicht zwar, wie der »lammblutende Hirtenrock«, dem als erstem Kleid Jussufs paradigmatischer Status zukommt, dessen Überleben, aber die Opferspur haftet ihm auch hier an. Denn der tote Körper Salomeins läßt sich nicht in die Position eines Symbols zur Stabilisierung der Ordnung und ihrer Grenzen bringen, sein Opfer bleibt damit ohne Sinn. Der Roman endet damit, daß der Malik, der zuvor schon einige Male aus großen Höhen hinabgefallen oder auch nur von seinem Thron gestürzt (M 454), aber immer aufgefangen worden war, in eine »Fallgrube« inmitten seines eigenen Herrschaftsbereiches stürzt. (M 488) Diese besteht darin, daß die Häuptlinge, die den Zorn des Malik auf sich gezogen haben, diesen vor einer unüberlegten Mordtat zu bewahren versuchen: Sie »schützten sich vor dem Vorhaben ihres Jussuf, bahrten ihre Prachtmäntel ohne ihre Körper [ . . . ] auf, sie aber verbargen sich hinter den Säulen des Vorraums«. (M 487) Als der Malik die Mäntel sieht, stößt er tatsächlich »ahnungslos in den Brokat den Dolch, hohl in den toten Mantel«. (M 488) Die Szene variiert das Kleidermotiv noch einmal in besonders pointierter Weise: Der Mantel verbirgt nicht einen Körper, sondern nichts. Gerade in dem Moment, wo der König zur Wiederaufrichtung seiner zentralen Machtposition Opfer aus den eigenen Reihen zu bringen sich anschickt, erweist sich deren äußere Umhüllung als hohl. Der König ist in diesem 271

In den Abigail-Geschichten des >Prinz von Theben< endet ein ähnlicher Versuch der Opferstellvertretung noch unverzüglicher mit dem Tod dessen, der eigentlich hatte gerettet werden sollen: »die treuen verwirrten Jünglinge würfelten untereinander, wer von ihnen die grausige Tat ihres Königs auf sich nehmen solle. Die verhängnisvolle Zahl traf seinen Liebling. Als Abigail vom Tode seines Salomein wußte, ergriff ihn eine wilde Ohnmacht. Nachts stand er vor dem Tore und drohte seiner unschuldigen Stadt. Oder er wälzte sich in seinem eigenen Blute und wurde der gefiirchtetste Feind des Krieges. Auf einer Tigerjagd verwundet, starb er früh am Morgen, ohne die Besinnung wieder erlangt zu haben.« (PvT 125f.)

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Moment, der wohl nicht zufällig das Grubenmotiv der Josephsgeschichte aufgreift, entblößt und haltlos zugleich: Er war einer Stufe, die nicht vorhanden, entgleitet, dumpf fuhr es Ihm durch die Eingeweide, und entriß die Wurzel Seines Blutes. Und in übermächtiger Scham über diese Fallgrube beleidigt, erhängte sich der schon seit langer Zeit schwermütige Kaiser noch in selbiger unglückseligen Stunde

(M 4 8 8 )

Die Inkohärenz der grammatikalischen Bezüge reflektiert den Zusammenbruch der souveränen Position, und es ist gefolgert worden, daß der dargestellte Selbstmord Jussufs auch das Ende des Lasker-Schülerschen Schreibexperiments mit der Jussuf-Figur bedeutet. 272 Insofern jedoch sowohl das Kleidermotiv wie auch das des Todes der Ich-Figur keineswegs nur an dieser Stelle auftauchen, sondern in einer Reihe ähnlicher Szenen stehen, eröffnet sich aber wohl noch eine andere Lesart. Denn der Tod der Häuptlinge wird ja durch die aufgestellten, leeren Kleider tatsächlich verhindert. Die Prachtmäntel verhüllen und bezeichnen nicht die Körper der Anderen, gegen die sich die Wut des Malik richten kann, um sich selbst in seiner Macht zu bestätigen. Sie bergen vielmehr eine Leere, die den Abgrund seiner Souveränität markiert. Daß es sich bei den drapierten Kleiderhüllen um Prachtmäntel handelt, deutet noch einmal die geheime Identität des Malik mit seinen Thebanern an, denn auch sein Kleid war zuvor mehrfach als Prachtmantel eingeführt worden. Das kaiserliche Kleid verbirgt die Leere am Ort der Macht und verhindert zugleich die totale Usurpation der souveränen Position durch einen einzelnen, indem sie die (Körper der) Häuptlinge ersetzt und damit rettet. Die Auslöschung der Binnendifferenz in Theben, auf die der Mordversuch des Malik offenbar abzielt, mißlingt, indem er selbst in dem Moment, in dem er seine Selbstsetzung gewaltsam vollenden will, stürzt. Anstatt die restlose Verkörperung der souveränen Gewalt durch ihn herbeizuführen, setzt der A k t eine autoaggressive Gewalt frei, die seinen Körper stürzen und sterben läßt und ihn von den übrigen, überlebenden Körpern abtrennt. Das Kleid, das hier in direktem· Zusammenhang mit dem Grubenmotiv steht, ist Abgrund und Moment der Rettung in einem, und vielleicht ist das Verschwinden der JussufFigur am Schluß des Romans auch ein Versuch, die zentrale Position noch einmal ausdrücklich von einem individuellen Körper abzulösen. Theben existiert auch nach dem beschriebenen Tod Jussufs weiter. In seiner besonderen Modellierung erscheint dieser Tod als Schwelle, die nicht die Grenze Thebens, sondern die Ambivalenz seines Herrschaftszeichens — hier des Mantels — hervortreten läßt. 272

Feßmann: Spielfiguren, S. 244, 255.

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Daß Jussuf zuletzt »einbalsamiert, umhüllt in Schleiern« (M 489) durch Theben getragen wird, unterstreicht noch einmal dessen Charakter als Schwellenraum. Die Mumifizierung wiederholt das den ganzen Text prägende Kleidermotiv und verweist zugleich auf die Position Tinos in den >NächtenMalik< nicht mit dem unwiderruflichen Tod seines Protagonisten endet. 273 Das Totenkleid Jussufs ist zuletzt gar nicht so verschieden von den anderen Kleidern Jussufs, die im >Malik< und im >Prinz von Theben< beschrieben werden. Es bezeichnet nicht (nur) den Tod einer Figur, sondern das Verfahren, durch das der Königskörper bedeutend wird, indem er eine Gewalt, die eine Ordnung in ihrem Zentrum bedroht, verschleiert. Wenn die entfesselte Aggression Jussufs gegen seine thebanischen Häuptlinge und damit gegen den eigenen Körper als eine solche Gewalt betrachtet werden kann, die kein Objekt findet, sondern den Aggressor ins Leere stürzen läßt, so läßt sich die Balsamierung am Schluß als Verhüllung dieser ent-deckten Körperspaltung lesen. Und wenn schließlich die Venus von Siam »sich zum ersten Male goldfüßig aus der heiligen Nische ihres Tempels« (M 488) bewegt, so setzt dies die unabschließbare Kette von Setzung und Abspaltung, Belebung und Versteinerung, Verkörperung und Entkörperung fort, die Figuren, Körper und Räume als immer nur vorübergehende Ordnungsmuster erkennbar werden läßt.

9. Kunst und Krieg: der Souverän und der Ausnahmezustand 9 . 1 . Der Erste Weltkrieg und der »Wildkrieg« Jussufs Daß es sich bei Lasker-Schülers Theben-Entwürfen und der Ausgestaltung von dessen Herrscherfigur um ein originelles modernes Schreibprojekt 273

Vgl. etwa Feßmann: Spielfiguren, S. 255: »Der Selbstmord Jussufs am Ende des Malik ist ein Schlußstrich unter alle Allmachtsphantasien. Jussufs Tod ist der erste ernstzunehmende Tod einer Phantasiefigur Else Lasker-Schülers. Denn er bedeutet das Ende einer literarischen Utopie: der Utopie vom Autor als einem besseren Menschen, der stellvertretend für andere eine Phantasiewelt erschafft, eine Gegenwelt zur Realität.« Diese Interpretation liest den Tod der Figur vor dem Horizont der These, Theben sei als Gegen- oder Traumwelt und Jussuf als deren Liebeskaiser konzipiert worden. Betont man, wie in der vorliegenden Lektüre, jedoch die Ambivalenz, die Lasker-Schülers Souveränitätskonzepte ausnahmslos zur Schau stellen, so lassen sich beide, Gegenwelt- wie Selbstmord-These, nicht halten.

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handelt, läßt sich besonders gut veranschaulichen, wenn man den zeithistorischen Hintergrund vor allem des >Malik< mitberücksichtigt. Auf den ersten Blick scheint sowohl in den Briefen aus dieser Zeit wie auch in den Prosatexten das Bemühen um den mythisch-fiktionalen Entwurf einer thebanischen > Wirklichkeit < den darstellenden oder kommentierenden Bezug zum Zeitgeschehen fast vollständig zu verdrängen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Entstehungszeit des >Malik< — dessen erster Teil zwischen 1 9 1 3 und 1 9 1 4 in den Zeitschriften >Die Aktion< und >Der Brenner< veröffentlicht wurde, wohingegen der zweite während des Krieges und danach entstand — in politisch und gesellschaftlich außerordentlich turbulente Jahre fiel. Zudem wurde der Ausbruch des Ersten Weltkrieges allgemein nicht einfach als politisches Datum empfunden, sondern von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Intellektuellen und Künstler, gleichgültig, ob eher dem bürgerlichen >Lager< oder den Avantgardebewegungen zugehörig, als in jeder Hinsicht epochales Ereignis beschworen. 274 Die zu Kriegsbeginn vorherrschende Euphorie, die tausende von Kriegsgedichten entstehen ließ und nahezu die gesamte kulturelle Produktion in den Dienst einer ideologischen Mobilmachung stellte, gründete sich nicht nur auf die Vorstellung, einer umfassenden Erneuerung beiwohnen, sondern auch darauf, diese aktiv mit herbeiführen zu können. Die Vorstellung, die man etwa bei Thomas Mann findet, der Essayist, der die Romanproduktion ruhen lasse, leiste >Kriegsdienst mit der FederMalik< wird deutlich, daß Jussuf nicht nur gelegentlich Krieg zu führen gezwungen ist, um

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Kriegsrhetorik und Autorschaft um 1914, in: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, hg. v. Kathrin Hoffmann-Curtius und Silke Wenk, Marburg 1997, S. 60-72. Eeßmann: Spielfiguren, S. 204, 210, 254. Vgl. etwa Silke Beinssen-Hesse: Else Lasker-Schüler im Umfeld des Ersten Weltkrieges, in: Metis 5 (1996), S. 4 5 - 5 5 . Die Autorin behauptet, im >Malik< werde ein alle Gegensätze vereinendes »Gesamtmenschentum« unter Verweis auf dessen »gottgewollte Ursprünglichkeit« propagiert. (Ebda., S. 53.) Rumold vertritt die These, Lasker-Schüler behaupte im >Malik< eine künstlerische Subjektivität, die im Gegensatz zu ihrer kriegerischen Zeit durch und durch pazifistisch sei. (Else Lasker-Schüler's Anti-War Novel, S. 149.) »Der Malik was written in the spirit of pacifism and internationalism that the majority of the Expressionists shared« (ebda., S. 152), eine These, die sich schwerlich nachweisen läßt. Die einen Großteil des Textes ignorierende Interpretation des >Malik< als pazifistisches Bekenntnis seiner Autorin findet sich auch in dem Klappentext, der den >Malik< fur die 1986 erschienene Ausgabe des Deutschen Taschenbuchverlags charakterisiert. Dort heißt es, der Roman sei »ein Aufschrei gegen den Krieg.« An anderer Stelle heißt es noch expliziter: »Abigail Jussuf war fest entschlossen, unter keiner Bedingung sich an dieser Menschenschlacht zu beteiligen.« (M 447) Vgl. etwa M 447: »Seines Bruders Rat vermißte Jussuf schwer in der Art der Ablehnung seiner Stellungnahme an dem Weltkrieg«, M 452: »Einige von den Rittern baten den Kaiser, Sich über den Weltkrieg zu äußern« sowie M 473, 475. Einmal erscheint Jussuf in einem Traum der Kaiser Wilhelm (M 453), und zuletzt ist in ebenfalls eindeutiger Anspielung auf die Kriegstechnik des Ersten Weltkrieges von der »Schlacht im Flugzeug« die Rede. (M 489) Tatsächlich handelt es sich offenbar um zwei verschiedene Auffassungen von Krieg. Deren Gegensatz ist mit der Bemerkung Sigrid Bauschingers, Lasker-Schüler sei im Grunde »friedfertig gesonnen« gewesen, auch wenn es in ihren Dichtungen kriegerisch zugehe, nicht ausreichend erläutert. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 155.

337

sich gegen feindliche Übergriffe zu verteidigen. Das Kriegerische scheint vielmehr wesentliches Identitätsmerkmal der Figur zu sein, die sich immer wieder als Kämpfer an vorderster Front imaginiert: »Ich ziehe bald in den Kampf« (BI 20), »Ich empfinde nur wie ein Krieger« ( B K K 73), »Ich bin Krieger in erster Linie« (BI 94), »heute fallen 500 Mann [ . . . ] durch meine Hand« (BI 52), »[ich] lege mich dann schlafen zwischen meinen klirrenden Waffen« (BI 1 1 6 ) . Den Briefpartnern wird mitgeteilt, Theben befinde sich im Belagerungszustand (BI 89) oder: »Die Indianer in Theben sind schwer erregt und ich stehe gerüstet« (BI 150). Im >Malik< wird die Notwendigkeit, Krieg zu fuhren, unmittelbar mit der Herrschaftsposition des Prinzen und zuletzt Kaisers von Theben in Verbindung gebracht. Der Souverän behauptet sich im Ausnahmezustand, nicht indem er, wie Carl Schmitt formuliert, über ihn entscheidet, 2 ® 2 sondern indem er ihn als Grenze des von ihm repräsentierten Symbolsystems figuriert, die nie eindeutig festgelegt werden kann. Kriegerische Handlungen und Eroberungszüge dienen der Selbstbehauptung, die gleichbedeutend ist mit der Stabilisierung von Jussufs Machtposition innerhalb Thebens: »Rüben, [ . . . ] Ich ziehe in den Krieg gegen eines [sie!] der wilden Stämme, werde Selbst Mein Heer anführen, in der vordersten Reihe kämpfen; man erschlafft — ich will wieder Ehrfurcht vor Mir bekommen.« (M 4 1 2 ) Kurz danach wird angekündigt: »Ich soll Kaiser werden. Mein Volk will Ehrfurcht vor Mir haben« (M 4 1 5 ) , und nach der Beschreibung eines seltsam archaischen Kriegszuges gegen wilde Stämme, die jenseits der Grenzflüsse Thebens in Schluchten und Höhlen leben (»Ich warf den Speer und fing des Feindes Waffe auf mit entblößter Brust«, M 4 1 5 ) , wird schließlich die siegreiche Rückkehr gemeldet: »Wir bringen viel fremde Kräuter mit und harte Steine und Heldenherzen. Erschrick nicht, ich komme als Kaiser heim.« (M415) Bereits in den vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstandenen Briefen des >Malik< deutet sich die Tendenz des Ich an, den Krieg ausschließlich auf den eigenen Status als Souverän zu beziehen. Krieg wird mit der Konstitution und dem Erhalt der Souveränität begründet, ohne daß diese durch eine bestimmte politische oder moralische Zielsetzung legitimiert würde. Der fürstliche Status Jussufs muß immer wieder aufs neue im 282

Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1993, S. 1 3 : »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Der Souverän »entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.« (Ebda., S. 14.)

338

Kampf

behauptet

werden.283

Freund-Feind-Differenzierungen

treten

d e n H i n t e r g r u n d , w o d e r K r i e g als S e l b s t z w e c k b e s c h w o r e n wird:2®4 R u b e n , ich liebe n u r n o c h die Schlacht, die K r i e g s d u d e l s ä c k e ,

in »O

Kokostrom-

meln, meine Krieger und m i c h im Schlachtschmuck. Ich kannte i m Leben nur einen N e i d — w e n n Soldaten vorbeimarschierten, die M i r nicht gehörten.« ( M 4 1 3 ) 2 8 5

D i e S c h l a c h t w i r d als g e m e i n s c h a f t s s t i f t e n d e s

Erlebnis

beschrieben, das die internen Differenzen einebnet u n d g a n z T h e b e n einem

zu

einzigen K ö r p e r werden läßt. Insbesondere die Formulierung

der

K r ö n u n g s r e d e , der K r i e g solle »das B l u t f l i e ß e n einer A d e r « b e d e u t e n 4 3 1 ) , erinnert an die tausendfach reproduzierte

Kriegsrhetorik

der

D e r e n organizistische M e t a p h o r i k zielte darauf, eine durch den K r i e g Vorschein k o m m e n d e neue Einheit über den Gegensätzen zu In Essays Franz Marcs, d e m F r e u n d u n d Briefpartner den

sie zur F i g u r

des

>Malikbeim A l t e n < , t r o t z des >Fortschrittsgereinigtes< apostrophierte Europa, 288 das zu einer neuen Ganzheit zusammengeschweißt werden soll, wird zur Chiffre fur einen imaginären Raum ohne Außen. Denn seine Grenzen sollen nicht bloß neu bestimmt oder verschoben, sondern zum Verschwinden gebracht werden. Marc formuliert ausdrücklich: »Die Grenzen sollen nicht neu gesetzt, sondern gebrochen werden.« 289 Die europäischen Subjekte profilieren ihre Identität mithin nicht durch innere Diversifizierung oder Abgrenzung gegenüber einem Nicht-Europäischen, sondern durch Weltherrschaft. Kriegsziel ist nicht der Sieg über einen Gegner, sondern die dauerhafte Auslöschung jeder potentiellen Gegnerschaft, um die eigene Identität auf Dauer zu fixieren. Daß damit der >eigene Raum< mit >Raum< überhaupt identifiziert wird, zeigt sich in der Argumentation Marcs ganz deutlich, wo die Instanzen des Ich, der Nation und Europas unvermittelt auf die größtmögliche undifferenzierte Einheit ausgeweitet werden: Heute sind alle Grenzen verwischt, alles dehnt sich ins Unendliche, alles grenzt an das Absolute. [...] Die Verantwortung fur jedes gesprochene Wort ist ins Ungeheure gewachsen, denn es erreicht heut nicht den Nächsten, sondern den Allerfernsten; der Umkreis der kleinsten und geheimsten Sippe umfaßt die ganze Welt. Die olympische Macht des Europäers, des >Donnerers< und >A11wissenden< ist mehr als ein griechisches, dichterisches Gleichnis. 290

Wenn Sprache hier nicht mehr als Kommunikationsmittel zwischen Menschen begriffen wird, sondern jedes Wort als eine unmittelbare Anrufung eines >Fernsten< — Nietzsches >Zarathustra< ist auch hier allenthalben präsent — erscheint, wird sie zu einem absoluten Ausdrucksmittel stilisiert. In Überbietung einer romantischen Sprachauffassung, der zufolge einer Bezeichnung immer schon die Idee eines Ursprünglichen, eines Wesens der Dinge oder der Natur eingeschrieben ist, das sie dennoch immer verfehlt, versichert sich diese Sprache in jedem Wort ihres eigenen Horizonts. Der Akt der Bezeichnung wird zum Schöpfungsakt, der nicht mehr bloß auf 387

Vgl. die Formulierung Max Beckmanns, der behauptete: »Für mich ist der Krieg ein Wunder, wenn auch ein ziemlich unbequemes. Meine Kunst kriegt hier zu fressen.« Zitiert nach Annegret Jürgens-Kirchhoff: Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert, Berlin 1 9 9 3 , S. 153. 288 Marc: Das geheime Europa, S. 164. Vgl. auch ebda., S. 163: »Die Welt aber will rein werden, sie will den Krieg.« 2 ®s> Ebda., S. 164. 2 f ° Ebda., S. 165.

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einen Zustand unmittelbarer Präsenz und Ungeschiedenheit (negativ) Bezug nimmt, sondern diese — in phantasmatischer Verleugnung ihrer eigenen Medialität — inszeniert. Vor diesem Hintergrund erstaunt es denn auch nicht, daß es zu den charakteristischen Wendungen der auf den Krieg projizierten Erlösungsszenarien gehört, die Differenz von Geist und Körper sowie in Analogie dazu die von Mann und Frau für aufgehoben zu erklären. Dabei handelt es sich explizit nicht um Vereinigungs- und Transzendenzvisionen, sondern um eine allein im Modus des Männlich-Geistigen vollzogene Aneignung und Auslöschung des >AnderenGeschlechterkampfes< auf, als wäre es ein Kampf des männlichen Prinzips gegen das weibliche, unsres männlichen Rechtsgefühls gegen die weibliche Hysterie unserer Gegner. [ . . . ] Eher wäre es angemessen zu sagen, daß Europa durch diesen blutigen Austrag der Waffen die eigne Hysterie überwindet [ . . . ] . Das Problem liegt tiefer. Der Europäer kämpft in diesem Kriege um seine Gesundung und Zukunft [ . . . ] , gegen die Hysterie und die alternden verkalkenden Elemente seines Leibes. 2 9 2

Der Leib ist also keineswegs mehr allein weiblich konnotiert, er ist das >kranke< Element, das der männliche Geist ausstoßen und überwinden müsse. Der Krieg wird als reine Männerveranstaltung, als Duell »mannhafter Elemente Europas« beschrieben, in der diese sich in einem finalen Aufbäumen letztlich über ihre eigene Körperlichkeit erheben. 293 Der hy-

291

292

293

Z u dieser Denk- und Argumentations-Figur als Charakteristikum der Moderne vgl. Keck/ Schmidt: Auto(r)erotik, S . u . Marc: Das geheime Europa, S. 167. Vgl. dazu auch Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), in: Werke, Bd. V, Stuttgart o.J., S. 1 3 - 1 0 8 , (S. 41). Dort wird u.a. rückblickend konstatiert, daß der Krieg die Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundlegend verändert hätte. An die Stelle kulturell kodierter Formen der Annäherung und Verbindung der Geschlechter tritt die plötzliche, gewaltsame Aneignung der Frau durch den Mann. Der Krieger umwirbt nicht, er vergewaltigt, wobei er systematisch jede Aura weiblicher Rätselhaftigkeit zerstört: »flüchtige Wanderer auf den Wegen des Krieges, griffen sie zu, wie sie es gewohnt waren, mit harter Faust und ohne viel Sentiment. Sie hatten keine Zeit zu langer Werbung, romanhafter Entwicklung [...]. So mußten sie die Liebe suchen an Orten, wo sie sich ohne Schleier bot.« Vgl. Franz Marc: Im Fegefeuer des Krieges, in: Schriften, S. 158—162,(8. 161): »Wir, die wir im Felde stehen, atmen eine freiere, ritterlichere geistigere Athmosphere [sie!]. Wir

341

sterische Körper kann hier also offenbar nicht mehr als weiblicher auf Distanz gehalten werden, sondern er wird als Zeichen der angeschlagenen eigenen, männlichen Identität bekämpft. 2 9 4

9.2. Fetisch Kriegskleid und das Phantasma des totalen Krieges Die Analogien dieser Motivik und Argumentationsstruktur zu denjenigen Episoden des >MalikMalik< vielmehr auf kunstvolle Weise, ohne sich doch gegenseitig zum Verschwinden zu bringen oder wechselseitig zu legitimieren. 295 Der Malik weigert sich zwar, den Krieg der Abendländer mitzukämpfen, trotzdem kann er ihnen gegenüber keine eindeutige Neutralität oder Distanz behaupten. Einem Abendländer nämlich ist es gelungen, das Herz des thebanischen Souveräns zu erobern, was ihn mehrmals in große Konflikte bringt, da die Thebaner diese Schwäche als Untreue und illoyales Verhalten auslegen. 290 Biographischer Hintergrund dieser Liebesgeschichte, die duellieren uns mit dem Gegner«. Sowie ders.: Das geheime Europa, S. i ó j f . , wo noch einmal vom »Duell« sowie von einer »Erlösung vom Stoffglauben« die Rede ist. 294

Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 4 5 6 . Weininger argumentiert, die Frauenfrage sei nicht durch die Strategie der Frauenbewegung, die Frauen dem Manne gleichzumachen, zu lösen, sondern durch die Anstrengung des Mannes, seine eigene Sexualität und Körperlichkeit zu überwinden: »der Mann muß vom Geschlechte sich erlösen, und so, nur so erlöst er die Frau.«

295

Auf einen Vergleich mit Kleists >PenthesileaMalik< beschriebenen Abendländer jede Individualität der Kämpfenden auslöscht und ihre Kör-

307

Ebda., S. 387. Freud: Totem und Tabu, S. 3 8 1 . Im Fetischimus-Aufsatz heißt es: »Die Zärtlichkeit und die Feindseligkeit in der Behandlung des Fetisch, die der Verleugnung und Anerkennung der Kastration gleichlaufen, vermengen sich [...]«. (Ebda., S. 388.) Freud selbst stellt diesen Zusammenhang in seinem Fetischismus-Ausatz nicht ausdrücklich her, obgleich er fast identische Formulierungen verwendet. Für die Analyse der Lasker-Schülerschen Texte, die die prekäre Stellung des Souveräns sowohl in Bildern faßt, die sich eher mit Hilfe sozialanthropologischer Theoriemodelle beschreiben lassen, als auch in solchen, die individualpsychologische Beschreibungen nahelegen, ist diese strukturelle Analogie jedoch sehr aufschlußreich. 309 Freud: Fetischismus, S. 387. 310 Vgl. hierzu Julika Funk und Elfi Bettinger: Weiblichkeit als Maskerade und der Fetisch Phallus, in: Die Philosophin 1 3 (1996), (»Fetisch. Frau«), S. 3 1 - 5 3 . 308

311 312

Lacan: Die Bedeutung des Phallus, S. 1 3 1 . Ebda., S. 1 2 8 - 1 3 0 .

350

per als Teile einer funktionierenden Kriegsmaschinerie, eines einheitlichen Maschinenkörpers 313 beschreibt, hebt das Kriegskleid Jussufs auf seine Weise den > Körper der Macht < hervor. Sein Schmuck ziert den Körper jedoch nicht nur als ihm äußerliches Ornament, er wird zum KörperZeichen, das die Grenze zwischen dem bezeichneten Körper und dem bezeichnenden Kleid oder Schmuckstück undeutlich werden läßt. In dem Motiv der um den Leib singenden oder rauschenden Perlen oder Muscheln (M 242), aus denen der Gürtel Jussufs geknüpft ist, wird noch deutlicher als in dem Schamgürtel Freuds eine Verräumlichung dieser Grenze gestaltet. In jedem seiner Elemente birgt dieser Gürtel eine Höhlung, die zum Resonanzraum eines Anderen wird, das sich nur so, als in die Schwelle des Symbolischen eingefaltetes, artikulieren kann. Die Perlen und Muscheln tauchen bei Lasker-Schüler häufig in Zusammenhang mit ihrer Herkunft aus dem Meer auf, das sie an Land gespült habe, wo die Sammlerin sie findet.314 Sie bezeichnen das Wasser nicht nur einfach als das Andere, dessen Verknüpfung mit dem Weiblichen eine lange mythologische und literarische Tradition hat. 3 1 5 Vielmehr künden sie durch ihr Singen und Rauschen indirekt von einem Ort, der dem Raum, dessen Rand sie figurieren, indem sie ihren Souverän schmücken, nicht subsumiert werden kann. 3 ' 6 Er hat in bezug auf ihn den Status des Atopischen, das das durch den phallischen Signifikanten gehaltene Ordnungsgefüge aushöhlt und unabschließbar macht. Neben dem Muschel- oder Schamgürtel sind es die eigentlichen Schmuckelemente des kaiserlichen Kriegskleides, die seinen Träger als Schwellenfigur kennzeichnen. Z u ihnen gehören nicht nur Tätowierungen der Haut, sondern vor allem auch der schon erwähnte Nasensmaragd und ein »Ring in der Unterlippe«. (M 469, 4 7 7 ) 3 1 7 Jussuf ist mit Schmuck 313

3,4 315

3,6

317

Z u Lasker-Schülers Beschreibung des Ersten Weltkriegs als Kriegsmaschinerie vgl. auch ihren Brief an Eduard Korrodi: »Von der maschinellen Bewegung des Krieges waren die Menschen eingeschläfert. Z « Maschinengewehren gehören Bleisoldaten [...]«. (G 2 i 2 f . ) Vgl. etwa M H 378. Zur Verknüpfung des schreibenden Ich mit dem Wasser vgl. BI 63, BI 104, BI 143 und BI 1 3 7 : »Ich bin Wasser darum bin ich keine Frau. Ein Stern fallt nur in den Schoß eines Wassers.« Vgl. zu diesem Aspekt auch Schuller: »Ich bin Wasser darum bin ich keine Frau.«, S. 1 1 — 24. Schüller liest verschiedene Episoden der >Nächte< als Schreibszenen, in denen ein sich dem Symbolischen entziehendes Reales an dessen Grenze insistiert. A m Beispiel eines Blutstropfens etwa demonstriert sie, wie dieses »in den Schläfen des Symbolischen sickert und pocht.« (Ebda., S. 22.) Zeichen für ein solches Widerstehen sind Klänge und Laute, was auf ein Motivfeld verweist, das im folgenden Kapitel (V.2.3.) noch genauer betrachtet wird. Vgl. M 424, dort ist die Rede vom »Rauschen der vielen Muscheln und Perlen«, die den Hals zieren, von den Nasenknöpfen »in Meinen beiden Flügeln« und von den Sternen und Monden »Meiner Wangen«.

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dekoriert und ausgezeichnet, der den Körper zugleich versehrt und entstellt. Er immunisiert ihn nicht durch Stählung seiner Oberfläche gegen Angreifer, sondern macht ihn erst recht angreifbar und verwundbar: A m Ring seiner Unterlippe zieht ihn Giselheer einmal als »unerhörten Fang« in sein Zelt. (M 477) Und doch beruht seine Souveränität auf diesem Schmuck, der seinen Körper jeder Uniformierung, sei es in politisch-militärischer oder in weltanschaulicher Hinsicht, entzieht. Uber die Hebräer, die eine der Städte Thebens bewohnen und mit deren Orthodoxie der Malik häufiger Schwierigkeiten hat, heißt es einmal: »>Diese Hebräer möchten Mir so gern den Ring aus der Unterlippe reißen, um sie dann zu verriegeln. selbst das Gebot erstarrt vor ihrer Engherzigkeit. Bin ich nicht der Leuchtkäfer, der spielende Sonnenfleck, der bunte Odem, der mutwillig über die Tafel des Gesetzes taumelt, es lebendig erhält. Nächten< noch auf zwei Figuren verteilten Funktionen der Souveränität einerseits und des von ihr Abgespaltenen, ihr nicht Subsumierbaren andererseits wird in dieser Passage ganz deutlich. Durch seine Maskerade wird die Souveränität des Malik und damit der Ich-Figur als eine bestimmt, die oberste, nicht-abgeleitete Herrschermacht ist, ohne sich doch zugleich über die Gesetze zu erheben. Läßt sie sich einerseits keiner fremden Idee oder Gewalt unterordnen, so ist sie selbst den Ökonomien des Tausches und der Geschlechterbeziehungen, die den einzelnen im Symbolgefuge verorten, doch nicht gänzlich entzogen. Ihr privilegierter Status besteht nicht nur in ihrer Herrschaftsfunktion, sondern auch darin, daß sie sich nicht beherrscht, sich nicht als mit sich Identisches fixieren kann. 3 ' 8 Herrschaft und Souveränität sind, wie die Maskeraden Lasker-Schülers demonstrieren, nicht gleichbedeutend. Souverän wird die hier beschriebene Herrschaft erst, wo sich ihr Repräsentant dem Symbolisierungsprozeß rückhaltlos aussetzt. Die Verkörperung der Macht durch ihn erscheint dabei als Schwellenmoment, der umspielt, aber 318

Vgl. die zur Beschreibung des Status des Malik sehr treffenden Formulierungen, die Derrida in seiner Diskussion des Batailleschen Souveränitätsbegriffs findet: »Die Herrschaft wird dagegen erst souverän, sobald sie aufhört, das Scheitern zu fürchten, und sich als das absolute Opfer ihres Opfers verliert.« Derrida: Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie, S. 4 0 1 , und ebda., S. 402: »Die Souveränität hat nämlich keine Identität; sie ist kein Selbst, kein Für-Sich, kein Auf-Sich und kein Bei-Sich.« Hier kristallisiert sich ein Souveränitätsbegriff heraus, der, wie bei Lasker-Schüler, nicht auf den Begriff der Autorität oder Herrschaft zu reduzieren ist.

352

nicht dargestellt oder realisiert werden kann. Die unterschiedlichen Konstellationen, die den Körper des Souveräns durch Fetischobjekte markieren, lassen diesen schließlich selbst als Fetisch erscheinen, da er als Zeichen fur den gesamten Raum (Theben) und zugleich als seine Lücke, Leerstelle oder, wie es in dem erwähnten Zitat heißt, seine Öffnung als »Tor« modelliert ist. In einem Brief stellt das schreibende Ich sogar einmal ausdrücklich fest: »Ich bin [ . . . ] mein eigener Fetisch«. ( B K K 55) Diese Formulierung exponiert eine Zirkelstruktur, derzufolge sich das Ich selbst als privilegiertes Objekt des eigenen Begehrens entwirft. Die narzißtische Dimension dieser Konstruktion verweist, wie auch bei Freud oder Lacan, auf das Register des Imaginären, in dem sich das Ich als vollkommenes, als unumschränkter, gottgleicher Herrscher imaginiert. Doch dieser Moment der Ermächtigung, der jede Abhängigkeit von Menschen oder Dingen negiert, erscheint zugleich als Effekt einer Maskerade, die die Selbstschöpfung an eine Spaltung des Ich bindet. Jenseits der Unterscheidung von Kleid und Körper, Zeichen und Bezeichnetem, durchzieht diese den Prozeß der Symbolisierung und verweigert die Fixierung einer Einheit, die im Herrschersymbol repräsentiert wäre. Zusammenfassend wäre also festzustellen, daß Lasker-Schüler in ihrer Problematisierung der Souveränität unter den Bedingungen der Moderne auf archaische Bilder zurückgreift, die den König nicht als repräsentierende Autorität fassen, sondern als Schwellenfigur, in der sich das Gesetz auf ein nicht-integrierbares Anderes hin öffnet. Viele der die Texte prägenden Motive und Strukturen lassen sich als zeittypische kennzeichnen und scheinen somit zunächst wenig originell zu sein. Originell jedoch ist die Art und Weise, wie etwa die Orientalismen der Jahrhundertwende oder die Engfuhrung von Krieg und Kunst um 1 9 1 4 aufgegriffen werden, um die phantasmatische Struktur, die sich in ihnen verbirgt, in den Blick zu rücken. So wird ihre Tendenz, das sprechende Subjekt zu hypertrophieren und zum Herrn über alle Gegensätze (Orient-Okzident, Freund-Feind, Mann-Frau) zu erheben, mit der Kehrseite dieses Souveränitätsphantasmas konfrontiert. Anstatt als Verkörperung einer differenzlosen Totalität erscheint das schöpferische Subjekt, das Zentrum und Grenze der Texte figuriert, als gespaltenes. Seine Bewegung, die immer wieder in Spielszenen beschrieben wird, ist nicht die Bewegung eines mit sich identischen Subjekts im Raum, sondern ein exzentrisches Umspielen einer nicht-repräsentierbaren Leerstelle, die Ursprung und Abgrund in unauflöslicher Ambivalenz ist.

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V. Elemente einer Poet(h)ik der Gabe

Alles wirkliche Leben ist B e g e g n u n g (Martin Buber) Es braucht eine Gerechtigkeit unter den Unvergleichlichen (Emmanuel Lévinas)

ι . Rückhaltlos: zu einem nicht-transzendentalen Selbst- und Fremdbezug In den vorangehenden Kapiteln konnte gezeigt werden, daß die zentralen Figuren der Lasker-Schülerschen Prosatexte sich in ihren Begegnungen häufig verfehlen. Der unheimlichen Ähnlichkeit und Nähe zwischen der Tino-Figur und den verschiedenen Souveränen, in deren Herrschaftsräume sie gelangt, korrespondiert eine unüberbrückbare Distanz, die jede Bindung zwischen ihnen oder auch nur ihre Koexistenz im selben Raum unmöglich macht. Dieses paradoxe Zugleich von Annäherung und Abstoßung, Identifizieren und Verwerfen ist bereits im >Hille-Buch< in der Konstellation Tino/Petrus angelegt. Während einerseits deutlich wird, daß sich die beiden antagonistischen Figuren nur in wechselseitigem Bezug aufeinander konstituieren, läßt sich die Beziehung zwischen ihnen doch nie eindeutig bestimmen. Indem sie als Doppel- und Wiedergänger beschrieben werden, treten Prozesse der Identitätsbildung und der Konstitution symbolischer Räume in den Vordergrund. Vor allem die Zuspitzung der Souveränitätsproblematik im >Malik< zeigt, daß das Konfliktpotential der betrachteten Texte weniger im Mit- oder Gegeneinander verschiedener Stimmen oder Positionen angelegt ist, als vielmehr in der Frage nach der Möglichkeit, die eigene Identität zu einer quasi-göttlichen Position zu erhöhen, um sie einer bedrohlichen Kontingenz und Fremdbestimmung zu entziehen. Die Herrscher, die eine Totalisierung ihrer Macht anstreben, indem sie alles Differente dem eigenen Machtbereich einzuverleiben versuchen, werden dabei regelmäßig auf die Urszene ihrer Souveränität zurückgeworfen. Denn der eigene Ursprung, auf den sie sich im Versuch, ihre Autonomie in einer Selbstschöpfung zu vollenden, zurückwenden, läßt 355

sich nicht aneignen. Anstatt das letzte Geheimnis ihrer Identität zu enthüllen, setzen sie eine Ursprungsgewalt frei, die von keiner souveränen Position aus mehr kontrolliert werden kann. Die Begegnungen zwischen den gegenübergestellten Figuren werden damit immer wieder als Begegnung mit dem Selbst lesbar, das nicht den Andern in seiner Andersartigkeit, sondern sich selbst in der Identifizierung verfehlt. All diese Texte scheinen ein >Nicht-Mehr< zu artikulieren, das die Bedingungen der Repräsentation und Subjektkonstitution in der Moderne problematisiert. Seismographisch zeichnen sie die Spuren einer Gewalt nach, die dort zutagetritt, wo das Subjekt aus jedem metaphysischen Bezugssystem entbunden ist und sich auf keine Legitimations- oder Schöpferinstanz außer sich selbst beziehen kann. Sie stellen das charakteristische Schwanken zwischen universaler Verlusterfahrung und totalisierender Selbstermächtigung zur Schau, das nicht nur künstlerische, sondern auch gesellschaftspolitische Entwürfe der Zeit prägt. Wie vor allem die spezifische Verwendung der Kriegsmetaphorik zeigt, exponieren die Texte das Dilemma des modernen Menschen nicht bloß, indem sie außerliterarische Ereignisse darstellten und reflektierten. Vielmehr lassen sie sich als Symptome dieses Dilemmas lesen, insofern sie seine radikal entgegengesetzten Pole — die Selbst-Vergottung des Menschen einerseits und die Gewißheit der unwiderruflichen Abwesenheit einer transzendenten Instanz andererseits — als zwei Seiten desselben Dispositivs gestalten. Der Bezug zu sich selbst, zu dem Ereignis des eigenen Ursprungs, ist nurmehr dadurch möglich, daß sich das Ich über alle Bindungen und Beziehungen erhebt und sich an die Stelle dessen setzt, der das Symbolische insgesamt verbürgt und seine Grenze verkörpert. Im Uberschreiten der symbolisch vermittelten Selbst- und Fremdbezüge setzt es sich einer Fremdheit aus, die in kein geregeltes Verhältnis zur eigenen Identität gebracht werden kann. Indem sie im Zentrum oder im Innersten dessen auftaucht, was als Ort oder Raum des Ich figuriert wird, wird es diesem unmöglich, sich auf einen eigenen Bereich zurückzuziehen und sich in ihm einzurichten, um ihn zum Ausgangs- und Kristallisationspunkt für Erfahrungen mit einem ihm äußerlichen Fremden werden zu lassen. Ein solches Textverfahren birgt ein offensichtlich kritisches Potential, insofern es totalitäre Selbstbehauptungsversuche mit der von ihnen verleugneten Kehrseite konfrontiert und ihren phantasmatischen Charakter hervorhebt. Kritik und Widerstand manifestieren sich jedoch nicht durch Bezugnahme auf eine alternative Wahrheit, auf Vernunft oder Humanität, sondern lediglich in der mimetischen Bewegung der Texte, die die Rückwendung auf den eigenen Ursprung immer neu inszenieren, da sie sich

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seiner nie vergewissern können. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Demonstration einer solchen Unabschließbarkeit der Konstitutionsprozesse von Identität letztlich doch permanent um das Ich kreist, 1 ohne die Möglichkeit des Miteinanders verschiedener Ichs überhaupt reflektieren zu können. Wenn mit dem Ich zugleich immer der symbolische Rahmen in Frage steht, auf den hin es sich entwirft und der Objektbeziehungen und den Austausch mit anderen erst ermöglicht, so scheinen letztere an sich gar nicht mehr ins Blickfeld der Texte treten zu können. Der Befund, daß sich die Antagonisten der beschriebenen Erzählungen der >Nächte< immer wieder als zwei radikal heterogene Seiten oder Erscheinungsweisen derselben Figur erweisen, legt zumindest nahe, daß der Beschreibung einer Beziehung zwischen den Figuren der Boden entzogen wird. Das Fremde tritt dem Ich in den bislang analysierten Texten nicht im Anderen gegenüber, sondern macht sich als ursprüngliche Abspaltung oder Wunde im Ich kenntlich. Im folgenden sollen einige Texte Lasker-Schülers daraufhin betrachtet werden, wie sie Begegnungen verschiedener Ichs, die vielfach als durchaus unterscheidbare Figuren auftreten, gestalten, ohne hinter die Problematik der Selbstsetzung und Ich-Konstitution zurückzufallen, die die frühen Texte konsequent vorfuhren. Vor allem diejenigen Erzählungen, die verschiedene Religionen benennen und ihr Verhältnis ausloten, scheinen ganz wesentlich von der Frage geleitet, wie der Bezug zum Anderen unter den Bedingungen der Moderne gedacht werden kann.

ι . ι . Die Ringe der Parabel oder Ethik und Ästhetik in der Moderne Vergleicht man die Texte Lasker-Schülers, die ausdrücklich um die Frage nach der Verständigung und Versöhnung der Religionen kreisen, mit Schlüsseltexten des 18. Jahrhunderts, die einen aufklärerischen Ethik-Entwurf exemplarisch gestalten, lassen sich die veränderten Bedingungen genauer konturieren. Wenn sich Modernität darin kenntlich macht, daß konkurrierende Ansprüche auf Wahrheit und Transzendenz nicht mehr vor einem säkularisierten Horizont universal menschlicher Bedürfnisse und ethischer Maximen harmonisiert werden können, so ist zu fragen, ob die Texte dies allein im Modus des Verlusts reflektieren oder ob in ihnen andere Visionen einer Begegnung mit dem Fremden aufscheinen. Eine humane Grundierung religiöser Toleranz, wie sie etwa in Lessings >Nathan< beschworen wird, scheinen diese nicht mehr aufrufen zu können, 1

Dies wird Lasker-Schüler beispielsweise von Dieter Bänsch vorgeworfen, vgl. Bänsch: Else Lasker-Schiiler, S. i j f .

357

ohne daß die Instanz der Vermittlung mit der Kehrseite ihres Anspruchs auf universale Geltung konfrontiert wird. Der gemeinsame Vater, auf den sich etwa die drei zerstrittenen Brüder in der Ringparabel berufen, ist zwar bereits dort nicht unmittelbar anwesend. 2 Dennoch bleibt die aufklärerische Toleranz-Vision auf ihn bezogen, indem sie ihn als Prinzip einer AllLiebe reformuliert, vor der jede Religion gleichberechtigt ist. In der Erzählung Nathans lernen die Brüder, die zunächst jeweils den wahren Glauben für sich beanspruchen, schließlich, daß sie sich dem liebenden Vater nur dann würdig erweisen, wenn »jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe« nacheifere. 3 Das aber bedeutet, daß sie ihre eigenen, je unterschiedlichen Traditionen und Glaubenssysteme eben dadurch am meisten ehren, daß sie nicht bei einer naiven Anhänglichkeit an das Nächste und Vertraute stehenbleiben. Die aufgeklärte Menschenliebe geht vielmehr diesem Entwurf zufolge über die Liebe zum Eigenen, zu dem Vorgefundenen und damit Selbstverständlichen, hinaus. Sie erweist sich im Streben nach der Verwirklichung der göttlichen Gaben, die jeder Mensch empfängt und die er in der individuellen Lebenspraxis als allgemeines Gut zum Ausdruck bringen kann. Dies wird als die weise Lösung des Konflikts präsentiert, die zumindest so lange gelten solle, bis der Vater, Gott selbst, Gericht spreche. Die Funktion des Vaters wird somit in jenen universalen Horizont transformiert, auf den hin sich der einzelne entwirft, um sich als Mensch, als Mitglied der humanen Gemeinschaft, zu beglaubigen. Die Gemeinsamkeit, die der ethische Imperativ, der sich hier artikuliert, vor Augen stellt, besteht sowohl in der Einwurzelung jedes Menschen in einen kontingenten Sinnzusammenhang, als auch in seiner Möglichkeit, diesen auf eine nicht-kontingente universale Wahrheit hin zu überschreiten. Kann die Wahrheit über die Ringe oder Religionen auch nicht eindeutig festgestellt werden, so bildet das Bemühen um sie doch den gemeinsamen Ursprungs- wie Bezugspunkt aller drei monotheistischen Glaubenssysteme. Die Instanz des obersten Richters, die der Gerichtsszene, in der sich die Konkurrenten gegenüberstehen, entzogen bleibt, wird dennoch als deren Bedingung und Rahmen modelliert. Führt die Tatsache, daß die Brüder sich alle gleichermaßen auf seine Autorität berufen, sie am Ort des Gerichts zusammen, 2

3

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, in: Werke, Bd. II, hg. v. Herbert G . Göpfert, Darmstadt 1996 (Lizenzausgabe), S. 2 0 5 - 3 4 7 . Vgl. S. 279: »Der Richter sprach: wenn ihr mir nun den Vater / Nicht bald zur Stelle schafft, so weis' ich euch / Von meinem Stuhle«. Natürlich ist der tote Vater nicht mehr als privilegierter Zeuge >zur Stelle zu schaffen*. Ebda., S. 280.

358

so zeichnet sich auch die Vermittlung und Verständigung zwischen den Streitenden vor dem Horizont des ausstehenden, in die Zukunft projizierten väterlichen Richtspruchs ab. Einige der bereits betrachteten Erzählungen der >NächteAched Bey< oder >Der Fakir von Theben< genau diese Position. Ihr Reich und damit die Verwirklichung und Verkörperung der göttlichen Wahrheit im Irdischen kündigt sich an, wo sie ihre Macht zu totalisieren versuchen, indem sie jeden Widerstand brechen und alles Fremde, das sich ihnen entgegenstellt, restlos auslöschen. Noch einmal sei an das Motiv des Rings erinnert, in dem die Ich-Figur >den Himmel trägtAched Bey< ausdrücklich Richten und Hinrichtung in einer Szene zusammengeschlossen werden, ist es in >Der Fakir von Theben< die Hand des Herrschers, die über das Schicksal der ihm ausgelieferten Frauen entscheidet. Vgl. Kap. IV.4.2. bzw. IV.5.3. Lessing: Nathan der Weise, S. 280.

359

unerreichbare Ferne verbannt, von der aus er als stummer Zeuge das Geschehen in Schach hielte, sondern ist Richter und Gerichteter zugleich. Die göttliche Instanz steht, wie in den entsprechenden Analysen demonstriert wurde, immer wieder selbst auf dem Spiel. Zwischen Tino und Fakir klafft ein nicht-überbrückbarer Abgrund, dessen Kehrseite, die ebenfalls angedeutet wird, ihre vollkommene Identität ist. In beiden Fällen ist eine geregelte Distanz oder gar eine Beziehung zwischen ihnen als Träger unterschiedlicher Glaubensinhalte oder Überzeugungen nicht mehr denkbar. Der aufklärerische Bezug auf eine zukünftige Aufhebung aller Divergenzen läßt sich nicht restituieren. Wenn Tino den Ring behält und sich weigert, ihn dem Tyrannen auszuliefern, bewahrt sie damit nicht ein Eigenstes, das sie vor dem gewaltsamen Zugriff schützen möchte. Der Ring ist, wie auch schon bei Lessing, kein Ding wie jedes andere. Er kann nicht getauscht werden, kann nicht einfach den Besitzer wechseln, da er diesem als Auszeichnung durch den Vater gegeben wurde und damit wie ein Eigenname nur ihn bezeichnet. Während jedoch bei Lessing alle Brüder an ihren Ringen festhalten und damit die je individuelle väterliche Gabe bewahren, wird in der LaskerSchülerschen Geschichte die (väterliche) Geste des Gebens im Text reinszeniert. Allerdings wird auch hier nicht der Ring veräußert, vielmehr bietet Tino sich selbst — sozusagen samt Ring — dem Tyrannen. Gerade diese Geste, durch die sie sich ihm rückhaltlos aussetzt,6 bringt die Grenze seiner Macht zum Vorschein. Es handelt sich nicht um einen humanen Appell wie etwa in der Goetheschen >IphigenieArthur Aronymus und seine Väter< gemacht habe.8 Der häufige Bezug auf >den Juden Christus< und auf die Judenchristen einer historischen Ubergangszeit wird als Indiz fur ein Bemühen der Autorin betrachtet, eine beiden Religionen »gemeinsame Wurzel« aufzudecken. 9 Ließen sich die Konflikte der Religionen und Glaubenssysteme, die eine Reihe der Lasker-Schülerschen Texte organisieren, tatsächlich auf eine gemeinsame Basis zurückfuhren oder durch die Vision einer übergreifenden Vermittlungsperspektive beilegen, so stünde dies der Konstellation, die die moderne >Ringparabel< des >Fakir von Theben< exemplarisch entfaltet, allerdings diametral entgegen. Denn wo die widerstreitenden Glaubenssysteme schließlich doch auf denselben Gott, dieselbe kulturelle Tradition bezogen werden können, ihre Differenzen mithin literarisch transformierbar sind, bleiben Szenarien eines in sich gespaltenen Ursprungs, die die frühe Prosa prägen, fremd. Die Schwellenfiguration des monströsen, gespaltenen Körpers eines Gott-Königs etwa, die 8

9

V g l . z.B. Hessing: Else Lasker-Schüler, S. 43; Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 188. Heck: Prophetie, z.B. S. 27, 1 1 3 . Heck interpretiert das gesamte Werk LaskerSchülers als literarisch-messianischen Versuch, die (religiösen) Gegensätze durch Liebe, Versöhnung und Erlösungsvisionen zu überwinden. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 186: »Daß Judentum und Christentum, aus einer gemeinsamen Wurzel stammend, auseinanderwuchsen und sogar zu Feinden wurden, bleibt für Else Lasker-Schüler eine der großen geschichtlichen Katastrophen.« Vgl. auch dies, in einem neueren Aufsatz (»Judenchristen«: Else Lasker-Schüler über die verlorene Brücke zwischen Juden und Christen, in: Schürer/Hedgepeth (Hgg.): Else Lasker-Schüler, S. 5 9 - 7 0 ) : »Else Lasker-Schüler hat mit ihrer Sehnsucht nach einer Brücke zwischen Juden und Christen ihr eigenes Zeichen gesetzt.« (Ebda., S. 70.) Auch wenn die Texte eher Abgründe zwischen den Religionen gestalteten, werde doch der »Weg, der zum Bau einer Brücke führen könnte«, aufgezeigt. (Ebda.) Vgl. auch Heck: Prophetie, S. 2 1 . Neben den bereits in Kap. III diskutierten Bezugnahmen der Lasker-Schülerschen Texte auf die Christusfigur sei hier eine Passage aus einem ihrer Briefe an Martin Buber angeführt, in der zwar von einer Beziehung zwischen den Religionen, nicht aber von einer gemeinsamen Wurzel, wie Bauschinger vorschnell interpretiert, die Rede ist: »wenn wir nur von seiner einfachen Lehre wüßten, gäbe es heute noch Judenchristen und das wäre eine Brücke zwischen Juden und Christen. Jesus ein Dichter, [ . . . ] eine Wolke himmelblau, die gewiß des öfteren ein Wetter sich zusammenzog [sic!].« (BI I27Í.)

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dort mehrfach variiert wird, läßt keine Versöhnungs- oder Vermittlungsidee zu, unabhängig davon, ob sie theologisch konnotiert wird oder nicht. Es stellt sich daher die Frage, ob sich hier zwei unvereinbare Tendenzen im Werk Lasker-Schülers gegenüberstehen, die möglicherweise unterschiedlichen Schafifensperioden zugerechnet werden können, oder ob die Versöhnungshypothese einer genaueren Analyse der entsprechenden Texte doch nicht standhält. Im folgenden stehen Texte im Mittelpunkt der Betrachtung, die bislang noch nicht oder nur am Rande Erwähnung gefunden haben. Das bedeutet jedoch nicht, daß es sich dabei um eine innerhalb des Prosawerkes deutlich abgrenzbare Auswahl von Texten handelt. Vielmehr lassen sich strukturelle Analogien von den frühen Dokumenten bis hin zum Exilbuch >Das Hebräerland< nachvollziehen, die nahelegen, daß das Thema der religiösen Differenz in ähnlichen Konstellationen beschreibbar wird wie das der Geschlechteropposition, welches das Konfliktfeld vieler Texte charakterisiert. Bereits im >Hille-Buch< und in den >NächtenTschandragupta< (vgl. Kap. IV.6.), wird aber auch in Anspielungen auf rituellen (Körper-)Schmuck und Kriegsrituale anschaulich. In >Der Dichter von Irsahab< liegt zudem ein K o n f l i k t zwischen J u d e n t u m - das Figurenarsenal ist von Henoch bis Methusalem alttestamentarisch — und Hinduismus dem entfalteten Katastrophenszenario zugrunde. Der biblische Urvater

362

>Der Wunderrabbiner von Barcelona< und >Arthur Aronymus< vor allem das kritische Verhältnis zwischen Christen und Juden thematisiert. Dennoch bleibt die Bewegung einer Rückwendung auf die eigenen Ursprünge, die von den archaisierenden Texten inszeniert wird, auch hier prägendes Strukturprinzip. Denn auch wenn es zunächst so scheint, als ob eine eher synchrone eine eher diachrone Perspektive ablöst, also an die Stelle einer Kontrastierung unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen das Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen oder Religionen tritt, so legen doch beide eine ähnliche Problemstellung offen. Denn während der Versuch, auf elementare Symbole religiöser Gemeinschaft zurückzugehen, immer wieder auf deren irreduzible Ambivalenz und Nicht-Festlegbarkeit stößt, geht auch die Suche nach einem Modus der Begegnung oder gar Vermittlung der Religionen ins Leere. War bereits die Darstellung der Priesterkönige als Zeichen und Garanten umfassender Autorität unauflösbar an das Aufscheinen ihrer Kehrseite, den Zusammenbruch des transzendentalen Machtsymbols geknüpft, so dominiert die Einsicht in diese Ambivalenz der vermittelnden, dritten Instanz auch das Verhältnis der Religionen. Die Grenzüberschreitung auf das jeweils Andere hin kann sich nicht auf ein universales Regelsystem oder einen humanen Minimalkonsens berufen. Sie wird zum vollkommen unkalkulierbaren Wagnis, dem sich der einzelne aussetzen muß, ohne daß er sich auf vorgezeichnete Wege der Verständigung oder Rückzugsmöglichkeiten verlassen könnte. Die Bilder der totalen Zerstörung und exzessiven Gewalt, die immer wieder grausam zerstückelte Körper und Weltuntergangsszenarien vorfuhren, bleiben auch in Texten wie >Der Wunderrabbiner von Barcelona< durchaus präsent. Allerdings zeichnet sich - bemerkenswerterweise umso deutlicher, je mehr sich der Antisemitismus in Europa und die prekäre Lage der deutschen Juden zuspitzt — eine Tendenz ab, die Abwesenheit eines gemeinsamen Vatergottes als Chance für eine neue Ethik zu modellieren. Denn wenn die Erzählungen der >Nächte< immer wieder demonstrieren, daß die Aufrichtung der universalen Bezugsinstanz auf der Ausgrenzung und dem Vergessen eines abgespaltenen Anderen beruht, so wird nun umso dringlicher danach gefragt, wie menschliche Begegnungen gedacht und dargestellt werden können, die diese Problematik nicht verdrängen, sondern mitreflektieren. Insofern dabei die Frage nach der Verantwortung des einzelnen und im >Hebräerland< sehr deutlich sogar nach der Verpflichtung, Henoch kann nicht sterben und kommt in Rabengestalt wieder auf die Erde, »weil er Wischnu, den Gott des Nachbarvolkes, beleidigt hatte.« (N 9of.)

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zu handeln und sich am Aufbau eines menschenwürdigen Reiches (das hier »Hebräerland« genannt wird) zu beteiligen, immer deutlicher zutage tritt, verschiebt sich die Perspektive, nicht aber die Diagnose der Texte. Wenn diese nun unter dem Aspekt diskutiert werden sollen, inwiefern sie eine moderne Ethik konzipieren, so bedeutet dies nicht, daß sie philosophischen Kategorisierungen unterworfen werden, die ihnen als literarische Zeugnisse fremd wären. Vielmehr beruht diese Ethik ganz wesentlich auf der radikalen Selbstreflexivität, die letztlich keinen Anfang und kein >Selbst< mehr fixieren kann, wie sie in moderner Literatur zur Schau gestellt wird. 1 1

1.2. Das Antlitz des Anderen: zum ethischen Sprachkonzept Emmanuel Lévinas' Unter den Ethikkonzeptionen des 20. Jahrhunderts bietet sich vor allem diejenige des jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas zur Beschreibung der Lasker-Schülerschen Texte an. Bereits bei einer flüchtigen Lektüre der gleichfalls sehr rekursiv argumentierenden, metaphernreichen Texte Lévinas' fallt die große Nähe auf, die diese zu den Bildsystemen und Verfahrensweisen der Lasker-Schülerschen Prosa unterhalten. Lévinas' Ethik, die sich auf Heidegger und Husserl, vor allem aber auf eine jüdische Tradition von Konzepten des Selbst- und Fremdbezugs bezieht, hat in jüngster Zeit im Zusammenhang mit der Frage nach einer Ethik, die nicht hinter die postmodernen Theoriedebatten zurückfällt, sondern an sie anschließt, wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Der überwiegende Teil seiner Schriften läßt sich als Versuch lesen, Dekonstruktion und Ethik zusammenzuführen. Dies geschieht, ähnlich wie bei Derrida oder Blanchot, die teils an Lévinas anknüpfen, teils unabhängig von ihm zu ähnlichen Fragestellungen und Thesen gelangen, nicht indem sie als prinzipiell unterscheidbare 11

Auch Kristevas Analyse moderner Schreibverfahren mündet in die Frage nach einer anderen, nicht universalistischen Ethik. Mit der Problematisierung des Subjekts und der Repräsentation in der Moderne »stehen wir vor der Frage nach der ethischen Funktion des Textes oder — allgemeiner — der Kunst. Diese Frage [ . . . ] kann nun unter einem neuen Gesichtspunkt formuliert werden, der dem Prozeß des Subjekts in der Sprache oder — allgemeiner - im Sinn Rechnung trägt. Unter Ethik verstehen wir die Verneinung des Narzißmus in einer Praxis. Anders ausgedrückt: ethisch ist eine Praxis, welche die (zwingend subjektiven) narzißtischen Fixierungen aufhebt, denen der signifikante Prozeß bei seiner soziosymbolischen Entfaltung ausgesetzt ist.« Die ethische Funktion realisiert sich nicht in der Befolgung oder Mitteilung bestimmter Normen, sondern in der Textpraxis, die die Festlegung eines solchen Bezugssystems unterläuft. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 226Ì

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Anliegen oder Paradigmen gegenübergestellt würden, sondern indem sie als Ausdrucksformen oder Aspekte derselben (post-)modernen Denkbewegung kenntlich gemacht werden. 1 2 Die explizite Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen hat eine Reihe von Denkfiguren und Begriffen in den Vordergrund der Diskussion treten lassen, welche die Dekonstruktion zuvor bereits aufgeworfen, jedoch nur am Rande thematisiert hatte. Dazu gehören sowohl der Begriff der Gabe, der ja auch in dem oben angeführten Beispiel von den Ringen bereits als Schlüsselbegriff identifiziert werden konnte, wie auch der der Übersetzung. Denn insofern der Brückenschlag zwischen verschiedenen gedachten Symbolsystemen problematisch wird, kann Übersetzung nicht mehr als bloß medialer Akt der Vermittlung einer (verschlüsselten) Botschaft verstanden werden. Vielmehr verlangt sie in der ihr eigentümlichen Zwischenposition, deren Woher ebensowenig fixiert werden kann wie ihr Ziel, nach einer Beschreibung, die sie nicht auf eines der beiden Symbolsysteme oder eine Relation zwischen ihnen reduziert. Ein weiterer zentraler Begriff, den vor allem Lévinas verwendet, ist der des Antlitzes. Er bezeichnet nicht einfach das menschliche Gesicht, sondern einen Modus der Entblößung oder Verausgabung, der das Gesetz herausfordert, indem es dieses mit einem nicht-symbolisierbaren Singulären konfrontiert. Lévinas betont, daß das Antlitz nie zum sichtbaren oder berührbaren Objekt der Wahrnehmung werden könne und sich keinem Begriff unterordnen lasse. 13 Dabei ist es doch auch nicht ein außerhalb oder vor der Sprache Seiendes, sondern markiert das Sein als ein irreduzibel sprachliches. 14 Das Antlitz steht für das Erscheinen eines Anderen, zu dem 12

Derrida hat sich in einer Reihe von Texten mit der Möglichkeit einer zeitgemäßen Ethik auseinandergesetzt. Zu nennen wären zum einen seine Lévinas-Lektüren: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas (in: Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., 4. Aufl. 1989, S. 1 2 1 — 235) sowie ders.: Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich, in: Parabel 12 (1990), Themenheft »Lévinas«, hg. v. Michael Meyer und Markus Hentschel, S. 42 — 84. Außerdem die neueren Studien über die Gabe, vgl. etwa Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993 oder ders.: Den Tod geben, in: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 1994, S. 3 3 1 - 4 4 5 . In dem schon mehrfach zitierten Text G e setzeskraft. Der mystische Grund der Autorität< bezieht sich Derrida ausdrücklich auf die Problematik einer Stellungnahme zu Ethik und Gerechtigkeit aus der Perspektive der Dekonstruktion und reagiert damit auf Vorwürfe, letztere negiere das handelnde, verantwortliche Subjekt und zerstöre jeden Begriff guten oder gerechten Handelns schon im Ansatz.

13

Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg 1987, S. 277. Ebda., S. 288. Vgl. auch ders.: Humanismus des anderen Menschen, S. I4f. Dort bezieht sich Lévinas explizit auf die Heideggersche Formel von der Sprache als dem Haus des Seins.

14

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keine geregelte Beziehung herstellbar ist, da mit ihm die Welt und damit die Möglichkeit der Identitätsbildung und des Bezugs zu einem Du überhaupt erst eröffnet wird. Es ist deutlich, daß damit die Begegnung mit dem anderen Menschen als eine Begegnung mit Gott gestaltet wird. Ausdrücklich ist von der »Transzendenz« des Anderen die Rede, der »keine Grenze mit dem Selben hat«, »nicht von dieser Welt« sei und somit aus einem nicht-kalkulierbaren, unendlichen Außen in die Welt des Ich eintrete. 15 Die Verwendung theologischer Termini wie »Offenbarung«, »Epiphanie« 1 6 oder »Göttlichkeit« 1 7 charakterisiert dabei nicht schon den Text selbst als theologischen. Vielmehr deutet sie auf eine Verschiebung hin, die auch in den Lasker-Schülerschen Texten vielfach nachvollzogen werden kann: Indem das Ich und/oder das Du an die Stelle göttlicher Allmacht und Transzendenz gerückt werden, 18 tritt das prekäre Verhältnis zwischen geregelter (Tausch-)Beziehung und dem Einsetzen, dem Gründungsereignis des Symbolzusammenhangs als solchem, zutage. In dem Versuch, eine »Bindung [ . . . ] im Hinblick auf das Unendliche« 1 9 zu umschreiben, faßt Lévinas die Beziehung zum Anderen als Antlitz als eine Begegnung an der Grenze der Welt. Hier bricht die Totalität des Seins auf und öffnet sich auf eine ihm nicht subsumierbare und assimilierbare Fremdheit hin, der sich das Ich nicht entziehen kann. 2 0 Die Verantwortung, die das Antlitz dem Ich durch sein Erscheinen aufbürdet, ist keine abgeleitete oder auf ein Vernunftideal hin transzendierbare. Sie ist auf paradoxe Weise unmittelbar und transzendent zugleich, ein Einbruch des »Unendlichen im Endlichen«, 2 1 der zugleich das Anbrechen von Sprache, Welt und IchIdentität ist. Das Antlitz steht somit in einer engen Beziehung zur Sprache

15

Ebda., S. 292f.; Ders.: Menschwerdung Gottes?, in: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Wien 1995, S. 7 3 - 8 2 . Vgl. auch ders.: Humanismus des anderen Menschen, S. 4 1 : »Das Antlitz tritt in unsere Welt von einer absolut fremden Sphäre aus ein, das heißt genau, von einem Ab-soluten aus, das übrigens der eigentliche Name der fundamentalen Fremdheit ist.«

16

Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 283. Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. u. eingel. v. Wolfgang Nikolaus, Freiburg, München 1983, S. 2 3 2 . Vgl. zu dieser Operation auch Cornell: Das feministische Bündnis mit der Dekonstruktion, S. 306: »Wir müssen dem Anderen Heiligkeit einräumen.« Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 232. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 283. Vgl. auch ebda., S. 278: »Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd — aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die unsere gemeinsame Welt sein kann«. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 225.

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bzw. zum Symbolischen wie auch zur Ethik, es ist gleichsam deren Nahtstelle: 22 D a s Ich w i r d sich nicht nur d e r N o t w e n d i g k e i t zu a n t w o r t e n b e w u ß t , so als h a n d e l e es s i c h u m e i n e S c h u l d i g k e i t o d e r e i n e V e r p f l i c h t u n g , ü b e r d i e e s z u e n t s c h e i d e n h ä t t e . I n s e i n e r S t e l l u n g s e l b s t i s t es d u r c h u n d d u r c h V e r a n t w o r t lichkeit [ . . . ] . Von daher bedeutet Ichsein, sich der Verantwortung nicht entzieh e n k ö n n e n . D i e s e r A u s w u c h s an Sein, diese Ü b e r t r e i b u n g , die m a n

Ichsein

n e n n t , dieser A u s b r u c h der Selbstheit i m S e i n vollzieht sich als A n w a c h s e n der V e r a n t w o r t u n g . [ . . . ] D i e E i n z i g k e i t d e s I c h l i e g t in d e r T a t s a c h e , d a ß n i e m a n d an meiner Stelle antworten k a n n . 2 3

Ähnlich wie in den psychoanalytisch orientierten Theorieansätzen, die sich in besonderer Weise für die Lektüre der Lasker-Schülerschen Texte fruchtbar machen lassen, wird hier das Ereignis, mit dem das Symbolische als Bedingung des Selbst- und Fremdbezugs einsetzt, in den Blick genommen. Während Freud und Lacan diesen Moment als ambivalentes Zugleich von Setzen und Verwerfen, Identifizierung und Ichverlust beschreiben, spricht Lévinas von einer »Heimsuchung« 2 4 des Ich durch den Anderen. Im Deutschen verweist dieser Begriff auf jene Doppeldeutigkeit des Heimlich-Unheimlichen, die Freud als Hinweis auf die prinzipielle Unzugänglichkeit einer heimatlichen Geborgenheit als Ursprung der Identität gelesen hat. 2 5 U m sich seiner selbst zu versichern, muß sich das Ich immer wieder zum eigenen Ursprung zurückwenden. Indem dieser ihm als fremd, als unheimliche Verdopplung des Eigenen entgegentritt, läßt er sich jedoch nie vollständig in Besitz nehmen. Seine Identität gewinnt das Ich nicht aus sich selbst heraus, sondern über eine Veräußerlichung, einen Akt des Sich-Aussetzens gegenüber dem Anderen, das ihm Spiegel und Abgrund, Seinsgrund und Leere des Seins zugleich ist. 2 6 Die Gabe des 22

V g l . auch Emmanuel Lévinas: Ethik und Unendliches: Gespräche mit Philippe N e m o , W i e n 1996, S. 64. A u f die Frage nach der Phänomenologie des Antlitzes< hin bemerkt Lévinas: »Ich weiß nicht, ob man von einer >Phänomenologie< des Antlitzes sprechen kann, denn die Phänomenologie beschreibt das, was erscheint. Auch frage ich mich, ob man von einem Blick sprechen kann, der auf das Antlitz gerichtet wäre, denn der Blick ist Erkenntnis, Wahrnehmung. Ich denke vielmehr, daß der Zugang zum Antlitz von vornherein ethischer Art ist.«

23

Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 224. V g l . ders.: Humanismus des anderen Menschen, S. ι ο ι : »Aber man muß den Menschen zugleich von der Verantwortung her denken, die älter ist als der conatus der Substanz oder als die innere Identifikation; von der Verantwortung her, die genau diese Innerlichkeit stört, indem sie ständig von außen ruft«.

24

Z. B. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 2 2 1 , 223. Freud: Das Unheimliche, S. 2 4 1 - 2 7 4 . Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 38: »Das Verhältnis zum Anderen stellt mich in Frage, entleert mich meiner selbst und hört nicht auf, mich zu entleeren, indem es mir immer neue Ressourcen entdeckt. Ich wußte gar nicht, daß ich so reich bin, aber ich habe nicht mehr das Recht, etwas zu behalten.«

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Selbst vom Anderen her läßt sich vom Ich nicht begreifen, kalkulieren oder kontrollieren. Ganz in diesem Sinne notiert Lévinas: 27 »Abstand zwischen Ich und Sich, unmögliches Auf-sich-Zurückkommen, unmögliche Identität. [ . . . ] Die Rückkehr zu sich selbst wird zum unbeendbaren Umweg.« 2 8 Was die Innerlichkeit, das Sich-Einrichten im souveränen Ich aufstört, ist der Andere als Antlitz, das, wie immer wieder betont wird, »spricht«. 2 9 In dieser ursprünglichen Rede, die die Grenze der Sprache als System bezeichnet, ist das Ich angerufen und kann sich als solches nur als verantwortliches für den Anderen konstituieren. Früher als der Ursprung ist eine »vorursprüngliche Empfänglichkeit« für den Anderen, dem Bewußtsein und der Freiheit des Subjekts geht eine Verantwortung gegenüber einer unvordenklichen, nicht präsenten und daher auch nicht repräsentierbaren Andersheit voraus: 30 S i c h s e l b s t f r e m d , besessen von d e n A n d e r e n , u n - r u h i g , ist d a s Ich

Geisel,

G e i s e l g e r a d e in s e i n e r R ü c k - b e z o g e n h e i t e i n e s I c h , d a s s i c h u n a b l ä s s i g s e l b s t verfehlt. D o c h so d e n Anderen i m m e r

näher, i m m e r m e h r verpflichtet,

das

Verfehlen seiner selbst steigernd.31

Lévinas begreift die moderne Konstellation, in der das Ich sich ohne Gott, ohne transzendente Orientierung, vorfindet, nicht nur als Verlust, sondern sieht in ihr die Möglichkeit angelegt, Ethik und Subjektivität auf neue Weise als aufeinander bezogene zu denken. Das Ethische ist nichts, was dem Subjekt eine bestimmte Form, eine Orientierung und Seinsweise anbieten würde, dessen Annahme ihm jedoch freigestellt wäre. Es charakterisiert vielmehr die Struktur seines Seins, die Form des Ich als eine, die immer wieder über sich hinausweist, sich auf seine eigene Leere hin öffnet

27

Den Bezug zur Psychoanalyse stellt Lévinas zumindest in den hier betrachteten Texten selbst nicht ausdrücklich her. Im Gegenteil wendet er sich gelegentlich vehement gegen die angeblich »elementaren Märchen« (Libido, Ödipuskomplex, Aggression), an denen die Psychoanalyse unverständlicherweise festhalte. Vgl. Emmanuel Lévinas: Ich und Totalität, in: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Wien 1 9 9 5 , S. 24 — 5 5 , (S. 4 7 , 50). Offenbar bezieht er sich damit auf eine Psychoanalyse, die den radikalen Schritt, der sich in Freuds >Jenseits des Lustprinzips< manifestiert, nicht mitvollzieht. Dagegen sind die Analogien zwischen seinen Versuchen, den Bezug zum Selbst und zum anderen Menschen zu konzeptualisieren, mit psychoanalytischen Modellen, die das strukturelle Fehlgehen solcher Identifizierungen und Relationen beschreiben, aufschlußreich. Vgl. hierzu auch Elisabeth Weber: Verfolgung und Trauma. Z u Lévinas' Autrement qu'être ou au delà de l'essence, Wien 1990, S. 1 8 2 — 186.

28

Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 100. Lévinas: Ethik und Unendliches, S. 66. Vgl. auch ders.: Totalität und Unendlichkeit, S. 289: »Das Antlitz öffnet die ursprüngliche Rede, deren erstes Wort Verpflichtung ist«. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 72Í. Ebda., S. 100.

29

30 31

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und gerade darin fur den Empfang des »absolut Anderen« bereit ist: »Die Infragestellung seiner selbst ist genau das Aufnehmen des absolut Anderen.« 32 Es wurde bereits gezeigt, daß die Prosa Lasker-Schiilers im >Peter HilleBuch< mit einer Szene anhebt, die eine Geste des Sich-Aussetzens beschreibt. Die Verantwortung, die der Petrus-Figur aufgebürdet wird, ist eine, die ihrem Sein vorausliegt, ja dieses überhaupt erst konstituiert. Das Bild des Antäus, das im Zusammenhang mit der Charakterisierung dieser väterlichen Figur mehrmals aufgerufen wird, kennzeichnet seine Verantwortlichkeit als eine absolute, nicht-abgeleitete. Sie bezieht sich auf die Welt oder das Sein als ganze. Ähnlich schreibt auch Lévinas: »Hier ist die Solidarität Verantwortung, als ob das ganze Gebäude der Schöpfung auf meinen Schultern ruhte.« 33 Diese Passage läßt sich als Grundformel einer modernen Ethik lesen, die nicht mehr nur nach einem Modus des Miteinanders verschiedener Existenzen (oder Glaubenssätze etc.) fragt, sondern bereits die Existenz des Anderen der Verantwortung des einzelnen Menschen aufgibt. Die >Spur GottesHille-Buches< werden die folgenden Lektüren noch häufiger zurückkommen. Neben den Strukturäquivalenzen und Kontinuitäten im Lasker-Schülerschen Werk sollen aber auch die charakteristischen Akzente herausgearbeitet werden, die von denjenigen Texten gesetzt werden, die die enge Verflochtenheit von Ethik und Ästhetik demonstrieren. 32 33

34

35

Ebda., S. 43, und ders.: Die Spur des Anderen., S. 224. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 224, sowie ders.: Humanismus des anderen Menschen, S. 43. Vgl. auch ders.: Totalität und Unendlichkeit, S. 307: »Die Präsentation des Antlitzes hingegen setzt mich in Beziehung zum Sein.« Zum Begriff der Spur vgl. Lévinas: Die Spur des Anderen, bes. S. 230—235; ders.: Humanismus des anderen Menschen, S. 5 1 - 5 9 ; ders.: Menschwerdung Gottes?, S. 78: »Doch die Spur ist nicht einfach noch ein Wort: sie ist die Nähe Gottes im Antlitz meines Nächsten.« Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 57.

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2. Die Sorge um den Anderen >Der Scheik
Der ScheikDer Prinz von Theben< beginnt (PvT 95—98), fällt in mancher Hinsicht aus dem Rahmen der beschriebenen, sowohl in den >Nächten< wie auch im >Prinz von Theben < wiederkehrenden Erzählmuster. Dabei tauchen durchaus eine Reihe vertrauter Motive und Konstellationen wieder auf, was die folgende Analyse im einzelnen demonstriert. Die Besonderheit der Erzählung besteht jedoch darin, daß das Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten, die wie schon in einigen früheren Geschichten unterschiedlichen Religionen angehören, mit dem Zutagetreten einer unüberwindlichen Fremdheit nicht, wie meist in den >NächtenNächten< wird immer wieder ein Umschlagsmoment fokussiert, an dem der Versuch einer totalen Assimilation der Figur des oder der Fremden an eine Machtordnung mit der Wiederholung einer Verwerfung oder Spaltung im Innersten dieser Ordnung zusammenfällt, ohne daß sich daraus eine Perspektive auf eine gelingende Beziehung zum Anderen ableitete. In >Der Scheik< wird die Suche nach einer solchen nun zum zentralen Movens der Geschichte.

2 . 1 . »Das streitende Amen« Die Rolle des Souveräns wird hier von einem islamischen Oberhaupt, dem Scheik, besetzt, dessen Gegenspieler ein »jüdischer Sultan« namens »Mschattre-Zimt« ist, seinerseits offenbar ein herausgehobener Repräsentant seines Glaubens. Obgleich beide sich als gleichberechtigte Freunde gegenübertreten, deutet sich schon zu Beginn eine gewisse Asymmetrie ihrer Beziehung an. Denn während alle Begegnungen im Palast des Scheik stattfinden, dessen Einfluß zudem durch den Titel eines »obersten Priesters aller Moscheen« bekräftigt wird, bleibt der Wohnort des Juden unbestimmt. Von einem »schlichten Dach« (PvT 95) ist die Rede, aber dieses findet lediglich als Markierung eines anderen Raumes Erwähnung, der mit dem Herrschaftsbereich des Scheik zwar auf besondere Weise verbunden, diesem aber nicht assimilierbar ist. Dieser Raum ist selbst nicht Schauplatz der Erzählung, sondern geradezu als ein dem Textraum äußerer Bereich modelliert. So heißt es, daß die beiden Häuser durch eine Wolke verbunden seien. 30 Über diese »göttliche Brücke« schreitet der jüdische Sultan 36

Vgl. Anm. 9 und das Zitat jener Briefstelle, in der Christus als Brücke zwischen Juden und Christen und zugleich als »Wolke« imaginiert wird.

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»allabendlich« in großer Regelmäßigkeit, »nicht verspätet, nicht verfrüht«, um von dem mohammedanischen Freund gastlich empfangen zu werden. Der rituelle Charakter ihrer Zusammenkünfte spiegelt sich außerdem in dem immergleichen Spiel, das sie miteinander spielen, bei dem Kugeln auf ein Brett geworfen werden, die entweder in dessen Kanälen und Rinnen herabrollen oder aber zwischendurch von kleinen Hindernissen aufgehalten werden. Es handelt sich um ein Glücksspiel, welches das prekäre Gleichgewicht des Besuchsrituals zwischen Jude und Scheik reflektiert. Jedesmal spielen, rauchen, trinken und sprechen die beiden miteinander, aber irgendwann ereignet sich immer etwas, das die eigentlich verbindenden Handlungen entgleisen läßt, woraufhin die Beziehung zwischen beiden schließlich immer wieder abbricht. Insbesondere der Scheik reagiert etwa auf einen besonders glücklichen Wurf im Kugelspiel, auf das »Ausnahmeglück« (PvT 95), mit einer Maßlosigkeit, die die Wände der Säle erschüttern läßt. Ebenso maßlos spricht er dem Opium zu, was der Jude ebenfalls als gefährlich zerstörerische Entgleisung mißbilligt und offenbar furchtet: »Mschattre-Zimt rügte immer schärfer den Schaden des Giftes auf seines Freundes Leib.« (PvT 95) Hier wird bereits deutlich, daß die Entgleisung des einen Reaktionen auf der Gegenseite hervorruft, die ebenfalls als Übergriffe auf dessen eigenen Bereich verstanden werden können. Denn unabhängig davon, ob die Sorge um den fremden Körper als Kritik oder Fürsorge begriffen wird, in jedem Fall deutet sich der Verlust der Balance an, die den Austausch zweier unabhängiger, einander in geregelter Distanz gegenübertretender Männer gefährdet. Jede Begegnung endet denn auch mit einer erbitterten Auseinandersetzung, infolge derer der Jude sich schweigend erhebt und den Palast noch »vor Mitternacht« (PvT 96) verläßt. Die unlösbare Streitfrage, die diesen Abbruch der Begegnung jedesmal provoziert, ist die Frage nach der Wahrheit ihrer jeweiligen Religion: »Ob Allah oder Jehovah der einzige Gott der Erde sei - wurde zum streitenden Amen ihres Abends.« Da beide unnachgiebig ihrem Gott treu bleiben, wird vor allem der Scheik zu immer ausschweifenderen Gesten getrieben, die den bloßen Austausch von Argumenten überborden: W i e die Kugeln des goldenen Spiels überstürzten sich schließlich ihre Worte und Gebärden. Der Scheik vergaß sich in seiner W ü r d e so weit, daß er die Krüge der Getränke wie ein unerzogener Knabe über die Zinnen seines Daches warf, bis die Tränen vor Erschöpfung aus seinen Augen rannen. ( P v T 96)

Der Scheik regrediert regelrecht zum Kind, das die erlernten Konventionen und Umgangsformen vergißt und auf den ungebrochenen Widerstand des Fremden mit unkontrollierter Heftigkeit reagiert. Indem er die Krüge

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fortwirft, kehrt er die Geste der Gastfreundschaft, dem Fremden den Becher zu reichen, in eine bedrohliche Verwerfungsgeste um. Der Jude ist diesen Wechselbädern von Empfangenwerden und Zurückweisung endlos unterworfen; dabei ist er selbst deren Auslöser, denn erst die Unmöglichkeit, mit ihm einen Konsens oder eine Versöhnung in Religionsdingen zu erreichen, fuhrt dazu, daß der Scheik »sich vergißt«. Der Krug wird gleichsam zum Zeichen fur den Versuch und das Scheitern des Scheik, den Juden zu verstehen und/oder seiner eigenen Glaubensordnung zu assimilieren. Er bezeichnet jedoch weder allein das eine noch das andere, sondern bleibt an die doppelte Geste von Empfangen und Verwerfen geknüpft. 37 Damit erinnert sie an die Freudsche Konstellation des Fort-Da, die einerseits die Möglichkeit einer Beziehung zum Anderen präfiguriert, zugleich aber die Fixierbarkeit eines mit sich selbst identischen Ich als Voraussetzung einer Fremdbeziehung in Frage stellt. Der Krug, selbst ein Gefäß oder Hohlraum, ist Zeichen einer Vermittlung zwischen den Protagonisten, deren Inhalt oder Substanz sich jedoch nicht fassen läßt. Die Szene der Begegnung zwischen den beiden religiösen Repräsentanten wird durch das Krugmotiv gerahmt, ohne selbst von ihm bezeichnet zu werden. Ähnelt das abrupte Abbrechen ihrer Begegnung der Verwerfungsgeste, die in den Erzählungen der >Nächte< immer wieder zutage tritt und die sich mit dem Begriff der Abjektion beschreiben läßt, so bricht hier die Erzählung doch nicht mit ihr ab. Indem vielmehr freundschaftliche Annäherung und Entzweiung, das Begehren nach Verständigung und ihr Scheitern unendlich oft wiederholt werden, wird die im Zeichen der Versöhnung aufscheinende Leere zugleich als Bedingung und irreduzibles Merkmal dieser interreligiösen Zusammenkunft kenntlich gemacht. Denn auch wenn der Jude sich im Zorn über die Zurückweisung nicht selten schwört, den Scheik »niemals wieder« (PvT 96) aufzusuchen, so zieht ihn doch eine Faszination weniger für dessen Menschenfreundlichkeit als gerade für seine Maßlosigkeit und Exzessivität immer wieder dorthin: [ . . . ] heimlich aber dachte er: In ganz Bagdad findet Jehovah keinen jüdischen Knecht, auf den er mit größerem Wohlgefallen blicken würde wie auf den mohammedanischen Priester aller Moscheen. Denn Mschattre-Zimt bewunderte heimlich den ungezähmten Eifer seines Freundes. (PvT nicht von dieser Welt< und zugleich der Zugang zu ihr, den der Mensch nur über den Anderen gewinnen kann. »Die Maßlosigkeit, die im Begehren ermessen wird, ist Antlitz«, heißt es bei Lévinas. 43 In der Verflechtung von Sprache, (maßlosem) Begehren und Antlitz, die sich ebenso bei Lévinas wie in dem betrachteten Text >Der Scheik< nachvollziehen läßt, zeichnet sich ein erweiterter Sprachbegriff ab, der nicht in der Rede der Figuren oder einem ihr zugrundeliegenen Sprachsystem aufgeht. In der Sprache, die in der Beziehung zwischen Scheik und Sultan aufscheint und die nicht von ihrer ethischen Dimension losgelöst werden kann, 44 konstituieren sich die Figuren im Bezug aufeinander, wodurch ihre jeweilige Souveränität und Autonomie in Frage gestellt wird.

2.2. Versöhnung jenseits des Todes Die Radikalität dieser Entgrenzung von Positionen und Identitäten wird — wiederum sowohl bei Lévinas wie bei Lasker-Schüler — in der Problematisierung des Verhältnisses zum Tod offensichtlich. Bereits im >Peter Hille-Buch< spielt die Frage nach dem Verhältnis zum Tod eine zentrale Rolle. Er wird, wie gezeigt, zum Ausgangspunkt sowohl einer

41

Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 36. Vgl. auch ebda., S. 8 1 : »Die Wahrheit wird im Anderen gesucht; es sucht aber der, dem nichts fehlt. Der Abstand ist unüberbrückbar und zugleich überbrückt. Der getrennt Seiende ist befriedigt, autonom, und dennoch auf der Suche nach dem Anderen; weder der Mangel eines Bedürfnisses noch das Gedächtnis eines verlorenen Gutes sind der Antrieb für die Suche. [...] Die Sprache berührt den Anderen nicht, auch nicht bloß wie eine Tangente, sie erreicht ihn, indem sie ihn anruft.«

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Ebda., S. 37. Ebda., S. 8 1 . Damit wird deutlich, daß Lévinas' Konzept des Begehrens als maßloses dem entspricht, was in den Erzählungen der >Nächte< immer wieder in Abgrenzung von einem Begehren profiliert wird, das sich auf ein Objekt oder den Besitz einer geliebten Person richtet und das in der Analyse als exzessives gekennzeichnet wurde. Lévinas spricht ausdrücklich von einer »ethischen Sprache«, so etwa die erläuternde Anmerkung in Jenseits des Seins, S. 2 i i f . , sowie ebda., S. 267.

43

44

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Bestimmung der Identität der Ich-Figur als von Petrus beauftragter Erzählerin, als auch der Gestaltung des Verhältnisses der beiden Protagonisten zueinander. Insofern diese offenkundig nicht derselben Religion angehören, stellt der Tod des Anderen einen Einschnitt dar, der nicht im Rahmen von Jenseitsversprechen und Begräbnisritualen mit Sinn aufgeladen werden kann, durch die innerhalb eines Glaubenssystems das absolut NichtVerstehbare in einer göttlich legitimierten Seinsordnung aufgehoben wird. Wo kein Konsens im Glauben an denselben Gott zu Lebzeiten besteht, kann es bei dem Überlebenden keine Gewißheit geben, ob der Tod des Anderen, des fremden Freundes, als Übergang ins Jenseits vorgestellt werden kann oder nicht. Daraus resultiert jedoch unmittelbar eine Unsicherheit, die die Verwurzelung im eigenen Glauben erschüttert. Wenn das Jenseitsversprechen nicht universal gilt, sondern Anders- oder Nichtgläubige von ihm ausgenommen sind, bleibt die Frage nach einer Ethik, die den Anderen mitdenkt, offen. Im >Hille-Buch< deutet sich eine solche Perspektive darin an, daß Tinos Existenz sich durch die Aufgabe begründet, vom Anderen nach dessen Tod Zeugnis abzulegen. Die beschriebenen Konstellationen, in denen die Nähe/Identität der Figuren sowie ihre unüberbrückbare Differenz zutage treten, machen deutlich, daß der Übergang vom Leben zum Tod durch keine Symbolordnung verbürgt wird. Es läßt sich zum Tod keinerlei geregelte (ritualisierte) Beziehung herstellen, vielmehr manifestiert er sich als aus keiner Position oder Perspektive heraus repräsentierbarer Einbruch, der die bezeugende Instanz selbst mit einer unüberwindlichen Fremdheit konfrontiert. Denn offensichtlich läßt sich das Trauma, das der Tod des Anderen für die Figur bedeutet, von dieser auf keine Weise distanzieren. Aber gerade indem sie es nicht verdrängen oder in ein kohärentes Sinnsystem, in dem sich das Ich als mit sich identisches behaupten könnte, überfuhren kann, konstituiert dieses sich durch eine Empfänglichkeit fur den Anderen, die dessen Einzigartigkeit bewahrt. 45 Genau hier, in der Verantwortung für den Anderen, die nicht delegiert oder abgeleitet werden kann, bestätigt sich auch die »Einzigkeit« des Ich, die sich nicht im Sinne transzendentaler Subjektivität beschreiben läßt: Einzigkeit, die, gegenläufig zu der auf sich zurückkommenden Gewißheit, aufgrund der Nichtübereinstimmung mit sich bedeutet, aufgrund der Un-ruhe, aufgrund der Be-un-ruhigung — die keine Identität gewinnt und nicht fur das

45

»Einzigkeit« (unicité) ist bei Lévinas ein zentraler Begriff. Vgl. etwa ders.: Totalität und Unendlichkeit, S. 164—167. Die »logisch absurde Struktur der Einzigkeit« wird hier als »Nichtteilhabe an der Gattung« beschrieben.

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Wissen erscheint - defizitär, Schmerzstelle, aber [...] undeklinierbar in dieser Passivität ohne Spiel.46 Der Abbruch des Spiels, der ja auch in >Der Scheik< als der Moment erkennbar wird, in dem die Figuren nicht mehr in einer geregelten Distanz zueinander stehen, sondern eine unüberbrückbare Differenz zwischen ihnen aufklafft, die das Verhältnis der Figuren zu sich selbst affiziert, eröffnet die Möglichkeit der ethischen Beziehung. Seine Einzigkeit kommt dem Ich nicht in der Erfahrung eines Heideggerschen Seins zum Tode zu, 47 sondern darin, daß es dem Tod des Anderen ausgesetzt ist. In der vielleicht radikalsten und schwierigsten Denkfigur, die Lévinas seinen Lesern zumutet, wird der Tod des Anderen zum Ich in einer Weise in Bezug gesetzt, daß die Grenze zwischen Erleiden und Zufügen, Aktivität und Passivität hinsichtlich der Erfahrung des Äußersten des Todes nicht mehr eindeutig bestimmt werden kann. Das Ich wird zur Instanz, in der »die Gewalt des ersten Verbrechens«, 48 mit dem das Symbolische einsetzt, in der Schwebe gehalten wird. In dieser Formulierung wird die Nähe des Lévinasschen Denkens zu den psychosemiotischen Ansätzen und Opfertheorien ganz deutlich, die in den vorausgehenden Analysen diskutiert wurden. Zugleich zeigt sich, inwiefern Lévinas jenen aporetischen Moment, in dem das transzendentale Zeichen, das die Symbolordnung als ganze verbürgt, seine Haltlosigkeit und Ambivalenz zur Schau stellt, als Kristallisationsmoment einer ethischen Sprache weiterdenkt. Gleiches ließe sich über die hier betrachteten Texte Lasker-Schülers sagen, die die zuvor entfaltete Problematik von Souveränität und Exzessivität aufnehmen und weiterentwickeln. Nicht zufällig treten sich mit dem Scheik und dem Sultan gleichsam zwei 46 47

48

Lévinas: Jenseits des Seins, S. 135. Gegenüber Heidegger, dessen Philosophie Lévinas sich erklärtermaßen besonders verpflichtet fühlt, grenzt er sich gerade in diesem Punkt mehrfach ausdrücklich ab, vgl. etwa Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 4 1 5 , oder ders: Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, in: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, S. 167 — 193, (S. 183). Heidegger weist in Sein und Zeit die Möglichkeit zurück, durch die Erfahrung des Todes des Anderen eine »ontologische Umgrenzung der Daseinsganzheit« zu erkennen. Allein das Verständnis des Daseins als »Gespanntsein« auf den Tod (das nicht einfach ein »Denken an den Tod« und damit ein berechnendes Verfiigenwollen ist), kehrt das Dasein als je einzelnes hervor: »Das Sterben muß jedes Dasein jeweilig auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er >istDer ScheikAus-der-WeltGehen< des Anderen nicht aufhört. Im Gegenteil zwingt der Tod des Freundes den Scheik erst recht dazu, >sich zu vergessen«, alle vertrauten Verhaltensmaximen in den Wind zu schlagen und die Grenzen des von ihm selbst repräsentierten Herrschaftsbereiches zu überschreiten. So gestaltet dieser zweite Teil der Geschichte eben jene Konfrontation mit dem Tod des Anderen, der den Überlebenden nicht nur in seinem Selbst-Sein erschüttert, sondern ihm Verantwortung für den Anderen aufbürdet. Bei Lévinas heißt es: Der Tod des Anderen stellt mich infrage und bezieht m i c h ein, als würde ich an diesem für den Anderen, den ihm Ausgesetzten, unabsehbaren Tod durch meine eventuelle Gleichgültigkeit zum K o m p l i z e n ; und als hätte ich, bevor ich ihm noch selber geweiht bin, mich für diesen Tod des Anderen zu verantworten und den N ä c h s t e n nicht in seiner tödlichen E i n s a m k e i t alleine zu lassen. Gerade in dieser E r m a h n u n g an meine Verantwortung durch das Antlitz, das mich vorlädt, nach mir fragt, meine Anwesenheit fordert, gerade in dieser Infrag e s t e l l u n g ist der Andere mir N ä c h s t e r . 4 9

Bereits Heidegger betont, daß sich der Tod als äußerste Möglichkeit des Daseins nicht in der ehrenden Fürsorge der Hinterbliebenen zu erkennen gebe, die ihren Ausdruck in Trauerritualen, Totenfeiern und im Gräberkult findet. Während solche Rituale auf die Konstruktion eines Miteinanders abzielten, indem sie die durch den Tod im Symbolischen aufgerissene Lücke verdeckten, könne allein eine »rein existenziale Orientierung am je eigenen Dasein« der Versuchung, dem Äußersten auszuweichen und sich im Diesseitigen zu trösten, widerstehen. 50 Demgegenüber bleiben bei Lévinas und Lasker-Schüler die Trauerfeiern insofern im Blick, als ihr Scheitern, eine Beziehung zum absolut Anderen herzustellen, unmittelbar mit der Verantwortung für den Anderen verknüpft wird. In >Der Scheik< wird dies dadurch besonders anschaulich, daß die Trauerfeier für den Gestorbenen als >Ritual der Anderen«, nämlich der jüdischen Gemeinschaft, erscheint, an dem der Scheik als Angehöriger einer anderen Religion nicht

50

Ebda., S. i82f. Heidegger: Sein und Zeit, S. 238^, 253. Der Begriff des Verdeckens taucht hier auf und erinnert noch einmal an die im Zusammenhang mit der Souveränitätsproblematik erläuterten Strategien der Verstellung oder Verleugnung einer vom Souverän nicht distanzierbaren Ursprungsgewalt.

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gleichberechtigt teilhaben kann. Sein Versuch nämlich, durch seine Anwesenheit bei dem jüdischen Begräbnis dem Freund die letzte Ehre zu erweisen, ist nicht gleichbedeutend mit seiner Unterordnung unter die fremden Gebräuche und damit unter den Glauben des Freundes. Anstatt seinen eigenen Glauben rücksichtsvoll zu verbergen, stellt er ihn ausdrücklich zur Schau und verweist darüber hinaus auf seinen eigenen Status als Vater vieler Söhne, was einen paternalen Souveränitätsanspruch bekräftigt: A n einem Feiertage der Juden zerriß mein Urgroßvater, der Scheik, der oberste Priester aller Moscheen, seine Kleider; schüttete Asche auf sein glänzendes Haar... Mschattre-Zimt war am Morgen gestorben. Der Scheik folgte zu Fuß, inmitten seiner dreiundzwanzig Söhne dem schlichten Sarge seines Freundes, der zur Ruh bestattet wurde nach seines Gesetzes Gerechtigkeit wie der Ärmste der Gemeinde. Der Scheik sprach dreiundzwanzig Gebete und eins, dreiundzwanzig am Grabe des jüdischen Sultans nach seiner Söhne Zahl und eins in hebräischer Sprache zu Ehren seines Freundes. (PvT 9 7 ) ' 1

Das >plus einssein< in bezug auf die Söhne den Scheik selbst und nicht den Juden bezeichnet, geht aus dem vorhergehenden Text hervor: »Mein Urgroßvater hatte dreiundzwanzig Söhne«. (PvT 95) Das Motiv der dreiundzwanzig Söhne taucht in der Prosa Lasker-Schülers häufiger im Zusammenhang mit einer fiktiven Autobiographie auf. Wichtigstes Vorbild für diese Selbstinszenierung dürften die Motive einer zahlreichen Nachkommenschaft sowie endloser genealogischer Verkettungen sein, wie man sie im Alten Testament findet. An diesen Befund knüpft sich in der Analyse, wie im folgenden gezeigt werden soll, die Frage, wie mit diesen Motiven in der Strukturierung der LaskerSchülerschen Prosa verfahren wird.

52

Die Zahl dreiundzwanzig könnte als Anspielung auf die Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets gelesen werden. Dieses besteht aus zweiundzwanzig Buchstaben, wobei in der kabbalistischen Tradition immer wieder von einem verborgenen dreiundzwanzigsten die Rede ist. Vgl. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 53. Insofern sich unter den Söhnen des Scheik >ein Zwilling< (PvT 96) befindet, oszilliert auch ihre Zahl zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig.

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Ganzheitskonstruktion zurück, die durch den Scheik als religiösem Oberhaupt symbolisiert wird. Indem alle Gebete bis auf eins im Namen von Kindern gesprochen werden, wird zudem auch der jüdische Freund in die Position eines Kindes gerückt. Die Sorge um dieses >Kind< jedoch sprengt den Rahmen der patriarchalen Ordnung und Genealogie. Dies wird in der Fortsetzung der Geschichte deutlich, nachdem, markiert lediglich durch zwei Gedankenstriche, ein Jahr verstrichen ist. Als sich der Tod des jüdischen Sultans zum ersten Mal jährt, 53 klopft es plötzlich »ganz geheimnisvoll« (PvT 97) an die Wand des Palastes, in dem der Scheik mit seinen Söhnen gerade zu Tisch sitzt. Zunächst werden die »schwarzen Diener« geschickt, um nachzusehen, wer dort Einlaß begehre. Als diese niemanden vor der Tür antreffen, während das Klopfen nicht aufhört, beginnen die Söhne selbst »den späten Gast« zu suchen, »der die Ruhe [des] Vaters störte«. Aber obwohl sie den Palast durchkämmen und draußen »das dichte Laub der Sträucher« 2erstören, obgleich sie »vor der Mauer des Garten wie Spürhunde« auf der Lauer liegen, gelingt es ihnen nicht, den Gesuchten >dingfest< zu machen. Schließlich erhebt sich der Scheik selbst. Er legt sein Feierkleid an, läßt seine Füße ölen und wendet sich, einem »klagendefn] Wind« (PvT 98) folgend, dem jüdischen Friedhof zu. Auf seinem Weg durchquert er, gefolgt von seinen Söhnen, nicht nur die Straßen seiner Stadt, sondern ebenso die unterirdischen Gewölbe, in denen die Königsmumien >schlafenNächten< die Schwelle des Symbolischen markieren. Während jedoch der Khedive in der gleichnamigen Erzählung zuletzt einem Medusenhaupt gleicht, das nicht angeblickt werden darf, und die Gegenfigur Tino, die zuvor die Frau an seiner Seite gewesen war, nurmehr als Name auf der Bildfläche präsent ist, wird hier ausdrücklich eine Begegnung zwischen den beiden Protagonisten gestaltet. Bereits die Wiederholung der Geste, die jeweils das Abbrechen des Besuchsrituals der beiden Freunde zu Lebzeiten des Sultans begleitet hatte, deutet jedoch daraufhin, daß der Text dennoch nicht hinter das >Äußerste< zurückfällt, das >Der Khedive< exponiert. Dieselbe Geste, die zuvor den Widerstand des Juden gegenüber den Assimilationsversuchen des Scheik angezeigt hatte, führt die beiden nun aber offenbar gerade zusammen. Damit wird deutlich, daß sie sich als Körperzeichen nicht vereindeutigen läßt. Während man bei ihrem ersten Erscheinen im Text noch annehmen kann, daß der Sultan mit ihr sein persönliches Glaubensbekenntnis zum Ausdruck bringt - und wirklich heißt es in Erinnerung daran, er habe die Hand »zu seinem Gotte« erhoben - , so wird mit der zweiten Erwähnung deutlich, daß sie sich in dieser Bedeutung nicht erschöpft. Zwischen dem ersten und dem zweiten Auftauchen dieser Geste im Text liegt der Tod desjenigen, mit dessen Körper sie in Verbindung gebracht wird. Damit kann sie nicht mehr als Ausdruck eines selbstbewußten Individuums und seiner religiösen Uberzeugung gelesen werden, vielmehr weist sie über die Grenzen des Körpers als >Haus< des Ich hinaus. Ebenso wie Mschattre-Zimt zuvor weniger durch einen eigenen Ort charakterisiert war, als durch die Unmöglichkeit, verortet werden zu können, scheint er auch nach seinem Tod unbehaust und auf schmerzliche Weise heimatlos. 57 Indem seine Augen zudem als »rissige Synagogen« beschrieben werden, wird sein Körper selbst mit dem jüdischen Gotteshaus in Verbindung gebracht, das in seiner Brüchigkeit jeden Augenblick

57

die Rede, daß der Scheik das Geschilderte sieht. Vielmehr tritt er vor allem als Handelnder im Umgang mit dem Anderen auf und läßt sich auch nicht vorübergehend auf die Rolle eines distanzierten Beobachters festlegen. »Heimatlos noch im Tode« kennzeichnet sich das Ich in >Ich räume auf!Zeltwohnung< der Bundeslade durch ein >Haus aus Zedernholz< ersetzen); 1. Kön 3,2; 1. Kön 5,19; 1. Kön 6,2; 1 3 (»und [ich] will wohnen unter Israel und will mein Volk nicht verlassen«); 1. Kön 6 , 3 1 ; nach der Fertigstellung des Tempels ergreift Gott in Gestalt einer Wolke — an die auch die »Wolkenbrücke« in >Der Scheik< erinnert — Besitz von seinem Tempel: »Als aber die Priester aus dem Heiligen gingen, erfüllte die Wolke das Haus des Herrn, so daß die Priester nicht zum Dienst hinzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus des Herrn.« (1. Kön 8,iof.)

59

So bereits Robert Hertz: Death and the Right Hand (zuerst frz. 1909), Aberdeen i960, S. 2 8 - 4 8 . Hertz' Studie basiert auf der Beobachtung, daß der Tod niemals einfach als »biologische oder soziale Tatsache« den Menschen präsent ist, sondern als »Gegenstand kollektiver Repräsentation« je unterschiedliche Symbolisierungen erfahre. (Ebda., S. 28.) Vgl. auch Maurice Bloch und Jonathan Parry: Death and the regeneration of life, Cambridge 1982, S. 4, 10.

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einer Übergangsphase markiert, in der die Seele des Toten noch ohne neue Einkörperung oder Behausung ist. Sie lebt in dieser Zeit »in zwei Welten« zugleich und ist dazu verurteilt, unstet umherzuwandern. In dieser Phase gelten fur alle Angehörigen strenge Tabus und Regeln, deren Nichteinhaltung die Wiederkehr und Rache der Geister der Toten provozieren können. Zu den Aufgaben, die ihnen obliegen, gehört sehr häufig auch die besondere Sorge um den Leichnam, in dessen Zersetzungsprozeß sich der Übergang der Seele in ein anderes Leben spiegelt. Daher gilt dieser als abgeschlossen, wenn der Körper vollständig zersetzt ist, was durch verschiedene Praktiken beschleunigt werden kann 6 ° oder durch die erfolgreiche Mumifizierung beendet ist. Schon in den >Nächten< greift Lasker-Schiiler, wie erwähnt, die Motive des Nichtsterbenkönnens und der untoten Wiedergänger immer wieder auf. Die Heimsuchung durch den Anderen, der als absolut Anderes jeder eindeutigen Symbolisierung und damit Kontrollierbarkeit entgeht, trifft den Überlebenden seinerseits in einem Schwellenzustand. Wie die Tabus und Verhaltensvorschriften der Primitiven veranschaulichen, befindet sich die kollektive Identität hier in einer äußerst prekären Situation, 61 da die festen Grenzen der Identität (und des Reiches der Lebenden) aufs Spiel gesetzt werden und die Möglichkeit eines Umschlags in exzessive Gewalt gegenwärtig ist. In >Der Scheik< wird diese Konstellation, in der der »oberste Priester aller Moscheen« vom Tod des Anderen in einer Weise betroffen wird, die ihn selbst aus den gewohnten Strukturen und Handlungsmustern herausreißt, explizit im Sinne einer Verantwortung für den Anderen modelliert. Zwischen der ersten und zweiten Bestattung wird der Scheik, bereits durch das Klopfen und den klagenden Wind, ganz deutlich aber durch den monströsen, unerlösten Schmerzenskörper, vom Anderen, wie Lévinas formuliert, als »Geisel« genommen. Indem der Text nichts weiter als die körperliche Erschütterung des Scheik beschreibt, stellt er ihn dem ebenfalls stummen Körper Mschattre-Zimts gegenüber. Die »Versöhnung«, die dar60

61

Eine mögliche Praxis ist der sogenannte »Endokannibalismus«, bei dem das Fleisch des toten Körpers von den Angehörigen verzehrt wird, so daß nur noch die Knochen iibrigbleiben, die zuletzt verbrannt werden. (R. Hertz: Death, S. 44.) Die Inkorporation des Anderen, in dem sich die Symbolisierung des Todes hier niederschlägt, veranschaulicht die Ambivalenz, die der Darstellung des Übergangs zwischen Leben und Tod eingeschrieben ist: Etwas muß vertilgt, zum Verschwinden gebracht werden, damit der kollektive Sinnhorizont restituiert oder stabilisiert werden kann. In seiner strengen Reglementierung, mit Hilfe derer die prekäre Balance aufrechterhalten werden soll, ähnelt dieser Zustand dem der Priesterkönige, von dem im vorhergehenden Kapitel die Rede war. Auch sie figurieren den Schwellenzustand, der als Symbolisierung eines Übergangs zugleich dessen Kehrseite, den Zusammenbruch der Ordnung, in sich birgt.

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aufhin vom Text evoziert wird, spielt sich jenseits sprachlicher Vermittlung ab. Auch wenn es in dieser Szene einen aktiven und einen passiven Part zu geben scheint, so kehrt sich dieser Eindruck zugleich um, indem deutlich wird, daß das Handeln des Scheik eine Reaktion auf den Anruf oder Anspruch des Todes des Anderen ist. Eine souveräne Position im Sinne eines seine Handlungen und Entscheidungen kontrollierenden Ich gibt es in dieser Szene nicht. Die Versöhnung findet daher auch nicht vor dem Horizont eines — durch einen souveränen Priesterkönig — repräsentierbaren Symbolsystems statt, sondern in einem Zwischenraum, in dem Identitäten und Körpergrenzen in der Schwebe gehalten werden. Wird dieser einerseits als zeitlicher und räumlicher Übergang gestaltet, in dem sich die Gegensätze berühren, ohne zu verschmelzen, 02 so macht die Schlußszene deutlich, daß die damit ausgestellte Figur der Heterogenität durch die Rückkehr zur Ordnung nicht einfach ausgelöscht wird. Sie erscheint vielmehr in die Grenze desjenigen Raumes unwiderruflich eingeschrieben, der Hoheitsgebiet des Scheik und zugleich Schauplatz der Erzählung ist. Während sich zu Beginn das Jüdische in seinem Verhältnis zur Symbolgewalt des Scheik in erster Linie als Widerstand und Verfehlen kenntlich macht, wird die unüberbrückbare Heterogenität nun im Machtsymbol selbst zur Schau gestellt: »In dem Tore von Bagdad ruhen eingeschnitten die Bilder meines Urgroßvaters, des Schelks, des obersten Priesters aller Moscheen, und seines Freundes, des jüdischen Sultans Mschattre-Zimt.« (PvT 98) 6 3 Das Tor als Schwelle des Machtbereiches ist doppelt gezeichnet, wodurch dieser nicht als von einem Gott gestifteter, sich auf ihn hin transzendierender >Wohnraum< entzifferbar ist. 04 Diese Konstellation zeigt noch einmal, inwiefern der Bezug zu anthropologischen Studien über die »zweite Bestattung«, der hier vorgeschlagen wurde, dazu beitragen kann, ein strukturelles Moment des Textes zu konturieren. Denn die geisterhafte Erscheinung des untoten Scheik läßt sich nicht bloß als Durchbruch archaischer Formen religiösen Ausdrucks interpretieren,

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Die Berührung, die ausdrücklich mit der Körperlichkeit der Figuren in Verbindung gebracht wird, läßt sich doch nicht als Liebkosung oder Vereinigung im herkömmlichen Sinne beschreiben. Sie markiert zugleich eine unüberwindliche Distanz, denn die Körper werden nicht als intakte Umhüllungen oder Wohnungen eines jeweiligen Ich lesbar, sondern als entstellte, entsetzte, erschütterte, die vom Anderen affiziert sind. Das Bild erinnert an die im >Malik< beschriebene Flagge Thebens, auf der sowohl Jussuf wie Ruben abgebildet sind und die damit ihrerseits die Kluft reflektiert, über der dieser literarische Raum errichtet ist. Vgl. Anm. 58. Die Bibelzitate zeigen, daß etwa das Land und Königreich, das Gott Israel verspricht, nur solange Bestand hat, wie die Schwellenräume (fur die der Tempel nur ein Beispiel ist) eindeutig durch seinen Namen markiert sind.

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die als Alternative zu den monotheistischen Glaubensbekenntnissen gestaltet wären, von deren unaufhebbaren Widerstreit der erste Teil der Erzählung erzählt. Die Friedhofsszene heilt nicht die Kluft zwischen den Bekenntnissen, zwischen dem jüdischen und dem muslimischen Gott, sondern läßt eine Heterogenität im Innern des jeweils Eigenen zutage treten. 05 Diese ähnelt der irreduziblen Ambivalenz, die sich in der Vorstellung der umherwandelnden Geister der Toten ausdrückt, die den Angehörigen und der Gemeinschaft sowohl Gutes tun wie schaden können. Die Spanne zwischen der ersten und der zweiten Bestattung läßt sich nicht auf einer Zeitachse eintragen, wobei die zweite Szene als Erinnerung an die erste zu verstehen wäre. Eher wird sie als Intervall beschreibbar, das sich den ordnungstiftenden Ritualen des Übergangs nicht einfügen läßt. Denn die zweite Bestattung erinnert nicht bloß die erste als absolut einmaligen Übergang vom Diesseits zum Jenseits, sie wiederholt sie und stellt damit ihre Einmaligkeit und ihren Charakter eines endgültigen Abschlusses in Frage. Das Intervall zwischen den beiden Grablegungen, das den einen, religiös eingebetteten Übergang gleichsam auffaltet, wird mit einer Sorge und Verantwortung für den Anderen verknüpft, die aus den zeitlichen oder räumlichen Kontinuen eines Symbolsystems herausgelöst wird. Dabei deutet die Tatsache, daß die Bestattung wiederholt werden muß, auf eine Schuld des Scheik, dem die Verantwortung für die versöhnende Geste auferlegt wird. Dennoch wird deutlich, daß sich Schuld und Versöhnung gleichermaßen nicht vor dem Horizont eines bestimmten Moraloder Verhaltenskodex bestimmen lassen. Schuld und Verantwortung sind hier offensichtlich nicht klar voneinander zu unterscheiden. Denn insofern der Tod nicht als natürlicher und unwiderruflicher Einschnitt erscheint, läßt sich die Verantwortung für ihn auf keine Schicksalsmacht abschieben, vielmehr bedrängt sie den Überlebenden als Schuld »vor jeder Tat und Untat«. 6 6 Indem allein der Scheik den Ruf des unerlösten Juden hört,

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Das Schlußbild, das die irreduzible Differenz der beiden Symbolsysteme noch einmal engführt, läßt sich somit nicht als Verwirklichung einer Versöhnungsutopie lesen. Weder auf der kollektiven Ebene der religiösen Systeme, noch in der individuellen Beziehung zwischen Scheik und Sultan zeichnet sich ein harmonisches Miteinander ab. Wenn Heck in ihrer Interpretation des Textes feststellt, hier vollziehe sich die Versöhnung von Scheik und Sultan »aufgrund eines freundschaftlichen Gefühls, nicht aufgrund einer Vermittlung zwischen beiden Religionen«, hält sie am Versöhnungsmotiv als konstitutivem Element der Erzählung fest. Damit gelingt es jedoch nicht, der Radikalität der ethischen Konzeption, die in >Der Scheik< auch die individuellen Instanzen aufs Spiel setzt, gerecht zu werden. V g l . Heck: Prophetie, S. 7 3 .

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V g l . Weber: Verfolgung und Trauma, S. 1 7 0 . H i e r ist von einer »unvordenklichen Schuld« die Rede.

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scheint er auf einen Anspruch zu antworten, der nur an ihn gerichtet ist und damit auf seine innige Verbundenheit mit dessen Schmerz verweist. Bei Freud ist die Wiederholung Symptom dafür, daß ein Verdrängtes der Erinnerung widersteht und als Unabgegoltenes den Prozeß der Analyse, der auf Aufklärung und Darstellung abzielt, immer wieder stört. 07 Wiederholt wird nicht ein Erlebnis, das lediglich in Vergessenheit geraten ist, sondern die Szene, die ein traumatisches Ereignis gleichsam einfaßt. Das Trauma selbst bleibt als ein Einbruch eines radikal Fremden, Plötzlichen oder Unfaßlichen auch fur die analytische Rekonstruktion undarstellbar, weil es nie Gegenstand des Bewußtseins war. Wenn Freud die Wiederholung einer solchen Szene, in der das Ich von etwas betroffen wird, das es in keinem Verhältnis zu sich selbst bestimmen kann, als »Agieren« beschreibt, betont er ausdrücklich die Verknüpfung von Körper und Erinnerung. Das Körpergedächtnis bewahrt aber keine Erfahrung, die elementarer wäre als ein bewußtes Erleben oder eine Sinneswahrnehmung, welche eine gewisse Distanz zum wahrgenommenen Anderen voraussetzt. Denn der >erinnernde< Körper ist auch bei Freud nicht als eindeutiges Zeichen zu lesen. Vielmehr ist er außer Kontrolle geraten, sein »Agieren« beschreibt eine Bewegung, die sich nicht stillstellen und auf eine selbstbewußte Ich-Instanz zurückfuhren läßt. 6 8 Sie deutet auf ein »unvordenkliches« Affiziertsein durch ein Anderes, das das Ich enteignet und aus den Formen und Verkörperungen des Seins heraustreibt. 69 Bei Lévinas steht der Begriff des Traumas im Mittelpunkt des Versuchs, das Verhältnis zum Anderen als ein nicht-distanzierbares Ergriffenwerden zu beschreiben. Trauma und Verantwortung sind eng aufeinander bezogen, denn beide 67

S i g m u n d Freud: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, in: Studienausgabe. Ergänzungs-

68

V g l . meinen Aufsatz zum Körpergedächtnis bei Freud ( » M i t derselben Geste«), S. 1 5 1 ,

69

V g l . Lévinas: Jenseits des Seins, S. 2 4 4 Í . : »Sie [die traumatisierende Anklage, D . B . ] reißt

band, S. 2 0 5 - 2 1 5 , (S. 209Í.); Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 2 2 8 f . 153· das Ich aus seinem H o c h m u t und seinem herrscherlichen Imperialismus, den es als Ich ausübt. Das Subjekt ist im Akkusativ, ohne daß es Z u f l u c h t fände im Sein, es ist ausgestoßen aus dem Sein [ . . . ] . N i c h t ruhend in einer Form, sondern unwohl in der eigenen Haut [.. .]. Traumatische Passivität, aber eines Traumas, das seine eigene Vorstellung verhindert, eines betäubenden Traumas, das den Bewußtseinsfaden, der es in seine G e g e n wart hätte aufnehmen sollen, abschneidet.« Lévinas kontrastiert hier ausdrücklich die »Friedhofsruhe« mit der andauernden B e w e g u n g der »Vertreibung des Ich aus sich selbst« durch den Anderen. M i t dem Begriff des »Unvordenklichen« ist ein weiterer Schlüsselbegriff der Lévinasschen Philosophie benannt, vgl. etwa Jenseits des Seins, S. 1 2 5 . Die Figur von einem nicht-erinnerbaren Ursprung wird auch durch die ebenfalls häufig verwendeten Begriffe des An-archischen oder Vor-ursprünglichen, das immer schon >zu spät< kommt und doch »>älter< ist als das Apriori«, ausgedrückt. V g l . ebda., S. 1 3 6 , 2 2 3 .

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umschreiben jene Geiselschaft, die das Ich mit dem Anderen als einem absolut Fremden und ihm selbst Heterogenen auf das engste verbindet. 70 Diese Verbindung, die die Einzigkeit der Subjekte jenseits ihrer Subordination unter ein Gesetz und seine verallgemeinernden (Moral-)Gesetze hervorhebt, manifestiert sich in der Geschichte >Der Scheik< gleichsam in der Begegnung traumatisierter Körper. Das Trauma ist nicht das Resultat irgendeines äußeren Ereignisses, sondern kommt vom Anderen, der ein unbequemer Nächster ist, weil er die Ruhe — bei der Tafel, im eigenen Haus, im Kreise der Familie etc. — stört. 71 Es deutet zugleich auf eine Subjektivität, die ihre Leiblichkeit nicht als festes Haus voraussetzt, sondern allererst in der Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit und Sensibilität zum Vorschein kommt. Die implizite Ethik, die sich hier artikuliert, denkt die Sorge um den Anderen somit als unablösbar von einer Traumatisierung, der das Ich als körperliches ausgesetzt ist. An der Schwelle der Sprache, wo es ihrer als Ausdrucksmittel beraubt ist und sie vom Anderen allererst (wieder) empfangen muß, ist das Ich für den Anspruch des Anderen offen. 7 2

2.3. Horchen auf die Spur: Anruf und Klage In der Beschreibung der Begegnung von Sultan und Scheik in der nach letzterem benannten Erzählung wurde bislang vor allem das Verstummen der Figuren und das Hervortreten einer spezifischen Körpersprache thematisiert. Das Lévinassche >Von-Antlitz-zu-Antlitz< läßt sich, wie gezeigt, nicht als ein gegenseitiges Wahrnehmen, ein visuelles Erkennen des Gesichts oder Körpers eines Gegenüber, fassen. Es deutet vielmehr auf ein Berührt- oder Ergriffenwerden durch den Anderen, das die schützenden Grenzen des Ich durchbricht und damit von diesem nicht reflektiert oder 70

71

72

Ebda., S. 50, 244f. Vgl. hierzu auch Ludwig Wenzler: Berührung durch Trennung. Die Zeitstruktur des religiösen Verhältnisses bei Emmanuel Lévinas, in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 100 (1993), S. 3 0 1 - 3 1 6 . Indem die Schuldfrage aufgeworfen und unbeantwortet bleibt, wird umgekehrt suggeriert, daß auch der Scheik die (Toten-)Ruhe des Sultans stört. Die Begegnung ist also tatsächlich nur im Modus einer wechselseitigen Traumatisierung zu denken. Vgl. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 55: »Die authentische Spur [...] stört die Ordnung der Welt.« Die Dopplung dieser Formulierung spielt noch einmal auf den weiter oben diskutierten Zusammenhang von Sprache und Ethik bei Lévinas an. Das Verstummen der Figuren, dem in der Geschichte jeweils das Hervortreten körpersprachlicher Elemente korreliert, wird nicht nur mit dem Aussetzen von Sprache, Kommunikation und Vermittlung, sondern ebenso mit ihrer ersten Einsetzung in Verbindung gebracht. Dies läßt sich als Illustration für das Lévinassche Diktum lesen, das Antlitz sei Rede.

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erinnert werden kann. Die Gesten der stummen Körper sowie der sich aus dem Grab aufrichtende entstellte Körper legen zwar von dieser Heimsuchung durch den Anderen Zeugnis ab, aber nicht indem sie im Sinne eines ursprünglicheren Zeichens darauf verweisen, sondern indem sie seine Ambivalenz und Undarstellbarkeit zur Schau stellen. Der monströse Körper und die empfangende und verwerfende Geste des Scheik markieren ein Verhältnis gegenüber dem Anderen, das sich auf beunruhigende Weise nicht eindeutig bestimmen läßt, sondern vielmehr eine fortdauernde Verstörung bedeutet, die das jeweilige Ich hindert, sich auf einen eigenen festen Ort zurückzuziehen. Was zunächst Gegenstand einer visuellen Wahrnehmung zu sein scheint — der aufgerichtete Körper oder die exzessive, den Krug fortschleudernde Handbewegung —, läßt sich somit insofern nicht auf das Register des bloßen Sehens beschränken, als es vom jeweiligen Gegenüber nicht auf Distanz gehalten werden kann. Damit stellt sich auch die Frage, welche Rolle das Akustische in der Geschichte spielt und ob es womöglich gegenüber dem Visuellen als elementares Erleben der Subjekte profiliert wird. Tatsächlich sind es ja zunächst hörbare Spuren des Anderen, die den Scheik aus der Ruhe seines Familienkreises aufstören und die zweite Begegnung als Begegnung nach dem Tode einleiten. Sowohl das Klopfen an der Wand des Palastes als auch der klagende Wind, der vom Friedhof weht, stehen offenbar mit dem toten jüdischen Freund in Zusammenhang. Doch auch diese akustischen Eindrücke lassen sich nicht umstandslos als Ausdruck oder Sprache eines bestimmten Subjekts entziffern. Der Anspruch, der in ihnen an den Scheik ergeht, scheint die Artikulationsfähigkeit einer Figur vielmehr radikal zu überschreiten. 73 Denn offenbar handelt es sich hier um Laute, die von der entstellten Figur und von dem namenlosen Schmerz des unbehausten Körpers ausgehen. Die in ihnen formulierte Klage, die zugleich Anklage ist, setzt also das sprechende Subjekt nicht voraus, sondern ist vielmehr gerade in einem Schwellenraum hörbar, in dem die Grenzen der Subjekte, ihre Geborgenheit im eigenen Haus oder Körper, aufs Spiel gesetzt sind. Es handelt sich um einen Schmerzton, der die Grenze sprachlichen Ausdrucks markiert, da er eine Verwundung bezeugt, die im Symbolischen nicht ausgedrückt oder geheilt werden kann. Er wird dort freigesetzt, wo die Unterwerfung des Körpers unter die Symbolfunktion, die Transformation

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Z u r Unterscheidung von Körperstimme und artikulierter Rede oder Gesangsstimme vgl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1 9 9 0 , S. 2 4 7 - 3 1 1 (»Der Körper der Musik«), insbes. S. 2 5 9 , 2 6 3 , 2 7 1 , 277·

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vom Leben zum Tod im Namen des Vaters, nicht reibungslos funktioniert und ein unabgegoltener Rest insistiert , 7 4 In >Jenseits des LustprinzipsGierusalemme Liberata< von Torquato Tasso in Erinnerung, in dem der Held Tankred, der unwissentlich die von ihm geliebte Clorinda getötet hat, von dieser Tat später noch einmal heimgesucht wird. Als er nämlich nach ihrem Begräbnis in einem Zauberwald, der das Heer der Kreuzfahrer in Schrecken versetzt, mit seinem Schwert einen Baum zerhaut, strömt aus der Wunde dieses Baumes Blut und die Stimme Clorindas klagt ihn an, daß er wiederum die Geliebte geschädigt habe. 75 Die sich wiederholende Tat, der Mord an der Geliebten, der dem Täter unbegreiflich bleibt, da er all seinem Begehren entgegengesetzt ist und ihn selbst im Innersten schockiert, wird auch hier mit der Klage eines verwundeten Körpers in Verbindung gebracht. Die Klage verweist nicht etwa auf die Identität der beim erstenmal in der Rüstung des feindlichen Ritters Getöteten, denn diese wird bereits nach dieser ersten Tat enthüllt. Sie deutet vielmehr auf die Unmöglichkeit, das Verhältnis zwischen Tankred und Clorinda, die zudem verschiedenen Religionen angehören, sowie ihre jeweilige Identität eindeutig zu bestimmen. Wenn Tankred offenbar immer wieder etwas tut, das er nicht wollen kann, wenn er wiederholt schuldig wird, ohne diese Schuld sühnen oder verdrängen zu können, so sind seine Begegnungen mit Clorinda von dem katastrophischen Meßlingen gezeichnet, sich selbst gegenüber dem Anderen zu bestimmen und sein Verhalten ihm gegenüber zu kontrollieren. Die Wunde, die hier >sprichtRabbi von Bacherach< liest sich wie die Geschichte einer Verdrängung, die das ursprüngliche Trauma jedoch nicht vollständig auf Distanz zu halten vermag. Symptom dieser Verdrängung ist das Verhalten Saras, die immer wieder von Visionen eines grausamen Pogroms heimgesucht wird, dem alle ihre Angehörigen zum Opfer fallen. Der Rabbi jedoch gebietet ihr, die Augen zu schließen, um nicht durch Wahrgenommenes an eine verdrängte, allzu vertraute Wahrheit erinnert zu werden. Als die beiden schließlich im jüdischen Ghetto Frankfurts, wo die bedrückende Situation der Juden kaum verhüllt an diejenige Bacherachs erinnert, die Synagoge besuchen, bricht sich die Erkenntnis über das Schicksal der zurückgelassenen Familie endgültig Bahn. Die von ihrem Mann gesprochene Danksagung fur die erfahrene Rettung geht in der Wahrnehmung Saras plötzlich in das Gemurmel eines Totengebetes über, »und die letzte Hoffnung schwand aus der Seele der schönen Sara, und ihre Seele ward zerrissen von der Gewißheit, daß ihre Lieben und Verwandte wirklich ermordet worden«. 1 2 9 Diese Einsicht ist deshalb so unerträglich, weil sie sich mit einer Schuld verknüpft, von der sich die Überlebenden nicht befreien können. 1 3 0 Während außer Frage steht, daß Abraham - so der Name des Rabbis — und Sara den Tod ihrer Glaubensgenossen nicht unmittelbar selbst verschulden, so wirft der Text doch einen weiter gefaßten Schuldbegriff auf, der eine Verantwortung für die

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Sehr effektvoll entledigt sich der Rabbi auf der Flucht noch des silbernen rituellen Waschbeckens, das seine Frau gerade in der Hand trug, als er sie mit sich fortzog. A l s er es bemerkt, reißt er es ihr aus der Hand, so daß es »schollernd« hinab in den Rhein stürzt. (Ebda., S. 6 2 1 . )

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Ebda., S. 6 4 3 Í Sara fallt zuletzt in Ohnmacht - ein letzter Ausdruck fur ihre symptomatische Körpersprache, durch die sich der nicht-verbalisierbare Schrecken des Verdrängten indirekt artikuliert.

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Shedletzky interpretiert die problematische Flucht des Rabbis, der seine Gemeinde im Stich läßt (daß er sie hätte warnen können, wie Shedletzky meint, ist angesichts des Handlungsablaufs eher unwahrscheinlich, es scheint vielmehr um ein Verlassen in einer unvermeidlichen N o t zu gehen), als Auseinandersetzung Heines mit seiner eigenen K o n version. Diese an sich interessante Deutung rechtfertigt jedoch nicht die Schlußfolgerung, diese Konversion werde als — nachträglich realisierter — Fehlschritt, als >Verrat und Desertion« wahrgenommen und dargestellt, zu dem es eine plausible Alternative gegeben hätte.

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Getöteten jenseits eigener Taten oder Gesetzesübertretungen impliziert. 131 Der Text sagt an keiner Stelle, daß das Pogrom hätte vermieden werden können. Aber gerade dadurch nimmt das Geschehen, wie Lévinas formuliert, die Lebenden als Geisel. Denn sie können es durch keine entlastende Erklärung oder Selbst-Rechtfertigung als eines rationalisieren oder betrauern, das anderen schicksalhaft widerfahren ist. Die Vorstellung von einer »furchtbaren Verschuldung, deren man sich nie entledigen wird«, weil man nicht weiß, »wie man sich daran erinnern soll«,' 3 2 ist dabei einer jüdischen Tradition zutiefst verhaftet. Anklänge an den >Wunderrabbiner< werden auch hier erkennbar, denn der schwierige Bezug zu einer Tradition, deren Ursprung sich als gespaltener, als Abgrund, aufdrängt, ohne darstellbar zu sein, scheint das Konfliktpotential beider Geschichten wesentlich zu prägen. Bei aller Ähnlichkeit sind jedoch auch die Unterschiede zu benennen, die dem Lasker-Schülerschen > Wunderrabbiner < eine andere Wendung geben. Letztere greift nämlich vor allem das im >Rabbi von Bacherach< angedeutete Wiederholungsmuster auf. Denn während dort der Rabbi und seine Frau der Gewalt des Pogroms in Bacherach entgehen, um sie überall, wohin sie sich auch wenden, wieder anzutreffen, 133 heißt es bereits zu Beginn des >WunderrabbinersAleph< der jüdischen Tradition, das er ganz ähnlich wie Lévinas als ein erstes, nicht-distanzierbares zur Verantwortung Gezogenwerden durch einen (göttlichen) Anruf, ein »Erschrecken im Denken«, beschreibt. (Ebda., S. 170.) Das Phänomen, daß viele Holocaust-Überlebende sich immer wieder die Frage vorlegten, warum ausgerechnet sie verschont geblieben seien, und ihr Überleben häufig als nicht abzutragende Schuld empfanden, paßt insofern auch in den Zusammenhang der Diskussion des Schuldkomplexes bei Heine und Lasker-Schüler. Zum Motiv der Schuld durch eigenes Überleben vgl. auch Lévinas: Jenseits des Seins, S. 204. Die Begegnung mit der verdrängten Gewalt ereignet sich, wie oben beschrieben, jeweils als ein Zusammenspiel äußerer Eindrücke und Ereignisse mit visionsartigen Erinnerungsfragmenten. Der Text legt sogar selbst den Begriff des Rahmens nahe, wenn es zu Beginn heißt,

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Befund klingt zynisch, denn er sagt nichts weniger, als daß der oberste Priester der Juden seine Position nur behaupten kann, indem er sein Volk von Zeit zu Zeit einer grausamen und verheerenden Gewalt aussetzt. Wird dies, so fragt sich, in der Geschichte als einzige, fatale Möglichkeit jüdischer Existenz gewertet, oder wird dem Wunderrabbiner selbst eine Schuld zugewiesen, die prinzipiell vermeidbar wäre? Repräsentiert Eleasar eine bestimmte Position innerhalb des Judentums, mit der sich der Text kritisch auseinandersetzt? Dies zumindest legt die Lektüre des Textes von Itta Shedletzky nahe, die die beunruhigende Ambivalenz der Eleasar-Figur damit erklärt, daß durch sie ein konflikthaftes Verhältnis Lasker-Schülers zum »offiziellen Judentum« und schließlich auch zu ihrer eigenen jüdischen Identität zum Ausdruck gebracht werde. 1 3 5 Als beispielhafter Vertreter des ersteren wird Martin Buber angeführt. Verfolgt man diesen von Shedletzky nicht näher ausgeführten Hinweis, so werden tatsächlich eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen von Buber vertretenen Positionen und denen Eleasars in der Geschichte erkennbar. Denn während die von Unterdrückung und Verfolgung heimgesuchten spanischen Juden ihn bedrängen, ihnen endlich Auskunft über das verheißene Land zu geben und das Versprechen einer eigenen Heimat einzulösen, vertröstet er sie immer wieder aufs neue: Höher stieg in allen die Sehnsucht nach dem verlorenen Lande, das ihnen etwa auch nur verpachtet gewesen war, und jeder von ihnen benetzte feierlich das Beet seiner Erinnerung; wo sie landen würden, konnte ihnen auch nicht ihr Wunderrabbiner verraten; hatten doch einige jüngere Juden Wurzel gefaßt in Spaniens Erde berückendem Rosenrausch, auch ihre Schwestern mit den Jerusalemsaugen schmerzlich erweckt den Christ. Aber der besorgten Gemeinde antwortete Eleasar: »Wer das gelobte Land nicht im Herzen trägt, der wird es nie erreichen.« Und dieser Gott erschlösse allen Menschen sich als ihre uredelste Eigenschaft. ( W 4 9 5 )

Diese Auskunft läßt sich durchaus in Zusammenhang bringen mit Äußerungen Bubers aus der Zeit vor der Entstehung des >WunderrabbinersDer Wunderrabbiner< der Beschreibung dessen, was der oberste Priester so intensiv studiert, seiner Überzeugung und Auffassung vom Jüdischen, eine ganze Seite. 140 In ihrer Ausführlichkeit und spezifischen Bildlichkeit ruft diese Schilderung viele Assoziationen an andere Texte Lasker-Schülers wach und präsentiert sich so keinesfalls als bloßes Zitat einer fremden Position. Die Erwählung der Juden wird dort in einem sehr poetischen Bild beschrieben: Nachdem Gott die Menschen geschaffen hat, lädt er sie alle zum gemeinsamen Mahl. Dabei setzt er die Juden an die Seite seines Herzens, da sie »ihm verantwortlicher und zärtlicher geraten waren.« (W 502) Daraufhin pflückt er einen Stern von seinem göttlichen Kleid, hebt »das Kind unter den Völkern zu sich empor und setzt das Licht in seine braune Stirn«. Während er den anderen Völkern eine Heimat auf der Erde bereitet, sind die Juden fortan ausgezeichnet, ein Volk von Propheten zu sein und Gott in jedem Volk zu dienen. (W 502) Das aber bedeutet, daß sie niemals einen heimatlichen Boden fur sich schaffen können, denn dies würde ihrer eigensten Bestimmung als Volk ohne Land, das sich gerade durch seine Zerstreuung als Volk Gottes bewährt, entgegenstehen. Die Juden werden vielmehr darin zu Propheten Gottes, daß sie die Aufteilung der Erde in Nationen und Heimate, deren klare Grenzen und homogene Struktur jeweils Modell für das Aufgehobensein der Menschen in Gott ist, verhindern. Solange sie in allen Ländern zwischen den anderen Religionen und Nationalitäten leben, bricht sich jeder Versuch einer derartigen Totalisierung der Existenz mit Bezug auf Gott an ihrer widerständigen, nicht-assimilierbaren Anwesenheit. Damit aber sind sie gerade nicht Propheten einer göttlichen Einheit, sondern einer 140

Dies ist relativ viel, da der Text insgesamt nur elf Seiten umfaßt und darin eine äußerst verdichtete Handlung mit vielen biblischen und historischen Bezügen entfaltet wird.

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ursprünglichen Trennung oder Abspaltung in Gott. Ebendies macht die Eleasar-Episode deutlich, denn es wird ausdrücklich festgestellt, daß das Bild eines Gottes, der den Juden einen Stern seines Kleides auf die Stirn setzt, tatsächlich eine »Entlichtung am göttlichen Leibe« (W 502) beschreibe. Die kabbalistische Vorstellung von den herabgefallenen Lichtfunken, die in den Texten Lasker-Schülers immer wieder aufgegriffen wird, findet hier eine originelle und besonders sprechende Ausgestaltung. Sofern es nicht nur auf menschliche Schuld oder ein menschliches Versagen vor der Größe und Erhabenheit Gottes hindeutet, sondern eine Schwäche und Unvollkommenheit in Gott zur Schau stellt, steht das Motiv der »Entlichtung« zudem in engem Zusammenhang mit dem Turmmotiv. Tatsächlich wird es, wie das oben angeführte Zitat, mit dem die EleasarEpisode abschließt, sogar ausdrücklich mit ihm verknüpft. Denn die merkwürdige Formulierung, Eleasar verschweige den Menschen, daß Palästina »nur die Sternwarte« der Heimat sei, erhellt sich, wenn man Sternwarte und Turm als zwei verwandte Bauwerke liest. Wird der Turm bei LaskerSchüler immer wieder als Aussichtsturm konzipiert, der den Uberblick über das ganze in Aussicht stellt und doch ständig von seinem Zusammenbruch bedroht ist, so steht auch die Sternwarte für den Versuch, dem Himmel näherzukommen und ein Bild von ihm zu entwerfen, das jedoch diesen niemals adäquat repräsentieren kann. Beide Motive bringen jedoch nicht nur zum Ausdruck, daß menschliche Bautechnik und Übersetzungskunst angesichts der unüberwindlichen Distanz zwischen Erde und Himmel versagen, sondern daß ein Konzept des Ganzen gar nicht unabhängig von dieser beschränkten Perspektive gewonnen werden kann. So bleibt die Distanz der Sternwarte zum Himmel nicht nur bestehen, ganz gleich wie ausgefeilt und technisch einwandfrei die Fernrohre und optischen Geräte auch sind. Sie ist sogar notwendige Voraussetzung fur das Projekt des Astronomen. Nur indem er selbst nicht Teil des Himmels ist, sondern seine irdische Perspektive wahrt, kann er den Stand oder Wandel der Gestirne voraussagen. 141 141

Hier sei am Rande darauf hingewiesen, daß auch Buber eine Notwendigkeit, sehen zu lernen, propagierte, die sich durchaus mit dem Sternwarten-Motiv in Einklang bringen läßt. So heißt es einmal: »Der Jude hatte Jahrhunderte hindurch [...] nicht Raum, um sich mit der Seele über die Mauern jenes engen, finstern Ghettos zu den grauen Bergen, den dunkelgrünen und rotbraunen Wäldern, den blauen Horizonten und goldenen Sternen zu schwingen; diese Mauern waren sein Raum und sie versperrten vor ihm nicht bloß die Welt, sondern auch den Himmel. Und überdies war es eine Sünde, zu schauen. Wir aber wissen, daß es Sünde ist, nicht zu schauen [...] und daß groß das Erkennen ist, welches sieht.« Weiter heißt es, daß dieses Schauen vor allem eine Erkundung der eigenen Seele bedeuten müsse, daß es aber »nur der Grundbau fur das Schaffen« sein könne, das £ur ihn das zionistischen Erneuerungsprojekt bedeuten müsse. Martin Buber: Was ist zu

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Das Bild von der »Entlichtung« Gottes, das das Sternenzelt als seinen Mantel beschreibt, dem ein Stern fehle, legt darüber hinaus nahe, daß diese Distanz sich nicht in der zwischen Gott und Mensch, Erde und Himmel, erschöpft. Vielmehr impliziert es offenbar eine Distanz im Innern der beiden Seiten dieser Opposition sowie in ihrer gedachten ursprünglichen oder zukünftigen Einheit. Während gleichsam ein Teil des Himmels auf der Erde zu suchen ist, befindet sich im Himmel die Heimat eines Volkes der Menschen. Die Juden sind in doppelter Hinsicht privilegierte Vermittler, sie sind Priester und Propheten einer göttlichen Einheit, die unabhängig vom individuellen Glauben alle Menschen umfaßt. In dem Moment, so wird suggeriert, in dem ihnen ihre Heimat zufallt, vollendet sich auch fur alle anderen Völker das Beheimatetsein als Sein bei Gott. Doch gerade dieser vollendeten Verwirklichung von Heimatlichkeit und Identität stehen die Juden zugleich im Weg. Sowohl als verstreutes wie auch als in Palästina versammeltes Volk sind sie durch einen »erhabenen Strahl« ausgezeichnet, der zwar Orientierung stiftet, aber nicht auf Gott, sondern auf die »Entlichtung« Gottes hinweist. So ist denn auch das Volk der Juden selbst als erwähltes sowie das ihnen verheißene Land Palästina nicht einfach im Sinne einer Höherstellung oder Privilegierung den anderen Völkern und Ländern überlegen. Diese Erwählungsvorstellung läßt sich am ehesten als besondere Form der Verantwortung in dem von Lévinas vorgeschlagenen Sinne beschreiben. Von der Erwählung ist bei ihm jeweils im Zusammenhang mit der Konzeption des Antlitzes die Rede. Anstatt als Auszeichnung einer Person oder Gruppe durch eine Vaterautorität, wird sie als Verpflichtung beschrieben, die einer besonderen Begegnung entspringt. 1 4 2 Als Konfrontation mit dem Antlitz des absolut Anderen setzt sie die souveränen Positionen sowohl des Gebenden wie des Empfangenden aufs Spiel. Denn der Nacktheit des Antlitzes, mit der die Geste eines radikalen Sich-Aussetzens beschrieben wird, korrespondiert eine Empfänglichkeit auf der Seite desjenigen, dem es begegnet, welcher dieser sich nicht entziehen kann. 1 4 3 In >Der tun? Einige Bemerkungen zu den »Antworten der Jugend«, in ders.: Die jüdische Bewegung, S. 1 2 2 - 1 3 7 , ( 1 3 6 0 . 1 4 2 Vgl. Lévinas: Menschwerdung Gottes?, S. 8 i f . : »Ich sein heißt, immer eine Verantwortung zu tragen. [ . . . ] D i e Bürde auf sich zu nehmen, die das Leiden und die Verfehlung des Anderen mir aufladen, verweist mich auf mein Selbst. [ . . . ] Das Ich ist derjenige, der vor jeder Entscheidung schon erwählt ist, die ganze Verantwortung der Welt zu tragen. Der Messianismus ist eben dieser Gipfel des Seins - die Umkehrung des Seins, das >in seinem Sein beharrtvorenthaltenDer Derwischs in der abgetrennte Gliedmaßen (hier handelt es sich sogar um abgetrennte »Gesichte«) auf einen Zusammenbruch des Übergangs zwischen Diesseits und Jenseits und damit des basalen Funktionsrahmens des Symbolischen hinweisen. Es handelt sich jeweils um eine Zerstörung, die in keinem religiösen Sinngefüge mehr aufgehoben werden kann. Dieser Bruch, der das oberste Symbol der religiösen Ordnung, in diesem Fall den obersten Rabbiner selbst betrifft, manifestiert sich im Text in dem Entsetzen, das Eleasar ergreift, als er sich dem Geschehen in der Stadt zuwendet: »die Augen Eleasars, auf Barcelona gerichtet — vom Blitz des Schrecks — spalteten sich . . . weinten.« 1 4 5 (W 503)

145

Der Bezug auf die Lektüreweise der J u d e n , bei der die Augen immer »zurück in den Spalt« wandern, drängt sich an dieser Stelle auf.

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Hatte der Wunderrabbiner zuvor sein Angesicht immer von der Stadt abgewendet und so die Gewalt selbst nie mit eigenen Augen gesehen, so verursacht der Schock des Gesehenen nun eine Spaltung, die an die monströsen Körper mit ihren aus den Höhlen getretenen Augen früherer Erzählungen erinnern. 1 4 0 In seinem Entsetzen, seiner Entstellung, verliert der Rabbi seine Souveränität als Einheit und Vermittlung stiftendes Symbol. Er beginnt mit Gott zu hadern, da ihm unverständlich ist, wieso dieser die Gewalt gegenüber seinem Volk zuläßt und darüber hinaus die Christen bereuen läßt und sie nicht weiter straft: »Hinschlachten läßt du deinen Lieblingssohn immer wieder immer [sie!], daß deines heiligen Namens Posaune die Völker der Christen erwecke, und belohnst ihre scheußlichen Taten mit Erleuchtung.« (W 503) Der Bezug auf die Kreuzigungsszene ruft noch einmal den Beginn der Erzählung in Erinnerung, wo die sich selbst verausgabenden Juden mit Christus in Verbindung gebracht werden. Was Eleasar Gott hier vorwirft, ist letztlich eine Parteilichkeit zugunsten der christlichen Gottesauffassung. Diese manifestiert sich, so scheint es ihm, in der Opferung der Juden, die dem christlichen Erlösungssymbol unterworfen werden. Der Text endet mit einem wahrhaft alttestamentarischen Katastrophenszenario, das Elemente aus der Simson-Geschichte mit dem Bericht von Jakobs Kampf mit dem Engel vermischt: U n d Eleasar wartete im Vorhof seines Palastes auf Gott, den ersehnten Gast. Endlich bot der Unsichtbare dar dem Ungeduldigen seine Vaterhand. Mitten im Innern des feierlichen Gemaches aber sah des Priesters bebender knieender Knecht, da sein großer heiliger Maestros [sic!] in den erkühlten Schein der Luft griff, ihn packte wie der mutige Torero in der Arena das Horn des Stiers — und dann -

auf den Steinarabesken der blutende Wunderrabbiner lag. Der

kämpfte weiter die ganze Nacht in Rätseln mit Gott; dunkelte und wand sich von ihm. A n die Säulen seines Hauses rüttelte der Priester, bis sie brachen wie Arme. Ihr Dach rollte in schweren Blöcken herab und zertrümmerte die Häuser der Straße. Ein ungeheurer Steinbruch aber, Er, der große Wunderrabbiner, ein Volk stürzte sich vom heiligen Hügel, den das goldene zerbröckelte Mosaik der Kuppel verklärte, auf die Christen Barcelonas, die den letzten gequälten Juden reuevoll zur Ruhe legten, und erlosch ihre Erleuchtung, zermalmte ihre Körper. ( W 5 0 3 Í . ) 1 4 7 146

Zugleich wird die im >Rabbi von Bacherach< dominante Augenmetaphorik aufgegriffen. Als Abraham während des Seder-Mahls den Leichnam unter dem Tisch erblickt, blickt wiederum Sara in sein Gesicht, in dem sich ein namenloses Entsetzen spiegelt. Sie bemerkt, »wie plötzlich sein Antlitz in grausiger Verzerrung erstarrte, das Blut aus seinen Wangen und Lippen verschwand, und seine Augen wie Eiszapfen hervorglotzten«. Heine: Der Rabbi von Bacherach, S. 619. •47 Vgl. Ri 16,29 — 30: »Und er umfaßt die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner rechten und die andere mit seiner linken Hand, und stemmt sich gegen sie und sprach: Ich will sterben mit den Philistern! Und er neigte sich mit aller

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Die zermalmten Körper scheinen die Bilder der Zerstückelung und Entstellung von Körpern im Zusammenhang mit dem Pogrom noch zu übertreffen. In dieser wohl extremsten Vernichtungsvision, die sich bei LaskerSchüler findet, bleibt zuletzt kein Körper, kein menschliches Bauwerk heil. Die Engführung von Körper und Haus, die sich hier in der Beschreibung des Tempels, dessen Säulen wie Arme brechen, niederschlägt, gipfelt in der totalen Negation und Auslöschung jeder Materialität. Dieser Szene einen Sinn beilegen zu wollen, der den Untergang des hochmütig-ignoranten Priesters und seines Volkes als konsequente Strafe Gottes interpretierte, würde aber wohl dem komplexen Bau der Geschichte selbst nicht gerecht. Denn wenn auch der dem angeführten Zitat nachgestellte Epilog in Versform, der von der Ankunft Eleasars im Himmel berichtet, als solcher keinen rechten Aufschluß über Sinn und Funktion des göttlichen Vernichtungswerks gibt, so scheint ihm doch ein anderer Strang der Erzählung das letzte Wort streitig zu machen.

3.3.3. Unfall und Begegnung: zur Heterogenität des Zwischenraums Arion Elevantos, der Erbauer Barcelonas, seiner Aussichtstürme und des Palastes Eleasars, wird zwar selbst Opfer des Pogroms, er hinterläßt jedoch eine Tochter, deren Schicksal in dem bislang nur am Rande erwähnten zweiten Erzählstrang beschrieben wird. Vater und Tochter ähneln sich in vieler Hinsicht, was dadurch bekräftigt wird, daß er sie wie einen Sohn behandelt und sie als »Bauerben« erzieht. Beide besichtigen zusammen die Neubauten, und so steigt die Tochter schon früh in große Höhen hinauf, so »daß sie oft glaubte, bei Gott zu Gast gewesen zu sein.« (W 496) Das Motiv des babylonischen Turms wird hier also ganz explizit auch mit der Tochter Arions verknüpft, die zudem als »Dichterin im Judenvolke Barcelonas« (W 496) eingeführt wird. Die Verbindung von Schreiben und Bauen, Poesie und Architektur, die sich bereits in der Ausgestaltung der Vaterfigur abzeichnet, wird hier sehr deutlich hergestellt. Und doch präsentiert sich die Schwellenposition, die von Arion, wie beschrieben, figuriert wird, bei der Dichterin noch radikaler. Während er nämlich durch seine Bauten immer noch die Illusion einer Geschlossenheit aufrechterhält und den Zorn der Menschen auf seine eigene Person zieht, sobald irgendeine Unregelmäßigkeit auftritt, ist Amram als Figur gar Kraft. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, so daß es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.« Vgl. auch Gen 32, 2 5 - 3 3 .

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nicht mehr greifbar. Denn sie, die trotz ihres Dichterberufes als spielendes Kind beschrieben wird, entzieht sich sowohl ihrer Familie und den Juden wie auch der Gewalt der Spanier. In ihr ist die Schwelle nicht mehr personifiziert, vielmehr ist sie ihr selbst rückhaltlos ausgesetzt. Das wird in einer Szene deutlich, in der sie in die Kuppel hinaufsteigt, die den vom Vater errichteten prunkvollen Judenpalast überwölbt. Nachdem sie in deren »Höhle« geschaut hat, kehrt sie mit diesem Wissen um die Konstruktion des erhabenen Bauwerks nicht wieder an den Ausgangspunkt zurück, sondern es ereignet sich ein »Unfall«: 148 B e i m H e r a b s t e i g e n der Leiter, die v o n der noch u n b e f e s t i g t e n K r o n e führte, s t ü r z t e die v o r e i l i g e k l e i n e A m r a m v o m h e i l i g e n B a u a u f s a n d i g e H ü g e l , w o r a u f P a b l o , des Bürgermeisters S ö h n c h e n , spielte. U n d der K n a b e dachte, d i e b l e i c h e A m r a m sei ein E n g e l , der v o m H i m m e l r e i c h aus einer W o l k e g e p u r z e l t sei, u n d staunte sie an. ( W 496f.)

Auch in dieser Passage wird man an eine Reihe von Motiven aus früheren Texten erinnert. So scheint Amram mit Tino, die im >Peter Hille-Buch< von einem fremden Stern herab auf die von Hille repräsentierte Erde fällt, durchaus etwas gemein zu haben. Wenn Pablo die jüdische Architektentochter für einen Engel hält, wird zudem die Geschichte >Tschandragupta< wiederaufgerufen, in der der Sohn des Häuptlings, in ein Federkleid gehüllt, ins Land der Juden fliegt und bei seiner Ankunft dort ebenfalls fur einen Engel gehalten wird. Im Gegensatz zu dieser früheren Erzählung wird jedoch Amrams Status als Engel, der aus einer unergründbaren Ferne kommt, im >Wunderrabbiner< nicht in Frage gestellt oder als irrtümliche Interpretation aufgelöst. Pablo verliebt sich in die Engelsfigur, wobei die Liebe zwischen diesen spielenden Kindern als eine geschildert wird, die die Distanz und Fremdheit wahrt, ohne sie bereits in eine geschlechtliche Differenz zu transformieren. Pablo staunt das — zudem als Junge gekleidete — Mädchen an, er berührt es nicht. Als die beiden dann das plötzlich mitten in der Stadt aufgetauchte Schiff besteigen und unbekümmert »am offenen Steuer in der Sonne spielen« (W 500), wird dieses Zusammenspiel von Nähe und Distanz noch einmal anschaulich. Denn während die gesamte Stadt sich zum Palast des Wunderrabbiners begibt, um ihn als höchste Autorität wegen des Schiffes zu befragen und zur Verantwortung zu ziehen, bleiben die beiden Kinder, »verklärt von übergroßer Liebe[, . . . ] unsichtbar hinter dem Fittich des Segels« (W 500) des riesigen Schiffes. Hier ist das Motiv des Federkleids noch einmal aufgegriffen, und wie148

Von einem »kleinen Unfall« ist an späterer Stelle in bezug auf den Sturz Amrams ausdrücklich die Rede, vgl. W 500.

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derum signalisiert es eine Verborgenheit des Geschlechts und des Sexuellen, und zwar nicht bloß im Sinne einer Verhüllung von etwas, sondern als Verhüllung einer Unentscheidbarkeit. Der Un-Fall Amrams, der die Kinder zusammenbringt und ihr Verhältnis prägt, findet im Schiffsmotiv eine konsequente Fortführung. Denn in beiden artikuliert sich ein Übergang, der nicht als geregelte Relation zwischen zwei Seiten beschrieben werden kann, sondern als radikal diskontinuierlicher alle festen Standpunkte und Perspektiven (die jüdische respektive die spanische) verunsichert. Der Bau, aus dem Amram herausstürzt, ist auch insofern als babylonischer zu entziffern, als die Instabilität und Schwäche seiner »Krone« den Umschlagspunkt markiert. Gerade die Nicht-Vollendung des monumentalen Bauwerks ist die Bedingung dafür, daß Amram die andere Seite erreicht. Ihre Ankunft dort ist somit völlig unvermittelt. Die Kuppel überwölbt nicht etwa beide Kinder, Jüdin und Katholik, sondern erst ihre Unvollkommenheit ermöglicht ihre Begegnung. Die Situation zeichnet sich also dadurch aus, daß es gerade keine Instanz gibt, die die beiden miteinander »verkuppelt«. Dies legt die bösartige Interpretation der Spanier später nahe, wenn sie Arion Elevantos unterstellen, für das Verschwinden der Kinder verantwortlich zu sein: »>Schlagt ihn tot, den alten Kuppler Wunderrabbiner < dagegen ist deren Spitze durch die lockere, keinen Halt gewährende Krone bezeichnet. Daß es sich im einen Fall um eine Leiter bis in den Himmel, im anderen um eine handelt, die nur bis in die Kuppel des zentralen Gotteshauses reicht, macht dabei keinen wesentli-

•49 Vgl. Gen 2 8 , 1 2 — 22. Der Kommentar der Jerusalemer Bibel merkt hierzu an, daß die Himmelsleiter eine mesotamische Vorstellung sei, deren Symbol die Stufentürme waren. Ebendiese waren auch das Modell des babylonischen Turms.

430

chen Unterschied. Denn während in der Bibel Jakob in Erinnerung an die Gotteserscheinung die Stätte »Bet-El« nennt und dort ein Gotteshaus baut, so wird der Eleasar-Palast in der Erzählung Lasker-Schülers auch als Wohnung Gottes lesbar. Der Tempel Gottes, der dem ersten Jerusalemer Tempel so ähnelt, ist weder allein ein symbolischer Ort, an dem an Gott erinnert und seiner gedacht wird, noch ist er ein Haus zwischen anderen Häusern, in dem Gott in seiner Leiblichkeit tatsächlich wohnt. Und doch ist er als privilegierter Ort der Vermittlung beides zugleich. In seiner Bezugnahme auf gerade diejenigen alttestamentarischen Geschichten, in denen der monotheistische Gott, der eigentlich unsichtbar ist und jede Darstellung verbietet, dem Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnet, erkundet >Der Wunderrabbiner von Barcelona< die Problematik von Präsenz und Repräsentation des Göttlichen. Die prominenten Motive Turm und Leiter deuten auf eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, die selbst nicht in Gott aufgehoben ist, sondern seine Verkörperung — im Sichtbarwerden oder Herabsteigen — als Mangel an Souveränität kennzeichnen. 150 Der Übergang ist nicht einseitig als Herausforderung an die Menschen zu interpretieren, sich, wie Eleasar die Menschen glauben macht, durch Festigkeit im Glauben und durch gottgefälliges Betragen dem messianischen Endpunkt, an dem die Spaltung von Erde und Himmel überwunden sein wird, immer weiter anzunähern. Er wird vielmehr als irreduzible Spaltung in Gott lesbar, die sich in kein zeitliches oder räumliches Orientierungsschema eintragen läßt. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld von Zionismus und Messianismus erweist sich der Text damit als Dokument des letzteren. Er erschöpft sich nicht im Glauben an ein endzeitliches Ereignis oder »an eine einzelne Menschengestalt als Mitte dieses Ereigniss e s « , 1 ' 1 sondern artikuliert sich, durchaus im Sinne Bubers, in einem Scheitern des Gottes-Knechts, der sich der Messianität aussetzt, ohne sie begreifen und in Worte fassen zu können. Das Messianische übersteigt das Wissen und Vermögen des Priesters oder des Propheten, in dessen Selbsthingabe es gleichwohl zum Vorschein kommen kann. »Messianische Selbstmitteilung ist Zersprengung der Messianität«, formuliert Buber, 1 5 2 150

Letztlich ist die Notwendigkeit, daß G o t t sich zeigt, um die Menschen von seiner Existenz zu überzeugen und den Glauben an eine (privilegierte) Zeugenschaft zu binden, immer auch als Zeugnis seiner Abhängigkeit von diesem Glauben und von menschlichem Bemühen zu verstehen, ihn auf Erden zu repräsentieren, ihm ein Haus zu bauen.

151

Martin Buber: Die chassidischen Bücher. Geleitwort, Berlin o.J., S.

Hier zitiert nach:

A c h i m von Borries: Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1 8 7 0 — 1 9 4 5 , Frankfurt/M. 1 9 6 2 , S. I 5 9 Í . 152

Ebda., S. 1 6 0 .

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wobei man letztere mit dem Selbstverständnis und der Rolle Eleasars in Zusammenhang bringen könnte, die ihm in der Lasker-Schülerschen Geschichte zugeschrieben werden. Auch eine weitere Differenzierung Bubers, in der er seine Vorstellung der messianischen Idee zu fassen versucht, läßt sich zu ihrer Analyse durchaus fruchtbar machen. Wenn nämlich, wie Buber betont, »das messianische Mysterium« nicht auf einer »Geheimhaltung« aufruht, sondern vielmehr mit einer »in die innerste Existenz reichende[n] Verborgenheit« in Verbindung steht, so scheint dies auch die Weigerung Eleasars, über die Heimat oder die Wahrheit über das rätselhafte Schiff konkrete Aussagen zu machen, zu kommentieren. Wie oben bereits angedeutet, wäre es ihm dann nicht als Schuld anzulasten, daß er ein bestimmtes Wissen gegenüber den Menschen zurückhält, vielmehr erschiene er als unauflöslich tragische Figur, da er selbst in einem engen Bezug zu einer keineswegs beruhigenden göttlichen Wahrheit steht, die jedoch gerade nicht mitteilbar und konkretisierbar ist. Auch das Motiv der Himmelsleiter verweist auf die Nähe des »Wunderrabbiners< zu Buberschen Argumentationen. So fordert dieser einmal dazu auf, das »Urerlebnis« des Juden aufzusuchen, aus dem allein »die Tendenz der Verwirklichung« immer neu erwachsen könne. Dieses Urerlebnis versteht er als »elementares Gefühl jener inneren Entzweiung, die allen Menschen in irgendeinem Maße, den Juden aber mit einer eigentümlichen Energie« innewohne. 1 5 3 Und so appelliert er an sein jüdisches Publikum, sich dieser »paradoxe[n] Einsicht« zu stellen und den »Stachel« ihres »unmöglich scheinenden Ansturm[s]« sowie den »schwankendefn] Boden« nicht zu furchten, »auf den allein die Leiter, die auf jedem festen wankt, die Himmelsleiter sich stützen kann«. 1 5 4

3.3.4. Katastrophe und Rettung: Refigurationen der Moses-Gestalt Weder Bubers Ausführungen noch der Lasker-Schülersche > Wunderrabbiners der ihnen in mancher Hinsicht sehr nahe steht, nehmen eine eindeutige inhaltliche und formale Bestimmung des Jüdischen vor. Darüber hinaus scheinen sie aber auch nicht als Dokumente eines Leidens an der jüdischen Identität, einem Hin- und Hergeworfensein zwischen Bekennt-

153 1,4

Buber: Der Heilige Weg, S. 104. Ebda., S. τ04f. Vgl. auch ebda., S. 108, wo ausdrücklich von der Aufgabe des Baus einer solchen Leiter die Rede ist.

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nis und Ablehnung, angemessen beschrieben. 155 Vielmehr nehmen beide in ihrer Auseinandersetzung mit dem Judentum, seiner Tradition und seiner Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine unauflösbare Spannung in den Blick. Eindeutige Standpunkte, gar Verhaltensvorschriften, sucht man bei ihnen vergeblich. In dem Essay, dem die oben angeführten Zitate entstammen und der Lasker-Schüler bei der Niederschrift des >Wunderrabbiners< möglicherweise präsent war, da er kurz zuvor, 1 9 1 9 , erschien, stellt Buber immer wieder Gegensätze einander gegenüber. Die Erneuerung des Judentums könne angesichts der aktuellen Situation weder allein aus dem »Geist als lebensferne Intellektualität«, noch allein aus dem Volk und seinen gegenwartsbezogenen Bedürfnissen gelingen. Gott sei dem Judentum weder »ein von reiner Vernunft Gedachtes, noch ein von einer praktischen Postuliertes«, sondern »das Geheimnis der Unmittelbarkeit, dem der fromme Mensch standhält«. 1 5 0 Und weiter führt er aus: W e r sich v o n der E r d e a b k e h r t , erfaßt G o t t n u r als I d e e , n i c h t als W i r k l i c h k e i t , er w i r d n u r seiner E i n h e i t , n i c h t a u c h seiner A l l h e i t h a b h a f t , er h a t i h n

im

E r l e b n i s , er hat i h n n i c h t i m L e b e n . A b e r a u c h w e r sich d e r E r d e z u k e h r t u n d G o t t in d e n D i n g e n s c h a u e n w i l l , l e b t n i c h t w a h r h a f t in s e i n e m Gott

ist in d e n D i n g e n

Angesicht.

n u r k e i m h a f t z u s c h a u e n ; a b e r er ist z w i s c h e n

den

D i n g e n zu v e r w i r k l i c h e n . 1 5 7

Die beiden Haltungen gegenüber Gott, die hier miteinander kontrastiert werden, lassen sich auch im >Wunderrabbiner< nachvollziehen. Während Eleasar sich immer wieder von der Gemeinde zu »frommen Betrachtungen« abwendet, wird Amram mit dem Versuch in Verbindung gebracht, Gott »in den Dingen«, nämlich in der Kuppel des Palastes, zu schauen. Daß weder der eine noch der andere Weg unmittelbar zu Gott fuhrt,

155

In diesem Sinne interpretiert Itta Shedletzky die Geschichte Lasker-Schiilers, die sie für das letzte Dokument einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten deutsch-jüdischen Symbiose hält. Diese Argumentation setzt offenbar einen zionistischen Konsens voraus und hat bereits den Holocaust als deutlichsten Beweis für die Unhaltbarkeit jeder Alternative im Blick. ( V g l . hierzu auch die eindeutige Perspektivierung in der Lektüre von Andre Meyer: Vorahnungen der Judenkatastrophe bei Heinrich Heine und Else Lasker-Schüler, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 8 ( 1 9 6 5 ) , S. 7 - 2 7 . ) Diese Interpretationen vernachlässigen jedoch die Tatsache, daß die am Schluß geschilderte Katastrophe nicht -

wie zuvor das Pogrom -

allein die Juden, sondern alle Menschen trifft und

offensichtlich nicht in der Verantwortung eines Menschen oder einer G r u p p e von M e n schen liegt. Darüber hinaus werden Katastrophe und Rettung in einem unentscheidbaren Spannungsverhältnis gehalten, das weniger den Zweifel an G o t t oder den (jüdischen) Glauben illustiert, als vielmehr eine unbegreifliche Ambivalenz eines sich nur als solcher manifestierenden Gottes zur Schau stellt. ' ' 6 Buber: Der Heilige W e g , S. δρί. "

7

Ebda., S. 89f.

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bedeutet nicht, daß die Geschichte sie als falsches Bemühen rundweg verwirft. Ahnlich wie bei Buber werden vielmehr die beiden polaren Möglichkeiten religiösen Begehrens zueinander in Beziehung gesetzt. Die beiden Figuren werden als erwählte gekennzeichnet, die Gott näher kommen als alle anderen. Beide erscheinen im engen Wortsinn als Gotteskinder, denn ihre herausgehobene Position verbindet sich mit einer spielerischen Unbekümmertheit, die auch den ehrwürdigen Priester jenseits intellektueller Seriosität zu ergreifen scheint: »einmal klatschte er jubelnd in seine feinen langen Hände und gar im Gebet vor dem Altar, er hatte Jehova gesehen . . . und wurde - ein Kind.« (W 494) Zudem werden sowohl Eleasar als auch Amram mit dem biblischen Moses in Verbindung gebracht. Amram ist in der Bibel ein männlicher Name, nämlich der des Vaters von Moses. Damit wäre Eleasar, in der Bibel der Sohn Aarons und Neffe Moses', der Enkel Amrams. Das Verhältnis des Architekten Arion Elevarnos zu seiner Tochter Amram kehrt die biblische Genealogie um, denn dort ist Amram der Vater Aarons, der sich unschwer mit dem Arion der Erzählung in Verbindung bringen läßt. Diese Konstellation, die der erhabenen Priesterfigur der Geschichte die Position des Enkels, der des Baumeisters die des Sohnes, der Figur der kindlichen Dichterin die des Großvaters zuweist, scheint zunächst wenig Aufschluß über die Funktion der Figuren in der Erzählung sowie ihr Verhältnis zueinander zu geben. Der Bezug auf die biblische Priesterfamilie, den die Namen unmißverständlich herstellen, klärt sich jedoch in dem Augenblick, in dem man von der genealogischen Verkettung absieht und den Zusammenhang zwischen Priester und Dichterin nicht notwendig als einen der zeitlichen Folge und Blutsverwandtschaft betrachtet. Die Verkehrungen und Vertauschungen auf der Zeitachse, die die Erzählung gegenüber der mythischen Vorlage vornimmt, stellen jede Kontinutität und damit die Möglichkeit genealogischer Traditionsbildung in Frage. Ähnlich wie bei den gleichberechtigt nebeneinander stehenden Übergangsfiguren im >Peter Hille-BuchWunderrabbiner< ist Abraham der Name des Hundes des Bürgermeisters. Während alle Einwohner der Stadt sich zu dem Palast Eleasars begeben und Amram und Pablo unbemerkt das mysteriöse Schiff besteigen, ist allein er es, der unruhig durch die Straßen eilt und immer wieder das Schiff beschnüffelt. Als dieser »ungeheure Meeresbote« sich schließlich in Bewegung setzt und aus der Stadt verschwindet, ist er der einzige »Augenzeuge«. (W 500) Stellt man diese Anmerkung in einen Zusammenhang mit dem zuvor erörterten Status der beiden Protagonisten mit den biblischen Namen, so wird deutlich, daß offenbar die Vaterautorität, auf die sich die beiden in der Überlieferung berufen, in eine merkwürdige Position gerückt wird. Der einzige Zeuge eines unerhörten Geschehens, das menschliche Vorstellungskraft übersteigt, ist doch nicht in der Lage, das Gesehene oder Erfahrene auch zu bezeugen. Denn das Tier bleibt in der menschlichen Gemeinschaft sprachlos, die Grenze zwischen ihr und ihm kann durch keine Sprach- oder Verständigungsform überbrückt werden. 159 Dennoch insistiert die Geschichte durch die Namensgebung darauf, daß der Urvater Abraham nicht einfach abwesend, das von ihm — ursprünglich im Bund mit Gott — Erlebte 100 nicht unwiderruflich fern und vergangen ist. Indem er in Hundegestalt den Raum der Erzählung durchstreift, scheint er somit an- und abwesend zugleich. Es liegt nahe, ihn in eine Reihe mit den 158

Vgl. hierzu Shedletzky: Bacherach und Barcelona, S. 1 2 1 . •59 Vgl. die Anmerkungen zur Mensch-Tier-Schranke in Kap. IV.4.1. und IV. 5. 160 Vgl. Gen 17,7: »Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, daß es ein ewiger Bund sei, so daß ich dein und deiner Nachkommen Gott bin.« Die Szene verknüpft die Schließung des Bundes zudem mit der (Neu-)Benennung Abrahams: »Darum sollst du nicht mehr Abram heißen, sondern Abraham soll dein Name sein; denn ich habe dich gemacht zum Vater vieler Völker.« (Gen. 17,5)

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unerlösten Wiedergängern zu stellen, die die Lasker-Schiilerschen Prosatexte bevölkern. 101 Das Gründungsereignis, fur das sein Name steht, wird damit seiner eindeutigen Situierbarkeit in Zeit und Raum entkleidet. Die Begegnung mit Gott, ohne die der Bund nicht geschlossen werden kann, findet nicht ein einziges Mal statt, um fortan als religiöser Stiftungsakt von den Priestern erinnert zu werden. Die einzelnen Vertreter der Priesterkaste, die das Figureninventar des >Wunderrabbiners< aufruft, finden sich ihm vielmehr immer wieder aufs neue ausgesetzt. Der Name Abraham verweist darüber hinaus auch auf Heines >Rabbi von BacherachWunderrabbiner< auch den Bezug zu einem wichtigen Prätext, indem er ihn als einen unabgegoltenen aufruft, der zu weiteren Verkörperungen seiner Figuren und Problemstellungen drängt, ohne daß diese adäquat übersetzt oder gar endgültig gelöst würden. Die unabschließbare Situation der Ubersetzung figuriert der Text durch seine vielfältigen Bezüge auf das biblische Bild von der Aussetzung Moses', der als hilfloses Kleinkind den Wellen überantwortet und zufällig von der Tochter des Pharao aufgegriffen wird. Später ist es gerade Moses, der den Bund mit Gott erneuert. (Ex 19,5) In dieser prekären Rolle, dem Verderben rückhaltlos ausgesetzt, befinden sich nicht nur die wichtigsten Gestalten des >WunderrabbinersDer Scheik< sowie des Juden in >Ached Bey< sei hier vor allem die des jüdischen Stammvaters Henoch in >Der Dichter von Irsahab< erwähnt. (Vgl. Kap. I.) Ähnlich wie der Urvater in >Der Wunderrabbiner< erscheint Henoch »nach finsterer Seelenwanderung« nicht in menschlicher Gestalt, sondern als alter Rabe. Die Verkörperung der Vaterfigur als Tier wird so mit dem Motiv des unerlösten Wiedergängers in Beziehung gesetzt, dessen Schuld unabgegolten ist und der deshalb »nicht mehr sterben« kann. (N 92)

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in ein sehr körperliches Ringen mit Gott. Diese Entwicklung vollzieht sich in drei Schritten, wobei die Ausgangssituation durch das Kommen und Gehen gekennzeichnet ist, das den Körper des Priesters vor der Gewalt des Pogroms schützt. Sinnbild für dessen Abgeschirmtsein ist zudem die erwähnte goldene Kuppel des Palastes, deren (materielle) Schutzfunktion zugleich eine unterscheidende Trennung von Priester und Volk impliziert. 102 Der zweite Schritt ist durch die Spaltung der Augen Eleasars markiert, als er während des Pogroms in der Stadt bleibt, sich von dem Geschehen nicht mehr distanzieren kann und so in seiner eigenen Körperlichkeit affiziert wird. Man kann sagen, daß die Trennlinie, die zuvor durch den goldenen Schutzschirm symbolisiert wurde, nun in den Körper der souveränen Figur hineingewandert ist. Zuletzt klafft dieser unheilbare Riß im Text selbst auf, denn wenn am Ende der gesamte erzählte Raum von der Katastrophe ausgelöscht wird, so öffnet sich doch durch das Schiff ein anderer Raum, der zu ihm in keinem bestimmbaren Verhältnis steht. Das Schiff taucht aus dem Ungewissen auf und verschwindet mit unbekanntem Ziel. Es wird zum Bild nicht einer Uberfahrt zwischen zwei Ufern, sondern läßt sich als Übersetzung lesen, die sich auf keinen Ausgangstext beziehen kann (da dieser im selben Moment der totalen Vernichtung anheimfällt). Als solche kann sie von keinem Standpunkt aus beglaubigt werden. Die Rettung wird somit auch nicht bestimmten Personen zuteil, die sich zuvor gegenüber dem Rest der Gemeinschaft durch gottgefälliges Verhalten ausgezeichnet hätten. Der Text weist eine solche moraltheologische Interpretation vielmehr zurück, indem er sowohl den untergehenden Priester-Engel wie die gerettete Dichterin mit der Übergangsfigur Moses identifiziert. Die Konstellation, in der Zerstörung und Rettung als zwei Seiten eines radikalen Umbruchszenarios erscheinen, ohne daß Kategorien wie Belohnung oder Strafe in Bezug auf die einzelnen Figuren noch griffen, entzieht diesen Übergang jedem Versuch der Sinnstiftung. 162

Auch diese Passage hat offenbar ein Vorbild in dem Buberschen Text, wo es über die Gefahr der Anpassung an eine Situation der Unterdrückung und des Verlusts der Quellen des Judentums heißt: »der Wille zum Bund mit Gott durch die vollkommene Wirklichkeit des Lebens in wahrer Gemeinschaft kann nur da in Kraft erstehen, wo man nicht den Bund mit Gott bereits im wesentlichen durch die Einhaltung vorgeschriebener Formen erfüllt glaubt. Unter der Einstellung durch Anpassung aber verstehe ich die Ausbildung der reinen Geldwirtschaft, die dem Volke ermöglichen sollte, unter dem äußersten Druck zu dauern, die aber den eigentlichen Bereich der Verwirklichung, das Leben mit den Menschen und mit den Dingen, verdarb; denn wo das Geld [ . . . ] als trennende und zersetzende Materie zwischen den Menschen ist, da kann keine Unmittelbarkeit zwischen den Menschen sein; und wo die Dinge nicht in ihrem lebendigen Fürsichsein, sondern im Zerrspiegel ihres Geldwertes gesehen sind, kann die göttliche Kraft in ihnen nicht fruchtbar werden.« Buber: Der Heilige Weg, S. io6f.

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»Unerforschlich sind die Wege des Ewigen« (W 503), muß denn auch Eleasar einsehen, nachdem die Christen im Anschluß an das Pogrom zunächst ungestraft bleiben. Daß die Juden hingemetzelt, die Christen aber, nachdem sie ihre Taten bereut haben, verschont werden, legt, wie bereits angedeutet, zunächst den Schluß nahe, daß Gott den Christen näher steht als seinem auserwählten Volk. Das würde bedeuten, daß der Streit der Religionen zu Gunsten ersterer entschieden wäre. Doch der Text geht über einen solchen Religionsvergleich und über die Frage, welcher Glauben der bessere sei, hinaus. Zuletzt werden alle, Juden wie Christen, ausgelöscht, während zugleich eine Jüdin und ein Christ auf dem Schiff gerettet werden. Die Versöhnung, die sich in der Liebe der beiden Kinder andeutet, läßt sich aber nicht als das letzte Wort des Textes interpretieren. Vielmehr bleibt die Ambivalenz von Katastrophe und Wunder, Auslöschung und Neubeginn, auch noch dem Bild der rettenden Ubersetzung eingeschrieben. Denn das Schiff - an sich bereits Metapher der Metapher 1 0 3 mit langer literarischer Tradition — birgt der Geschichte zufolge selbst eine irreduzible Polarität. Denn insofern nicht klar ist, was der »Fittich des Segels« (W 500) verhüllt, bleibt die Beziehung der Kinder unklar. 1 0 4 Das Zu-Falls-Moment, der Sturz Amrams, der die beiden zusammenfuhrt, wird nicht ausgelöscht, sondern bleibt dem Bild eingeschrieben. Dieses ist mithin nicht in dem Sinne lesbar, daß die Dichterin — die unverhohlen biographische Züge trägt — gegenüber dem Priester, dem sie auf geheimnisvolle Weise ähnlich ist, zuletzt doch privilegiert wird. Die Doppelbewegung von vollkommener Übersetzung und Zusammenbruch, die bereits durch das Babel-Motiv zum strukturierenden Merkmal des Textes wird, betrifft vielmehr auch und gerade die Figur Amrams. So wird zuletzt deutlich, daß die Dichterin keinerlei souveräne Position für sich beanspruchen kann, aus der heraus die differenten Positionen und Religionen vermittelbar wären. Vielmehr wird sie als Element einer Konstellation gezeichnet, die ihren Fall oder Sturz auf zweifache Weise impliziert: zum einen im Bild des Herabfallens von der Leiter, zum anderen aber im Schlußbild des Textes, in dem der Wunderrabbiner zusammen mit dem gesamten jüdischen Volk vom heiligen Hügel herabstürzt. 105 Die

163 164

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Das griechische meta-phorein bedeutet übertragen oder über-setzen. Damit wird der Interpretation Hecks widersprochen, die behauptet, Pablo und Amram führten exemplarisch die Versöhnung vor, denn das Schiff ermögliche ihnen, sich unbemerkt ihrer Liebe hinzugeben. Vgl. Heck: Prophetie, S. 76. Einen Hinweis darauf, daß die Amram-Figur nicht einfach mit der Autorin Lasker-Schüler identifiziert werden kann, was die Rettung zuletzt als merkwürdig selbstgerechte Wendung erscheinen ließe, gibt eine Passage aus einem Brief an Karl Kraus. Dort heißt

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rettende Übersetzung des Eigenen kann damit jeweils nicht abgelöst vom Sturz und Zusammenbruch derjenigen vertrauten Bezüge und Ordnungszusammenhänge gedacht werden, durch die das Ich Sicherheit und Stabilität in Raum und Zeit gewinnen könnte. Die Begegnung mit der anderen Religion wird hier ebenso wie die Begegnung zwischen den Geschlechtern eng an eine Begegnung mit Gott als dem absolut Anderen im Sinne Lévinas' geknüpft. Diese Begegnung aber bleibt unauflösbar ambivalent, da sich durch sie der Abgrund einer totalen Vernichtung auftut, den auch die Schiffspassage zuletzt nicht heilt. Der Weg ins Paradies, als dessen Wächter Eleasar/Gabriel gilt, ist nach dessen Tod keineswegs zugänglicher als zuvor. Vielmehr offenbart sich die Wahrheit über den verschlossenen ersten, ursprünglichen und heimatlichen Ort als ebenfalls ambivalente. Der Gott des >Wunderrabbiners< erscheint nicht als ein allmächtiger, strafender oder erlösender Gott, der zuletzt die Gegensätze vermittelt und Versöhnung stiftet. Das grausame Vernichtungsszenario, das schlimmer als jedes Pogrom ist, weil es keine Grenzen kennt, sondern unterschiedslos alle Menschen und alle Zeugnisse ihrer Kultur betrifft, läßt sich nicht durch menschliches Schuldigwerden gegenüber einem göttlichen Gesetz erklären. Vielmehr scheint Gott selbst sich hier nurmehr in einer ursprünglichen Differenz zu erkennen zu geben, denn ähnlich wie im Turmmotiv erscheinen Zusammenbruch und Sturz als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung und Ubersetzung, in deren Unvollkommenheiten und Abgründen sich ein Verfehlen göttlicher Einheit manifestiert. Buber formuliert in dem bereits mehrfach zitierten Essay in ähnlichem Sinne: » O ihr Sicheren und Gesicherten, die ihr euch hinter der Brückenwehr des Gesetzes berget, um nicht in Gottes Abgrund blikken zu müssen! Ja, ihr habt festen ausgetretenen Boden unter den Füßen, wir aber hängen ausschauend über der unendlichen Tiefe.« 1 0 6 Die ordnende und rahmende Instanz, vor der das Disparate in eine Beziehung treten könnte, wird mit einem Abgrund in Beziehung gesetzt, den zuzudecken oder zu verleugnen bedeuten würde, die Göttlichkeit des Anderen zu leugnen. Lasker-Schüler hat in ihren Briefen mehrfach das schreibende Ich mit dem Schiffsmotiv in Verbindung gebracht. Ob zu Beginn oder am Ende von Briefen, immer wieder werden Mitteilungen des Ich mit einem gemalten Schiff versehen, das offenbar jeweils den gesamten Brief bildhaft-sym-

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es: »Nun schrieb ich den Wunderrabbiner, der wie eine Offenbarung über mich kam, ich wurde ganz zerschlagen«. ( B K K 89) Buber: Der Heilige Weg, S. 1 1 2 .

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bolisch repräsentiert. 107 Andererseits wird jedoch deutlich, daß dies Schiff nicht einfach Symbol für ein Medium ist, deren sich die Briefschreiberin zur Übermittlung bestimmter Inhalte und Positionen bedient. Das Schiff erscheint vielfach als Aufenthaltsort des Ich, der als nicht-fixierbarer Ort zwischen zwei Ufern dennoch eine eigene Räumlichkeit besitzt. 168 Ohne das Schiff kann das Ich nicht existieren, sein Verlust bedeutet unmittelbare Gefahr. 169 So reiht sich die Verknüpfung von Ich und Schiff an Motive wie die des Sturzes vom Turm I 7 ° oder von der Himmelsleiter. Das Ich gehört nicht einem umgrenzbaren Raum an, es vermittelt aber auch nicht zwischen zwei differenten Bereichen. Es läßt sich nur im Übergang fassen, der als diskontinuierlicher auf die Grenze und den Gründungsmoment der jeweiligen Ordnungen verweist. Abschließend bleibt festzuhalten, daß der >WunderrabbinerL'existence juiveandere Welt< aufbreche: »als Fährmann fordert uns der Hebräer Abraham nicht nur dazu auf, von einem Ufer zu einem anderen hinüberzuwechseln, sondern uns überall dorthin zu begeben, wo ein Ubergang zu vollziehen ist, und dieses Zwischen-zwei-Ufern aufrechtzuerhalten, das die Wahrheit des Übergangs ist.« V g l . BI 55: »Ich habe mein Schiff verloren, [ . . . ] m u ß im Meer versinken.« Der Sturz der Ich-Figur von einem Turm findet sich in der Lasker-Schülerschen Prosa an mehreren Stellen. V g l . etwa Κ Ó99Í., wo das Ich sich in der Sehnsucht nach der Mutter aus dem häuslichen Turm stürzt und dadurch zwar nicht, wie beabsichtigt, zum mütterlichen Ursprung zurückkehrt, aber dennoch aufgefangen wird: »Ich stieg auf unseren Turm, von ihm aus konnte ich nach allen Seiten gucken. A u f einmal sah ich meine liebe, liebe Mama so traurig [ . . . ] und ich sprang, über die Holzzinnen unseres Turmes, meine traurige Mutter schneller zu erreichen; verfing mich aber in die aufgespannte Jalousie des unteren Turmfensters und lag geborgen wie in meiner Mutter Arm.« Auch hier findet eine Metaphorisierung oder Übersetzung statt: Der mütterliche A r m wird mit einem Teil des Hauses, der Jalousie, in Verbindung gebracht. Dadurch wird die Opposition von Ursprung und Entfremdung, Körper und Haus, in Frage gestellt, ohne daß jedoch die beiden Bereiche, die durch den Sturz getrennt werden, dadurch bereits als miteinander identisch oder durcheinander substituierbar erschienen. Der Sturz trägt der Konstellation des Begehrens nach dem Ursprung, der hier >Mutter< heißt und im >Wunderrabbiner< >HeimatRabbi von Bacherach< erinnert die Erzählung daran, daß bereits der Beginn jüdischer Emanzipation in Deutschland von der schmerzhaften Einsicht gezeichnet war, daß jenseits des Ghettos nicht das Glück in einem freien und verheißenen Land wartet. 1 7 1 Der Auszug der Geknechteten aus der Passivität, aus Unterdrükkung und Demütigung durch die jeweiligen Gastvölker konfrontiert diese mit einer vielleicht noch schwerer zu ertragenden Gewalt, weil diese sich jeder Einordnung in Täter-Opfer-Strukturen entzieht. Die »unverschuldete Schuldbei sich< oder in Gott ruht, sondern daß sie sich im Innersten mit dessen Möglichkeit, eine Beziehung zum Eigenen zu suchen, verknotet. So wird die Frage nach dem richtigen Weg zu Gott, der wahren Religion oder der wahrhaft gottesfürchtigen Religionsausübung abgelöst durch die Perspektive auf den Nächsten, der in seiner

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Vgl. Heine: Der Rabbi von Bacherach, S. 622. Während der Flucht sagt Abraham zu seiner Frau: »Komm mit mir, schöne Sara, nach einem anderen Lande, wir wollen das Unglück hinter uns lassen«.

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unüberwindlichen Fremdheit im Eigenen zu beherbergen ist. So scheint auch der Text >Der Wunderrabbiner von Barcelonas von dem LaskerSchüler einmal behauptete, er sei »wie eine Offenbarung« über sie gekommen, so daß sie »ganz zerschlagen« gewesen sei, 1 7 2 ein solchermaßen Fremdes zu beherbergen, insofern er seinen Lesern keinen heimatlichen Sinn vermittelt, sondern seine Figuren und Räume einer unaufhebbaren Spaltungsbewegung aussetzt.

4. Gotteskinder: christliche und jüdische Gedenkrituale in >Arthur Aronymus< Im Jahre 1 9 3 2 , das sich nicht nur aus heutiger, historisierender Perspektive, sondern bereits für viele Zeitgenossen mit der Atmosphäre einer bevorstehenden Katastrophe verband, erschien ein weiteres Prosastück Lasker-Schülers, das um das Verhältnis der Religionen kreist und viele Motive aus >Der Scheik< wie aus dem > Wunderrabbiner von Barcelona< aufgreift. Betrachtet man eine Reihe zeitgenössischer Rezensionen und spätere Kommentierungen der Erzählung und des gleichzeitig entstandenen Bühnenstücks 1 7 3 durch die Forschungsliteratur, so drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß es sich hier um eine Art Gegenentwurf zum >Wunderrabbiner< handelt, insofern eine friedliche Begegnung und Versöhnung der religiösen Gegensätze sowie die Abwendung exzessiver Gewaltausbrüche möglich erscheint. So ist die Darstellung der Schlußszene, in der hohe Vertreter des westfälischen Katholizismus mit den Juden der Region, in denen Lasker-Schüler ihre eigenen Vorfahren gestaltet, an einem Tisch sitzen und das jüdische Sedermahl teilen, als realitätsfernes »Biedermeier-Idyll« interpretiert worden. 1 7 4 Ob das Versöhnungsbild nun als rührend-naiver Versuch, dem schwelenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen, oder aber als heroisches künstlerisches Bekenntnis zu den Lessingschen Toleranzidealen in schwerer Zeit aufgefaßt wurde, 1 7 5 in

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V g l . Anm. 165. Das »Schauspiel in fünfzehn Bildern« mit dem Titel >Arthur Aronymus und seine Väter< wurde vier Jahre später in Zürich uraufgeführt, aber schnell wieder vom Spielplan abgesetzt. Die folgende Analyse stützt sich in erster Linie auf das Prosastück und nimmt nur gelegentlich auf die Bühnenversion Bezug. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 235. Z u einigen zeitgenössischen Reaktionen vgl. ebda. S. 2 3 5 - 2 4 1 . Klüsener spricht von dem Theaterstück als »Lasker-Schülers >NathanArthur Aronymus< jene irreduzible Differenz gewahrt bleibt, die in den bereits untersuchten Geschichten zum Angelpunkt einer nicht-universalistischen Ethik wird. Die Schlußszene steht am Ende der Erzählung keineswegs als eine — von der Autorin — glücklich herbeigeführte Wendung, die die zuvor geschilderten Spannungen und Konflikte wie von höherer Hand gefugt beilegt und in der Perspektive auf einen gemeinsamen Gott transzendiert. Vielmehr zeichnet sich eine >Lösung< ab, die die einander gegenüberstehenden Positionen nicht unangetastet läßt. Die strukturelle und historische Analyse des Antisemitismus, als die sich die Erzählung lesen läßt, läßt sich somit nicht auf eine Entlarvungsgeste reduzieren, deren kritische Pointe darin bestünde, bestehende gesellschaftliche Asymmetrien und Unterdrückungszusammenhänge aufzuzeigen und zu zerschlagen. Ebenso wie diese Analyse gewissermaßen immanent bleibt, indem sie das Zustandekommen fataler Selbst- und Fremdbilder nachzeichnet, ohne diesen zugleich übergeordnete Identitätsentwürfe entgegenstellen zu können, beruft sich auch der Schluß, wie im einzelnen zu demonstrieren ist, auf keinen >höheren Richter< im Sinne Lessings.

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Eine Ausnahme bildet die kurze Würdigung, die der Text in der »Deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit« erfahrt. Paul Mendes-Flohr nennt >Arthur Aronymus< eine »ökumenische« Novelle, die jedoch gerade vor dem Hintergrund der Zeit »keine naive Geschichte« sei: »Als Allegorie auf die Beziehungen zwischen Juden und Christen vom Mittelalter bis zum drohenden Untergang der Weimarer Republik bleibt sie sich der Zweideutigkeit dieser Beziehungen subtil und schmerzlich bewußt. « Das Sedermahl liest Mendes-Flohr jedoch ebenfalls als Bild der Liebe und Versöhnung, welches die Autorin »stolz und verzweifelt« der Wirklichkeit des Antisemitismus entgegenstelle. Vgl. Michael A. Meyer (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4 (Aufbruch und Zerstörung 1 9 1 8 - 1 9 4 5 ) , hg. v. Avraham Barkai und Paul Mendes-Flohr, München 1997, S. i 6 5 f .

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Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 2 4 1 . In diesem Sinne formuliert auch Hessing: Else Lasker-Schüler, S. 52: »Else Lasker-Schülers Idealismus, der in der Versöhnung der Religionen Ausdruck findet, ist in einem historischen Bewußtsein verankert, das man bei dieser zum Phantastischen neigenden Dichterin nicht vermutet.«

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4-1- Die weihnachtliche Bescherung und der Teufel Obgleich sich die Erzählung im Vergleich mit anderen Prosastücken Lasker-Schiilers verhältnismäßig leicht liest, narrative Zusammenhänge relativ klar nachvollziehbar scheinen, läßt sich die Zeitstruktur des Geschehens doch nicht ohne weiteres feststellen. Wie auch in >Der Scheik< wird zu Beginn eine quasi-mythische Wiederholungsstruktur evoziert, in welche die geschilderten Ereignisse eingebettet werden. Zentrale Figuren der Handlung sind die Großeltern des erzählenden Ich sowie deren dreiundzwanzig Kinder, von denen bereits in >Der Scheik< die Rede war. Die vom Vater erzählte »himmelschreiende Tragödie aus seiner Jugendzeit« (AA 559), der diese Kinder an jedem Weihnachtsabend wieder lauschen müssen, handelt von einem Pogrom in der Heimatstadt der Familie, für das es, wie Jakob Hessing nachgewiesen hat, eine historische Grundlage g i b t . 1 7 8 Die mündliche Erinnerung an das grausame Geschehen ist durchaus dazu angetan, die Familie gegen die christlichen Täter zusammenzuschweißen und die jüdische Identität durch das Erlittene im Sinne einer Opfergemeinschaft immer neu zu konstituieren: »Die älteren Kinder meines Großvaters bestätigten düster im Singsang und Gebärden, ein Chor der Rache, die Übeltaten an ihrem auserwählten Volk.« (AA 559) Die Schilderung der Gewalt, die der im >Wunderrabbiner< in nichts nachsteht, 179 wird »mit allen Schrecknissen beizender Gewürze« versehen. (AA 559) Dies deutet auf das Zeremoniell des traditionellen Sedermahls hin, in dessen Verlauf die beizenden Gewürze (hebr. Maror), Meerrettich und Lauch, gekostet werden, um an die Bitterkeit des Exils zu erinnern. Während die Erzählung hervorhebt, daß das »[ujnschuldig vergossene J u denblut« (AA 559) auch in anderen Teilen der Welt die Juden als Schicksalsgemeinschaft wieder enger zusammenführte, so wird die Schuld an Unterdrückung und Gewalt im Exil wie in der biblischen Überlieferung den Ägyptern nun den europäischen Christen zugewiesen. Das Pogrom wird damit zu einem identitätsstiftenden Ereignis überhöht, das zugleich die 178

V g l . Hessing: Else Lasker-Schiiler, S. 5 3 . Ausführlich zu den historischen Begebenheiten vgl. Margit Naarmann: »Daß Jude und Christ ihr Brot gemeinsam in Eintracht brechen . . . « Die antijüdischen Ausschreitungen in Geseke und Störmede im Jahr 1 8 4 4 als historischer Hintergrund für Else Lasker-Schülers Drama Arthur Aronymus und seine Väter, in: Menora 2 ( 1 9 9 1 ) , S. 3 3 9 - 3 7 0 .

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»An den geschmückten Zweigen der hohen Tannenbäume im Rathaussaale, in der Aula der Schulen, hatte man kleine Judenkinder wie Konfekt aufgehängt. Zarte Händchen und blutbespritzte Füßchen lagen, verfallenes und totes Laub, auf den Gassen des Ghettos umher, wo man den damaligen Juden gestattete, sich niederzulassen. Entblößte Körper, sie eindringlicher mißhandeln zu können, bluteten zerrissen auf Splittern der Fenstergläser gespießt, unbeachtet unter kaltem Himmel.« ( A A 559Í.)

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Trennung von Juden und Christen scharf konturiert. Während die Christen Weihnachten feiern und der Geburt ihres Erlösers gedenken, erinnern sich die Juden an jene Gewalt des Pogroms, die nun in unmittelbarem Zusammenhang mit der christlichen Selbstbegründung zu stehen scheint. Allerdings gibt es in der jüdischen Familie einen, der von Anfang an die väterliche Erzählung stört. Arthurs kindliche Unbeschwertheit, die daher rührt, daß er selbst noch »keine bösen Erfahrungen mit den Christen« gemacht hat (AA 568), läßt ihn während des Berichts der »weit über den Inhalt sich ausdehnende[n] Schauergeschichte« vom Leid der Juden ungeduldig werden. (AA 559) Ihn interessiert die »blutige Historie« erst von dem Moment an, wo vom eigenen Großvater, dem Rabbuni, die Rede ist, der zu den Privilegierten gehörte, die die Grenze des Ghettos überschreiten durften. Dieser Status ähnelt wiederum dem des Wunderrabbis, der ebenfalls das Vorrecht genießt, während des Pogroms außerhalb der Stadt sein zu können. 1 ® 0 Obwohl der Zusammenhang in >Arthur Aronymus< nicht näher ausgeführt ist, drängt sich doch die Interpretation auf, daß offenbar auch der Großvater dem Pogrom entgeht. So kann seine Familie von diesem Zeugnis ablegen, gleichzeitig aber von einer gewissen >unverschuldeten (Mit-)Schuld< nicht ganz freigesprochen werden. 1 ® 1 Ihre Situation als Schwellenfiguren ist prekär und jederzeit gefährdet, in die eine oder andere Richtung umzukippen. Dies wird durch das auch in diesem Text wiederholt aufgegriffene Turmmotiv veranschaulicht. Bereits bei seiner ersten Erwähnung setzt es den Rabbiner-Großvater und seinen Lieblingsenkel in eine enge Beziehung. Denn als die Mutter Arthur mit zu dem Grab des inzwischen verstorbenen Ahnen nimmt, piaziert der nach jüdischem Brauch mehrere Steine auf dessen Grabmal: »er mußte sie auf den oberen Rand des breiten Denksteins kunstgerecht wie ein Maurer bis in den Himmel nebeneinanderlegen. Das war sein erster ernster Bau.« (AA 568) Immer wieder ist von der äußerlichen Ähnlichkeit der beiden die Rede, es wird sogar eine Identität im Sinne mythischer Wiederholung suggeriert. 1 ® 2 So werden die beiden als Variationen Lasker-Schülerscher Schwellenfiguren erkennbar, deren Ähnlichkeit sich gerade nicht durch bloße 180

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Eine weitere Parallele zwischen dem Wunderrabbiner der gleichnamigen Erzählung und dem Großvater-Rabbuni in >Arthur Aronymus< besteht darin, daß auch letzterer »von der ganzen Stadt geehrt, von Jude und Christ« geachtet wird. (AA 560) Dies wird durch ein Gerücht nahegelegt, das den bischöflichen Freund des Großvaters als Mitwisser des Judengemetzels benennt. Der entsprechende Satz ist im Text grammatikalisch so merkwürdig und uneindeutig, daß die Freunde letztlich gleichermaßen als Mitwisser in Frage kommen. (AA 5 6 1 ) »All die alten Kinderbilder vom Großpapa-Rabbuni waren >er< [d. i. Arthur] ja selbst, auch seine Mutter behauptete, sie seien zum Verwechseln ähnlich.« (AA 5 6 1 )

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Familienzugehörigkeit, sondern durch eine besondere Form der Erwählung und der Schwellenexistenz manifestiert. Die Erhabenheit des ehrwürdigen alten Mannes, der sich mit Andersgläubigen gern dem »freien Gaukelspiel« von Gedanken und Worten hingibt und Widerspruch nicht scheut (AA 562), findet in der ungestümen Art des Enkels, der auf keinem Platz lange verweilt und die andächtige Erinnerungszeremonie mutwillig stört, eine Entsprechung: Von des Rabbunis göttlichspielender Weisheit hatte keiner von ihnen [den Enkeln, D. B . ] geerbt; aber seines kleinen Arthurs ungezügeltes, urwüchsiges Temperament verglich sein Großvater mit der lachenden Beere an seinem Stamm. ( A A 5 6 2 ^ )

Beide, Großvater und Enkel, umspielen die Grenze zwischen Juden und Christen auf vielfache Weise, was immer wieder zu problematischen Situationen führt. So wird Arthur wegen seiner »gesunden, ausgelassenen« Erscheinung fur ein Christenkind gehalten, das, so wird gemunkelt, von der Amme vertauscht worden sei. (AA 569) Die »Auszeichnung«, die ihm durch die Christen zuteil wird, bringt ihm zunächst eine Reihe von Annehmlichkeiten. Er wird mit allerlei süßen Gaben verwöhnt, und besonders der katholische Pfarrer schließt ihn in sein Herz. Schon bald jedoch erfährt das jüdische Kind, daß die Gaben und Geschenke, die es von den Christen erwarten kann, einen hohen Preis haben. Das diesbezüglich entscheidende Erlebnis verknüpft sich bezeichnenderweise wiederum mit einem Weihnachtsfest. Arthur wird zusammen mit den beiden Nichten des Pfarrers Bernhard zur Bescherung ins Pfarrhaus geladen. Um »der katholischen Welt keinen Anlaß zu einem Ärgernis zu geben und etwa ein Pogrom heraufzubeschwören« (AA 571), willigt seine Familie ein. Im Haus des Pfarrers nimmt das religiöse Fest mit seinen Ritualen — es wird gebetet, gespeist, Lieder werden gesungen — seinen Lauf, und alle drei Kinder erhalten großzügige Geschenke. Dann jedoch entgleist das Ritual, als eines der Mädchen sich einer Grenzüberschreitung schuldig macht: A u f einmal bot die kleine Ursula einen Zweig zu sich herab, im Glauben, der Onkel sehe es nicht, um die prachtvolle rote Glasschaumkugel zu stibitzen, als sie schon einen Klaps weghatte und der Herr Pfarrer sie rügte: » D u willst doch nicht etwa ein kleines Judenmädchen werden?...« ( A A 5 7 3 )

In diesem Moment kippt die Situation, der Pfarrer erstarrt vor Schreck über seinen faux pas, kann aber nicht verhindern, daß sein kleiner Gast erschrocken die Flucht ergreift. Es wird deutlich, daß das Weihnachtsfest, das eigentlich den Rahmen einer Begegnung und Versöhnung zwischen 446

den Religionen hätte abgeben sollen, genau hierfür ungeeignet ist. Die Verknüpfung des christlichen Erlösungsgedankens mit der Erbsünde, auf das der Griff des Mädchens nach der verbotenen >Frucht< offensichtlich anspielt, läßt zwischen beiden Ereignissen einen Zusammenhang hervortreten, der sich nicht in der christlichen Version der Geschichte erschöpft. Wenn nämlich, wovon der Pfarrer offenbar überzeugt ist, Christus für alle Menschen gestorben ist und durch sein Opfer die Erbsünde getilgt hat, so müßte eine Begegnung der verschiedenen Religionen in seinem Namen möglich sein. Genau dies erweist sich jedoch als Irrtum, denn anstatt gesühnt zu werden, wiederholt sich die Szene der Erbsünde. Der Pfarrer wird in diesem Moment von einem von der christlichen Symbolik verdrängten Anderen regelrecht heimgesucht. Denn während er durch seine Gaben an die Kinder die Großzügigkeit des christlichen Gottes, der seinen Sohn gab, unter Beweis zu stellen bemüht ist, widerlegt seine spontane Reaktion auf das verbotene Tun genau diese umfassende Güte Gottes. Der Priester wird selbst — unschuldig schuldig — zum Medium einer Manifestation des Teufels, deren Herkunft ihm selbst unverständlich ist: A n diesem Teufel, der seinem keuschen Munde entschlüpfte, litt der Priester eigentlich sein ferneres Leben lang. Selbst seinem Heiland vermochte er keinerlei Rechenschaft zu geben, wer die giftige Muschel einer längst vererbten und verebbten Quelle an den Strand seiner Lippen gewissenlos zu schleudern sich erfrechte! Er hatte ja den Jungen, den kleinen Arthur Aronymus, von Herzen lieb und er mußte sich eingestehen, er bevorzugte ihn selbst vor den ihm anvertrauten Schafen seiner Gemeinde, trotzdem er im Programm seiner theologischen Laufbahn bis vor kurzem noch jede Bevorzugung gewissenhaft vermied. ( A A 5 7 4 )

Das christlich-theologische »Programm« des Pfarrers wird durch das Auftauchen Arthurs in verschiedener Hinsicht irritiert. Christliche Nächstenliebe und jüdischer Erwählungsgedanke beginnen sich zu vermischen und lösen die Eindeutigkeit der Beziehungen, die der Pfarrer in Christus verbürgt sieht, allmählich auf. Die Liebe zu dem jüdischen Kind stellt in ihrer Besonderheit das Prinzip der Gleichheit und Austauschbarkeit in Frage. Diejenige Instanz, die dem christlichen Glauben zufolge ein Band zwischen den Menschen gestiftet hat, der hier vom Pfarrer repräsentierte Christus, verliert dadurch ihren Charakter als unangefochtenes religiöses Symbol. Die Faszination des Pfarrers für den schlagfertigen, temperamentvollen Jungen impliziert weit mehr als nur die Freude eines Erwachsenen an der Ausgelassenheit eines Kindes und ist auch nicht allein mit Offenheit und religiöser Toleranz gegenüber dem Anderen zu beschreiben. Sie charakterisiert vielmehr ein Begehren, das die Ökonomie des christlichen Symbol-Systems überschreitet. Die Schwellenfigur Arthur läßt sich nicht, 447

wie erwartet, dem christlichen Ritual unterwerfen. Ihre Anwesenheit führt vielmehr dazu, daß sich eine Unterscheidung oder Abspaltung, die mit dem Gründungsereignis, der Geburt oder Gabe Christi zusammenhängt, wiederholt. Denn mitten in der christlichen Gedenkzeremonie scheint ja der Pfarrer einem Wiederholungszwang im Sinne Freuds ausgesetzt, der ein in seinem Innern abgekapseltes, nicht vermittelbares oder erinnerbares Anderes an die Oberfläche >schleudertWunderrabbiner< wird hier der erste Ab-Fall des Menschen von Gott gedeutet: Die Interpretation des Sündenfalls impliziert eine Schuldzuweisung, die die Anderen, die Juden, verantwortlich macht. Das Judentum Christi, der als herausgehobener Mensch auch im jüdischen Sinne Erwählter ist, wird damit geleugnet. Die Schwellenfigur wird gespalten in ein christliches Symbol des Gottessohnes und die Juden, die die göttliche (Sohnes-)Gabe nicht anerkennen und sich stattdessen mehr nehmen, als Gott den Menschen aus Liebe gibt. Die Figur des Kindes Arthur, die zuvor durch die Nähe zu seinem göttlich-weisen Großvater sowie durch eigenes >GottSpielen< mit Hilfe seines Baukastens immer wieder als eine Art göttliches Kind beschrieben wurde, 1 8 3 wird von dieser reinszenierten Spaltung unmittelbar betroffen. Einerseits ist er das vermeintliche Christ(en)kind, das aus dem Judentum kommend Weihnachten zu den Christen findet. Andererseits wird das Judentum, dem er entstammt, mit einer nicht zu tilgenden Sündhaftigkeit identifiziert. Die Spaltung, der das Kind ausgesetzt ist, läßt es verstummen und der eigenen Familie gegenüber die Unwahrheit sagen: »Und er heuchelte und log zum erstenmal im Leben, da er lachend seiner Mama um den Hals fiel und im Herzen bitterlich weinte.« (AA 5 7 5 ) Nachts vertraut er sich, wie es heißt, im Traum seinem »Großvater-Rabbuni« an. Er träumt, beide gingen durch die Straßen von dessen Heimatstadt Paderborn: Fronten ohne innere Räume wuchsen überall aus der Erde, eine an die andere vorbei, und wenn der Großvater mit ihm durch eine der Haustüren wollte, fielen sie, plumps! in ein weites Loch. Außerdem die Giebelnasen, die ihnen Fratzen zuschnitten, und alle die spitzen Türmchen, die ihnen drohten auf die Köpfe zu fallen! ( A A 5 7 5 )

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»Weit mehr [als den schulmeisterlichen Lektionen des Vaters zu folgen, D. B.] interessierte es ihn ja, Städte zu bauen mit den Klötzen seines neuen großen Baukastens, namentlich Aussichtstürme, wie einer bei Ervitte stand. Lenchen sollte bei ihm oben in den Wolken wohnen!! >Wir werden dann regnenfixen IdeenHerde< der Bedrohung werden dabei in den Blick genommen: zum einen eine als exzessiv klassifizierte weibliche Sexualität, die sich der Geschlechterordnung nicht einfügt, und zum anderen das Judentum, dem eine wesenhafte Sündhaftigkeit unterstellt wird. Doras Hysterie wird im Text auf verschiedene Weise motiviert, u. a. ganz im Sinne der Diagnose-Tradition mit einer pubertätsbedingten sexuellen Überempfindlichkeit und einer Überaktivität in ihrer Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht. 1 8 8 So erscheint das hysterische Hin- und Hertanzen als unmittelbarer Spiegel des vorher erwähnten >zu viel< ihres Tanzens auf dem Hausball der Nachbarn. ( A A 564, 576)

186 p r e u c j taufte seine wohl berühmteste Hysterie-Patientin zum Zweck der Anonymisierung auf den Namen Dora. Die aus der Zeit um 1900 stammenden Aufzeichnungen zu ihrem Fall wurden 1905 erstmals veröffentlicht. Vgl. hierzu die editorische Vorbemerkung zu Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in: Studienausgabe, Bd. V I , Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 8 3 - 1 8 6 . 187 188

Vgl. etwa Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse, S. 1 1 6 . Vgl. von Braun: Nicht ich, S. 24.

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Das gefährliche, grenzüberschreitende Begehren >der FrauAusrutscher< des Pfarrers aber bereits ankündigt, der das Begehren des Verbotenen gerade »Judenmädchen« unterstellt, wird Doras »Mädchenkrankheit« (AA 589) jedoch zugleich mit ihrem Judentum in Verbindung gebracht. Der »Veitstanz«, an dem sie erkrankt, kennzeichnet sie in den Augen der Menschen umso mehr als »ein von Dämonen besessenes Geschöpf«, als man zu wissen scheint: »mit Vorliebe piazierten sich die bösen Geister in jungfräuliche Judenleiber.« (AA 576) Der Körper der Jüdin wird infolge dieser Interpretation selbst als Fremdkörper identifiziert, auf dessen Austreibung und Vernichtung sich alle gesellschaftlichen Energien richten. Die Katastrophe, die sich im Text ankündigt, hat bereits eine von den Juden nicht mehr zu kontrollierende Eigendynamik entwickelt. In dieser Situation erscheint plötzlich der Pfarrer und macht den Verzweifelten ein Angebot: Lassen Sie Ihren Sohn Arthur Aronymus im katholischen Glauben erziehen. Mit diesem demütigen Entgegenkommen in Jesu geheiligtem Namen brechen Sie ein für allemal [ . . . ] jeder Gefahr, die Ihrer jungen Tochter Dora dräut, die Spitze ab. ( A A 5 7 8 )

Was im Gewand eines »gutgemeinten Vorschlags« daherkommt, läßt sich auch als Chance lesen, die der Pfarrer beim Schöpfe ergreift, um die gescheiterte Brücke, die er »im Namen Jesu« erfolglos zu bauen versucht hatte, doch noch in seinem Sinne herzustellen. Zwar würde durch diesen Handel Doras Leben gerettet, aber trotzdem wären es die Juden, die durch die erzwungene Konversion ein Opfer zu bringen hätten. Damit wäre die Schuld eindeutig ihnen zugewiesen und ihre >SohnesgabeversteigenErwählter< (in diesem Falle Arthur) einen unumkehrbaren Grenzübertritt vollzieht, ebnet es die ursprüngliche Differenz zwischen Juden und Christen zugunsten letzterer ein. Die gewaltsame missionarische Geste des Pfarrers hebt der Text auch dadurch hervor, daß er ihn als selbstherrlichen, blauäugigen »Konradin«, mithin als Kreuzritter, kennzeichnet. 1 ® 9 So wie der Grenzgänger Jesus in eine privilegierte symbolische Position eingerückt wird, würde auch das Gotteskind Arthur seine Rolle als >wilder Grenzgängen, der immer wieder - ein Lieblingsbild Lasker-Schülers — über die trennenden Hecken springt, endgültig verlieren. Die Konversion wird zur Chiffre für einen geregelten Übergang zwischen den Religionen, der eine im Bild der Hexenverbrennung an die Oberfläche tretende Gewalt nur verschiebt und abschwächt, aber nicht, wie der Pfarrer Glauben macht, »ein für alle Mal« bannt. Daß Konversionen keine restlosen Transformationen darstellen, macht ein anderes Bild deutlich, das auf kollektive Konversionen in der Vergangenheit Bezug nimmt, die ebenfalls ein Pogrom hatten verhindern sollen. Von den Maranen, spanischen konvertierten Juden, heißt es dort, man habe sie in »fremde Krüge gegossen [ . . . ] , des Henkels entledigt«, was ihr Judentum unkenntlich gemacht, aber doch nicht vollkommen ausgelöscht habe. (AA 566) So prophezeit der Großvater, daß der Stein, in den die Juden gebannt wären, durch »tausendjährige Sehnsucht doch einmal« gesprengt werden könne. Die >fremden Krüge< können ihren neuen >Inhalt< nicht vollständig fassen oder bezeichnen. Betrachtet man dieses Bild im Zusammenhang mit der Problematik von Differenz und Vermittlung zwischen den Religionen, wie sie in >Arthur Aronymus< ausgelotet wird, so wird deutlich, daß es um mehr geht als um Fremdbestimmung und gewaltsame Unterdrückung des Judentums. Denn das christliche Bemühen um Mission und Konversion zielt nicht nur darauf, den Juden eine fremde Form aufzuzwingen, sondern darauf, ein sich der Form überhaupt Entziehendes zu fixieren. Denn wenn auch die Sehnsucht der Bedrängten wie 189

Vgl. hierzu die Erzählung >Der Kreuzfahrers mit der der Geschichtenband des »Prinz von Theben< schließt. (PvT 1 2 9 - 1 3 5 )

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bereits im >Wunderrabbiner< darauf gerichtet ist, »endlich die erlösende Form zu enträtseln« (AA 567), um so gegenüber der andauernden Exilsituation einen positiven Heimat- und Identitätsentwurf zu gewinnen, so manifestiert sich das Jüdische doch gerade in dieser die Formen und Hüllen immer wieder sprengenden Suchbewegung. Indem beide Versuche des Pfarrers, Arthur als Vermittlerfigur zwischen Christen und Juden zu instrumentalisieren, scheitern, wird deutlich, daß sich das Verhältnis zwischen diesen Religionen durch keine geregelte Relation beschreiben läßt. Weder die Toleranzbeziehung (»im Namen Jesu«) noch eine die Differenz einebnende Konversion sind geeignet, den beunruhigenden Rest zu domestizieren, der jenseits von Identität und Differenz immer wieder an die Oberfläche tritt. In ihrer quasi-mythischen Zeitstruktur, die Vergangenes als gegenwärtig erscheinen läßt und an die Stelle historischer Entwicklung und Emanzipation wiederkehrende Muster von Ausgrenzung und Unterdrückung setzt, läßt die Erzählung zudem die vom Pfarrer als einzig mögliche präsentierte Alternative von Hexenverbrennung und Konversions-Opfer fragwürdig erscheinen. Der Fremdkörper, den die Christen mit dem Teufel identifizieren, läßt sich durch keinen symbolischen A k t dauerhaft verorten oder austreiben. Er kehrt — wie das Beispiel der Weihnachtsfeier im Pfarrhaus demonstriert - im unerwartetsten Moment zurück und sucht die Ordnung, innerhalb derer auch der Jude einen gleichberechtigten Platz einzunehmen sich anschickt, auf tükkische Weise heim. Ebenso wie die göttliche Sohnes-Gabe, an die das Weihnachtsfest erinnert, den ambivalenten Charakter des erwählten Menschen verfehlt, 190 kann auch die Konversion Arthurs als Opfergabe der jüdischen Gemeinde den Bedürfnissen der Juden innerhalb der christlichen Umgebung nicht gerecht werden. Diese Gewißheit spricht aus der Entscheidung des Vaters in der Erzählung, den Vorschlag des Pfarrers, er möge den jüngsten Sohn im katholischen Glauben erziehen lassen, höflich, aber mit Bestimmtheit zurückzuweisen: Herr Pfarrer, gestatten Sie mir, Ihnen in unser aller Namen fur Ihren ebenso sinnigen wie gutgemeinten Vorschlag unseren Dank auszusprechen. Leider zwingen mich aber folgende Umstände, denselben mit respektvollstem Kom-

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Der Text macht diese Reduktion, die die christliche Vereinnahmung für Arthur bedeutet, in der bereits zitierten Formulierung deutlich, dieser werde durch den Verdacht, er sei in Wahrheit ein Christ, ausgezeichnete Gegenüber der spielerischen Freiheit und Unbekümmertheit eines Erwählten, die Arthurs Verhalten vor dem Ausgrenzungs-Erlebnis im Pfarrhaus kennzeichnet, bedeutet die christliche Auszeichnung jedoch sehr deutlich Einengung und Beschränkung.

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pliment von der Hand weisen zu müssen. Ich wie mein Vater und dessen Väter, Väter, Väter, noch die Väter Frau Henriettens, meiner Gattin, in Gott ruhenden Väter, pflegten auf direktem Weg zu Gott zu gelangen, und ich sollte Seinem Sohne meinen noch unmündigen Sohn auf Umwegen zufuhren lassen? Der Herr behüte uns vor allem Bösen. (AA 578f.)

Ausdrücklich wird hier ein Kontakt zu Gott abgelehnt, der die jeweiligen Söhne als vermittelnde Instanzen fiinktionalisiert. Die unmittelbare Gegenüberstellung des Gottessohnes und des Sohnes des Sprechenden bestätigt noch einmal die in der Analyse hervorgehobene Parallelfiihrung von Christusopfer und Konversionsopfer. Die Ablehnung des letzteren ist insofern aus jüdischer Perspektive konsequent, als das Judentum sein ureigenstes Prinzip preisgibt, sobald es sich auf eine Opferökonomie einläßt, die auf dem Stellvertretungsprinzip beruht. Der >direkte Weg zu GottVäter< über die Auslegung der verrätselten Gottesworte streiten, zeigt Arthur seinem Freund, dem Pfarrer, seinen neuesten Turmbau. So bezieht er ihn in das Kinderspiel mit ein, das doch zugleich, wie in den vorausgehenden Turmbau-Passagen deutlich wird, exemplarisch den Ort des Vaters sowie damit immer auch den Ort des göttlichen Vaters markiert. 195 Auch die verbale Entgleisung des Pfarrers am Weihnachtsabend wird noch einmal in Erinnerung gerufen. In Zusammenhang mit dem Spiel kommt nämlich ein Fluch auf Arthurs Lippen, dessen Versprachlichung jedoch gerade noch verhindert wird: »Bernhard merkte es noch frühzeitig und Aronymus schluckte den kleinen zischenden Teufel mit Haut und Haaren herunter.« (AA 592) So wird die Spannung zwischen den verschiedenen Parteien oder Religionen aufrechterhalten, ohne daß eine Schuld zugewiesen wird und ohne daß sich ein >Teufel< materialisieren könnte, der zwischen die >Spielenden< tritt. 196 Obgleich die Versöhnung zwischen den Religionen zuletzt auf einer neugewonnenen Übereinstimmung und Harmonie zu beruhen scheint, bleibt sie doch auf diese spannungsgeladene Schwellensituation bezogen. 194

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Zur Vorstellung, daß die hebräischen Buchstaben als metaphysische Grundformen mit der göttlichen Schöpfung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, vgl. Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala, S. 64, 68. Z u einer Interpretation dieser Passage vgl. auch Lersch-Schuhmacher: Zur AUegorese des Weiblichen, S. 6 6 - 6 9 . Über den Zusammenhang von Fluch und Turmbau kann man hier nur spekulieren. Möglicherweise wird auf den Fluch Gottes gegenüber den Menschen, die den Turm zu Babel bauen, angespielt. In der entsprechenden Textszene bleibt die Differenzierung zwischen göttlicher und menschlicher Position, also zwischen Selbsterhebung und der diese verhindernden Intervention, in der Schwebe. So bleibt die Unentscheidbarkeit von Vergöttlichung und Fall, die das Turmmotiv inszeniert, auch hier — im freundschaftlichen Miteinander von katholischem Pfarrer und jüdischem Vater-Kind - gewahrt.

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Denn das Gesetz, welches der die Zeremonien leitende Familienvater als gemeinsamen Orientierungspunkt aufruft, verbindet sich nicht mit der Vorstellung eines souveränen Gott-Vaters, auf den sich die Kinder beider Religionen berufen können. Vielmehr wird es selbst einem schutzbedürftigen Kind verglichen, das von beiden Seiten Halt benötigt und den Menschen, Christen und Juden gleichermaßen, ausgeliefert ist. So wird in der vom Vater verwendeten Formulierung, das Gesetz sei zu halten, eine doppelte Bedeutung erkennbar. Der Idee eines gottgegebenen, den Menschen vorgängigen und von ihnen einzuhaltenen Gesetzes wird die weitere Lesart supplementiert, daß das Gesetz nicht unabhängig von den Menschen existiert, sondern erst durch ihre Fürsorge am Leben gehalten wird. Wörtlich verkündet der Vater den Anwesenden: »>Und gehalten wird das Gesetz [...] sorglich wie ein Kind im samtnen Tragkleid und Schellengeschmeide .. .Rabbi von BacherachHebräerland< erscheint die Thorarolle wieder »mit einem Schellenband um den Hals« und wird ausdrücklich als »Wundertragkind« bezeichnet. (H 8 1 4 ) Dabei obliegt es der Verantwortung des Menschen, dieses »Kind der Gebote« (H 883) zu tragen und vor einer Gewalt schützen, die es in seiner Körperlichkeit bedroht und seine Verletzlichkeit und Sterblichkeit in Erinnerung ruft. In diesem letzten Prosabuch Lasker-Schülers wird der verantwortliche Mensch, dem die Bürde auferlegt ist, für das göttliche Kind Sorge zu tragen, Hebräer genannt. In Anknüpfung an den jüdischen Erwählungsgedanken erscheint dieser als derjenige, der vor allen anderen Völkern durch einen besonderen Bezug zu Gott ausgezeichnet ist. Dieser manifestiert sich allerdings nicht als privilegierter Zugang zu einer transzendenten Wahrheit oder als Gefühl, durch einen väterlichen Gott in der Welt aufgehoben zu sein. Die Verantwortung bezieht sich nicht nur darauf, die göttlichen Gebote zu befolgen, vielmehr ist die Erhaltung dieser Gebote in ihrer zerbrechlichen Materialität dem Menschen aufgegeben: Der Hebräer [ . . . ] , der vom Inhalt seiner göttlichen Bürde weiß, trägt die verantwortliche Last, das holde Kind der Gebote.. .die Thora lächelnd in seinen Armen. Die Thora ist ein Wunderkind; die Gebote Gottes: Glieder. Im weißen Kleide oder im samtnen Tragkleid, sorglich verwartet und nach dem Tode bestattet, zwischen gestorbenen Kindern. Israels weinende Gemeinde pflanzte einer im Pogrom zerfleischten Thora einen Rosenstrauch aufs Grab. (H 883?.)

Der »Inhalt der göttlichen Bürde« ist offensichtlich nicht als von Gott kommende Gabe, als Gottes unzerstörbares Wort, zu verstehen, dessen sich der Hebräer durch ein bestimmtes Verhalten würdig erweisen könnte. Indem diese Bürde mit dem Körper Gottes in Verbindung gebracht wird, wird deutlich, daß einmal mehr die gebende, souveräne Instanz selbst auf dem Spiel steht. Der Hebräer kann daher seiner besonderen Verantwortung 200

Ebda., S. 639.

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nur gerecht werden, wenn er sich der hiermit zutage tretenden radikalen Ungewißheit überantwortet. Denn wenn Gott selbst sterblich ist, kann der Mensch sich auf keine ihm vorgängige oder übergeordnete Bezugsinstanz berufen. Die Vorstellung der Gerechtigkeit, des Gerechtwerdens, ist von eben jener Unsicherheit affiziert, die die Sorge um den sterblichen Gotteskörper herausfordert. Denn wo keine universalen ethischen Kategorien, keine Vergleichsmöglichkeiten mit idealen Verhaltensmaximen die Angemessenheit des eigenen Verhaltens beurteilen helfen, bleibt die Ungewißheit irreduzibles Merkmal dieser Verantwortung. Das Bild des schutzlosen Gotteskindes zeigt noch einmal die große Nähe der Lasker-Schülerschen Konzeption einer Verantwortung für den Anderen als einem radikal Anderen zu den Ethik-Entwürfen Emmanuel Lévinas'. In seiner Konzeption einer »ethischen Sprache« faßt dieser, wie beschrieben, die Begegnung mit dem Anderen als Ereignis jenseits jeder Verständigung und Vermittlung vor einem gemeinsam-universalen SinnHorizont. Anstatt einen fernen Gott vorauszusetzen, dessen Gesetz die Menschen in ihrem Umgang miteinander mehr oder weniger entsprechen, wird dieser >Dritte< selbst in die Position des Gegenüber gerückt. 2 0 1 Als Antlitz fordert dieses mehr als Nächstenliebe oder ausgleichende Gerechtigkeit, vielmehr stellt es in der Maßlosigkeit seines Anspruchs die Souveränität des Ich in Frage. Transzendenz und Leiblichkeit, erhabene Weltferne und unmittelbares Ausgesetztsein treten in dieser Figur zusammen: D i e Transzendenz des Antlitzes ist zugleich seine Abwesenheit aus dieser Welt, in die es eintritt [ . . . ] . D i e N a c k t h e i t seines Antlitzes setzt sich fort in der N a c k t heit des Leibes, der friert und der sich seiner N a c k t h e i t schämt. [ . . . ] Dieser Blick, der bittet und fordert — der nur bitten kann, weil er fordert, d e m alles m a n g e l t , weil er ein Recht hat auf alles, den m a n anerkennt, indem m a n g i b t [ . . . ] — dieser B l i c k ist nichts anderes als die Epiphanie des Antlitzes als Antlitz. [ . . . ] D e n A n deren anerkennen, heißt, einen H u n g e r anerkennen. D e n Anderen anerkennen — heißt geben. Aber m a n g i b t d e m Meister, d e m Herrn, m a n g i b t d e m , den m a n in einer D i m e n s i o n der Erhabenheit m i t >Sie< a n r e d e t . 2 0 2

Der, »dem alles mangelt«, befindet sich in der Situation des Kindes, das aus eigener Kraft nicht überlebensfähig wäre und daher, gerade weil er noch kein Ich ist, noch keine Position im Symbolischen besetzt hat, zu einer exzessiven Gabe herausfordert, die auch den Gebenden >außer sich< geraten läßt. Dieses Kind steht, wie Lévinas an anderer Stelle ausführt, 201

20a

Lévinas spricht davon, daß die »Verantwortung für den Anderen ebenso Verantwortung fur den Dritten« sei. Vgl. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 53. Dort heißt es auch: »Es braucht eine Gerechtigkeit unter den Unvergleichlichen.« Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 101Í.

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zum Ich nicht in einer Beziehung der Kindschaft in einem biologischen oder genealogischen Sinne. Erst indem sich das Verhältnis zu ihm nicht auf eine symbolische Relation reduzieren läßt, verhindert es jede Distanzierung des Ich von der sich in ihm artikulierenden ethischen Verpflichtung: In der Nähe habe ich den absolut Anderen, den Fremden, »den ich weder in meinem Schoß getragen noch zur Welt gebracht habe«, schon auf dem Hals, trage ich ihn schon, wie es in der Bibel heißt, »an meinem Busen, wie die A m m e den Säugling trägt«. Er hat keinen anderen Ort, der Nicht-Eingeborene, Entwurzelte, Heimatlose, Nichtseßhafte, der Kälte und der Hitze der Jahreszeiten Ausgesetzte. Gezwungen sein, auf mich zurückzukommen, genau das ist die Heimatlosigkeit oder die Fremdheit des Nächsten. Ich habe für sie aufzukommen. Sie drängt den Nächsten ganz an mich. 2 0 3

Als sei es »verantwortlich für seine Sterblichkeit«, setzt sich das Ich der Lévinasschen Ethik dem Anspruch des Fremden aus, den es weder ergründen noch in ein allgemeines Gesetz überführen kann. 2 0 4 Genau hierdurch scheint auch die »Bürde« bezeichnet, von der bei Lasker-Schüler in Zusammenhang mit der Sorge für das Gotteskind und die zerbrechlichen Gebote die Rede ist. 2 0 5 Wie die Zitate belegen, wird diese Verantwortung im >Hebräerland< als eine insbesondere den Juden auferlegte beschrieben. In der Schlußszene von >Arthur Aronymus< deutet sich jedoch bereits an, daß die intensive Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition, mit Erwählungsgedanken und Gottesbegriff, die das Spätwerk kennzeichnet, nicht als bloße Hinwendung zu einer wiederentdeckten jüdischen Identität der Autorin zu verstehen ist. >Arthur Aronymus< zeigt vielmehr sehr deutlich, daß die künstlerische Suche nach Ausdrucksformen für eine zeitgemäße Beziehung zum Nächsten wie zur Welt auf Elemente jüdischer Tradition zurückgreift, ohne dabei andere Traditionen und Glaubensrichtungen explizit auszuschließen. Denn in der dort beschriebenen Zusammenkunft von Juden und Christen wird das Gesetz nicht als ein jüdisches 203

Lévinas: Jenseits des Seins, S. 204f. In der von Lévinas evozierten Bibelpassage klagt Moses über die schwere Bürde, die Gott ihm auferlegt habe, indem er ihn zum allein Verantwortlichen gemacht habe, der immer wieder den Klagen und der Unzufriedenheit des darbenden Volkes auf der Wüstenwanderung ausgesetzt sei. Vgl. Num 1 1 , 1 1 - 1 4 : »Und Mose sprach zu dem Herrn: Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren, daß du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? [...] Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer.«

204

Lévinas: Jenseits des Seins, S. 204. Vgl. auch Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. η{. Vgl. hierzu auch Kap. III.2.2.

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angerufen, das gegenüber dem christlichen zu privilegieren sei, etwa weil es älter sei und auch dem Christentum zugrundeliege. Das Gesetz, auf das sich die beiden Religionen hier berufen, zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß es keine Wahrheit außerhalb dieser beiderseitigen Bezugnahme hat. Das >Kind im Tragkleid< mahnt jede Religion, das göttliche Gesetz nicht zu fixieren oder zu vereinnahmen, da es nur dort lebendig gehalten wird, wo bei aller Nähe seine nicht-symbolisierbare Fremdheit gewahrt wird. So fällt der Moment der Vermittlung und Verständigung mit dem der Trennung zusammen. Diese markiert jedoch nicht mehr allein die Grenze zwischen Juden und Christen, sondern betrifft den jeweiligen Bezug der Religionen zu sich selbst. Allein darin, daß die jüdische Tradition diesen Rückbezug auf Gründungsereignisse und Glaubenssymbole radikaler problematisiert, indem es die Ursprungserzählungen (Christi Geburt) und Symbole (Kreuz und Hostie) des Christentums ablehnt, kann hier von einer Privilegierung der jüdischen Perspektive gesprochen werden.

4.4. Pesach: das Erinnern des Übergangs Bereits dadurch, daß die Erzählung zuletzt nicht mehr um das christliche Weihnachtsfest kreist, sondern das jüdische Passah-Zeremoniell an seine Stelle treten läßt, wird die Verschiebung reflektiert, der das Bild des göttlichen Kindes ausgesetzt ist. Hatte ersteres den Gewaltzusammenhang, der Christen und Juden aneinander bindet und zugleich voneinander trennt, immer wieder aufbrechen lassen, so scheint die jüdische Gedenkfeier nun viel eher die Voraussetzung zu einer versöhnenden Begegnung bereitzustellen. Das mag zunächst überraschen, da die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, die am Sederabend regelrecht in Szene gesetzt wird, eng mit der Erwählung des jüdischen Volkes, seiner Befreiung aus Exil und Unterdrükkung sowie der Verheißung des Gelobten Landes verbunden ist. Und doch wird hier nicht eine göttliche Gabe, eine Materialisierung oder Fleischwerdung des göttlichen Wortes, ins Gedächtnis gerufen, sondern vielmehr ein Aufbruch und Übergang, der sowohl die göttliche Instanz wie auch das Verheißene in einer unbestimmbaren Nähe hält. In einer solchen unbestimmten Nähe befindet sich Gott, als er an den mit Lammblut bestrichenen Türen der Hebräer vorbeigeht und ihre Erstgeborenen verschont, während die Erstgeborenen der Ägypter getötet werden. Pesach bedeutet Vorüberschreiten 2 ° 6 und erinnert somit nicht an eine konkrete Manifesta206

Vgl. de Vries: Jüdische Riten und Symbole, S. 128. Das traditionelle Passah-Lamm, das in Erinnerung an das geschlachtete Lamm, dessen Blut die zerstörerische Gewalt auf Distanz hält, an diesem Tag gegessen wird, steht in einem engen Zusammenhang mit

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tion Gottes, sondern an ein paradoxes Zugleich göttlicher Anwesenheit und Abwesenheit. 207 Darüber hinaus ist der Exodus selbst eine Figur des Übergangs. Aufbruch und Trennung stehen im Mittelpunkt der Erinnerung, die das jüdische Volk als Volk konstituiert, ohne ihm bereits einen eigenen territorialen Raum und damit feste Identitätsgrenzen zu sichern. Maurice Blanchot hat dieses Erinnerungsmodell, das das Jüdische jeglicher auf Besitz und Boden gründenden Identitätskonstruktion entgegensetzt, ausdrücklich mit der Möglichkeit einer Annäherung an das Fremde in Verbindung gebracht: Wenn das Judentum dazu bestimmt ist, einen Sinn für uns zu haben, dann gerade indem es uns zeigt, daß man jederzeit bereit sein muß, sich auf den W e g zu machen, weil hinausgehen (nach draußen gehen) die Forderung ist, der man sich nicht entziehen kann, wenn man an der Möglichkeit einer gerechten Beziehung festhalten will. 2 0 8 Der J u d e ist ein Mensch des Ursprungs, der sich auf den Ursprung bezieht, nicht indem er bleibt, sondern indem er sich entfernt und so zum Ausdruck bringt, daß die Wahrheit des Anfangs in der Trennung liegt. 2 0 9

In der Schlußszene von >Arthur Aronymus< wie auch in anderen Zitaten der Exodus-Geschichte bei Lasker-Schüler wird diese Lektüre der jüdischen Tradition explizit in den Vordergrund gerückt. Während eine zionistische Perspektive die Geschichte vom Auszug aus Ägypten naturgemäß vom Zielort, dem Gelobten Land, her erzählt und die Struktur jüdischer Identitätskonstitution damit derjenigen anderer Völker annähert, insofern sie die eigene Heimstatt mit Ursprungserzählungen legitimiert, hebt diese eher messianische Blickrichtung den Schwellencharakter der erinnerten Ereignisse hervor. In der Schlußepisode von >Arthur Aronymus< wird etwa dem späteren christlichen Motiv des >Lamm GottesArthur Aronymus< auch durch Formulierungen wie »Jüdisch-Ostern« oder »Ostern der Juden« (AA 585f.) unterstrichen. 207

Die Begegnung, die Lévinas im Sinn hat, wenn er von der Besessenheit durch das Antlitz des Anderen spricht, wird ebenfalls immer wieder als ein Vorübergehen beschrieben: »Spur eines Vorübergangs oder Spur dessen, was nicht hat eintreten können, Spur der Ex-zession, des Exzessiven, dessen, was nicht zum Inhalt hat werden können, des NichtInhalts, der in keinem Verhältnis steht zu irgendeinem Maß oder zu irgendeiner Fassungskraft, Spur des Unendlichen [...]. Raum, der leer ist von dem, was sich in ihm nicht hat versammeln können, Spur eines Vorübergangs, der niemals zu Gegenwart geworden ist«. (Jenseits des Seins, S. 2θ${.)

208

Blanchot: Jude sein, S. 184. Ebda., S. 187.

209

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mehrfach auf das ungesäuerte Brot, das Matza, Bezug genommen, das traditionell ebenso wie das Lamm am Passah-Fest gegessen wird. (AA 585^) Es erinnert daran, daß die Israeliten, nachdem die geschilderte zehnte Plage über Ägypten hereingebrochen war, überstürzt aufbrechen mußten und keine Zeit hatten, den Teig gären zu lassen. Dabei gemahnt der Verzehr dieses Brotes sowohl an die Flucht aus der ägyptischen Sklaverei, wie auch daran, daß diese bedeutete, den >Fleischtöpfen Agyptens< den Rücken zu kehren, um sich einer ungesicherten und ungewissen Wüstenwanderung auszusetzen. 210 In einer charakteristischen Engfuhrung ritueller Symbolik jüdischer wie christlicher Gedenk-Zeremonien wird nun in >Arthur Aronymus< zuletzt der Moment der Versöhnung mit dieser Konstellation eines Aufbruchs verknüpft, der zeitliche und räumliche Kontinuitäten aufsprengt. So heißt es im Anschluß an die Rede des Vaters, in der er von der Thora als einem Kind im Tragkleid spricht: Seine Gnaden [d. i. der Bischof, D. B . ] bejahten aufmerksam jedes Wort des klugen Herrn Vaters, meines Vaters Vaters, mit wohlwollender Geste und beide Herren kamen darüber ein, »mit ein bißchen Liebe geht's schon, daß J u d e und Christ ihr Brot gemeinsam in Eintracht brechen« - »noch wenn es ungesäuert gereicht wird«, vollendete artig die Mutter meines nun auch schon in Gott ruhenden Vaters: Arthur Aronymus. (AA 592)

Das Brechen des Brotes erinnert hier an die Geste Jesu, in der er den Jüngern das von ihm gebrochene Brot gibt und mit den Worten »dies ist mein Leib« selbst die Erinnerungszeremonie der Eucharistie begründet, die fortan seinen Opfertod und die göttliche Sohnesgabe ins Gedächtnis ruft. Im Gegensatz zu der neutestamentlichen Überlieferung sowie der christlichen Praxis der Eucharistie handelt es sich hier nicht um ein rituelles Mahl, das durch die Einverleibung des getöteten Gottes(Sohns) Gemeinschaft stiftet. Anstatt auf eine Konsubstantialität, also die Teilhabe an derselben göttlichen >SubstanzetwasOsterfest< ist nicht einfach als das basalere, beiden Religionen gemeinsame Ritual zu beschreiben, wie es H e c k versucht, wenn sie seine beziehungsstiftende Funktion der trennenden des Weihnachtsfestes gegenüberstellt. V g l . Heck: Prophetie, S. 8 5 , 89Í.

213

Hierauf verweist auch Lersch-Schuhmacher, interpretiert das Auftauchen der Mutter in diesem entscheidenden Moment aber als Indiz für die inszenierte Versöhnung nicht nur zwischen den (Vater-)Religionen, sondern auch zwischen väterlichem Recht und »Mutteroder Naturrecht«. (Zur Allegorese des Weiblichen, S. 6 7 . )

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Wunsch nach festen Strukturen Raum greift und ein monotheistischer Vatergott das Symbolsystem zu beherrschen beginnt, wird das Weibliche, wie die Erzählung eindringlich demonstriert, mit dem Anderen, Bösen, Sündhaften, kurz, dem auszutreibenden Teufel identifiziert. 214 Kehrt man noch einmal zum Anfang der Erzählung zurück, der das Weihnachtsfest als trennendes Ritual zwischen Christen und Juden geschildert hatte, indem es erstere an die Geburt ihres Erlösers, letztere aber an blutige Pogrome erinnerte, so wird die veränderte Konstellation der Schlußszene noch einmal ganz deutlich. Die trennende Grenze, die zuvor durch gegenseitige Schuldzuweisungen immer wieder aufs neue bestätigt worden war, ist hier zwar nicht aufgehoben, wohl aber in der Schwebe gehalten. Während der christliche Erlöserglaube die Ursünde unter Berufung auf den Opfertod Christi distanziert und die Verantwortung für diesen ersten Fehltritt den Juden unterstellt, hält die Versöhnungsszene beim Passah-Mahl die Frage nach der Schuld offen. Das gilt auch fur die Erinnerung der Juden. In der Eingangssequenz hatten diese das Pogrom noch »mit allen Schrecknissen beizender Gewürze« in Verbindung gebracht und damit die Schuld für das Leid im Exil im religiösen Ritual immer wieder den Christen zugewiesen. Dagegen erinnern die >Thora im Tragkleid< sowie das ungesäuerte Brot eine von niemandem verschuldete, aber jeden der Beteiligten betreffende Trennungsszene. Die Verschiebung vom Gedächtnismodell des Weihnachts- bzw. Osterfestes hin zu dem des jüdischen Pesach impliziert auch eine Verlagerung der Perspektive auf eine erste Schuld oder Verfehlung, die der Bibel zufolge den Menschen von seiner paradiesischen Urheimat trennt. Während die Geburt und der Kreuzestod Christi diese erste Trennung als Übertretung eines zuvor von Gott ausgesprochenen Verbotes durch den Menschen, als Ursünde mithin, festschreibt, evoziert das Passah-Fest eine Konstellation von Trennung und Übergang, die nicht auf eine göttliche Strafe zurückzuführen ist. Sie stellt nicht, wie das christliche Erinnerungssystem, menschliches (und insbesondere weibliches) Ungenügen und göttliche Allmacht, das ursprüngliche Paradies und die entfremdete Welt, einander gegenüber. Vielmehr wird eine Begegnung von Gott und Mensch in den Blick gerückt, die die Opposition von Ursprung und Abfall, göttlicher Vollkommenheit und menschlicher Verfehlung, aus den Angeln hebt. Denn der Moment der Erwählung und Verheißung, auf den sich die jüdi-

214

Die Mutter wird bereits früher als diejenige geschildert, die die Drohung gegenüber ihrer Tochter Dora besonders quält, die aber aus Angst dennoch »beinahe schon einverstanden« ist, sie zu opfern. (AA 578)

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sehe Identität beziehen kann, ist unauflösbar an jene Szene des Vorübergehens und des Aufbruchs geknüpft. Göttliche Allmacht und Vollkommenheit manifestieren sich hier nicht jenseits der von Gott abgefallenen Welt am paradiesischen Ursprungsort oder in einer kommenden himmlischen Sphäre, sondern in der paradoxen Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz einer unergründbaren Begegnung. Der Bezug auf den Ursprung der eigenen Identität läßt sich somit nicht auf den Versuch der Wiederaneignung einer göttlichen Gabe reduzieren. Nur wo der Selbstbezug an eine Öffnung auf das radikal Andere hin geknüpft bleibt und eine Heterogenität im Ursprung offenlegt, wird er der Übergangsszene gerecht, die Heimatlichkeit zugleich begründet wie entzieht. Ein solches Offenhalten des Ursprungs impliziert auch, die göttliche Position nicht als dem Menschen je schon überlegene vorauszusetzen, sondern sie vom Selbst- und Fremdbezug der Menschen abhängig zu machen. Wenn die Passah-Konstellation einen Ort beschreibt, an dem »die Menschen sich zu dem in Beziehung setzen, was jede Beziehung ausschließt: das unendlich Entfernte, das vollkommen Fremde«, 215 so eröffnet sie die Möglichkeit, dem anderen Menschen in seiner Andersheit zu begegnen, ohne ihn der eigenen Gottesvorstellung zu assimilieren. Ebendiese Perspektive einer Ethik der Differenz zeichnet sich in der Lasker-Schülerschen Ausgestaltung der Passah-Zeremonie in >Arthur Aronymus< ab. Gerade wenn man diese Geschichte im Kontext der anderen, gleichermaßen das Verhältnis der Religionen thematisierenden Texte liest, wird erkennbar, daß das von der Forschung bislang favorisierte Urteil, hier werde eine naive Versöhnungsutopie entworfen, so nicht zu halten ist.

5. Raum geben: die Aufgabe der Schöpfung im >Hebräerland< Auch in dem letzten, mit Abstand umfangreichsten Prosabuch LaskerSchülers, dem 1937 im Zürcher Exil erschienen >HebräerlandNächte< wieder auf (H 889), die Bühne des Amphitheaters der Hebräischen Universität auf dem Jerusalemer SkopusBerg inspiriert das Ich, sich wieder »in der Rolle des Joseph« zu imaginieren und die »Seele der Josephslegende, die einmal Wahrheit gewesen, auferstehen zu lassen, sie zu verkörpern«. (H 964) 2 1 6 Im Zusammenhang mit der ersten Reiseetappe, Ägypten, wird Theben als »Stadt meiner Bücher« genannt (H 853), einigen arabischen Jungen wird »mit dem Verlust des Jenseits« gedroht (H 915), und der Vater der Ich-Erzählerin wird als lausbübischer »Till Eulenspiegel von Elberfeld« (H 874) in Erinnerung gerufen. Das Kaleidoskop der Selbstentwürfe und imaginären Welten, das hier entsteht, schließt sich jedoch nicht zu einem ganzheitlichen Lebensrück216

Auch vom »Josephrock« (H 8 6 1 ) ist noch einmal die Rede im Zusammenhang mit einem Diebstahl, der die in Palästina Ankommende aller Habseligkeiten und Kleider beraubt (H 858—861) — offensichtlich eine Anspielung auf die Trennung von Körper und Kleid in der Josephsgeschichte, die im >Prinz von Theben< zentrales Strukturelement ist.

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blick zusammen, 2 1 7 sondern läßt ausdrücklich die Brüche und Nahtstellen seiner Elemente unverfugt. Wenn das >Hebräerland< als Bilanz des bisherigen Lebenswerks seiner Autorin gelesen werden kann, so nicht in dem Sinne, daß dessen Ambivalenzen und Widersprüche nun aus neugewonnener souveräner Perspektive harmonisiert würden. Allerdings wird das Ich, wie auch in den MalikTexten, zu einer Totalität in Beziehung gesetzt, die durchaus emphatisch mit dem Begriff der Schöpfung bezeichnet ist. In der Zusammenschau der Selbst-Zitate bezieht dieser sich sowohl auf das eigene künstlerische Schaffen in seiner Gesamtheit wie auch — durch den Bezug auf das Hebräerland als Land Gottes und paradigmatisches Schöpfungsereignis — auf den göttlichen Schöpfer der Welt. 2 1 8 Die Parallelfuhrung von Werk und Welt, Dichtung und Schöpfung, Autor-Ich und Schöpfer-Gott erschöpft sich dabei nicht in einer Relationierung dieser Pole im Sinne von Vergleich oder Nachahmung. Das Ich dichtet nicht allein »nach Gottes Beispiel« (H 899), vielmehr wird es selbst in die göttliche Position des Weltenbauers gerückt. So wird ihm eine Verantwortung für die Schöpfung auferlegt, die über die Darstellung, Verherrlichung und Pflege eines von Gott Gegebenen hinausweist. Was einerseits als »größenwahnsinniges« ästhetisches Projekt erscheint, 219 birgt somit andererseits Ansätze zu einer Ethik, die ohne die Kategorien der Angemessenheit und Gerechtigkeit der Darstellung in bezug auf eine ihr vorgängige Welt auskommen muß. Diese Problematik betrifft nicht nur den Entwurf einer realen oder idealen Welt, sondern ebenso die Möglichkeit des schreibenden Ich, sich selbst im Verhältnis zur Welt und zu anderen zu konstituieren. Im folgenden soll untersucht werden, auf welche Weise der Text seine eigene Konstruktivität sowie die seiner einzelnen Bausteine exponiert, ohne auf eine konstruierende und ordnende Instanz der Narration zurückgreifen zu können. Bereits ein erster Blick auf das Schreibverfahren des Buches macht deutlich, daß hier heterogene Elemente unterschiedlichster Provenienz und Stillage in immer neue Nachbarschaften treten und so 217

218

2,9

Dies suggeriert die Lektüre von Silvia Schlenstedt: Das Hebräerland - der Dichterin Palästina-Projekt neu gelesen, in: Deine Sehnsucht war die Schlange, Else Lasker-Schüler Almanach, Bd. 3, hg. v. Anne Linsel und Peter von Matt, Wuppertal 1997, S. 1 2 3 1 5 2 . Mit dem Palästinabuch werde das »ganze Dasein der Dichterin aufgerufen«, ihre »dichterische Existenz in toto in die Waagschale geworfen«. Dadurch schaffe das >Hebräerland< ein »Selbstbild der Dichterin«. Vgl. H 8 1 1 . Die Dichterin habe, so heißt es hier, mit ihren >Hebräischen Balladen< »zum Aufbau Palästinas beigetragen« und sei daher »nicht untätig am Gotteswerk gewesen«. Das schreibende Ich reflektiert gelegentlich sogar selbst auf seine »größenwahnsinnigen Äußerungen«, vgl. etwa H 967.

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Begegnungen inszeniert werden, die über die Handlungsebene hinausgehend die Anordnung des Materials und den Selbstbezug des schreibenden Ich betreffen. Es ist daher zu fragen, inwieweit hier die in den bereits diskutierten Texten aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik unter den Bedingungen der Moderne aufgegriffen und ausgestaltet wird.

5 . 1 . Wunsch(t)räume: kritische Anmerkungen zur Rezeption Wie auch in früheren Texten, in denen die Räume der Handlung — sei es die Landschaft des >Hille-BuchsNächte< oder das Theben des >Malik< — auf ihre Grenzen und Konstitutionsbedingungen hin befragt werden, ist auch das >Hebräerland< wesentlich durch eine Raumkonzeption organisiert. Bereits der Titel deutet an, daß sich, stärker noch als bei den früheren Texträumen, der Bezug auf eine reale geographische Gegebenheit mit einem imaginären Raumentwurf verknüpft. Das Land der Hebräer ist natürlich zum einen Palästina, wie es im Text auch meist genannt wird, darüber hinaus ist es das Gelobte Land der Juden, auf das zionistische wie messianistische Erwartungen in unterschiedlicher Weise ausgerichtet sind. Es ist aber aber auch ein Textraum, der Raum derjenigen literarischen Imagination, die den Titel >Das Hebräerland< trägt. So bemerkt das Ich einmal, der Weg durch das »Hebräerland« (im Text in Anfuhrungszeichen) sei ihm schwer geworden, wobei sowohl die Reise wie auch der Schreibprozeß gemeint sind. (H 959) Die verschiedenen Raumfiktionen werden also auf eine Weise verflochten und ineinandergeblendet, daß die Frage nach Realität und Fiktion, Wunschprojektion oder Repräsentation in den Hintergrund tritt und stattdessen die Verfahren der Raumkonstitution erkennbar werden. Dies wird insbesondere durch das vielfältig variierte Bild vom »Bauplatz des Gelobten Landes« (H 924) deutlich, das Palästina als ein zu errichtendes, in unaufhörlichem Aufund Umbau befindliches Heimatland beschreibt. Ihm gerecht zu werden, bedeutet offensichtlich weder, ein verschüttetes, versteinertes Urbild göttlicher Schöpfung wiederauszugraben, noch das Bauprojekt auf klare Bauziele festzulegen. 220 Die Mühen derer, die sich an dem großen Bau beteiligen, indem sie Versteinerungen aufsprengen und zerstreute Steine zu neuen Einheiten fu220

Auch daß, wie Hessing schreibt, »der Wiederaufbau des Heiligen Landes durch das jüdische Volk im Dienste einer höheren Macht geschehe, in Befolgung eines göttlichen Auftrags«, läßt sich im Text so nicht belegen. Vgl. Hessing: Lasker-Schüler, S. 192.

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gen, werden durch kein vor Augen stehendes Idealbild einer (wieder) zu errichtenden Heimat belohnt. Die von ihnen gebaute Heimat ist vielmehr von den endlosen und mühevollen Konstruktionsprozessen nicht abzulösen. Selbst das göttliche Schöpfungswerk erscheint als unvollendetes, das gerade als solches die Menschen verpflichtet: Noch vor [sie!] der Schöpfung her liegt auf dem Bauplatz, auf Palästinas Boden, Urmörtel, wilder Schlamm, Erzlehm und Materienrest, in Felsspalten aber neues Material zu neuem Aufbau. Vergehen und neu entstehen soll immer wieder das Heilige Land. ( H 894)

Anstatt also den Bauprozeß durch eine klare Konzeption und Zielsetzung zu organisieren, geben sich die Hebräer einer, wie Buber formuliert hat, »bauenden Sehnsucht« hin. 221 Diese richtet sich nicht auf ein zu vollendendes Schöpfungswerk, sondern die Schöpfung wird selbst als werdende begriffen, in deren Prozeß der Bauende Gott begegnen könne: »Bauende Begier liegt darin, die nicht warten will, bis Gott den Anfang macht, sondern ahnt, sie werde mitten im Bauen des mitbauenden Gottes inne werden.« 222 In der Forschungsliteratur ist die Reflexion auf die Konstruktivität des Gelobten Landes sowie des Buches kaum wahrgenommen, der dominante Bildkomplex von der gebauten Schöpfung nicht näher betrachtet worden. 223 Stattdessen wurde immer wieder die These reformuliert, LaskerSchüler sei in Palästina mit der Wirklichkeit eines Exils konfrontiert worden, das sie zuvor in ihren orientalisierenden und auf biblische Motive zurückgreifenden Texten als utopische Gegenwelt imaginiert hatte. Auch wenn sich die Urteile darüber, wie sich diese Konfrontation von Traumwelt und Wirklichkeit im Text selbst niederschlage, unterscheiden, so sind die verschiedenen Lektüren gleichermaßen von der Uberzeugung getragen, daß es sich hier um zwei verschiedene Ebenen handelt, deren Aufeinandertreffen für die Autorin der >Nächte< oder des >Prinz von Theben< zum Problem werden mußte. Häufig steht dahinter die — von der in dieser 221 222 223

Buber: Der Heilige Weg, S. 1 1 0 . Ebda. Eine Ausnahme ist die Interpretation Iris Hermanns, die feststellt, das >Hebräerland< zeige »das Gemachtsein« des Buches. Indem sie dies jedoch mit dem Begriff des d o k u mentiertem gleichsetzt, den Aufenthaltscharakter des Hebräerlands anstatt - wie in der vorliegenden Argumentation — die endlose Dynamik seines Konstruktions/»Ozei.rdf hervorhebt, schreibt sie diejenigen Interpretationen fort, die in dem Buch den Versuch gesehen haben, eine Traum- oder Gegenwelt zu imaginieren. Ganz in diesem Sinne schreibt Hermann, das Buch kombiniere und verbinde heterogene Elemente und erreiche so noch einmal »eine Ganzheit im Schein und loser Verknüpfung [...], die außerhalb der Kunst nicht mehr möglich ist.« Hermann: Raum — Körper — Schrift, S. 1 9 1 — 196, (S. 192).

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Arbeit vorgeschlagenen Interpretation grundsätzlich abweichende — Auffassung, die in den frühen Texten entworfenen Räume des Orients oder Thebens seien als homogene ästhetische Raumentwürfe zu beschreiben. Die poetische Fiktion wird als eine Möglichkeit begriffen, die Rolle der Außenseiterin und Exilierten durch eine Art selbstbestimmter Exilierung zu transformieren. Die Monographie von Sonja Hedgepeth, die das Exil zum Angelpunkt der Text- (und Lebens-)Betrachtung macht, stellt sogar ein Zitat, in dem das schreibende Ich seine Heimatlosigkeit benennt, in den Titel. 2 2 4 »Überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus«, heißt es in >Ich räume auf!Exilische< in den Lasker-Schülerschen Texten lediglich als Reflex auf biographische oder gesellschaftliche Gegebenheiten begreifen und die Texte danach beurteilen, wie weit in ihnen die produktive Verarbeitung und Uberwindung solcher Ausgrenzungserfahrung gelungen ist, verfehlen deren genuin moderne Dimension. Diese manifestiert sich eben darin, daß das Spiel mit den »verschieden aufgefaßten Ichs«, wie es in >Mein Herz< heißt (MH 374), nicht zum Stillstand kommt, sondern immer wieder über einmal gefundene Wohnungen, Rahmungen oder Befestigungen hinaustreibt. 2 2 ' Erscheint dieses Textverfahren lediglich als Antwort auf soziale und kulturelle Ausgrenzungsmechanismen, so werden auch die Kontinuitäten, die sich zwischen frühen Prosatexten und dem >Hebräerland< nachweisen lassen, unkenntlich. A n die Stelle einer Untersuchung der literarischen Formen und Figuren tritt dann der Versuch, textexterne Kategorien an diesen heranzutragen. So hat die häufig unpräzise und undifferenzierte 224

225

Sonja Hedgepeth: »Überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus«. Exil im Werk Else Lasker-Schiilers, New York u.a. 1994. An anderer Stelle heißt es dort: »Ich bin ungebunden, überall liegt ein Wort von mir, von überall kam ein Wort von mir, ich empfing und kehrte ein, so war ich ja immer der regierende Prinz von Theben.« (MH 387) Das Ich wird hier als Schauplatz kontingenter Konstruktionen des Selbst präsentiert, deren Grenze gegenüber der Außenwelt nicht klar definiert ist, sondern die durch Gaben und Verausgabungen, Einkehr und Trennung in der Schwebe gehalten ist. Ausgerechnet den Prinz von Theben, der so häufig als Inbegriff der Lasker-Schülerschen Selbstbehauptung durch die Etablierung einer poetischen Ersatzwelt verstanden worden ist, identifiziert dieses Zitat mit einem unhintergehbaren Unbehaustsein in einer »Welt in Splittern)« und Bruchstücken, die sich zu keiner Einheit zusammenfugen lassen.

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Verwendung des Exilbegriffs in der Lasker-Schüler Forschung vielfach dazu geführt, daß das reale Exil, in dem die Autorin seit ihrer Flucht aus NaziDeutschland im Jahre 1933 lebte, unmittelbar mit dem Exil, in dem sie vorgeblich durch ihre poetischen Raumentwürfe Zuflucht suchte, kurzgeschlossen wurde. 226 Sigrid Bauschinger etwa schreibt, Lasker-Schüler sei schon immer Emigrantin gewesen, und so habe das äußere Exil nurmehr das innere bestätigt. 227 Auch in der Lektüre Hermanns wird die Opposition zwischen imaginiertem >anderen< Raum und wirklichem Exil betont, wenn es heißt: A m Ende ihres Lebens wird für Else Lasker-Schüler etwas »Wirklichkeit«, was sie zwar immer zu träumen wagte, aber nie vorher zu leben sich entschloß: Sie trifft in Palästina auf den zu realem Leben geronnenen Mythos vom »Gelobten Land« und muß damit zurecht kommen, daß der Traum auch im Wachzustand anzuhalten scheint. Ihre Reflexion über diese rücksichtslose Konfrontation mit dem nur zum Träumen Tauglichen ist das 1 9 3 7 erschienene Hebräerland,228

Hedgepeth behauptet, die Autorin habe Palästina als »ersehnte Heimat« betrachtet, deren Darstellung es ihr ermöglicht habe, »die Diskontinuität der Geschichte zu überbrücken«. Im Exil habe sie sich in die Traumwelt und »den Mythos, den sie um sich geschaffen hatte, weiter hineinsteigern« können. 229 Stephanie Bettina Heck liest das >Hebräerland< als prophetisch-messianische Utopie einer gottgefälligen Welt, in der das Miteinander der Religionen realisiert sei. 230 Auch Silvia Schlenstedt sieht in ihm ein religiös überhöhtes »Gegenbild« 231 zu einer Wirklichkeit gestaltet, die von Haß, Krieg und Verfolgung geprägt war. Das »Streben nach Toleranz, Verständigung und Versöhnung« sei das vorrangige Movens dieses poetisch-utopischen Entwurfs einer besseren Welt. 232 Alfred Bodenheimer, der sich dem >Hebräerland< ausfuhrlich widmet, findet zu der eigentümli226

227 228 229 230 231 232

Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz: Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schülers Hebräerland, in: Jahrbuch für Exilforschung 16 (1998), S. 105 — 126. Zu einer Auseinandersetzung mit politischen, existentialistischen und literarischen Konzepten des Exils vgl. Elisabeth Bronfen: Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität, in: Arcadia 28 (1993), S. 1 6 7 - 1 8 3 . Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 273. Hermann: Raum — Körper - Schrift, S. 1 9 1 . Hegdepeth: »Überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus«, S. 142. Heck: Prophetie, S. 97, 103, 1 1 4 . Schlenstedt: Das Hebräerland, S. 1 2 7 . Ebda., S. 1 2 7 , 129. Auch Schlenstedt wiederholt die These, die sich formelhaft durch die Forschungsliteratur zieht, daß Lasker-Schüler »in jenes Land [gekommen sei], das seit Jahrzehnten der vornehmliche Raum poetischer Projektionen war, [...] vom Aktuellen und Realen der deutschen Umwelt abgehoben und ihr gegenübergestellt wurde. Daher bedeutete die Reise in unbekannte Länder zugleich Reise in eine vertraute Welt«. (Ebda., S. 124.)

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chen Formulierung, Lasker-Schülers Exil sei durch ihren Aufenthalt in Palästina >zugleich aufgehoben wie verdoppele worden. 233 Seine abschließende These, daß die »Heimkehr« nach Jerusalem — Lasker-Schülers letzter Station im Exil, wo sie 1945 starb - gescheitert sei, leitet sich unmittelbar aus der Gleichsetzung von literarisch imaginierten Räumen und Heimatkonstruktion ab. Ohne die Begriffe Heimat oder Exil näher zu erläutern, stellt Bodenheimer fest, daß die Raumentwürfe der frühen und mittleren Schaffensphase — die Räume der Kindheit, des Orients oder Thebens — als produktive Verarbeitung einer Exilerfahrung zu werten seien. Demgegenüber habe die literarische Imagination angesichts des realen >anderen RaumesHebräerlandsgetreue< Schilderung ist demnach keineswegs unmöglich oder überflüssig, wie Bodenheimer suggeriert, weil das Land gleichsam selbst spreche und in dieser Authentizität und Unmittelbarkeit durch keine literarische Darstellung überboten werden könne. Die sprechende, offenbarende Instanz sowie der Inhalt dieser Offenbarung bleiben vielmehr durchaus ungewiß. Deutlich scheint hingegen, daß die einzige Möglichkeit, der Besonderheit dieses Landes gerecht zu werden, darin besteht, es im Bezug zu einem Anderen, »zweiten«, aufscheinen zu lassen. Inwiefern dieser OffenbarungsbegrifF mit einem Ethik und Ästhetik eng zusammenschließenden Schreibverfahren in Zusammenhang gebracht werden kann, wird im folgenden noch genauer diskutiert. Im Blick auf die Formulierung Bodenheimers ist zunächst festzuhalten, daß dort offenbar eine zionistische Perspektive die Perspektive auf den 233

234

235

Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat. Else Lasker-Schülers Emigration in Palästina, Tübingen 1995, S. 17. Ebda., S. 48. Dort heißt es auch: »Die Plastizität des realen Orient läßt das Kreieren eines metaphorischen nicht mehr zu.« Vgl. auch ebda., S. 1 1 9 , wo von den »unzerstörbaren Orten der Kindheit« die Rede ist, die erst im Exil unsicher würden, sowie S. 1 3 0 , wo behauptet wird, »Heimat und Dasein« ließen sich infolge der Exilerfahrung nicht mehr zur Deckung bringen. Zudem wird in dieser Passage ein weiteres Buch angeführt, das das Erlebnis Palästinas vorprägt, wodurch es von vornherein als eine Erfahrung von textueller Repräsentation und nicht von authentischer Präsenz faßt: »wir kennen es ja alle schon von der kleinen Schulbibel her. [ . . . ] Palästina ist das Land des Gottesbuchs«. (H 788)

473

Text präformiert. So wird vorausgesetzt, daß Palästina fur die Reisende Heimat hat bedeuten müssen, wodurch die Möglichkeit seiner literarischen Gestaltung darauf reduziert wird, ob sie es als solche annimmt oder verweigert. Obgleich Jakob Hessing zu einem genau entgegengesetzten Urteil kommt, setzt doch auch seine Lektüre des >Hebräerlandes< eine zionistische Tendenz mehr voraus, als daß diese im Text nachgewiesen würde. Hessing stellt die in den Texten inszenierte Heimatlosigkeit in die Tradition des jüdischen Galuth oder des Mythos vom nomadisierenden Ahasver. Seiner Überzeugung zufolge zeichnet sich in dem letzten, im Exil entstanden Prosabuch der Flucht-Punkt dieses Lebens-Werks ab: Erlösung vom Exil kann nur die jüdische Heimstatt Palästina bringen, im zionistischen Bekenntnis finden Entfremdung und Exilierung ihre Aufhebung. Begriffe wie »Selbstverwirklichung«, »Versöhnung«, »Einfalt«, »organische Mitte« und »Heimkehr« deuten auf die Zielgerade, auf der Hessing das Exilwerk Lasker-Schülers verortet. 236 »Im Hebräerland, angesichts der erhofften Heimat, gewinnt ihre auseinanderfallende Welt jetzt die metaphysische Bindung zurück«, formuliert er und resümiert: »Wegen ihres Judentums ist sie zu einer Verscheuchten geworden, und aus ihrem Judentum sucht sie nun den Himmel wieder zu errichten, den sie zu verlieren droht.« 2 3 7 Suggeriert diese Interpretation letztlich eine harmonische Verschmelzung von Dichtung und (zionistischer) Wirklichkeit, so heben andere gerade hervor, daß das Buch jeden Realitätsbezug verweigere. Seiner Autorin wird vorgeworfen, weder auf die problematischen politischen Zustände in Palästina einzugehen, noch die Situation zu thematisieren, die das eigene Exil erzwungen hatte: Die nationalsozialistische Barbarei wird in diesem Buch nirgends explizit erwähnt. So hatte etwa Justin Steinfeld, Rezensent der von Bredel, Brecht und Feuchtwanger herausgegebenen Exilzeitung >Das WortMein HerzUrgrund des SeinsDas Hebräerland< zwischen Stein und Stein einen geebneten W e g . « ( H 9 5 9 ) D e r W e g entspricht also nicht d e m fortschreitenden Z u s a m m e n f u g e n von (Text-)Bausteinen zu Sinneinheiten. Er wird als bahnende B e w e g u n g beschrieben, durch die der R a u m nicht nur beschritten und beschrieben, sondern eröffnet wird. D e n n die B a h n u n g markiert die Grenze desjenigen Raumes, dessen Darstellung der Titel des Buches verspricht. D i e enge Z u s a m m e n f u h r u n g von Schrift und W e g , die LaskerSchülers letztes Prosabuch vorfuhrt, deutet auf eben jene >andere TopikHebräerlandes< m i t einigen Formulierungen feststellen, die Derrida g e f u n d e n hat, u m das Freudsche K o n z e p t der B a h n u n g nachzuzeichnen. 2 4 2 Ü b e r die »Kraft der Schrift als >BahnungHebräerland< ist von derart abrupten Abrissen und Diskontinuitäten geprägt. So gibt es in Palästina Straßen, wie die, »die der edle Jude mit seinen Jüngern erstieg«: »Unten in der vorweltlichen Schlucht versteinter Rachen reißt sie sich ab zur Höhe fahrend, in die Heilige Stadt.« (H 795) Nachdem der Wagen der Erzählerin fast »bis unten in die Tiefe« geweht wurde, findet sie sich plötzlich »mitten in Jerusalem«. Die différentielle Bewegung der Himmelfahrt, die gewohnte Raumdimensionen sprengt, ist dem Weg des Ich somit eingeschrieben. Wenn der dekonstruktiven Freud-Lektüre Derridas zufolge die »Zwischenräumlichkeit« oder »Verräumlichung als Differenz« den Raum der Schrift charakterisiert, 245 so kann Lasker-Schülers >Hebräerland< als konsequente Inszenierung eines solchen Schriftbegriffs gelesen werden. Wie auch in früheren Texten ist der souveräne (heilige) Ort, der hier der des nach göttlichem Vorbild schöpfenden Ich ist, zugleich der atopische Ort, an dem der beschriebene Raum auf sein Anderes geöffnet wird. Anders als in vielen der analysierten Texte der >Nächte< oder des >Prinz von Theben< jedoch wird die Bewegung der Bahnung hier ausdrücklich zum Strukturprinzip des gesamten Textes. Wie gezeigt, werden bereits in den orientalisierenden Texten Schriftszenen - in den Konstellationen der Körperritzungen, Pyramideninschriften oder Insektenstiche — beschrieben, die ebenfalls die Schrift als bahnende, in die Materie einschneidende, sie zerteilende, kennzeichnen. In den Texten um die Figur des Malik waren es analog Bilder des den Körper durchbohrenden Schmucks oder solche, in denen der souveräne Herrscher in den von ihm selbst verdeckten Hohlraum stürzt, in denen im Innern der repräsentativen Funktion des (Schrift-)Zeichens der Abgrund der Repräsentation, die nicht-repräsentierbare Bahnung, sich abzeichnete. Im >Hebräerland< nun wird dieser >andere Raum der SchriftHebräerland< Durchquerende ausgesetzt ist, spiegeln sich auch in der Reflexion auf den göttlichen Schöpfungsprozeß. So heißt es: »Von Jerusalems heiligen Felsen brach der Schöpfer den Stein zum Bau der Welten.« (H 897) 248 Seine herausragende Position in bezug auf alle zu bauenden Welten gewinnt die Heilige Stadt demnach nicht dadurch, daß auf seinen Fels gebaut wird, sondern indem dieser gespalten wird. Jerusalem ist das geheiligte Zentrum der Schöpfung, emporgehobenes Ur- und Vorbild aller Städte. Zugleich aber ist es zerteilt und nur in Zwischen- und Grenzräumen zu finden: Uberall hängt noch ein Fetzen Jerusalem. Oft dort, wo man es zu finden nicht erwartet — zwischen faltigen, grämlichen, müde gearbeiteten Händen einer Mutter, oder am Felsrücken eines verwüsteten Landes. Uberall, gibst du obacht, rollt ein Steinchen an dir vorbei, vorsintflutlicher Pyramide Jerusalems; du stolperst ja über seine Kante ahnunglos auf deinen Wegen. Jeder Friedhofgarten ist ein Stück vom Herzen des Gelobten Landes [...]. (H 9Ó3) 249

Hier wird der Grenzgang desjenigen, der mit Jerusalem in Berührung kommt, als stolpernde, das lineare Fortkommen unterbrechende Bewegung wiederum reflektiert. Ein anderes Zitat nimmt auf den jüdischen Brauch, in jedes Grab eines Gestorbenen Erde aus dem Gelobten Land zu werfen, Bezug. Das Bild des über die ganze Welt zerstreuten Jerusalemer Bodens wird damit noch einmal bekräftigt: »Der alte Friedhof, auf dem meine Eltern schlummern [...], ist Erde von Jerusalemerde, vom Erdfleisch des Gelobten Bodens. Jerusalem ist überall zwischen uns Menschen im Leben und im Tod.« (H 876f.) 25 ° Nicht die Omnipräsenz des heiligen Bodens, auf dem sich die Juden zusammenfinden, bestimmt hier die Begegnung. Die zerstreuten Bruchstücke Palästinas und seiner Heiligen Stadt treten vielmehr zwischen ihren Mitgliedern hervor und markieren damit eine Gemeinschaft, die eine irreduzible Differenz zwischen Mensch und Mensch wahrt. Sie konstituiert

248

249

250

verfolgt: »Es wird gesprengt! Wir Passanten warten geduldig auf den Donner der auseinandersichspaltenden Steinwände.« (H 832) Vgl. auch H 824: »Ich bin auf dem Bibelstern gewesen, von dem Gott den nackten Stein brach, zu bauen alle anderen Welten.« Vgl. auch die Episode >Paradiese< aus dem Essayband >KonzertPlatz macht< »für den Bau der Welt« (H 928), wie Lasker-Schüler in Anlehnung an ein zentrales Motiv der Lurianischen Kabbala betont. 2 5 1 Die Vorstellung, daß Gott sich zusammenzieht (Zimzum), um die Welt entstehen zu lassen, 2 ' 2 unterscheidet sich grundlegend von der Schöpfungsszene der Genesis, in der Gott Ursprung und Urheber alles Geschaffenen ist. Anstelle einer ursprünglichen Einheit in Gott, die erst durch den Sündenfall der Menschen eine Spaltung erfährt, wird hier der Ursprung selbst bereits als in sich geteilter imaginiert. Die Welt entsteht durch Gott und zugleich, wo Gott nicht ist. Der himmlische Ort umfaßt den eigenen nicht, indem er ihm eine metaphysische Heimat stiftete. Läßt er sich nicht als Jenseits begreifen, so ist die Begegnung mit ihm insofern eine innerweltliche Möglichkeit, als sie sich in den Zwischenräumen, also an den Grenzen einer räumlich strukturierten Ordnung ereignen kann. Wenn, wie es einmal heißt, dem Dichter vergönnt ist, »Gott zu berühren« (H 928), so verdankt sich dies seiner Fähigkeit, sich in jenen »Zeitspalt« (H 922) zu versetzen, sich — nach dem göttlichen Vorbild den Zwischenräumen auszusetzen. Der einzige Ort, der mit dem ansonsten ständig in Bewegung befindlichen, sich nirgends einrichtenden Ich 2 5 3 assoziiert wird, ist der eines Geiernests »hoch über Jerusalems Fels«. (H 967) Der Geier erscheint als eine Art Wappentier des Hebräerlandes, das die Besucherin begrüßt, begleitet und verabschiedet. Auch er bewegt sich nicht kontinuierlich fort, sondern steigt und fällt abrupt in größte Höhen und Tiefen. »Aus der Höhe Jerusalems stürzt der Geier und ordnet sein Gefieder, bevor er sich in einer Grube niederläßt«. (H 787) Mit diesem Satz hebt das >Hebräerland< an, und auch am Schluß taucht noch einmal ein Riesengeier auf, der auf das Schiff, auf dem die Erzählerin Palästina verläßt, zufliegt, dann aber 2,1

252 2,3

Luria wird einige Male explizit erwähnt: »Unser großer Lurja lehrte: >Gott zog sich zusammen, um Platz für die Welt zu schaffen.< Er meinte fur den Bau der Welt.« (H 928; vgl. ähnlich auch H 922) Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. ηη{. Vgl. Η 871: »Nie ruhte mein Leib und meine Seele, seitdem ich ohne Elternhaus ein Mietsgast im fremden Steinbau. Darum habe ich es schließlich vorgezogen, in die Freiheit zu ziehen, die ist wenigstens geschmackvoll tapeziert. Doch nicht jeder Mensch behauptet sich ohne Mantel. Das hat die Dichterin voraus.«

479

»jäh seinen Kurs« ändert. (H 9 7 1 ) Die geheime Nähe von Geier und IchErzählerin, die immer wieder angedeutet wird, findet in der Erwähnung des Nestbaus ihren deutlichsten Ausdruck. Das Nest in den Lüften bezeichnet einen Ort zwischen Erde und Himmel, an dem jedoch diese beiden Pole nicht vermittelt werden. Der Bezug auf den Geier deutet vielmehr an, daß dieses Nest die doppelte Bewegung von Absturz und Aufstieg als Konstellation der Diskontinuität und Differenz in sich birgt. Das Bild vom Vogelnest findet sich auch im Sohar, dem zweiten wichtigen Buch kabbalistischer Lehre, das Lasker-Schüler erklärtermaßen gekannt hat. (H 9 9 1 ) Dort wird es als Ort des Messias genannt. 2 5 4 So setzt sich das schreibende Ich nicht nur — durch mehrfache Hinweise auf eine »Himmelfahrt« — mit der Ubergangsfigur Christus, 2 5 5 sondern auch mit der jüdisch-messianischen Erlöserfigur in Beziehung. Wie deren Ort ist auch der ihre nicht in räumlichen und zeitlichen Koordinaten zu bestimmen. Als privilegierter Ort des Uberblicks und der Gottesnähe ist er zugleich der Ort der Leere und des unüberbrückbaren Abgrundes, dem sich das Ich, das seiner Verantwortung gegenüber der Schöpfung gerecht werden will, aussetzen muß: [ . . . ] e i n e D i c h t e r i n m u ß t e k o m m e n , d a s g e b e n e d e i t e L a n d z u feiern. N u r d e r d i c h t e n d e M e n s c h , d e r sich bis a u f den G r u n d d e r W e l t V e r s e n k e n d e , z u g l e i cher Z e i t sich z u m H i m m e l Emporrichtende, erfaßt, inspiriert v o n begnadeter P e r s p e k t i v e a u s , P a l ä s t i n a , das H e b r ä e r l a n d ! U n d t e i l t m i t d e m H e r r n d i e V e r antwortung Seiner Lieblingsschöpfung. ( H

793)

Wird der Geier zumeist als Teil der göttlichen Schöpfung beschrieben, so erscheint er einmal auch als »Exlibris« des Buches, das >Hebräerland< genannt wird. Sein Ort »in den ewigen Lüften« wird dadurch mit dem Rand des Buches, in den sich der Besitzer oder die Besitzerin einträgt, identifiziert. Ist dieser Ort zugleich der des schreibenden Ich, so wird deutlich, daß die Funktion der Signatur, das Werk in seiner Gesamtheit zu bezeichnen und einem Autor-Schöpfer zuzuordnen, in Frage gestellt wird. Der Geier steht, wie das Bild von dem aufgehaltenen Sturzflug zeigt, 254

V g l . hierzu Buber: Der Heilige Weg, S. 1 0 8 . Encyclopaedia Judaica, Bd. 1 6 , Sp. 2 3 2 Í Der Artikel >Vultures< erwähnt auch zwei Bibelstellen, die als Vorlage fur die Ausgestaltung des Geiernests im >Hebräerland< durchaus in Frage kommen, wenngleich die meisten Bibelübersetzungen von einem Adler sprechen. V g l . Hiob 3 9 , 2 8 - 3 0 ; J e r 4 9 , i 6 f . : »Daß die andern dich fürchten, hat dich verführt, und dein Herz ist hochmütig, weil d u in Felsenklüften wohnst und hohe Gebirge innehast. W e n n du auch dein Nest so hoch machtest wie der Adler, dennoch will ich dich von dort herunterstürzen, spricht der Herr.«

2,5

V g l . etwa H 8 3 7 : »Später erzählten m i r meine neuen Freunde, ich habe auf der >kleinen Insel< gestanden [ . . . ] und sei — zum H i m m e l aufgefahren.«

480

für das A u f b r e c h e n des räumlich gedachten S y m b o l z u s a m m e n h a n g s , das seinerseits als V e r r ä u m l i c h u n g erscheint:

»Feder auf Feder« seines

Ge-

wandes betrachtet und glättet er »sorgfältig, als gehe es z u m F e s t f l u g « . ( H 7 8 7 ) In dieser aufschiebenden G e s t e des sich Bereitmachens für eine außer-ordentliche B e g e g n u n g oder Inszenierung läßt sich auch ein H i n weis auf das Textverfahren des >Hebräerlands< lesen. Erzählt w i r d nicht aus einer überlegen-auktorialen Perspektive, eher w i r d ein R a u m eröffnet, in d e m unerwartete B e g e g n u n g e n stattfinden können u n d in d e m verschiedene S t i m m e n hörbar werden, die sich nicht auf einen gemeinsamen H o r i zont hin ausrichten l a s s e n . 2 5 6 D i e >Bauweise< des >Hebräerlands< läßt sich a m besten als monadische beschreiben, insofern seine einzelnen Bausteine u n d Elemente in ihrer differentiellen Struktur jeweils das G a n z e wiederholen. Differenz und U n v e r mittelbarkeit treten dabei — anders als in d e m Leibnizschen M o n a d e n m o dell

-

nicht

nur

zwischen

in

sich

abgeschlossenen

Makro-

und

M i k r o w e i t e n zutage, sondern bestimmen das Konstruktionsprinzip jeder dieser W e l t e n . 2 5 7 Spiegeln sie die S c h ö p f u n g in ihrer G e s a m t h e i t und deuten d a m i t i m m e r wieder auf die Instanz des Schöpfer-Gottes, so handelt es sich doch nicht u m eine A n a l o g i s i e r u n g , die auf einem ursprünglichen Identitätsprinzip beruhte. A n s t a t t daß die Differenz der einzelnen B r u c h stücke letztlich doch der Identität einer Schöpfiings-Totalität untergeordnet w ü r d e , w i e es sich bei Leibniz beobachten l ä ß t , 2 5 8 w i r d die S c h ö p f u n g 256

257

258

Das Buch ist damit dialogisch im Sinne Bachtins konzipiert, vgl. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 2i8f., 240. Die Rolle der Signatur wird im Text noch in einer anderen Episode reflektiert, wo die Ich-Erzählerin das Poesiealbum eines Kindes findet, in das nicht nur die Besitzerin selbst, sondern auch eine Reihe von Freunden Verse und Texte eingetragen haben. Im Gegensatz zu Iris Hermann, die in ihrer Lasker-Schüler Lektüre ebenfalls auf den Monadenbegriff Bezug nimmt, wird hier gleichsam eine moderne Variante des Monadenbegriffs in Anschlag gebracht, die sich von dem Leibnizschen Konzept in wesentlichen Aspekten unterscheidet. (Vgl. Hermann: Raum - Körper - Schrift, S. 154.) In dieser Perspektive konzipiert die Lasker-Schülersche >Monadologie< nicht, wie Hermann schreibt, »das Repräsentierte als in der Repräsentation anwesend«, sondern reflektiert jeweils auf den Moment, an dem die Repräsentation als unhintergehbare Weise des Bezugs zur Welt erkennbar wird, die keine Existenz außerhalb dieser verdoppelnden, sie wiederholenden und damit Präsenz und Originalität immer schon verfehlenden Geste hat. Vgl. hierzu Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 7 3 - 7 6 . In einer vergleichenden Analyse von Leibniz und Hegel stellt Deleuze hier u.a. fest: »in letzter Instanz befreit sich die unendliche Repräsentation nicht vom Identitätsprinzip als Voraussetzung der Repräsentation. Darum unterliegt sie weiterhin der Bedingung der Konvergenz der Reihen bei Leibniz, unterliegt sie weiterhin der Bedingung der monozentrischen Anordnung der Kreise bei Hegel. Die unendliche Repräsentation macht einen Grund geltend.« Vgl. auch Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 127, wo es zu Leibniz heißt: »Als Spiegelung der raumzeitlichen Totalität ist jede Substanz selbst >comme un monde entier et comme un

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als differenzieller Prozeß gefaßt. Die Spiegelungen und Analogien bringen keine allen Formen gemeinsame Stabilität und Harmonie zum Vorschein, sondern offenbaren vielmehr gerade die Instabilität und Verletztlichkeit einer Schöpfung, deren Ursprungsakt Hervorbringung und Teilung in einem ist. Dies macht eine Textpassage deutlich, in der gleichnishaft von einer Dichterin die Rede ist, die in einem Tropfen Quellwasser »die ganze Schöpfung« widergespiegelt sieht: »der Schöpfer Selbst«. (H 835Í.) In diesem Erkennen erschöpft sich die Begegnung der Dichterin mit dem Schöpfungsganzen jedoch nicht, vielmehr spinnt sie aus dem »roten Fäden ihres durchsichtigen klaren Herzens einen Kelch«, in den sie »die bebende Ewigkeit« des Tropfens hineinlegt. (H 836) Das Verhältnis zwischen ihr und dem geschauten Gott, zwischen ihrem Körper und dem >bebenden< Körper Gottes oder der Welt läßt sich damit nicht als bloße Entsprechung fassen. Im Bild des im Körper geborgenen Weltganzen deutet sich vielmehr eine Verdoppelung an, durch die das Ganze geschützt und gehalten wird. So wird zugleich deutlich, daß dieses nicht losgelöst von dieser schützenden Umhüllung, diesem Supplement, gedacht werden kann. »Zwischen den gesponnenen Wänden« des auf Gott hin geöffneten, für seinen Empfang bereiteten Herzens, wird der »Schöpfer Selbst« gehalten, womit auch sein Ort gleich dem des Geier-Messias als zwischenräumlicher beschrieben ist. Entsprechend diesem Monaden-Modell erscheint auch Palästina, das Hebräerland, als Zwischenraum, der sich keinem universalen Raumkonzept einfügen oder vergleichen läßt. Palästina, der »Bibelstern«, ist »anders«, ohne daß es in seiner Differenz gegenüber Orten, von denen es sich abhebt, genau beschrieben werden könnte: »>Wie ist es in Palästina? < >Anders, meine Lieben!< antworte ich. >Ganz anders wie in allen anderen Ländern unserer Erdteile. [...] Denn Palästina ist nicht von dieser Welt!«. (H 89Ó)259 Das beschriebene Land läßt sich mit keinem anderen Land vergleichen, da es, wie es heißt, »nicht zeitlich und räumlich zu messen« sei. (H 793) Es »grenzt schon ans Jenseits« und erscheint somit immer wieder als Schwelle zwischen Erde und Himmel, zwischen Diesseits und

miroir de Dieu ou bien de tout l'univers ...Anders als in einem Lande dieser Welt.spiritistische< Sitzungen und ihre Medien« (H 922) herbeifuhren. Palästina ist ein heterotopischer Raum, der nur erfahren und >bereist< werden kann, wo der Mensch die Grenzen der Symbolwelt überschreitet, innerhalb derer er Heimat finden könnte. Das aber bedeutet, daß sich die Begegnung mit diesem Land nur unvermittelt, ohne Medien, herstellt und daß das Ich sich zu ihm in kein klar bestimmbares Verhältnis setzen kann. Wenn diese Begegnung mit dem Begriff der Offenbarung oder auch der Inspiration beschrieben wird, 2 0 1 so bedeutet das doch nicht, daß hier auf eine authentische religiöse oder schöpferische Erfahrung rekurriert würde. Indem vielmehr der Ort sowohl des Schöpfer-Gottes wie der des Künstlers selbst nur als heterotopischer, sich in einer differenziellen Bewegung manifestierender, erscheint, wird das »Andere«, das das Hebräerland chiffriert, als Differenz im Eigenen, als verräumlichter Ursprung, markiert. 262 260

261 262

Vgl. H 901: »Palästina, als Vorbimmel des Himmels gedacht, als Grenze zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit, steht schon im Zeichen des Raum- und Zeitlosen.« Vgl. Κ 628: »Diesen Zustand nennt man: Inspiration: Platzmachen für Gott!« Diese Vorstellung, die in dem Exildrama >lchundlch< bereits im Titel reflektiert wird, der gleichsam das Ich als durch Verdopplung verräumlichtes präsentiert, reflektieren auch einige der in dem Band >Konzert< versammelten Aufsätze, die den Szenen des >Hebräerlandes< vielfach verwandt sind. Vom »Wunder der Erleuchtung« ist dort etwa die Rede, die den einer »Vertiefung Leben« sich aussetzenden Dichter befähige, »zwischen den Weiten der Welt« ein noch lebendiges Stück Schöpfung zu finden und zu bergen. (K 779) Rede und Begegnung mit Gott ereignen in der Rückwendung auf das Eigene, die dieses nicht als Identisches, sondern verdoppelt-verräumlichtes, antrifft: »Jedes wahre Gebet ist eine Konzentration.. .Ich und Ich.« (K 783) »Und so drängt es den Menschen, sich immer zu teilen, um sich wiederzufinden.« (H 780)

483

5-3- Im Zeitspalt: Überstürzung und Dehnung der Zeit Das Hebräerland entfaltet sich nicht allein in einer Zwischenräumlichkeit, es ist zugleich, wie einige der bereits zitierten Passagen andeuten, auch zeitlich nicht zu messen. (H 793) So erlebt die Ich-Erzählerin nicht nur, daß Straßen abrupt abbrechen und zur Höhe fahren, sie findet sich auch einer radikal diskontinuierlichen Zeitlichkeit ausgesetzt. Mehrmals wird etwa der Wechsel von Tag und Nacht thematisiert: »In Palästina gibt es keine Dämmerung. Also vom Ursprung der Welt her keinen Einbruch bleischwer in den lichten Tag.« (H 8 1 3 ) Mit »zauberhafter Schnelligkeit«, plötzlich und ohne jeden Übergang, so wird behauptet, »wechselt das Hell des Tages mit dem Dunkel der Nacht.« 263 Und es wird hinzugefügt: »die Schwermut der Dichter und ihre Erdangst erzeugen andere Ursachen als das schleichende Erbleichen des Tageslichts.« (Ebda.) 204 Die Differenz von Tag und Nacht reflektiert demnach nicht bloß eine Trennung, die das Irdische in seiner Entfernung von einem Ursprung kennzeichnet, in der jede Dualität und Differenz aufgehoben wäre. Die Melancholie läßt sich daher, sofern sie überhaupt noch als die künstlerische Haltung par excellence identifiziert werden kann, nicht mehr als Sehnsucht nach einem Verlorenen oder Entzogenen im romantischen Sinne übersetzen. Anstatt daß der allmähliche Übergang von Licht und Dunkelheit Wehmut angesichts des Scheidenden und hoffnungsvolle Erwartung in bezug auf ein Kommendes hervorriefe, ist das Subjekt, das diese zeitlichen Projektionen vollzieht, selbst dem Wechsel der unverbundenen Gegensätze ausgesetzt. So kann es keine Distanz zu der sich verändernden Natur herstellen und sich selbst und die Phänomene nicht als einer allmählichen zeitlichen Veränderung unterworfene wahrnehmen. Vielmehr befindet es sich in einem Zustand des »Zeitspalts« (H 922), wie jener aus der linearen Zeit herausgesprengte Moment genannt wird. 205 Mehrmals fällt die Ich-Erzählerin regelrecht aus der Zeit hinaus, etwa wenn sie den rituellen Ablauf eines religiösen Mahls, zu dem man sie geladen hat, stört, indem ein ihm nicht zugehöriges Gebet aus ihr heraus2&i

Auch hier werden reale Erlebnisse der Palästina-Reisenden ausgestaltet, denn tatsächlich sind die Übergänge zwischen Tag und Nacht in dieser Region weniger allmählich als in Europa. Daß es fur dieses Phänomen wie für die Tatsache, daß die Mondsichel gekippt erscheint, auch eine wissenschaftliche Erklärung gibt, wird im Text durchaus reflektiert: » Wagerecht fahrt die Mondsichel in Palästina am Rand des Himmels entlang. Ihr horizontales Vorwärtsbewegen habe geographische Ursache, die den Sternographen zu ergründen sicherlich mehr interessiere als eine Dichterin.« (H 8 1 3 )

264

Vgl. auch die fast wörtliche Wiederholung dieser Passage H 920. In dem mit dem Nachlaß publizierten Fragment eines zweiten Buches über Palästina mit dem Titel >Auf der Galiläa< wird zudem ein »Gesicht« — Offenbarungs- und Inspira-

265

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bricht: »Das ehrfurchtigste Gebet der Juden, das >Schmah< — wohlwissend dem Tische des Schabbatts nicht einverleibt — stürzte plötzlich und schäumte in hohen Intervallen über die Düne meines Mundes, aus seinem Bett getretener Strom.« (H 835) 2 0 6 Gerade in dieser überstürzten und plötzlichen, die religiösen Regeln und Abläufe mißachtenden Äußerung setzt sich das Ich in einen Bezug zu Gott, der sich durch kein Glaubenssystem fassen läßt. Das bereits erwähnte Gleichnis vom Tropfen, in dem sich die Schöpfung bzw. der »Schöpfer Selbst« spiegelt, fuhrt die aus der Rolle Fallende zu ihrer Verteidigung an: Das »Schmäh« ist jener Tropfen »bebende Ewigkeit«, den sie im Kelch ihres Herzens birgt. In ihm ist die Begegnung mit Gott kristallisiert, die sich ereignet, wo die Betende aus allen religiösen Verbindlichkeiten herausgerissen ist. Dem Momenthaften des plötzlichen Ausbruchs entspricht andererseits die zerdehnte, ebenfalls nicht mehr meßbare Zeit. Erscheint die künstlerische Inspiration als plötzliches und unkalkulierbares Ereignis, so steht sie zugleich in Zusammenhang mit einer >Lähmung< oder >Verarmung< des Künstlers, wodurch eine ungewisse Zeitspanne zwischen Erleben und künstlerischer Gestaltung oder Wiedergabe tritt. Der »Zeitspalt«, in den der Künstler versetzt ist, wird dabei ganz analog der kabbalistischen Vorstellung des Zimzum beschrieben. Während am Ursprung der Schöpfung eine Kontraktion und damit Selbst-Teilung des Göttlichen, sein »Platzmachen fur die Welt« steht, wird nun der schöpferische Akt des Künstlers als »Platzmachen fur Gott« 2 0 7 gefaßt. Konzentration und Sammlung des Eigenen und der raumgebende Akt gegenüber einem nicht-vermittelbaren Anderen treten dabei jeweils in einer Figur zusammen. Fülle und Leere sind keine Gegenbegriffe, sondern markieren die ambivalente Position der Schöpferinstanz — die Position Gottes und ebenso des künstlerischen Menschen —, die nicht aus sich heraus, aus einer originären Quelle, hervorbringen kann, sondern die sich einem radikal Anderen aussetzen muß. Im >Hebräerland< wird in zwei Episoden ausführlich beschrieben, daß das Ich während seines Aufenthaltes im Land selbst nicht habe dichten können: Sich eine künstlerische Perspektive zu schaffen im Lande selbst zwischen ihm und sich, verhindern höhere Willen aus uns unbekannten Gründen. [ . . . ] Gelü-

366

267

tionserlebnis zugleich — der Dichterin geschildert. Dieses habe sich »Im anderen Zeitspalt der Welt«, »Im zeitlosen und raumlosen« ereignet. (NL 53) Vgl. auch H 898: »Die Künste beginnen zu prangen, die Talente regen sich in Palästina, schäumen über!« Wörtlich findet sich diese Formulierung einige Male im Essayband >KonzertVerarmen< und >Strömenauftauchen< zu lassen. (H 899) Allerdings ist diese Distanz nicht die Voraussetzung einer homogenen Erzählung eines in der Vergangenheit Erlebten, vielmehr überlagern sich aktuelle und vergangene Eindrücke: Schneebedeckte Berge, lauter Rigis, erheben sich hinter dem grünenden Wasser, aber in meinem Herzen überragt sie des Hebräerlandes erzalter Fels. Und ich vernehme durch das Klingen fröhlicher Jodlerstimmen himmlisch die lieben Kolonisten, aus ihrem Emek kommend, singen... (H 8 9 9 )

Zwischen dem »Tisch vor meines Zürcher Raums kleinem Fensterchen« (H 899), wo das Buch entsteht, und den vergangenen Reiseeindrücken klafft eine Lücke, die alle zeitlichen und räumlichen Bezüge in Frage stellt. Dies ist demnach nicht allein das Charakteristikum des bereisten und beschriebenen Hebräerlands. Der Ursprung des Schreibprozesses des >HebräerlandsHebräerland< nicht dazu, daß das Subjekt sich seiner Vernunft als einem der Natur überlegenen Prinzip innewürde. Vielmehr wird das erhabene Erlebnis, das bei Kant vor allem ein »Geistesgefühl« ist, auf den schöpferischen Akt des Dichtens und damit auf den ästhetischen Bereich bezogen. Dichtung wird damit nicht mehr darauf festgelegt, den Einklang von Raumordnung und formaler Verfaßtheit der Subjektivität zu reflektieren. Sie wird vielmehr im Gegenteil mit dem Aufbrechen dieser idealen Einheiten in Verbindung gebracht. Damit steht das Erhabene bei Lasker-Schüler den Beschreibungen Lyotards nahe, der >Das Erhabene und die Avantgarde< in eine enge Beziehung setzt. (Vgl. den gleichnamigen Essay in ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 1 5 9 - 1 8 7 . ) Während »der Avantgardismus [...] keimhaft in der Kantischen Ästhetik des Erhabenen enthalten« sei (ebda., S. 174), lasse er jedoch das Subjekt in den Hintergrund treten, um das Ereignis des >Es geschiehtBlößezwischen Stern und Stern< überwindet,271 ausgerechnet »Jerusalem« heißt, mag kein Zufall sein.272 Jerusalem ist die herausgehobene Heilige Stadt, »Gottes auserwählte Braut«, wie der Text mehrfach unter Bezugnahme auf das Hohelied anmerkt. (H 788, 792, 830, 901) Sie ist das Herz des Hebräer landes, von dem, wie zitiert, Gott den Stein zum Bau aller anderen Welten brach.273 Das Schiff gleichen Namens erscheint zuletzt noch einmal in eben dem Sinne, in dem das Schiff im >Wunderrabbiner von Barcelona< eine radikale Diskontinuität des Text-Raums figuriert, als Metapher einer Übersetzung, die die Nicht-Synthetisierbarkeit zweier aneinandergrenzender, sich überlagernder Welten zur Schau stellt.

5.4. Verspätung und Erwählung Die Erhabenheit Palästinas und insbesondere Jerusalems wird nicht nur mit einer besonderen Form ästhetischen Erlebens in Verbindung gebracht, die sich in der Konfrontation mit ihnen gleichsam automatisch einstellte. Ihr gerecht zu werden und ihr gegenüber empfanglich zu sein, erscheint vielmehr ausdrücklich als Aufgabe: »Palästina verpflichtet! ! ! « (H 788) Die Problematik dieser Verpflichtung besteht darin, daß von einem Unbeschreiblichen, dessen Eindruck das Subjekt als Instanz der sinnlichen Wahrnehmung und der Konstitution sinnhafter Zusammenhänge dezentriert, dennoch Zeugnis abgelegt werden soll. Damit aber wird ein Repräsentationsbegriff aufgerufen, der auf kein souveränes Autorsubjekt zurückgreifen kann. So wie das zu Beschreibende nicht in Sprache zu messen ist, 270

Auch Kant hebt hervor, daß der Einbildungskraft durch den erhabenen Eindruck »Gewalt« angetan werde, und spricht von »Aufopferung«, »Beraubung«, »Schreck« und »Grausen«. Vgl. ders.: Kritik der Urteilskraft, S. 182, I94f. Auch der schnelle Wechsel von Hell und Dunkel sowie die Bewegung des gebahnten Wegs im >Hebräerland< läßt sich mit Kantschen Kategorien beschreiben. So formuliert dieser: »Das Gemüt fühlt sich in der Vorstellung des Erhabenen in der Natur bewegt·, da es in dem ästhetischen Urteile über das Schöne derselben in ruhiger Kontemplation ist. Diese Bewegung kann [...] mit einer Erschütterung verglichen werden, d. i. mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen eben desselben Objekts.« (Ebda., S. 1 8 1 . )

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Vgl. H 789: »Palästina ist gedanklich das fernste Land der Welt. Ich wollte ja nur feststellen, ob man überhaupt wieder auf die Erde zurückkomme - und reiste ab. Mir ist - ich bin auf einem andern Stern gewesen. Mich bringt niemand von diesem Glauben ab! Am allerwenigsten der Geograph.« (Vgl. auch H 925) Es heißt sogar italienisch »Gerusalemme«, was möglicherweise einen Bezug zu dem im Zusammenhang mit dem Motiv des Klagelauts diskutierten Epos von Tasso andeutet. Zugleich erscheint es als das Herz Gottes. (H 924)

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präsentiert es sich auch nicht als subjektive Erfahrung, für die zumindest indirekt ein Ausdruck gefunden werden könnte. Dennoch wird betont, daß allein eine künstlerische Haltung der angedeuteten Verpflichtung nachkommen könne: »eine Dichterin mußte kommen, das gebenedeite Land zu feiern.« (H 793) Nur der dichtende Mensch, so heißt es weiter, »teilt mit dem Herrn die Verantwortung Seiner Lieblingsschöpfung.« Was den Dichter auszeichnet und ihn in eine gottgleiche Schöpferposition einrückt, läßt sich jedoch nicht auf dessen besondere Be-Gabung zurückfuhren, sofern diese als Fähigkeit begriffen wird, die göttliche Schöpfung adäquat zu repräsentieren. Wie der Vergleich des göttlichen Zimzum mit dem dichterischen Moment der Inspiration veranschaulicht, wird eher eine strukturelle Äquivalenz zwischen beiden Schöpferinstanzen hervorgehoben. Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich einer ursprünglichen Verarmung, Kontraktion oder Selbst-Teilung aussetzen, die dem jeweils Anderen Raum gibt, ohne es mit dem eigenen Symbolraum zu vermitteln. Der herausgehobene Status des Erwählten wird immer zugleich an ein Herausfallen aus den Strukturen der Ordnung geknüpft, die die (Selbst-)Wahrnehmung in Raum und Zeit ermöglichen. Dieses Motiv einer Grenzüberschreitung, durch die sich das Ich einem vollkommen unkalkulierbaren Anderen aussetzt, erinnert an den oben diskutierten Text >Der ScheikHebräerland< bindet diese Geste an das jüdische Erwählungsmotiv zurück, das bereits im >Wunderrabbiner< und in >Arthur Aronymus< eine zentrale Rolle spielt. Hier wird es zum Modell eines anderen Repräsentationsmodells, bei dem der besonders ausgezeichnete einzelne genau in dem Moment das Ganze repräsentiert, in dem er sich seiner selbst nicht mehr unter Bezugnahme auf einen universalen Horizont vergewissern kann. Dies gilt für die Dichterin, den Künstler allgemein, aber auch für den Hebräer als den ausgezeichneten Menschen sowie fur Jerusalem als Vorbild aller Städte und Palästina als Urbild aller Länder: »Ein tausendmaltausend zeitloses Land ist Palästina, die Schwester des Himmelreichs. Gott aber erhob sie in den Königinnenstand!« (H 897, vgl. auch 931) Die Zuordnung dieser Identitäten und Räume erfolgt jeweils nicht als Subsumption oder >Besiedelung< — des Gelobten Landes mit den erwählten Menschen —, sondern wiederum im Sinne einer strukturellen Parallelisierung. Der Jude trägt »den Stein der Schöpfung«, wie es heißt, »auf dem Bauplatz des Gelobten Landes«. (H 924) Er trägt dabei zugleich das Schicksal seines Auserwähltseins, das nicht nur mit Verfolgung und Unterdrückung ver489

bunden ist, sondern auch die Suche und Konstruktion der Heimat als unendlichen Prozeß erscheinen läßt: [ . . . ] verfolgt und geplagt wie der kleinste Arbeitsesel der Eselkarawane, müdet sich der Jude ab, über die Wüstenstraße heim in sein Urland zu tragen. Immer wieder trägt Israel von Jahrhundert zu Jahrhundert gewissenhaft geheiligtes Mosaik über die Ozeane ins auserwählte Land, die Heilige Mumie aufzurichten zu neuem Leben. Ihr Völker, »so« verhält sich das mit der Auserwählung von uns Juden! Aus diesem wahren, ersten Auserwählungsgrunde mögen Andersgläubige uns Hebräer ferner - sorglich - beneiden. (H 9 2 4 ) 2 7 4

Ganz im Sinne der Beschreibung, die Lévinas fur die jüdische Erwählung findet, erscheint diese im >Hebräerland< als ein »Sollen, das nicht um Zustimmung gebeten hat«, das eine Bürde bedeutet, die sich nicht rationalisieren läßt. 2 7 5 »Unter der Last seiner Auserwähltheit keucht, verfolgt von Geschwistervölkern, der Juden Seele«, heißt es im >Hebräerlandentkernen< das, was in mir Identität ist. 2 7 6

Die Dia-chronie dieser Begegnung, die den Anderen immer schon verfehlt, da sie ein >zu spät< impliziert und somit keine »gemeinsame Gegenwart«

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Der Weg ins Heilige Land wird so gleichsam als permanenter Umweg beschrieben, der die Ankunft immer weiter aufschiebt und doch dem eigentlich Heimatlichen des Judentums gerade dadurch nahe kommt. Vgl. H 882: »40 Jahre führte der Prophet seine Scharen, sanftmütige und sich aufbäumende Herden, Zeit für ihre Gotteserkenntnis zu gewinnen, auf Umwegen durch die Wüste ins Gelobte Land. Vierzig volle Jahre und einen Augenblick sterbend im Fittich der Zeit.« Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 7. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 200.

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herstellen kann, charakterisiert auch i m >Hebräerland< die Struktur der Erwählung: Gott liebt seine Völker mit gleicher Liebe alle! Warum er den Hebräer auserwählte, den Schrein seines Heiligtums zu tragen, verspottet — ins Herz der Welt, verspätete sich der Jude zu erfahren. (Herv. D. Β., H 884) D i e konstitutive Verspätung, die die Einzigartigkeit und Identität der J u d e n dieser Passage zufolge kennzeichnet und ihr doch zugleich den G r u n d e n t z i e h t , 2 7 7 läßt sich auch m i t d e m Derridaschen B e g r i f f der différence beschreiben. Dieser deutet nicht nur auf eine Differenz oder A b g r e n z barkeit zweier Positionen oder S y m b o l s y s t e m e , er markiert vielmehr einen A u f s c h u b , der a m U r s p r u n g w i r k s a m ist u n d gerade dadurch S c h ö p f u n g und Leben ermöglicht: Das Leben schützt sich zweifellos mit Hilfe der Wiederholung, der Spur und des Aufschubs (différance). Vor dieser Formulierung muß man sich aber in acht nehmen: es gibt nicht zunächst präsentes Leben, das sich anschließend zu schützen, zu verzögern und im Aufschub vorzubehalten begänne. Der Aufschub bildet das Wesen des Lebens. 278 Diesen verräumlichenden A u f s c h u b auszustellen, ihn auszuhalten und — gleichsam im Schrein, als in Kleider gehülltes Gotteskind — zu tragen und ihn eben nicht i m Sinne einer Ursprungserzählung zu vereindeutigen erscheint i m >Hebräerland< als A u f g a b e der Erwählten. In ihrem B e z u g zum Eigenen, der sich nicht aneignen läßt, sondern den Suchenden i m m e r wieder auf ein radikal Anderes z u r ü c k w i r f t , sind sie Vorbild fur alle M e n s c h e n . 2 7 9 D a s Hebräerland erscheint zudem als R a u m , in d e m der B e z u g z u m Anderen nur m ö g l i c h ist, w o sich das Ich den A b b r ä c h e n und D i s kontinuitäten seiner >Heimat< exponiert. 277

278 279

Zum Motiv der Verspätung als strukturellem Element der Kabbala vgl. Bloom: Kabbalah and criticism, S. 17: »Kabbalah is essentially a vision of belatedness«. Vgl. auch ebda., S. 43, 80 (»belated God«), 83 (»Exile becomes Belatedness«). Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, S. 3 1 1 . Vgl. H 882: »Auf Zehen, zagend, näherte ich mich den Propheten Israels, heiligen Königen, Hirten und Hirtinnen im Vers meiner hebräischen Balladen, mit artiger Zurückhaltung nach dem Vorbild unseres Glaubens. Der pflegt andächtig in sich zu schauen!« Der Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Offenhalten einer Schuldzuweisung, die die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem in einem Akt der Interpretation oder Projektion festschriebe, wird beispielsweise in folgendem Zitat deutlich: »ein einziger unbefleckter Jude genügt, sein ganzes Volk, das gesamte Volk der Juden, zu repräsentieren, wie ebenso ein ungeläuterter, ein einziger Jude genügt, unser großes, verhetztes Volk in den Staub zu ziehen! Darum ein jeder Jude wache über sich und sein Judentum! Ich bin eine Hebräerin - Gottes Willen und nicht der Hebräer Willen [...] Doch der Andersgläubige, der den Satz meines Blutes verhöhnt, genieße auch nicht mich und — mein Gedicht. Aber er blicke auf seines eigenen Blutes Boden/« (H 933) (Herv. im Text).

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So zeichnet sich in diesem Raumentwurf, in den die Zwischenräume zwischen den Positionen sowie im Innern eines jeden sich herauskristallisierenden Zentrums eingetragen sind, eine andere Sprache der Ethik ab. Palästina und vor allem Jerusalem sind Orte, an denen sich die Begegnung mit Gott ereignet, die sich nicht in ein sprachliches Äquivalent übersetzen läßt. In direkter Bezugnahme auf Moses Begegnung mit Gott »von Angesicht zu Angesicht«, in der größte Nähe und Verhüllung der göttlichen Wahrheit (bzw. des Gottesnamens) gleichzeitig erfahrbar geworden seien (H 904), wird das Verhältnis zum Anderen hier als eines der rückhaltlosen und zugleich ehrfurchtsvollen Annäherung beschrieben. An die Stelle einer Verbrüderung tritt das Verharren »auf der Stufe vor Gott« (H 8 1 4 ) , was auch in der Unterscheidung zwischen »Du sagen« und »Duzen« gefaßt wird, wobei ersteres offenbar die Achtung einer irreduziblen Fremdheit des Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. 280 Am »Saum des ewigen D u « 2 8 1 findet das Ich zu sich und verfehlt sich zugleich, 282 wodurch ein Zwischenraum der Begegnung offengehalten wird. Die »Hingebung« des Menschen an das Du, die im > Hebräerland < mit dem Begriff der Offenbarung verbunden wird, betrifft seine Beziehung zu Gott wie zum Nächsten, zum »Nebenmenschen«, gleichermaßen. Noch konsequenter als in früheren, um eine Ethik der Differenz kreisenden Texten Lasker-Schülers wird der andere Mensch in die erhaben-traumatische Nähe gerückt, die sich traditionell mit dem Heiligen, dem Ort Gottes, verbindet. Palästina steht, wie mehrfach betont wird, fur ein besonderes Verhältnis zum Nebenmenschen, den zu lieben »fast so innig wie man Gott lieben darf« hier allererst mög280

Hier lassen sich Bezüge zu Bubers Konzept eines dialogischen Prinzips herstellen, das nicht auf zwei der Beziehung vorgängige Subjekte rekurriert, sondern das Affiziertsein vom Anderen als der Struktur des Ich wesentlich beschreibt. Das Ich des Menschen ist »zwiefaltig«, insofern es sich nur als gesprochenes realisiert. »Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand [...]. Aber er steht in der Beziehung«, schreibt Buber. Martin Buber: Ich und Du, in ders.: Das dialogische Prinzip, Gerlingen, 6. Aufl. 1992, S. 5 — 1 3 6 , (S. 8) Und weiter: »Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.« (Ebda., S. 15.)

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Ebda., S. 10. Die Metaphorik des Angrenzens und Anlehnens, die das >Hebräerland< durchzieht, steht den Buberschen Kategorien und Begriffen sehr nahe. Das Säumen — ein in der LaskerSchiilerschen Lyrik, aber auch in ihren Prosatexten immer wieder aufgenommener Begriff - impliziert sowohl den Schwellenraum, in dem ein Ich einem Anderen begegnet, als auch den (zeitlichen) Aufschub eines Ver-Säumens im Sinne der bereits diskutierten Verspätung. Im >Hebräerland< setzt sich das Ich über dieses Bild in eine Beziehung zu Jerusalem: »Er [d.i. Gott, D. B.] wacht über den weißen Wolkenbogen meines Hebräerlandes. [...] Wie >Er< will ruhen seine Dichterin am Saume Jerusalemedens.« (H 8 8 1 ) Sowie: »Im Garten der Universität von Jerusalem säume ich auf einer der Gartenbänke schon den ganzen Vormittag«. (H 964)

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lieh werde. (H 959) Der Verpflichtung gegenüber Gott und seiner Schöpfung entspricht die gegenüber dem anderen Menschen. Das betrifft nicht nur das Verhältnis der >heimgekehrten< Juden zueinander, sondern ebenso das Miteinander der verschiedenen Religionen: »gastlich empfängt ein jeder von ihnen den Andersgläubigen.« (H 893) Daß der andere Mensch nicht nur in gewissem Sinne wie Gott ist, sondern sogar selbst als Gott erscheint, macht eine besonders eindrucksvolle Passage deutlich, die das Motiv von der »Thora im Tragkleid« zuspitzt: »Der liebe Gott ist ja selbst ein Kind, immer wieder aufwachsend mit jedem kleinen Menschen, der groß wird.« (H 821) 283 Das Offensein für den Anderen, der jederzeit als Gast eintreten kann, ohne den Gesetzen einer bestimmten Religion oder Ökonomie unterworfen zu werden, bestimmt wesentlich das ethische Moment dieser Begegnung. Jedes ökonomische Verhältnis zu Palästina und zum Anderen, das auf ein Medium oder einen Horizont der Verständigung rekurrierte, wird ausdrücklich zurückgewiesen. Wie auch bei Buber wird durch die Parallelisierung von Geldökonomie und Sprache als Mittel der Verständigung im Konzept des >Verarmens< noch einmal die Grenze des Ökonomischen und der Repräsentation als Ort der Begegnung in den Blick genommen. 284 Wo zwischen dem menschlichen Gegenüber und dem göttlichen Anderen als Garanten einer allen gemeinsamen Welt nicht klar unterschieden wird, vervielfältigen sich die Welten oder Weltatome. Das Verhältnis zum Anderen birgt damit immer zugleich die Differenz von Welt zu Welt, die Spaltung und Vervielfältigung der Schöpferinstanz in sich. Die Welt des >Hebräerlandes< ist aus Begegnungen gefügt, ist eine »Duwelt« im Buberschen Sinne, 28 ' die sich nicht zu einem gottgegebenen Schöpfungsganzen homogenisieren läßt: Die Begegnungen ordnen sich nicht zur Welt, aber jede ist dir ein Zeichen der Weltordnung. Sie sind untereinander nicht verbunden, aber jede verbürgt dir eine Verbundenheit mit der Welt. Die Welt, die dir so erscheint, ist unzuverläs-

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V g l . auch H 907: »Palästina, nach Gottes Kinderzeichnung Meisterbild erbaut, Palästinas Flur ist das Meisterkinderwerk Gottes.«

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V g l . H 963^: »Der Mensch, der in Palästina auch nur den Gedanken streift, sich zu bereichern an Palästina, sich zu sättigen im Vorhimmel des Himmels mit nichtigem Wert der Münze, versündigt sich [ . . . ] an dem Herrn und wird zum Dieb an Gottes Eigentum.« Sowie Buber: Ich und D u , S. 79. Angestrebt werden müsse, so formuliert Buber hier, »ein Aufgeben [ . . . ] nicht des Ich, aber jenes falschen Selbstbehauptungstriebs, der den Menschen vor der unzuverlässigen, undichten, dauerlosen, unübersehbaren, gefährlichen Welt der Beziehung in das Haben der Dinge flüchten läßt. «

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Buber: Ich und Du, S. 37. W i e das Hebräerland hat die »Duwelt«, von der Buber spricht, »keinen Zusammenhang im Raum und in der Zeit.«

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sig, denn sie erscheint dir stets neu, und du darfst sie nicht beim Wort nehmen; sie ist undicht, denn alles durchdringt in ihr alles; dauerlos, denn sie k o m m t auch ungerufen und entschwindet auch festgehalten; sie ist unübersehbar: willst d u sie übersehbar machen, verlierst du sie. 2 8 6

Zwischen dieser Welt und dem Ich gibt es, wie Buber weiter ausführt, eine »Gegenseitigkeit des Gebens«: »du sagst Du zu ihr und gibst dich ihr, sie sagt Du zu dir und gibt sich dir. Uber sie kannst du dich mit andern nicht verständigen, du bist einsam mit ihr; aber sie lehrt dich andern begegnen und ihrer Begegnung standhalten.«28"7 Das deutlichste Bild, das das >Hebräerland< für die Geste der rückhaltlosen Hingabe gegenüber der Fremdheit der Schöpfung findet, ist das der Priester Israels, die ihren »gebenedeiten Leib brechen«, um ihn »zu reichen, keusches Osterbrot, ihrer Gemeinde.« (H 820) Dieses Motiv ist sowohl im >Wunderrabbiner< wie auch in >Arthur Aronymus< präfiguriert, findet hier aber nun eine konsequente Ausgestaltung. Der A k t der Selbstverausgabung, den das Christentum ihrer Gründungsfigur zuschreibt, wird erinnert, zugleich aber in einen ständig wiederholten priesterlichen Akt transformiert. Zudem wird nahegelegt, daß dieses eigentümliche Bild in Zusammenhang mit dem Bibelzitat zu lesen ist, das dem >Hebräerland< als Motto sowohl in hebräischen Buchstaben als auch in deutscher Übersetzung vorangestellt ist: »Ihr aber sollt mir sein ein Reich von Priestern, Ein heiliges Volk!« (Ex i9,6) 2 8 8 Was sich bereits im biblischen Zitat merkwürdig liest — denn wie kann es eine religiöse Gemeinschaft geben, in der jeder einzelne die Rolle des Priesters übernimmt, der doch eigentlich repräsentativ die Vermittlung zwischen dem Volk und seinem Gott herstellt —, wird hier im Sinne des skizzierten ethischen Entwurfs ausgestaltet. Z u m erwählten Volk zu gehören bedeutet nicht, sich auf kollektive Gründungsmythen oder ein gemeinsames »Urland« beziehen zu können, von denen die Priester im religiösen Ritual immer wieder künden. Es bedeutet vielmehr, daß jeder einzelne sich ohne Rückhalt jenem Schwellenbereich überantwortet, der die vertraute Ordnung auf den A k t ihrer Einsetzung oder ihres Gegebenwerdens hin überbordet. Die Gabe der Welt erscheint damit nicht als gesichertes, einmaliges Ursprungsereignis, sondern ist dem Menschen aufgegeben, der sie — wie Buber in dem zitierten Abschnitt formuliert - nur in einer ungeteilten »Gegengabe«, in einer Selbst-Verausgabung, empfangen kann.

286 287 288

Ebda., S. 36. Ebda., S. 3 6f. Auch Buber bezieht sich in dem Essay >Der Heilige Wegs

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zu

dem einige der Lasker-

Insofern das >Hebräerland< in seiner Vielschichtigkeit und Radikalität als Zusammenschau all jener Motive, Problemkomplexe und Reflexionen auf die Sprache gelesen werden kann, die in den zuvor in diesem Kapitel diskutierten Texten aufgeworfen werden, kann hier auf deren nochmalige Zusammenfassung verzichtet werden. Festzustellen bleibt, daß die Frage nach einer »Gerechtigkeit unter den Unvergleichlichen« 289 in diesen Texten immer stärker aus konkreten Bezügen auf widerstreitende Glaubenssysteme oder Herrschaftspositionen herausgelöst wird. Im >Hebräerland< wird schließlich durch den permanenten Bezug auf das Schöpfungsganze und den Hinweis auf dessen Verletzlichkeit und Sterblichkeit ein Kosmos entworfen, der gar nicht mehr von in sich geschlossenen Identitäten >bewohnt< werden kann. Denn jede Position tritt dort als Schwellenfiguration hervor, die Selbstbehauptung und -Verausgabung in eins setzt. Das Verhältnis zwischen den Subjekten oder Religionen ist damit als eines bezeichnet, das die väterliche Gabe, auf die das eingangs in Erinnerung gerufene Lessingsche Ethik-Modell rekurriert, nicht voraussetzt. Als Garant der gemeinsamen Welt ist diese vielmehr in ihrer irreduziblen Ambivalenz auf den Zwischenraum verwiesen, dessen Spur dort erkennbar bleibt, wo der Selbst- und Fremdbezug durch kein universales Medium geregelt wird. Nur wo sich das Ich im Bezug auf sich selbst wie zum Anderen einer unkalkulierbaren Fremdheit aussetzt, wird der Raum für das Wechselspiel der (sich) Gebenden offengehalten. An den Rändern der repräsentierenden Sprache — und das »Hebräerland < läßt sich zweifellos als Dokument moderner Sprachreflexion lesen — taucht die Frage nach einer zeitgemäßen, modernen Ethik in aller Dringlichkeit auf. Das im Exil entstandene Buch, dessen Autorin vor dem Antisemitismus und dem totalitären Selbstbehauptungs- und Vernichtungsprojekt der Nazis geflohen war, behauptet gerade in der Weise, in der es die Frage nach der Ethik in den Vordergrund treten läßt, seinen Platz als genuin modernes literarisches Zeugnis. Denn indem es nicht mehr um einen verrätselten, menschlicher Erkenntnis entzogenen Ursprung der Welt kreist, sondern diesen dem Sprach-Handeln und dem Miteinander der Menschen geradezu anheimstellt, trägt es der modernen Einsicht Rechnung, daß die Welt dem Menschen nicht nur unzugänglich ist, sondern daß der phantasmatische Versuch, von ihr Besitz zu ergreifen, sie auch vernichten kann. Die Sorge um die materielle Existenz der Welt, ohne die

289

Schülerschen Texte in einer besonderen Nähe stehen, auf diese Bibelstelle. Vgl. ebda., S. 93. Vgl. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 53.

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jeder menschliche Versuch, sich in ihr einzurichten und sich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen, sinnlos wäre, wird hier zum zentralen ethischen Impuls. Nicht die Auslegung und die sich wechselseitig ausschließenden Lektüren der Welt stehen hier auf dem Spiel, sondern die Welt selbst als »Gotteskind«, das nur dort bewahrt und empfangen werden kann, wo der Souveränität des Selbst die Spur ihres eigenen, ambivalenten Ursprungs eingezeichnet bleibt.

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VI. Schlußwort

Zwischen der Publikation des >Hebräerlands< 1 9 3 7 im Schweizer Exil und der Veröffentlichung des ersten Prosabandes, dem >Peter Hille-Buch< 1906 in Berlin, liegen mehr als dreißig Jahre. In dieser Zeit ändern sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, denen Else Lasker-Schiiler als Künstlerin der Avantgarde und als deutsche Jüdin ausgesetzt ist, radikal. Das Umfeld, das ihr zu Beginn ihrer künstlerischen Karriere Freiräume und Identifikationsmöglichkeiten bietet, wandelt sich nicht nur, es wird nahezu vollständig zerschlagen, die Autorin selbst ist gezwungen, Berlin und Deutschland zu verlassen. Es ist unbestreitbar, daß diese U m stände und Veränderungen in den verschiedenen Prosatexten, die in der vorliegenden Arbeit betrachtet wurden, auf vielfache Weise reflektiert werden. Zentrale Figuren der Texte lassen sich mit zeitgenössischen Künstlern und Freunden Lasker-Schülers oder aber mit Familienmitgliedern in Verbindung bringen. Der Briefwechsel mit Franz Marc wird im >Malik< mit einer Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, in dem der Freund fällt, verknüpft, eine Palästina-Reise bildet den Ausgangspunkt einer kritischen Perspektive auf das zionistische Projekt einer Heimstatt der Juden usf. Dennoch beziehen sich diese Texte nicht im Sinne einer Darstellung oder Kommentierung auf die von ihnen evozierten biographischen und politischen Daten. Ebensowenig sind die in ihnen entworfenen Räume — die >wandernde Landschaft< im >Hille-BuchNächte der Tino von BagdadMalik< oder das »Bibelland« des >Hebräerlands< — utopische Gegenwelten, die die Heimatlosigkeit des schreibenden Ich in der Welt zur Schau stellten, indem sie andere, bessere Welten gestalteten. Anstatt sich an souveränem Ort zu situieren, von dem aus die eine, >wirkliche< Welt überblickt und auf andere imaginäre Welten hin überschritten werden könnte, findet sich das Ich vielmehr immer wieder selbst einem Übergang »von Welt zu Welt«, »Gipfel zu Gipfel« oder »Stern zu Stern« ausgesetzt. Die souveräne Position, die jeweils mit der Grenze des dargestellten Raumes verknüpft ist, wird so einer diskontinuierlichen Bewegung unterworfen, die Schöpfen und Verwerfen, Anwesenheit und Abwesenheit der Schöpferinstanz endlos wiederholt, ohne sie 497

auf einer übergeordneten Ebene aufzuheben. Die Besonderheit und Originalität dieser Prosa verdankt sich vor diesem Hintergrund weniger der Tatsache, daß sie von einem individuellen Schicksal oder einer einzigartigen historischen Konstellation Zeugnis ablegte, als vielmehr ihrer spezifischen Weise, die Grenzen der Repräsentation zu bezeugen. Indem vor allem die Texte der mittleren Phase immer wieder eine totalisierende Herrschaftsgeste in Szene setzen und sie als Voraussetzung des Symbolisierungsprozesses in diesen einbetten, partizipieren sie an einem Zeitdiskurs, der wesentlich durch die Proklamation des Todes Gottes organisiert wird. Diese läßt sich als diskursives Ereignis im Sinne Foucaults beschreiben, insofern man sie nicht auf einen bestimmten Sprecher oder Autor (etwa Nietzsche) zurückfuhrt, sondern als regulatives Moment begreift, das einen bestimmten Diskurs eröffnet und trägt, ohne ihn auf ein ihm äußeres Reales zu beziehen. 1 In den Texten, die die Ich-Figur an die Stelle des obersten Souveräns, des Weltenbauers und Garanten der Schöpfung setzen, bleibt die Geste der Selbstermächtigung und Aneignung der göttlichen Position unablösbar an ihre Kehrseite, die Verwerfung des universalen Signifikanten, gebunden. So stellt das Schreibfahren, das den Sinnhorizont, innerhalb dessen es bedeutend wird, nicht schon voraussetzt, sondern seine Erzeugung imitiert, den phantasmatischen Z u g totalitärer Selbstbehauptungen zur Schau. Es wirft das zum Schöpfer der Welt und seines eigenen absoluten Selbst hypertrophierte Ich auf den Schauplatz seiner Selbst-Setzungen zurück, wodurch dieses nurmehr als entstelltes, von sich selbst differierendes erscheint. In den Texten manifestiert sich das unnennbare Ereignis, auf das die Handlung immer wieder zutreibt und von dem sie sich zugleich herschreibt, entweder als Begegnung des Ich mit sich selbst oder mit der ihr gegenübergestellten Figur eines mächtigen, quasi-göttlichen Anderen. Dabei handelt es sich jeweils um unmögliche Zusammenkünfte, die sich an keinem Ort innerhalb des aufgespannten Symbolraums verorten lassen, sondern dessen Schwelle markieren. Das Ereignis der Begegnung des Ich mit seinem imaginär-idealen Entwurf oder der (sexuellen) Begegnung mit Gott, die die Verkörperung des Absoluten impliziert, erscheint als GrenzFall der Schrift. Dem entfalteten Raum, der an diesem Punkt nicht mehr als geschlossener präsentiert werden kann, werden Spuren einer anderen Topik, einer Verräumlichung der Signifikanten, eingezeichnet. Wird dieses Ereignis des Textes im > Peter Hille-Buch < mit der Begründung der Autor1

Zur Entgegensetzung von Ereignis und Schöpfung bzw. Autorschaft vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 3 1 - 3 8 .

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schaft verknüpft, so umkreisen es jene Texte, die Figuren der Souveränität erkunden, indem sie die Totalisierung der jeweiligen Herrschaftsordnung als Verkörperung der absoluten Macht in den Blick nehmen. In den Texten wiederum, in denen das Miteinander der Religionen verhandelt wird, wird schließlich der nicht-symbolisierbare Schwellenraum zur Bedingung der Möglichkeit einer Begegnung, die sich auf keinen gemeinsamen, universalisierbaren Horizont berufen kann. Die Struktur einer Konfrontation mit einem radikal Differenten, das von der souveränen Position des HerrscherIchs nicht distanziert werden kann, sondern diese aushöhlt und unterläuft, findet sich demnach im gesamten Prosawerk in unterschiedlichen Variationen. Der Verschiedenheit der Themen und Perspektiven, die eine Lektüre hervorhebt, die sich von den äußeren, biographischen und politischen Umständen ausgehend den Texten nähert, steht also eine erstaunliche Kontinuität der verwendeten Motive und des Textverfahrens gegenüber. Letzteres ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß es Ereignisstrukturen offenlegt und den souveränen Ort des vermittelnden Dritten als Performativ symbolischer Gesten ausstellt. Besonders anschaulich läßt sich dies an Motiven aus dem > Hohenlied < demonstrieren, dem als Intertext des >Hille-Buches< eine zentrale Rolle zukommt und das auch im >Hebräerland< vielfach evoziert wird. Obwohl die Bezüge zum >Hohenlied< in dem frühen und dem späten Prosatext durchaus verschieden sind und sie unterschiedlich kontextualisiert werden, kann man doch davon sprechen, daß sie diese in ihrer Entstehungszeit weit auseinanderliegenden Texte miteinander verklammern. Während zunächst die beiden Hauptfiguren Tino und Petrus in die Positionen der Liebenden gerückt werden, die sich nicht begegnen können, weil ihre Liebessprache das Gegenüber als absolutes immer neu entwirft, ohne eine Vermittlung herzustellen, wird im >Hebräerland< vor allem eine allegorische Deutung des >Hohenliedes< zitiert, derzufolge Jerusalem hier als Braut Gottes gefeiert werde. »'Palästina ist das Land des Gottesbuchs, Jerusalem — Gottes verschleierte Braut« (H 788), heißt es im >Hebräerland< wiederholt.2 Gemeinsam ist beiden Texten, daß sie die göttliche Position nicht als die Instanz der Erwählung und Benennung voraussetzen, sondern sie einer »hochzeitlichen« Schwellensituation aussetzen, indem sie im Modus einer feierlichen Sprache in der Schwebe einer aufschiebenden Erwartung gehalten wird.

2

Vgl. auch H 792: »Jerusalem selbst ist klein an Wuchs, Gottes auserwählte Braut«; H 830: »Jerusalem feiert immer Hochzeit und schreitet zum Altar im Brautkleid.«; H 901 : »Die Braut des Herrn: Jerusalem, orangenbliitengeschmückt, zu Gott heimzuführen, zur Ehre Israels.«

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Ich kam von der W ü s t e aus, reiste zur heiligen Hochzeit unter dem Baldachin seines Himmels. Gott hat Jerusalem lieb. Er hat es in sein Herz geschlossen. Er hat diese ewige Stadt der Städte erwählt. Jeder Gast, der in diese Stadt kommt, wechselt sein Kleid mit der Weihe des Gewands. Diese fromme Wandlung verpflichtet den Menschen, sich feierlich und artig zu benehmen, die andächtige Stimmung der auserlesenen, erhobenen Stadt nicht zu erschrecken.

(H 788) Indem das >Hohelied< kein gewöhnliches Hochzeitsritual beschreibt, sondern eine Begegnung jenseits symbolischer Regulierung inszeniert, ist diese Entgrenzung des göttlich-universalen Fluchtpunkts in ihm bereits angelegt. Wo der göttliche König auch als körperlicher (»Man hört [ . . . ] Gott atmen«, H 788) und begehrender ins Spiel gebracht wird, deutet sich eine Dynamik der Überschreitung an, die alle Positionen im Symbolischen affiziert. Denn die Ökonomie des Begehrens, das auf die Vereinigung des Differenten abzielt, wird instabil, wo die Instanz, auf die die angestrebte imaginäre Einheit projiziert wird, selbst als verdoppelte und gespaltene erscheint. Weder im >Hille-Buch< noch im >Hebräerland< wird die Annäherung der zu Vermählenden aus souveräner Erzählperspektive beschrieben. Das aufgeschobene Ereignis der Schöpfung als Begegnung mit dem Absoluten wird vielmehr jeweils mit der Figur des erzählenden und schreibenden Ich eng verknüpft. Im >Hille-Buch< besetzt sie die Position der Liebenden, insofern sie den >großen Anderen< besingt, erinnert und von ihm Zeugnis gibt. Dieses Zeugnis repräsentiert ihn nicht, es ist überhaupt erst Bedingung seiner Existenz, die keinen Ort außerhalb der Sprache hat und in ihr doch immer nur im Modus der Verspätung und der Nachträglichkeit erscheint. Im >Hebräerland< heißt es, die Dichterin teile »mit dem Herrn die Verantwortung Seiner Lieblingsschöpfung«. (H 793) Damit ist sie weit mehr als Besucherin und Zeugin der hochzeitlichen Feier. Ihre Schrift, das >HebräerlandHohenliedesHebräerland< ausdrücklich. Dichterische Kreativität im Zeichen jüdischer Identität wird hier mit der Konstellation des >Hohenliedes< unmittelbar

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verknüpft, die das Göttliche, den Schöpfungsakt und den Moment der Inspiration in einer Sprache aufscheinen läßt, in der Verkörperung und Verfehlung des Absoluten in eins fallen und das Selbst sich jeder transzendentalen Versicherung beraubt sieht. Denn wo die Sprechende und der oberste Garant des Symbolischen identifiziert werden, wird das Ereignis der Aufrichtung einer universalen Bezugsinstanz einem Subjekt aufgegeben, das dieses — als Ursprung und Legitimation seiner eigenen Zeugenschaft und Kreativität — nicht distanzieren oder darstellen kann. So wird das >Hohelied< nicht nur als Teil eines religiösen Ursprungsmythos in Erinnerung gerufen (»Ich zitiere das Hohelied, in dem König Salomo die feinen Muscheln der Nase seiner Sulamith besingt«, H 792), es wird in der Dichtung wiederholt, in seiner Struktur reaktualisiert. Die Dichterin tritt nicht als Vermittlerin einer Tradition auf, sondern als Schöpferinstanz, die sich in der Rückwendung auf den Moment ihrer eigenen Erwählung und Einsetzung immer schon verfehlt. Die Bezüge auf das biblische >Hohelied< rahmen die Prosa Lasker-Schülers jedoch nicht nur, sie finden sich auch in einer Reihe von Texten, die zwischen >Hille-Buch< und >Hebräerland< entstanden sind. Im >Malik< etwa wird das Verhältnis Jussufs zu seinem Land als eines zwischen Bräutigam und Braut beschrieben. »Theben, meine süße Braut«, redet der abwesende Kaiser es einmal im Brief an. (M 438) Er selbst nennt sich den »Hügel der Weinreben« oder behauptet: »mein Herz ist ein Weinberg.« (M 408, 4 3 1 ) Schöpfer und Schöpfung werden hier ununterscheidbar, denn indem Theben als Verkörperung des Malik dessen repräsentative Funktion vollendet und ihm zugleich als ein uneinholbar Différentes gegenübergestellt wird, versetzt der Text seinen Souverän auch hier in ein imaginäres Szenario, das seine Position als quasi-göttliche zugleich installiert wie verausgabt. In >Mein Herz< singt das Ich sein »hohes Lied« (MH 366), während es sich kriegerisch gibt und als solches offenbar Grenzen überschreitet, jenseits derer es auf keine vertrauten Erfahrungen oder Traditionsmuster zurückgreifen kann. Manchmal denk ich was, das geht über meine Grenzen; über Eure Horizonte habe ich wohl lange schon gedacht. Aber wo komme ich hin, wenn ich über meinen Mauern und Zäunen hänge, wo sich noch nicht Land vom Meere getrennt hat? Wer wird mir Schöpfer sein!! ( M H 3 7 3 )

Insofern das Ich sich hier der Szene der eigenen Schöpfung aussetzt und gerade in dieser Verausgabungsgeste selbst schöpferisch wird und Neues, Unbekanntes freisetzt, läßt sich dieses Zitat unmittelbar mit der Sprachstruktur des >Hohenliedes< in Verbindung bringen. An den Rändern des Sinns und der Sprache findet keine Begegnung mit Gott, keine Inspiration 501

im Sinne eines Erlebnisses des Absoluten statt. Vielmehr wird, »wo sich noch nicht Land vom Meere getrennt hat«, der göttliche Schöpfungsakt überhaupt erst herausgefordert, wodurch die erste, initiierende Position Gottes — und zugleich die Position des Künstlers als originär Schöpfendem — auf eine in der Schwebe gehaltene, sprachliche Geste bezogen bleibt. Wenn die literarische Moderne durch das Diktum vom Tod Gottes organisiert ist, das den Grenzfall aufklärerischer Emanzipationsbestrebungen markiert, indem es das Subjekt mit der phantasmatischen Struktur jener Visionen von Freiheit und Selbstbestimmung konfrontiert, auf die hin es sich entwirft, läßt sich die Prosa Lasker-Schülers zweifellos als moderne kennzeichnen. In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, die charakteristischen Strukturen und Verfahrensweisen dieser Texte herauszuarbeiten und sie in einen diskursiven Kontext zu stellen, der vor allem durch Bezüge zu philosophischen und kulturtheoretischen Schriften und Abhandlungen umrissen wurde. Dabei wurde besonderer Wert auf die textnahe Lektüre gelegt, um die komplexen strukturellen Muster der Lasker-Schülerschen Texte nachzuzeichnen. Es konnte gezeigt werden, daß diese Muster trotz der großen Variabilität ihrer formalen und thematischen Gestaltung kontinuierlich im gesamten Prosawerk strukturbildend sind. Wegen dieser Konzentration auf das relativ umfangreiche Lasker-Schülersche Textkorpus mußten Vergleiche mit Texten anderer moderner Autoren notwendig vernachlässigt werden. Neben Bezügen zu Texten Kafkas wären im Anschluß an diese Arbeit etwa solche zu Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannshai, Alfred Döblin, Robert Musil oder Thomas Mann zu diskutieren. Motive, die diese weiterfuhrenden vergleichenden Analysen leiten könnten, wären etwa das des Inzest und der Geschwisterliebe, in dem Musil und Mann die Struktur einer phantasmatischen Selbstbegegnung gestalten, der grotesken oder monströsen Körper, die etwa bei Rilke wie bei Lasker-Schüler >aus den Höhlen getretene Augen< haben, oder das der Erwählung, das beispielsweise einen Vergleich der Lasker-Schülerschen Josephs-Imitatio mit der Thomas Mannschen nahelegen würde. Insofern immer wieder die Nähe der Texte zu mystischen und insbesondere kabbalistischen Konfigurationen nachgewiesen werden konnte, wäre außerdem danach zu fragen, inwiefern diese auf besondere Weise eine moderne Befindlichkeit artikulieren und ob sie den Rückgriffen anderer moderner Texte auf die mystische Tradition ähneln oder entsprechen. 3 3

Vgl. hierzu etwa Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die Studie untersucht exempla-

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Die strikte Trennung von Avantgarde und Expressionismus, dem Lasker-Schüler inzwischen tatsächlich kaum noch zugeordnet wird, einerseits und den Romanen und Erzählungen der sogenannten klassischen Moderne andererseits erscheint angesichts der erarbeiteten Textverfahren und -strukturen nur bedingt sinnvoll. Anstelle dieser Kategorisierungen sei hier abschließend eine Unterscheidung vorgeschlagen, die neuerdings aus einer postmodernen Perspektive auf die klassische Moderne formuliert worden ist. Vorausgesetzt wird, daß die Zeit, aus der wir heute, am Ende des Jahrhunderts, auf dessen Beginn blicken, nicht als eine von völlig anderen Parametern bestimmte Epoche, sondern als eine »postmoderne Moderne« 4 begriffen wird. Bereits der Rückbezug vieler postmoderner Denker auf Texte der literarischen Moderne, von dem im zweiten Kapitel dieser Arbeit die Rede war, deutet darauf hin, daß sich die betrachteten literarischen Texte und die theoretischen Texte aus dem Umfeld von Poststrukturalismus und Dekonstruktion in demselben diskursiven Feld situieren lassen. Die Derridasche Dekonstruktion der >Onto-Theologie< abendländischer Metaerzählungen, Foucaults Analyse der diskursiven Konstitution von Repräsentation und Lacans Kritik des souveränen Subjekts setzen voraus und spinnen weiter, was Nietzsche und Freud zu Beginn des Jahrhunderts diagnostizierten: Der universale Sinnhorizont, vor dem sich das Subjekt hatte verorten können, steht zur Disposition eben dieses Subjekts, das sich gleichsam von eigenen Gnaden ermächtigen kann oder muß, wobei der performative Akt dieser Selbstsetzung an die Oberfläche des Diskurses tritt. Die Totalisierung, die sich andeutet, wo das Subjekt sich anschickt, den göttlichen Platz einzunehmen, und als Schöpfer seiner selbst auftritt, fordert eine moderne Kulturkritik heraus, die die Erinnerung an das von den totalisierenden Entwürfen verdrängte und vergessene Andere einklagt. Slavoj Zizek nennt diese kritische Haltung, die die Totalität als »falsche« zu entlarven sucht, >modernpostmodern< klassifizierte Haltung höhlt die Symbolfunktion des Vaters aus, indem sie ihn ins Zentrum stellt und die Szene seiner Einsetzung, welche die Szene der ersten Symbolisierung ist, wiederholt. In der Postmoderne vollzieht sich also eine A r t Perspektivenwechsel: Was in der Moderne als subversiver R a n d erschien, als S y m p t o m , in d e m die verdrängte Wahrheit der >falschen< Totalität z u m Vorschein k o m m t , unterliegt nun einer Verschiebung in das innerste Z e n t r u m , den harten K e r n des Realen, den die verschiedenen Symbolisierungsversuche vergeblich zu integrieren und zu >domestizieren< versuchen. [ . . . ] Worauf wir i m Z e n t r u m stoßen, ist, statt des A l l g e m e i n e n , ein partikularer traumatischer K e r n , eine Art von p a r t i k u l a rem Absoluten< [.. .]. 6

Die Verschiebung, durch die dieser Beschreibung zufolge Moderne und Postmoderne aufeinander beziehbar und doch unterschieden werden, faßt Zizek auch als eine »von der Achse Imaginäres-Symbolisches zur Achse Symbolisches-Reales«. 7 Diese Wendung läßt sich sehr gut zu dem in Beziehung setzen, was im IV. Kapitel der vorliegenden Arbeit unter den Stichworten >Souveränität< und >Maskerade< verhandelt wurde. Dort wurde gezeigt, daß die Texte vor allem der >Nächte der Tino von Bagdad< das von ihnen zunächst aufgeworfene Schleier-Paradigma aufgeben, welches das Andere, Weibliche noch als Entzogenes und Ausgegrenztes gegenüber der männlichen Zentralgewalt situiert. 8 Im >Prinz von Theben< und im >Malik< wird dann sehr konsequent die männliche Herrscherfigur ins Zentrum gestellt, wobei diese als unauflöslich antagonistische vorgeführt wird. Bereits die Souveräne der >Nächte< begegnen in Tino nicht einem Verdrängten, das ihre Machtordnung umstürzen könnte, sondern einem Verworfenen, das mit ihnen identisch ist, in ihrem Innersten >insistiert