Europa im Umbruch: Identität in Politik, Literatur und Film [1. Aufl.] 9783476057297, 9783476057303

Dieser Band zum Begriff „Europa“ beruht auf einer Tagung, die im Winter 2018 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung

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German Pages VIII, 240 [234] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Front Matter ....Pages 1-1
Europa ist überall: Einleitende Gedanken (Michaela Nicole Raß, Kay Wolfinger)....Pages 3-11
Front Matter ....Pages 13-13
Kritik der Kritik (Paul Michael Lützeler)....Pages 15-34
Neuere Europadebatten in den historischen Kulturwissenschaften des 21. Jahrhunderts (Nicolas Detering)....Pages 35-49
Das Haus Europa (Ulrich Brückner)....Pages 51-63
Front Matter ....Pages 65-65
Vom Preis der Freiheit und begehbaren Büchern (Christoph Augustynowicz)....Pages 67-75
An Europa arbeiten (Kay Wolfinger)....Pages 77-87
Front Matter ....Pages 89-89
Europa und der Begriff des Imperiums (Oliver Jahraus)....Pages 91-107
Zwischen Kleinstaaterei und europäischer Öffentlichkeit (Ulrike Zitzlsperger)....Pages 109-124
Überlegungen zum ‚guten Europäer‘ in der Phase des Brexismus* (Rüdiger Görner)....Pages 125-136
Front Matter ....Pages 137-137
Europa als Utopie und Dystopie in den Filmen von Jean-Luc Godard und Lars von Trier (Henry Keazor)....Pages 139-155
Karten, Zonen (Stephan Kammer)....Pages 157-171
An Europa glauben? (Johannes Wende)....Pages 173-186
Europa auf hoher See (Michael Braun)....Pages 187-197
Die neoliberale Zersetzung der Demokratie in Alexander Schimmelbuschs Roman Hochdeutschland (Michaela Nicole Raß)....Pages 199-209
Krise oder Umsturz? (Michaela Nicole Raß)....Pages 211-240
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Europa im Umbruch: Identität in Politik, Literatur und Film [1. Aufl.]
 9783476057297, 9783476057303

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Michaela Nicole Raß / Kay Wolfinger (Hg.)

Europa im Umbruch

Identität in Politik, Literatur und Film

ABHAN DLUNGE N ZUR M E DI E N- UN D KULTURWISSE NSCHAFT

Abhandlungen zur Medien- und Kulturwissenschaft

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Medien- und Kulturwissenschaft. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16226

Michaela Nicole Raß · Kay Wolfinger (Hrsg.)

Europa im Umbruch Identität in Politik, Literatur und Film

Hrsg. Michaela Nicole Raß Institut für Deutsche Philologie LMU München München, Deutschland

Kay Wolfinger Institut für Deutsche Philologie LMU München München, Bayern, Deutschland

ISSN 2524-8197 ISSN 2524-8200  (electronic) Abhandlungen zur Medien- und Kulturwissenschaft ISBN 978-3-476-05729-7 ISBN 978-3-476-05730-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Ute Hechtfischer J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

Europa im Umbruch. Identität in Politik, Literatur und Film Europa ist überall: Einleitende Gedanken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Michaela Nicole Raß und Kay Wolfinger Europa als (politisches) Konstrukt im Spiegel der Kultur(und)Theorie Kritik der Kritik. Zu den neueren Europa-Thesen von Robert Menasse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Paul Michael Lützeler Neuere Europadebatten in den historischen Kulturwissenschaften des 21. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Nicolas Detering Das Haus Europa. Von der Schwierigkeit eine Baustelle zu lieben, die eine bleibt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ulrich Brückner Europa – Eine Fiktion? Aktuelle Konstruktionen von Europa als Idee, Begriff, Bild, kulturelle Konzeption Vom Preis der Freiheit und begehbaren Büchern. Einige Bemerkungen zum Konzept Ostmitteleuropa in aktuellen Diskussionen . . . . . . . . . . . . . 67 Christoph Augustynowicz An Europa arbeiten. Über ein flamboyantes Projekt junger Intellektueller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Kay Wolfinger Europa und Europäer – Eine identitätsbildende Einheit? Europa und der Begriff des Imperiums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Oliver Jahraus

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Inhaltsverzeichnis

Zwischen Kleinstaaterei und europäischer Öffentlichkeit. Anthologien zum Thema Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ulrike Zitzlsperger Überlegungen zum ‚guten Europäer‘ in der Phase des Brexismus . . . . . . 125 Rüdiger Görner Europabilder im Film und der Gegenwartsliteratur – Utopien und Dystopien Europa als Utopie und Dystopie in den Filmen von Jean-Luc Godard und Lars von Trier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Henry Keazor Karten, Zonen. Figurationen Europas in Lars von Triers frühen Filmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Stephan Kammer An Europa glauben? Die Staatengemeinschaft in zwei zeitgenössischen Dokumentarfilmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Johannes Wende Europa auf hoher See. Meerfahrt mit Hans Pleschinskis Roman Brabant (1995). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Michael Braun Die neoliberale Zersetzung der Demokratie in Alexander Schimmelbuschs Roman Hochdeutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Michaela Nicole Raß Krise oder Umsturz? Der Brexit im Spiegel von Literatur und Film. Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Michaela Nicole Raß

Autorenverzeichnis

Christoph Augustynowicz  ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er gab 2019 zusammen mit Johannes Frimmel den Sammelband Der Buchdrucker Maria Theresias. Johann Thomas Trattner (1719–1798) und sein Medienimperium heraus. Michael Braun ist apl. Professor an der Universität zu Köln und Referent für Literatur der Konrad Adenauer Stiftung. Zuletzt gab er zusammen mit Hans Thill den Band Aus Mangel an Beweisen. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts heraus. Der Titel seiner letzten Monographie lautet: Probebohrungen im Himmel. Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur. Ulrich Brückner ist Jean Monnet Professor for European Studies am Berliner Center der Stanford University. Der Titel seiner letzten Monographie lautet Das Zusammenspiel im politischen Prozess der EU. Nicolas Detering ist Assistenzprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bern. Der Titel seiner letzten Monographie lautet Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit: Humanismus – Barock – Frühaufklärung. Rüdiger Görner ist Professor of German with Comparative Literature und Founding Director of the Centre for Anglo-German Cultural Relations an der Queen Mary University London. Die Titel seiner letzten Publikationen lauten Brexismus oder: Verortungsversuche im Dazwischen und Franz Kafkas akustische Welten. Oliver Jahraus  ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien und Vizepräsident für Studium und Lehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuletzt gab er zusammen mit Hanni Geiger und Elisabeth Weiss den Band Faust und die Wissenschaften. Aktuelle Zugänge und Perspektiven in wissenschaftlicher Vielfalt heraus. Stephan Kammer  ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine letzte Monographie trägt den Titel Überlieferung. Das philologischantiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert.

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Autorenverzeichnis

Henry Keazor  ist Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Zuletzt gab er den Band We are all Astronauts. The Image of the Space Traveler in Arts and Media heraus. Paul Michael Lützeler  ist Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities an der Washington University in St. Louis und Direktor des Max Kade Center for Contemporary German Literature. Zuletzt gab er den Briefwechsel Hermann Broch – Frank Thiess, Briefwechsel 1929–1938, 1948–1951 heraus. Michaela Nicole Raß war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LudwigMaximilians-Universität München. Zuletzt gab sie zusammen mit Oliver Jahraus und Simon Eberle den Band Sache/Ding: Eine ästhetische Leitdifferenz in der Medienkultur der Weimarer Republik heraus. Johannes Wende  ist Drehbuchautor, Regisseur und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Zuletzt gab er den Band Woody Allen. Film Konzepte heraus. Kay Wolfinger  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein für 2020 in Vorbereitung befindliches Buchprojekt lautet Das Archiv der Geister – Der Geist des Archivs. Ulrike Zitzlsperger  ist Professorin für Modern Languages and Cultures an der Universität Exeter. Zuletzt verfasste sie das Historical Dictionary of Berlin (Historical Dictionaries of Cities, States, and Regions).

Teil I

Europa im Umbruch. Identität in Politik, Literatur und Film

Europa ist überall: Einleitende Gedanken Michaela Nicole Raß und Kay Wolfinger

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht über Europa sprechen, heißt auch, über Europa im Umbruch zu sprechen, und diesen Umbruch beobachten wir in diesem Sammelband in der Literatur und im Film der Gegenwart. Europa wird in literarischen Texten, in Filmen und Comics als krisengeschüttelt dargestellt. Immer wieder wird ein Umbruch, eine fundamentale Veränderung des Status Quo, der EU, der europäischen Staaten dargestellt. Hier lassen sich zwei miteinander verknüpfte Schwerpunkte feststellen: Einerseits imaginieren Künstler einen Rechtsruck in einem der Nationalstaaten, der ein Mitglied der EU ist. Das Erstarken des Nationalismus würde zu einer Erosion der Demokratie und zu einem Zerfallsprozess der EU durch eine Desintegration eines der Nationalstaaten führen. Die Möglichkeit der Wahl von Marie Le Pen wurde beispielsweise in der Comicserie La Presidente, im Film Chez Nous und im Roman Le Bloc von Jérôme Leroy thematisiert. Die Auflösung der EU infolge des Brexit und die Isolation und Zerrüttung von Großbritannien durch einen Ausstieg aus der EU wurden ebenfalls in vielen unterschiedlichen Medien aufgearbeitet. In diesen größtenteils im Tenor EU-freundlichen Texten werden Europa und die EU gleichermaßen als gefährdet geschildert, die politische Lage als prekär. Es werden nicht nur mögliche Krisenherde aufgezeigt, sondern gravierende Veränderungen, Umstürze, Umbrüche beschrieben. Der Eindruck, dass sich Europa und die EU gleichermaßen in einem Umbruch befinden, verstärkte sich seit 2016 zunehmend. Die Zahl der Texte, die einen Umsturz und dessen Folgen beschreiben, scheint mit jedem Tag zuzunehmen. Schriftsteller, Comickünstler und Filmschaffende

M. N. Raß (*) · K. Wolfinger  Department I, deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Wolfinger E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_1

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reagieren also unmittelbar wie Seismographen auf politische Verwerfungen und politische Krisen, wobei sie meistens Dystopien erschaffen. Die Kunst reagiert einerseits auf die Tagespolitik, andererseits auf die Tradition, unterschiedliche Bilder und Konzepte von Europa zu entwerfen. Als Literatur- und Medienwissenschaftler*innen fokussieren wir natürlich zuerst auf die neu erscheinenden literarischen Texte, Filme und Comics. Doch da wir beide die Vorstellung eines möglichst interdisziplinären Ansatzes hatten und Wissenschaftler aus möglichst vielen unterschiedlichen Forschungszweigen ins Gespräch miteinander bringen wollten, blickten wir zunehmend nicht nur durch die Kunst auf die Politik, sondern auch aus der Perspektive der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie. Mittlerweile arbeiten sich Kunst und Wissenschaft an denselben Fragestellungen und Ängsten ab. Colin Crouch hat 2003 in einem Essay festgestellt, wir lebten in der Postdemokratie und die These formuliert, dass die demokratischen Institutionen zwar weiterhin existieren würden, aber aufgrund von Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung nur noch formal funktionieren würden. Damals war der polemische Grundton seines Textes nicht zu überhören. Doch aktuell werden ernstere Töne angeschlagen. Yascha Mounk, Politologe an der Harvard University, warnt in seiner gleichnamigen Publikation vor einem Zerfall der Demokratie. Weitere Professoren der Harvard University, Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, beschreiben anhand vieler Beispiele und einem Blick aufs Tagesgeschehen, auch in Europa, wie Demokratien sterben. Und Timothy Snyder zeichnet wiederum Europas Weg in die Unfreiheit nach. Doch neben der Rede von einem Zerfall der Demokratie fällt auch zunehmend in der Kunst wie in der Theorie das Reizwort Faschismus. Hier sei nur exemplarisch auf die gleichnamige aktuelle Publikation von Madeleine Albright verwiesen. Und auch in Italien erschien dieser Tage ein Text der italienischen Schriftstellerin Michela Murgia mit dem provokativen Titel Instruzioni per diventare fascisti. Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler die Gefahr einer Erosion der Demokratie durch den Populismus sehen. Auch sie thematisieren die Faszination von Faschismus und Nationalismus und beschwören die Gefahr, die vom Aufstieg demokratisch gewählter, doch zunehmend autokratisch regierender Politiker – nicht nur innerhalb Europas – und einem Zerfall der EU ausgeht. Wir hoffen, dass sich diese zunehmende Ausdifferenzierung auch in diesem Band widerspiegelt, indem nicht nur künstlerische Texte in den Blick genommen werden, sondern Europa auch in anderen Textformen und in unterschiedlichen Diskursen, sei es dem kulturwissenschaftlichen, dem politikwissenschaftlichen oder dem historischen, diskutiert wird. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich nicht nur das Staatengefüge der EU durch den Brexit, sondern auch der politische Europa-Diskurs verändert. Ziel unseres Buches ist es, diesen Veränderungen, die auf dem politischen Feld durch Wahlergebnisse und Referenden, durch die Krise des Euro, durch Konflikte im Bereich der Flüchtlingspolitik oder durch Separatismen in verschiedenen Mitgliedstaaten sichtbar geworden sind, auf dem kulturellen Feld nachzuspüren. Hierbei sollen zum einen Traditionen des Europa-Diskurses, die sich

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seit der Intensivierungs- und Erweiterungsphase des europäischen Integrationsprozesses ab 1985 ausgebildet und seitdem eine literaturhistorische Kontinuität begründet haben, aufgezeigt werden und zum anderen die Fortsetzung, Kritik und Abkehr von diesen Traditionen sowie die Entwicklung neuer Ansätze in Film und Literatur der Gegenwart untersucht werden. Hierbei soll auch reflektiert werden, inwieweit die Rede von einer Krise Europas oder der europäischen Integration als ein Schwellenphänomen in den Bereichen Literatur und Film wahrnehmbar ist. Im historischen Rückblick lässt sich beobachten, dass sich gerade in Destabilisierungs-, Umbruchs- und Krisenmomenten die Intensität des ­Europa-Diskurses verstärkt und an Komplexität gewonnen hat. Eine unserer grundlegenden These lautet, dass sich dies im Anschluss an die politischen Veränderungen der 1980er-Jahre in literarischen und filmischen Texten verstärkt beobachten lässt, weshalb Entwicklungen der letzten etwa 40 Jahre, in den zwei Jahrzehnten vor und nach der Jahrtausendwende, in den Fokus gerückt werden sollen. Texte der Gegenwartskultur sollen daher auch nach alternativen Ausprägungen des Europa-Diskurses und einem verstärkten (poetologisch reflektierten) Problembewusstsein befragt werden. Die Aufsätze der Beitragenden stellen sich auch der Frage, inwieweit Europa als Grundbegriff nicht nur maßgeblich „zur Erfassung der Entstehung der modernen Welt“ (Eggel), sondern auch der gegenwärtigen Verfasstheit der Welt verstanden werden kann. Bei der Analyse des Europa-Diskurses lassen sich vier Bezugsebenen unterscheiden, die in der Literatur und im Film des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart thematisiert werden: 1. Europa als Idee, Begriff, Bild, kulturelle Konzeption 2. Europa als identitätsbildende Einheit 3. Europa als politisches Konstrukt 4. Europa als Utopie oder Dystopie

1 Europa als Idee, Begriff, Bild, kulturelle Konzeption Unter dieser Überschrift verstehen wir die Regeln der Bildung eines Begriffs, einer Idee, eines Bildes und einer kulturellen Einheit von Europa. Europa wird als Ordnungsbegriff nicht nur in der Literatur- und Kulturwissenschaft verwendet, wann immer die Rede von ‚europäischer Literatur‘ und ‚europäischer Kultur‘ ist, sondern auch, um auf einen genuin ‚europäischen Kanon‘ von literarischen Werken, Motiven, Figuren u. Ä., aber auch Künstlern Bezug zu nehmen. Die Frage nach der Zuordnung ist für die Entwicklung eines Ordnungsbegriffs von zentraler Bedeutung. Die Regeln für diese Zuordnung basieren auf einer Idee dessen, was ‚Europa‘ eigentlich sei. Diese Idee kann sich aus einer Mythopoetik speisen, die nicht nur auf Inszenierungs- und Übertragungsmöglichkeiten des Europa-Mythos und von Europa als Reflexionsfigur verweist, beispielsweise der Konnex von Weiblichkeit und Gewalt, sondern auch die Mechanismen und Verfahren der Politisierung des Mythosbegriffs hinterfragt. Schriftsteller und Schrift-

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stellerinnen wie Heiner Müller, Friederike Mayröcker, Durs Grünbein, Simon Armitage, Zsuzsanna Gahse, Derek Walcott oder Karin Harrasser setzen sich in Gedichten und Prosatexten in unterschiedlichen Kontexten mit der Figur der Europa auseinander. Der Mythos vom Raub der Europa beeinflusst auch die bildliche Darstellung von Europa bzw. des Europäischen. Filme wie Die Entführung Europas (1988) fragen – bisweilen in Rückgriff auf Darstellungstraditionen der bildenden Kunst – nach den Möglichkeiten der Verbildlichung und Illustration des spezifisch ‚Europäischen‘ und nach der Vielfältigkeit des Bildes und der Idee von Europa, das sich in der Gesellschaft wie der Politik bildet. Auch in Spielfilmen wie denen der Europa-Trilogie von Lars von Trier – The Element of Crime (1984), Epidemic (1987), Europa (1991) – oder Club Europa (2017) sowie in Dokumentarfilmen wie Europa – Ein Kontinent als Beute (2016) werden Politsatire, Sozialanalyse, Geschichtsbild und die Auseinandersetzung mit nationaler und übernationaler europäischer Identität miteinander verknüpft. Bei einer kulturellen Konzeption von Europa werden derartige Strategien, Europa als Idee, Begriff oder Bild zu fassen und zu konkretisieren, aufeinander bezogen, um einen Kulturbegriff oder einen kulturellen Raum zu schaffen und abzugrenzen oder um charakteristische Merkmale von ‚europäischer Kultur‘ zu definieren. Transkulturalität und Interregionalität sind hierbei Kennzeichen, welche eine Einheitlichkeit herstellen und die Bestimmung erleichtern sollen. Die Abgrenzung vom Außereuropäischen wird besonders bei der Schilderung von grenzüberschreitenden Reiserouten und Reiseerlebnissen thematisiert, beispielsweise von Ilija Trojanow.

2 Europa als identitätsbildende Einheit Die Frage nach einer europäischen Identität – auch vor der Reibungsfläche unterschiedlicher nationaler Identitäten – stellen Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger in seiner Essaysammlung Ach Europa! (1987), Yoko Tawada in den Erzählungen und Gedichten des Bandes Wo Europa anfängt (1991), Tim Parks im Roman Europa (1997), Esmahan Aykol im Roman Hotel Bosporus (2003) oder Selim Özdogan in Im Juli (2000) bzw. Fatih Akin in seinem gleichnamigen Film. Die Suche nach einer europäischen Identität stellt nicht nur die nationalen Identitäten in Frage, etwa im Sinne der Aufgabe einer nationalen zugunsten einer übernationalen europäischen Identität, sondern wird auch im Rahmen der Problematik der Migration thematisiert. Autor*innen und Filmschaffende, die sich des Themas der Migration annehmen, stellen häufig auch Prozesse der Aneignung einer europäischen Identität dar, die ebenfalls die Beschäftigung mit der Frage nach dem ‚Außereuropäischen‘ bedingt. Die Beziehung zum Anderen, die Auseinandersetzung mit nationaler oder kultureller Alterität, hat wiederum oft die Definition einer europäischen Identität und Kultur zur Folge. Dies zeigt sich auch anhand von literarischen Texten, die in einer europäischen Sprache von einem in einem außereuropäischen Land geborenen Autor, wie zum Beispiel Rafik Schami,

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v­erfasst worden sind und die häufig typische Merkmale des als europäisch definierten Alltags und die Annahme einer europäischen Identität zu beschreiben versuchen.

3 Europa als politisches Konstrukt In den letzten vier Jahrzehnten haben sich durch EU-kritische Schriften von Schriftstellern wie Hans Magnus Enzensberger Topoi und Motive verfestigt, die ebenso in politischen Essays wie Erzähltexten reproduziert werden. Dies steht in Zusammenhang mit Prozessen der Entwicklung und Verfestigung dieser Kritik (Demokratiedefizit, hypertrophe Bürokratisierung, Uniformisierung des Alltags, zu hohe Besoldung der Politiker, Lobbyismus u. ä.) und der Herausbildung von literatur- und filmgeschichtlichen Traditionen in der Auseinandersetzung mit der EU. Setzt man sich mit den Prozessen der Bildung derartiger Traditionen auseinander, stellt sich auch die Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Rolle der Intellektuellen bzw. nach der Relevanz der Stimme von Schriftstellern und Filmemachern im vergangenen wie gegenwärtigen politischen Diskurs. Damit einher geht auch der Bruch mit der Tradition der EU-Kritik, den beispielsweise Schriftsteller wie Robert Menasse in den letzten Jahren vollzogen haben. Er verbindet die Forderung nach einer über- oder post-nationalen europäischen Identität mit der Darstellung von Europa als politischem Konstrukt, dies sowohl in Romanen wie Die Hauptstadt (2017) als auch in politischen Essays wie Der europäische Landbote (2012). In diesem Zusammenhang kann danach gefragt werden, auf welche Weise in diesen Texten Möglichkeiten einer europäischen Einheit und übernationalen ‚Verbrüderung‘ sowie die Herstellung einer europäischen Nation oder einer europäischen Demokratie, in der nicht die Nationalstaaten, sondern die Bürger Europas souverän sind, konturiert werden. Die Frage nach den kulturellen und territorialen Grenzen Europas wird nicht nur bei jeder Definition und Erweiterung der EU neu gestellt, sondern auch in Filmen wie Zielfahnder – Flucht in die Karpaten (2016). Die Darstellung von Europa als politischem Konstrukt steht damit im Fokus.

4 Europa als Utopie oder Dystopie Für Utopien wie Dystopien, die Europa als kulturelles oder politisches Konstrukt beschreiben, ist es hingegen charakteristisch, dass sie zum einen den aktuellen Status quo reflektieren und zum anderen mögliche Weiterentwicklungen der europäischen Demokratie und einer politischen Union, eines europäischen Staates oder einer anderen Form der institutionellen Verfassung Europas entwerfen und damit auch das europäische Erbe der Aufklärung kritisch hinterfragen. Neben Texten, die ein gemeinsames soziales und politisches Gesellschaftsmodell entwickeln, findet man auch Texte, welche die Folgen einer Zersetzung oder Zerstörung des Modells einer europäischen Einheit zum Thema haben.

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Die Zersetzung einer europäischen Identität in Frankreich zeichnet beispielsweise Michel Houellebecq im Roman Soumission (2015) nach. Die Autoren François Durpaire und Laurent Muller und der Zeichner Farid Boudjellalim thematisieren in ihren drei Comic-Bänden La Présidente (2015/2016/2017) eine Abkehr von Europa durch eine Renationalisierung und durch populistische Parzellierung, durch xenophobe, anti-pluralistische Argumente. Vergleichbares unternimmt der Regisseur Lucas Belvaux in seinem Spielfilm Chez nous (2017). Die Vision eines Auseinanderbrechens der EU illustriert ebenfalls die Regisseurin Annalisa Piras in ihrem Film Great European Disaster Movie (2015). In der Dystopie Die Arbeit der Nacht (2006) entwirft Thomas Glavinic eine Reise durch ein menschenleeres Europa, Juli Zeh schildert in ihrem Roman Leere Herzen (2017) ein europavergessenes Deutschland. Martin Walker hingegen zeichnet in seiner Utopie Germany 2064 wiederum ein Bild der europäischen Gesinnung und Vormachtstellung Deutschlands innerhalb der EU. Tom Hillenbrand dahingegen beschreibt in seiner Dystopie Drohnenland (2014) die EU als totalen Überwachungsstaat. In unterschiedlichen Medien wird Europa als politisches Konstrukt im Spannungsfeld von Regionalisierung, Nationalisierung, Kontinentalisierung und Globalisierung, aber auch von Zentrum und Peripherie diskutiert und das Scheitern der EU als Integrationsprojekt vorgeführt. Zudem wird häufig die Frage nach den Möglichkeiten einer Gegenwärtigkeit oder einer Repräsentation des politischen Körpers eines Staatenkonstrukts – sei es ein Nationalstaat oder ein europäischer Staat – gestellt und damit die gegenwärtige Krise des Willens zur Konstitution und der Repräsentation eines weitgehend geeinten europäischen oder nationalstaatlichen ‚Volkes‘ und des ‚Volkswillens‘ angesprochen. In dieser Sektion der Tagung soll auch der Zusammenhang von Forderungen der Frauenbewegung und einer Krise des Männerbildes, die sich in populistischen Forderungen nach autoritären, männlich codierten Strukturen, Militarismus und Nationalismus ausdrückt, untersucht werden.

5 Solange es noch steht… Zur Genese dieses Tagungsbandes lässt sich feststellen, dass wir uns vor einigen Jahren sofort gegenseitig von der Idee überzeugten, ein gemeinsames Tagungskonzept zu entwickeln. Europa als so vager und weiter, aber irgendwie ja auch konkreter Bezugspunkt war schnell gefunden. Die Weite des Themas haben wir als Chance für den Diskurs genutzt. Zur Illustration des Europa-Diskurses lohnt sich manchmal auch ein Blick in die Popgeschichte. Sprichwörtlich geworden ist der Titel Besuchen Sie Europa. Solange es noch steht (1983) der Band Geier Sturzflug: Wenn im Canale Grande U-Boote vor Anker gehn, und auf dem Petersplatz in Rom Raketenabschußrampen stehn, überm Basar von Ankara ein Bombenteppich schwebt, und aus den Hügeln des Olymp sich eine Pershing 2 erhebt.

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Dann ist alles längst zu spät, dann ist, wenn schon nichts mehr geht, besuchen Sie Europa, solange es noch steht. Vor dem alten Kölner Dom steigt ein Atompilz in die Luft, und der Himmel ist erfüllt von Neutronenwaffelduft, wenn in Paris der Eiffelturm zum letzten Gruß sich westwärts neigt, und in der Nähe von Big Ben sich zartes Alpenglühen zeigt.

Dabei wird weniger der Abbruch der europäischen Tradition beklagt, das Kappen der Verbindungslinien zum Abendland als vielmehr die latente Militarisierung des Kontinents. So wäre es innerhalb der Logik des Liedes z. B. kein Problem, wenn auf dem Petersplatz in Rom, und nicht etwa im Vatikan, wie es im Lied heißt, die Imitatio Christi nicht mehr im Zentrum stünde oder der Abbruch der christlichen Lehrtradition; beklagt werden auch nicht die Risse in der Bildungstradition und in Kulturdenkmälern, sondern eben der Kalte Krieg in Europa. Wir sehen aber: Europa steht heute nach wie vor und wird auch nach weiteren Erschütterungen auch in Jahrzehnten noch stehen, obwohl die Vorstellungen zu Europa höchst disparat sind. Es sei eine Anekdote zur kulturellen Transformation Europas erzählt. Vor kurzem war man touristisch in Wien, wo man Europa in einer besonderen Form erleben konnte. Im August war Wien völlig überfüllt mit Touristen aus aller Welt, dominant ausstellend seine eigene europäische Tradition. Während einer Taxifahrt konnte man die europäischen Kulturstätten an sich vorbeiziehen lassen, die Wiener Oper, das Haus der Wiener Secession, die vielen Museen und historischen Stätten. In Wien hat man oft seltsame Taxifahrer, dieser stammte diesmal aus Bratislava und verkörperte wie selbstverständlich eine K&K-Kulturenverschmelzung im besten europäischen Sinne. Bei der Fahrt vorbei an einem Haus wies er aber darauf hin, dass hier der Paneuropa-Theoretiker Richard Coudenhove-Kalergi geboren sei, auf dessen Vorstellung eines christlichen Europas als Abendland sich auch heutige konservative Europa-Vorstellungen beziehen. Gut, er sagte es nicht in diesen Worten, er meinte, dass dieser Herr schuld sei, an der seiner Meinung nach zu beobachtenden Überfremdung – wo eigentlich? In Wien? Die geäußerten Zweifel, ob die Paneuropa-Vorstellung nicht von einem extrem multikulturellen und heterogenen Europa ausging, ließ er nicht gelten. Gut, Europa ist an vielen Ecken und Enden in Bedrängnis, und umso wichtiger, dass die hier versammelten Aufsätze auf aktuelle Debatten, auf Brexit, Separationsfantasien, EU-Kritik oder Europa-Begeisterung eingehen.

6 A celebration… Dritte und letzte Fallgeschichte: Beim Grand Prix Eurovision de la Chanson, das europaverbindende Musikfestival, das sich seit einigen Jahren Eurovision Song Contest nennt, hieß es 2002 im mittlerweile offenbar vergessenen Wettbewerbs-

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beitrag der Spanierin Rosa López: Europe’s living a celebration. Und weiter in der englischen Übersetzung des Liedes: Europe’s living a celebration All of us, we’re going to sing Europe’s living a celebration Our dream – a reality

Wie viel von dieser „Celebration“ übrig ist, die sich hier natürlich als wenig reflektiertes Klischee gibt, wie viel davon übrig sein sollte oder übrig sein könnte, wird dieser Band demonstrieren. Sein Aufbau ist folgendermaßen: Eine Grundlage für unsere Überlegungen wird vor allem die erste Gliederungseinheit des Tagungsbandes sein: Europa als (politisches) Konstrukt im Spiegel der Kultur(und)Theorie. Paul Michael Lützeler erläutert uns die Bedeutung der neueren Europa-Thesen von Robert Menasse. Nicolas Detering und führt uns ein in aktuelle Europadebatten in den Kulturwissenschaften, und ebenfalls aus seiner aktuellen Forschung zeigt Ulrich Brückner, wie oder ob man Europa, die Baustelle, lieben könne. – Aktuelle Konstruktionen von Europa als Idee, Begriff, Bild, kulturelle Konzeption, heißt es in der zweiten Gliederungseinheit, in der Christoph Augustynowicz Konzepte von Ostmitteleuropa vorstellen wird und Kay Wolfinger sich der Arbeit an Europa zuwenden wird. Das dritte Bündel an Aufsätzen beinhaltet Oliver Jahraus’ Überlegungen zum Imperium, die Einheitsbildung Europas, die Ulrike Zitzlsperger an Anthologien untersucht, und Rüdiger Görners Plädoyer für den ‚guten Europäer‘. Die Film- und Literaturbeispiele, die unseren Band beschließen, erstrecken sich von Jean-Luc Godard und Lars von Trier in den Beiträgen von Henry Keazor und Stephan Kammer, europäischen Dokumentarfilmen (Johannes Wende) bis hin zu Hans Pleschinskis Roman Brabant (Michael Braun), Schimmelbuschs Roman Hochdeutschland und verschiedenen Romanen und Filmen zum Thema Brexit (Michaela Nicole Raß). So danken wir allen Beitragenden für die Bereitschaft, dieses wichtige, neuralgische, aber auch überfrachtete Thema mitzudiskutieren und neu zu konkretisieren. Unser Dank gilt vor allem Heinrich Meier und Gudrun Kresnik von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung für die Zusammenarbeit im Vorfeld und die Gastfreundschaft am Schlossrondell, den Hilfskräften Laura Laabs und Patryk Maciejewski für die zuverlässige Unterstützung bei der Organisation und für den Tagungsbericht und Ute Hechtfischer vom Metzler Verlag für die umsichtige und wie immer kluge Betreuung des Publikationsprojektes. Ziel dieses Bandes ist es auch, ein Feld zu sondieren, um darauf weiterhin aufbauen zu können, und schon jetzt darf man auf Folgeanträge und Anschlussprojekte gespannt sein. Auch wenn die Fragen drängend werden: Ist es nur ein symbolischer Schritt, die EU zu verlassen? Versteht man sich weiterhin als Teil von Europa? Und kann man sich überhaupt aussuchen, als was man sich versteht? Machen wir uns deshalb auf den Weg, die europäische Kulturlandschaft zu vermessen und den

Europa ist überall: Einleitende Gedanken

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negative Europa-Visionen ein positives Europa-Bild entgegen zu halten, die Vision eines kulturell starken Europa-Entwurfs. Der Journalist und Schriftsteller Simon Strauß hat 2017 den bereits erwähnten Verein Arbeit an Europa mitgegründet, eine Gruppe junger Intellektueller, die sich aus kultureller Perspektive Gedanken über Europa macht. Auf der Internetseite heißt es: Die Idee der Gemeinschaft scheint an Überzeugungskraft zu verlieren, das erleben wir nicht zuletzt durch die anhaltenden Zweifel an der Europäischen Union, die uns fast schon zum Dauerzustand geworden sind. Dass darunter auch der europäische Geist leidet, wird nicht ohne Folgen bleiben. Je stärker wir Europa nur noch als administrativ-ökonomische Institution erleben, desto weiter entfernen wir uns von seinem kulturellen Kern. Deshalb ist es uns heute wichtiger denn je zu fragen: Was kann Europa bedeuten? Welche Ideen stehen dahinter, welche Geschichten wurden darüber erzählt, welchen Sinn kann es stiften? Und was steht auf dem Spiel, wenn wir die Anstrengung, uns seinem Wesen zu nähern, aufgeben?

Wir bündeln hiermit unsere Kräfte und geben nicht auf, sondern konzentrieren uns auf das Europa im Umbruch, um auch im Umbruch den Moment einer Bedeutungsstiftung zu sehen.

Teil II

Europa als (politisches) Konstrukt im Spiegel der Kultur(und)Theorie

Kritik der Kritik Zu den neueren Europa-Thesen von Robert Menasse Paul Michael Lützeler

1  Gibt es nicht schon seit der Frühen Neuzeit einen lebhaften Dialog zwischen Schriftstellern über Europa, seine kulturelle Besonderheit und Identität?1 Und denkt man nicht unter Autoren seit Aufklärung und Romantik über mögliche staatliche Formen eines politisch geeinten Kontinents nach?2 Hat nicht schon Victor Hugo in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Vereinigten Staaten Europas gefordert?3 Fand nicht in den beiden Dekaden nach dem Ersten Weltkrieg – provoziert durch Richard Coudenhove-Kalergis Schrift und Bewegung Pan-Europa – die denkbar lebhafteste Diskussion unter den europäischen Intellektuellen statt über künftige kontinentale Gemeinschaftsformen? Und gab es nicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Phasen, in denen die Essayisten unter den Schriftstellern mit Elan und Phantasie pro-europäische Stellungnahmen verfassten? Zu denken ist erstens an die Zeit zwischen 1945 und 1957, also vom Kriegsende bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und

1Detering, Nicolas: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln: Böhlau 2017. 2Lützeler, Paul Michael (Hg.): Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Frankfurt a.M.: Insel 1982. 3Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Piper 1992, S. 172–175. Zu dem Folgenden vgl. auch S. 272–364 und S. 402–441.

P. M. Lützeler (*)  Department of Germanic Languages and Literatures, Washington University in St. Louis, St. Louis, USA E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_2

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zweitens an das Jahrzehnt zwischen 1985 und 1995, als die Jalta-Teilung des Kontinents aufhörte? Nach 1945 sprachen die Autoren nicht ins Leere, wie der Haager Europa-Kongress im Mai 1948 zeigte. Der reagierte auf die Begeisterung in Teilen der westeuropäischen Jugend für das Projekt einer Einigung des Kontinents. Es war eine privat initiierte, unter der Schirmherrschaft von Winston Churchill organisierte Tagung, bei der in der niederländischen Hauptstadt Möglichkeiten einer kulturellen europäischen Kooperation, eines europäischen Staatenbundes, sogar einer Föderation Europas diskutiert wurden. Zu ihren Teilnehmern zählten unter anderem Hendrik Brugmans, François Mitterand, Konrad Adenauer, Walter Hallstein und Altiero Spinelli, die sich danach in der europäischen Integration engagierten.4 Die zweite Phase fiel in die Jahre um 1990. Aus der mittel- und osteuropäischen Dissidenten-Bewegung heraus entwickelte sich eine Diskussion um die Rolle eines nicht mehr geteilten Europas zwischen den Machtblöcken USA und Sowjetunion bzw. Russland. Entscheidende Impulse lieferten Autoren wie Milan Kundera, Václav Havel, György Konrád und György Dalos sowie Vertreter der polnischen Solidarność-Bewegung. Zu Wort meldeten sich auch Österreicher wie Manès Sperber, Italiener wie Claudio Magris und Schriftsteller aus der Bundesrepublik wie Peter Schneider, Hans-Christoph Buch und Hans Magnus Enzensberger.5 Heute liegt 1989 bereits drei Jahrzehnte zurück und zu überlegen ist, ob man die Chance einer kontinentalen Neuordnung genutzt hat. Noch 1988 glaubten die meisten, dass sie ein Ende der Jalta-Teilung nicht erleben würden, und heute ist man nur selten geneigt, über den status quo der Europäischen Union hinauszudenken. Brexit und der Europaverdruss in Ländern wie Griechenland und Italien, Polen und Ungarn, ja sogar zunehmend in Frankreich zwingen einen jedoch, die Brüsselpolitik zu überprüfen. Anders als nach 1945 und in den Jahren vor 1990 lassen sich die Essayisten unter den Autoren heute kaum auf eine öffentliche Grundsatzdebatte über Europa ein. Hängt das in Deutschland vielleicht mit dem schwierigen innerdeutschen Integrationsprozess zusammen? In vieler Hinsicht sind sich das ehemalige Ostund das frühere West-Deutschland fremd geblieben,6 und so ist das Land, was Fragen der Einheit und der Identität betrifft, nach wie vor stark mit sich selbst beschäftigt. Und ist die Bundesrepublik nicht längst ein sogenannter global player geworden, in dem die wirtschaftlichen wie medialen, die wissenschaftlichen wie touristischen Kontakte weit über die europäischen Grenzen hinausreichen? Hinzu kommen Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten und Afrika, die das wohlhabendste und bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union besonders betreffen. Die Medien, die politische Klasse und die EU-Forschung

4Loth,

Winfried: Vor 60 Jahren: Der Haager Europa-Kongress, in: Integration 31 (2008), S. 179– 190. 5Lützeler 1992, S. 442–482. 6Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, hg. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Frankfurt a.M.: Zarbock 2018.

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sind heute in Deutschland nur selten bereit, eine fundamentale Debatte über die EU zu beginnen. Ist es ein Zufall, dass ein österreichischer Schriftsteller die radikalsten Fragen stellt zu den Themen der Legitimität, Demokratie, Effizienz und Zukunftstauglichkeit der Europäischen Union? Aber warum nimmt er den literarischen Europa-Diskurs seiner Zeitgenossen kaum wahr? Warum hat er kein Interesse an dem, was seine Zunftgenossen in den letzten gut 150 Jahren zum Thema einer europäischen Föderation geschrieben haben? Warum diese fast autistische Abstinenz in Sachen des literarischen Europa-Diskurses? Hängt es damit zusammen, dass ein Autor heute nicht von einer populären Europa-Welle getragen wird? Robert Menasse startete 2010 mit einem in der „ZEIT“ veröffentlichten Essay zur Krise der EU7 eine Reihe von Publikationen, die sein neues Interesse am europäischen Integrationsprojekt signalisierten.8 In Zeitungs-, Radio- und Fernsehinterviews sowie in zwei Essaybänden und einem Manifest9 hat er die Effizienz der Kommissionsbeamten gelobt. Er hatte sich, weil er einen Roman über das EuropaBrüssel und das Brüssel-Europa schreiben wollte, zu einem längeren Aufenthalt in die EU-Hauptstadt begeben und sprach dort mit leitenden Beamten verschiedener Generaldirektionen der Kommission. Im Europäischen Landboten wurde – wie schon im „ZEIT“-Artikel – das Loblied auf die EU-Beamten angestimmt. Enzensberger hatte in seinen beiden Europa-Essays von 1989 und 201110 die Bürokratie

7Menasse,

Robert: Die demokratische Gefahr, in: DIE ZEIT (20.05.2010), S. 49. Antje: Radikale Revolution: Der Wandel von Robert Menasses europapolitischer Haltung. Von den Frankfurter Poetikvorlesungen zum ‚Europäischen Landboten‘, in: Michael Braun (Hg.): Deutsche Literatur und Zeitgeschichte. Tübingen: Stauffenburg 2018, S. 233–254. 9Menasse, Robert: Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss. Wien: Zsolnay 2012 (im Folgenden abgekürzt mit „Landb.“); Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa. Berlin: Suhrkamp 2014 (im Folgenden abgekürzt mit „Heimat“); Guérot, Ulrike/ Menasse, Robert: Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik, URL: https:// diepresse.com/home/presseamsonntag/1379843/Manifest (zuletzt abgerufen am 06.06.2020, im Folgenden abgekürzt mit „Manif.“); Kritik der Europäischen Vernunft. Rede im Europäischen Parlament anlässlich der Feier ‚60 Jahre Römische Verträge‘, gehalten am 21. März [2017] in Brüssel, URL: https://www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Rede-Robert-Menasse.pdf (zuletzt abgerufen am 06.06.2020, im Folgenden abgekürzt mit „Kritik“). In dem Buch von Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Bonn: Dietz, 2. Aufl. 2016 schreibt die Autorin in der „Danksagung“ auf S. 9: „Es gibt fünf Personen, ohne die dieses Buch nie zustande gekommen wäre. Sie allein wissen warum. Ihnen gilt mein größter Dank! Es sind: Julien Deroin, Elmar Koenen, Victoria Kupsch, Robert Menasse und Valeska Peschke.“. 10Enzensberger, Hans Magnus: Brüssel oder Europa – eins von beiden, in: Ders.: Der fliegende Robert. Gedichte. Szenen. Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 117–125; Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. Vgl. die Rezension dazu in Lützeler, Paul Michael: Publizistische Germanistik. Essays und Kritiken. Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 324–327. 8Büssgen,

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in Brüssel als „monströs“ geschildert.11 Die „Kommission“, so hielt Menasse fest, sei eine „offene und transparente Institution“ (Landb. 21), „extrem schlank“, auch „sparsam und bescheiden“, zudem seien „die Beamten“ sogar „lustig“ (Landb. 22). Er sei in Brüssel ständig „hochqualifizierten, aufgeklärten, rational denkenden Menschen“ (Landb. 72) begegnet. Allerdings drängt sich dann die Frage auf, warum er in seinem Roman Die Hauptstadt12 Kommissions-Bürokraten schildert, die aus ihren nationalen Vorurteilen nicht herauskommen und ihre eigene Karriere allen anderen Interessen überordnen. In seinen Essays aber entdeckt er einen „völlig neuen Beamtentypus“, einen, der nicht „seiner Regierung verpflichtet“ sei und selbst „immer wieder staatliche Bürokratie in Frage“ stelle (Landb. 21).13 Ist aber der gelobte Brüsseler Beamtentypus wirklich so neu? Sagt der Autor nicht selbst, dass er ihn aus der „josephinischen Bürokratie“ bereits kenne? Die nämlich wird bei ihm „als Vorläufer der heutigen europäischen Verwaltung“ (Landb. 23) verstanden. Die josephinischen Beamten seien bereits „echte Europäer“ (Landb. 23) gewesen. Kann man den aufgeklärten Absolutismus Joseph II. als schlechthin „europäisch“ bezeichnen? Hatte es Toleranzedikte in Polen und Frankreich nicht lange vor diesem Kaiser gegeben? Und blieb nicht der Vorrang der Katholischen Kirche in Österreich bestehen, obgleich es ihm gelang, ihr Glaubensmonopol aufzuheben? Die Abschaffung der Leibeigenschaft unter Joseph II. war eine historische Tat mit Langzeitwirkung. Aber musste der Kaiser nicht mehrere Reformen gegen Ende seiner Regierungszeit wieder rückgängig machen? Und unterschlägt der Autor nicht einen auffallenden negativen Aspekt des kaiserlichen Regimes? Wollte Joseph II. nicht die umfassende Überwachung seiner Untertanen durchsetzen? Sollte dieses System nicht so lückenlos sein, dass er sogar die Überwacher – seine Beamten – überwachen ließ? Metternich brauchte dieses ausgeklügelte System später nicht mehr zu erfinden, sondern nur noch zu verfeinern und zu erweitern.14 Hat diese Schnüffelpassion etwas mit „europäischer Idee“ zu tun? Verbindet man die nicht eher mit freier individueller Entfaltung? Die Beamten unter Joseph II. wurden auf das Haus Habsburg-Lothringen vereidigt, und was immer von dort gewünscht wurde, führten sie aus: anfänglich die

11Zum allgemeinen Vorwurf, dass die EU-Verwaltung in Brüssel besonders „bürokratisch“ sei, vgl. den Aufsatz von Pancik, Pascale: Die EU als Bürokratie der Anderen – zur Semantik gegenwärtiger EU-Kritik, in: Günter Blamberger, Axel Freimuth, Peter Strohschneider (Hg.): Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 151–161. 12Menasse,

Robert: Die Hauptstadt. Roman. Berlin: Suhrkamp 2017. an der Generaldirektion, die für Kultur zuständig ist, ließ Menasse kein gutes Haar. Er unterhielt sich mit einer leitenden Beamtin dieses Ressorts, die nicht als Figur in seinem entstehenden Brüssel-Roman auftauchen wollte (Landb. 81). Prompt wurde Themis Christophidou in Die Hauptstadt als an Kultur völlig desinteressierte Fenia Xenopoulou karikiert. 14Vocelka, Karl: Geschichte Österreichs. Kultur, Gesellschaft, Politik. München: Heyne 4 Aufl. Vocelka et al. 2006, S. 194–197. 13Nur

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Reformen, später ihre Abschwächungen oder gar Rücknahmen.15 Die ÖsterreichParallelen zur Europäischen Union werden von Menasse allgemein betont: „Die Habsburgermonarchie“ als spätere Donaumonarchie habe, behauptet er, ihren „kleinen Ländern […] Schutz- und Entwicklungsmöglichkeiten“ geboten, und so sei sie zum „Modell der heutigen Europäischen Gemeinschaft“ geworden (Heimat 14). Hinkt der Vergleich nicht allzu sehr? Waren im Habsburgerreich die Länder etwa freiwillig zusammengekommen? Oder waren sie durch Eroberungskriege, durch dynastische Heiraten, durch Länderschacher im Lauf der Jahrhunderte unter die Befehlsgewalt der Erzherzöge gezwungen worden? Nutzten die Herren in der Hofburg nicht geschickt ihren kaiserlichen Status, den Machtbereich auszudehnen? Als infolge eines verlorenen Weltkriegs und nach einer Revolution in der eigenen Hauptstadt die Habsburg-Dynastie ihre Macht verlor, nahmen die Länder im sogenannten Vielvölkerstaat die Chance wahr, unabhängig zu werden.16 Es lässt sich vieles gegen die Europäische Union sagen. Aber ist dort ein Land zur Mitgliedschaft gezwungen worden? Man kann nur hoffen, dass die EU nicht ihrem k.u.k. „Modell“ folgt und bei einer fundamentalen Krise gleich in ihre nationalen Teile zerfällt. Ist nicht für ein künftig geeintes Europa die mehrsprachige Schweiz mit ihrer föderativen Struktur ein besseres Beispiel?17 Auf den helvetischen Modellcharakter ist in der Europa-Literatur oft verwiesen worden;18 vor einigen Jahren erneut bei Adolf Muschg, der den Schweizer Bundesstaat als Vorbild für eine europäische Föderation versteht.19

15Heinisch, Reinhard R.: Der Josephinische Staat, in: Karl Gutkas (Hg.): Österreich zur Zeit Kaiser Josephs II. Wien: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung 1980, S. 217–222. Vgl. ferner: Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien: Herold 2. Aufl. Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien: Herold 2. Aufl. 2001, S. 249–251. 16Vgl.

Gottmann, Andreas (Hg.): Karl I. (IV.): Der Erste Weltkrieg und das Ende der Donaumonarchie. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007. 17Gross, Andreas: Die unvollendete Direkte Demokratie. 1984–2015: Texte zur Schweiz und darüber hinaus. Thun: Werd Verlag 2016. 18Vgl. Böhler, Michael: Topologische Spiegeleien – Schweizer Wechselspiele im Imaginären Europas, in: Moritz Csáky, Johannes Feichtinger (Hg.): Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte. Bielefeld: transcript 2007, S. 103– 132. 19Muschg, Adolf: Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. München: Beck 2005, S. 12, 30, 65–66, 107–108, 119.

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2  Während Menasse die EU-Kommission mit Lob überhäuft, sieht er in seinen Essays das EU-Parlament kritisch. Die Vorbehalte betreffen das Wahlverfahren und die Zusammensetzung, die beide noch zu national geprägt seien (Landb. 54, 83). Ein Skandal, dass „viele Abgeordnete von populistischen Anti-EU-Listen in das Parlament“ gewählt würden. Die Gefahr bestehe, dass es dadurch zum „Zentral-Stammtisch der Anti-Europäer“ werde (Landb. 83). Vernichtend aber fällt Menasses Urteil über den Europäischen Rat aus, in dem die Staatschefs der Mitgliedsnationen vertreten sind.20 Sie sieht er als Zerstörer des europäischen Einheitsprojekts. Anders als bei Kommission und Parlament handle es sich hier nicht um eine supranationale Institution. Die „demokratische Legitimation“ des Europäischen Rats sei „bloße Chimäre“, da die „Regierungschefs“ in „nationalen Wahlen“ an die Macht gekommen seien, bei denen Erwägungen über die Kompetenz, „supranationale Entscheidungen“ (Landb. 36) zu treffen, keine Rolle gespielt hätten. Diese Institution verteidige nichts als „nationale Interessen“ (Landb. 51). Im Grunde sei der Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, ein „sanfte[r] Putsch der Nationalisten“ gewesen. Mit diesem Dokument sei „die Macht des [Europäischen] Rats massiv erhöht“ worden (Landb. 54). Aber sind die intergouvernementalen Diskussionen und Beschlussfassungen im Europäischen Rat nicht auch als „europäisch“ zu bezeichnen? Warum aber ignoriert Menasse eines der ältesten Organe im Brüssel-Europa, den Rat der Europäischen Union?21 Er wird auch Ministerrat genannt. Als Staatenkammer wurde der Ministerrat bereits 1952 im Anfangsstadium der Montanunion, d. h. der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS), gegründet (gemeinsam mit dem Parlament als Bürgerkammer). Dieser Ministerrat ist das wichtigste Legislativorgan der Mitgliedstaaten und übt die Rechtsetzung gemeinsam mit dem Europäischen Parlament aus. Erst mit dem Jahr 1969 begann die Geschichte des Europäischen Rates, also der Gruppe der Regierungschefs. Vierzig Jahre später wurde der Europäische Rat mit dem Lissabonvertrag offizielles Organ der EU. Seitdem ist der Ministerrat (also der Rat der Europäischen Union) dem Europäischen Rat untergeordnet. Die Detailarbeit im Sinne der Interessenvertretung der Mitgliedstaaten aber wird in den zehn Filiationen des Ministerrats geleistet. Die Abstimmung und Koordinierung sowohl der Fachminister wie der Regierungschefs findet hier in den zehn Politik-

20Wessels,

Wolfgang: The European Council. Basingstoke: Palgrave Macmillan Wessels 2011. Sven von: Der Rat der Europäischen Union. Seine Stellung im institutionellen Gefüge des europäischen Mehrebenensystems und sein Beitrag zur demokratischen Legitimation der Europäischen Union. Köln. München: Heymanns 2009; Lempp, Jakob: Die Evolution des Rats der Europäischen Union. Institutionenevolution zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalismus. Baden-Baden: Nomos Lempp 2009.

21Alemann,

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bereichen statt: Allgemeines, Auswärtiges, Beschäftigung, Bildung, Justiz, Landwirtschaft, Umwelt, Verkehr, Wettbewerb, Wirtschaft. Der Generalsekretär dieser Staatenkammer ist als Chef von 2500 Mitarbeitern eine der einflussreichsten Figuren in der EU. Ist es möglich, dass Robert Menasse bei seinem Aufenthalt in Brüssel nichts von ihm und seiner Behörde gehört hat?22 Menasse möchte den Europäischen Rat abgeschafft sehen. Sollte man in dem Fall nicht den Rat der Europäischen Union in dieses Abbruchprojekt einbeziehen? Nach einem Jahrzehnt EWG war in den Augen der nationalen Regierungschefs der Eindruck entstanden, dass ihr kollektiver Standpunkt bei den Entscheidungen in Brüssel nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Heute aber behaupten die Gegner des Europäischen Rates, dass sein Einfluss zu groß geworden sei und dass von einem Gleichgewicht zwischen ihm und dem Parlament keine Rede sein könne. Menasses Hassobjekt ist der Europäische Rat, also die Gruppe der Regierungschefs der Nationalstaaten. Ihn möchte er aus dem Machtgefüge der Europäischen Union verbannt sehen. Er führt dabei drei Argumente an: Erstens sei für den Europäischen Rat ein selbstevidenter Nationalismus charakteristisch; zweitens verletze er das Subsidiaritätsprinzip; und drittens entspreche er nicht den Absichten der Gründungsväter. Erstens zum inkriminierten Nationalismus: Nach Menasse vertreten die im Europäischen Rat versammelten Staatschefs ausschließlich die Interessen ihrer Nationen, sind also eo ipso Nationalisten. Kann man aber Nation und Nationalismus als untrennbar miteinander verbunden sehen? Die europäische Bewegung, schreibt Menasse, habe sich die Zerstörung des Nationalismus vorgenommen, und dieses Ziel könne nur erreicht werden, wenn die Nationalstaaten abgeschafft würden. Auch zwischen Nationalismus und nationaler Identität sieht der Autor keinen Unterschied. „Die nationale Identität“ gilt ihm als „eine schäbige Ideologie, die regelmäßig zu Kriegen und Verbrechen wider die Menschlichkeit geführt“ habe (Landb. 64). Kann man das generell über das nationale Selbstverständnis der Bürger, die in den heutigen EU-Staaten leben, noch sagen? Die Europäische Union, so hält Menasse im gleichen Kontext fest, sei ein „Projekt zur Überwindung des Nationalismus und der Nationalstaaten“ (Landb. 93). Dass die europäische Bewegung sich die Überwindung des Nationalismus auf die Fahnen geschrieben hat, ist richtig. Aber haben die Europastrategen mit politischer Verantwortung auch die Abschaffung der Nationalstaaten gewollt? Nationalstaaten können vieles anstreben. Ihren Bellizismus zu leugnen, wäre in Bezug auf viele Länder eine Geschichtsverfälschung. Die westeuropäischen Staaten haben sich jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg dafür entschieden, ihren Nationalismus zu zähmen und ihre Energien zur Beförderung eines kontinentalen Friedens- und Wirtschaftsprojekts zu nutzen. Die Montanunion, die EWG, die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union sind von Nationen gebaut worden.

22Von

2011 bis 2015 war ein Deutscher (Uwe Corsepius) Generalsekretär des Rats der Europäischen Union; danach wurde er in Berlin Leiter der Europaabteilung im Bundeskanzleramt.

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Haben diese nicht freiwillig auf Teile ihrer Souveränität verzichtet, indem sie supranationale Institutionen wie die Hohe Behörde und die Kommission schufen? In der EU werden Beschlüsse gefasst, die das Ergebnis von Verhandlungen sind, die sich zwischen den Regierungschefs im Europäischen Rat abspielen, den Ministern im Rat der Europäischen Union, den Abgeordneten im Parlament und den Kommissaren mit ihren Beamten in den Generaldirektionen. Haben Kritiker nicht von Anfang an auf Fehlentwicklungen in diesen Institutionen hingewiesen? Man denke an Reinhold Schneider, der 1957 nicht verstehen konnte, dass man ein gemeinsames Haus Europa ohne die Berücksichtigung des Kulturellen bauen wollte; man vergesse auch nicht Hans Magnus Enzensberger, der 1989 das Demokratie-Defizit der Kommission beklagte.23 Und Robert Menasse selbst hat hellsichtig die Gefahr erkannt, dass im Europäischen Rat Deutschland und Frankreich auf undemokratische Weise dominieren, ja dass nicht selten Deutschland alleine den Ton anzugeben versucht (Landb. 44–46). Der Vorwurf trifft zu. Hat nicht die neuere deutsch-französische entente cordiale mit zum Brexit beigetragen wie die alte deutsch-französische Freundschaft unter Adenauer und de Gaulle mit ein Grund dafür war, dass Großbritanniens Aufnahmeantrag von 1963 abgelehnt wurde?24 Auch die Europäische Union benötigt Kritik von außen. Besagt das aber, dass man den Regierungsvertretern der Einzelstaaten ein Brüsseler Hausverbot erteilen sollte? Bedeutet es, dass man die Nationen überhaupt abschaffen müsste, wollte man das europäische Einigungswerk retten? Menasse geht in seiner Radikalkritik noch einen Schritt weiter: Wenn man die Nationen auflöst, solle auch gleich jene Form von Demokratie verabschiedet werden, wie wir sie kennen und praktizieren, weil sie mit dem Makel des Nationalen behaftet sei (Manif.). Was aber fängt man an mit Menasses vagen Andeutungen zu einer künftigen „transnationalen Demokratie“ (Heimat 18)? Der Autor verkündet im „Manifest“: „Niemand weiß heute, wie das absolut Neue, das Niedagewesene, das weltgeschichtliche Avantgardeprojekt – nämlich die nachnationale europäische Demokratie – am Ende konkret institutionell verfasst sein wird. Das zu diskutieren, mit aller Fantasie der Träumer, mit aller Kreativität, zu

23Vgl.

Lützeler, Paul Michael: Schriftsteller und die Europäische Union: Reinhold Schneider, H. M. Enzensberger, Adolf Muschg, in: Ders.: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 26–48.

24Vgl.

Fleischhauer, Jan: Ist die Kanzlerin schuld am Brexit?, in: SPIEGEL ONLINE (27.06.2016): URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ist-angela-merkel-schuld-ambrexit-kolumne-a-1099970.html (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). Zu den ganz unterschiedlichen Vorstellungen über die Zukunft der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei Charles de Gaulle (dem Nationalisten) und Konrad Adenauer sowie Jean Monnet (den Supranationalisten) vgl. Oudenaren, John van: The Breaking of Nations: De Gaulle, Monnet, and the Politics of Nationalism in Europe, URL: https://www.krasnoevents.com/uploads/1/1/6/6/116679777/ krasno_analysis_-_van_oudenaren_-_de_gaulle_monnet_and_nationalism_--_dec._2018.pdf (zuletzt abgerufen am 06.06.2020).

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der dieser Kontinent fähig ist, ist die Aufgabe, die sich uns heute stellt […].“ Aber sollte man nicht vorher wissen, welche Art von Demokratie einem da in Zukunft beschert werden soll? Kann es darüber nicht etwas genauere Informationen geben, bevor die Abrissbirne bestellt wird, die gegen uns bekannte demokratische Institutionen geschleudert werden soll? Mit der apodiktisch formulierten These von Menasse, dass sowohl die „Nationalstaaten“ wie auch die „nationale Demokratie […] sterben“ müssen (Heimat 18), ist es da nicht getan. Kann man sich z. B. eine postnationale Demokratie ohne Gewaltenteilung vorstellen? Zweitens zum Subsidiaritätsprinzip und der Favorisierung der Regionen: Eine der Hauptforderungen Menasses ist die Ersetzung der Nationen durch die Regionen. Menasse versteht die „regionale Identität“ als „die Wurzel der europäischen“ (Landb. 88). „Europa“ sei „in Wahrheit ein Europa der Regionen“ (Landb. 67), und so möge auch die europäische Volksvertretung ein „Parlament der Regionen“ (Landb. 43) werden. Nicht die Nationen, sondern die „Regionen“, so heißt es, sollen „ihre Abgeordneten ins Parlament“ wählen, und dieses wiederum bestimme den „Kommissionspräsidenten“ und die „Kommissare“ (Landb. 87). So werde ein Schuh aus der trans-, supra- und nach-nationalen, d. h. europäischen Demokratie, die der Europäische Rat mit seinem „Nationalismus“ nicht mehr stören werde. Ist Menasse der erste Essayist, der im literarischen Europadiskurs ein besonderes Augenmerk auf die Regionen hat? Nahmen Denis de Rougemont 196825 und Carl Amery 1984 nicht bereits vergleichbare Argumente vorweg? Europa, so führte Amery aus, könne nicht als Zusammenschluss von souveränen Nationalstaaten, sondern nur als Gemeinschaft der historisch älteren Regionen funktionieren. Die Europäische Gemeinschaft dagegen, bemerkte er ironisch, vertrete die „glänzende Idee, die Böcke, nämlich die Nationalstaaten, zu Gärtnern zu machen“.26 An die Stelle der Brüsseler Behörde habe ein „Senat der europäischen Regionen“ zu treten, dem es aufgetragen sei, eine „europäische Konstitution“ zur Begründung einer „Föderation aus fünfunddreißig bis vierzig Regionen“ zu erarbeiten.27 Aber Menasse zitiert keine Eideshelfer aus der älteren Europaliteratur, sondern beruft sich in seinem Plädoyer für die Regionen auf den Vertrag von Lissabon, also ausgerechnet auf ein Dokument, das – wie er selbst sagt – die Befugnisse des Europäischen Rates entscheidend erweitert hat. Dort nämlich sei das Subsidiaritätsprinzip verankert worden. „Im Lissabon-Vertrag“, so berichtet er, sei „das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben, die Nationen werden nach und nach verschwinden, ein Europa der Regionen ist im Entstehen.“

25Rougemont,

Denis de: L’Europe des regions [1968], in: Christophe Calame (Hg.): Œuvres complètes de Denis de Rougemont. Tôme III: Écrits sur l’Europe, volume second: 1962–1986. Paris: Éditions de La Différence 1994, S. 183–188. Vgl. dazu auch die Studie von Ruge, Undine: Die Erfindung des ‚Europa der Regionen‘. Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts. Frankfurt a.M.: Campus 2003. 26Amery, Carl: Wegweisung Europa. Eine kritische Reflexion, in: Ders.: Bileams Esel. Konservative Aufsätze. München: List Amery et al. 1991, S. 79. 27Amery Amery et al. 1991, S. 85.

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(Heimat 33; ähnlich auch in Landb. 78) Aber liest sich das Subsidiaritätsprinzip in den Verträgen der Europäischen Union nicht ganz anders?28 Im Vertrag von Lissabon ist es in Artikel 5 Absatz 3 EUV nachzuschlagen. Steht dort nicht, was Subsidiarität schon immer bedeutet hat? Dass nämlich lokale Verwaltungen für Lokales, regionale Administrationen für Regionales, nationale Regierungen für Nationales und die Brüsseler Behörde für Kontinentales zuständig sind? Oder anders gewendet: Wo lokale Verwaltungen an ihre Kompetenzgrenzen stoßen, schalten sich regionale Stellen ein, diese delegieren Aufgaben, die transregional sind, an die nationale Ebene, und die Mitgliedstaaten überlassen der EU die Initiative, wo ihre eigenen Zuständigkeiten im Hinblick auf die kontinentale Ebene überschritten würden. Menasse hält zu Recht fest, dass im Vertrag von Lissabon genauer als im Maastricht-Vertrag29 auch auf die subnationale, d. h. die regionale Ebene eingegangen wird. Es geht dort auch um den Europäischen Ausschuss der Regionen.30 Der wurde 1992 zur Zeit von Maastricht gegründet und seine erste Plenarsitzung fand 1994 in Brüssel statt. Er hat heute 350 Mitglieder und tritt mehrfach im Jahr zusammen. Seine Befugnisse liegen in den Bereichen von Beratung und Konsultation. Vor allem erarbeitet er Stellungnahmen zu Fragen der Regionen und Kommunen, die in der europäischen Gesetzgebung von Belang sind. In Lissabon wurde der Ausschuss der Regionen dadurch gestärkt, dass ihm das Klagerecht vor dem Gerichtshof der Europäischen Union für jene Fälle eingeräumt wurde, wenn neue Gesetze das Subsidiaritätsprinzip verletzen. Der Ausschuss ist aber nach wie vor kein Machtorgan der EU. Ist dieses Klagerecht bereits ein Zeichen des „Absterben[s]“ der Nationen? Und verwandelt es die EU bereits in eine „frei[e] Assoziation von Regionen“ (Heimat 78)? Ist das nicht eine durch Wunschdenken gesteuerte Fehlinterpretation der Sachlage? Drittens die Berufung auf die Gründerväter: Am Anfang des 2012 erschienenen Essays Der Europäische Landbote steht ein Satz, den wohl jeder unterschreiben kann, der sich im Europa-Diskurs des 20. Jahrhunderts auskennt. Da heißt es zu den Motiven und Zielen jener Politiker, die Montanunion und EWG planten und etablierten: „Die Nationen – das war nun die Idee der Gründerväter des europäischen Friedensprojekts – müssten institutionell und ökonomisch so verflochten und in wechselseitige Dependenz gebracht werden, dass das Verfolgen jeglichen Eigeninteresses gar nicht mehr anders als in gemeinschaftlichem Handeln möglich ist. Nur so könnten Solidarität statt Nationalitätenhass, nachhaltiger Friede und gemeinsamer Wohlstand hergestellt werden.“ (Landb. 8–9) Können aber die weiteren Ausführungen zum europäischen Gemeinschafts-

28URL:

https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/7/das-subsidiaritatsprinzip (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 29Hrbek, Rudolf: Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union: Erfahrungen und Perspektiven. Baden-Baden: Nomos Hrbek 1995. 30Schmuck, Otto: Der Ausschuss der Regionen, in: Jahrbuch der Europäischen Integration (Schmuck et al. 2012), S. 129–134. (Das Jahrbuch wird herausgegeben von Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels.).

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unternehmen ebenfalls Zustimmung finden? Menasse begeistert sich für die europäische „Utopie“ der Gründergeneration. Nach den Plänen von Jean Monnet und Walter Hallstein sollten, wie es heißt, angeblich die „Nationalstaaten […] absterben“ (Landb. 12). Die Gründerväter als Totengräber der Nationalstaaten? Diese „Idee“ steigert sich bei Menasse in der Folge zur Gewissheit „vom notwendigen Absterben der Nationalstaaten.“ (Landb. 13) Sie wird auch in Heimat ist die schönste Utopie wiederholt, wo von der „Idee der Gründerväter des Europäischen Projekts“ die Rede ist, die das „Absterben der Nationalstaaten“ (Heimat 64) als Finalität der Integration begriffen hätten. Zum Beleg wird auf die Memoiren Jean Monnets31 verwiesen, des Vordenkers der Montanunion und des ersten Präsidenten ihrer supranationalen Hohen Behörde von 1952 bis 1955 (Heimat 78; Kritik). Monnet wird als Europäer mit „revolutionären Visionen“ (Heimat 53) verstanden. Verwiesen wird aber auch auf Reden Walter Hallsteins (Kritik). Hallstein war der erste Kommissionspräsident der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im „Manifest“ wird Hallstein als Kronzeuge für das nachnationale Europa zitiert: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“ Das Problem ist allerdings, dass sich das Zitat als Fälschung erwiesen hat.32 Zudem wird Hallstein als großer Regionalist entdeckt (Kritik). Zum 60. Geburtstag der Römischen Verträge von 1957 wurde Menasse 2017 eingeladen, einen kurzen Vortrag im Europäischen Parlament in Brüssel zu halten (Kritik). Liest sich diese Rede nicht wie eine säkularisierte Buß- und Strafpredigt? Eine „Rückbesinnung“ auf die Europa-Visionen der EWG-Gründerväter wird gefordert. „Radikale Kritik am heutigen Zustand der EU“ sei fällig, ja eine „vernichtende Kritik“ müsse geübt werden an den heutigen „Erben“ des kontinentalen Projekts wegen ihrer unentschuldbaren nationalistischen ­ Europa-Vergessenheit. Die „Leistung der Gründergeneration der EU“ wird mit „feierlichem Stolz“ beschworen. Hätten diese Politiker noch „weit in die Zukunft vorausgedacht“, seien ihre heutigen Nachfolger „geschichtsvergessen und zukunftsblind“. Damit sind die Zuhörer im EU-Parlament gemeint: eine europäische Publikumsbeschimpfung. Was die Gegenwart betreffe, befinde man sich in der Panikphase

31Monnet,

Jean: Erinnerungen eines Europäers. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. BadenBaden: Nomos Monnet 1988. Erstmals auf Französisch 1976 erschienen. Die deutsche Übersetzung wurde zwei Jahre später bei Hanser in München publiziert. 32Vgl. Winkler, Heinrich August: Europas falsche Freunde, in: SPIEGEL Online (23. Oktober 2017), URL: https://www.spiegel.de/spiegel/heinrich-august-winkler-ueber-robert-menasseeuropas-falsche-freunde-a-1174045.html(zuletzt abgerufen am 06.05.2020). Winkler fand mehrere Hallstein-Zitate, die sich nicht nachweisen ließen. Vgl. auch den Artikel von Patrick Bahners vom 2. Januar 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel „Der Bluff des Robert Menasse“. Der Aufsatz löste eine Flut von Artikeln in der deutschsprachigen Presse Deutschlands, Österreichs und der Schweiz in den darauffolgenden Tagen aus. Am 5. Januar 2019 antwortete Robert Menasse selbst in der Welt auf die Vorwürfe mit dem Beitrag „Dafür entschuldige ich mich, das tut mir leid“ und gab zu, dass seine Hallstein-Zitate nicht stimmten, war aber immer noch überzeugt, den Politiker sinngemäß richtig verstanden zu haben. Vgl. dazu meine eigene Stellungnahme im Berliner Tagesspiegel vom 9. Januar 2019.

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„fünf vor Zwölf“, d. h. vor einer historischen Katastrophe, herbeigeführt durch die „Renationalisierung“. Der Nationalismus habe zu „zwei verheerenden Weltkriegen“ und zu „Auschwitz“ geführt. Rettung könne nur gefunden werden, wenn man die „radikale Einsicht“ der „Gründerväter“ teile, dass „der Nationalismus“ an „der Wurzel besiegt werden“ müsse, d. h. durch die „Überwindung der Nationalstaaten“. Diese drei Worte „Überwindung der Nationalstaaten“ werden dann mehrfach beschwörend wiederholt. Die Repetitionen, die einem rhetorischen Einhämmern gleichkommen, hält Menasse für angemessen, weil die Parlamentarier selbst dieses Ziel entweder „vergessen“ hätten oder es „feige verschweigen“ würden. Menasse fordert zu Besinnung und Umkehr auf: Die Abgeordneten sollten sich daran erinnern, dass sie Mitglieder einer „übernationalen Volksvertretung seien“ und damit Teil der „politischen Eliten Europas“. Sie seien in der Pflicht, „die nationalen Parlamente abzulösen“, so wie das bereits von Jean Monnet und Walter Hallstein geplant worden sei. Heute dagegen würden von den Brüssel-Europäern diese Visionen als „Spinnerei“ abqualifiziert. Man brauche kein europäisches Narrativ mit neuen Zielsetzungen zu erfinden, denn die Gründerväter hätten es im Sinne der „Überwindung der Nationen“ längst „formuliert“. Diejenigen aber unter den Europa-Verantwortlichen – und wieder sind die zuhörenden Parlamentarier gemeint –, die die „Renationalisierung“ betreiben oder dulden, seien die „Wiedergänger der Geschichte“ und brächten „uns den Tod“. Wie weitsichtig die Gründerväter gewesen seien, erkenne man auch daran, dass sie die globalen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts schon erahnt hätten. Kennzeichen der aktuellen internationalen Tendenzen sei die Auflösung der „Souveränität der Nationalstaaten“. Die „Idee der Nation als Solidargemeinschaft“ sei zu einer „reinen Fiktion“ geworden. Am Ende der Rede wendet sich der Bußprediger Menasse mit appellierenden „letzten Worten“ an die Gemeinde der lauschenden EU-Parlamentarier: Sie mögen sich hüten vor allem, was „die politische Idee des Europäischen Projekts verrät“ und „beschädigt“. Ihr „Auftrag“ sei, „eine Europäische Politik zu entwickeln“, und wenn sie sich in dieser Mission engagierten, würden sie „Europa zur weltpolitischen Avantgarde“ machen. Menasse will den Volksvertretern in Brüssel die Zuversicht vermitteln, die Auserwählten im Zirkel der globalen politischen Eliten zu sein. Wenn aber weiterhin auf dem Weg des nationalen Verderbens marschiert werde, stehe die Apokalypse, der Untergang Europas, wenn nicht der Welt bevor. Darüber ließ sich Menasse schon 2013 im Manifest aus. Dort beobachtete er, wie die Brüssel-Europäer hilflos in einem „brennenden Haus“ agierten. Sein Kommentar dazu: „Wo die Rettung verhandelt wird, wächst die Gefahr“. Erscheint der Manifest-Menasse hier nicht als der ins Negative gewendete Patmos-Hölderlin?33 Und weiter: Der „Widerspruch“ zwischen faktisch-nationaler und intendierter postnationaler

33In

der ersten Strophe in Friedrich Hölderlins „Patmos“-Gedicht von 1803 lauten die vierte und fünfte Zeile: „Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.“ Zur Interpretation vgl. Schmidt, Jochen: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. ‚Friedensfeier‘ – ‚Der Einzige‘ – ‚Patmos‘. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990.

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Politik „zerreiße Europa“. Schon 2012 sah er sich im Europäischen Landboten am „Vorabend eines Untergangs“. Als Autor verortet sich Menasse in der österreichischen Romantradition. Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Joseph Roths Radetzkymarsch und Heimito von Doderers Die Dämonen seien „VorabendRomane“ gewesen, die „einen Epochenbruch“ reflektierten (Landb. 107–108). Menasse selbst hat inzwischen den Roman Die Hauptstadt vorgelegt. Dort fängt er eine quasi vorabendliche Untergangsstimmung des Brüssel-Europa ein. Seine Perspektive ist ohne die genannten Romanautoren mit ihrer Satire, Ironie und Melancholie schwer vorstellbar. Auch Hermann Broch kann hier genannt werden, der in seiner essayistischen Studie „Hofmannsthal und seine Zeit“ das Wien seiner Jugend im Zeichen der „fröhlichen Apokalypse“ erinnerte.34 Es soll hier aber keine Romaninterpretation35 vorgelegt werden, denn es geht um Menasses essayistische und manifesthafte Äußerungen zu Europa. Was noch der Überprüfung bedarf, ist die These, dass die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften (vor allem Monnet und Hallstein) Radikal-Europäer gewesen seien, die die Nationalstaaten auf dem Kontinent hätten abschaffen wollen.

3  1950 feierte man in der römisch-katholischen Welt – ausgerufen durch Papst Pius XII. – ein sogenanntes Jubeljahr, auch heiliges Jahr genannt. In der Bischofsstadt Aachen hatten – vielleicht inspiriert durch den annus sanctus – zwei Kaufleute mit Sinn für hohe und populäre Kultur bemerkenswerte Gründungsideen. Wie konnte man der durch den Krieg zerstörten Grenzmetropole wieder ein paar Glanzlichter aufsetzen? Der Textilkaufmann Kurt Pfeiffer leitete den elitären lokalen Diskussionszirkel Corona Legentium Aquensis, zu dem in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bekannte Autoren und Gelehrte eingeladen wurden wie Werner Bergengruen, Theodor W. Adorno, Martin Heidegger und Werner Heisenberg. Der Geschäftsführer des Verkehrsvereins, Jacques Königstein, dagegen stand dem eher volkstümlich-folkloristischen – aber nicht minder einflussreichen – Aachener Karnevalsverein vor. Pfeiffer präsentierte seinem Corona-Zirkel die Idee eines Karlspreises, benannt nach Carolus Magnus, dem Aachener Lokalheiligen, dem legendären ersten fränkischen Kaiser, der Aachen vor über tausend Jahren zu seiner Lieblings-Pfalz erklärt hatte. Königstein setzte in seinem Karnevals-Club den Vorschlag eines Elferratsmitgliedes durch, einen Orden wider den tierischen

34Broch,

Hermann: Hofmannsthal und seine Zeit, in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Schriften zur Literatur I: Kritik, Bd. 9/1 der Kommentierten Werkausgabe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1975, S. 145. 35Vgl. dazu Seeba, Hinrich C.: „Das moralische Gewissen Europas“: Stefan Zweig und Robert Menasse, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9 (Seeba et al. 2018), H. 1, S. 119–136.

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Ernst zu stiften. Mit Preis und Orden sollten vor allem führende Politiker ausgezeichnet werden. Diese Persönlichkeiten müssten sich zum einen um die Europäisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verdient gemacht haben, zum anderen im Ruf stehen, ihren Humor auch beim härtesten Machtgerangel nicht zu verlieren. Das war alles sehr rheinisch geplant, sowohl der Preis wie der Orden. Kein Wunder, dass Konrad Adenauer beide Auszeichnungen erhielt. Sein Sinn für Humor ging aber nicht so weit, dass er in beiden Fällen die gleiche Rede gehalten hätte. Von Interesse sind in diesem Kontext nicht die karnevalistischen Ordens-, sondern die karolingischen Preisreden. Während der elf Jahre zwischen 1950 und 1961 erhielten den Karlspreis alle Politiker, die maßgeblich an der Gründung von Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft beteiligt gewesen waren: Alcide de Gasperi, Jean Monnet, der bereits erwähnte Konrad Adenauer, Paul-Henri Spaak, Robert Schuman, Joseph Bech und Walter Hallstein. Kann man nach der Lektüre der Karlspreis-Reden die Aussagen von Robert Menasse über die Gründerväter noch für bare Münze nehmen? Wird irgendwo in ihren Schriften die These des Autors bestätigt, dass den Altvorderen von EGKS und EWG an der Abschaffung der Nationen gelegen gewesen wäre? Oder dass sie sich als europäische Regionalisten geoutet hätten? Was Lessing im Hinblick auf die Schriften von Klopstock anmahnte, lässt es sich nicht auch auf die Reden dieser Politiker anwenden? Nämlich dass sie „weniger erhoben,/ Und fleißiger gelesen sein“ wollen.36 Alle Gründungsväter nahmen die Gelegenheit wahr, in den Dankesreden zum Karlspreis ihre Europa-Perspektiven zu erläutern. Da dominiert viel rückwärtsgewandt Pathetisch-Prophetisches, vor allem eine als vorbildhaft verstandene Politik Karls des Großen. Dessen Reich war geographisch gesehen mit dem Europa der ersten sechs Mitgliedsländer nahezu identisch. Damit hören aber, wie man heute nüchtern konstatieren muss, die möglichen Parallelen zwischen dem Frankenreich und der EWG auch schon auf. War Carolus Magnus Verfechter eines kontinentalen Friedenskonzepts? Oder brach er sein Leben lang Eroberungskriege vom Zaun? Konnte man von einem freiwilligen Zusammenschluss der Völkerschaften Westeuropas unter seiner Dominanz reden? Hatte sein Herrschaftsverständnis irgendetwas mit jenen Regierungsvorstellungen zu tun, die von den verantwortlichen Baumeistern eines neuen West-Europas in der Nachkriegszeit geteilt wurden? Konnte es im religiös-weltanschaulichen Bereich einen größeren Gegensatz geben als den zwischen dem päpstlich-kaiserlichlateinischen Einheits-Christentum der Zeit um 800 und dem glaubensmäßig zersplitterten und ideologisch antagonistischen Europa von 1950? Wie sollte zudem das karolingische Reich, das bereits nach einem halben Jahrhundert in drei sich bekriegende Teile zerfiel, ein Modell des künftigen Europas abgeben, das als Friedensreich auf lange Sicht geplant war? Die karolingische Abendland-Ideologie

36Lessing,

Gotthold Ephraim: Die Sinngedichte an den Leser (1771), zit. nach: Karl Otto Conrady (Hg.): Das große deutsche Gedichtbuch von 1500 bis zur Gegenwart. München/Zürich: Artemis & Winkler 1991, S. 99.

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der 1950er Jahre ist heute schwer nachvollziehbar, soll hier auch nicht im Einzelnen diskutiert werden, da Menasse sie ignoriert. Der Autor spricht zwar oft allgemein von Gründervätern, aber er bezieht sich nur auf angebliche Äußerungen von Jean Monnet und Walter Hallstein. Jean Monnet erhielt den Karlspreis 1953, als er der erste Präsident der Hohen Behörde der Montanunion war. Er sah in der EGKS den „wirklichen Anfang Europas“, da hier die „sechs Parlamente“ der Mitgliedsländer „einen Teil ihrer Souveränität“ auf die „Hohe Behörde […] übertragen“ hatten“.37 Monnet stellte vor allem „das endgültige Verschwinden des jahrhundertelangen, zerstörerischen deutsch-französischen Gegensatzes“ heraus (50 Jahre, 57). Von hier ausgehend geißelte er allgemein die „nationalen Gegensätze“, die aber „durch die Einigung der Europäer“ (50 Jahre, 58) überwunden werden könnten. So sehr er sich gegen den fatalen Nationalismus der Einzelstaaten im Europa der Vergangenheit wandte, so sehr setzte er die Hoffnung auf eine neue Kooperation der Nationen in der Gegenwart. Als vier Jahre später dem Belgier Paul Henri Spaak der Karlspreis verliehen wurde, hielt Jean Monnet die Laudatio. Damals waren gerade die Römischen Verträge zur Gründung der EWG unterzeichnet worden, und Paul Henri Spaak war daran federführend beteiligt gewesen. Monnet vertrat unter den Föderalisten die Vorstellung der pragmatischen Funktionalisten, die durch schrittweise Weiterung der Integration des Kontinents auf allen Gebieten (und nicht aus einer Verfassung heraus) den europäischen Bundesstaat schaffen wollten. Für Monnet war der EWG-Vertrag eine entscheidende Station auf dem Weg zu seinem Ziel: nämlich der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ (50 Jahre, 73). Menasse dagegen polemisiert im Manifest gegen „die geschichtsignorante Phrase von den ‚Vereinigten Staaten von Europa‘“. Er beruft sich wiederholt auf die Memoiren von Monnet, um zu belegen, dass dieser Gründungsvater die Nationen abschaffen wollte. Monnet aber widmete seinem Lebensziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ ein ganzes Kapitel in seinem Erinnerungsband. Dort berichtete er ausführlich über das von ihm 1955 eingerichtete und von ihm 1975 aufgelöste „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“.38 In diesem europäischen Bundesstaat sollten die Einzelnationen nicht wie in einem zentralistisch organisierten Machtgefüge abgeschafft werden, sondern als Teile eines Bundes mit abgestimmten Kompetenzen existieren, vergleichbar in etwa den föderativ organisierten Kantonen der Schweiz, den Ländern der Bundesrepublik Deutschland und den states der Vereinigten Staaten von Amerika. Monnet hatte

37Bettin,

Franco/Büttner, Anke (Hg.): 50 Jahre Internationaler Karlspreis zu Aachen 1950–2000. Aachen: Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen 2000, S. 57. (In der Folge abgekürzt als „50 Jahre“.). 38Monnet 1988, S. 513–545. Vgl. auch das folgende Kapitel „Die politische Einheit. Auf dem Weg zur Konföderation“, S. 547–566. Hier beschreibt Monnet, wie er wegen der Widerstände gegen eine Föderation durchaus als Schritt hin zum Ziel eines Bundesstaates eine Konföderation (einen Staatenbund) akzeptiert. Dazu heißt es: „Ich für meinen Teil zweifele nicht daran, daß eine Konföderation eines Tages zu einer Föderation führen wird.“ (S. 554).

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nicht nur keine Einwände gegen den Europäischen Rat, also gegen die Gruppe der nationalen Staatschefs, sondern setzte große Hoffnungen auf ihn. Er löste sein Aktionskomitee nach zwanzig Jahren auf, weil er der Überzeugung war, dass der Europäische Rat die Arbeit des Komitees fortsetzen werde.39 Als Walter Hallstein 1961 mit dem Karlspreis geehrt wurde, hielt Jean Monnet die Laudatio. Er sah die Wahlverwandtschaft zwischen sich und Hallstein darin begründet, dass sie beide durch Integration die europäische Einheit erreichen wollten (50 Jahre, 95). In seiner eigenen Ansprache zitierte Hallstein zustimmend die Parole, die Churchill in seiner Zürich-Rede von 194640 ausgegeben hatte: dass der Kontinent (allerdings ohne Großbritannien) „eine Art von Vereinigten Staaten von Europa“ (50 Jahre, 97) schaffen solle. Ingrid Piela zeigt in ihrer Studie von 2012, dass Hallstein mit den Begriffen von Konföderation und Föderation arbeitete, meistens aber den offeneren Begriff der „Gemeinschaft“ benutzte. Sie weist nach, dass Hallstein einer föderalistischen Denkrichtung zuzuzählen ist, die (im Gegensatz zu Monnet) weniger funktional als konstitutionalistisch ausgerichtet gewesen sei. Auch Hallstein ging es nie um eine Abschaffung der Nationalstaaten. Piela schreibt, dass die „Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Mitgliedstaaten“ für Hallstein die „bedeutsamste spezifisch föderale Frage“41 im Hinblick auf die europäische Gemeinschaft gewesen sei. Sie betont, dass Hallstein in seinem Spätwerk Der unvollendete Bundesstaat42 von 1969 für eine europäische Föderation plädierte, für einen „Bundesstaat, nicht einen Einheitsstaat“. Als Ziel habe er hier die „Vereinigten Staaten von Westeuropa“ ausgegeben (Piela, 93). Die stellte er sich „bundesstaatähnlich“ strukturiert vor, wobei das „Eigenständige des Nationalen“ erhalten bleiben müsse (Piela, 94). Wie kann man Hallstein und Monnet als intentionale Zerstörer der Nationalstaaten sehen? Beide vertrauten auf die Kraft der Nationen, eine europäische Föderation zu etablieren. Auch die übrigen Gründungsväter waren, wie die Karlspreis-Reden zeigen, dieser Meinung. Mit seinen neueren Essays, Reden, dem Manifest und dem Roman Die Hauptstadt mischt Robert Menasse den literarischen Europa-Diskurs in der Gegenwart neu auf. Seine Verdienste um die Kritik bestehender europäischer Institutionen in

39Vgl.

Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa (URL: https://de.wikipedia.org/ wiki/Aktionskomitee_f%C3%BCr_die_Vereinigten_Staaten_von_Europa, zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 40Churchill, Winston: Rede an die akademische Jugend vom 19. September 1946 (Zürich), URL: https://www.europa-union.de/fileadmin/files_eud/PDF-Dateien_EUD/Allg._Dokumente/ Churchill_Rede_19.09.1946_D.pdf (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 41Vgl. dazu im Detail Piela, Ingrid: Walter Hallstein – Jurist und gestaltender Europapolitiker der ersten Stunde. Politische und institutionelle Visionen des ersten Präsidenten der EWGKommission (1958–1967). Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2012, besonders das Kapitel „C. Die politische Idee“, S. 86–101; hier Seite 90. (In der Folge abgekürzt mit „Piela“.). 42Hallstein, Walter: Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. Unter Mitarbeit von Hans Herbert Götz und Karl-Heinz Narjes. Düsseldorf: Econ Walter: Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. Unter Mitarbeit von Hans Herbert Götz und Karl-Heinz Narjes. 1969.

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Brüssel sind unbestritten und sein Plädoyer für die Machtzunahme der Regionen ist Teil einer Ideenkonkurrenz zu Reformvorstellungen über die Zukunft der EU. Aber kann man wie er mit der revolutionären Kraft von Bürokratien rechnen? Wie sinnvoll ist es, beim Angriff auf den Nationalismus das Kind gleich mit dem Bade auszuschütten und die Nationalstaaten an sich zu verdammen? Wäre es nicht ratsam, sich mehr Gedanken zu machen über das, was Regionen in den verschiedenen Teilen Europas sind und was sie im europäischen Kontext leisten können? Sollte er sich die EU-Verträge auf das Verständnis von Subsidiarität hin nicht genauer anschauen? Wie kann man die Gründungsväter von Montanunion und EWG zu Eideshelfern in Sachen Abschaffung der Nationen und Rettung durch die Regionen erklären? Wie wäre es, wenn man sich ihre Reden und Schriften zum Föderalismus genauer ansehen würde und ihre antizipierenden Äußerungen zu den inaugurierten Vereinigten Staaten von Europa ernst nähme? Es ist schon richtig, dass man von der Weitsicht der Gründungsväter wie Monnet und Hallstein in Sachen Europa lernen kann. Bestand ihre Weisheit aber nicht gerade darin, dass Sie mit der Europäischen Föderation ein kontinentales Staatenmodell entwarfen, mit dem verhindert werden sollte, dass die Einzelnationen an der Union zerbrechen und mit dem vermieden würde, dass die Gemeinschaft am Egoismus ihrer Mitgliedsländer scheitert? Was Menasse in seinen Schriften nicht thematisiert ist die Frage, warum die größeren Nationalstaaten (wie Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien) solche Schwierigkeiten haben, von ihren nationalen Egoismen loszukommen und sich zu einem genuin europäischen Denken und Verhalten durchzuringen. Das ist anders bei Ulrike Guérot, die vorübergehend die These von der Abschaffung der Nationalstaaten mit Menasse teilte.43 Sie und Aleida Assmann, in deren neuem Europa-Buch44 sich sonst keine Übereinstimmungen mit Guérot ausmachen lassen, erinnern beide an die Last des kolonialen Erbes, an der sie ideologisch noch tragen, auch wenn sich im Fall von Frankreich und Großbritannien die Imperien im Lauf der Nachkriegsjahrzehnte auflösten, und wenn mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Phantasien von neuen Kolonialgebieten im Osten Europas (siehe Deutschland) und in Afrika (siehe Italien) wie Luftblasen platzten. Es zeigte sich bald, dass sich die neuen Dominanzansprüche dieser Imperien (und man vergesse nicht, dass das Deutsche Reich 1914 die drittgrößte Kolonialmacht der Welt war) auf die Europäische Gemeinschaft bzw. Union übertrugen. Guérot trifft einen wichtigen Aspekt des europäischen Föderationsprojekts,

43Vgl.

Anm. 9 sowie Guérot, Ulrike: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Berlin: Ullstein 2. Aufl. 2017. Beim Skandal um Menasses gefälschte Hallstein-Zitate meldete sich auch Ulrike Guérot zu Wort. Schon in ihrem Buch Der neue Bürgerkrieg zitierte sie Menasse an keiner Stelle. In dem Artikel von Ansgar Graw, der unter dem Titel „Menasses CoAutorin sagt, sie wusste nichts von falschen Zitaten“ in der Welt vom 27.12.2018 erschien, wird sie dahingehend zitiert, dass sie ihre Meinung zur Rolle der Nationen in der EU geändert habe. Menasses Verständnis eines „nachnationalen Europas“ teile sie nicht mehr. 44Assmann, Aleida: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. München: Beck Assmann 2018.

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wenn sie schreibt: „Die Ursprünge der heutigen Krisen liegen in der Kolonialzeit und in postkolonialen europäischen oder westlichen Interventionen.“ (Bürgerkrieg, 16). Aleida Assmann beschäftigt sich mehr mit den politischen Werten Europas (wie Friede, Demokratie und Menschenrechten) als mit Staatsmodellen von Föderation und Konföderation. Sie betont ebenfalls, dass „die EU auch eine Erbengemeinschaft“ sei, „deren Nationen eine gemeinsame Geschichte mit ihren ehemaligen Kolonien verbindet.“ Und sie erkennt: „Es wird immer offensichtlicher, dass die Fokussierung der europäischen Erinnerung auf die beiden Weltkriege und den Holocaust lange eine andere Zeitschicht verdeckt hat, und das ist die europäische Kolonialgeschichte.“ (Traum, 177). Es ist gerade die gegensätzliche Kolonial-Erfahrung der heutigen Mitgliedstaaten der EU aus West- bzw. aus Mittel- und Osteuropa, die die innereuropäische Kommunikation so erschwert. Während die meisten Nationen aus dem Westen Subjekte des Kolonialismus waren, haben sich die Mehrzahl der mittel- und osteuropäischen Staaten als Objekte von Kolonialprojekten Deutschlands, Österreichs, Russlands und des Osmanischen Reiches empfunden. Hat sich in den westeuropäischen Staaten, die sowohl Regionen außerhalb wie innerhalb Europas kolonisierten, viel von dem ehemaligen Konkurrenzdenken der Imperien erhalten, kommen die mittel- und osteuropäischen Länder nicht von ihren Erfahrungen als bedrängte, unterdrückte, ausgebeutete, aufgeteilte Nationen, als Spielbälle der Kolonialmächte weg. Die Sehnsucht nach Dominanz in der EU wird in den westeuropäischen Ländern zu selten eingestanden und reflektiert, und die Angst vor dieser Dominanz ist den mittel- und osteuropäischen ein zu wenig diskutiertes Problem. Hier ist noch eine Menge an „Vergangenheitsbewältigung“ und an Verständigungswillen nötig, um ein gegenseitiges Vertrauen zwischen den EU-Mitgliedsländern zu schaffen. Dieses Vertrauen ist aber die Voraussetzung eines Denkens und Handelns in transnationalen, d. h. europäischen Kategorien und Konstellationen.

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Neuere Europadebatten in den historischen Kulturwissenschaften des 21. Jahrhunderts Nicolas Detering

Mustert man die Äußerungen namhafter Intellektueller zu Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, so fallen eine ganze Reihe von Konvergenzen mit der geistes-, vor allem geschichtswissenschaftlichen Europaforschung im späten 20. Jahrhundert ins Auge, wie sie in Italien von Carlo Curcio und Federico Chabod, in England von Denys Hay, Geoffrey Barraclough, Peter Burke und Anthony Pagden, in Frankreich von Bernard Voyenne, Denis de Rougemont, Jean-Baptiste Duroselle, René Pomeau und Jacques Le Goff, in Deutschland von Heinz Gollwitzer, Rolf Hellmut Foerster, Erwin Jaeckle, Manfred Fuhrmann und vielen anderen betrieben wurde.1 Sicher unterscheiden sich die diversen Darstellungen

1Curcio,

Carlo: Europa. Storia di un’Idea. 2 Bde. Florenz: Vallecchi 1958; Chabod, Federico: Storia dell’idea d’Europa, hg. von Ernesto Sestan und Armando Saitta. Bari: Laterza 3. Aufl. 1967 [zuerst 1961]; Hay, Denys: Europe. The Emergence of an Idea. Edinburgh: Edinburgh UP 1957; Barraclough, Geoffrey: European Unity in Thought and Action. Vogelenzang Lecture. Oxford: Blackwell 1963; Burke, Peter: Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas 1 (1980), S. 21–29; Pagden, Anthony: Europe: Conceptualizing a Continent, in: Ders. (Hg.): The Idea of Europe. From Antiquity to the European Union. Cambridge: Cambridge UP 2002, S. 33–55; Voyenne, Bernard: Petite Histoire de l’Idée Européenne. Paris: Campagne européenne de la Jeunesse 2. Aufl. 1954 [zuerst 1952]; Rougemont, Denis de: Vingt-huit siècles d’Europe. La conscience européenne à travers les textes d’Hésiode à nos jours. Paris: Payot 1961; Duroselle, Jean-Baptiste: L’idée d’Europe dans l’histoire. Mit einem Vorwort von Jean Monnet. Paris: Denoël 1965; Pomeau, René: L’Europe des Lumières. Cosmopolitisme et Unité Européenne au XVIIIe Siècle. Paris: Stock 1966; Goff, Jacques Le: La vieille Europe et la nôtre.

N. Detering (*)  Institut für Germanistik, Universität Bern, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_3

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in den historischen Voraussetzungen, im analytischen und argumentativen Zugang sowie in der normativen Bewertung der Institutionalisierung Europas. Dennoch lassen sich bei abstrahierender Durchsicht einige Grundtendenzen bestimmen, die ich, provozierend schematisch gesprochen, zunächst knapp zu vier Aspekten ordnen möchte, um dann zu argumentieren, dass die Kulturwissenschaften seit etwa der Jahrtausendwende einige Umakzentuierungen auf diesem Gebiet vornehmen, denen das künftige Nachdenken über Europa vielleicht Rechnung zu tragen hätte.

1  Zunächst erstens: Ein bedeutender Teil der Europa-Historiker adressierte nach 1945 die Frage des Gemeinschaftsgedankens als Integrationsgrund des Kontinents, und sie tat das im 20. Jahrhundert weitgehend mit idealistischen Vokabeln wie ‚Europa-Idee‘, ‚Europa-Gedanke‘, ‚Europa-Vision‘ oder ‚europäische Identität‘.2 ‚Idealistisch‘ meint nicht, dass es sich notwendig um affirmative Europaentwürfe handelt, etwa im Sinne einer Zustimmung zur EU, sondern dass die Grundlagen Europas tendenziell als immateriell gefasst wurden. Sie beruhten der Terminologie zufolge wesentlich auf Geistigem oder Gefühltem, auf einem bestimmten Denken, auf bestimmten Vorstellungen und Empfindungen, weniger auf Texten und anderen

Paris: Seuil 1994; Goff, Jacques Le: L’Europe est-elle née au Moyen Age? Paris: Seuil 2003; Gollwitzer, Heinz: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. München: Beck 1951; Foerster, Rolf Hellmut: Europa. Geschichte einer politischen Idee. Mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945. München: Nymphenburger 1967; Jaeckle, Erwin: Die Idee Europa. Frankfurt a.M.: Propyläen-Verlag 1988; Fuhrmann, Manfred: Europa. Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee. Konstanz: UV Konstanz 1981. Diese Auswahl an Darstellungen zur Geschichte des Europagedankens ist nicht annähernd vollständig, ja kann noch nicht einmal beanspruchen, nur die wichtigsten Untersuchungen genannt zu haben. Aus der Forschungslandschaft um die Jahrtausendwende wären beispielsweise die Arbeiten Heinz Duchhardts, Wolfgang Schmales und Olaf Asbachs zu ergänzen. Einige Historiker der Europa-Idee stellt ein neueres Kompendium vor: Duchhardt, Heinz u. a. (Hg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. 3 Bde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Siehe auch Woolf, Stuart: Europe and its historians, in: Contemporary European History 12 (2003), H. 3, S. 323–337. 2Ähnlich

argumentiert Olaf Asbach (Konstruktionen einer politischen Identität Europas. Dimensionen und Fallstricke eines Diskurses zwischen Wissenschaft und Politik, in: Ingrid Baumgärtner, Claudia Brinker-von der Heyde, Andreas Gardt, Franziska Sick (Hg.): Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800. Frankfurt a.M.: Klostermann 2007, S. 281–296), um der Prädominanz ‚identifikatorischer‘, d. h. tendenziell teleologischer Zugriffe eine historische Semantik Europas entgegenzusetzen.

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Medien, auf Körper-, Waren- und Währungszirkulation oder auf Praktiken und Ritualen. Der idealistischen Bestimmung von Gemeinsamkeit eignet ein unitaristischer Impuls, der schon dadurch angezeigt wird, dass ihre Termini in der Regel keine Mehrzahlbildung vorsehen (‚Europa-Gedanken‘, ‚europäische Identitäten‘ meint etwas anderes als ‚der Europagedanke‘ oder ‚die europäische Identität‘). Es gehört zudem zu den Eigenheiten dieser Richtung, dass sie Pluralität vor allem im Bild der friedlichen Unitas Multiplex konzipierte, das heißt auf die grundsätzlich harmonisierbare Spannung von Einheit und Vielheit pochte. Diesem Modell entsprachen die diversen Versuche, Europa gewissermaßen als Klammeridentität – im deutschen Fall bisweilen auch als Surrogat-Identität – von nationalen, regionalen oder noch kleinteiliger gedachten Partikularidentitäten zu verstehen, die diese mal mehr, mal weniger fest oder locker bündeln, institutionell stärker oder weniger stark integrieren. Unter den unitaristischen Idealismus möchte ich in diesem Sinne alle Antworten auf die Frage nach der europäischen Identität (alternativ: Idee, Gedanke, Vision, Vorstellung) zwischen Einheit und Vielfalt rechnen, ganz gleich, worin genau diese Antworten bestehen, ob sie also eher mythologisch, historisch, bildungskulturell, friedenspolitisch und so weiter argumentieren. Verbunden ist damit eine zweite Gruppe des geisteswissenschaftlichen Europadiskurses, im weiteren Sinne auch der Europa-Essayistik um die Jahrtausendwende, die sich nämlich auf Fragen der politischen und rechtlichen Organisation Europas beziehen, also auf die Europäische Union bzw. ihre Vorgängerinstitutionen und deren Verfasstheit.3 Ihnen geht es zum einen um Strukturfragen – um die Möglichkeit einer Konstitution beispielsweise –,4 zum anderen um Verwaltung. Nicht nur in Deutschland zeigten sich viele Intellektuelle kritisch gegenüber der ‚monströsen‘ Bürokratie, gegenüber Demokratie- und Öffentlichkeitsdefiziten, Ökonomisierung und Kompetenzgerangel. Das Identitätsproblem von Einheit und Vielfalt klang hier in der Kritik der Zentralisierung und Bürokratisierung Europas an, welche die Pluralität von Lebens- und Regierungsformen

3Siehe

als Beispiel die Beiträge, die Lützeler, Paul Michael ([Hg.]: Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, bes. S. 406–507, mit Beiträgen von Reinhold Schneider bis Hans Magnus Enzensberger) von bekannten Intellektuellen und Schriftstellern zur Europafrage zusammengetragen hat. Siehe auch die neueren Untersuchungen Lützelers, etwa Lützeler, Paul Michael: Schriftsteller und die Europäische Union. Reinhold Schneider, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg. Mainz/Stuttgart: Steiner 2007, und Lützeler, Paul Michael: Der Schriftsteller als Politiker. Zur Europa-Essayistik in Vergangenheit und Gegenwart. Mainz/Stuttgart: Steiner 1997. 4Siehe nur Habermas, Jürgen: Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Ein Essay zur Verfassung Europas, in: Ders.: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 39–97; sowie Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Welchen Weg geht Europa?, in: Ders.: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 68–103.

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zu nivellieren drohe, sowie später in der Frage der institutionellen Zugehörigkeit, beispielsweise von ehemaligen Sowjetstaaten und der Türkei.5 Der dritte und der vierte Aspekt sind kaum voneinander zu trennen. Der dritte betrifft Raumfragen, wie sie insbesondere in den Geistes- und Kulturwissenschaften verstärkt mit Bezug auf Europa erörtert werden.6 An die Seite von Einheit und Vielfalt trat hier die Mengen- und Flächenlehre von Teilen und Ganzem sowie von Zentrum und Peripherie. Raumtheoretische Ansätze sind nicht per se inkompatibel mit den vorhin als idealistisch-unitaristisch bezeichneten, aber sie tendieren dazu, die räumliche Grundlage einer ‚europäischen Identität‘ eher zu destabilisieren, sie jedenfalls zu problematisieren, als sie im definitorischen Sinne zu begründen. Mit diesem Anliegen ist viertens die kritische Rekonstruktion von Europas ‚Außenbeziehungen‘ verbunden, wie sie die Geisteswissenschaften, auch aber die Essayistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend beschäftigt hat. Die Einsicht, die europäische Identität beruhe notwendig auf der Konstruktion von Alterität, entweder in abwertender oder in idealisierender Absicht, stand schon in der Europahistoriographie des frühen 20. Jahrhunderts axiomatisch fest und ist seitdem unermüdlich wiederholt worden.7 Ältere Bestimmungen des Europäischen, so die Einsicht, beruhten notwendig auf der

5Vgl. etwa die Essays von Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Europa und die Türkei, in: Ders.: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Berlin: Suhrkamp Wissenschaft 2011, S. 281–298; Wehler, Hans-Ulrich: Grenzen und Identität Europas bis zum 21. Jahrhundert, in: Ders.: Land ohne Unterschichten? Neue Essays zur deutschen Geschichte. München: Beck 2010, S. 28–41; sowie Habermas, Jürgen: Europa und seine Immigranten, in: Ders.: Ach, Europa. Kleine politische Schriften, Bd. 11. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 88–96. 6Prominent

beispielsweise bei Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser 2003, S. 463–476. Siehe zur weiteren Forschung auch: Günzel, Stephan (Hg.) unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2010. 7So konstatiert etwa bereits Chabod 1967, S. 23, zur Bewusstseinsbildung von Identität bedürfe es immer der Konstruktion von Alter. Es überrascht daher nicht, wenn er zu dem Schluss kommt, das „[c]oscienza europea significa infatti differenziazone dell’Europa, come entità politica e morale, da altre entità“, und dass „il concetto di Europa deve formarsi per contraposizione, in quanto c’è qualcosa che non è Europa“ (ebd.). – Als wichtigste ideengeschichtliche Arbeit aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Alteritätserfahrungen zum Schlüssel der Genese eines europäischen Bewusstseins erklärt, kann Hazard, Paul: La Crise de la conscience européenne (1680–1715). Paris: Boivin 1935, gelten. Wie Hazard erläutert, entlarvten die Entdeckungen fremder Kulturen und deren Abgleich mit europäischen Konventionen – etwa in der Figur des amerikanischen Bon Sauvage, des reisenden Persers, Chinesen oder Türken als Kritiker europäischer Politik – das europäische Selbstverständnis als historisch kontingent und hätten dadurch das skeptische Denken eines Pierre Bayle überhaupt erst ermöglicht. „De toutes les leçons que donne l’espace“, schreibt Hazard (ebd., S. 3–38, hier S. 14), „la plus neuve peut-être fut celle de la relativité. La perspective changea. Des concepts qui paraissaient transcendants ne firent plus que dépendre de la diversité des lieux; des pratiques fondées en raison ne furent plus que coutumières; et inversement, des habitudes qu’on tenait pour ex-travagantes semblèrent logiques, une fois expliquées par leur origine et par leur milieu“.

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Abwertung oder Überhöhung eines Anderen, als das man mal den ‚Wilden‘ der neuen Kolonien, mal den ‚Barbaren‘ vorrangig des osmanischen Herrschaftsbereichs, mal den ‚Exoten‘ Persiens oder Chinas imaginieren konnte. Mit der ökonomisch-politischen Globalisierung, vor allem aber mit der institutionellen Etablierung der postcolonial studies seit den Neunzigerjahren hat sich hier ein Bruch vollzogen. Im Grunde aber haben die Kulturwissenschaften der letzten Jahre alle genannten Aspekte auf eine bestimmte Weise umakzentuiert, wie ich im Folgenden argumentieren möchte. Unter ‚Kulturwissenschaften‘ verstehe ich im weiteren Sinne jene Disziplinen, die sich mit den symbolisch-materiellen Voraussetzungen und Ausdrucksformen von ‚Kultur‘ befassen. Meine Auswahl weitgehend von kulturwissenschaftlichen Monographien der letzten Jahre kann freilich keinen Anspruch auf Repräsentativität oder auf eine empirisch valide Rekonstruktion gegenwärtiger Makrotrends erheben, sondern argumentiert insofern eher prospektiv, als mir die vorgestellten Positionen vor allem für die weiteren Europadiskussionen beachtenswert erscheinen.8

2  Es ist oft kritisiert worden, dass der Begriff der ‚kollektiven Identität‘ nicht nur analytisch unscharf, sondern immer dann auch ideologisch problematisch ist, wenn er einen stabilen, fest umrissenen, ursprünglichen, das heißt historisch begründbaren ‚Kern der europäischen Kultur‘ meint.9 Einen solchen Kultur8Die vorliegenden Überlegungen verdanken sich dem Forschungsumfeld der Universität Konstanz, wo sich seit 2019 ein internationales Forschungszentrum den ‚Kulturen Europas in einer multipolaren Welt‘ widmet, siehe nähere Informationen unter URL: https://www.litwiss. uni-konstanz.de/kulturen-europas (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 9Bo Stråth (A European Identity: To the Historical Limits of a Concept, in: European Journal of Social Theory 5 (2002), H. 4, S. 387–401) hat die sozialwissenschaftliche Diskussion über ‚europäische Identität‘ seit den Siebzigerjahren kritisch zusammengefasst. „The history of a European identity“, schreibt Strath, „is the history of a concept and a discourse. A European identity is an abstraction and a fiction without essential proportions. […] The concept, since its introduction on the political agenda in 1973, has been highly ideologically loaded and in that capacity has been contested“ (ebd., S. 388). – Eine ähnliche Kritik ist mit anderem Vokabular bereits 1990 in einem Vortrag von Jacques Derrida (Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Übers. von Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992) vorgebracht worden. „Gerade im Namen der Identität (kulturell definiert oder nicht) wird hier nun die schlimmste Gewalt entfesselt“, lautete dort das Fazit, „ereignen sich die schlimmsten Gewalttätigkeiten; jene, die wir nur zu schnell erkennen, ohne ihr Wesen gedacht zu haben, die Verbrechen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des religiösen oder nationalistischen Fanatismus“ (ebd., S. 10). Aus empirischer Sicht der Politikwissenschaften siehe neuerdings White, Jonathan: A common European identity is an illusion, in: Hubert Zimmermann, Andreas Dür (Hg.): Key Controversies in European Integration. The European Union Series. Basingstoke: Palgrave Macmilan 2012, S. 103–111.

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und Identitätsbegriff zu korrigieren, war letztlich das Anliegen vieler postkolonialer Theoretiker, darunter Homi Bhabhas.10 Zuletzt hat der französische Sinologie François Jullien diese Kritik in seinem philosophischen Essay Es gibt keine kulturelle Identität (2016) aufgenommen.11 Auch Jullien stört sich an den Konnotationen von Geschlossenheit und Distinktion, die der Identitätsbegriff trage. Der Terminus passe nicht zu einem Konzept von Kultur, die sich durch ständige Mutation und Dynamik auszeichne, die europäische Kultur sei nicht fixierbar. Statt von Identität und Differenz zu sprechen, wählt Jullien daher die Termini ‚Ressource‘ und ‚Abstand‘ bzw. ‚Spannung‘ (écarts). Bisweilen verselbständigen sich in seinem Essay die Raummetaphern, aber erkennbar ist der postkolonialistisch beziehungsweise neostrukturalistisch inspirierte Versuch, sich von binären Klassifikationen zu lösen, um dem relationalen ‚Dazwischen‘ von Kulturen und Kulturgegenständen Aufmerksamkeit zu schenken. Inspiriert ist dieser Versuch aber weniger von Derrida als von dem chinesischen Wort für ‚Sache‘, dong-xi (Ost-West), das also nicht die Essenz betont, sondern ein „In-Beziehung-Setzen“,12 eine wechselseitige Spannung. Verkenne man diese Spannung und reduziere Optionen auf Differenz, so Jullien, so verliere man sich in einer Identitätsdebatte, an der Europa zu scheitern drohe. Dass es der Europäischen Union nicht gelungen sei, eine Verfassung zu verabschieden, führt er auf die Missverständlichkeit des Identitätskonzepts zurück. Christentum oder Aufklärung – wer hier beispielsweise scharf unterscheide und sich auf die eine oder andere Seite schlage, unterschätze, dass die europäische Geschichte der Neuzeit sich gerade in der Spannung zwischen beiden Polen entfaltet habe und dass beides, Christentum und Aufklärung, zu den Ressourcen Europas gehöre. Mit dem Ressourcenbegriff möchte Jullien außerdem gegen die kulturelle Vereinnahmung bestimmter Mythen, Errungenschaften oder Werte Einspruch erheben. Ressourcen, betont er, seien „niemandes Eigentum, sondern stehen allen zur Verfügung. Sie gehören dem, der sich die Mühe macht, sie auszubeuten“. Sie „schließen einander nicht aus: Ich kann von den einen so gut wie von den anderen profitieren“.13 Unter den kulturellen Ressourcen Europas versteht Jullien vorrangig bestimmte Semantiken, die untereinander, aber auch etwa im Vergleich mit dem Chinesischen, auf das er immer wieder rekurriert, bestimmte Zwischenräume ausbilden, zugleich aber allen Kulturen prinzipiell zur Verfügung stehen. Julliens Essay zeitigt für den Europadiskurs vorrangig zwei Konsequenzen. Erstens versucht er, die übliche Figur der unitas multiplex zu umgehen, in welcher der Eigentumscharakter des Identität-Differenz-Denkens stets mitklang. Die

10Vgl.

Bhabha, Homi: The Location of Culture. London: Routledge 1994. Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur. Aus dem Französischen von Erwin Landrichter. Berlin: Suhrkamp 2017. Im Orig.: Jullien, François: Il n’y a pas d’identité culturelle. Mais nous défendons les ressources d’une culture. Paris: L’Herne 2016. 12Jullien 2017, S. 32. 13Jullien 2017, S. 66. 11Vgl.

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Staffelung von europäischer Klammeridentität und regionalen oder nationalen Partikularidentitäten suggerierte ja die Möglichkeit einer klaren Zuordnung kultureller Bestände, die auf das Subjekt von verschiedenen Richtungen einwirkten beziehungsweise an denen es identitär partizipieren konnte. Bei Jullien hingegen bedient sich das Subjekt aus einem Schatz an möglichen Ressourcen, die es ‚aktivieren‘, die es sich aneignen kann, und zwar ganz gleich, an welchem historisch-kulturellen Ort sie zu finden sind, das heißt, wo sie zuerst formuliert wurden. Jullien versucht damit, den kulturellen Determinismus des Identitätsbegriffs ebenso zu umgehen wie die Abgrenzungen neurechter Identitätspolitik, gegen die sein Essay deutlich gerichtet ist. In dem optimistischen Glauben, Ressourcen seien potenziell globalisierbar, könnten also weltweit zur Verfügung stehen, liegt eine zweite Provokation von Julliens Essay, diesmal aber in anderer Richtung. Explizit erteilt Jullien zwar dem ‚klassischen‘ westlichen Universalismus eine Absage, um aber, gleichsam durch die Hintertür, doch mit der Möglichkeit des Gemeinsamen aufzuwarten. Julliens Warnung, die „frühere Überheblichkeit“ des europäischen Universalismus dürfe „nicht gleich in schlechtes Gewissen oder gar bloßen Relativismus umschlagen“,14 markiert demgegenüber den Versuch einer Verteidigung der europäischen ‚Ressourcen‘ in ihrer universalen Verfügbarkeit. Mit seiner Vision des ‚Zwischensprachlichen‘, das heißt, einer fortlaufenden „Übersetzung, welche die Ressourcen der Sprachen aktiviert, indem sie dafür sorgt, dass sie sich gegenseitig in den Blick nehmen“,15 formuliert Jullien eine Antwort an den bisweilen erhobenen Vorwurf, das Postulat eines „logischen Universellen“ oder einer ‚Gemeinsamkeit des Intelligiblen‘ sei per se für proto-imperialistisch zu halten.

3  Der Unitarismus einer Europaforschung, die primär an der Idee des föderalen Zusammenhalts interessiert war, ist neuerdings auch von anderer Seite unter Beschuss geraten, nämlich von Seiten der postmarxistischen Demokratietheorie. In einem in der Zeitschrift New Literary History (2012) veröffentlichten Beitrag hat Chantal Mouffe die von ihr mit Ernesto Laclau entwickelte Agonistik auf Europa übertragen.16 Sie richtet sich damit gegen die beispielsweise von Jürgen Habermas vertretene Diskursethik der Konsensfindung und argumentiert

14Jullien

2017, S. 93f. 2017, S. 92. 16Mouffe, Chantal: An Agonistic Approach to the Future of Europe, in: New Literary History 43 (2012), H. 4, S. 629–640. Wieder in: Dies.: Agonistics. Thinking the World Politically. London: Verso 2013, S. 43–65 (im Folgenden zit. nach ebd.). Siehe auch Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London/New York: Verso 2. Aufl. 2001 [zuerst 1985]. 15Jullien

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stattdessen, dass Gesellschaften grundsätzlich von konfligierenden Interessen und Affekten geprägt sind, die sich nicht rational aushandeln und abwägen lassen, sondern einander lediglich durch hegemoniale Setzungen ablösen. Für Politik im eigentliche Sinne sei die Konfrontation, der Streit, der Kampf, durchaus im Sinne Carl Schmitts, maßgeblich, nicht die harmonische Übereinkunft und nicht die kapitalistische Wettbewerbsbalance der Mächte. Mit Blick auf Europa fordert Mouffe eine Art temporäre Assoziation von Gruppen und Projekten, die im politischen Gefecht und in wechselnden Konstellationen gegeneinander antreten – „rather than binding all citizens to one another in an image of unity, the problems of the political common would pit some against others in a web of allegiances and conflicts“.17 Damit wird die Frage nach nationaler oder regionaler Pluralität und bürokratischem Zentrum, die ja im späten 20. Jahrhundert auf je unterschiedliche Weise beantwortet wurde, dispensiert: Nicht einzelne Regionen oder Nationen schließen sich zu einem Gebilde zusammen, sondern temporäre Allianzen und ideologische Gruppen befinden sich miteinander im politischen Kampf, der nicht durch deliberative Verfahren gelöst werden kann. In Zeiten, in denen Europa sich unter divergierenden Populismen zu spalten droht, scheint die Forderung nach mehr politischem Antagonismus vielleicht fragwürdig, sie ist jedenfalls in ihren Voraussetzungen – Mouffe und Laclau beziehen sich auf Gramsci und Schmitt – einigermaßen radikal. Ein Blick auf die Frühgeschichte des Europadiskurses stützt diese These allerdings. Auch hier hat man lange nach historischen Einheitsvisionen gesucht, und dabei übersehen, dass die Krisenkommunikation der in der Frühen Neuzeit entstehenden Publizistik vielleicht mehr zur Ausbildung einer politischen Europasemantik beigetragen hat als die harmonistischen Friedenspläne.18 Auch die frühesten Personifikationen des Kontinents im Humanismus deuten auf eine ‚agonistische‘ Konstitution des Kontinents. Der berühmte Holzschnitt von Johann Putsch jedenfalls (1534) diente den kaiserlichen Auftraggebern dazu, die Idee einer habsburgischen Universalmonarchie zu lancieren. Putsch, Berater des späteren Kaisers Ferdinand I., begleitete seinen Holzschnitt mit einem lateinischen Gedicht, das bislang unbeachtet geblieben ist. Es appelliert an die beiden Habsburger, nur sie könnten die Bedrohungen der Bürgerkriege und der nahenden Osmanen abwenden, nur das Heilige Römische Reich deutscher Nation stehe tapfer als Bollwerk. Diese einseitige Europa-Vereinnahmung konnte nicht lang unbeantwortet bleiben, zumal der deutschrömische Kaiser Karl V. zu diesem Zeitpunkt einen langjährigen Zwist mit dem französischen König Franz I. ausfocht. Daher verfasste ein französischer Gelehrter kurz darauf eine Gegenrede, die er wie Putsch der verzweifelten Europa

17Mouffe

2013, S. 57. Detering, Nicolas/Pulina, Dennis: Rivalry of Lament: Early Personifications of Europe in Neo-Latin Panegyrics for Charles V and Francis I (1537/1538), in: Nicolas Detering, Clementina Marisco, Isabella Walser (Hg.): Contesting Europe: Comparative Perspectives on Early Modern Discourse of Europe (15th–18th Century). Leiden: Brill 2019, S. 13–38.

18Vgl.

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in den Mund legte.19 Hier ist es Franz I., der, wie es heißt, als ‚Einziger‘ Europa retten könne, und zwar auch insbesondere gegen die Reformation, die im Reich ausgebrochen war. Zwischen Putsch und seinem Gegner entspinnt sich ein literarisches Streitgespräch, auf das bald weitere Gelehrte in Spanien, Frankreich und Deutschland mit je eigenen Personifikationen reagierten. Damit entfaltete sich der frühe Europadiskurs weniger als friedliche Vision denn als gelehrter Schlagabtausch im Dienste hegemonialer Bestrebungen. Diese Interventionen könnten Hinweise auf eine frühe Konfliktgeschichte Europas geben, die sich bis heute fortsetzt und weniger zur Zersetzung des Kontinents beiträgt als zu dessen diskursiver Formierung bzw. Reformierung.

4  Überhaupt zeichnet sich in der Europaforschung seit längerer Zeit eine kommunikationswissenschaftliche Wende ab. Die neuen Stratifizierungen von mobilen Globaleliten und immobilen ‚Abgehängten‘ sowie die politischen Blockbildungen über die Kontinental- und Nationalgrenzen hinweg, diese Tendenzen also beruhen zu einem Gutteil auf medienkommunikativen Umbrüchen. Zentrismen und Demarkationen funktionieren heute nicht mehr nur mittels topologischer Innen-Außen-Unterscheidungen, vielleicht überhaupt nicht vorrangig räumlich, sondern über globale Medienknoten, an denen bestimmte Gruppen das Konstrukt Europa punktuell aufrufen und beleuchten, bisweilen aber auch verabschieden, mithin ins kommunikative Abseits verbannen. Auch jenseits der Utopien virtueller Entmaterialisierung, wie sie in den Neunzigerjahren aufkamen,20 stellt sich die Frage nach den Folgen einer digitalen ‚Deterritorialisierung‘ für das europäische Projekt, auch nach der Wirkung neuer sozialer Segmentierungen in der digitalen Welt auf die europäische Öffentlichkeit. Andreas Hepp und andere haben in einer über zwölf Jahre durchgeführten empirischen Studie den materiell-medialen Charakter von Vergemeinschaftung im 21. Jahrhundert hervorgehoben.21 Während ‚Europa‘ einerseits selbst ein mediales Konstrukt ist, das beispielsweise durch journalistische Berichterstattung getragen wird, lässt die globale Mediatisierung von Lebenswelt den Kontinent in seiner Bedeutung auch schrumpfen, lässt ihn jedenfalls als nur einen von diversen möglichen Bezugspunkten erscheinen. Das Europaverständnis wird durch soziale

19Vgl.

ebd. im Konzept des ‚space of flows‘ bei Castells, Manuel: The Information Age. Economy, Society and Culture. 3 Bde. Malden MA/Oxford: Blackwell 1996–1998. 21Hepp, Andreas u. a. (Hg.): The Communicative Construction of Europe. Cultures of Political Discourse, Public Sphere, and the Euro Crisis. Basingstoke/Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2015. 20Etwa

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Medien offenbar flexibler, offener, dafür aber auch schwammiger, generell instabiler. Dieser These entsprechen zwei weitere Trends. Spätestens seit der Jahrtausendwende hat sich zum einen ein raumtheoretischer Konstruktivismus in den historischen Kulturwissenschaften durchgesetzt, der sich vor allem auf Binnenund Außengrenzen erstreckt. Die Grenzen Europas erscheinen ‚gemacht‘ und verschiebbar. So haben Claudia Bruns und Katharina Piechocki anhand der Kartographie von der Renaissance bis in das 20. Jahrhundert nachgewiesen, wie dehnbar sich die räumlichen Dimensionen des Kontinents je nach politischem oder kolonialem Interesse gestalteten.22 Natürliche Grenzen – Bosporus oder die Straße von Gibraltar etc. – determinierten das mental mapping in der historischen Praxis viel weniger, als das im 20. Jahrhundert noch zu vermuten war. Die neuere Globalgeschichte, zum anderen, versucht dieser Beobachtung Rechnung zu tragen. Europa wird seit der Jahrtausendwende nicht mehr nur von seinen Hybridzonen und Peripherien her gedacht, sondern in seinen globalen Verflechtungen, die es zunehmend schwieriger erscheinen lassen, den europäischen Raum als Untersuchungsgegenstand noch klar zu umgrenzen.23 Dass die Expansion nach Asien und Amerika vielfältig auf Europa zurückwirkte, nie eine Einbahnstraße war, sondern über den Warenimport von Gewürzen, Gold oder medizinischen Pflanzen, über die Imitation ‚exotischer‘ Stilelemente oder über diplomatische Allianzen auf die Wirtschaft, die Architektur und die Politik des europäischen Kontinents Einfluss nahm, darf seit langem als Binsenweisheit gelten. Aber interkontinentale Verflechtungen dieser Art haben sich bis in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingeschrieben: Weil Frankreich seine algerischen Kolonien zu französischem Staatsgebiet erklärte, erfreute sich die ‚Eurafrique‘-Idee noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren großer Beliebtheit. Zu diesem Thema sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Untersuchungen erschienen, darunter ein Band von Murium Haleh Davis und Thomas Serres mit dem Titel North Africa and the Making of Europe Governance, Institutions and Culture (2018).24 In seiner vor kurzem veröffentlichten „kritischen

22Bruns,

Claudia: Europas Grenzdiskurse seit der Antike – Interrelationen zwischen kartographischem Raum, mythologischer Figur und europäischer ‚Identität‘, in: Michael Gehler, Andreas Pudlat (Hg.): Grenzen in Europa. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2009, S. 17–64; Piechocki, Katharina: Cartographic Humanism: The Making of Early Modern Europe. Chicago: Chicago UP 2019. 23Am bekanntesten vielleicht Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009. 24Davis, Muriam Haleh/Serres, Thomas: North Africa and the Making of Europe. Governance, Institutions and Culture. London: Bloomsbury Academic 2018.

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Geschichte“ des Projekt Europa (2017) macht Kiran Klaus Patel die algerische Unabhängigkeit und mit ihr den Austritt Algeriens aus der EG ebenfalls zum wichtigen Argument gegen eine teleologische Geschichte der europäischen Integration.25 Mit dem Ausscheiden Algeriens 1962, später Grönlands (1985) hätte sich lange vor dem Brexit die Möglichkeit der europäischen Desintegration offenbart. Zugleich belege der Fall, dass die EG ihr „spätkoloniale[s] Gepräge[ ]“26 erst spät hinter sich gelassen habe.

5  Ein Teil der neueren Verflechtungsgeschichte Europas steht unter dem Zeichen einer postkolonialistischen Eurozentrismuskritik, die seit den Achtzigerjahren stetig an Rückenwind gewann und die ältere Thesen zum Verhältnis von Identität und Alterität radikal neu fasste. Inzwischen sind eine ganze Reihe von historiographischen Bewertungsmaßstäben als ‚eurozentrisch‘ dekuvriert worden, darunter Kategorien wie Fortschritt, Moderne, Bürgertum, aber auch die binäre Gegenüberstellung als solche, der Modus des Kulturvergleichs, ja der holistisch-ethnographische Begriff von ‚Kultur‘ überhaupt. In deutlicher Überschneidung mit raumtheoretischen Ansätzen arbeiteten postkoloniale Theoretiker an einer Denaturalisierung der europäischen Epistemologie, oder, in der bekannten Formulierung von Dipesh Chakrabarty (Chakrabarty 2000), an einer ‚Provinzialisierung‘ Europas, das nicht mehr das Deutungszentrum in einer multipolaren Welt bilden kann und dessen Meistererzählungen nicht mehr unhinterfragt das historiographische Muster für globale Geschichtsverläufe darstellen können.27 Gegenwärtig steht die postkoloniale Eurozentrismuskritik allerdings selbst unter Beschuss. Autoren wie Walter Mignolo, Aditya Nigam und Hamid Dabashi haben eingewandt, dass ein Großteil der postkolonialen ­Theoriebildung auf das europäische Denken und mit dem Kolonialismus auch in gewisser Weise auf das europäische Zentrum fokussiert geblieben sei.28 Man habe sich stets in jenen

25Patel, 26Ebd.,

Kiran Klaus: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte. München: Beck 2018. S. 99.

27Chakrabarty,

Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton UP 2000. 28Mignolo, Walter: The Geopolitics of Knowledge and the Colonial Difference, in: The South Atlantic Quarterly 101 (2002), H. 1, S. 57–96; Nigam, Aditya: End of Postcolonialism and the Challenge for ‚Non-European‘ Thought, in: Critical Encounters. A Forum of Critical Thought from the Global South, 19.05.2014, URL: https://criticalencounters.net/2013/05/19/ end-of-postcolonialism-and-the-challenge-for-non-european-thought/ (zuletzt abgerufen am 06.06.2020); Dabashi, Hamid: Can Non-Europeans think? With a foreword by Walter Mignolo. London: Zed Books 2015.

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intellektuellen Bahnen bewegt, die Hegel und Marx, Derrida oder Lacan vorgegeben hätten. Am deutlichsten hat dies der iranisch-amerikanische Kulturtheoretiker Hamid Dabashi in seinem polemischen Buch Can Non-Europeans think? (2015) formuliert, das auf einen vielbeachteten Essay in Al-Jazeera (2013) zurückgeht.29 „It is the very idea of ‚Europe‘ that is today most suspect and dispensable“, behauptet Dabashi: „From modernity to postmodernity, from structuralism to poststructuralism, from constructivism to deconstruction, European philosophers chase after their own tails; and what was called ‚postcolonialism‘ in and of itself was the product of a European colonial imagining that wreaked havoc on this earth and finally ran aground. We are no longer postcolonial creatures“.30 Bei ‚Europe‘ handele es sich um eine ‚verbrauchte Metapher‘, deren Formulierung einer vergangenen Episteme angehöre. Neuere politische Bewegungen seien mobil organisiert und global vernetzt, seien also in kontinentalen Kategorien nicht zu fassen. Die alten Dichotomien von europäischen Imperialisten und nicht-europäischen Subalternen, an denen doch die postkoloniale Theorie noch festgehalten hätte, seien demnach ebenfalls zu überwinden, und das gehe nur durch die Rekanonisierung nicht-europäischer Denker, unter denen Dabashi in seinem Buch einige vorstellt. Dabashi ist allerdings pessimistisch, was die Aufnahmefähigkeit der Europäer betrifft. In seinem Vorwort, Can Europeans read? postuliert er, die europäische Philosophie sei prinzipiell unfähig, anderes Denken zur Kenntnis zu nehmen, ohne es zu assimilieren und in traditionelle Kategorien der (imperialen) Weltaneignung zu übersetzen. Dabashis Polemik ist nicht unbeantwortet geblieben, und insbesondere mit Slavoj Žižek ist es zu mehreren Wortgefechten gekommen. Žižek hatte einen ‚linken‘ Eurozentrismus erstmals 1998 verteidigt – gemeint war ein spezifisch europäisches Verständnis des Politischen –,31 und in den letzten Jahren vermehrt auf das Erbe der europäischen Emanzipationsbewegungen und des Wohlfahrtsstaats hingewiesen, ohne freilich den Kolonialismus zu relativieren.32 Dabashis Anliegen, sich von der Konzentration auf europäische Denker zu lösen, scheint laut Žižeks Replik insofern naiv, als es eine Authentizität des Nicht-Europäischen postuliere und damit die globale Assimilationskraft des Eurozentrismus unterschätze.33 Bei allen akademischen Selbstbespiegelungen, in denen sich diese 29Dabashi,

Hamid: Can Non-Europeans Think?, in: Al-Jazeera, 15.01.2013, URL: https://www. aljazeera.com/indepth/opinion/2013/01/2013114142638797542.html (zuletzt abgerufen am 06.06.2020).

30Dabashi 31Žižek,

2015, S. 11.

Slavoj: A Leftist Plea for „Eurocentrism“, in: Critical Inquiry 24 (1998), H. 4, S. 988–

1009. 32Žižek,

Slavoj: A Reply to my Critics, in: The Philosophical Salon, 05.08.2016, URL: http:// thephilosophicalsalon.com/a-reply-to-my-critics/ (zuletzt abgerufen am 06.06.2020).

33Dabashi,

Hamid: The Discrete Charm of European Intellectuals, in: International Journal of Žižek Studies (2009), H. 4, URL: http://zizekstudies.org/index.php/IJZS/article/view/226

Neuere Europadebatten in den historischen Kulturwissenschaften des 21. Jhds.

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Debatten bisweilen zu verlieren drohen, scheint es doch bezeichnend für die derzeitige Situation der postkolonialen Theorie, dass sie sich, während sich ihr Innovationsimpetus seit einigen Jahren merklich abgeschwächt hat, zugleich in der Pflicht sieht, neue Konzepte für eine globalisierte Welt zu entwickeln, in der auch die intellektuelle Geltung der Europäer an Bedeutung verloren hat. Knapp zusammengefasst hat sich im Europadiskurs des 21. Jahrhunderts ein bestimmter Denkstil etabliert, der auch sonst in Teilen der Kulturwissenschaften vorherrscht. Von der neostrukturalistischen Kritik an Identität und Differenz ist auch die Suche nach einer kulturellen Identität Europas als Vergemeinschaftungsgrundlage nicht unberührt geblieben. Neuere Stimmen versuchen demgegenüber, den älteren Ausgleich von Einheit und Vielfalt zu verabschieden, um europäische und globale ‚Ressourcen‘ zu lokalisieren, die potenziell universalisierbar sind. Sukzessive Integration durch deliberative Konsensfindung, dieses Modell hat auch in den Augen mancher Kulturtheoretiker an Plausibilität verloren, und zwar nicht nur in normativer Perspektive – demnach sollte europäische Politik gar nicht konsensuell und rational verlaufen –, sondern auch in historischer Sicht – demnach gehören scharfe Konflikte und Krisen, ja gehört selbst Desintegration unlöslich zur Geschichte Europas, nicht nur als Folie ihrer Überwindung im Zusammenschluss, sondern als Motor einer selbstkritischen Dauerkommunikation. Wie die kulturellen scheinen auch die räumlichen Konturen des Kontinents neuerdings zu verschwimmen. Immer schon mit der Welt verflochten, erweist sich die Topographie Europas als erstaunlich wandelbar, ja anpassungsfähig – bis zur Selbstprovinzialisierung.

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(zuletzt abgerufen am 06.06.2020). Die Debatte wird zusammengefasst bei Ilan Kapoor: Žižek, Antagonism and Politics Now: Three Recent Controversies, in: International Journal of Žižek Studies 12 (2018), H. 1, URL: http://zizekstudies.org/index.php/IJZS/article/view/1041/0 (zuletzt abgerufen am 06.06.2020), sowie bei Jimenez, Michael: Remembering Lived Lives. A Historiography from the Underside of Modernity. Eugene OR: Cascade 2017, S. 57–69.

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Neuere Europadebatten in den historischen Kulturwissenschaften des 21. Jhds.

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Das Haus Europa Von der Schwierigkeit eine Baustelle zu lieben, die eine bleibt Ulrich Brückner

1 Das Haus Europa (als politisches Konstrukt) Das Bild vom „Haus Europa“ gehört spätestens seit den KSZE-Verhandlungen der 1970er Jahre zum Metaphernschatz beim Nachdenken und Reden über Europa und wurde durch Michail Gorbatschow1 in den 1980er Jahren noch populärer und gebräuchlicher. Damit passt es nicht nur in den Zeitrahmen, den der vorliegende Sammelband bei der Bestimmung von Europabildern in den Blick nimmt. Es eignet sich auch zur Illustration der Merkmale des europäischen Integrationsprozesses als Ausgangsbeschreibung für eine Diskussion der Fragen an Europa aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Wenn vom gemeinsamen Bauen am Haus Europa die Rede ist, betont das Bild das Veränderliche und die Ergebnisoffenheit des europäischen Projekts. Das ist insofern konstitutiv für die europäische Integration, als ihr politisches System anders als im Fall von Staaten als ausdrücklich unfertig und reformbedürftig verstanden wird. Die Europäischen Gemeinschaften (EG) und später die Europäische Union (EU) laden in Art. 49 des Lissabonner Vertrages europäische Staaten ein, Mitglied der Gemeinschaft zu werden, ohne zu erläutern, was ein europäischer Staat ist und was die finalité politique eines Tages sein soll. Es gibt Prinzipien, Werte und Regeln, aber keinen Bauplan. Nicht einmal geographisch ist das Projekt festgelegt, wie sich prominent am Kandidatenstatus der Türkei zeigt.

1Domnitz, Christian: Zwischen Untergrund und Parteidiktion, Transfer und Aneignung von Europanarrativen im sozialistischen Ostmitteleuropa 1975–1989, in: Frank Bösch, Ariane Brill und Florian Greiner (Hg.): Europabilder im 20. Jahrhundert: Entstehung an der Peripherie, Reihe: Geschichte der Gegenwart; Bd. 5. Göttingen: Wallstein 2012, S. 271.

U. Brückner (*)  Stanford University in Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_4

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U. Brückner

Das Leitbild der Einheit in Vielfalt verweist auf das Spannungsverhältnis von Gemeinschaftsverträglichkeit nationaler Handlungen und Subsidiarität, mit der sich die Union verpflichtet, auf zu weitreichende Zentralisierung zulasten staatlicher und substaatlicher Entscheidungsebenen zu verzichten. Alle Mitwirkenden am Bau des europäischen Hauses sind eingeladen, ihre Vorstellungen von Europa einzubringen und theoretisch existieren alle Modelle gleichberechtigt nebeneinander. Sie konkurrieren im Diskurs darüber, in welcher Richtung und mit welcher Geschwindigkeit gebaut werden soll. In unterschiedlichen zeitlichen Abständen reflektieren die Bauherren über das Erreichte und legen die Vorstellungen nebeneinander, wie es weitergehen könnte und sollte. 2017 initiierte eine solche europaweite Richtungsdebatte der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker mit dem Weißbuch zur Zukunft Europas2 und den darin ausgeführten fünf möglichen Szenarien für die Zukunft Europas. Statt von oben einen Weg vorzugeben, konnte darin der Versuch gesehen werden, Vielfalt anzuerkennen, die Vor- und Nachteile aller politisch vertretenden Visionen zu prüfen, um auf dieser Wissensgrundlage im Diskurs Einigkeit darüber zu erzielen, wie es weitergehen sollte mit Europa. Seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen setzt diese Zukunftsdebatte fort.3 Europäische Integration ist von Anfang an als dynamischer Prozess angelegt. Das betrifft die Erweiterungen wie auch die Vertiefungen, bei denen es um die Neuordnung von Kompetenzverteilung und die Ausstattung von Steuerungsmitteln für die europäische Entscheidungsebene geht. „Europa im Umbruch“ ist vor diesem Hintergrund nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wandel ist Programm. Neumitglieder werden nicht zur Teilnahme gezwungen oder gar kolonialisiert, sondern entscheiden sich freiwillig für einen Platz im Kulturraum Europa und wählen die Zugehörigkeit zur Wirtschafts-, Rechts- und Politikgemeinschaft als Modernisierungsstrategie. Das Haus Europa wird in diesem Sinne nicht nur als Zweckgemeinschaft verstanden, sondern als Raum mit kulturellem Inhalt. Darauf verweist das Bild von der „Rückkehr nach Europa“, das nach dem Fall der Mauer in Mittel- und Osteuropa in politischen Reden verbreitet war und was auf die zwangsweise Trennung von eigenen demokratischen, sozialen und ökonomischen Traditionen bis zum Mauerfall rekurriert. In der Unfertigkeit des europäischen Hauses liegt eine Stärke. Man kann hoffen, dass der Bau die eigenen Erwartungen erfüllt. Man wird nicht mit einer Realität konfrontiert, die das Gegenteil der eigenen Vorstellungen ver-

2Europäische

Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, 5 mögliche Szenarien Brüssel, COM (2017) 2025, 1. März 2017, URL: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/ weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 3URL: https://ec.europa.eu/info/publications/commissions-contribution-shaping-conference-futureeurope_de (zuletzt abgerufen am 06.06.2020).

Das Haus Europa

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körpert.4 Diese Hoffnung besteht vor allem in Zeiten von Aufbruch und bei der Ankündigung neuer Ziele wie der Vollendung des Binnenmarktes, der Währungsunion, der Osterweiterung. Solche Ziele waren einerseits visionär und zugleich ausreichend unkonkret, um eine Verteilungsdiskussion zu vermeiden. Auf diese Weise erlaubt es das unfertige europäische Haus, im Prozess flexibler auf Herausforderungen zu reagieren und sich permanent anzupassen. Für mittel- und osteuropäische Staaten, deren vorrangiges Ziel in der Wiederherstellung des souveränen Nationalstaats bestand und nicht wie in der westeuropäischen Gründungserzählung die Überwindung von Nationalismus, war der Verzicht auf eine explizite Festlegung auf eine Staatswerdung Europas geradezu eine notwendige Voraussetzung dafür, Mitglied werden zu wollen. Es ging nicht um die Transformation der wiedergewonnenen staatlichen Autonomie in eine abstrakte Mitwirkung an einem verflochtenen Mehrebenensystem, sondern um EU-Mitgliedschaft zur Stärkung des Nationalstaats durch Statusgewinn, Transfers und all die anderen öffentlichen Güter, die die EU versprach oder die zumindest von ihr erwartet wurden. Wo eine solche Zielsetzung fehlt oder die Folgen des bisherigen Prozesses als unzureichend empfunden oder beschrieben werden, wird das Unfertige – die Baustelle Europa – zunehmend zum Nachteil. Europa in seiner politischen Konstruktion als EU lässt sich nicht fassen. Es ist intransparent, ineffizient und ineffektiv. Es erklärt sich nicht selbst, es ändert dauernd seine Form, seine Kompetenzverteilung verschiebt sich, die Zahl seiner Mitglieder wächst, das Personal ist weitgehend unbekannt, seine bürokratische und technokratische Verfasstheit wirft demokratietheoretische Fragen auf, es entscheidet langsam, oft sind die gefundenen Kompromisse unverständlich oder dem Problem, das sie lösen sollen, nicht angemessen. Auch nach Jahrzehnten europäischer Integration tut sich die Berichterstattung über Europa schwer damit, die Institutionen eigener Art und ihr Zusammenspiel zu erklären. Und entsprechend gering ist auch das allgemeine Interesse, das verstehen zu wollen. Wenn 27 Staaten darüber verhandeln, wie eine gemeinsame Lösung in einer Frage aussehen soll, ist die Antwort zumeist ein Gemenge von all jenem, was in verschiedenen nationalen Systemen praktiziert wird. Eine solche Mischung, bei der sich viele Staaten einbringen, findet jedenfalls wahrscheinlicher eine Mehrheit, als dass das Modell eines Staates als Blaupause eins zu eins übernommen wird. Mischlösungen verlangen aber ein noch weitreichenderes Verständnis davon, wie nationale Systeme funktionieren, um beurteilen zu können, was von der gemeinschaftlichen Lösung zu halten ist. Gleichzeitig werden bei der Bewertung Europäischer Integration oft höhere Maßstäbe angelegt, als das bei nationalen politischen Systemen üblicherweise geschieht.

4Obwohl im Brexit für eine Gruppe genau darin der Grund zu liegen scheint, warum sie aus der EU austreten will, weil sie keine Chance mehr sieht, dass sich die EU ihrem präferierten Europabild noch annähern könnte.

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U. Brückner

Schon in dieser knappen Skizze des Selbstverständnisses und der Eigenheiten von Europa in seiner politischen Form, der Europäischen Union, werden Unterschiede zu den Nationalstaaten deutlich. Trotz aller staatlicher Transformationen und Formen gesellschaftlichen Wandels wird bei Staaten das Fertige, das Statische und nicht der Prozess betont. Gleiches gilt für das Staatsterritorium und das Staatsvolk. Beides ist nicht konstitutiv für das Haus Europa und kann es nicht sein, weil es gar nicht existiert. Mit der Prozesshaftigkeit der europäischen Integration geht eine höhere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einher, mit der auf veränderte Prioritäten und Herausforderungen reagiert werden kann. Gerade in den konstruktiven Ungleichgewichten europäischer Kompromisse waren oft Reformnotwendigkeiten eingebaut, für die es zum Zeitpunkt des Kompromisses noch keine Mehrheiten gab. Umgekehrt erschwert der ständige Wandel ein Verständnis davon, was Europa ist, wie es funktioniert, was es leistet und was nicht. Ohne ein solches Verständnis fehlt jedoch die Akzeptanz für das politische System. Und ohne ausreichende Akzeptanz entsteht ein Legitimitätsproblem, das im Extremfall zum Scheitern führt. Ein weiteres Problem für die Identifikation mit der Baustelle rührt aus dem Umstand, dass, wenn die EU kein Staat ist und auch nicht an die Stelle der souveränen Mitgliedstaaten treten soll, ihre Ausstattung mit Ressourcen zur Problemlösung nicht immer ausreichend ist. Gleiches gilt für die Vorbereitung auf Krisen. Wenn jedoch der Eindruck entsteht, dass das Haus Europa nicht funktioniert bzw. Mängel aufweist hinsichtlich Legitimität, Effizienz, Effektivität und Verteilungsgerechtigkeit, dann verstärkt das das Akzeptanzproblem. Und schließlich erlaubt die sich nicht selbsterklärende Baustelle EU den Mitgliedern, Europa als Sündenbock zu inszenieren: Was gut läuft, ist das Verdienst nationaler Regierungen, was nicht oder schlecht funktioniert, ist die Schuld der EU. Auch dieses Verhältnis zwischen Union und Mitgliedern ist wohl bekannt und dokumentiert. Menasse geht in seinem Europäischen Landboten (2012)5 so weit, darin das eigentliche Problem der europäischen Krise zu sehen. Dem nationalen Haus mit vermeintlich klar definierten Wänden und Bewohnern und einem Orientierung gebenden Erfahrungs-, Geschichts-, Sprachund Kulturraum steht eine permanente Baustelle gegenüber, deren Unfertigkeit und Wandlungsfähigkeit je nach persönlicher Einstellung Lebenschancen verspricht und entsprechend begrüßt wird oder durch ihre dauernde Veränderung und Unvorhersehbarkeit Angst macht und Anpassungen verlangt. Hinzu kommt, dass sich die Kosten des europäischen Hauses schwerer vermitteln lassen. Jeder Mangel an Akzeptanz für unpopuläre Entscheidungen gefährdet das Projekt, das bis in die jüngere Vergangenheit nur Schönwetterphasen kannte, dessen Funktionsweise nun aber vor allem als kalt, fern und unverständlich empfunden und über das auch so geredet und geschrieben wird.

5Menasse,

Robert: Der europäische Landbote, Die Wut der Bürger und der Friede Europas. Wien: Zsolnay 2012.

Das Haus Europa

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2 Europa nach der Gründung der EG und im Untersuchungszeitraum 1980–2020 Das Ende des Kalten Krieges und die Möglichkeit einer Wiedervereinigung des geteilten Kontinents fällt zeitlich zusammen mit einer weiteren Vertiefungsrunde der westlich geprägten Europäischen Gemeinschaft. Mit der geplanten Vollendung des Europäischen Binnenmarktes und seiner Krönung durch die Einführung einer gemeinsamen Währung sowie dem Beginn einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und einer Zusammenarbeit im Bereich Innen und Justiz wird aus der Gemeinschaft eine politische Union. Dieser qualitative Schritt drückt sich aus in der Umbenennung in Europäische Union und dem offenen Bekenntnis zu der Tatsache, dass es sich um eine politische Union handelt und nicht bloß um eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft. Begonnen hatte das Projekt mit der – westlichen – teleologischen Gründungserzählung von Frieden, Freiheit, Wohlstand, Stabilität, der Überwindung von Nationalismus und dem Vorbildcharakter der deutsch-französischen Versöhnung, aus der sich auch die Dynamik des Integrationsprozesses speist. Mit den Erweiterungen der EU kommen neue Bilder und Interessenlagen an der Bestimmung hinzu, was das Projekt sein und werden soll. Das wird zur Herausforderung für Europa als identitätsbildender Einheit, weil es jetzt nicht mehr nur eine Leiterzählung gibt, die von der Gründung der EG bis in die 1990er Jahre Gültigkeit beansprucht hat. Am Beginn der Wiedervereinigung des geteilten Kontinents existieren keine konkurrierenden Europabilder in West und Ost. Menschen haben andere Sorgen und Hoffnungen, als sich über Grundfragen europäischer Integration Gedanken zu machen. Ebenso wenig wie in Ostdeutschland kaum konkrete Vorstellungen darüber bestanden, wie ein vereintes Deutschland aussehen könnte und sollte, gab es östlich des Eisernen Vorhangs politisch wirkungsmächtige Visionen eines vereinten Europas. Entsprechend vollzog sich die deutsche wie die europäische Einigung als Ausdehnung des westlichen politischen, rechtlichen und ökonomischen Systems auf die neuen Mitglieder. Die „Regeln für die Zuordnung, was der Ordnungsbegriff Europa umfasst“ – wie es der Einladungstext zur „Europa im Umbruch“-Tagung formuliert –, sind im Fall der Zugehörigkeit zur EU nicht starr. Sie existieren seit 1993 als „Kopenhagener Kriterien“,6 in denen die EU künftigen Mitgliedern signalisiert, welche Voraussetzungen politisch, wirtschaftlich und rechtlich erfüllt werden müssen, um aufgenommen werden zu können. Auslegung und Anwendung der Kriterien verändern sich im Zuge der Beitrittsverhandlungen und als Reaktion auf innerstaatliche, europäische und globale Entwicklungen und Herausforderungen. Im politischen Wettstreit von konkurrierenden Erzählungen verschieben sich Macht-

6URL:

https://eur-lex.europa.eu/summary/glossary/accession_criteria_copenhague.html?locale = de (zuletzt abgerufen am 06.06.2020).

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verteilungen und Gestaltungsmöglichkeiten sowie die Frage, welche neuen Regeln gesetzt werden und wie die alten interpretiert bzw. wie sie eingehalten werden. Wie bereits für die Unfertigkeit des europäischen Hauses ausgeführt, hat auch das Folgen für die Problemlösungsfähigkeit und Resilienz, d. h. die Fähigkeit, künftigen Krisen zu trotzen. Und es hat Folgen für die Akzeptanz des Integrationsprojekts. Es sind aber nicht nur europaspezifische Faktoren, die Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung und Akzeptanz des Projekts Europa. Ohne ins Detail zu gehen, lassen sich beispielhaft nennen: • Der Beginn der Globalisierung, wachsende grenzüberschreitende Arbeitsteilung und Verflechtung. • Die Ablösung der Realwirtschaft durch die Geldwirtschaft. • Ein Trend zu Optimierung und Effizienz mit der Folge der Durchökonomisierung aller Lebenswelten. • Technologische Innovationen, veränderte Kommunikation, leichterer Zugang zu Information und ein gestiegenes Bildungsniveau und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen. • Steigende Mobilität und als Folge die Herausbildung einer kosmopolitischen gesellschaftlichen Schicht. • Demokratie vor und nach dem Internet. • Ein gestiegener Anspruch an Partizipation und eine Absage an paternalistische Politik. • Ein abnehmendes Gewicht Europas in der Welt. • Der Aufstieg neuer Mächte und ihr Eintreten für andere Politikmodelle als das von Europa präferierte Modell des Multilateralismus und universale Menschenrechte. Zur Schönwetterveranstaltung gehört hierbei auch, dass man sich so lange mit sich selbst befassen und sich auf das Motto „Einheit in Vielfalt“ berufen konnte, solange durch die Vielfalt die Einheit nicht zu sehr herausgefordert wurde und solange es keine ernsthaften Angriffe auf das Selbstbild gab. Mit der Diskussion über einen Beitritt der Türkei und die offenen und verdeckten Angriffe gegen das Bild der offenen Gesellschaft in Europa stieß die stillschweigende Akzeptanz dieses Selbstbilds an Grenzen. Es entstand eine Notwendigkeit, für etwas einzutreten, und gleichzeitig abzulehnen, was dieses Gesellschaftsmodell gefährdet. Das ist neu für die EU-Bürgerinnen und -Bürger, die bislang nie für Europa auf die Straße gingen, es jetzt aber als Pulse of Europe, Remainers oder #unteilbar tun.

3 Europabilder in der Literatur und den Diskursen nationaler und europäischer Öffentlichkeiten Der Bau des europäischen Hauses ist bis in die jüngere Vergangenheit ein Elitenprojekt. Ein kleiner Kreis verhandelte im Geheimen, entschied und informierte die nationalen Öffentlichkeiten über das Ergebnis. Grundlagen waren

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erstens ein permissive consensus, dass die positive Erzählung der Europäischen Integration gut und richtig ist, zweitens, dass ein äußerer Druck des Kalten Krieges mit seinem bipolaren Systemkonflikt eint, und drittens, dass es reicht, Institutionen zu schaffen, Interessen auszugleichen und öffentliche Aufgaben schrittweise zu europäisieren, ohne dass es für den Integrationsprozess entscheidend wäre, dass in dem entstehenden europäischen Haus ausreichend Europäer wohnen. Die optimistische Erwartung war, dass mit fortschreitender Integration sich Loyalitäten vom Nationalstaat zur europäischen Entscheidungsebene verschieben oder sich zumindest ein weiterer Kreis konzentrischer Identitäten herausbildet und festigt. Die Schönwetterveranstaltung Europäische Integration wurde nicht ernsthaft herausgefordert, auch wenn es immer Krisen gab, so dass sich die Integrationsgeschichte entlang aufeinanderfolgender Krisen erzählen lässt.7 Aber diese Krisen hatten eine geringere Intensität und auch insofern eine andere Qualität als die aktuellen, weil sie nicht das Integrationsprojekt an sich in Frage stellten. Es ging um Verteilungs- und Richtungsfragen, Konflikte wurden innerhalb des Systems ausgetragen und auf der Grundlage der kollektiv geteilten Überzeugung, dass das Integrationsprojekt grundsätzlich richtig und im Interesse alle Mitglieder und ihrer Bürgerinnen sei. Statt eines Diskurses über Europabilder war und ist es spannender, sich in den tradierten Bezugssystemen und zumeist nationalen und nicht europäischen Kulturräumen mit Fragen zu beschäftigen, wer man ist, wer oder was man sein oder werden will oder auch wer man nicht sein will. Dafür gibt es Förderung, Produzenten, Vertriebswege, einen Markt und ein Angebot, das sich seine Nachfrage schafft, was von den Begründern europäischer Integrationstheorien dramatisch unterschätzt wurde. Diese dachten noch, dass der Bau des europäischen Hauses mit einer Verschiebung von Loyalitäten einherginge. Statt aber den Nationalstaat in diesem Prozess obsolet werden zu lassen, trug die EU zur Rettung des Nationalstaats bei.8 Wenn diese Beschreibung zutrifft, dann erklärt sie zum Teil, warum eine Beschäftigung mit Europabildern in der Literatur und im Film kaum zu finden ist und warum sie politisch auch kaum eine Rolle spielt. Denn die wenigen Fälle von Literatur und Film, in denen es um Europabilder geht, erreichen bestenfalls eine intellektuelle Elite. Die Politikergenerationen von Adenauer, Spaak und de Gaulle bis Kohl, Delors und Mitterrand beziehen sich bei ihrem Europabild auf die eigene Kriegserfahrung oder die Nähe dazu und ein Bekenntnis zu westlicher Demokratie und Marktwirtschaft. Und alle sind ihrem jeweiligen nationalen Demos gegenüber verpflichtet.

7Kühnhardt, Ludger: European Integration: Challenge and Response. Crises as Engines of Progress in European Integration History. Bonn: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Discussion Paper C157, Zentrum für Europäische Integrationsforschung 2006. 8Milward, Alan S.: The European Rescue of the Nation State. Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 1992.

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Anders verhält es sich beim Europabild in Massenmedien, z.  B. in Großbritannien. Hier ist Europa kein gelegentliches Thema einer kleinen, gebildeten kosmopolitischen Elite, sondern ein Dauerbrenner. „Brüssel“ dient als permanent verfügbarer Sündenbock und Quelle der Verärgerung über absurde Entscheidungen, Überregulierung, Angriffe auf nationale Besonderheiten und Errungenschaften oder die Verkörperung von Superbürokratie und Verschwendung. Schon lange vor „fake news“ spielt der Wahrheitsgehalt dabei eine untergeordnete Rolle, sofern die „Nachricht“ Aufmerksamkeit generiert und Stereotypen bedient.9 Erleichtert wird diese Überzeichnung des Negativen durch die Überzeichnung des Positiven, wie sie im Selbstbild der EU zum Ausdruck kommt.10 Daraus entsteht eine Lagerbildung, wie sie sich besonders eindrucksvoll im Brexit-Streit im (noch) Vereinigten Königreich manifestiert und wo sich Merkmale von Glaubenskriegen identifizieren lassen.11 Das konfrontative Europabild ist in seinen binären Erscheinungen (Lösung/ Problem, Gut/Böse, Handlungsfähigkeit/Kontrollverlust) alles andere als differenziert, theoretisch fundiert und auf Tiefgang ausgelegt. Das ist nicht nur der kommunikativen Technik eines populistischen Politikstils geschuldet, sondern sagt auch etwas aus über die abnehmende Rolle des Intellektuellen im Diskurs und über Veränderungen der poetologischen Wirkungsmacht: Gab es früher ein Europa der Eliten, die kulturell vergleichsweise homogener geprägt waren als heute, haben wir es heute mit weit ausdifferenzierteren Gesellschaften zu tun, die sich nicht auf eine Elite verlassen und entweder nach mehr Partizipation und Akzeptanz ihrer abweichenden Vorstellungen drängen oder Eliten gegenüber grundsätzlich ablehnend eingestellt sind und einem populistischen Alternativmodell das Wort reden. Seltene Ausnahmen für Intellektuelle, die sich literarisch mit einem politischen Europabild auseinandersetzen sind Robert Menasse, Hans-Magnus Enzensberger oder Michel Houellebecq. Sie entwickeln Topoi der Europakritik und gehen darüber hinaus, indem sie von der fiktionalen Literatur zur politischen Aktion wechseln und eine Europäische Republik ausrufen12 oder über den Niedergang Europas als Freizeitpark für die asiatische Mittelschicht13 oder die Unterwerfung14 unter die Scharia fabulieren.

9Cross,

Mai’a K. Davis/Ma, Xinru: EU crises and integrational panic: the role of the media, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015), H. 8, S. 1053–1070. 10Patel, Kiran Klaus: Projekt Europa. München: C. H. Beck 2018. 11Bunbacher, Beat: Grossbritannien droht im Glaubenskrieg zu versinken, in: Neue Zürcher Zeitung (26.07.2019). 12Guérot, Ulrike/Humer, Verena/Menasse, Robert/Rau, Milo (Hrsg.): The European Balcony Project: The Emancipation of the European Citizens, Theater der Zeit, 2020. 13Houellebecq, Michel: Karte und Gebiet. Köln: DuMont 2011. 14Houellebecq, Michel: Unterwerfung. Köln: DuMont 2015.

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4 Europabild in der Literatur: EU als verwaltete Realität ohne Sexappeal und Mobilisierungspotenzial Robert Menasse zeichnet in seinem preisgekrönten Roman Die Hauptstadt15 ein Bild der Europäischen Kommission als selbstreferenzielle Bürokratie. Das liest sich nicht als spezifische Kritik an den EU-Institutionen oder ihren Beamten, sondern stellvertretend für das Projekt an sich. Europa folgt nicht seinen Idealen, sondern wird vor allem durch die Handlungslogiken von Beamten geprägt, die nicht weniger menschlich agieren als im Jahrhundert davor die Akteure in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften16 bei der Vorbereitung der „Parallelaktion“. Bürokraten verfolgen Eigeninteressen, zeigen keinen Sinn für die größeren Zusammenhänge und gefährden in ihrem Handeln Demokratie und Zusammenhalt der Gemeinschaft. Ihr Tun bietet nicht nur wenig an, womit man sich identifizieren möchte. Es stößt vielmehr ab und selbst gebildete, reflektierte Leser entwickeln aus der Lektüre Animositäten gegenüber der EU und ihrem Beamtenapparat. Dass nationale Bürokratie in der Innensicht kaum anders funktioniert und auch keine besseren Identifikationsangebote macht, spielt dabei keine Rolle. Dem Nationalstaat werden Unvollkommenheiten leichter nachgesehen als dem idealisierten Projekt Europa. Menasse wird vom Rezensenten Carsten Otte gelobt: „selbst wenn uns der durchaus notwendige Konfetticharakter des mit vielen Thesen und Antithesen gespickten Romans anstrengen sollte, werden wir aber mit der Erkenntnis belohnt, dass die europäische Bürokratie nicht nur literaturfähig, sondern bei aller Kritik auch ein lebendiges System ist, das sich um die Menschen und um seinen historischen Auftrag kümmert“.17 Aber das erscheint auch nur deswegen als Lob, weil das Kümmern der EU nicht zugetraut und Schlimmeres erwartet wird. Lange vor Menasse hat sich Hans-Magnus Enzensberger für sein Buch Ach Europa!18 auf eine Reise durch Europa westlich des Eisernen Vorhangs begeben und einen Sammelband vorgelegt, dessen Kritik sich auf Bedingungen richtet, die teilweise zum romantisierten Sehnsuchtsort mancher Europakritiker gehören und die sie sich heute auch diejenigen zurückwünschen, die weniger auf Zukunft als auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit setzen: Die Staaten (West-)Europas – allen voran das schreckliche Schweden – werden als langweilige, langsame, dauerregulierende Wohlfahrtsstaaten beschrieben. Der Ton und die Pauschalkritik an der Bevormundung ähneln derjenigen am „Sanften Monster Brüssel“19 mit seiner ineffizienten Kompromissmaschine und der regulativen Gängelung von

15Menasse,

Robert: Die Hauptstadt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017. Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt 2013. 17Otte, Carsten: Deutscher Buchpreis für „Die Hauptstadt“ – Die richtige Wahl, in: Die Tageszeitung (18.09.2017). 18Enzensberger, Hans Magnus: Ach Europa! Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hans Magnus: Ach Europa! Frankfurt a.M. 1987. 16Musil,

19Enzensberger,

Suhrkamp 2011.

Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas,

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Bürgern in eigentlich mehr oder weniger handlungsfähigen Nationalstaaten, denen es ohne Europa irgendwie besser ginge. Diese EU-Technokratie funktioniert zwar irgendwie, ist aber fern, unzugänglich, langsam, schwer zu verstehen und geht auf Kosten individueller Freiheit und politischer Gestaltungsmöglichkeiten. Wegen ihrer Bürgerferne, ihres kalten Herzens einer funktionalen Zweckgemeinschaft und ihrer Tendenz zur Zentralisierung und Vereinheitlichung stellt sie eine kulturelle Bedrohung für die europäische Vielfalt der vielschichtigen Lebenswelten dar. Anders als bei den heutigen Fundamentalkritikern, die die EU am liebsten abschaffen, aber zumindest verlassen wollen, erscheint ein solches Europabild bei Enzensberger mehr wie die Freude an der Kritik und am intellektuellen Spiel mit der Interpretation von Wirklichkeit. Bücher wie seines kratzen am schönen Bild des geeinten Europas, das Frieden, Freiheit, Wohlstand und Stabilität verspricht, ohne dass über Kosten jenseits der periodisch auflebenden Nettozahler Debatte nachzudenken wäre, die zwar zeitweilig Erregung über begründete oder vermeintliche Ungerechtigkeiten auszulösen vermag, aber dann auch wieder vergessen wird, solange kein unmittelbarer Bezug zur persönlichen Lebenswelt erkannt oder konstruiert wird. Noch undifferenzierter und selektiv in der Betonung einzelner Aspekte zugunsten des eigenen Arguments fallen auch solche Europabilder aus, die von außen auf Europa und die EU blicken. Ohne dass es satirisch gemeint ist, ist das bevorzugte Stilmittel die Übertreibung und einseitige Überzeichnung. Das funktioniert beim Schönfärben in Büchern wie Jeremy Rifkins Europäischem Traum20 oder Elisabeth Ponds Die Stunde Europas. Europa auf dem Weg zur Weltmacht21 ebenso gut wie beim Schwarzmalen bei Douglas Murrays The Strange Death of Europe: Immigration, Identity, Islam22 oder James Kirchicks The End of Europe: Dictators, Demagogues, and the Coming Dark Age23 und riecht vor allem nach Verkaufsstrategie: Interessant wird es erst durch Übertreibung. Anders sieht es aus, wenn ein Europabild nicht nur Ausdruck einer politischen Mode ist oder seismographisch und intellektuell ambitioniert dem Zustand eines Kulturraums nachspürt und Aufschlüsse anbietet, sondern wenn ein Bild von Europa Teil einer politischen Strategie wird. All die genannten Unvollkommenheiten der Baustelle Europas, ihre institutionellen Schwächen und Unfähigkeiten bei der Erfüllung von Erwartungen, lassen sich auch politisch instrumentalisieren, um ein Gegenmodell zu

20Rifkin,

Jeremy: Der europäische Traum, Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt a.M.: Campus 2004. 21Pond, Elizabeth: Die Stunde Europas: ein Kontinent auf dem Weg zur Weltmacht. Berlin: Propyläen 2000. 22Murray, Douglas: The Strange Death of Europe: Immigration, Identity, Islam. London: Bloomsbury Continuum 2017. 23Kirchick, James: The End of Europe: Dictators, Demagogues, and the Coming Dark Age. New Haven: Yale University Press 2017.

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konstruieren, mit dessen Hilfe eine illiberale, nationalistische Alternative ihre Ziele eines Systemwechsels verfolgt, auf Emotion setzt und die ausgeführten Schwächen nutzt, die das europäische Haus gegenüber dem Nationalstaat besitzt. Auch eine solche grundsätzliche Kritik am traditionellen Europabild und der politischen Realität kann einer pluralistischen Demokratie zu Gute kommen, weil sie dazu zwingt, Schwächen zu beseitigen und nicht zu verschweigen oder schönzureden, auch wenn es unappetitlich wirkt oder weh tut.

5 Europabilder jenseits des Tradierten Das Europabild differenziert sich immer weiter aus, denn es spiegelt Entwicklungen in den Gesellschaften in den Mitgliedstaaten. Überdies hat es auch immer national fundierte Europabilder gegeben, die nebeneinander koexistieren konnten. Die westdeutsche Erzählung Europas feierte die Idee von Politik jenseits des Nationalstaats, in dem jeder kulturell weiterhin sein konnte, was er war oder werden wollte. Europa war mehr als die Summe der einzelnen Teile und Staaten mit mehr oder weniger dunkler Vergangenheit. Die auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs lagen, kehrten im Namen Europas zurück in die Familie respektierter souveräner Staaten. Obendrein war Europa in seiner westlichen Nachkriegsform vielversprechend, hilfreich und gut und hatte selbst noch keine finstere Vergangenheit. Das änderte sich mit den enttäuschten Erwartungen an Europa in der Serie von Ereignissen seit der Jahrtausendwende, die mit dem Etikett Krise versehen wurden: Auf das Scheitern des europäischen Verfassungsvertrages 2005 folgten die globale Finanz- und Bankenkrise 2008 mit Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen, die Griechenlandkrise 2010, Austeritätsprogramme unter der Regie der Troika (bestehend aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds), was zum Vorwurf einer Demokratie- und Legitimitätskrise führte. An das griechische Referendum gegen die Sparprogramme der EU im Sommer 2015 schloss sich unmittelbar die Migrationskrise an, und terroristische Anschläge durch den Islamischen Staat erzeugten den Eindruck eines Staatsversagens und einer Krise der Sicherheit in Europa. Dazu kamen 2016 das Brexit-Referendum, der neu gewählte US-Präsident Trump mit seinem ihm eigenen Europafeindbild sowie die schwache außenpolitische Rolle der EU bei der Lösung von Konflikten und bei der Modernisierung und Transformation in Regionen ihrer Nachbarschaft. Von der Wertegemeinschaft, als die sich die EU und ihre Unterstützer sieht, wurde und wird in Notlagen Solidarität erwartet. Darunter verstehen die Länder der Peripherie der Eurozone wie auch die von den Folgen der Pandemie 2020 besonders betroffenen Staaten massive finanzielle Unterstützung und Umverteilung des europäischen Wohlstands. Der Osten der EU und besonders das Baltikum erwartet Solidarität in Form militärischer Präsenz als Schutz vor einem weiteren Krim-Szenario. Die Hauptaufnahmeländer von Geflüchteten erwarten Solidarität in der Weise, dass alle 27 Mitglieder Menschen aufnehmen, die ein

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Recht auf Schutz und Hilfe in Europa besitzen. Die NATO erwartet Solidarität bei der Erfüllung des Ausgabenziels für Verteidigung in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Die Weltklimakonferenz sieht Europa in der Pflicht, seine Klimaziele zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund entsteht eine alternative Erzählung: Europa ist nicht mehr vor allem eine Antwort auf Probleme des 20. Jahrhunderts, ein Versprechen auf Wohlstand, Freiheit, Frieden und Stabilität, sondern die Errungenschaften werden umgedeutet als Teil der Probleme oder gar als Hauptursache von Krisen. Damit dieses Europabild wirkungsmächtig wird, sind nicht nur Ereignisse notwendig, die in einer europakritischen Weise interpretiert werden können, sondern auch Politiker, Kommunikationskanäle wie die sozialen Medien, einflussreiche und finanzkräftige Staaten und Unternehmen, die ein Interesse an der Destabilisierung der EU haben und eine Zersetzung der Glaubwürdigkeit von Institutionen, deren Rolle es ist, im Namen der Wahrheitsfindung Information und Wissen bereitzustellen, die essentiell sind für den demokratischen Diskurs. Das gilt für Qualitätsmedien in gleicher Weise wie für wissenschaftliche Einrichtungen. Aber nicht nur im Europa als Feindbild, das es im Namen eines wiedererstarkenden Nationalismus zu bekämpfen gilt, liegt eine Alternative. Auch jenseits der Dichotomie zwischen Europäischer Integration zur Überwindung oder zur Rettung des Nationalstaats gibt es dazu Überlegungen. In ihrem Beitrag zum Historikertag 2018 mit Gedanken zum „spatial turn“ fragt Angelika Epple: „Wie können Räume einerseits über Relationen bestimmt werden und andererseits als je spezifische erkennbar bleiben? Können wir von der Auflösung von Entitäten durch Beziehungen ausgehen und zugleich an einer Konstruktion von Entitäten durch Beziehungen festhalten?“24 Angewendet auf Europa und unser Bild davon führt das zu einer Fülle von Fragen und Möglichkeiten, die zu ergründen und zu verhandeln nirgendwo besser ausgetragen werden kann als in Kunst und Wissenschaft, wozu gerade dieser Tagungsband einen Beitrag leistet.

Literatur Bunbacher, Beat: Grossbritannien droht im Glaubenskrieg zu versinken, in: Neue Zürcher Zeitung (26.07.2019). Cross, Mai’a K. Davis/Ma, Xinru: EU crises and integrational panic: the role of the media, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015), H. 8, S. 1053–1070. Domnitz, Christian: Zwischen Untergrund und Parteidiktion, Transfer und Aneignung von Europanarrativen im sozialistischen Ostmitteleuropa 1975–1989, in: Frank Bösch, Ariane Brill und Florian Greiner (Hg.): Europabilder im 20. Jahrhundert: Entstehung an der Peripherie, Reihe: Geschichte der Gegenwart; Bd. 5. Göttingen: Wallstein 2012.

24Epple,

Angelika: Horst Seehofer kriegt die Kurve, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (04.10.2018).

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Enzensberger, Hans Magnus: Ach Europa! Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Suhrkamp 2011. Epple, Angelika: Horst Seehofer kriegt die Kurve, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (04.10.2018). Europäische Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, 5 mögliche Szenarien Brüssel, COM (2017) 2025, 1. März 2017, URL: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/ weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf (zuletzt abgerufen am 6.6.2020). Guérot, Ulrike/Humer, Verena/Menasse, Robert/Rau, Milo (Hrsg.): The European Balcony Project: The Emancipation of the European Citizens, Theater der Zeit, 2020. Houellebecq, Michel: Karte und Gebiet. Köln: DuMont 2011. Houellebecq, Michel: Unterwerfung. Köln: DuMont 2015. Kirchick, James: The End of Europe: Dictators, Demagogues, and the Coming Dark Age. New Haven: Yale University Press 2017. Kühnhardt, Ludger: European Integration: Challenge and Response. Crises as Engines of Progress in European Integration History. Bonn: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Discussion Paper C157, Zentrum für Europäische Integrationsforschung 2006. Menasse, Robert: Der europäische Landbote, Die Wut der Bürger und der Friede Europas. Wien: Zsolnay 2012. Menasse, Robert: Die Hauptstadt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017. Milward, Alan S.: The European Rescue of the Nation State. Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 1992. Murray, Douglas: The Strange Death of Europe: Immigration, Identity, Islam. London: Bloomsbury Continuum 2017. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt 2013. Otte, Carsten: Deutscher Buchpreis für „Die Hauptstadt“ – Die richtige Wahl, in: Die Tageszeitung (18.09.2017). Patel, Kiran Klaus: Projekt Europa. München: C. H. Beck 2018. Pond, Elizabeth: Die Stunde Europas: ein Kontinent auf dem Weg zur Weltmacht. Berlin: Propyläen 2000. Rifkin, Jeremy: Der europäische Traum, Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt a.M.: Campus 2004.

Teil III

Europa – Eine Fiktion? Aktuelle Konstruktionen von Europa als Idee, Begriff, Bild, kulturelle Konzeption

Vom Preis der Freiheit und begehbaren Büchern Einige Bemerkungen zum Konzept Ostmitteleuropa in aktuellen Diskussionen Christoph Augustynowicz

Der vorliegende Beitrag versucht, einen kritischen Blick auf Konzepte Europa mittels Operationalisierung des Begriffs Ostmitteleuropa zu strukturieren. Ein Anlass dazu ist eine unlängst geäußerte grundlegende Kritik an der Verwendung des Begriffes, deren Argumente hier zumindest in einem Punkt aufgegriffen seien: Alle Modelle zur eigentlich transnational konzipierten Definition Ostmitteleuropas, so der Einwand, würden sich letztlich am Begriff der Nation verfangen und somit nicht darüber hinwegkommen.1 Dennoch wird in diesem Beitrag der Versuch unternommen, den Begriff Ostmitteleuropa zwischen Definitionen und Anwendungen jenseits rein nationaler Ansprüche zu stellen und ihn einer EuropaDiskussion einzuschreiben – dieses Potenzial wird dem Begriff nicht zu nehmen sein. Dass der Bezugsrahmen des Lokalen als Alternative zum Nationalen2 dafür eine wesentliche Rolle spielen kann – und sollte –, wird zu zeigen sein. Die Gliederung verfolgt dabei Aspekte einschließender Aneignungen einerseits und ausschließender Rivalität andererseits, da beide Paradigmen häufig artikulierte Argumente rund um die definitorischen Diskussionen zum OstmitteleuropaBegriff bündeln.3 Im Einzelnen geht es im vorliegenden Beitrag daher um: 1) Aneignung: Historiographische Definitionen. 2) Rivalität: Literarische Ansprüche.

1Krzoska, Markus/Lichy, Kolja/Rometsch, Konstantin: Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16 (2018), H. 1, S. 40–63, hier: S. 47. 2Vgl. dazu Krzoska/Lichy/Rometsch 2018, S. 56. 3Vgl. dazu etwa Augustynowicz, Christoph: Between Appropriation and Rivalry: Some Remarks on the Concept of East Central Europe in Recent Anglo-American and German Historiography, in: Prace Filologiczne. Literaturoznawstwo 9 (12) (2019), H. 1, S. 163–174.

C. Augustynowicz (*)  Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_5

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1 Aneignung: Historiographische Definitionen Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 erhielt die Diskussion um die innere Gliederung des östlichen Europas neue Impulse.4 Der Historiker Piotr Wandycz, in Polen geboren, in Frankreich und Großbritannien ausgebildet und darüber hinaus in den USA wissenschaftlich geprägt, veröffentlichte 1992 eine wegweisende Synthese mit dem Titel The Price of Freedom. A History of East Central Europe from the Middle Ages to the Present. Er wollte die Region damit vor allem einer dem europäischen Kontinent gegenüber unwissenden US-amerikanischen Leserschaft vermitteln. Dementsprechend an zeithistorischen und somit unmittelbaren Bezügen interessiert betonte er: „Die beiden Weltkriege begannen in dieser Region, desgleichen der Kalte Krieg“.5 Geopolitisch bezog sich Wandycz unmissverständlich auf das Europa zwischen Westen und Osten, wobei er die in der Diskussion bewusste Spannweite und mangelnde begriffliche Präzision zwischen dem großen, geographisch definierten Ostmitteleuropa einerseits und dem kleinen, politisch definierten Ostmitteleuropa andererseits klar eingestand. Konsequenterweise prägte er seine Ostmitteleuropa-Definition an sich wandelnden Grenzen aus, konkret an den politisch-administrativen Grenzziehungen der historischen Epochen. Vielleicht war es auch die atlantische Perspektive, die ihn veranlasste, darüber hinaus Argumente für eine Definition anhand von Meeren und somit ein in polnischen geopolitischen wie historiographischen Kreisen rege diskutiertes Konzept aufzugreifen: Demgemäß ist Ostmitteleuropa der Raum zwischen der Ostsee, dem Adriatischen, dem Ägäischen und dem Schwarzen Meer. Gerade vor dem Hintergrund wegfallender Spaltung und potenzieller neuer Mitte in Europa machte Wandycz explizit auf den Umstand aufmerksam, dass dessen Unterteilung in einen Westen und einen Osten relativ neu ist: Sie gehe auf die langfristige Dichotomie von Süden und Norden, die Diskrepanz zwischen zivilisiertem Mittelmeer und barbarischem Norden zurück – noch der Historiker der Aufklärung August Ludwig Schlözer hatte 1771 ausdrücklich eine Nordische Geschichte6 geschrieben und damit auch das überwiegend slawischsprachige und orthodoxe Europa erfasst. Unter sowjetischer Dominanz hätten politische Notwendigkeiten einer Distanzierung vom Osten, so Wandycz weiter, ostmitteleuropäische Oppositionelle zur Wiederentdeckung und Neubeanspruchung der eigenen Stellung in der Mitte Europas bewogen. Vor allem den englisch- und

4Vgl.

zum Folgenden Augustynowicz, Christoph: Geschichte Ostmitteleuropas. Ein Abriss. Wien: new academic press 2. Aufl. 2014, S. 28–32. 5Wandycz, Piotr: The Price of Freedom. A History of East Central Europe from the Middle Ages to the present. London/New York: Routledge 2. Aufl. 2001, S. 1, Übersetzung Christoph Augustynowicz. 6Schlözer, August Ludwig: Allgemeine Nordische Geschichte. Aus den neuesten und besten Nordischen Schriftstellern und nach eigenen Untersuchungen beschrieben, und als eine Geographische und Historische Einleitung zur richtigen Kenntnis aller Skandinavischen, Finnischen, Slavischen, Lettischen und Sibirischen Völker, besonders in alten und mittleren Zeiten. Halle: Johann Justinus Gebauer 1771.

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französischsprachigen Diskurs prägend, definierten sie „Zentraleuropa“ neu und befreiten es somit von seiner stark imperial-aggressiven Konnotation: Der 1915 von Friedrich Naumann konzipierte Begriff Mitteleuropa nämlich,7 der auf eine Dominanz insbesondere Polens und der Ukraine durch das Deutsche Reich abzielte, prägte langfristig die Idee eines politisch und wirtschaftlich deutsch beherrschten zentralen Europa wesentlich mit. Eine Dimension, die Wandycz in die Diskussion um die Definition Ostmitteleuropas einführte, ist die u. a. auf den US-amerikanischen Historiker Immanuel Wallerstein zurückgehende, vor allem wirtschaftshistorische Unterscheidung von Zentrum, Semi-Peripherie und Peripherie. Wandycz argumentierte diese Zuordnungen unabhängig von der gängigen West-Ost-Dichotomie und erreichte somit eine weitere räumliche Differenzierung Ostmitteleuropas einerseits und dessen Integration in gesamteuropäische Muster andererseits. Er unterstrich dabei die Notwendigkeit einer funktionalen Differenzierung: Ist für Ostmitteleuropa aus wirtschaftlicher Perspektive eine Zuordnung zur Semi-Peripherie nahegelegt, so muss aus kulturgeschichtlicher Perspektive ergänzt werden, dass zentrale Anregungen aus der Region kamen: Beispiele sind der Hussitismus als eine ProtoReformation ein Jahrhundert vor Luther im Böhmen des 15. Jahrhunderts oder Konzepte von Liberalismus und Konstitutionalismus in Polen und Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert und somit zeitgleich zu den epochalen Umbrüchen der Französischen Revolution. Diese Differenzierung nicht vorgenommen zu haben, betonte Wandycz als zentrales Defizit in der Wahrnehmung: Westen und Osten hätten allzu rasch Fort- und Rückschrittlichkeit markiert und seien daher allzu rasch zu wertenden Begriffen geworden. Folgende Charakteristika arbeitete Wandycz für seine Definition Ostmitteleuropas heraus: • Phasenverschobene kulturelle Entwicklung mittels Adaption westlicher Modelle im 10. Jahrhundert auf Basis der Christianisierung. • Beharren in agrarischen Strukturen zeitgleich zu im Westen stattfindenden wirtschaftlichen Entwicklungen hin zu proto-industriellen Modellen seit dem 16. Jahrhundert (Ausnahme Böhmen). • Diskrepanz zwischen sozio-ökonomischen Gegebenheiten einerseits und institutionellen Entwicklungen andererseits, mithin Auseinanderentwicklung von Elite und Massen, Fehlen eines Mittelstandes, selbstempfundenes Modernisierungsdefizit. • Nationalitätenproblematik durch anhaltende ethno-religiöse Heterogenität. • Häufige Veränderungen der Grenzverläufe noch im 20. Jahrhundert. • Unterbrochene, diskontinuierliche Staatlichkeit. • Geschichte als Teil großer, überregionaler und transnationaler Herrschaftskonglomerate mit dynastischem Zusammenhalt, häufig symbolisch überhöhter

7Naumann,

Friedrich: Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer 1915.

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Kampf gegen Fremdherrschaft bei gleichzeitiger w ­ irtschaftlich-gesellschaftlicher Distinktheit der Bauern. • Präsenz und Interaktion mit lokalen Deutschen und Juden, Ausbildung von Zentren des Judentums. • Ort der konzentrierten und verdichteten überregionalen und globalen Geschichte, Ostmitteleuropa als „Laboratorium, in dem unterschiedliche Systeme getestet werden“.8 Wandycz machte seine eigene Position und deren Anschluss an ältere Positionen unmissverständlich klar: „Böhmen (später die Tschechoslowakei), Ungarn und Polen gehörten der westlichen Zivilisation an.“9 Alle großen strukturellen Umbrüche im westlichen Europa hätten auch Ostmitteleuropa geprägt: Renaissance, Reformation, Aufklärung, Französische und Industrielle Revolution. Seit den 1990er Jahren wurde der Ostmitteleuropa-Begriff vor dem Hintergrund der geänderten realpolitischen Verhältnisse und häufig aus atlantischer Distanz vor allem historisch weiter ausdifferenziert. Als wirkmächtiger Beitrag zu dieser Diskussion sei Larry Wolff erwähnt, der unter dem Titel Inventing Eastern Europe die bereits bei Wandycz fassbare These ausarbeitete, gemäß der sich die Binnengrenze in Europa unter den Vorzeichen der Aufklärung im 18. Jahrhundert wandelte von einer, die Norden und Süden trennt, zu einer, die Westen und Osten trennt.10 In den 2000er Jahren ist dann eine Tendenz zu beobachten, Ostmitteleuropa stärker in einer Einheit mit Südosteuropa zu sehen, etwa auf den ersten Blick in A History of Eastern Europe. Crisis and Change von Robert Bideleux und Ian Jeffries;11 Ostmittel- und Südosteuropa werden in dieser Arbeit bei näherer Betrachtung aber ausdrücklich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts getrennt beleuchtet. Südosteuropa wird bis auf die griechisch-römische Periode zurückgeführt, Ostmitteleuropa hingegen vertiefend ab dem 7. Jahrhundert behandelt – der Bezug zur Antike wird somit als wesentlicher Unterschied herausgearbeitet. In der Chronologisierung werden konventionelle Epochengrenzen durch die Leitfrage abgelöst, wie geartet und wie ausgeprägt die Distanz zum Westen im jeweiligen Zeitraum gewesen sei. Der Raum selbst wird, ähnlich wie bei Wandycz, im Rahmen der Länderverbände Österreich/Habsburgermonarchie und PolenLitauen/polnische Gebiete gefasst und dargestellt; viel Raum wird dem Jahr 1848 und somit dem Nationsbildungsprozess eingeräumt. Erst für das 20. Jahrhundert werden Ostmittel- und Südosteuropa von Bideleux und Jeffries integrativ behandelt und in die Zwischenkriegszeit, die Nachkriegszeit und die Zeit nach der Wende gegliedert. Ganz generell räumt ein Gutteil jüngerer synthetischer

8Wandycz

2001, S. 10. S. 3. 10Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford: Stanford University Press 1994. 11Bideleux, Robert/Jeffries, Ian: A History of Eastern Europe. Crisis and Change. London/New York: Routledge 2. Aufl. 2007. 9Ebd.,

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Arbeiten dem 20. Jahrhundert viel Platz ein und setzt einen Schwerpunkt mit zeitund gegenwartsgeschichtlichen Themen und Bezügen, gelegentlich auch Rückprojektionen. Einen anderen Weg geht das von Harald Roth herausgegebene Studienhandbuch Östliches Europa (Band 1),12 wo die chronologische Gliederung zugunsten einer thematisch-räumlichen Herangehensweise zurückgestellt wird. Neben allgemeinen Erwägungen zu methodischen Grundlagen (Historische Grundbegriffe, Historiographie, Grenzen und Gliederung, politische Kultur, Gesellschaft, Religionen und Konfessionen, Historische Anthropologie) werden die konzipierten Geschichtsregionen (Ostmittel-, Südost-, Nordosteuropa) vorgestellt und historisch argumentiert. Daran anschließend werden von spezialisierten Autoren Länder, Staaten und Regionen sowie länderübergreifende ethnische und religiöse Gruppen im Detail behandelt. Diese Arbeit folgt also einer dezentralen Perspektive, indem sie ausdrücklich nicht nur (National-)Staaten, sondern auch kleine, lokale Räume, deren Geschichte(n) und deren Perspektive(n) mitfokussiert.

2 Rivalität: Literarische Ansprüche Der (Ost-)Mitteleuropa-Begriff ist aber nicht nur von seiner historiographischen, sondern auch ganz wesentlich von seiner literarisch-belletristischen Anwendung getragen. Der unter anderem für seine breitenwirksamen Formate bekannte ­Osteuropa-Historiker Karl Schlögel etwa, der sich in Essays und Vorträgen auch mit der Ostabgrenzung der Mitte Europas seit dem Spätsozialismus beschäftigte, verwies auf die Diskussion und Problematisierung des Begriffes etwa bei György Konrad (Ungarn), Milan Kundera (Tschechoslowakei bzw. Tschechien) und Czesław Milosz (Polen). Sieht Schlögel selbst vor allem Prag als Inbegriff Ostmitteleuropas, interessiert ihn bei Konrad wenig überraschend das Plädoyer für eine (Neu-)Aneignung einer kulturell-topographischen Verbindung zwischen Budapest und Wien. Milan Kundera elaboriert die Rivalität zwar geographisch zentraler, aber politisch östlicher Lage einerseits und kulturell westlicher Lage andererseits und findet dafür Schlögels Achtung.13 Bei Czesław Milosz schließlich überzeugen bis heute seine Klage über die Asymmetrie von Wahrnehmung und Vertrautheit – an sein Exil Paris müsse man nie erinnern, an seine Heimat Vilnius stetig, so Milosz. Schlögel interpretiert Miloszʼ Argumentation durchaus pointiert weiter: „Ginge Paris unter, so wäre das so etwas wie ein zweites Pompeji oder mehr noch das Verschwinden eines guten Teils unserer Zivilisation und Lebens-

12Roth,

Harald (Hg.): Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2. Aufl. 2009; Bd. 2 ist dem Russländischen Reich bzw. der Sowjetunion gewidmet. 13Schlögel, Karl: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2008, S. 15–17.

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form. Das Verschwinden Wilnas (…) aus unserem Horizont ginge so untragisch vonstatten wie die Lektüre einer Zeitungsmeldung“.14 Milosz leitet damit zum Milieu der Städte und ihrer Bedeutung für eine vor allem literarische Erfassung des Paradigmas Ostmitteleuropa über. Zur näheren Veranschaulichung sei ganz willkürlich ein weiteres, jüngeres Beispiel eines auch belletristisch-literarisch arbeitenden Historikers herausgegriffen und etwas ausführlicher behandelt: Der Europa-Historiker Wolfgang Schmale nährt sein Europa-Verständnis in seinem hier untersuchten Reisetagebuch in erster Linie aus persönlichen Erinnerungen, wobei das Motiv der Transformation im Vordergrund steht – nicht nur weg von Faschismen und Kommunismus, sondern auch hin zur Neuabgrenzung von Tschechien und der Slowakei voneinander und vor allem von den nationalen Re-Exzessen in Ex-Jugoslawien, die er in der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjić im Jahr 2003 verdichtet sieht. In räumlicher Hinsicht ist der Übergang nach bzw. aus Europa über Transfer und Erinnerung für Schmale grundlegend, also die Denkfigur der „Regionen des Übergangs“.15 Der Dialog zwischen erinnertem, übergängigem Europa einerseits und europäischen Kernräumen und Kernregionen andererseits rückt so in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen; Verflechtung und Transfer mittels Erfahrung und Reise werden zu zentralen Motiven und peripherisieren auf diese Weise das Konzept der Peripherie. Ein ganz zentrales Interesse Schmales sind Europa- und Europäisierungs-­ Diskurse in der Architektur, aus denen er die Auffassung ableitet, Europa als textuelle und piktorale Erzählung(en) zu verstehen. Dabei werden definitorische Binnengliederungen jedoch ganz gezielt vermieden und stattdessen punktartige, durch Länder, Regionen und eben Städte repräsentierte Verdichtungen Europas extrapoliert. Zum einen wird dabei die Zugehörigkeit Serbiens zu Europa als vor allem durch die osmanische Herrschaft gebrochen gezeichnet, grundlegend aber außer Diskussion gestellt und zum anderen – und darauf soll hier der Schwerpunkt gelegt werden – die Mitte Europas entlang der Verbindung Berlin-Wien gesehen und akzentuiert.16 Anekdotisch nimmt Schmale in diesem Zusammenhang auf taxonomische Versuche Bezug, eine Mitte Europas zu errechnen und diese je nach angenommenen Grenzen des Kontinents in Polen, Litauen, der Ukraine oder der Slowakei zu finden. Eindrücklich ist dabei die mit Rückgriff auf frühneuzeitliche Landkarten erzielte tiefenhistorische Erfassung des Zentrierungsgedankens: Am deutlichsten wird Prag in der Europa Regina des Johannes Putsch (1537) als Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches angenommen und Böhmen zum Herz einer personifizierten Europa stilisiert. Auch Friedrich Naumanns ­ hegemonial-imperiale Mitteleuropa-Vereinnahmung wird thematisiert, wobei es aber k­ einerlei

14Schlögel

2008, S. 27. Wolfgang: Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2013, S. 10. 16Schmale 2013, S. 139–157. 15Schmale,

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­ rückenkopf- oder Vorwerk-Anspruch ist, sondern das Bild einer Brücke, das B Schmale mit der Verbindung Berlin-Wien zeichnet. Beide Städte waren unmittelbare Anrainer des Eisernen Vorhanges auf westlicher Seite, wobei der Teilung Deutschlands eine Lage entlang der Mitte insinuiert wird. Für Österreich wird die Brückenfunktion nicht nur zwischen West und Ost, sondern darüber hinaus auch hin zu allen aus der Habsburgermonarchie hervorgegangenen Staaten über die Zäsurdaten 1945 und 1918 hinweg betont. Sowohl die Aneignung von Zentrumsfunktionen als auch die Rivalität um Brückenfunktionen des OstmitteleuropaKonzeptes spricht Schmale damit implizite, aber im Kern an. Eine verbindend-zentraleuropäische Agenda, die Schmale als ganz wesentlich hervorhebt, besteht in der Hauptverantwortung für die Erinnerung an die Shoa.17 Diese wird in weiterer Folge umfassenden Charakterisierungen der Städte Berlin und Wien eingeschrieben, wobei die Hauptaufmerksamkeit erneut den Architekturen und insbesondere Topographien der Erinnerung gilt. In den Vordergrund stellt Schmale in diesem Zusammenhang das Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin, dessen räumlich und funktional offene Grenzen im Stadtbild er mit den Erinnerungen Ruth Klügers an Theresienstadt in Einklang bringt: In beiden Fällen überlagern einander Vergangenheit und Gegenwart gewissermaßen entgrenzend. Das Denkmal Alfred Hrdlickas gegen Krieg und Faschismus in Wien hingegen wird als Endpunkt einer eher virtuellen europäischen Achse im Stadtbild gesehen, das von Rachel Whiteread gestaltete Shoa-Denkmal am Judenplatz eher marginalisiert. Schmale ist in diesem Zusammenhang unmissverständlich: Berlin sei mit der Erinnerung an die eigene Schuld offener umgegangen als Wien. Darüber hinaus seien beide Städte anleitend für Transfers hin nach dem Osten Europas, der sich in den Umkreis Berlins auch topographisch eingeschrieben habe, etwa in der russischen Kolonie in Potsdam und ihren Kirchen. Das Einzige, was ihm in der Palette der Transfers und Verflechtungen in diesem größeren Berlin ausdrücklich fehlt, ist das doch eigentlich so nahe Ostmitteleuropa. Dennoch resümiert Schmale in Weiterführung seiner Konzeption Europas als Text: „Berlin ist heute das begehbare Buch europäischer Geschichte“,18 das hin zu den Verflechtungen der Regionen Deutschlands mit seinen Nachbarn vor allem hin zum Osten gelesen wird. In Wien fehlen Schmale hingegen vor allem die großen perspektivischen Achsen, die so charakteristisch für Berlin und auch für Paris seien; Bedeutungsachsen müssten daher erst erschlossen werden. Der metonymische Rückschluss lautet: „Wien war die Hauptstadt eines Imperiums, das an seiner Unübersichtlichkeit litt“.19 Dementsprechend wird auch die Vielfalt und -fältigkeit unterschiedlicher Wiens akzentuiert, etwa des böhmischen, des jüdischen, des polnischen Wien – diese hätten hier aber ausdrücklich keinen Hybriden ausgebildet.

17Schmale

2013, S. 143. 2013, S. 145. 19Schmale 2013, S. 151. 18Schmale

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3 Zusammenfassung Zusammenfassend gesagt gelten also die wichtigsten Fragen, die sich rund um geschichtswissenschaftlich gängige Definitionen Ostmitteleuropas stellen, der Diskussion um die Mitte des Kontinents und die Zwischenräumlichkeit zwischen Gemeinschaftsgebilden im historischen Transit von heterogenen, polyzentralen Imperien hin zu homogenen, monozentrierten (National-)Staaten. Konstanten sind darüber hinaus die Diskussionen um das funktionale und räumliche Verhältnis von Zentrum und Peripherie zueinander sowie um das analytische Potenzial lokaler, jedenfalls unter der Ebene der (National-)Staaten zu verortender Bezugs- und Vergleichsebenen (Städte, territorial gestreute Ethnien). Hinsichtlich der Positionen des hier ausführlich behandelten Reisenden Schmale einerseits und des Essayisten Schlögel samt der von ihm verarbeiteten ostmitteleuropäischen Literaten (Konrad, Kundera, Milosz) andererseits fällt vor dem Hintergrund der historiographischen Definitionen auf, dass vor allem im topographischen Konzept des Typus Stadt Unterschiede bestehen. Sucht Schmale die Achsen und findet sie vor allem in Berlin, ist es für Schlögel die Selektion mittels Wachstums, die das „zwanglos agglomerierte“20 Prag merkwürdig ebenmäßig zentriert und zum Sinnbild macht. Darüber hinaus ist viel Gleichklang zu hören: Beide Autoren stellen dichotome Konstruktionen Europas entlang einer West-Ost-Achse – und somit auch die Frage nach der Mitte des Raumes/Kontinentes – weit zurück, beide benennen Ostmitteleuropa nicht explizit, beide sehen es vor allem in Literatur und Städten repräsentiert, gewissermaßen als konzentriert konstruiert. Damit verarbeiten sie die historiographischen Argumente und Postulate, Ostmitteleuropa als ethnisch-konfessionellen Verdichtungs- und Koexistenzraum zu sehen und zu ­ lesen. Gemeinsam ist beiden schließlich und ganz wesentlich die Idee, die Verpflichtung zur Erinnerung an die Shoa, die räumliche und funktionale Verdichtung maximaler Negation von Koexistenz ethnischer Gruppen, sei ein zentraler Sinngeber einer Mitteleuropa-Suche und -Verortung.

Literatur Augustynowicz, Christoph: Geschichte Ostmitteleuropas. Ein Abriss. Wien: new academic press 2. Aufl. 2014, S. 28–32. Augustynowicz, Christoph: Between Appropriation and Rivalry: Some Remarks on the Concept of East Central Europe in Recent Anglo-American and German Historiography, in: Prace Filologiczne. Literaturoznawstwo 9 (12) (2019), H. 1, S. 163–174. Bideleux, Robert/Jeffries, Ian: A History of Eastern Europe. Crisis and Change. London/New York: Routledge 2. Aufl. 2007. Krzoska, Markus/Lichy, Kolja/Rometsch, Konstantin: Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16 (2018), H. 1, S. 40–63. 20Schlögel

2008, S. 32.

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Naumann, Friedrich: Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer 1915. Roth, Harald (Hg.): Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2. Aufl. 2009; Bd. 2 ist dem Russländischen Reich bzw. der Sowjetunion gewidmet. Schlögel, Karl: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2008, S. 15–17. Schlözer, August Ludwig: Allgemeine Nordische Geschichte. Aus den neuesten und besten Nordischen Schriftstellern und nach eigenen Untersuchungen beschrieben, und als eine Geographische und Historische Einleitung zur richtigen Kenntnis aller Skandinavischen, Finnischen, Slavischen, Lettischen und Sibirischen Völker, besonders in alten und mittleren Zeiten. Halle: Johann Justinus Gebauer 1771. Schmale, Wolfgang: Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2013. Wandycz, Piotr: The Price of Freedom. A History of East Central Europe from the Middle Ages to the present. London/New York: Routledge 2. Aufl. 2001, S. 1, Übersetzung Christoph Augustynowicz. Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford: Stanford University Press 1994.

An Europa arbeiten Über ein flamboyantes Projekt junger Intellektueller* Kay Wolfinger

Dieses collagierte Interview beschäftigt sich mit dem Projekt Arbeit an Europa. Dieses Projekt ist eine Gruppe junger Intellektueller, versammelt u. a. vom Schriftsteller und FAZ-Journalisten Simon Strauß, die sich in regelmäßigen Abständen an wechselnden Orten in Europa trifft. Ziel des Projektes ist es, Vorstellungen von Europa im Rahmen der Kultur in seiner Faszinationskraft, Vielschichtigkeit und wechselhaften Geschichte zu entwerfen und im Denken erfahrbar zu machen. Neben Vorträgen und Publikationen ist eine tragende Säule von Arbeit an Europa1 das sogenannte Europäische Archiv der Stimmen.2 Es basiert auf Interviews, die mit Zeitzeugen der europäischen Geschichte in verschiedenen Sprachen geführt wurden, und möchte als Audio-Ausstellung Europa auf neue Art und Weise erleb- und erfahrbar machen. Vielleicht kann dieses Projekt – und dafür würde die Betonung der Tradition und das Bemühen um Bestand sprechen – zumindest in Teilbereichen als der Versuch wahrgenommen werden, einen – wie Simon Strauß es einmal gefordert hat – flamboyanten Konservatismus3 ins Werk zu setzen.

*im Gespräch mit Robert Eberhardt (Berlin) und Simon Strauß (Frankfurt a. M.) 1URL:

https://arbeitaneuropa.com/ (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). https://archiveofvoices.eu/ (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 3Sedlmaier, Tobias: Jungautor Simon Strauss: „Man muss das Konservative von den älteren Herren mit Mundgeruch wegbekommen“ (Interview), URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/ simon-strauss-man-muss-das-konservative-von-den-aelteren-herren-mit-krawatte-undmundgeruch-wegbekommen-ld.1431643 (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 2URL:

K. Wolfinger (*)  Department I, deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_6

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Könnten Sie kurz umreißen, wie vor Beginn Ihres Projekts Ihr eigenes Verhältnis zu Europa war? Hat sich dieses Verhältnis durch die Projektarbeit verändert? Robert Eberhardt: Als Deutscher und als in Thüringen Geborener noch zur Zeit der DDR hat man eine europäische Dimension im Lebenslauf eingeschrieben, an dessen Anfang mit dem Fall der Mauer eine Erfahrung der räumlichen Befreiung und des Aufbruchs steht, und dies hat man dann auch in seinem Studium z. B. mit einem Auslandssemester verfolgt und versucht zu lesen: raus zu europäischen Nachbarn. Es war also schon immer eine proeuropäische Identität, die ich hatte. Durch unseren Verein ist dies noch einmal geschichtlich-literarisch untermauert worden, weil wir ja dort auch eine Begriffsgeschichte Europas erarbeiten und Europa in der Tiefe verstehen wollen. So ein Vorgehen weitet natürlich auch noch einmal das eigene Verhältnis zu Europa in jedweder Hinsicht. Wie hat sich Ihr Projekt Arbeit an Europa entwickelt, wenn Sie daran denken, wie die Idee entstand? Als Nachfolgeprojekt zum Jungen Salon4 in Berlin? Wenn man die genaue Genealogie berichten möchte, könnte man es als ein Nachfolgeprojekt des Jungen Salons begreifen, den ich mit Simon Strauß drei Jahre in Berlin unterhielt. Irgendwann war die Zeit dafür vorbei; wir waren auch nicht mehr ganz jung. Dann hat sich aus dem Berliner Salon heraus diese europäische Initiative gegründet. Auch mit anderen Kreativen und Publizierenden zusammen wie mit der Schriftstellerin Nora Bossong. Aber der Verein entstand durchaus auch als Reaktion auf ein politisches Ereignis, nämlich auf den Brexit. Das war auch die Zeit, als wir uns nach unserem eigenen Verhältnis zu Europa gefragt haben, als wir schreibende Menschen beschlossen, uns dieses Komplexes anzunehmen und eben nicht im kleindeutschen Identitätskampf unsere Kräfte zu verbrennen. Dass Sie dazu einzelne Treffen planen, hat sich nach und nach herauskristallisiert, und dass Sie sich zum Denken an verschiedenen Orten treffen? Genau. Wir haben verschiedene Säulen unserer Arbeit; eine davon sind die europäischen Treffen, die immer in einem Ort der Peripherie stattfinden, noch nie in einer Hauptstadt. Es begann bei mir in Thüringen, in Breitungen, wo wir den Begriff „Heimat“ reflektierten, als es noch kein Heimatministerium gab. Damit sieht man auch, wie sich in kurzer Zeit Begriffe verschieben oder auch politisch genutzt werden. Oder wir waren in der Schweiz und dachten über „Elite“ nach, im Grenzgebiet Deutschland-Frankreich, im Elsass, haben uns dort mit „Sicherheit“ beschäftigt, in Manchester mit dem Begriff der „Arbeit“ und in Polen mit dem Verhältnis von „Religion“ und „Nation“. Auf diese Begriffe kommen Sie dann durch gemeinsames Nachdenken oder wie fällt die Entscheidung? Diese werden basisdemokratisch bestimmt, und das hat bei uns auch noch so einen jugendlichen Drive dadurch. Es gibt zwar einen Generalsekretär und 4Der

Junge Salon war eine von Robert Eberhardt, Theresia Enzensberger und Simon Strauß gemeinsam initiierte Initiative, die sich an einen geschlossenen Kreis von jungen Intellektuellen wandte und mit geladenen Gästen verschiedene Themen der Zeit reflektierte und diskutierte.

An Europa arbeiten

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einen Organisator des jeweiligen Treffens, aber sonst ist alles selbst organisiert. Wir sind keine riesige Vereinigung mit „Funding“, sondern eine unabhängige Intellektuellengruppe, die durch Europa reist und verschiedene andere Projekte entwickelt, zu denen ich Ihnen auch noch etwas erzählen kann, wenn Sie mögen. Gerne! Also neben diesen Treffen, die der Herzschrittmacher des Vereins sind, gibt es noch das Europäische Archiv der Stimmen, das aus Interviews mit Europazeugen, wie wir sie nennen, aufgebaut wird. Das sind Menschen, die vor 1945 geboren wurden und per se durch ihre Biographie europäische Dimensionen erlebt, durchdacht oder mitverändert haben. Dieses Projekt wird von der Gerda Henkel Stiftung, der Krupp-Stiftung und anderen gefördert. Ein junges Team von internationalen Interviewern ist ausgeschwärmt, sucht diese Zeugen und möchte durch einen gemeinsamen Fragenkatalog diese Interviews auch vergleichbar machen. Das Ziel ist die Präsentation in einer Ausstellung, diese Stimmen auf einer Internetseite zugänglich zu machen und diese Stimmen der ersten Menschen, die in der EU lebten, lebendig zu halten. Ganz bewusst auch nur Stimmen, keine Filmaufnahmen, weil die Bewegtbilder die Inhalte überlagern würden. Es sollen wirklich Stimmen aus dem Off sein, die z. B. auch in hundert Jahren ein besonderes Zeugnis sein könnten. Nach welchen Kriterien finden Sie die Stimmen? Wie sind die Suchraster? Das obliegt den Interviewern im jeweiligen Land, die uns ihre Gesprächspartner vorschlagen. Wann wird dieses Teilprojekt von Arbeit an Europa fertiggestellt sein? Das Archiv der Stimmen wird 2021 fertiggestellt werden. Es werden sicherlich immer wieder Interviews dazukommen. Aber die Projektphase, die Finanzierung und die Präsentation ist für Ende 2021 geplant. Was sind die generellen Ziele von Arbeit an Europa? Oder ist das ­Ins-Gespräch-Kommen, das In-Den-Diskurs-Eintreten schon das Ziel? Man kann sich vielleicht der Sache nähern, wenn man beschreibt, was es nicht ist: Es ist keine politische Agenda, es ist kein politischer Verein; es ist aber auch kein Jugendaustausch, der aus dem freudigen Miteinander unterschiedlicher Nationen besteht, sondern es ist eine dezidierte Begriffsarbeit, im Blumenberg’schen Sinn „Arbeit am Mythos“: Wir arbeiten an Europa und wollen Europa erst einmal für uns verstehen. Worin wurzelt es? Was sind ideengeschichtliche und kulturelle Gründe und Konflikte? Daraus soll eine Textproduktion entwickelt werden. Der Networking-Gedanke ist natürlich auch präsent, passende Leute zu diesen Treffen einzuladen. So entstanden schon viele Freundschaften und literarische Zusammenarbeiten, sogar Beziehungen, nur noch keine Kinder.

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Sind neben den Texten auf Ihrem Blog auch noch weitere Publikationen oder Bücher geplant? Auf dem Blog steht meist das, was aus unseren Treffen heraus resultiert. Natürlich ist Arbeit an Europa so bereichernd, dass bei vielen Teilnehmenden auch eigene Texte entstehen. Wir planen aber auch dezidiert ein Buch, nämlich einen EuropaGlossar oder ein Europa-Alphabet, das dann auch ganz konzise die wichtigsten Begriffe vorstellen wird und eine kreative Begriffsgeschichte sein möchte. In der Entwicklung Ihrer eigenen Persönlichkeit: Welche Rollen würden Sie sich am ehesten zuschreiben? Verleger, Kunsthistoriker, Netzwerker? Das erscheint manchmal viel, aber viele Leute haben ja heutzutage solche multiplen Berufspersönlichkeiten. Auch Kleist hat ja schon sein Leben in Projekten geordnet. So sind vielen „Kreative“ heute darauf angewiesen, durch mangelnde Festanstellung in dieser Projektemacherei zu denken. Und ich würde mich akademisch als Kunsthistoriker bezeichnen; in diesem Fach promoviere ich gerade. Ansonsten bin ich Verleger und Kunsthändler. Mit diesen drei Begriffen kann man es eigentlich gut zusammenbinden. In jedem dieser Gebiete ist ja in den nächsten Jahren sicherlich viel geplant. Oder wie weit blicken Sie in die Zukunft? Man macht sich meist Dreijahrespläne. Ich werde meinen Verlag weiterführen, Denkmalprojekte in Thüringen entwickeln und ab 2020 in die Buch- und Kunsthandlung Felix Jud in Hamburg als Teilhaber einsteigen. Was sind die nächsten Schritte der Arbeit an Europa? Die Initiative wächst immer weiter. Wir haben einen Verein gegründet und werden von verschiedenen Förderern unterstützt. Es wird unsere Treffen weiterhin geben z. B. im Januar (2020) in Slowenien, wo uns der ehemalige Ministerpräsident des Landes empfängt, der neulich im EU-Parlament auffiel, weil er die EU-Hymne auf der Mundharmonika spielte. Nach dem Archiv der Stimmen und dem EuropaGlossar wollen wir verstärkt auf die Schiene Bildung setzen. Es wird auf jeden Fall um die Außenwahrnehmung gehen (Vortragsreihen etc.) und kein geheimer intellektueller Kreis sein – den gibt es ohne Bezeichnung trotzdem. Kurz nach dem Gespräch mit Robert Eberhardt fand im Oktober 2019 ein Treffen mit Simon Strauß vor seiner Münchner Lehmkuhl-Lesung aus dem aktuellen Buch Römische Tage statt. Strauß berichtete aus seinem Blickwinkel über Arbeit an Europa und ergänzte Robert Eberhardts Ausführungen um entscheidende Aspekte. Berichte doch einmal von der Genese des Projekts und von der Geschichte seiner Herleitung. Simon Strauß: Den Verein Arbeit an Europa gibt es nun schon einige Jahre. – Gerade eben waren wir auf dem Blauen Sofa an der Buchmesse. Da haben Nora Bossong und ich den Verein vorgestellt. Wir beide haben ihn mehr oder weniger

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gegründet. Und zwar haben wir 2016, in der Nacht nach dem Brexit miteinander telefoniert und uns gefragt, wie wir nun als Intellektuelle darauf reagieren sollen; nicht, um die Vorstellung zu suggerieren, dass Schriftsteller oder Künstler die besseren Politiker wären, sondern wir wollten uns auf unser Kerngebiet konzentrieren: Sprache und Begriffe und wie man diese auf unterschiedlichste Weise zum Leben erweckt. Wir haben dann ein Jahr lang die Treffen organisiert in verschiedenen Peripheriegebieten europäischer Länder. Immer steht ein Begriff, ein Titel im Mittelpunkt, über den ein Wochenende lang intensiv debattiert wird, Vorträge geben neue Impulse, am Ende findet dann noch eine Podiumsdiskussion statt. Also eine theoretische Arbeit, obwohl sie nicht akademisch ist. Genau, nicht rein akademisch, sondern eher assoziativ, von allen möglichen Seiten aus betrachtend und abklopfend auf Konnotationen, die abgerutscht sind in Sedimente vergangener Zeit. Die Idee einer lebendigen und immer wieder neu aufzuarbeitenden Begriffsgeschichte, wie sie Reinhart Koselleck oder Joachim Ritter als akademisches Forschungsprojekt etabliert haben, spielt für dieses Konzept natürlich eine Rolle. Aber wir fragen uns auch, wie kommen wir dann an verbindende, heute verbindliche Implikationen von Begriffen. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Heimat“: Auf den ersten Blick ist es negativ konnotiert, wird vielleicht sogar diffamierend gebraucht, aber könnte nicht auch etwas in ihm liegen, das dem ersten, intuitiven Verstehen zuwiderläuft? Könnte man ihn nicht sogar so betrachten, dass er eine ganz bestimmte Vorstellung von Offenheit bekommt, eine bindende Kraft? Das ist ein Strang des Projekts. Eine andere Idee ist erst später gereift, in meinem Sommer 2018 in Rom, in dem ich auch das Buch Römische Tage geschrieben habe. Ich habe mich gefragt: Wie können wir als Verein etwas Stabileres, Dauerhaftes schaffen, sozusagen eine Institution der europäischen Erinnerung? Damit war die Idee zum „Europäischen Archiv der Stimmen“ da, dem zweiten längerfristigen Projekt von Arbeit an Europa: starke und reflektierte Stimmen aus allen europäischen Ländern zu versammeln, die die Europäische Einigung erfahren und selber mit vorangebracht haben. Das Ziel war und ist gewissermaßen eine „memoriale Untergründung“ Europas. Da bräuchte man schon einen sehr idealistischen Förderer. Ja, denn in unserer Zeit muss ja immer alles auch gleich einen „Output“ haben. Bei dem Projekt verschwimmen meine Profession als Historiker, Journalist und Autor mit der Europa-Idee. Die Elemente sind Zeitzeugenschaft, Interviewführung, literarische Aufarbeitung. Die Aura der menschlichen Stimme, was sie ungesagt alles mitschwingen lässt, ist der wesentliche Zusatz zur erzählten Lebenserinnerung. Oral History ist ein hochinteressantes Feld. Die journalistische Dimension ist die Technik des Interviews, also die Befragung. Die künstlerische – jetzt noch schwächste – Komponente fragt danach, was man mit den versammelten Stimmen machen kann, wie man sie in Szene setzt und zu den Leuten sprechen lässt. Was transportieren Stimmen?

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Also, was führen Stimmen explizit mit sich? Genau, was drückt sich in ihnen aus? Emotionale Klugheit? Vielleicht etwas, das der Sprecher nicht kontrollieren kann und das trotzdem durch die Stimme kommt? Etwas, das klüger ist als der Sprecher und mehr über ihn verrät, als er bereit und fähig ist, selbst zu sagen? Wie ja auch ein Text oft klüger ist als der Autor. Gut, manchmal ist er auch dümmer… Im besten Falle ist der Text aber klüger als der Autor und auch noch klüger als sein Leser. Der Text ist immer mehr, als man von ihm sagen kann. Bei der Stimme ist es dieselbe Vorstellung: Dass jemand, wenn er spricht und seine Stimme aufgezeichnet wird, sie eine reiche Quelle für die Nachwelt sein kann. Etwas, das also bezeugt und mehr ist als der Sprecher selbst. Es passt zu deinem Geisterprojekt5: eine fast mystische Vorstellung, die man aber nicht ganz von der Hand weisen kann, wenn man an die großen Reden denkt von John F. Kennedy oder Martin Luther King. Das ist einfach ein besonderer Impact, die Stimme zu hören. Es fehlt etwas, wenn man die Reden nur sieht. Weiterfragen kann man dann: Wie wird man in 200 oder 300 Jahren unsere Zeit erinnern? Es ist Kosellecks Rede von der „zukünftigen Vergangenheit“, die über unserem Projekt als Banner steht. Das ist die idealistische Dimension des Projekts, die aber wichtig ist und die auch die Mäzene und Förderer sehr interessiert. Dank unserer Geldgeber, vor allem der Gerda Henkel Stiftung und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, konnten wir Anfang 2019 starten. Wir hatten schon Ende des vorangegangenen Jahres vielfältige Sammlungsversuche unterschiedlichster Art gemacht, weil ja die Grundidee schnell klar wurde: Wir wollen Europa erzählen, und zwar durch die Stimmen Europas, die Stimmen der Generation, die vor 1945 geboren ist. Das ist also die Zeitgrenze, die ihr einhaltet? Genau. Die Enzensberger-Generation, die jetzt gerade noch lebt, die sich politisch schon bewusst war, als die Europäische Union sich herausbildete, die mit einer ganz anderen Erfahrungsdichte behaftet ist. Dann war unsere Setzung: Alt trifft Jung; junge Intellektuelle führen ein circa dreistündiges Gespräch mit einer Europazeugin, einem Europazeugen aus ihrem Land. Die jungen Interviewer haben wir über verschiedene, auch soziale Netzwerke angeworben. Der Kern des Vereins sind ungefähr zehn Leute. Auf unserer Website: https://archiveofvoices.eu kann man sie kennenlernen. Die jungen Interviewer zu finden, das hat am besten geklappt. Anfang 2019 haben wir sie nach Hamburg eingeladen und dort einen zweitägigen Workshop gemacht – u. a. mit Heinz Bude, der unser Chairman war und der mit uns diesen Fragenkatalog erarbeitet hat.

5Gemeint

ist u. a. das Buch Das Archiv der Geister. Der Geist des Archivs, siehe das Schriftenverzeichnis des Verfassers.

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Welche Bedeutung hat der Fragenkatalog? Dieser Fragenkatalog dient als gemeinsame Grundlage aller Gespräche. Um es gleich vorab zu sagen: Es geht nicht um ein journalistisches Interview, sondern es geht um Erfahrungen, die erzählt werden sollen und dafür auch mehr Raum in Anspruch nehmen können, als innerhalb eines journalistischen Formats zur Verfügung steht. Es soll nicht nur ein Frage-Antwort-Spiel sein, sondern es sollen Erzählimpulse gesetzt werden. Die großen Themen, die abgedeckt werden, sind dann wieder durch Schlagworte gekennzeichnet, wie z. B. Heimat, Kindheit, Bildung, Arbeit; das sind die großen Überthemen. Politisches Bewusstsein, kulturelles Bewusstsein, der Freiheitsbegriff, Zukunftsvorstellungen, Konflikterfahrungen, Widerstandsmöglichkeiten. Religion und die Vorstellung der Zukunft, von heute aus gesehen: Wie sieht Europa wohl in 50 Jahren aus? – Und das machen wir seitdem: Gespräche führen – und vor allem erstmal organisieren. Es ist eine ziemliche Arbeit. Eine „Arbeit an Europa“. Wie viele Interviews werden es insgesamt? Es sollen circa 50 werden. Wir haben bisher 25 [Oktober 2019, Mai 2020: 44] geführt. Das Führen der Interviews ist das eine, aber dann kommt der zweite Schritt, die Transkription. Es wird auf Slowenisch, Mazedonisch, Bosnisch, Französisch, Spanisch, Luxemburgisch geführt, und dann wird es transkribiert von den Interviewern selber, und dann muss es auch noch übersetzt werden. – Der Hauptkostenpunkt sind die Übersetzer. Zu allerletzt läuft dann alles auch nochmal durch ein professionelles Lektorat durch Muttersprachler. In der zweiten Hälfte 2020 werden vom Goethe-Institut organisierte Veranstaltungen stattfinden, bei denen unser Projekt in unterschiedlichen Städten Europas präsentiert werden wird. Wie geht es mit der Übersetzung weiter? Wird das online gestellt oder zu einem Buch gemacht? Es gibt zu erst einmal die professionell und interaktiv gestaltete Internetseite des Stimmen-Archivs mit einer Landkarte. Spätestens Anfang 2021 laden wir alle Interviews, Tonsequenzen und Bilder hoch. Die digitale Zugänglichkeit ist also der erste Schritt. Der zweite Schritt ist die Präsentation des Inhalts durch Veranstaltungen und Diskussionsrunden: Etwa bei den Kulturtagen in Hedersleben haben wir das schon einmal versuchsweise gemacht: Da haben wir aus fünf Interviews Tonstrecken extrahiert und mit den dazu passenden Übersetzungen gezeigt, wie unterschiedlich die Antworten ausfallen, wie sie sich ergänzen, wie Text und Ton zusammenspielen. Die ehemalige isländische Staatspräsidentin Vigdis Finnbogadottir und ein italienischer Jesuitenpater, Bartolomeo Sorge, und als Dritten ein Gewerkschaftler aus Polen, Henryk Wujec, und Jean-Claude Carrière, ein französischer Regisseur. Man hat gesehen, wie unterschiedlich diese vier nachgedacht haben über ihr Leben und was das mit Europa zu tun hat. Oder eine österreichische Schriftstellerin, die z. B. mit der österreichischen Nationalhymne durch besondere Erfahrungen verbunden ist. Ihr Erfahrungsreichtum verbindet

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die Menschen. Es geht um reflexionsbereite Intellektuelle, die von unseren Interviewern vorgeschlagen und von uns bestätigt werden. – Wir hoffen, unsere Interviews später in Zusammenarbeit mit Universitäten auswerten und vielleicht sogar schulisch vermitteln zu können. Das kann aber bis 2022 dauern. Es geht also auch um die Erarbeitung von Materialien, die Schulen zur Verfügung gestellt werden, damit Schülerinnen und Schüler wieder etwas damit machen können.6 Das gibt es in anderen Ländern schon viel mehr. Ich habe z. B. eine Initiative in Kopenhagen kennengelernt. Dort gibt es ein junges dänisches Paar, das mit einem Wohnwagen zwei Jahre lang durch Europa gefahren ist und alle möglichen Leute auf der Straße zu irgendetwas befragt hat. Mit diesem Material ziehen sie jetzt von Schule zu Schule und bringen die geistige Vielfalt von Europa in die dänischen Klassenzimmer. Bei uns geht es eher um die historische Dimension, aber ich glaube schon, dass es für Schüler und Schülerinnen interessant ist, auf diese Weise Geschichte zu erfahren durch die Biographie einer Person und auch durch die Fragen der jüngeren Interviewer. An der Universität Bremen gibt es schon Interesse an einer möglichen akademischen Kooperation. Wir stellen das Material außerdem auch Künstlern zur Verfügung. So zum Beispiel dem jungen Komponisten Michael Langemann, der gerade an einer Art Oratorium unserer Stimmen arbeitet, das den Reichtum der europäischen Sprache präsentiert. Die europäische Idee ist nicht in Eins zu setzen mit der Europäischen Union als Institution. Sie ist wichtig, keine Frage, aber die Idee von „Europa“ ist wertvoller als die Technik der Europäischen Union. Kann man es überhaupt auf eine Antwort herunterbrechen, was eure Ziele sind, oder ist das mehr ein großer Bedeutungsraum, der Wunsch, eine Idee zu retten, etwas anschlussfähig zu machen für eine neue Generation? Erstes Ziel: Europa nicht nur politisch und ökonomisch, sondern kulturell und historisch zu verstehen. Daher das zweite Ziel: Die europäische Erzählung, nach der immer so viel gefragt wird, nicht immer nur in der Jetztzeit zu finden, sondern die Vergangenheit ernst zu nehmen als einen vielfältigen und in sich gebrochenen, funkelnden Inspirationsraum. Verantwortung kann man nur entwickeln durch Beschäftigung mit der Vergangenheit. Das ist sozusagen die Gegenthese zum heutigen präsentischen Ich, das durch die sozialen Medien in vielerlei Hinsicht dominiert: die Fixierung des Individuums rein auf den Moment der fortgesetzten Gegenwart. Drittes Ziel: Ein Netzwerk schaffen zwischen jungen Intellektuellen in ganz Europa, zwischen Leuten, die über dieses Projekt zusammenwachsen und möglichst auch Anschlussprojekte generieren. Weitergedacht: Aus diesem Netz6Der

Autor stellte unter dem Titel „A Million Voices“. Reflexionen zum Projekt Arbeit an Europa einen wissenschaftlichen Ansatz zu Arbeit an Europa auf der Lehrerfortbildung Werte in Europa. Deutschunterricht europäisch gestalten (Prof. Dr. Sabine Anselm und Prof. Dr. Sonja Kuri) am 27.11.2019 im Wilhelmsgymnasium München vor und zeigte auf, welche Unterrichtsmodelle und Schulprojekte sich aus dem Europäischen Archiv der Stimmen konstruieren lassen.

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werk heraus soll eines Tages ein Ort entstehen, eine Akademie, ein physischer Ankerplatz für all unsere Sachen, und dort wird das Archiv dann auch permanent zugänglich werden. Ich denke, es ist wichtig, auch heutzutage sich zu trauen, so idealistisch zu sein und eine Vision zu formulieren. Sicher. Das habe ich auch zu dem Moderator des Blauen Sofas gesagt, der immer meinte: „Aber ist heute nicht alles ganz anders und genau nicht so, wie Sie es sehen…?“ Ja, natürlich ist alles anders. Deshalb ist es umso wichtiger, mit Idealismus und Phantasie dagegen vorzugehen. Wenn man immer nur der Dummheit, Bösartigkeit und Verflachung antwortet, kommt man nicht aus dem Kreislauf hinaus. Man sollte wieder träumen und Idealismus entwickeln; nicht unter dem Aspekt: „Was bringt das jetzt heute oder morgen?“ Manchmal ist es ganz schön, in größeren Zeitspannen zu denken. Das Projekt ist eine Aktie für die Zukunft. Entzieht man sich so auch der Nützlichkeitsforderung der Gegenwart? Ganz ohne Zweifel. Für mich ist das persönlich auch ein ganz entscheidendes Projekt, das nicht dem Reiz-Reaktion-Schema des Journalistischen folgt. Das merken wir auch am Interesse, das uns entgegenschlägt. Gerade Nora Bossong und ich repräsentieren eine Schriftstellergeneration, die sich nicht mehr rein auf ihr eigenes Schreiben verlässt. Das Schreiben ist wichtig für mich, aber es lebt für mich nur, wenn es der Ausgangspunkt für gemeinschaftliche Ideen ist. Ich versuche bei meinem Buch Römische Tage, … … das ja deutliche Europa-Stellen beinhaltet, … … ganz genau, auf diese Passagen hinzuweisen, weil dieses Buch viel ruhiger und weniger thesenhaft ist als mein Debüt Sieben Nächte. Das heißt, du hast beim Schreiben deines jüngsten Buches darauf geachtet, dass es eingebettet ist in die Arbeit an Europa? Ja, in gewisser Weise… Aber weniger in das Vereinsprogramm als vielmehr in meine eigene Arbeit an Europa, wie ich sie verstehe und zu der ich auf meine persönliche Art beitragen. Ich kann das aber auch gar nicht ganz scharf trennen, weil das eine mit dem anderen einhergegangen ist. – Es wird klarer, wenn man in Rom ist oder überhaupt im Süden Europas, wie wichtig es wäre, eine heilende Kraft zu haben, die die Zersplitterung und die politischen Ressentiments überstrahlt. Stefan Zweigs Rede über die moralische Entgiftung Europas, die er 1932 in Rom gehalten hat, ist für mich auch sehr wichtig gewesen. Oder Franz Marc, der von einer paneuropäischen Bewegung träumt. Das gab es früher auch bei den Romantikern. Mit unserem Archiv ist es dann so wie bei Goethe, als ein Gast zu ihm kam und Goethe ihm gegenüber bemerkte: „Geben Sie mir keine Ansichten. Ansichten habe ich selbst. Geben Sie mir Nachrichten“ – Nachrichten im Sinne von Erfahrungen.

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Ist dein Bezug auf die Romantiker auch eine neue Würdigung der Romantik für die Gegenwart? Der Bezug zur Romantik war auch in Sieben Nächte schon sehr stark. Dabei steht gerade der Rückbezug auf die Romantik oder die Vorstellung einer Ultraromantik heutzutage oft unter Beschuss. Umso wichtiger, die Romantik zu verteidigen! Was ist denn romantischer als die Vorstellung, dass überall in Europa junge Menschen gemeinsam durch eine idealistische Arbeit an Europa verbunden sind? Eine romantische Vorstellung: sich über die Idee zu binden. Ich will den Dummköpfen, die es sich so einfach machen, die Vergangenheit in Verruf zu bringen und abzuwerten, etwas entgegenzusetzen. Den Reichtum sichern, den es schon gibt. Genau. Da ihr ja auch der Europa-Müdigkeit der jungen Generation entgegentreten wollt: Woran, glaubst du, liegt diese Müdigkeit? Wahrscheinlich ist der ökonomische Aspekt der entscheidende. Die Vorstellung, dass es eine solche Ungerechtigkeit gibt zwischen Brüdern und Schwestern. Viele sehen eine viel zu starke Kapital- und Machtballung im Norden Europas. Da ist das Geld, die Macht, die moralische Deutungshoheit; eine ungute Mischung. Die Europa-Müdigkeit geht in Italien in Aggressivität über. Alle sagen, die EU sei zu bürokratisch und technokratisch, wir bräuchten eine große Erzählung. Und was macht Frau von der Leyen als erstes? Sie schafft das Kommissariat für Kultur ab. Völlig ignorant gegenüber dem, was Jean Monet gesagt hat: Wenn er die Europäische Union noch einmal gründen könnte, würde er sie auf Basis der Kultur und nicht auf Politik gründen. Wirst du in deinem nächsten Buchprojekt weiterarbeiten an der europäischen Idee? Das ist noch ganz unklar. Ich habe gerade eine Anthologie herausgegeben zu der Reihe in der FAZ über vergessene Theaterstücke. Spielplanänderung, heißt das Buch zur Serie.7 Und das in unserer Zeit, die besoffen ist von ihrem eigenen Zeitgeist. Es soll im Herbst in Berlin eine „Lange Nacht der vergessenen Stücke“ geben mit Schauspiel, Tanz, Lesung, Diskussion zum vergessenen Kanon europäischer Theaterliteratur. Das bereite ich gerade vor. Inwiefern hat euer früherer Berliner Salon Anteil an Arbeit an Europa, obwohl das aktuelle Projekt nicht auf ihm gründet? Hat der Salon kulturell etwas für euch vorbereitet? Das hat er bestimmt. Der „Junge Salon“ hat seine Erweiterung und Fortsetzung in den europäischen Treffen von „Arbeit an Europa“ gefunden. – Der nächste Europäische Salon findet in Slowenien zum Thema „Tradition“ statt.

7Strauß,

Simon (Hg.): Spielplanänderung! 30 Stücke, die das Theater heute braucht. Stuttgart: Tropen 2020.

An Europa arbeiten

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Ihr habt aber schon immer konservative Themen? Heimat, Nation, Elite, Religion… Und das, obwohl die Mehrzahl bei uns linksliberal gesinnt ist. Wir wählen solche Schlagwörter bewusst, damit man sich ein bisschen streitet. Wir suchen bewusst Begriffe, die uns und unsere Öffentlichkeit umtreibt. Man muss ergänzen, dass wir ja auch über Widerstand und Arbeit gesprochen, über das letzte Thema in Manchester, mit Gewerkschaftsvertretern. Oder, in Uppsala, über Natur. Diese Umtriebigkeit sollte unbedingt fortgesetzt werden. Vielen Dank an Robert Eberhardt und Simon Strauß für die Möglichkeit, unsere Gespräche als Forschungsgegenstand in diesen Europa-Band eingehen zu lassen, auch wenn man sich die Aura der Stimmen aus anderen Quellen erstehen lassen muss. Die Flamboyanz der Gedanken kommt in der Präsenz der Worte zum Ausdruck.

Literatur Strauß, Simon (Hg.): Spielplanänderung! 30 Stücke, die das Theater heute braucht. Stuttgart: Tropen 2020.

Teil IV

Europa und Europäer – Eine identitätsbildende Einheit?

Europa und der Begriff des Imperiums Oliver Jahraus

Die folgenden Überlegungen können unter die generelle Überschrift Literatur und Politik gestellt werden. Denn ihr Fokus liegt grundsätzlich auf dem politischen Reflexionspotenzial von Literatur. Konkret geht es um den Begriff des Imperiums und um die Frage, wie man sich ein solches Imperium eben nicht nur historisch, sondern auch politisch vorzustellen hat. Es geht also darum, diesen Begriff nicht nur als analytisches, sondern auch als diagnostisches Instrument zu nutzen. Und der Reflexionsraum, in dem sich Begriff und Vorstellung entwickeln, ist die Literatur- und Mediengeschichte. Was hat es also mit dieser Idee des Imperiums auf sich und inwiefern muss sich die Literatur- und Medienwissenschaft darum kümmern, zumal wenn sie auf Europa blickt? Gerade diese Zurichtung bringt nicht nur eine disziplinäre Spezialisierung mit sich, sondern vielmehr geradezu einen höheren Abstraktionsgrad und eine eher grundlagentheoretische Ausrichtung. Es geht nicht allein um historische Ausprägungen, sondern vielmehr um die Idee, die sich in historischen, aber eben noch mehr in fiktionalen Ausprägungen ausdrückt. Man könnte dieses Unterfangen durchaus in die Nähe einer Spengler’schen Morphologie – hier eine Morphologie des Imperiums – rücken, allerdings nicht einer historischen Morphologie, sondern vielmehr einer literarischen oder fiktionalen, die damit überhaupt erst einen politischen Reflexionsraum eröffnet und insofern nicht axiomatisch, sondern vielmehr axiologisch agiert. Das wird in besonderer Weise spürbar durch diese Fokussierung auf Europa, denn es wird sich zeigen, dass gerade in diesem Kontext der Begriff des Imperiums und seine Diskussion, seine Morphologie und seine politische Reflexion auf die genannten Potenziale hin von besonderer Brisanz sind. Gerade

O. Jahraus (*)  Department I, deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_7

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weil Europa als historisches und politisches Gebilde weder in der Geschichte noch in der Gegenwart (der Europäischen Union) unmittelbar als Imperium aufgetreten ist, gerade weil sich Imperien in Europa nicht vorrangig als Europa vorgestellt oder charakterisiert haben noch umgekehrt die Europäische Union sich als Imperium selbst beschreibt, erlaubt es dieser Begriff, einen anderen als einen nur historischen oder politikwissenschaftlichen Reflexionsraum auszuloten. Damit hat der Begriff des Imperiums eine ähnliche Strahlkraft wie die Begriffe Bürgerkrieg oder Revolution, Souveränität oder Ausnahmezustand in der politischen Debatte über Disziplin- und Mediengrenzen hinweg. Zunächst zum Begriff selbst: Der Begriff des Imperiums wird ohne größere Problematisierung dort eingesetzt, wo es darum geht, bestimmte staatliche und politische Formationen in einer übergreifenden Ordnungsidee und als Herrschaftsstruktur oder -verbund – als Imperium – zu kennzeichnen.1 Das historische Paradigma, das dabei nahezu konkurrenzlos heraussticht, ist das Imperium Romanum. Daneben steht noch – sogar mit größerer historischer Persistenz – das chinesische Kaiserreich.2 Doch dies ist nur der Anfang; interessant wird es im nächsten Schritt. So gibt es nicht nur auf der Objektebene der Realgeschichte Prozesse der Neukonstitution eines Imperiums durch Referenz auf alte Imperien durch Modelle der Translation und Filiation3 – das berühmteste Beispiel ist sicherlich das Heilige römische Reich deutscher Nation als Translation des Imperium Romanum –, sondern auch auf der Metaebene der Begriffsverwendung wird die Frage aufgeworfen, inwiefern neuere Imperien alte Imperien reaktivieren oder ihre Idee revitalisieren, z. B. wenn vom Britischen Empire oder aber amerikanischen Empire mit Bezug z. B. eben auf das Imperium Romanum die Rede ist.4

1Darwin,

Charles: Der imperiale Traum. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2017; Burbank, Jane/Cooper, Frederick: Empires in world history. Power and the politics of difference. Princeton. Oxford: Princeton UP 2010; Huf, Hans-Christian: Imperium. Aufstieg und Fall großer Reiche. Berlin: Econ 2004; Huf, Hans-Christian: Imperium II. Aufstieg und Fall großer Reiche. Berlin: List 2006. 2Teggart, Frederick J.: Rome and China, Berkeley: University of California Press 1939; Scheidel, Walter (Hg.): Rome and China. Comparative Perspectives on Ancient World Empires. Oxford Studies in Early Empires. Oxford/New York: Oxford UP 2009. 3Münkler, Herfried: Translation, Filiation und Analogiebildung: Politische Legitimation und strategische Reflexion im Spiegel vergangener Imperien, in: Ders., Eva Marlene Hausteiner (Hg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2012, S. 34–69. 4Hausteiner, Eva Marlene: Greater than Rome. Neubestimmungen britischer Imperialität 1870– 1914. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2015; Huhnholz, Sebastian: Krisenimperialität. Romreferenz im US-amerikanischen Empire-Diskurs. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2014.

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Je weiter solche sachgeschichtlichen Überlegungen fortschreiten, umso deutlicher unabweisbar tritt jedoch ein grundsätzliches Problem der Begriffsgeschichte und der Begriffsbildung/Begriffsarbeit zutage. Je intensiver der Begriff verwendet und nicht zuletzt diagnostisch instrumentalisiert wird, umso problematischer wird der Begriff, was bei der Definition beginnt, sich über die historischen Diagnosen fortsetzt und bei den politischen Implikationen auch noch nicht aufhört. Ja, es scheint geradezu paradox zu sein: Das diagnostische Potenzial wird dort am größten, wo der Begriff selbst am undeutlichsten wird. Und dieser Punkt lässt sich auch deutlich benennen: das ist Europa und die aktuell maßgeblich politische Form Europas, die europäische Union. Ist die Europäische Union ein Imperium? Und was ist gewonnen, was ist der diagnostische Mehrwert, wenn man sie, die Union, oder gar Europa als Ganzes, so bezeichnet? In seinem Buch Imperien aus dem Jahr 2005 untersucht Herfried Münkler Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, so der Untertitel.5 Zwei maßgebliche historische Beispiele sind damit schon genannt, das British Empire wäre noch hinzuzufügen. Münkler ist jedenfalls weit entfernt davon, Europa bzw. die Europäische Union auch als Imperium zu behandeln. „Die imperiale Herausforderung Europas“, so heißt der letzte Abschnitt des Buches, sieht er im imperialen Auftreten der USA auf der einen Seite, im Westen, und in der Konfrontation mit einem postimperialen Raum auf der anderen Seite, im Osten. Doch der allerletzte Satz seines Buches lautet dann aber doch: „Europas Zukunft wird darum ohne Anleihen beim Ordnungsmodell der Imperien nicht auskommen.“6 Was bei Münkler immerhin als Perspektive aufscheint, ist bei anderen bereits vorausgesetzt und zeigt, so oder so, dass die Idee Europas und die Idee des Imperiums so weit nicht voneinander entfernt liegen. Zwei Beispiele seien dafür genannt: Im Jahr 2018 erschien die Dissertation von Oliver Jürgen Junge, die im Wintersemester 2016/2017 in Konstanz eingereicht und angenommen wurde. Sie trägt den Titel Imperium und untersucht, so der Untertitel, „Die Rechtsnatur der Europäischen Union im Vergleich mit imperialen Ordnungen vom Römischen bis zum Britischen Reich“.7 Sie ist komparatistisch angelegt und untersucht verfassungsrechtliche Aspekte der Europäischen Union, indem sie diese Union mit anderen Imperien vergleicht. Der Begriff des Imperiums wird so zu einem verfassungsgeschichtlich analytisch-

5Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005. 6Ebd., S. 254. 7Junge, Oliver Jürgen: Imperium. Die Rechtsnatur der Europäischen Union im Vergleich mit imperialen Ordnungen vom Römischen bis zum Britischen Reich. Tübingen: Mohr Siebeck 2018.

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komparatistischen Begriff ausgearbeitet. Das zweite Beispiel wird am Ende dieses Aufsatzes eine Rolle spielen. Zurück zur Definition des Begriffs eines Imperiums. Es gibt keinen zuverlässigeren Indikator für Definitionsprobleme als Definitionsversuche – und das in einem relativ großen und vor allem, so wie es sich weithin beobachten lässt, persistenten Feld von Imperiums-Forschung. In seiner „Geschichte und Theorie eines politischen Systems“ (so der Untertitel), gemeint ist das Imperium (so der Haupttitel), resümiert Ulrich Leitner die Situation unter der Überschrift „Begriffliche Beliebigkeit“. Als Versuch, diese Situation in den Griff zu bekommen, nennt er einen Definitionsversuch von Jürgen Osterhammel als Paradigma.8 Es ist mit seinen acht Definientes ausdifferenziert genug, um eine gewisse Variationsbreite der historischen Ausprägungen abzudecken, andererseits ist es präzise genug, um einen Wesenskern zu bestimmen, so dass diese Definition von anderen Ansätzen als Bezugspunkt verwendet wurde, so z. B., um dessen Buch Imperien herauszugreifen, von Herbert Münkler. Zwei der wesentlichen Aspekte seien angesprochen: Es geht erstens um einen Herrschaftsverbund, und der hat – zweitens – eine klare Struktur von Zentrum und Peripherie. Die anderen Aspekte ordnen sich diesen Grunddimensionen unter, wie z. B. Kommunikationsformen oder -dichte zwischen Zentrum und Peripherien und zwischen verschiedenen Peripherien. Andere Definitionstypen setzen zwar auch eine räumliche Situierung voraus, fokussieren aber stärker den Blick auf die interne Kohäsion des Imperiums. So setzen beispielsweise Jane Burbank und Frederick Cooper in ihrem Buch Empires in world history auf den Gegensatz von Imperium und Nationalstaat, wobei sie eine historische Linie vom Nationalstaat zum Imperium ausdrücklich ablehnen.9 Für das Imperium veranschlagen sie ein Repertoire an Formen der Machtausübung, was zu unbestimmt erscheint, und sprechen dabei von imperialen Trajektorien. Dieser Begriff ist zwar formal äußerst fruchtbar, aber er müsste inhaltlich stärker gefüllt werden, will man den Eindruck einer beliebigen und beliebig großen historischen Variationsbreite vermeiden. Aber man könnte auf dieser Basis durchaus überlegen, inwiefern die Entstehung des modernen Staates als Nationalstaat die Idee der Nationalität, der Zugehörigkeit zur Nation, als Kohäsionskraft nutzt, indem er ein Modell für jeden Bürger etabliert, mit dem dieser sich zu dem Staat bekennen kann, indem er auf die, also seine Nationalität rekurriert, die er mit den anderen Bürgern des Staates teilt. Wird die Nationalität dann noch emotional aufgeladen, ist man selbst gegen ein Imperium Romanum, man denke etwa an Kleists Hermannschlacht (1808), gewappnet. Genau das ist im

8Leitner, Ulrich: Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2011, S. 8–9. 9Burbank, Cooper Burbank et al. Cooper et al. Empires in world history. Power und the politics of difference. Princeton. Oxford: Princeton UP 2010, S. 10 und S. 2: „This book does not follow the conventional narrative that leads inexorably from empire to nation-state.“.

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Imperium nicht möglich, und es wäre zu fragen, wodurch eine solche nationale Kohäsionskraft ersetzt wird. In der Imperiumsforschung stehen für diese Frage verschiedene Antworten zur Verfügung, von denen man eine ganze Reihe unter die Idee einer Win-winSituation subsumieren könnte. Die Macht des Imperiums wird eben nicht nur durch die Machtmittel des Imperiums, z. B. überall stationierte Truppen, gewährleistet, sondern eben auch durch einen benefit, z. B. den Status als Rechtssubjekt (sofern man überhaupt in diese Kategorie aufgenommen werden konnte), wie im römischen Reich. In George Orwells grandiosem Roman Burmese Days (Tage in Burma) (1934) glaubt die Hauptfigur, der Holzhändler John Flory, er sei in der britischen Kolonie Burma sicher vor den Intrigen des korrupten einheimischen Richters U Po Kyin und bringt diese Sicherheit mit dem Satz „Civis romanus sum“ zum Ausdruck. Dass er dann tatsächlich Opfer dieser Intrigen wird, ist die Art und Weise von Orwell, vom Untergang des Imperiums, von der inneren Aushöhlung des British Empire, zu erzählen. Dieser benefit nach innen hat zugleich eine Abgrenzung nach außen zur Folge, wie man es auch bei Orwell nachlesen kann, und insbesondere gegen jene Kräfte von außen, die schon innerhalb der Grenzen des Imperiums wirken: die eingeschlossenen Ausgeschlossenen. Hier wiederholt sich, was schon in antiken Vorstellungen leitend war: Das Imperium setzt sich gegen das Äußere und die Äußeren ab, indem es diese als Barbaren klassifiziert. Barbaren, das sind die Fremden, die Anderen, die Nicht-Integrierten und mithin diejenigen, die am benefit des Imperiums keinen Anteil haben und davon nicht profitieren. Der Begriff ‚Barbarʻ ist zunächst ein funktionaler Differenzierungsbegriff, der – systemtheoretisch gesprochen – mit einer Unterscheidung und der Markierung der einen Seite operiert und dadurch eine – wie man bei Reinhart Koselleck nachlesen kann – eine Asymmetrie erzeugt.10 Problematisch wird es für das Imperium dann, wie man nochmals bei Orwell nachlesen kann, wenn die Barbaren schon in das Imperium eingedrungen sind, nicht nur räumlich, sondern wenn sie seine Institutionen erobert, seine Positionen besetzt oder ausgehöhlt, wenn sie nicht nur sich an das Imperium, sondern auch das Imperium an sich assimiliert, wenn sie einen immanenten Erosionsprozess in Gang gesetzt haben, wie das auch für das Imperium Romanum maßgeblich ist. Die Asymmetrie in der Relation der Begriffe, von denen „Barbar“ der eine ist, „cives Romanus“ in einer bestimmten (historischen) Konstellation der andere, dreht sich um. Die Differenz zwischen Imperium und Barbaren definiert das Imperium und markiert zugleich seine äußerste Gefährdung. Oder noch drastischer formuliert: die Zerstörung eines Imperiums durch die Entstehung eines neuen. Das ist beispielsweise die These,

10Koselleck,

Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders. (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 211–259, hier bes. S. 218–229.

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die der britische Historiker Peter Heather in seinem Buch Invasion der Barbaren vertritt11 – in einer für diese Überlegungen äußerst signifikanten Wendung: Die Völkerwanderung habe nicht nur zur Diffusion und Zerstörung des (westlichen) Römischen Reiches geführt, sondern das moderne Europa entstehen lassen. Es liegt nahe, diesen Prozess als eine Form der translatio imperii zu verstehen. An anderer Stelle – in seinem Buch Die Wiedergeburt Roms – hat Peter Heather genau diese These ausgestaltet und im Papsttum eine solche translatio des Römischen Reiches gesehen – selbstverständlich mit immensen kulturellen Implikationen für das moderne Europa.12 Aufgrund solcher Strukturen, Prozesse und Trajektorien tun sich Imperien schwer, andere Imperien anzuerkennen. Dazu besteht kaum eine Notwendigkeit, wenn man an das Imperium Romanum zu seiner Blütezeit denkt; es ist aber äußerst problematisch, wenn man an das chinesische Kaiserreich im 19. Jahrhundert denkt, das sich, obschon in jeder Hinsicht unterlegen, gegenüber den europäischen Mächten nicht als Macht unter Mächten, sondern immer noch als konkurrenzloses Reich verstehen konnte, während es gleichzeitig in eine Form von Halbkolonialismus geriet.13 Diese historische Konstellation macht sich der Roman Der Gott der Barbaren von Stephan Thome, erschienen im September 2018, zunutze. Er erzählt nicht nur die Geschichte eines deutschen Missionars, sondern vor allem auch davon, wie zwei Imperien aneinandergeraten und sich wechselseitig nur als Barbaren wahrnehmen können. Eine besondere Dynamik erhält dieser Roman dadurch, dass er aufzeigt, wie eine Gruppe von chinesischen Rebellen eine seltsame Adaptation des christlichen Glaubens als ideologische Ressource nutzt, um gegen den chinesischen Kaiser aufzustehen und einen christlichen Gottesstaat zu etablieren. Im Kampf der Imperien kann es dazu kommen, dass Nationalitäten (Chinesen) ebenso wie Glaubensbekenntnisse (Christen) kaum eine Rolle mehr spielen. Sie können sogar Kohäsionskräfte in revolutionäre Energien verwandeln. Auch hier wird die Konzeption des Imperiums genutzt, um nicht nur eine politische Situation durchschaubar und schließlich auch erzählbar zu machen, sondern auch, um den Leser immer wieder aufzufordern, die historische Konstellation mit einer aktuellen politischen Situation zu überblenden: die Sprengkraft eines religiösen Fanatismus für ein Imperium.

11Heather,

Peter: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus. Stuttgart: Klett-Cotta Heather 2011 (im engl. Original u. d. T.: Empires and Barbarians. Migration, Develeopment and the Fall of Rome [in einer späteren Ausgabe heißt der Untertitel: The Fall of Rome and the Birth of Europe]. London: MacMillan 2009). 12Heather, Peter: Die Wiedergeburt Roms. Päpste, Herrscher und die Welt des Mittelalters. Übersetzt von Hans Freundl und Heike Schlatterer. Stuttgart: Klett-Cotta Herrscher und die Welt des Mittelalters. Übersetzt von Hans Freundl und Heike Schlatterer. 2014 (im engl. Original u. d. T.: The Restoration of Rome. Barbarian Popes and Imperial Pretenders. London: Oxford UP 2013). 13Leutner, Mechthild/Mühlhahn, Klaus (Hg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901. Berlin: Christoph Links Verlag 2007.

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Und noch etwas anderes wird deutlich: Da das Imperium anfällig ist für kulturelle, nationale oder religiöse Anfeindungen, kann man erkennen, dass es nicht allein politisch definiert ist. Mit den Barbaren ist nicht nur das Andere des Imperiums gegeben, sondern auch potenziell schon sein Untergang. Insofern erlaubt der Begriff des Imperiums immer zugleich den Blick in seine kulturelle Verfasstheit und ihre Brüchigkeit. Zwei absolut einschlägige Beispiele seien genannt, zwei Filme des kanadischen Regisseurs Denys Arcand mit zudem markanten und geradezu topisch gewordenen Titeln: Der Untergang des amerikanischen Imperiums (Le Déclin de l’empire américain) (1986) und Die Invasion der Barbaren (Les invasions barbares) (2003). Die reizvolle Besonderheit dieser Filme besteht darin, dass sie das große Narrativ vom Untergang eines Imperiums nicht historisch oder politisch ausbuchstabieren, sondern kulturell oder – noch genauer – auf der Ebene sozialer, intimer Interaktionen. In einem solchen Untergangsszenario, wenn eine herrschende Kultur (Imperium) brüchig wird, kann der intimste Partner sich in einen Barbaren verwandeln. Gerade weil die räumliche Struktur des Imperiums in diesem Definitionstyp so wichtig ist, kann man erklären, warum es zwischen der historischen ImperiumsForschung und dem Vorschlag, das Imperium ganz neu zu definieren, wie es Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch Empire getan haben, kaum Anknüpfungspunkte gibt. Leitner nennt das Buch mit Wilfried von Bredow ein „spätmarxistische[s] Trostbuch“,14 weil es Amerika als entgrenzte kapitalistische Weltordnung identifiziert oder besser: entlarvt. Bei Hardt und Negri geht es nicht mehr um konkrete Herrschaftsformen, sondern um abstrakte Formen der Verteilung und Durchsetzung von Souveränität, was zur Folge hat, dass das Imperium auch nicht mehr an eine konkrete räumliche Ausdehnung gebunden ist. Im Gegenteil. Sie schreiben: „Es ist dezentriert und deterritorialisierend.“15 Hatte Jean Baudrillard in seinem Buch Der symbolische Tausch und der Tod (Lʼéchange symbolique et la mort, 1976)16 Saussures Wertbegriff in seiner Theorie der Signifikation mit dem Wertgesetz der Marx’schen Ökonomie überblendet, so überblenden Hardt und Negri Elemente einer solcherart inspirierten Kritik der politischen Ökonomie (Karl Marx) mit der politischen Theorie der Souveränität, die sich mehr oder weniger explizit an Carl Schmitt orientiert. Wie man in der Geschichts- und Politikwissenschaft mit dieser begrifflichen Beliebigkeit umgeht, muss hier gar nicht interessieren, weil man als Literatur- und Kulturhistoriker aus der konzeptionellen Not eine heuristische Tugend machen kann. Achtet man in medialen Manifestationen auf den Begriff des Imperiums und auf imperiale Vorstellungen, also Konzeptionen von Herrschaft, Macht, Staat und Reichen, so wird man im weiten Spektrum fündig, und das nicht zuletzt in der

14Leitner

2011, S. 78. Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag Antonio: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. M. 2002, S. 11. 16Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod [1976]. München: Matthes & Seitz Baudrillard 1982. 15Hardt,

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Gegenwartsliteratur und -kultur. Man denke etwa an das Star-Wars-Universum, das in seinem Kern eine Geschichte vom Übergang einer Republik zu einem Imperium erzählt17 und davon, wie dieses Imperium von Rebellen und Jedi-Rittern in einem Partisanenkrieg wiederum bekämpft wird, bis das Imperium untergegangen und eine neue politische Situation – eine neue Republik – entstanden sein wird. Allein der Begriff des Imperiums ist in der Fantasy- und ScienceFiction-Literatur Legion, und selbst markante Beispiele ließen sich wohl mit einigem Gewinn als imperiale Geschichten lesen. So hat Isaac Asimov ein galaktisches Imperium entworfen; und nimmt man seine Äußerungen zur Funktion der Science-Fiction, nämlich einen ästhetischen Zukunftsentwurf der Menschheit im Medium der Literatur zu liefern,18 ernst und verbindet dies mit der fiktionalen Imagination und Konstruktion von Imperien, so wird deutlich, dass Begriff und Imagination des Imperiums auf ein Konzept zulaufen, das dazu dient, utopische oder dystopische politische Ordnungsentwürfe vorzuführen und zu diskutieren. Grundsätzlich wäre zu überlegen, inwiefern man eine imperiale Lektüre begründen könnte. Die einschlägigen Beispiele sind bekannt. Sie situieren sich immer an der politischen, geographischen oder konzeptionellen Grenze des Imperiums. Kleists Hermannschlacht wurde schon als Beispiel genannt. Viele Texte dieses Autors, zumal die mit deutlich politischer Stoßrichtung, ließen sich so lesen. Man denke etwa auch an den Zerbrochnen Krug. Die Niederlande im Kampf gegen das spanische Imperium erscheinen selbst an der Verwerfungslinie zwischen Nationalstaat (Utrecht muss verteidigt werden) und Imperium (die Kolonie Batavia muss unterworfen werden). So macht das Drama politisch deutlich: Die Demokratie wird vielleicht nicht am Hindukusch, um einen prominenten Ausspruch zu zitieren, sondern die Jungfernschaft der Braut wird an der Landesgrenze verteidigt, nur so – nationalstaatlich, nicht imperial – lässt sich Jungfräulichkeit als politische und militärische Ressource mobilisieren.19 Solchen literarischen imperialen Strukturen hat zuletzt Boris Previšić nachgespürt, wobei er sich auf das Habsburgische Imperium bezieht und hierbei wiederum auf den Übergang von einer imperialen zu einer postimperialen Phase blickt: „Dabei zeigt sich, dass bestimmte Merkmale des imperialen Raums in seiner ganzen Varianz nicht nur in der faktualen Beschreibung literarischer

17Tollen,

David W.: Star Wars and History: Roman Republic and Empire, URL: https:// pintsofhistory.com/2016/01/17/star-wars-and-history-roman-republic-and-empire/ (zuletzt abgerufen am 06.06.2020); und Decker, Kevin S.: By any means necessary: Tyranny, Democracy, Republic, and Empire, in: Ders., Jason T. Eberl (Hg.): Star Wars and Philosophy. More powerful than you can possibly imagine. Chicago/La Salle: Open Court 2005, Kap. 14, S. 168–180. 18Z. B. Asimov, Isaac: Die nackte Sonne [The naked sun, 1957]. München: Heyne Asimov 2019. 19Kittler, Wolf: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg im Breisgau: Rombach Kittler 1987.

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Bearbeitung, sondern vor allem später während einer postimperialen nationalen Phase in utopischen Entwürfen niederschlagen.“20 So kommt Previšić zu einer Neufassung jenes von Claudio Magris beschriebenen Habsburger-Mythos in der österreichischen Literatur,21 auch, indem er das, was Burbank und Copper als Trajektorien verstehen, als Vermächtnisse begreift. Auch parallel world novels bieten vielfach Anlass zu einer imperialen Lektüre, insbesondere dann, wenn sie einen alternativen Geschichtsverlauf schildern. Auch dort wird das Imperium imaginiert, um eine andere politische Ordnungsidee vorzuführen und zumeist zugleich ihre Krisenmomente aufzuzeigen. Dass das Nazireich durch einen gewonnenen Weltkrieg zu einem Imperium sich ausgewachsen hat, spielt nicht nur Philip K. Dick in seinem Roman The Man in the High Castle (1962) durch, sondern beispielsweise auch – dreißig Jahre später – der Thrillerautor Robert Harris in seinem Roman Fatherland (1992). Die Idee eines Nazi-Imperiums ist für den vorliegenden Zusammenhang auch deswegen so interessant, weil es die Spannung zwischen einer nationalen oder nationalistischen Begründung des Staates und seiner imperialen Ausprägung in besonders drastischer Weise zum Ausdruck bringt. Das kann man schon in den Überlegungen zur Idee des Imperiums bei Alexandre Kojève nachlesen: „Man kann sagen, dass Deutschland diesen Krieg verlor, weil es ihn als Nationalstaat gewinnen wollte.“22 By the way: Der Roman Fatherland liegt auch dem Roman Faserland (1995) von Christian Kracht zugrunde. Man hat Faserland insofern auf ein subkutanes NS-Substrat der Nachkriegsgesellschaft in Deutschland hin gelesen. Tatsächlich würde sich auch eine imperiale Lektüre anbieten, also eine Lesart, die darauf achtet, inwiefern die politische Ordnung, die den Hintergrund der Reise des Ich-Erzählers abgibt, imperiale Züge trägt, also inwiefern Macht über kulturelle Trajektorien wirken kann. Interessanterweise haben beide genannten Autoren, Kracht ebenso wie Harris, später Romane geschrieben, die diese Frage auf eine sehr subtile Art und Weise wieder aufgreifen. Am wenigstens subtil sind die Titel der Romane, die direkt und explizit genau auf eine solche Lesart aufmerksam machen bzw. sie einfordern. Beide schreiben, Kracht 2012 und Harris 2006, jeweils einen Roman mit dem Titel Imperium, so unterschiedlich sie in Schreibweise und Stoßrichtung auch sind. Krachts Roman erzählt die Geschichte von August Engelhardt, einem Aussteiger und Weltverbesserer, der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutsch-Neuguinea eine Kokosplantage erwirbt, um (s)eine Lebensphilosophie zu verwirklichen, die

20Previšić, Boris: „Es heiszt aber ganz Europa …“ Imperiale Vermächtnisse von Herder bis Handke. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2017, S. 13. 21Magris, Claudio: Il mito asburgico: nella letteratura austriaca moderna, Turin: Einaudi Magris 1963; dt. Fsg.: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Neuaufl. Wien: Zsolnay 2000. 22Kojève,

Alexandre: Das lateinische Reich. Skizze einer Doktrin der französischen Politik, in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 15 (Kojève et al. 1991), S. 92–122, Zitat S. 95.

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darauf beruht, dass der Mensch nur noch Kokosnüsse essen, der Carnivore zum Kokovore werden sollte. Die Geschichte seiner Idee ist mit dem Ersten Weltkrieg vorbei, und insofern bietet es sich an, seine Geschichte als mise en abyme eines deutschen Hegemonialstrebens zu lesen, das die Welt ‚am deutschen Wesenʻ genesen lassen will und somit den imperialen Anspruch untermauert. Immerhin spielt der Roman hauptsächlich in deutschen Kolonialgebieten. Kracht hatte schon zuvor, 2008, im Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ein Imperium geschildert, ein Sowjetimperium, allerdings mit der Schweiz als Kernland. Doch das Imperium ist zerfallen. Die Ureinwohner Afrikas, denen man kolonialistisch die imperiale Sowjet-Kultur mit ihren zivilisatorischen Fortschritten und Errungenschaften (nahe)bringen wollte, indem man Städte baute, haben diese Kultur nicht angenommen. Sie sind in die Wildnis zurückgekehrt. Der Roman endet mit einem eindringlichen Bild. Dort, an der äußersten Peripherie, wo die Kultur des Imperiums hinreichen sollte, hat sich der Architekt dieser Städte an einer Laterne erhängt; Wildtiere fressen seine Füße an. Auch hier eine parallel world novel, die Dietmar Dath beispielsweise und ganz zu Recht mit Philip K. Dicks The Man in the High Castle verglichen hat.23 Der Roman von Harris, Teil einer Trilogie, erzählt – im Gestus der amerikanischen Gerichtsserie – den Aufstieg eines römischen Redners und Politikers, der sich anschickt, mit rhetorischem Geschick die römische Republik immer weiter zu unterwandern, um eine diktatorische und mithin imperiale Macht zu realisieren. Imperium als Titel des Romans spielt daher auf die historische Form und das historische Vorbild des Imperiums an wie auch auf den begrifflichen Kern, der mit dem lateinischen Begriff unmittelbar gegeben ist, und meint damit genau diese Machtposition, die das Imperium voraussetzt. Nun, diese Geschichte kennen wir, sie wird historisch von Caesar erzählt. Verblüffenderweise aber ist der literarische Held, eine historisch referenzialisierbare Figur, gerade derjenige, den man aus dem Lateinunterricht als unbestechlichen Anwalt der Republik (und Star Wars wiederholt es nur: die Republik ist das Gegenmodell zum Imperium) kennt: Marcus Tullius Cicero.24 Dadurch schafft Harris eine besondere Pointe. Er greift zurück auf das historische Paradigma mit seinem Narrativ einer Republik im Übergang zum Imperium aufgrund von immanenten Gründen wie insbesondere politischer, juristischer und moralischer Erosion, aber indem Harris die Rolle des Akteurs des Republikfeindes und Diktators Caesar gegen den Anwalt der Republik Cicero vertauscht, gelingt es dem Roman, das Schema des historischen Romans zu verlassen und dafür die Aufmerksamkeit auf das Imperium, so wie es in diesem Roman aufscheint, auf die konzeptionelle politische und mithin aktualisierbare Dimension des Konzepts zu lenken. Er inszeniert das Imperium als krisen-

23Dath,

Dietmar: Ein schöner Albtraum ist sich selbst genug, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.10.2008). 24Zierer, Otto: Cicero. Republikaner ohne Republik. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Fischer 1983.

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diagnostische Konstellation der Republik. Indem Harris Ciceros Aufstieg im Gestus einer amerikanischen Anwaltsserie erzählt, kann er die innere Erosion des politischen Systems jenseits historischer Absicherung vorführen. Auf der Basis dieser äußerst fruchtbaren Heuristik ließe sich nun der Weg in die umgekehrte Richtung beschreiten. Man könnte mit Blick auf die Beispiele jene Strukturen als Definienda von Imperium ableiten, die in den Texten vorgestellt und problematisiert werden. Zunächst einmal ließe sich festhalten, dass das Imperium eine politische Ordnungsvorstellung ist, die ihrerseits wiederum machtgestützt ist. Das Imperium schafft es, Macht und Raum zu verbinden. Dazu muss man auf einige geopolitische Bedingungsfaktoren achten. Macht ist eine Kohäsionskraft unter anderen. Macht kann dort noch wirken, wo z. B. Nationalität nicht mehr wirken kann, weil verschiedene Nationen unter einem politischen Dach leben. Wird die Nation durch Nationalität zusammengehalten, so das Imperium durch Macht. In Anlehnung, aber auch in Abweichung von Carl Schmitts Überlegungen zu Land und Meer würde ich davon ausgehen, dass das Paradigma des Imperiums ein Seereich ist.25 Das mag historisch falsch sein, aber konzeptionell ist es umso aussagekräftiger. In dieser Vorstellung stellt sich dem Imperium die Aufgabe, Macht über ein Meer hinweg aufrechtzuerhalten. Die entscheidende Frage lautet, wie ihm das gelingt. In einem nächsten Schritt müsste man also das Meer abstrakter fassen, nämlich eher als Raum, über den hinweg es weder eine natürliche noch eine kulturelle Brücke gibt. Es wäre demnach eher als semantischer Raum zu begreifen. Erst das Imperium baut diese Brücke und wird eben dadurch zu einem Imperium. Das kann – geographisch – auch das Land mit riesigen Ausdehnungen sein. Kolonialismus wäre dann nur ein zusätzliches, geographisch nachgeordnetes Charakteristikum von Imperien, weder hinreichend, noch notwendig. Die Frage, wie Macht noch dort hinreicht, wo Gewalt vielleicht nicht mehr hinreicht, beantwortet das Imperium mit seiner politischen Ordnungsvorstellung und Herrschaftsmacht. Die Macht konstituiert damit einen Raum jenseits von Territorium und Deterritorialisierung, jenseits einer ZentrumPeripherie-Struktur und doch konkreter als nur eine globale Ordnung. Die Macht wirkt, solange das Versprechen des Imperiums noch gilt: als Versprechen von Recht, Wohlstand oder Schutz. Carl Schmitt definiert das Imperium als Katechon, als Aufhalter der Apokalypse; in einem Gespräch aus dem Jahr 1971 sagt er: „‚to katechon‘ ist das Imperium. Und solange das Imperium da ist, so lange geht die Welt nicht unter.“26 Hier tritt nun ein weiteres interessantes Phänomen auf: Tatsächlich scheint die Verwendung des Begriffs nicht nur, aber vor allem auch in der Geschichts- und Politikwissenschaft, anders als seine Bedeutung es vermuten lässt, gerade auf solche Situationen hinzudeuten, in denen politische Konstellationen in die Krise

25Schmitt,

Carl: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung [1942]. Stuttgart: KlettCotta 2018; siehe auch S. 6: „imperial expansion across land – not just seas“. 26Schmitt, Carl: „Solange das Imperium da ist“. Carl Schmitt im Gespräch 1971, hg. von Frank Hertweck und Dimitros Kisoudis. Berlin: Duncker & Humblot 2010, S. 50.

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geraten, in denen also ein Imperium untergeht oder sich eine andere Staats- und Herrschaftsform, z. B. eine demokratische Republik, anschickt, sich in ein Imperium zu verwandeln. Das Imperium ist in der Krise (ihm droht der Untergang), oder das Imperium ist die Krise (eine Krise der Republik, die auf die Verwandlung in ein Imperium zusteuert). Hier wird der Übergang zwischen einer analytischen zu einer diagnostischen Verwendungsweise fließend. Der Untergang des Imperiums wird somit – jenseits der althistorischen Forschung – zu einem feststehenden Narrativ, das sich auf das Beispiel von Edwards Gibbons monumentalem Geschichtswerk The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire (1776–1788) stützen kann.27 Was im Bereich der Politik- und Geschichtswissenschaft eine tendenzielle Beobachtung ist, kann für den Bereich der Literatur- und Mediengeschichte zu einer historischen These verdichtet werden. Das Konzept des Imperiums dient dazu, eine nicht nur politische, sondern insbesondere auch gesellschaftliche und kulturelle Krise zu diagnostizieren, wo Imperien zerfallen oder aber Republiken sich anschicken, sich in ein Imperium zu verwandeln. Auf eines der eindrücklichsten Beispiele der letzten Jahre, auch wenn es nur am Rande unter dieser Perspektive wahrgenommen wurde, will ich abschließend eingehen. Es rückt vor allem Europa noch einmal zentral in den Fokus. Es handelt sich um den Roman Soumission (dt. Unterwerfung) von Michel Houellebecq aus dem Jahr 2015. Der Roman bekam am Tag seines Erscheinens eine hochproblematische Publicity, die zudem seine Lektüre in eine falsche Richtung lenkte. Er ist am 7. Januar 2015 erschienen, genau an dem Tag, an dem von Islamisten bei einem Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo zwölf Menschen getötet wurden. Obschon der Roman in der nahen Zukunft, im Jahr 2022, spielt, sind die politischen Bezüge zu seiner Gegenwart Legion. Marine Le Pen, die Chefin einer rechtspopulistischen Partei, befand sich, als das Buch erschien, im Wahlkampf, im Buch selbst befindet sie sich abermals im Wahlkampf und hat Aussicht, die Präsidentschaft zu übernehmen. Doch es kommt anders. Mohamed Ben Abbes, ein muslimischer Politiker, wird Präsident und verwandelt Frankreich in eine muslimische Republik, fast schon in einen Gottesstaat. Mohamed Ben Abbes – eine Kunstfigur kat exochen, die alle drei Buchreligionen (Islam, Judentum und Christentum) im Namen führt und nie direkt auftritt. Der Roman erzählt die Geschichte des Literaturhistorikers François, der sich nicht für Politik, sondern für den Decadence-Literaten Joris-Karl Huysmans interessiert. Er erlebt Frankreich an der Schwelle zum Bürgerkrieg in einem Kippmoment, er erlebt, wie seine Position an der Universität unsicher wird, wie seine jüdische Freundin mit ihrer Familie das Land verlassen muss und wie

27Gibbon,

Edward: Verfall und Untergang des römischen Imperiums bis zum Ende des Reiches im Westen [6 Bde.]. München: dtv 2003. Als Beispiel für diesen Typus des Narrativs: Gerhard und Nadja Simon: Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums. München: dtv 1993. Siehe zum Imperium Romanum: Demandt, Alexander: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. München: C. H. Beck 1984.

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in seiner politischen Orientierungslosigkeit auch seine Virilität erschlafft. Der Roman bezieht sich – wie vielfach in der französischen Kulturtradition – auf die Geschichte der römischen Republik, auf Bürgerkriegsmodelle in diesem historischen Zusammenhang und insbesondere auf das historische Spannungsverhältnis von Republik und Imperium. Und hier nun kommt das zu Beginn angekündigte zweite Beispiel, Europa als Imperium zu betrachten, ins Spiel. So hat Stéphane Ratti darauf hingewiesen, dass Houellebecqs Roman Frankreich im Übergang von der Republik zu einem neuen Imperium darstellt,28 wie es der Historiker David Engels beschrieben hatte.29 Ja, man kann sagen, der Roman folgt dem Buch von Engels wie einer Blaupause. Die Pointe von Engels besteht darin, die gegenwärtige Situation der Europäischen Union mit der römischen Republik an ihrem Ende zu vergleichen.30 Engelsʼ Methode beruht auf den Ideen von Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes, 1. Band 1918), auch wenn er diese weiterentwickelt und differenzierter fasst. Wo Spengler von Homogenität spricht, konzentriert sich Engels eher auf kulturelle Bindungskräfte, wo Spengler von einem zyklischen Modell ausgeht, fokussiert Engels die historische Analogie im konkreten und strukturell gefassten Einzelfall. Doch bei beiden Autoren gibt es eine welthistorisch gestützte Morphologie, die ihrerseits Geschichte interpretieren kann, ganz so, wie es Oswald Spengler im Vorwort zum zweiten Band des Untergangs des Abendlandes 1922 programmatisch äußerte: „Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen […].“31 Engelsʼ Methode besteht insofern in einer historischen Komparatistik, mehr oder weniger auch morphologisch begründet, die verschiedene historische Konstellationen vergleicht und überblendet, um sie sich wechselseitig im Hinblick auf Entwicklungstendenzen oder -gesetze beleuchten zu lassen. Dabei analysiert er insbesondere eine europäische Identitätsproblematik im Lichte der Krisensymptomatik der spätrömischen Republik. Dieser Staat war durch die geopolitische Ausdehnung und die daraus resultierende Komplexität des politischen Systems gezwungen, universalistisch zu agieren. Er war daher nicht mehr in der Lage, eine römische Identität spezifisch aufrechtzuerhalten.32 Die Folge davon ist die Aushöhlung, ja Fiktionalisierung der De-jure-Republik in einem De-facto-Imperium, im Prinzipat des Augustus.33

28Ratti,

Stéphane: Michel Houellebecq et lʼempereur Auguste: fiction ou réalité historique?, in: Le Figaro (16.01.2015). 29Dt. Fassung: Engels, David: Auf dem Weg ins Imperium: Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen. Berlin: Europa Verlag 2014. 30Junge 2018. 31Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. München: dtv 1988, S. VI; siehe hierzu: Hildegard Kornhardt: Goethe und Spengler, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 38 (Juni 1950), Nr. 4, S. 589–596. 32Engels 2014, S. 63 ff. 33Engels 2014, S. 433 ff.

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Diesem Übergang zum Imperium spürt Engels mit seiner komparatistischen Methode nach, indem er die Systemkrise der Europäischen Union an zentralen Werten und Lebensvorstellungen und ihrer Erosion nachverfolgt. Es fällt nicht schwer, die Lebensumstände von Houellebecqs Helden als eine Phänomenologie von Werteerosion zu rekonstruieren, die letztlich auf die Bestätigung der eigenen Virilität und Potenz hinausläuft, aber eigentümlich passiv bleibt, wo es beispielsweise um den Exodus seiner jüdischen Partnerin und deren Familie geht. Houellebecq spürt in die Mikrostruktur der Konstitution eines solchen Imperiums hinein, indem er zeigt, wie das Imperium die Sinnkrise des individuellen Mannes aus- und auf-lösen kann. Engelsʼ Überlegungen lassen sich wunderbar flankieren mit den Thesen, die jüngst Dirk Jörke in seinem Großessay Die Größe der Demokratie angestellt hat.34 Er blickt auf eine „negative[ ] Größendialektik“ bzw. auf den „negative[n] Zusammenhang von Größe und Demokratie“, besser könnte man wohl von einer indirekten Proportionalität sprechen: Seine zentrale These besagt, „dass mit der Ausweitung politisch-ökonomischer Räume ein Verlust an Demokratie einhergeht“.35 Sein Anwendungsfall ist vornehmlich Europa bzw. die Europäische Union. Bemerkenswert ist, dass Jörke erstens die geographische Größe zu einem politischen Faktor macht und dass er zweitens die Effekte einer Entstehung größerer und großer politischer und ökonomischer Räume immer nur negativ fasst. Folgekosten werden immer nur negativ bilanziert. Mit Engels könnte man hingegen den Vorschlag einer positiven – im logischen, eben gerade nicht wertenden Sinne – Bestimmung machen: Der Verlust an Demokratie geht mit einer Tendenz zur Etablierung imperialer Strukturen einher. Wo die geographische Größe sich von einem quantitativen zu einem qualitativen Faktor wandelt, entsteht Europa als Imperium. Von daher muss es gar nicht verwundern, dass Jörke die europäische Urszene im Übergang von einem zu einem anderen Demokratiemodell bzw. Modell von Bürgerschaft verortet, nämlich im Übergang von der athenischen Polis, für die ihm Aristotelesʼ Politik als Referenztext dient, zur römischen Republik, für die ihm Ciceros De re publica als Referenztext dient.36 Dabei zeigt er, wie sich Ciceros Modell eben in der politischen Wirklichkeit nicht hat stabilisieren lassen. Liest man insofern Jörke und Engels zusammen, so zeigt sich, dass die Größe des Raumes zur Disposition des Imperiums werden konnte oder sogar musste. Und mit einem Blick zurück auf Harris‘ Roman mag die Wahl der historischen Referenzfigur Cicero durchaus motiviert sein: Der Diagnostiker der Republik wird selbst zum Symptom des Diagnostizierten: einer Krise der Republik und ihres Modells von Bürgerschaft im Übergang zum Imperium.

34Jörke,

Dirk: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation. Berlin: Suhrkamp 2019.

35Ebd., 36Ebd.,

Zitate S. 13, 16, 10. S. 41–80, vor allem S. 42–50.

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Eine solche Qualität der ‚geographischen Quantitätʻ findet sich daher auch bei Houellebecqs Imagination. Das Frankreich seines Helden François ist Teil eines Imperiums, das wiederum das ganze Mittelmeer umfasst, das daher als translatio imperii, als Restitution des Römischen Reiches gesehen werden kann, das diesmal nicht deutsch ist wie das Heilige römische Reich deutscher Nation, sondern französisch oder auch arabisch, das aber ebenfalls heilig ist, weil nur eine Religion die inneren Kohäsionskräfte für ein solches Imperium und mithin die neuen Werte zu liefern versteht, aber diesmal nicht christlich, sondern islamisch. Es geht hier nicht um den Islam, sondern um die Religion. Wenn es um den Islam geht, so nur in jenem Zusammenhang, der deutlich macht, dass der Islam die einzige Religion ist, die noch politisch wirken kann. Aber grundsätzlich geht es um Religion als Sinn- und Identitätsstiftungsangebot, wo ‚republikanischeʻ Angebote erodiert sind. Diese Konstruktion Houellebecqs hat, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, nichts mit Islamfeindlichkeit zu tun; es ist vielmehr ein literarisches Experiment auf die Frage hin, wie Demokratien und Republiken an ihr Ende kommen, welche inneren Dispositionen sich in einer Gesellschaft entwickelt haben müssen, dass man bereit ist, eine historische Errungenschaft und eine republikanische Verfassung aufzugeben. Es gehört zur literarischen Methode Houellebecqs, diese Symptomatik in der allumfassenden, beruflichen ebenso wie sexuellen Krise des Mannes in mittleren Jahren und in mittlerer Position anschaulich zu machen. Dieser Figurentyp dient ihm als Lackmustest für die größeren politischen Zusammenhänge. Houellebecqs politische Fiktion hat insofern sehr viel mehr mit der Idee (oder Vision) eines lateinischen Reiches zu tun, das Alexandre Kojève schon 1945 als außenpolitischer Berater entworfen hat.37 Ganz im Sinne von Engels zeigt der Roman von Houellebecq, wie ein Imperium in der Lage sein könnte, mit universalistischen, transzendenten, religiösen Werten (z. B. in der Ehepolitik) die Werteerosion in einer nationalen Gesellschaft zu kompensieren. Das Ende des Romans deutet an, dass der Held sich überreden lässt, sich dem neuen Staat zur Verfügung zu stellen, und welche Vorteile beruflicher, akademischer, finanzieller, aber auch erotischer Art dies mit sich brächte. Frankreich hätte dann seine parlamentarische Demokratie verloren, aber seinen Intellektuellen neu eingebunden. Das Schicksal von François ist für Frankreich modellhaft, wie es sein Name schon ausdrückt. Houellebecqs Roman ist ein imposantes, aber eben auch nur ein Beispiel, wie Idee, Vorstellung und Konzeption des Imperiums in Literatur und Medien dazu dienen, individuelle ebenso wie gesellschaftliche und grundsätzliche – im weitesten Sinne des Wortes – politische Krisen zu diagnostizieren.

37Kojève

1991.

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Zwischen Kleinstaaterei und europäischer Öffentlichkeit Anthologien zum Thema Europa Ulrike Zitzlsperger

Im März 2018, zwei Jahre nach dem Referendum in Großbritannien zur Frage des Verbleib des Landes in der Europäischen Union, erschien die Anthologie My Europe, eine Sammlung von Prosa, Gedichten und Fachartikeln.1 Anlass der Edition war das Resultat der Volksabstimmung: der Brexit und das auf absehbare Zeit neue Verhältnis zwischen Großbritannien und Europa. Darüber hinaus spiegelt die Anthologie jedoch auch die weitreichende Verunsicherung und die profunden Konflikte, die den öffentlichen und den privaten Diskurs von nun an bestimmten. In der Edition verwischen die Grenzen zwischen der Europäischen Union und, deutlich vager, aber positiver besetzt, dem Kontinent Europa. Für beide Themen, die politisch-ökonomische Dimension wie auch die kulturhistorische, werden in der Anthologie wiederholt Familiengeschichten (zum Beispiel Cecilia Hall: My European Family) als Mittel der Kommunikation des Dilemmas ins Spiel gebracht. Darüber hinaus wird auf Boris Johnson als Schlüsselfigur verwiesen (zum Beispiel Maurizio Ascari: Sell your Past and Buy Yourself a Future!), der drei Jahre nach dem Referendum Premierminister eines von Grabenkämpfen gekennzeichneten Königreichs wurde. Deutlich wird in der Sammlung auch, dass mit dem Brexit die Reflektion über den Status quo im eigenen Land auf den unterschiedlichsten Ebenen zwingend geworden ist.2

1Johnson, Anna/Vaught, Anna

(Hg.): My Europe, Manningtree: Patrician Press 2018. wachsende Zahl von populären Einführungen zum Thema Europa ist in diesem Zusammenhang nicht überraschend. Vgl. etwa auf dem britischen Buchmarkt: Jenkins, Simon: A Short History of Europe. From Pericles to Putin. London: Viking 2018 und Field, Jacob F.: The History of Europe in Bite-Sized Chunks. Croydon: Michael O’Mara Books 2019. In Deutschland strahlte das Zweite Deutsche Fernsehen als Teil der Serie Terra X 2017 „Die Europa Saga“ aus. 2Die

U. Zitzlsperger (*)  College of Humanities, University of Exeter, Exeter, UK E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_8

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Ein Gesichtspunkt der Debatte nimmt in der Anthologie jedoch bemerkenswerterweise eine untergeordnete Position ein: die historische Dimension Europas, von den Überlegungen, die vor allem nach 1945 zur Entwicklung der politischen Einheit des Kontinents beigetragen hatten, ganz zu schweigen. Winston Churchills Aufforderung „Europe Unite“ in Den Haag 1948 spielt in der kollektiven und medialen Erinnerung trotz seiner herausragenden Rolle für die Selbstwahrnehmung Großbritanniens in diesen Diskussionen keine Rolle. Stattdessen rückt die kritisch wahrgenommene Omnipräsenz der Erinnerung an die Zeit des Empire in den Vordergrund – als Maßstab einer positiv konnotierten Zeit als Weltmacht und verbunden mit einer Nostalgie, die sich für Zukunftsentwürfe, zumal solche, die geteilt werden, dann als untauglich erweist. Uwe Derksen schließt im Vergleich von Europa und Großbritannien: The idea of Europe and Britain’s role within it has a long history […, it] is rooted in a scenario in which a great political union of power gradually loses ground on the world stage because it is reluctant or unwilling to become part of another kind of union. […] The narrative of being the imperial standard bearer in the world and not just Europe is deeply ingrained across the social and political spectrum and indeed British culture.3

My Europe ist der Versuch, auf eine gleichermaßen komplexe und unerwartete Situation zu reagieren. Der Rückgriff auf die Anthologie als Mittel der thematischen Auseinandersetzung ist deshalb von Interesse, weil inhaltliche Schwerpunkte genauso wie bezeichnende Auslassungen Wahrnehmungsmuster spiegeln. Wie aber gestaltet sich das Nachdenken über Europa, wenn, jenseits der akuten Krise, die europäische Kultur in den Vordergrund rückt? Der folgenden Auseinandersetzung mit einer Reihe von zeitgenössischen Anthologien werden Überlegungen zur Wirkung von Anthologien im Allgemeinen vorangestellt, um Grenzen und Möglichkeiten solcher Publikationen rahmensetzend zu berücksichtigen. Ziel dieses Beitrags ist es dann zu untersuchen, welche kulturhistorischen Themen einiger im deutschsprachigen Raum seit 2012 erschienenen Anthologien in den jeweiligen fiktionalen und journalistischen Texten im Vordergrund stehen. Dabei erfolgen auch Rückgriffe auf andere relevante Publikationen, weil sie grundsätzliche Überlegungen zum Thema Europa genauer profilieren.

1  Anthologien profitieren von der Vielzahl der Blickwinkel auf ein Thema – dessen Tragweite sich auch in den Einführungen zu den jeweiligen Ausgaben erschließt. Herausgeber greifen für Anthologien in der Regel auf ein Netzwerk von Kontakten zurück, bevor sie den Kreis der Beiträger erweitern. Die Auswahl dieser Beiträger ist wichtig: Liegt der Schwerpunkt auf Unbekannten, oder tragen renommierte

3Derksen,

Uwe: In Answer, in: Johnson, Vaught 2018, S. 731–795, hier: S. 781 f.

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Autoren, womöglich wiederholt, zu dieser und ähnlichen Debatten bei? Ist die Mehrzahl der Autoren einer bestimmten Generation zuzuordnen, deren Vorstellungen auf prägende historische und damit auch biographisch verbindliche Momente zurückgehen? Nicht minder bedeutend sind die Anforderungen, die Herausgeber stellen: Sollten Texte neu sein und wird allen Autoren ein konkreter Ausgangspunkt vorgegeben? Titel sind programmatisch – My Europe verweist beispielsweise darauf, dass in der Anthologie gezielt persönliche Überlegungen und Gesichtspunkte ins Spiel kommen. Darüber hinaus sind die jeweiligen Situationen, die die Publikation von Anthologien forcieren, aufschlussreich. So war beispielsweise die Zahl der Anthologien, die in Berlin nach dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 erschien, bezeichnend: alte und neue literarische Kreise wurden befragt, bestimmte Themen – etwa die Erschließung der in den 90er Jahren noch bestehenden innerstädtischen terra incognita – in Variationen verarbeitet, das Alte mit dem Neuen verglichen. Einige Beiträge waren dem bestehenden Kanon der Berlinliteratur zuzurechnen und schon in vorangegangenen Anthologien erschienen, andere waren direkt auf die neue Situation zugeschnitten. Auf diese Weise entstand kumulativ ein Narrativ, das zur Charakterisierung der Berliner Übergangszeit beitrug.4 Die Zahl von Publikationen bestätigte den Diskursbedarf. Neben der Bestandsaufnahme, der ‚Vermessung‘ der Gegenwart, können Anthologien auch zu transnationalen Bezugspunkten werden, deren Stellenwert sich in erster Linie retrospektiv erschließt. Margaret Busby schreibt beispielsweise im Rückblick über ihre Anthologie Daughters of Africa: An International Anthology of Writing by Women of African Descent: „[…] it was critically acclaimed, but more significant has been the inspiration that 1992 anthology gave to a fresh generation of writers.“5 Leser des Bandes erinnern sich in diesem Beitrag daran, dass die Anthologie mit über 200 chronologisch geordneten Texten nicht nur das Spektrum zu entdeckender afrikanischer Autorinnen erweiterte, sondern sie ermutigte, sich nun selbst Gehör zu verschaffen. Die südafrikanische Schriftstellerin Philippa Yaa de Villiers hebt zum Stellenwert dieser Anthologie hervor: „Daughters of Africa was among those works that replenished our starved minds.“6 Die Anthologie prägte insofern auch die Selbstwahrnehmung einer neuen

4Vgl.

zum Beispiel: Arnold, Sven/Janetzki, Ulrich (Hg.): Berlin zum Beispiel: Geschichten aus der Stadt. München: Ullstein 1997; Becker, Jürgen/Janetzki, Ulrich (Hg.): Die Stadt nach der Mauer: Junge Autoren schreiben über ihr Berlin. Berlin: Ullstein 1998 (Janetzki ist auch ein Beiträger zu einer der Europa-Anthologien); Lange-Müller, Katja (Hg.): Bahnhof Berlin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. Zum Thema Berlin-Anthologien vgl. auch Zitzlsperger, Ulrike: Guides to the City: Berlin Anthologies, in: Studies in 20th & 21st Century Literature 28 (2004), S. 96–125. 5Busby, Albert Margaret: The New Daughters, in: The Guardian (09.03.2019), URL: https:// www.theguardian.com/books/2019/mar/09/from-ayobami-adebayo-to-zadie-smith-meet-the-newdaughters-of-africa (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 6Ebd.

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Generation – in Afrika und in der Disapora. Im Idealfall erlauben Anthologien einen Bezugspunkt, der dann Anlass für weiterreichende kulturelle Auseinandersetzungen wird. In Sweet are the Uses of Anthology verweist der argentinisch-kanadische Autor Albert Manguel darauf,7 ein Vorzug der Anthologie sei, dass sie zusammenführt, was ursprünglich nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Das kann zum Beispiel für Herbert Günthers Sammlung Hier schreibt Berlin aus dem Jahre 1929 geltend gemacht werden: Die von Günther zusammengestellten Autoren trugen dazu bei, dass die Anthologie Berlin, sorgfältig strukturiert, gerade wegen der widersprüchlichen Ansätze als vielschichtige Metropole präsentierte. Im Rückblick 1963 kommentierte Günther in einem Nachwort, diese „Selbstdarstellung Berlins“ sei „eine Symphonie der Dissonanzen“ gewesen.8 Die potenzielle Brisanz eines solchen Bandes wird dadurch unterstrichen, dass Hier schreibt Berlin 1933 zu den Schriften gehörte, die die Nationalsozialisten durch ihre Verbrennung auf dem Opernplatz in Berlin und anderswo aus der Welt zu schaffen suchten. Letztlich bestätigte diese Entscheidung, dass Günther mit Hilfe seiner Autoren das Berlin der zwanziger Jahre zu einem unliebsamen Politikum gemacht hatte. Anthologien haben, gerade aufgrund ihrer zeitnahen Themenstellung und dem Einfluss einzelner Beiträger das Potenzial, den öffentlichen Diskurs nachhaltig zu beeinflussen. Neben solche retrospektive Politisierungen der Anthologie reiht sich der Versuch, der Entpolitisierung einer bestimmten Situation durch die Anthologie bewusst entgegenzusteuern: In der Einführung zu From the Heart of Europe: Anthology of Contemporary Slovenian Writing argumentiert der Herausgeber Matej Bogataj, dass der europäische Konsens und die damit einhergehende Demokratisierung des Landes im Fall Sloweniens die nationale Literatur auf sich selbst zurückgeworfen habe, weil literarische Visionen im Gegensatz zur voreuropäischen Vergangenheit nicht länger politisch konnotiert werden müssten.9 Hier wird die Anthologie bemüht, der Literatur ein neues Publikum zu eröffnen, ihre Vielfalt und ihre Relevanz erneut ins Licht zu rücken. Deutlich wird, dass Anthologien häufig auf ein gesellschafts- und kulturpolitisches Desiderat reagieren, für das Klärungsbedarf herrscht, ohne dass ein Konsens angestrebt wird. In Der Europäische Landbote, einem der meistbeachteten fiktionalen Beiträge zum Thema Europäische Union, diagnostizierte Robert Menasse 2012, dass die gegenwärtige Europapolitik durch eine Übergangs-

7Manguel,

Albert: Sweet are the Uses of Anthology, in: New York Times (23.08.1987), URL: https://www.nytimes.com/1987/08/23/books/sweet-are-the-uses-of-anthology.html (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 8Günther, Herbert (Hg.): Hier schreibt Berlin. Eine Anthologie [1929]. Berlin: Ullstein 1998, S. 329. 9Bogataj, Matej: Introduction, in: From the Heart of Europe: Anthology of Contemporary Slovenian Writing. Norman/OK: Texture Press 2007, S. 13.

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generation charakterisiert sei.10 Insofern scheint es folgerichtig, dass im selben Jahrzehnt vermehrt Anthologien, die die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Thema Europa einforderten, erschienen. Drei deutsche Ausgaben, für die grenzübergreifend Autoren und Autorinnen um Beiträge gebeten wurden, sollen hier besondere Berücksichtigung finden. In den Vordergrund rücken vor allem jene Beiträge, die autobiographisch motiviert sind oder sich mit konkreten Beispielen vor Ort auseinandersetzen, weil auf diese Weise der Zugang zu thematischen Schwerpunkten leichter nachzuvollziehen ist.

2  Hotel Europa wurde 2012 veröffentlicht; die Herausgeber sind die Schweizer Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa und der vormalige Kulturreferent des Goethe Instituts, Michael M. Thoss.11 Die 14 Beiträge renommierter Autoren mit Fotografien von Matthias Hoch haben denselben Ausgangspunkt: Die Autoren waren aufgefordert, sich ein Hotel namens Europa im europäischen Land ihrer Wahl zu suchen; einige Antworten – etwa von Tanja Dückers aus Nikosia – sind Reportagen, andere, beispielsweise von Ingo Schulze und Christine Traber aus Island,12 Fiktionen. Die Zusammenstellung der Texte wird als „bricolage“ beschrieben; „Erzählungen verweben persönliche Geschichten mit historischen Ereignissen, alte Mythen mit gesellschaftlichen Utopien […]. Vielleicht entsteht daraus einmal die große Erzählung Europas.“13 Die Assoziation Europas mit einem Hotel ist programmatisch. Das Nebeneinander unter einem Dach spielt auf die Verbindlichkeit bestimmter, leicht nachvollziehbarer Ordnungen an: der Verwaltung des Hauses an der Rezeption einerseits, der Individualität in den Zimmern andererseits. Neben traditionellen Häusern mit Vorgeschichte treten in der Anthologie jene, deren Namensgebung Europa eher zufällig, aber zumindest positiv konnotiert ist. Ins Spiel kommen durch den Titel auch die Erinnerung an Wendungen, die Europa vor allem während seiner Expansion in den achtziger Jahren auszeichneten: die Rede war in der Vergangenheit von einem „gemeinsamen Haus“ und dem Leben unter „einem

10Menasse,

Robert: Der europäische Landbote. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, S. 100. Ilma/Thoss, Michael M. (Hg.): Hotel Europa, Heidelberg: Das Wunderhorn 2012. 12Schulze, Ingo/Traber, Christine: Hotel Chomsky, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 183–194. Der Beitrag beschreibt die erhoffte Begegnung mit dem Linguisten und Philosophen Noam Chomsky, wobei Parallelen mit Samuel Becketts En attendant Godot nahe liegen. Chomsky hat sich in verschiedenen Beiträgen zum Status quo von Europa geäußert. 13Thoss, Michael M.: Hotel Europa – Auf dem Weg zum europäischen Haus?, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 5–8, hier: S. 7. 11Rakusa,

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Dach“;14 diese Architektur Europas vermittelte eine potenzielle Machbarkeit und Kontrolle.15 Ein von dem Redakteur und Programmkurator Thomas Geiger herausgegebener Band, Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa, fehlt diese konkrete Vergleichsebene. Hier werden über 30 Autoren aus ebenso vielen europäischen Ländern repräsentiert. Die Definition Europas erfolgt in der Einführung geographisch, kulturell und politisch. Die Beiträge sind – wie in Hotel Europa – aktuell, aber die Bedeutung des Jahres 1989 und der „Fall des Eisernen Vorhangs“ werden im Vorwort hervorgehoben.16 Die Auswahl ist bewusst subjektiv, der Schwerpunkt der Anthologie liegt auf dem „Lesebuchcharakter“.17 Im Unterschied zur raumorientierten Herangehensweise in Hotel Europa orientiert sich die Geschichte des Kontinents hier an historischen Wendepunkten. 2016 erschien, herausgegeben von dem Autor Uwe Beyer, Europa im Wort. Eine literarische Seismographie in sechzehn Aufzeichnungen. Im Vorwort beobachtet Beyer, dass Europa angesichts fragiler innerer Bezüge als „Wertegemeinschaft“ sichtbar gemacht werden müsse.18 Die Aufforderung an die Autoren aus acht Ländern lautete daher, „anschauliche Texte“ beizutragen, um auf diese Weise „Europa wahrnehmbar“ zu machen.19 Diese Texte spiegeln vor allem persönliche Erfahrungen und Überlegungen wider – darunter, im Jahr der Entstehung dieser Anthologie kein Zufall, auch zum Thema der Flucht und Migration.20 Das Vorwort verweist auf Spannungen, die Europa charakterisieren: Im Rückgriff auf die Mythologie ist Europa dennoch eine „Überlebenskünstlerin“, unterliegt aber der Verführung durch Zeus.21 Die Zeichnungen von Christiane Maria Luti, die den Band passend zur Idee der Visualisierung begleiten, greifen

14Vgl.

zur Idee des europäischen Hauses auch Žanić, Ivo: Die Poetik der Grenze: Fallbeispiel Kroatien, in: Dževad Karahasan und Markus Jaroschka (Hg.): Poetik der Grenze. Über die Grenzen sprechen – Literarische Brücken für Europa, Graz: Steirische Verlagsanstalt 2003, S. 222–234. 15Der Roman Grand Hotel Europe greift ebenfalls gezielt die Metapher des Hotels auf, wobei mit dem Verweis auf ein Grand Hotel dann auch die kontraproduktive Nostalgie für überlebte Lebensformen ins Spiel kommt. Vgl. Pfeijffer, Ilja Leonard: Grand Hotel Europe. Amsterdam: De Arbeiderspers 2018. 16Geiger, Thomas (Hg.): Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2015, S. 11. 17Ebd. 18Beyer, Uwe (Hg.): Europa im Wort. Eine literarische Seismographie in sechzehn Aufzeichnungen. Heidelberg: Lesezeiten 2016, S. 7. 19Ebd., S. 8. 20Vgl. Zu dieser Thematik auch Brinker-Gabler, Gisela/Shea, Nicole (Hg.): The Many Voices of Europe. Mobility and Migration in Contemporary Europe. Berlin, Boston: De Gruyter 2020 und hier vor allem die Kapitel ‚Reconfiguration of Identities‘ und ‚Shifting Frontiers of National Belonging‘, die unter anderem auf die Notwendigkeit der Vielfalt (‚Diversity‘) eingehen. 21Ebd., S. 6.

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unter anderem dieses Thema wieder auf: „Im Blick der Europa“ zeigt die junge Frau eingangs mit dem Stier, abschließend („Relaunch – Europa?“) sitzt eine gereifte Europa abwartend auf einem Sofa. Das Vorwort verweist auf spezifische Widersprüche, die Europa heute ausmachen – es differenziert zwischen Europa und der Europäischen Union, zwischen einem „Gefüge von Frieden zwischen seinen Nationen, verbrieften Menschenrechten und persönlichen Freiheiten“, das aber auch durch gesellschaftliche und territoriale Konflikte gefährdet sei.22 Mit der Krise als Ausgangspunkt, wird die Bedeutung der „europäischen Bürgergesellschaft“ mitsamt ihrem „Wahrnehmungs- und Wertschätzungsdefizit“ hinterfragt.23 Hier rücken also die Anforderungen, die sich mit der politischen und ökonomischen Einheit stellen, stärker in den Vordergrund. Allen drei Anthologien ist trotz solch unterschiedlicher, mehr und minder im Detail ausgeführter Ausgangspositionen gemein, dass der Literatur bei der Suche nach dem europäischen Status quo im Kontext der Kultur ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. Bemerkenswert ist, dass sich die Mehrzahl der Beiträger auf ein bestimmtes Land festlegt – grenzüberschreitende, vergleichende Beiträge sind rar.24 Europa im Wort wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in seine Publikationsreihe aufgenommen und profitierte von einer Reihe von Buchpräsentationen; Luftsprünge wurde unter anderem im Österreichischen Rundfunk im Mai 2015 mit dem Herausgeber diskutiert und in Rezensionen behandelt. Das legt nahe, dass der Wunsch nach einer kultur- und gegenwartsorientierten europäischen Debatte ein Publikum findet.

3  Die Wahl eines Ortes fiel für Joachim Sartorius, unter anderem langjähriger Leiter des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und Intendant der Berliner Festspiele, in Hotel Europa auf Sarajewo, Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina. In „Panorama des versehrten Glücks“ verbindet er Stadtspaziergänge mit den Einsichten von Freunden und Bekannten vor Ort, darunter der bosnische Autor Dzevad Karahasan, für den Sarajewo „zugleich Rand und Herz Europas“ ist.25 Nicht nur Sartorius sucht am Ort seiner Wahl das Gespräch – Ilma Rakusa etwa lässt sich in St. Petersburg, wo sie den Luxus des Europejskaja mit den Restriktionen früherer Aufenthalte vergleicht,

22Ebd.,

S. 7. S. 7. 24Für Luftsprünge ist allerdings anzumerken, dass seine Reihe der Autoren in unterschiedlichen Ländern tätig war und ist. 25Sartorius, Joachim: Panorama des versehrten Glücks, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 151–164, hier: S. 152. Karahasan hat auch zu der Anthologie Luftsprünge beigetragen, in der er gleichfalls die Besonderheiten seiner Heimatstadt verhandelt. 23Ebd.,

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immer wieder von Freunden und Kollegen beraten.26 „Intellektuelle“, schreibt Jürgen Habermas in Ach, Europa, einer Folge von Essays, die gezielt auf Hans Magnus Enzensbergers „Lobgesang auf die europäische Vielfalt“ des Jahres 1987 Bezug nimmt, „haben den Spürsinn für Relevanzen“ – das Aufdecken solcher Relevanzen ist der Idealfall einer Anthologie. Und tatsächlich vernetzen sich die Beiträger der Anthologie Hotel Europa angesichts des Versuchs, sich einen Ort zu erschließen, ganz bewusst und erlauben so eine Antwort auf ein Desiderat, das Habermas in den Raum stellt: Er bemängelt in Anlehnung an den Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), dass es gegenwärtig keine „europäische Öffentlichkeit“ gebe.27 Eine solche europäische Öffentlichkeit ist gefordert, das „Europa-Thema“ zuungunsten der nationalen Agenda aufzuwerten.28 Diese Forderung deckt sich mit Menasses Beobachtung, dass „die Diskussion nicht den öffentlichen Diskurs“ erfasse – was auch dadurch erschwert werde, dass das Kulturresort in der Europäischen Union ein so „geringes Ansehen“ besitze.29 In der Einführung zu der Europa-Anthologie Luftsprünge beobachtet Thomas Geiger, diese Überlegung fortführend: „Die Publizistik agiert im Wesentlichen aus einem jeweils nationalen Blickwinkel. Die Rolle der Kultur wird in der europäischen Diskussion unterbewertet – denn neben der schieren ökonomischen Potenz ist die Kultur das eigentliche Pfund der Europäer.“30 Als konstruktiv erweist sich in Hotel Europa, dass die Beiträger durch ihre Reisen in die Position von Beobachtern gezwungen werden. Es ist passend, wenn Sartorius angesichts der zerstörten Bibliothek in Sarajewo berichtet: „Die EU habe Gelder für den Neuaufbau einer Bibliothek in Aussicht gestellt, doch seien sich die Stadtväter und Politiker über die künftige Nutzung völlig uneins.“31 Europa „vor Ort“ hat, wie in den Beiträgen immer wieder deutlich wird, offenkundig wenig mit dem administrativen Zentrum Europas zu tun, auf das auch kaum weiter eingegangen wird. Ein tatsächlich multikulturelles Europa ist für Sartorius dann bezeichnenderweise ein gescheitertes Projekt der Vergangenheit, das Habsburger Reich: „Am Schnittpunkt von zwei kulturellen Umlaufbahnen, einer auf Instanbul ausgerichteten traditionellen und einer europäischen und ‚modernen‘, die aus Wien kam.“32 Sarajewo wiederum ist ein Mittelpunkt solcher Zusammenhänge, die sich längst erübrigt haben und zum Erinnerungskapital Europas gehören. Sartorius entwirft, da es „dieses Sarajawo nicht mehr gibt“, sein „imaginäres Europa“,33 das sich gezielt an der Vergangenheit orientiert und für das implizit eine gewisse Nost26Rakusa,

Ilma: Fast unwirklich – das Evropejskaja und St. Petersburgs Weisse Nächte, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 139–150. 27Habermas, Jürgen: Ach, Europa. Berlin: Suhrkamp Verlag 2008, S. 7 und S. 84. 28Ebd., S. 90. 29Menasse 2017, S. 95 und 78. 30Geiger 2015, S. 10. 31Sartorius 2012, S. 157. 32Ebd. 33Ebd., S. 162.

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algie ins Spiel kommt. Die Gegenwart hingegen wird von den allerorts sichtbaren Folgen des Krieges vereinnahmt. Repräsentiert sich Sarajewo einerseits als Mitte eines vergangenen Europas des erfolgreichen Mit- und Nebeneinanders, verortet Sartorius es gleichzeitig am Rand des Kontinents. Sein imaginäres Europa kontrastiert mit der Interpretation jener Beiträge in My Europe, die auf die Allgegenwart imperialer Vorstellungen verweisen: Das Geschichtskapital vergangener Bezüge beflügelt die Imagination von Sartorius, schwieriger wird es, wie Uwe Derksen zeigt, wenn es den Blick auf die politische Realität verstellt. Die Differenzierung zwischen dem Rand und der Mitte Europas rückt in den Beiträgen wiederholt in den Vordergrund: Die Raumordnung offenbart existierende und fehlende Zusammenhänge. Solche Randbetrachtungen haben Tradition. In Ach Europa! hatte Hans Magnus Enzensberger schon 1987 bewusst eine „Zentralperspektive“ vermieden, und Europa stattdessen von Schweden, Italien, Ungarn, Portugal, Norwegen, Polen und Spanien aus betrachtet.34 Die Zentralperspektive wird hier auch insofern unterminiert, als Dialoge und Dokumente des öffentlichen Lebens in den Vordergrund rücken und damit den anekdotischen Charakter der Einsichten unterstreichen, der der gesamten Edition eigen ist. Die Reise in den Osten wird, damals wie heute, zur Selbstvergewisserung der westeuropäischen Besucher, dass sie sich längst in einem anderen Zeitalter befinden. Ein Vierteljahrhundert später beobachtet Ulrich Janetzki, Leiter des Literarischen Colloquiums in Berlin, in seinem Beitrag zu Hotel Europa in den Karpaten in vergleichbarer Weise, nun aber als Fazit: „Medzilaborce, das ist Europa am Tellerrand. Und am Rand ist es kühler. Und die dicken Brocken sind auch stets in der Mitte. Und trotzdem beginnt man immer vom Rand aus zu essen.“35 Alex Popov, der in Vom Vatikan nach Brüssel sein Hotel Europa im Vatikanstaat wählt, geht einen Schritt weiter, wenn er die „Zentralperspektive“ nicht auf Staaten, sondern politische Enklaven lenkt, die die Idee Europa zu verkörpern scheinen: Irgendwo in der Mitte des Weges zwischen himmlischem Königreich und kommunistischem Paradies liegt die EU. […] Auch wenn sie auf der Karte beeindruckend aussieht, bleibt die EU eher eine virtuelle Projektion der Idee von Europa, unter deren Oberfläche weiterhin das Puzzle der einzelnen Nationalstaaten liegt. Der reale Raum der EU ist eigentlich in einigen kleinen Enklaven konzentriert – in Brüssel, Straßburg und Luxemburg, wo sich ihre wesentlichen Institutionen befinden.36

34Enzensberger,

Hans Magnus: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1987. 35Janetzki, Ulrich: Eurohotel Medzilaborce, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 57–66, hier: S. 65. 36Popov, Alek: Die Hotels der Geschichte: vom Vatikan nach Brüssel, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 125–138, hier: S. 133.

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Bemerkenswert ist, dass die Realität Europas an Institutionen gebunden scheint, die aber nicht weiter berücksichtigt werden. Den Schwerpunkt auf nationalstaatliche Präferenzen hatte Enzensberger vorausgesehen. Ach Europa! schließt mit einem Epilog, einem fiktiven journalistischen Beitrag in The New New Yorker vom 21. Februar 2006. Der Korrespondent berichtet aus einem Berlin, in dem die Denkmalpfleger über der mittlerweile gefallenen Mauer Schutzbauten errichten, nur um zu schließen, dass die Kleinstaaterei ein europäisches Phänomen sei und allenfalls Frankreich auf den Zentralismus schwöre.37 Insofern ist eine strukturelle Entscheidung in Luftsprünge programmatisch: Der Herausgeber ordnet seine Texte alphabetisch nach Herkunftsländern – „Fragen, wie etwa diejenige, wo Osteuropa beginnt und Mitteleuropa endet, werden so umgangen.“38 Sartorius‘ Gesprächspartner, Dzevad Karahasan, hat in Poetik der Grenze einführend das Potenzial der Vielzahl der Staaten gerade mit Blick auf Europa hervorgehoben und das potenzielle Problem zugunsten der Vielfalt umkonzipiert. Grenzen, so Karahasan, seien Orte der Spannung und diese Spannung wiederum erweise sich als produktiv: „In der Grenze, durch die Grenze, wird eine Identität vollendet.“39 Europa präsentiere sich als ein „sehr dichtes Netz von Grenzen“, insbesondere in Zentraleuropa. Karahasan ist allerdings nicht an Staatsgrenzen interessiert, sondern an „kulturellen Grenzen, an Grenzen, die den kulturellen Strukturen Gestalt und Form verleihen, die das Erleben der Welt und den Tagesablauf, die alltäglichen Rituale und das Verhältnis zur Gemeinschaft konkretisieren.“40 Ein Verständnis für Grenzen erweist sich hier als eine Voraussetzung für das Funktionieren Europas, da in dem Moment, in dem sie anerkannt werden, ihre produktive Auflösung beginnt. Stattdessen orientiert sich in den Anthologien die Verortung Europas nicht nur am Versuch der Positionierung im Verhältnis zum Rest des Kontinents (am Rand, in der Mitte), sondern an der Betonung von Eigenheiten vor Ort, wodurch neuerliche Abgrenzungen entstehen. Die Ergänzung der Anthologie Hotel Europa um ein Fotoessay ist umso produktiver. Fotografische Bestandsaufnahmen florieren in Zeiten des Übergangs, in denen das Alte (hier: die Nationalstaaten) keine Gültigkeit mehr besitzt, das Neue (hier: ein funktionierendes Europa) sich aber noch nicht durchgesetzt hat. Die Visualisierung des Übergangs hinterfragt vertraute Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster. Matthias Hoch hat sich darauf spezialisiert, urbane Situationen, die sich der genauen Bestimmung entziehen, einzufangen – der Effekt steht in deutlichem Kontrast zu den Texten des Bandes. Für Kopenhagen, Lissabon, Belfast und Marseilles rückt der öffentliche Nahverkehr in den Vordergrund, Nachkriegssiedlungen, moderate Grünflächen, banale Orte des Vergnügens, in denen Menschen eher sekundär sind. Die Fotoessays verweisen auf unspektakuläre

37Enzensberger

1987, S. 473. 2015, S. 12. 39Karahasan, Dzevad: Zur Grenze, in: Karahasan. Jaroschka 2013, S. 10–14, hier: S. 11. 40Ebd., S. 12. 38Geiger

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Situationen, die sich überall gleichen und rücken auf diese Weise ein anderes Europa in den Mittelpunkt, in dem die Alltagsstrukturen maßgeblich werden. Der produktive Umgang mit einer gemeinsamen Mitte hingegen – dem Konsens, was Europa ausmachen könnte – erweist sich als schwieriger: In „Eine Mitteleuropäische Liebe“ beobachtet Tymofij Havryliv zu historischen Versuchen der Annäherung: Mitteleuropa erinnert an einen Reigen, der Elemente der Polka und des Csárdás, der Ciocărlia und der Husitschka, des Koletschko und der Kolomyjka aufnimmt, und im Wesentlichen darin besteht, dass die Tänzer von verschiedenen Eckpunkten des abgegrenzten Raumes aus aufeinander zu tanzen, in die goldene Mitte, auf einen einzigen Punkt hin, in media res, ihre Richtung jedoch, sobald sie sich zu treffen und zu kreuzen drohen, abrupt ändern, um in die entgegengesetzte Richtung zu tanzen, zurück in die Ausgangspositionen.41

Wo Hoch in seinen Bildern bewusst vermeidet, Räume aufeinander zu beziehen, verweist ihre Berücksichtigung hier auf die Schwierigkeit, einen im Alltag bestehenden Konsens zu schaffen. Alltag rückt jedoch nicht nur in den Fotografien in den Vordergrund, sondern ist auch die Grundlage der Beschreibung eines transnationalen Miteinanders. In Europa im Wort setzt der Historiker Karl Schlögel den Befürchtungen, die sich an räumlichen Wahrnehmungen festmachen können, eine These entgegen: „Es gibt ein Europa, das intakt ist und funktioniert, das aber in dem ganzen Krisendiskurs nicht vorkommt.“42 Die Beobachtung macht sich für ihn an sogenannten „Messstationen“ fest, in denen ein reibungsloser Alltag stattfindet: an den Grenzübergängen, angesichts der Fahrpläne europäischer Busgesellschaften, der Erfolge des vielfältigen Festival- und Kulturbetriebs – „jene Kriechströme also, die Europa zusammenhalten“. Er folgert: „Eine wahrhaft europäische Erzählung wird es erst geben, wenn sich so etwas wie ein europäischer Erfahrungshorizont herausgebildet hat.“43 Das Narrativ Europas ist daran gebunden, nicht die eine große, abstrakt bleibende Verbindlichkeit anzustreben, sondern alltägliche Zusammenhänge jenseits des Außerordentlichen sichtbar zu machen. Weitere Beiträge in Europa im Wort berücksichtigen die Flüchtlingskrise, die sich innerhalb Europas als eher trennend denn verbindend erwiesen hat. Hier ist jedoch für die Wahrnehmung der politischen Dimension der Union die Außenwahrnehmung instruktiv: Europa ist für die Flüchtlinge zu Anfang eine vielgelobte Aspiration, eine Hoffnung, ein Möglichkeitsraum. In der Realität ist Europa – losgelöst von historischen Zusammenhängen und Wendepunkten – aber ein Ort der Ausgrenzung: von außen betrachtet ist die Festung Europa eine abschreckende Einheit und für potenzielle Einwanderer grundsätzlich unzugäng-

41Havryliv,

Tymofij: Eine Mitteleuropäische Liebe, in: Karahasan. Jaroschka 2013, S. 208–214, hier: S. 211. 42Schlögel, Karl: Einen Karlspreis für Eurolines, in: Beyer 2016, S. 19–35, hier: S. 21. 43Ebd., S. 28.

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lich. In diesem Zusammenhang werden nicht nur Staatsgrenzen unüberwindbar, sondern auch die Kultur des Kontinents. Angesichts zunehmend nationalistischer Bestrebungen fordert die Berliner Autorin Tanja Dückers, die auch zu Hotel Europa beigetragen hat, in Europa im Wort in Anlehnung an den Soziologen Ulrich Beck und mit Parallelen zu Rosa Braidottis Nomadic Theory, dass ein „nomadisierender Transnationalismus“ nötig sei: „Europa kann sich nur als reger, unruhiger Marktplatz der Welt, als Vielvölkerstaat, begreifen. […] Der Europäer ist, wenn er diese Offenheit bei sich selbst zuläßt […] dann per Geburt ein Multikulturalist.“44 Das heißt, dass Fragen der Zugehörigkeit neu definiert und bestehende Normen hinterfragt werden müssen; hier spielt die Gliederung Europas nach bestimmten Räumen keine Rolle mehr – mit der Aufgabe der Öffnung erfolgt ein Wahrnehmungswechsel. Dückers bringt, wie Schlögel, allerdings einen weiteren Punkt ins Spiel, den der identitätsstiftenden historischen Erfahrungen – jene Eindrücke also, die sich nicht zufällig ergeben, sondern für bestimmte Generationen repräsentativ sind; die Berlinerin Dückers ist selbst engagiert, Schülern von heute den nun 30 Jahre zurückliegenden Mauerfall näherzubringen. Die europäische Dimension greift weiter: Die gemeinsame Erfahrung vom Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie vom Holocaust sind prägende kollektive Erlebnisse für alle Europäer. Die bipolare Weltordnung zu Zeiten des Kalten Krieges ist, wenngleich auf unterschiedliche Weise, von West-, Mittel- und Osteuropäern ebenfalls erlebt und erlitten worden. Das Gleiche gilt für den Mauerfall und die Aufhebung der Trennlinie, die durch Europa führte.45

Adolf Muschg formuliert in seinem Beitrag Europa … ist das Existenzminimum des Bündnisses schon zu anspruchsvoll? etwas Ähnliches, ist aber generationsbedingt und über das historische Interesse hinaus in der Lage, die Beobachtung mit Hilfe seiner eigenen Lebensgeschichte und der daraus gezogenen Konsequenzen zu untermauern. Es ist eine wichtige Nuance, dass Muschg das Leiden der Menschen (der Bürger/Mitmenschen) hervorhebt, nicht nur die historischen Fakten: Europa ist noch kein Staat, es ist beileibe kein Glaubensartikel, aber es ist auch nicht nur eine Freihandelszone. Es ist ein Zusammenschluss von Vater- und Mutterländern, die den Bankrott nationalistischer Ansprüche, verkörpert in zwei Welt-Bürgerkriegen, erleben mussten und, was mehr ist, ihre Verantwortung dafür anerkennen.46

44Dückers,

Tanja: Europa – eine transnationale Heimat, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 173–182, hier: S. 178. 45Ebd., S. 181. 46Muschg, Adolf: Europa … ist das Existenzminimum des Bündnisses schon zu anspruchsvoll?, in: Rakusa Ilma, Michael M. Thoss 2012, S. 226–241, hier: S. 234.

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Für Muschg wird Europa gerade deshalb eine Realität, weil es nicht nur ein Konstrukt ist, sondern das Leben der Bürger prägt. Auch Peter Härtling beobachtet angesichts seiner eigenen Geschichte als Flüchtling, dass die gegenwärtig über den Status quo des Kontinents Besorgten „unwissend aus der Geschichte dieses alten Kontinents fallen“:47 die Übergangssituation wird damit, ein Konsens der kriegs- und nachkriegsgeprägten Generation, unweigerlich zum Risiko, mit dem Europa insbesondere angesichts seiner Geschichte umzugehen gezwungen ist. Zur Erfahrung des europäischen Alltags gehört die Reisefreiheit. Die Autoren der Anthologie Hotel Europa sind allein schon durch die Aufgabenstellung alle Touristen, die sich den Ort ihrer Wahl neu erschließen müssen. Dieser touristische Blick erlaubt eine weitere Nuance der Wahrnehmung Europas, der die Selbstdarstellung eines repräsentativen Ortes in den Vordergrund rückt, vor allem aber auch den Bezug zwischen der zu besichtigenden Vergangenheit Europas und seiner noch offenen Zukunft. Sartorius erwähnt in seinem Beitrag einleitend eine Postkarte mit vier Segmenten, die die Ermordung Erzherzog Franz Ferdinands und seiner Frau 1914, die Olympischen Spiele 1984 und Impressionen des Krieges 1992–1995 zeigen. Das letzte Segment postuliert „no problem“ und zeigt Sarajewo mit Symbolen des Friedens, Tauben und Blumen.48 Das ist zwar Geschichtsklitterung, aber am Massenkonsum orientierte Postkarten lösen auf diese Weise historische Wirklichkeit zugunsten eines Images auf, das Wunschvorstellungen, gerade mit Blick auf historische Zusammenhänge, projiziert. In Europa Veneziana oder Die Reise in die Zukunft registriert Julia Schoch die Zeichen des Verfalls der „müden Stadt“ und des „müden Hotels“49 in Venedig – im Vergleich dazu erweist sich der lokale Tourismus als eine Dynamik, die das Überleben der Region sichert. Sarajewo und Venedig sind für die Besucher Reiseziele, mit denen kaum Europa assoziiert wird, sondern eher der Anspruch auf authentische Geschichts- und Kulturerfahrungen. Das Kapital beider Städte ist die Vergangenheit – die jedoch einen sorgsamen Umgang erforderlich macht. Die Hotels werden in beiden Beiträgen zu Barometern des allgegenwärtigen Verfalls. 1999, zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und neun Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, war als Beilage der Wochenzeitung Die Zeit das Sonderthema Zwischen Berlin und Brüssel (4/99) verhandelt worden – auch hier waren Journalisten, Historiker und Schriftsteller (unter anderen Klaus Hartung, Heinrich August Winkler, Peter Esterhazy, Martin Walser und Fritz Stern) aufgefordert, sich – gerade angesichts einer Flüchtlingskrise und der auch damals aktuellen Diskussion um die Festung Europa – auf die Spurensuche nach der Bedeutung Europas zu machen. Martin Klingst schlussfolgerte vor zwanzig

47Härtling,

Peter: Mein Europa, in: Rakusa Ilma, Michael M. Thoss 2012, S. 14–18, hier: S. 15. 2012, S. 151. 49Schoch, Julia: Europa Veneziana oder die Reise in die Zukunft, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 165–181, hier: S. 168. 48Sartorius

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Jahren: „Wenn zwei Europa sagen, meinen sie nicht dasselbe.“;50 der Bedarf zum Diskurs und immer wieder auch zur Standortbestimmung bleibt also gewahrt. Die hier behandelten Anthologien zeigen exemplarisch, dass Europa in regelmäßigen Intervallen und vor allem in Umbruchszeiten an die Neubesinnung auf bestimmte Themen angewiesen ist. Der Kontinent Europa erweist sich als geschätzter Erfahrungsraum, während die Europäische Union als abstrakte Bürokratie wahrgenommen und kaum erwähnt wird. Die – kaum jemals genauer definierte – Mitte Europas wird mit einem östlichen Rand konfrontiert, der erschlossen werden muss. Gemeinsam scheint der Mitte und dem Osten Europas zu sein, dass hier ein historischer Erfahrungshorizont sich als starke Motivation für den Zusammenhalt gestaltet, während Bilder von Europa als Haus oder Familie kaum mehr eine Rolle spielen und stattdessen der kreative Umgang mit Grenzen und Alltagserfahrungen in den Mittelpunkt rückt. Die Frage nach Werten und Maßstäben ist insofern charakteristisch, als Europa stets aufs Neue definiert werden muss – die Idee Europa, das Ideal der Staatengemeinschaft, steht jedoch nie in Frage. Auffallend ist, dass in den vorliegenden Anthologien der Westen Europas eine untergeordnete Rolle spielt – ein Desiderat, das nahelegt, dass bestimmte europäische Zusammenhänge unberücksichtigt bleiben. Auch andere Auslassungen sind aufschlussreich: Die Einführung des Euro etwa ist kein nennenswerter Teil der Nachkriegschronologie, gleichgültig, welcher Generation die Autoren angehören; regionale Identitäten spielen nur im Kontext von Konflikten eine Rolle; für die Frage, inwieweit Europa als Heimat definiert wird, sind vorerst nur Ansätze – wie etwa bei Dückers – erkennbar. Lothar Schröder hat Menasses Roman Die Hauptstadt in einer Rezension im Januar 2019 bescheinigt, „über Europa, seine Herkunft und seine Zukunft“ erzählt zu haben.51 Die Herausgeber der Europa gewidmeten Anthologien aktivieren darüber hinaus durchaus die von Habermas geforderte intellektuelle europäische Öffentlichkeit sich überschneidender Netzwerke und unterschiedlichster Kulturträger – die in der eingangs erwähnten Anthologie aus Großbritannien, My Europe, nicht zum Tragen kommt: Hier entfällt die von Dückers hervorgehobene Erfahrungsdimension des zwanzigsten Jahrhunderts, über zwei Weltkriege und den Kalten Krieg bis hin zum Fall der Berliner Mauer und der damit assoziierten, auch nach einer Generation betonten Freiheit. Stattdessen kommen in My Europe bezeichnenderweise wieder Familienbilder wieder ins Spiel: die Erinnerung an Migrationsgeschichten, der Vergleich des Brexit mit zerrütteten, von Scheidung bedrohten Familien, oder der Verlust eines vertrauten Hauses, das man sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hat wegnehmen lassen. In My Europe fehlt der Anspruch auf länderübergreifende Ansätze. Das europäische Narrativ im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war, legt die Gesamtheit der Anthologien nahe, an

50Klingst,

Martin: Die Mauerbrecher, in: ZeitPunkte (4/99), S. 70. https://rp-online.de/kultur/fadenscheinige-kritik-an-robert-menasse-und-seinen-roman_ aid-35550831 (zuletzt abgerufen am 06.06.2020).

51URL:

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zentraleuropäische und kulturhistorische Zusammenhänge gebunden: Die Peripherien Ost und West erwiesen sich mit völlig unterschiedlichen Vorzeichen als Herausforderung. In Zukunft, wenn die Folgen des Coronavirus genauer einschätzbar sein werden, wird sich eine Anthologie zum Thema Europa neuen Herausforderungen stellen müssen: Nach wie vor ist angesichts der Zahl der Flüchtlinge die Frage nach der Heimat Europa relevant, sicherlich aber auch die Frage nach der Rolle von Grenzen in Krisenzeiten.

Literatur Arnold, Sven/Janetzki, Ulrich (Hg.): Berlin zum Beispiel: Geschichten aus der Stadt. München: Ullstein 1997. Becker, Jürgen/Janetzki, Ulrich (Hg.): Die Stadt nach der Mauer: Junge Autoren schreiben über ihr Berlin. Berlin: Ullstein 1998. Beyer, Uwe (Hg.): Europa im Wort. Eine literarische Seismographie in sechzehn Aufzeichnungen. Heidelberg: Lesezeiten 2016. Bogataj, Matej: Introduction, in: From the Heart of Europe: Anthology of Contemporary Slovenian Writing. Norman/OK: Texture Press 2007. Brinker-Gabler, Gisela/Shea, Nicole (Hg.): The Many Voices of Europe. Mobility and Migration in Contemporary Europe. Berlin, Boston: De Gruyter 2020. Busby, Albert Margaret: The New Daughters, in: The Guardian (09.03.2019), URL: https://www. theguardian.com/books/2019/mar/09/from-ayobami-adebayo-to-zadie-smith-meet-the-newdaughters-of-africa Derksen, Uwe: In Answer, in: Johnson, Vaught 2018, S. 731–795. Dückers, Tanja: Europa – eine transnationale Heimat, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 173–182. Enzensberger, Hans Magnus: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1987. Geiger, Thomas (Hg.): Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2015. Günther, Herbert (Hg.): Hier schreibt Berlin. Eine Anthologie [1929]. Berlin: Ullstein 1998. Field, Jacob F.: The History of Europe in Bite-Sized Chunks. Croydon: Michael O’Mara Books 2019. Habermas, Jürgen: Ach, Europa. Berlin: Suhrkamp Verlag 2008. Härtling, Peter: Mein Europa, in: Rakusa Ilma, Michael M. Thoss 2012, S. 14–18. Havryliv, Tymofij: Eine Mitteleuropäische Liebe, in: Karahasan. Jaroschka 2013, S. 208–214. Janetzki, Ulrich: Eurohotel Medzilaborce, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 57–66. Johnson, Anna/Vaught, Anna (Hg.): My Europe, Manningtree: Patrician Press 2018. Jenkins, Simon: A Short History of Europe. From Pericles to Putin. London: Viking 2018. Karahasan, Dzevad: Zur Grenze, in: Karahasan. Jaroschka 2013, S. 10–14. Karahasan, Dževad/Jaroschka, Markus (Hg.): Poetik der Grenze. Über die Grenzen sprechen – Literarische Brücken für Europa, Graz: Steirische Verlagsanstalt 2003, S. 222–234. Lange-Müller, Katja (Hg.): Bahnhof Berlin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. Manguel, Albert: Sweet are the Uses of Anthology, in: New York Times (23.8.1987), URL: https://www.nytimes.com/1987/08/23/books/sweet-are-the-uses-of-anthology.html Menasse, Robert: Der europäische Landbote. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017. Muschg, Adolf: Europa … ist das Existenzminimum des Bündnisses schon zu anspruchsvoll?, in: Rakusa Ilma, Michael M. Thoss 2012, S. 226–241. Pfeijffer, Ilja Leonard: Grand Hotel Europe. Amsterdam: De Arbeiderspers 2018.

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Popov, Alek: Die Hotels der Geschichte: vom Vatikan nach Brüssel, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 125–138. Rakusa, Ilma: Fast unwirklich – das Evropejskaja und St. Petersburgs Weisse Nächte, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 139–150. Rakusa, Ilma/Thoss, Michael M. (Hg.): Hotel Europa, Heidelberg: Das Wunderhorn 2012. Sartorius, Joachim: Panorama des versehrten Glücks, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 151–164. Schoch, Julia: Europa Veneziana oder die Reise in die Zukunft, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 165–181. Schlögel, Karl: Einen Karlspreis für Eurolines, in: Beyer 2016, S. 19–35. Schulze, Ingo/Traber, Christine: Hotel Chomsky, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 183– 194. Thoss, Michael M.: Hotel Europa – Auf dem Weg zum europäischen Haus?, in: Ilma Rakusa, Michael Thoss 2012, S. 5–8. Zitzlsperger, Ulrike: Guides to the City: Berlin Anthologies, in: Studies in 20th & 21st Century Literature 28 (2004), S. 96–125.

Überlegungen zum ‚guten Europäer‘ in der Phase des Brexismus* Rüdiger Görner

Wenn wir uns politisch umschauen, drängt sich die Frage auf: Sind wir im 21. Jahrhundert wirklich angekommen? Oder erleben wir auf kaum absehbare Zeit eine zwar analysierbare, aber aufgrund unserer geschichtlichen Lasten nicht wirklich verständliche Regression, in der das Ressentiment erneut grassiert, und Nationalismen neuerlich bedenkliche Urstände feiern? Was ist unter diesen Bedingungen ‚Europa‘? Ein eigentümliches Hybrid aus Nostalgie und Utopie, aus Pragmatismus und Idealismus? Europa bleibt weiterhin zweifellos eine Frage der Sichtweise und des Blickwinkels. Für die einen bedeutet es in Gestalt der europäischen Union eine politisch durchaus definierbare Größe mit beschränkter, kollektiver Handlungsfreiheit; andere sehen in ihr einen zunehmend zentralistisch operierenden, sich zunehmend bürokratisierenden Staat der Staaten. Wiederum andere, meist Außenstehende, nicht der EU Zugehörige, sehen in Europa ein huit-clos, eine geschlossene Wohlstandszone, die um Abschottung und Besitzstandsicherung bemüht ist. Die außerhalb der EU wachsenden Begehrlichkeiten werden an Intensität weiter zunehmen, vorausgesetzt, die EU kann ihre – trotz aller Probleme und Unwägbarkeiten – unleugbare Attraktivität weiter erhalten. Oder stellt sich ‚Europa‘ inzwischen eher als ein Konglomerat aus Flüchtlingskrise, Integrationsproblemen, Wachstumswahn und Schuldenwirklichkeit dar? Steht sie tatsächlich bevor, die erneute Selbstzersplitterung Europas in anachronistische Nationalismen, die so tun, als könne es

*Dieser Aufsatz ist unter dem Titel „Überlegungen zum ‚guten Europäer‘ namens Friedrich Nietzsche“ auch erschienen in: Rüdiger Görner: Europa wagen! Aufzeichnungen, Interventionen und Bekenntnisse. Baden-Baden: Tectum Verlag 2020, S. 71–91.

R. Görner (*)  School of Languages, Linguistics and Film, Queen Mary University of London, London, UK E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_9

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noch eine Entglobalisierung unserer Probleme geben, eine Entnetzung unserer wechselseitigen Verflechtungen. Kant hat einst die schlichte Gastfreundschaft, die humane Urgeste also, als die elementare Voraussetzung weltbürgerlichen Verhaltens bezeichnet. Für Europa und insbesondere die Europäische Union und ihre Anrainerstaaten wird in dieser Hinsicht ihr Umgang mit der Migration die Dauerherausforderung für ihr kontinentales und globales Selbstverständnis bleiben. Der „gute Europäer“ wird seinen Moralkodex dringend überprüfen müssen, um dieser Herausforderung zu entsprechen. Wer ideologieopportun die Vorstellung einer sozialen ‚Willkommenskultur‘ pauschal verhöhnt, verrät den Sinn der Humanität. Und wer Humanität nur noch polemisch mit ‚Gedusel‘ assoziiert, hat schwerlich verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Referenden und Wahlen werden derzeit freilich quer durch Europa gewonnen, indem schamlos gegen Migranten rhetorisch und damit sprachtätlich zu Felde gezogen wird. Der Stand der europäischen Dinge, die gegenwärtige Lage Europas fordert von uns allen ein neuerliches Überdenken dessen, was Souveränität und Abhängigkeit bedeuten, Toleranz und politische Entschiedenheit, prozessuale Entscheidungsfindung sowie die Bedeutung und angemessene Funktionsweise einer transnationalen Solidargemeinschaft. Übersehen wird dabei nur allzu oft, dass Europa seit 1952 beziehungsweise 1957 Strukturen herausgebildet hat, die in seiner Geschichte einzigartig sind und politische Kulturwerte an sich darstellen. Es bedarf daher keiner Neuerfindung des Rades, wohl aber eines neuen Vermessens und Ortens der zu befahrenden Wegstrecken. Europa besteht immer auch aus den in den jeweiligen Erinnerungskulturen wurzelnden Zukunftsentwürfen, ein Erinnern, das nicht selten als Geschichtslastigkeit des europäischen Bewusstseins empfunden, ja denunziert wird. Wieder und wieder ergibt sich aus diesem kollektiven und individuellen Erinnern die Frage, ob wir verantworten können, zu sein, was wir werden, themengerechter gefragt: Wie können wir das, was aus uns Europäern und unserer europäischen Verfasstheit in politischer und kultureller Hinsicht werden soll, verantwortlich beeinflussen oder mitgestalten? Überdies gefragt: Für wie lange können wir das ‚sein‘, was wir werden wollen? Was haben wir überhaupt noch in der Hand bei diesen rasanten Entwicklungen, die uns tagtäglich in den europäischen Problemzonen zu überrollen scheinen? Was sichert uns noch in einem Dasein, das sich mehr und mehr auf transitorische Zustände einzustellen hat? Wie illusionär ist sie geworden, die demokratische Partizipation, sei es durch Volksbegehren, Plebiszite, deren verfassungsrechtliche Bedeutung in einem Schlüsselland der europäischen Kultur weiterhin unklar ist; und ich spreche von Britannien. Und doch und vor allem: Das verfassungspolitische Prinzip der parlamentarischen Demokratie in den Mitgliedsstaaten der EU scheint fester verankert denn je. Wie aber ist es mit unseren aktuellen und künftigen politischen Handlungsspielräumen bestellt? Wodurch werden sie determiniert? Was sind das für Zeiten, in denen nicht nur ein emotiver Begriff wie ‚Heimat‘, sondern auch Fragen der ‚Identität‘ und ‚Kultur‘ durch eine sich schamlos radikalisierende Rechte monopolisiert und damit in Verruf gebracht werden können?

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Dass sich uns heute diese Fragen neu aufdrängen und sie sich gerade mit Blick auf Friedrich Nietzsche, den artistischen Denker des Ambivalenten, Widersprüchlichen und Instabilen, am trefflichsten stellen lassen, mag vielen an sich schon zu denken geben. Und damit ist nicht einmal der allzu zweifelhafte bis numinose „Wille zur Macht“ gemeint, sondern in erster Linie Nietzsches nicht minder zweideutiges Bekenntnis zum „guten Europäer“. Nietzsches emphatische Unzeitgemäßheit ist dabei wieder unerwartet zeitgemäß geworden, was sich schon allein darin ausdrückt, dass seine Überlegungen zum „guten Europäer“ vom Bild und Zustand des „Heimatlosen“ ausgehen. Nun hat in jüngster Zeit der in deutschen Landen sogar ministeriell beglaubigte Diskurs über Heimat wieder an Emphase gewonnen, sekundiert von einschlägigen bis problematischen Thesen zur ‚Identität‘, die weniger das Verhältnis zwischen Ich und Selbst kritisch befragen, sondern affirmativ das Identisch-Sein des Individuums mit dem ihm vermeintlich Eigenen, vorgeblich Besitzbaren behaupten. Wie sehr das Fremde, Andere in dieses Eigene spielt, ja sich an ihm und durch dieses zunächst Unverwandte erst wirklich bildet, bleibt bei diesen Thesen unreflektiert. Es hat immer etwas Prekäres, dieses Sich-Versichern-Wollen bei sogenannten Geistesgrößen, in deren Gedankenarsenal man stöbert, manchen Staub dabei aufwirbelnd, bis etwas gefunden ist, in dem wir uns oder die Situation unserer Zeit glauben wiedererkennen zu können. Das geschieht meist am Rande der Selbsttäuschung. Denn zum einen gehen wir gemeinhin doch davon aus, dass sich geschichtliche Situationen nicht wiederholen, wohl aber in ähnlicher sprich: vergleichbarer Weise abspielen; zum anderen bedienen wir uns im Gedankenreservoir der Vergangenheit so, als ließen sich ihre Bestandteile zeitlos anwenden – zumindest in Form von probaten Ableitungen. Rückorientierung als Teil einer geistigen Vorwärtsbewegung, diese psychologisch-temporale Dialektik prägt den Europa-Diskurs in besonderem Maße, etwa wenn wir nach dem fragen, was die „Welt von Gestern“ an Zukunftsperspektiven enthält, wie wir mit Novalis und seinem Verständnis von „Christenheit oder Europa“, mit T. S. Eliots Bekenntnis zur „Unity of European Culture“ oder mit Peter Sloterdijks These von der „translatio imperii“, also der Übertragung der mittelalterlichen Reichsidee auf die Struktur der Europäischen Union, dem Geist der Römischen Verträge und seiner Aussagekraft heute beikommen können. Oder hat diese Methode, wenn sie denn eine ist und nicht einfach eine mangelnde politische Vorstellungskraft kaschierende Ablenkung, nicht etwas zu Gezwungenes? Als „ever closer union“ beschreibt die politische Verfasstheit der Europäischen Union bis heute eine konkrete Utopie durchaus im Sinne Ernst Blochs. Sie lebt von ihrer Teileinlösung und partiellem Widerruf, von Beschwörungen in Krisenzeiten und pragmatischen Maßnahmen, oft genug detailverfangen bis zur Selbstkarikatur, dann wieder von elementarer Nützlichkeit, wenn man die Fülle von Problembereichen bedenkt, die in der EU-Kommission tagtäglich zu verhandeln sind. Das Sternenkreisbanner auf tiefblauem Grund, das nun jenen Stern verlieren wird, der über den britischen Inseln untergeht, spricht es symbolisch aus: Diese Europäische Union ist und bleibt gerade in ihrer Politisierung auch ein trans-

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politischer Hoffnungsträger mit zirkulären Charakteristiken. Zu ihnen gehören wiederkehrende Fragen wie jene nach Zugehörigkeit, Loyalitäten innerhalb ihrer Strukturen und jener, wie zuträglich der Union ihre weitere Öffnung sei. Gibt es noch ethnisch-kulturelle Distinktionen im Europäischen, und wie bewahrens-, gar verteidigenswert wären sie? Wie ist es bestellt mit Grundwerten der europäischen Aufklärung: der Toleranz und Solidarität im Zeichen der Menschlichkeit?1 Von welchem Freiheitsbegriff gehen wir aus, und wie versuchen wir ihn weiterzuentwickeln? ‚Guter‘ Europäer könnte sein, wer sich diese Fragen stellt und sich ihnen stellt, sofern es sich dabei nicht um Alibis handelt, hinter denen sich regionale und nationale, kulturelle und religiöse Ressentiments schüren. Oder sind wir nicht besser beraten, von einer zunehmend kollektiven Unbehaustheit auszugehen, von der einen zirkulären Erfahrung schlechthin: immer wieder neu nach Orientierung zu suchen. Der Blick auf Nietzsche und sein problemorientiertes Vordenken gilt dabei nicht dem Verlangen, sich bei ihm zu „versichern“, was unsere Überlegungen zu Europa angeht; kein Denken eignet sich weniger als das dezidiert experimentelle Philosophieren Nietzsches für Vergewisserung, gar Absicherung des Eigenen. Nein, der Bezug auf Nietzsche dient hier einer anderen Perspektivierung im europäischen Bewusstsein. Sie ist analog zu dem zu verstehen, was Andreas Urs Sommer als die „Praxis der kulturellen Selbstrelativierung“ oder auch „Selbstproblematisierung von Kultur“, in diesem Fall von politischer Kultur bezeichnet hat, die durch die Auseinandersetzung mit Nietzsche „erfinderisch“ mache.2 Der Kern dieser Problematisierung des kulturellen und politischen Selbstverständnisses unter Europäern ergibt sich aus Nietzsches Forderung nach einer radikalen Selbstentfremdung Europas, bevor es sich neu finden kann. Was das im Kontext seines Denkens bedeutet – und was für uns – stehe nachfolgend in Rede. Nietzsche setzte seine ganze intellektuelle Erfahrung, angefangen mit dem Erbe der griechischen Tragödie bis hin zu dem für ihn unlösbar gebliebenen Kulturphänomen Richard Wagner, einem Umwertungsprozess aus; er schloss auch die Umwertung dessen ein, was für ihn ‚europäisch‘ bedeutete. Dabei lässt sich an diesem Umwerten erkennen, was es bedeutet – ein allzu-deutsches Spezifikum – mit ‚Europa‘ das politisch und kulturell Eigene substituieren zu wollen. Es führt zu einer riskanten Bodenlosigkeit, die den Imperativ „lebe gefährlich“ für Daseinsbedingung umsetzt. ‚Europa‘ stand für Nietzsche mehr und mehr für einen Bereich der Selbstentwurzelung, eingedenk der mythologischen Urfigur der Entwurzelung, einer kleinasiatischen Schönheit namens Europa, die von Zeus, dem übermächtigen Urverwandlungskünstler, ins Europäische, nach Kreta, entführt wurde. Sie, die mythische Europa, ist die erste Zwangsmigrantin dieses

1Vgl.

Krastev, Ivan: After Europe, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2017, S. 43. Krastev spricht in abwandelnder Anlehnung an Samuel Huntingdon von einem „clash of solidarities“. 2Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin: Duncker & Humblot 2018, S. 67 und 69.

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Kontinents.3 Sie verbleibt an dessen Peripherie und gibt ihm gleichzeitig ihren Namen. Sie kommt von außen, ist Außenseiterin, wird zur Mutter des Minos, der dem Minotaurus ein Labyrinth erbauen lassen wird, und zur Muhme Ariadnes, der findigen Fadenkünstlerin. Als Fremde begründet Europa eine Dynastie, die dem Kontinent, deren Namensstifterin sie wird, die wirkungsmächtigsten Mythen schenken wird, was bedeutet: Das Außen, die Ränder sind für Europa die entscheidende Zone der Befruchtung. Nietzsche spürte dies nirgends eindrücklicher als in Genua und in seinem imaginierten, philologisch und mytho-psychologisch georteten Griechenland. Die mythische Europa musste erst sich selbst und ihrer ursprünglichen kleinasiatischen Herkunft entfremdet werden, um durch göttlichen Gewaltakt sich geradezu schlagartig europäisiert zu sehen. Für den mythenbewussten Nietzsche nun galt als Wesensmerkmal dieser Selbstentfremdung, wenn nicht gar als ihre Voraussetzung – die Einsicht in das Unbehaustsein und die schonungslose Wahrheit über diesen Zustand. Ihn, diesen Zustand des Unbehausten, zuspitzend, wenn nicht gar radikalisierend, skizzierte er unter dem Stichwort „Wir Heimatlosen“ im Fünften Buch seiner Fröhlichen Wissenschaft das Charakterbild des „guten Europäers“, eben unter den Vorzeichen existenzieller Entwurzelung aufgrund des grassierenden „europäischen Nihilismus“.4 Nebst Vorwort und den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ hatte Nietzsche dieses Fünfte Buch erst in der zweiten Auflage von 1887 aufgenommen. Die Fröhliche Wissenschaft wird er darin, die dezidiert romantische Herkunft dieser Bezeichnung, Friedrich Schlegels Prosa der Sinnlichkeit, Lucinde, verschleiernd, als „Saturnalien des Geistes“ bezeichnen (KSA 3, 345). Dass das Prädikat „der gute Europäer“ von einem Denker stammt, der einen Zustand ‚jenseits von Gut und Böse‘, damit als jenseits der konventionellen Moralität angesiedelt ins Auge fasste, gehört zu jenen Paradoxa, die den Diskurs über Europa über ein Jahrhundert lang geprägt haben. Was aber ist damit gemeint? Ein Aushalten eines Zustands jenseits herkömmlicher Moralvorstellungen. Ein Sich-Öffnen gegenüber alternativen Vorstellungsformen dessen, was jenseits des Herkömmlichen möglich erscheint. Nietzsche spricht von der „Heimatlosigkeit“ derjenigen, die erkennen, dass sie in einer „zerbrechlichen zerbrochnen Übergangszeit“ leben. „Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzu-dünne ‚Realitätenʻ aufbricht […].“ (KSA 3, 629) Nietzsche fordert die schonungslose Demaskierung dieser „Realitäten“, das Durchschauen der Schauspielerei, die er hinter doppelzüngigen Humanitätsbekundungen wähnt, und die Bloßstellung des Nationalis-

3Vgl.

hierzu u. a. Seeba, Hinrich C.: „Das moralische Gewissen Europas“. Stefan Zweig und Robert Menasse, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9 (2018), H. 1, S. 119–136. 4In: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1988, S. 628–631 (=KSA 3, 628–631). Alle nachfolgenden Nietzsche-Textnachweise beziehen sich auf diese Ausgabe.

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mus; Nietzsche spricht von „nationaler Herzenskrätze und Blutvergiftung“, die im Europa seiner Zeit grassiere, wo sich „Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt.“ (KSA 3, 630) Den Heimatlosen könne dergleichen nicht anfechten; denn dazu sei er „zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut ‚unterrichtet‘ zu ‚gereist‘.“ Wir, die Heimatlosen, zögen es „bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, ‚unzeitgemässʻ, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, zu der wir uns verurtheilt wüssten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht […].“ (KSA 3, 630) Für ‚deutsch‘ lässt sich nahezu jede andere Nationalitätenbezeichnung in Europa um 1887 und danach einsetzen. Beschleicht uns bei solchen Sätzen nicht das ebenso bestimmte wie ungute Gefühl, dass uns manches davon derzeit wieder einholt? Oder können wir uns doch beruhigter, gelassener verhalten, weil es seit der Montanunion 1952 und den Römischen Verträgen von 1957 eben eine sich stetig weiter institutionalisierende Verflechtung gegeben hat und gibt, die das Einzigartige, in der politischen Ideengeschichte und Praxis Unvergleichliche der Europäischen Union bedingt? Unter diesen „Heimatlosen“ oder geistig obdachlos Gewordenen rekrutierte Nietzsche den „guten Europäer“, vielmehr: Er formte aus ihnen einen – freilich in sich widersprüchlichen Typus. Dieser „gute Europäer“ versteht sich als der Kulturerbe Europas, „überhäuft“ und „überreich“, dem Christentum entwachsen. Kaum dass Nietzsche den „guten Europäer“ aufgerufen hat, sieht er ihn auch sogleich zu einem „Wanderer“ werden mit seiner Entwurzelung, seiner Heimatlosigkeit im Gepäck. Der Vorstellung von Europa als einer „Wertegemeinschaft“ widerspricht Nietzsches guter europäischer Wanderer. In dessen Namen befand Nietzsche, „Europa“ dürfe gerade nicht eine „Summe von kommandierenden Werthurteilen“ sein. Gerade von ihnen gelte es sich zu befreien. (KSA 3, 633) Denn Nietzsche sieht in diesen vermeintlichen Werten eine Quelle für Vorurteile; und sie seien in eine Zone – eben „Jenseits von Gut und Böse“ – zu überführen, weil nur dort, in diesem diesseitigen Jenseits eine „Umwertung“ der Werte und mit ihr verbundener Urteile möglich sei. Nietzsche weiter: „Man muss sich von Vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt, hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst zu ‚überwinden‘ […].“ (KSA 3, 633). Um über Europa angemessen sprechen zu können, sucht Nietzsche die außereuropäische Perspektive, will in sich ein „übereuropäisches Auge“ bilden, eine neue Optik für einen alten Kontinent. So notiert er im Sommer/Herbst 1884: „Ich muß orientalischer denken lernen über Philosophie und Erkenntniß. Morgenländischer Überblick über Europa.“ (KSA 11, 234) Bereits drei Jahre zuvor zeichnete sich diese Tendenz zum eigenen Fremdblick auf Europa ab. Seinem Freund Heinrich Köselitz schreibt er im März 1881: Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen. Ich denke, eine solche Berechnung liegt nicht außerhalb meiner Lebensaufgabe. (KSB 6, 68)

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Es handelt sich hierbei um ein perspektivierendes Denkmuster, das Montesquieu mit seinen Lettres Persanes (1721) eingeführt hatte. Dieser darin zum Ausdruck gebrachte Kulturrelativismus gehörte zum rhetorischen Register der Aufklärung – auch in parodistischer Form, etwa bei Oliver Goldsmith in seiner Satire The Citizen of the World, or, Letters from a Chinese Philosopher (1760). Nietzsche machte sich diese „Welt-Perspektive“ zueigen, ja er fordert von sich, diese regelrecht „einzuüben“. (KSA 12, 222) Notiert finden sich diese Ansätze bei Nietzsche im Umfeld der Thesen zum „europäischen Nihilismus“ von 1887, wobei er einen Kerngedanken herausschält, der gerade einer solchen relativierenden Perspektivierung bedürfte, um entschärft zu werden: das Empfinden „umsonst“ zu arbeiten. Er stellt sich die Aufgabe, zu prüfen, ob dieses Umsonst „der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus“ sei und gleichzeitig sein „lähmendster Gedanke“. (KSA 12, 213). Und heute? Macht sich erneut unter Europäern eine paralysierende Unsicherheit breit, teilweise unterbrochen von hektischen Aktivitäten der Brüsseler Eliten, gefolgt von fatalistischer Passivität selbst bemühter Europäer, wenn es darum geht, die spätestens nach Maastricht für unmöglich gehaltene Desintegration der Europäischen Union sich tatsächlich vorzustellen? Dass wir heute mehr denn je dem Ideal eines liberalisierten Habsburgs als Modell für die Union nostalgisch nachhängen, belegt, wie Ivan Krastev meint, dass wir nur in der Lage sind, etwas zu schätzen, wenn wir es verloren haben. Noch besteht der Konsens unter Europäern, die Union zu erhalten, indem man sie von innen her umbaut, reformiert. Der Ungeist des Ethnolismus greift um sich in Europa. Leidvolle geschichtliche Erfahrung zeigt, dass selbst und gerade die zahlenmäßig kleinen Ethnien dazu tendieren, sich für autonom, wenn nicht autark zu halten, zur Aus- und Abgrenzung neigen und sich zu Nationalismen auswachsen. Von den baltischen Staaten bis zum Balkan und der iberischen Halbinsel, quer durch Deutschland bis Britannien ziehen sich sichtbare und unsichtbare Grenzen. Italien fürchtet eine Überfremdung von Nordafrika her und antwortet mit einer Rhetorik, die der ‚Hannibal-ante portas‘-Zeit der punischen Kriege entnommen sein könnte. Gleichzeitig vollzieht sich eine Hierarchisierung der Ethnien, die zu Ressentiments unter jenen führen, die sich – mit Nietzsche gesprochen – als die „Schlechtweggekommenen“ (KSA 6, 102) verhalten und oft darauf angewiesen sind, vom – sofern vorhanden – schlechten Gewissen der Privilegierten zu leben. Hier freilich ist die Grenze erreicht, unsere Suche nach dem guten Europäertum mit Nietzsche zu bereichern. Denn seine Götzen-Dämmerung denunziert das Christentum als „Umwerthung aller arischen Werthe“ und redet einer „Reinheit“ das Wort, die ihn die verräterische Bezeichnung „Mischmasch-Menschen“ prägen lässt und als „Tschandala“ (KSA 6, 100) diffamiert. Diese begriffliche Wendung führt uns scheinbar von unserer eigentlichen Thematik, dem Sinn des guten Europäers, weg. Denn im Umfeld Nietzsches ist „Tschandala“ einschlägig besetzt, und zwar durch Richard Wagners buddhistischen Opernentwurf Die Sieger, in dem ein positiv konnotiertes

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Tschandala-Mädchen nicht durch Liebe erlöst, sondern von der Liebe erlöst werden soll.5 Cosima Wagner berichtet in ihren Tagebüchern, dass Wagner sich zumindest gesprächsweise wieder im Mai 1870 mit dem Problem „Wiedergeburt in der Musik“ beschäftigt hatte – als Vorgriff auf die von ihm dann als Alterswerk geplante Oper.6 Unklar ist, inwiefern Nietzsche von Wagners buddhistischen Opernplänen Kenntnis hatte, aber es fällt hier die betonte Umwertung des Tschandala in einen negativen Ausdruck für Hybrides auf. Es ist das definitiv NichtEuropäische, das Wagner in seine mythisch-europäische Opernwelt aufnehmen wollte, was Nietzsche hier offenbar in einer späten Reaktion verwirft. Lässt sich hier bei Nietzsche ein latentes Konkurrenzverhältnis zu Wagners scheinbar integrativerem Verständnis von seinem Beitrag zur europäischen Kultur herauslesen? Es hat den Anschein, als würden wir peripherer in Europa, auch gespiegelt in dem Versuch, seine Randzonen zu verstehen, anstatt dort nur Zäune zu errichten, um unliebsame Zuwanderer auszugrenzen. Oder dämmert uns, dass wir – global gesehen – als Europäer selbst randständig werden? Wie der „Wanderer“ Nietzsches sehen wir uns dabei verpflichtet, entweder das Angestammte – und sei es nur zeitweise – zu verlassen oder uns mit jenen „Wanderern“ auseinanderzusetzen, die ihrerseits ihren eigenen Bereich aus welchen Gründen auch immer verlassen haben. Nietzsche fordert zudem ein „Überwinden der Zeit“ – und damit auch der eigenen „Zeit-Ungemässheit“. (KSA 3, 633) Nicht mehr „unzeitgemäße Betrachtungen“ hat er im Auge, sondern ein Außerhalb-von-der-Zeit-MoralStehen, um sie auf diese Weise umso schärfer in den Blick zu bekommen. Paradox gesagt, nach Nietzsche muss der ‚gute Europäerʻ in der Lage sein, Abstand zu sich selbst zu haben, jenseits von sich selbst stehen zu können, um dadurch in der Lage zu sein, über sich selbst zu verfügen. Dass nun Nietzsche gleichzeitig mit der Überwindung der „Zeit-Ungemässheit“ auch jene der „Romantik“ oder der romantischen Restbestände im geistigen Haushalt des Menschen fordert und dies ausgerechnet in einem Buch, das seinen Titel Die fröhliche Wissenschaft der Romantik verdankt, zeugt von seiner Lust an paradoxer Ironie. Oder findet sich ein versteckter Hinweis darauf, dass für ihn das europäische Bewusstsein aus wiederholter Selbstüberwindung bestand, einer Art Selbstnegation aus Selbstbehauptungswillen? Was es mit dieser Betonung des Jenseits-von-Sich-selbst-Stehens auf sich haben kann, deutete in Ableitung von Nietzsche Georg Simmel in seinem Text Die Idee Europas an, der seine Sammlung Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (1917) beschließt. Darin betont Simmel, das „Europäertum“ stehe „nicht zwischen den Nationen, sondern jenseits ihrer“ und sei daher „mit jedem einzel-

5Vgl.

App, Urs: Richard Wagner und der Buddhismus. Rorschach/Kyoto: UniversityMedia 2011, S. 229. 6Wagner, Cosima: Die Tagebücher in drei Bänden, Bd. 1: 1869–1873, hg. von Karl-Maria Guth. München: Piper Verlag 2015, S. 163 (Eintrag v. 1. Mai 1870).

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nen nationalen Leben ohne weiteres verbindbar.“7 Zudem befand er – angesichts der damaligen Weltlage schwerlich überraschend –, Europa habe den „Begriff des ‚guten Europäers‘ verspielt.“8 Das Internationale oder Kosmopolitische bezeichnete Simmel, begriffsskeptisch wie er war, als „wohlklingende Übertäubungen der Entwurzeltheit“, der nur mit einer Selbstvertiefung beizukommen sei.9 Ein Jahr zuvor hatte Simmel in einem in Wien gehaltenen Vortrag das „Zurückbleiben der Vervollkommnung der Personen hinter der der Dinge“ konstatiert und darin den „Selbstwiderspruch der Kultur“ erkannt, eine europaspezifische, inzwischen aber längst weltweite Art der Subjekt-Objekt-Spaltung innerhalb der kulturellen Entwicklung, die zu einer wachsenden „Zusammenhangslosigkeit“, also einer Fragmentierung des Bewusstseins führe.10 Der Mensch bleibt hinter dem zurück, was er durch seinen perfektionierenden Anspruch hervorgebracht hat. Gilt diese Formel nicht auch für das Projekt Europa? Bleiben wir in unserem Bewusstsein nicht gleichfalls hinter dem zurück, was die – zwar nicht vollkommenen, aber einzigartigen – Errungenschaften der Europäischen Union bereits darstellen? Man nehme allein den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa aus dem Jahr 2004, ein singuläres Dokument in der Geschichte unseres Kontinents,11 das nur in der Existenz des Euro als europäischer Einheitswährung ein allen Unkenrufen zum Trotz funktionsfähiges Instrument materieller Integration eine Entsprechung findet. Die Schwächen des Entwurfs sind bekannt und trugen dann auch dazu bei, dass er an Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte; doch führte gerade dieses Scheitern zu einer konstruktiven verfassungsrechtlichen Vereinbarung, dem Vertrag von Lissabon (2009) nämlich, der das für die europäische Integration so wesentliche Subsidiaritätsprinzip und damit eine bürgernähere Politik sowie die Autonomie der Europäischen Zentralbank stärkte. Dass wir aber überhaupt Anlass haben, diese Art von Europa-Diskursen führen zu können, hat hundert Jahre nach 1918 und den darauffolgenden faschistischen Verheerung des Kontinents im Grunde immer noch etwas Märchenhaftes. Aber gerade deswegen darf uns der Reformdiskurs über die Weiterentwicklung der Europäischen Union nicht in einen Pessimismus der Schwäche entgleiten. Der „gute Europäer“ bleibt – in Ableitung von Nietzsches ironischer Formel – der kritische, weil geschichtsbewusste Europäer. Eben dadurch begründet sich

7Simmel, Georg: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München/ Leipzig: Duncker & Humblot 1917, S. 69. 8Ebd., S. 71. 9Ebd. 10Ebd., S. 48. 11Abgedruckt u. a. in der regulären Ausgabe der Zeitung: Die Welt (09.07.2004), S. 1–15. Vgl. dazu auch die kritischen Kommentare von Köppel, Roger: Entfesselte Bürokratie, in: ebd., S. 1 und von Vaubel, Roland: Sieben Einwände. In zentralen Bereichen muss der vorliegende Verfassungstext noch verbessert werden, in: ebd., S. 16.

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R. Görner

aber auch die Zukunftsperspektive, die der „gute Europäer“ ebenso darstellt wie eröffnet. Als eine Art Übereuropäer nietzscheanischer Provenienz müsste er einen Zustand fortwährender Öffnung der Union aushalten und gestalten helfen. Bekanntlich ist Nietzsche in der langen Geschichte der Vorstellung vom Übermenschen der Einzige, der diesen Typus positiv gewertet hat.12 Der ins Europäische dimensionierte Übermensch Nietzsches ist dabei immer auch Transeuropäer und gleichzeitig ein Mensch, der die Idee der Renaissance immer wieder neu umzusetzen versteht, nämlich die einer beständigen Wiedergeburt von Zeitwirren übergreifendem Bewusstsein aus dem Geist der Kunst. Nietzsches „guter Europäer“ verwirft die koloniale Expansion, weil sie die kulturelle Vielfalt des Globus pervertiert. Im Sommer 1885 entwarf Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment sich selbst als „guten Europäer“ im Sinne eines übergreifenden Wertes, wenn er schreibt: Über alle diese nationalen Kriege, neuen „Reiche“ und was sonst noch im Vordergrund steht, sehe ich hinweg: was mich angeht – denn ich sehe es langsam und zögernd sich vorbereiten – das ist das Eine Europa. Bei allen umfänglicheren und tieferen Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammtarbeit ihrer Seele, jene neue Synthesis vorzubereiten und versuchsweise „den Europäer“ der Zukunft vorwegzunehmen: nur in ihren schwächeren Stunden, oder wenn sie alt wurden, fielen sie in die nationale Beschränktheit der „Vaterländer“ zurück –, dann waren sie Patrioten. (KSA 11/583, Nachlaß Juni – Juli 1885, 35 [9])

Bemerkenswert ist hierbei, dass er im „guten Europäer“ seiner Zeit denjenigen ausmacht, der diese Einheit antizipiert und zudem von der ökonomischen Notwendigkeit zur europäischen Einigung ausgeht: „Das Geld allein schon zwingt Europa, irgendwann sich zu Einer Macht zusammen zu ballen.“ (Ebd., S. 584) Zudem erkennt er, dass sich Kolonialreiche wie vor allem England überhoben haben: „Niemand nämlich glaubt mehr daran, daß England selber stark genug sei, seine alte Rolle nur noch fünfzig Jahre fortzuspielen […].“ (ebd.) Der Angloskeptiker Nietzsche versuchte sich in diesem Notat selbst davon zu überzeugen, dass es, wie er schreibt, „Europa wahrscheinlich nöthig“ habe, „sich ernsthaft mit England ‚zu verständigenʻ.“ Im Kontext seiner Zeit konnte er sich noch nicht vorstellen, dass es einmal umgekehrt sein könnte und England es noch nötiger haben könnte, sich mit Europa auf neue Weise zu verständigen. Der Feststellung Nietzsches, die auf diese Vermutung folgt, verweigern wir jedoch die Gefolgschaft. Er schreibt nämlich: „Für die Aufgaben der nächsten Jahrhunderte

12Vgl. dazu u. a. Knoll, Manuel: The Übermensch as Social and Political Task: A Study in the Continuity of Nietzsche’s Political Thought, in: Manuel Knoll, Barry Stocker (Hg.): Nietzsche as Political Philosopher. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 239–266; Schmieder, Carsten: Contra culturam: Nietzsche und der Übermensch, in: Andreas Urs Sommer (Hg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Berlin/New York: De Gruyter 2008, S. 97–102.

Überlegungen zum ‚guten Europäer‘ in der Phase des Brexismus

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sind die Arten ‚Öffentlichkeit‘ und Parlamentarismus die unzweckmäßigsten Organisationen.“ (ebd.). Zwar erleben wir gerade wieder, was die Manipulation der Öffentlichkeit an politischem Flurschaden anrichten kann und was es bedeutet, wenn der vermeintliche britische Volkswille in einem einzigen grundlos initiierten und unzulänglich vorbereiteten Referendum über eine Schicksalsfrage eines ganzen Staatswesens entscheidet, seit über zwei Jahren als Legitimation für eine chaotische Regierungspolitik in Sachen Brexit herhalten muss und von ihr als unkorrigierbares letztes Wort dargestellt worden ist. Aber ‚Europa‘ braucht Öffentlichkeit und sein Parlamentarismus bleibt das probateste Instrument, um diese Union weiter mosaikhaft zu gestalten. Der „gute Europäer“ heute erinnert sich geschichtlicher Zusammenhänge und ihrer künftigen Bedeutung. Wenn Robert Menasse im Hauptstadt-Roman davon spricht, dass es Zusammenhänge gegeben haben müsse, wenn etwas zerfällt,13 dann liegt es nahe, an neuartigen Integrationsformen zu arbeiten, die neue Zusammenhänge bewirken, fördern oder abbilden können. Das hat mit jener Renaissance viel gemein, die wir zuvor eine Wiedergeburt eines Zeitwirren übergreifenden Bewusstseins aus dem Geist der Kunst genannt haben. Andere sprechen treffend von einer „Ästhetik der narrativen Integration“,14 bestehend aus den Lebenszusammenhängen von Brüsseler Bürokraten im Falle von Menasses Roman oder von Flucht- und Vertreibungsgeschichten, vom Erzählen über geglückte und gescheiterte Integrationsversuche, das seinerseits – paradox genug – Gemeinschaft stiften kann, wie es einst die Märchen vermochten. Dabei versteht es der „gute Europäer“, solche Narrative spannungsvoll in Beziehung zu setzen zu den politischen Gegebenheiten, den unzweifelhaften institutionellen Errungenschaften dieser Europäischen Union. Der Anspruch dieser Union ist unvergleichlich hoch, und er muss es sein, weil er weiterhin auf Abgründe zu antworten hat, die zum Europäischen seit mythischen Zeiten gehören. Nietzsche vermutete, dass Europa letztlich ein Elitenprojekt sei, eben weil sein Anspruch die Menschen überfordere. Aber es gibt sie nicht, die Menschen, nur den Einzelnen, der sich in einer Gemeinschaft bewegt und sich zu ihr verhält; und er ist bildungsfähig, damit begabt, Zeichen zu deuten. Wenn Nietzsche in seinem letzten am Dreikönigstag 1889 in Turin geschriebenen Brief, gerichtet an den Kulturhistoriker der Renaissance, Jacob Burckhardt, halb reflektiert, halb wahnhaft intuitiv europäische Kontexte aufwirft – von Turin bis Basel, von Moskau bis Rom und Paris und dann im Postscriptum „Ariadne“ aufruft, dann ist damit wohl nicht nur „Frau Cosima“, also die imaginierte Geliebte, Cosima Wagner, gemeint. Mit diesem Namen scheint in Nietzsches Brief noch einmal sein mythologisches Bewusstsein auf, sein Wissen um die Enkelin der bildschönen Europa, deren im Labyrinth – oder Griechisch methódos – gelegter Faden

13Menasse, 14Seeba

Robert: Die Hauptstadt. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, S. 401. 2018, S. 133.

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als Leitfaden das Emblem der Hermeneutik werden sollte. Nietzsche, in diesem Sinne „guter Europäer“ bis zuletzt, hatte mit dem als Namensstichwort belassenen Aufruf „Ariadne“, einer Art mythologischem Reflex, das Orientieren im Labyrinth des Ichs und in dem seiner europäischen Kultur gemeint. Nichts ist wertvoller geblieben als dieser Leitfaden zur deutenden Erschließung unseres europäischen Bewusstseins vor globalem Hintergrund.

Literatur App, Urs: Richard Wagner und der Buddhismus. Rorschach/Kyoto: UniversityMedia 2011. Knoll, Manuel: The Übermensch as Social and Political Task: A Study in the Continuity of Nietzsche’s Political Thought, in: Manuel Knoll, Barry Stocker (Hg.): Nietzsche as Political Philosopher. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 239–266. Krastev, Ivan: After Europe, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2017, S. 43. Menasse, Robert: Die Hauptstadt. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1988, S. 628–631. Schmieder, Carsten: Contra culturam: Nietzsche und der Übermensch, in: Andreas Urs Sommer (Hg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Berlin/New York: De Gruyter 2008, S. 97–102. Seeba, Hinrich C.: „Das moralische Gewissen Europas“. Stefan Zweig und Robert Menasse, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9 (2018), H. 1, S. 119–136. Simmel, Georg: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München/ Leipzig: Duncker & Humblot 1917. Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin: Duncker & Humblot 2018. Wagner, Cosima: Die Tagebücher in drei Bänden, Bd. 1: 1869–1873, hg. von Karl-Maria Guth. München: Piper Verlag 2015, S. 163.

Teil V

Europabilder im Film und der Gegenwartsliteratur – Utopien und Dystopien

Europa als Utopie und Dystopie in den Filmen von Jean-Luc Godard und Lars von Trier Henry Keazor

Der 2015 von dem russischen Regisseur Alexander Soukorov vorgelegte Film Francofonia handelt von der im Juni 1940 erfolgten deutschen Besetzung von Paris, der damit gegebenen Bedrohung von in den französischen Sammlungen und Museen wie z. B. dem Louvre aufbewahrten Kunstwerken sowie von dem Verhältnis zwischen dem deutschen „Kunstschutz“-Beauftragten Franz Graf WolffMetternich und dem französischen Louvre-Direktor Jacques Jaujard. Soukorov nutzt diese Ereignisse, Konstellationen und Figuren, um anhand von ihnen über die Rolle und die Funktion von Museen zu reflektieren. Deren Bestände werden von ihm letztendlich als identitätsstiftend dargestellt, was er konkret an der Gattung des Portraits aufzuzeigen versucht, das ihm zufolge ebenso typisch wie prägend für die europäische Kultur ist: Während er mit den Werken von der Hand des Malers Corneille de Lyon entsprechende Beispiele aus der heute im Louvre zu sehenden Portraitkunst des 16. Jahrhunderts zeigt (Abb. 1 a−d), fragt sich Soukorov aus dem Off, was aus der europäischen Kultur ohne die Gattung des Portraits geworden wäre. Dessen Bedeutung sieht er u. a. darin, dass es jeden einzelnen Menschen dazu anhält, die eigene Existenz und Stellung im Leben zu relativieren, da die Bildnisse anderer Menschen daran erinnerten, dass es bereits lange vor dem eigenen Dasein andere Existenzen gegeben habe. Diese Einsicht bewirke Demut, zumal diese anderen, früheren Menschen vielleicht mehr und Bedeutenderes erreicht und geschaffen hätten als die eigene Generation. Soukorov fragt sich daher u. a. selbst, wer er geworden wäre, wenn er nicht in die Augen der von den Malern der Frühen Neuzeit dargestellten Portraitierten hätte schauen können. Zugleich nimmt der Regisseur dies zum Anlass, sich zu fragen, woher dieser Drang der Europäer

H. Keazor (*)  ZEGK – Institut für Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_10

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Abb. 1  a−b Screenshots aus: Alexander Soukorov: Francofonia, 2015, c−d: Corneille de Lyon (Werkstatt): Porträt des Clément Marot, Paris, Louvre, ca. 1550, sowie Unbekannter Maler des 16. Jahrhunderts: Porträt eines Paares, Paris, Louvre

rühre, einzelne Personen und deren Gesichter festzuhalten und ob es sich bei dem Portrait um eine typisch europäische Gattung handele, die in anderen Kontexten, wie z. B. dem der Muslime, noch unerforscht sei.1 Es wird mithin deutlich, dass Soukorov im Europäischen einen gemeinsamen Nenner sieht – und der hierbei von ihm als konkretes Beispiel ausgewählte Künstler Corneille de Lyon ist dafür in der Tat nicht ganz unpassend, da er zwischen 1500 und 1510 in Den Haag geboren wurde,2 1575 aber in Lyon starb, nachdem er von den Niederlanden nach Frankreich gegangen war und dort als Porträtist der Königsfamilie, Hausmaler und schließlich Hofmaler Karriere gemacht hatte. Damit ist eine bei Künstlern in der Frühen Neuzeit durchaus übliche Laufbahn beschrieben, denn der Europa

1Soukorov, Alexander:

Francofonia, DVD. Paris: Ideale Audience, 2015, 00:12:05–00:12:27. wird daher auch Corneille de la Haye bzw. Cornelis van Den Haag genannt – zu ihm vgl. Dubois de Groer, Anne: Corneille de La Haye dit Corneille de Lyon. Paris: Arthena 1996.

2Er

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durchziehende Künstler, der somit eventuell kulturelle Eigenheiten des eigenen Herkunftslandes in ein anderes Land brachte, war bereits zu dieser Zeit in den verschiedenen Künsten keine Seltenheit mehr, wie man z. B. auch an dem um 1370−1375 in Lüttich geborenen Komponisten Johannes Ciconia sehen kann, der wohl ab 1391 in Italien lebte und arbeitete und im Juli 1412 in Padua starb: Als einer der ersten Niederländer, die in Italien wirkten, weisen seine Kompositionen eine eigentümliche Synthese aus niederländischen und italienischen Stilelementen auf.3 Freilich darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zur gleichen Zeit durchaus auch eine nationale Fokussierung im Blick auf die Künste gab: Der italienische Maler und Biograph Giorgio Vasari konzentrierte sich 1550 in der ersten Auflage seiner Lebensbeschreibungen bedeutender Künstler, der Vite deʼ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, noch auf seine italienischen Landsleute – eine Spezifizierung, die er dann 1568 bei der zweiten Auflage wegließ, die zwar unter dem weiter gefassten Titel Le vite deʼ più eccellenti pittori, scultori, e architettori verlegt wurde, gleichwohl aber, wie die vorangegangene Ausgabe, vor allem von italienischen Künstlern handelte.4 Rund 100 Jahre später änderte sich dies mit den 1672 von Giovan Pietro Bellori verfassten Vite deʼ pittori, scultori et architetti moderni, in denen nicht nur, wie es der Titel verheißt, die „moderni“, d. h. die zeitgenössischen Künstler, in den Blick genommen werden, sondern dabei auch über die Grenzen Italiens hinweggeschaut wird:5 Unter den zwölf Biographien Belloris finden sich nun „nur“ noch acht Italiener, die anderen vier stellen Franzosen, Niederländer und Flamen vor. Belloris implizites Auswahlprinzip für diese ‚europäischen‘ Künstler ist nun weniger ihre Herkunft als vielmehr ihr Verhältnis zu Rom, das hier (noch) als Zentrum der Künste gesehen wird:6 In Rom und an den in Rom versammelten Antiken und Meisterwerken muss sich der moderne Künstler schulen, um im Abgleich mit der Natur die Kunst aus der Krise des sie seit dem späten 16. Jahrhundert schwächenden Manierismus zu führen. Die von den verschiedenen Künstlern aus ihren jeweiligen Herkunftsländern mitgebrachten Qualitäten sollen

3Zu ihm vgl. u. a. Vendrix, Philippe (Hg.): Johannes Ciconia: musicien de la transition. Turnhout: Brepols 2003. 4Vgl. Vasari, Giorgio: Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani. Florenz: Torrentino 1550 und ders.: Le vite de’ più eccellenti pitori, scultori, e architettori. Florenz: Giunti 1568. 5Bellori, Giovan Pietro: Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni. Rom: Mascardi 1672. 6Hintergrund dieser Öffnung hin auf eine europäischere Perspektive ist sicherlich auch der Umstand, dass Frankreich sich in dieser Zeit unter Ludwig XIV. dazu anschickte, Italien im Allgemeinen und Rom im Besonderen als Zentrum der europäischen Kunst abzulösen – dass Bellori diese Entwicklung bewusst war und er darauf zu reagieren versuchte, wird an dem Umstand deutlich, dass seine auf Italienisch verfassten Lebensbeschreibungen dem französischen Finanzminister Jean-Baptiste Colbert gewidmet sind – was konkret auch bedeutet, dass Bellori von ihm finanzielle Unterstützung für die Publikation erhielt.

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hier also mit den genuin römischen Errungenschaften im Rahmen einer Synthese die Kunst zu neuen Höhen führen und diese sodann sichern.7 Eine ganz ähnliche Idee stand dann später auch hinter einer Passage des italienischen Universalgelehrten, Philosophen, Dichters, Schriftstellers, Kunstkritikers und Kunsthändlers Francesco Algarotti, der am 24. Juni 1736 an Bernard le Bovier de Fontenelle, seines Zeichens „Secrétaire perpétuel“ der Académie des Sciences in Paris, schrieb: In der Tat sollten die Reisenden Gewerbsleute des Geistes und Austauschhändler der gegenseitigen Reichtümer sein, in denen eine Nation schon weiter fortgeschritten ist als eine andere. Glücklich die Gesellschaft, in der die italienische Fantasie sich mit englischer Gelehrsamkeit und französischer Kultur sich in einem neuen Tales oder einem neuen Platon vereinigen kann!8

Solche Worte nehmen ein Stück weit vorweg, was der deutschbaltische Philosoph Graf Hermann Keyserling 1928 in seinem Buch Das Spektrum Europas formulierte, wenn er Europa als „von Hause aus eine Einheit“ betrachtet, die „aus bestimmten, notwendig hineingehörigen, sich gegenseitig ergänzenden Komponenten zusammengesetzt“ sei.9 Europäische Kultur wird hier also nicht etwa als ein einziger, einheitlicher und verpflichtender Stil in Denken und Schaffen verstanden, sondern vielmehr als ein Konzert von vielen Ansätzen und Stimmen, die immer wieder, wie von Algarotti in seinem eingangs zitierten Lob entworfen, in stets neuen Konstellationen zueinander in Beziehung treten, sich in ihren komplementären Unterschieden gegenseitig bereichern, verstärken, herausfordern und vorantreiben. Ebendieser Gedanke einer Kunst als „concordia discors“, als ein einendes Prinzip Europas, kann auch als implizit hinter Jean-Luc Godards 1982 gedrehtem Film Passion stehend ausgemacht werden. Er erzählt von dem Regisseur Jerzy, der einen Film drehen möchte, in dem zehn der berühmtesten europäischen Gemälde vom 17. bis zum 19. Jahrhundert vor der Kamera nachgestellt werden sollen. Bei den hierfür ausgewählten Bildern handelt es sich um Rembrandts Nachtwache (Amsterdam, Rijksmuseum, 1642) 7Vgl.

dazu u. a. Keazor, Henry: „il vero modo“. Die Malereireform der Carracci. Berlin: Gebr. Mann 2007, S. 15–46. 8Opere del Conte Algarotti. Edizione Novissima, Tomo 9: Lettere Varie – Parte Prima. Venezia: Palese 1794, S. 11–20, hier S. 18–19: „E nel vero dovrebbono i viaggiatori essere i trafficanti dello spirito, e i concambiatori delle mutue dovizie, onde anco in questo fatto è una nazione avvantaggia più che un’altra. Felice quella società, dove la fantasia italiana col sapere inglese, e colla francese cultura per alcun novello Talete o Platone innestar se potesse.“. 9Keyserling, Graf Hermann: Das Spektrum Europas. Heidelberg: Niels Kampmann 1928, S. 15. Keyserling dekliniert sodann in elf Kapiteln den jeweiligen Beitrag von England, Frankreich, Spanien, Deutschland, Italien, Ungarn, der Schweiz, den Niederlanden, Schweden, dem Baltikum und dem Balkan zu dem Spektrum durch, dessen Synthese er in dem letzten, „Europa“ überschriebenen Abschnitt zieht. Zu der hinter dieser Idee stehenden weiteren Tradition vgl. u. a. Dietmar Pfeil: „Concordia discors”. Anmerkungen zu einem politischen Harmoniemodell von der Antike bis in die Neuzeit, in: Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand, Klaus Speckenbach (Hgg.): Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters (Münsterische MittelalterSchriften, Band 51), München: Wilhelm Fink 1984, S. 401–434

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sowie vier Gemälde von der Hand Francisco Jose de Goyas: seine Nackte Maya (Madrid, Prado, 1797), die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 (Madrid, Prado, 1814), sein Gruppenporträt der Familie Karls IV. (Madrid, Prado 1798) sowie seinen Sonnenschirm (El Quitasol: Madrid, Prado, 1777).10 Des Weiteren filmisch nachinszeniert werden Jean Auguste Dominique Ingres‘ Le Bain Turc (Paris, Louvre, 1862), Eugène Delacroix‘ Einnahme Istanbuls durch Kreuzritter (Paris, Louvre, 1840) sowie Jakobs Kampf mit dem Engel (Paris, SaintSulpice, Kapelle der Heiligen Engel, 1857/1861), El Grecos Himmelfahrt Mariae (Toledo, Museo de Santa Cruz, 1607/1613) sowie Antoine Watteaus Einschiffung nach Kythera (interpretiert in drei Gemälden: Frankfurt a. M., Städel, 1710, Paris, Louvre, 1717 und Berlin, Schloss Charlottenburg, 1718 – wie es die in Godards Film für die Nachinszenierung des Gemäldes notwendige Schiffskulisse verdeutlicht,11 bezieht sich Jerzys Vorhaben offenbar auf die letztgenannte Version). Ähnlich wie in Belloris Vite gibt es also zwar einen gewissen Schwerpunkt auf der Kunst eines Landes (in diesem Fall – mit Goya und El Greco – Spanien), aber um diesen herum gruppieren sich sodann Beispiele ebenfalls sehr gut vertretener französischer und, durch ein berühmtes Spitzenwerk repräsentiert, niederländischer Malerei. Das erklärte Ziel Jerzys in dem Film ist es, das Licht auf diesen Gemälden filmisch einzufangen – allerdings scheitert er mit diesem Unterfangen, da das für die Aufnahmen gesetzte künstliche Licht immer falsch erscheint. Hinzu kommt, dass die nachgestellten Bilder immer wieder als gestört gezeigt werden, wenn aus jeweils anderen Gemäldekontexten stammende Figuren durch sie hindurchlaufen oder aber sich anachronistisch moderne Gegenstände in den Blick schieben, wobei auffällt, dass einzig die Nachinszenierung von Rembrandts Nachtwache weitestgehend von solchen Eindringlingen verschont bleibt. Der Filmkritiker und Godard-Spezialist Colin MacCabe hat dieses Scheitern dahingehend gedeutet, dass Godards eigener Film an dem Unterfangen des darin gezeigten Regisseurs Kritik übe. Über der Fixierung auf das Nachstellen der Gemälde versäume es der Regisseur, die Alltagsschönheiten um sich herum zu bemerken: Das Licht des Genfer Sees, das von der Kamera eingefangen werde, die Gesichter der DarstellerInnen, das Geschehen um die Menschen herum.12 Allerdings ist fraglich, ob damit wirklich die Intention Godards korrekt erschlossen ist. Denn wenn es auch sicher richtig ist, dass das Licht in der nach-

10Paech,

Joachim: Passion oder die EinBILDungen des Jean-Luc Godard. Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum 1989, S. 14 identifiziert hier als Vorbild wohl zu Unrecht das GoyaGemälde Der Brief (oder Die Jungen, Lille, Palais des Beaux-Arts) von 1814/1819, das jedoch sowohl motivisch als auch farblich von dem im Film nachgestellten Gemälde abweicht, bei dem es sich eindeutig um Der Sonnenschirm handelt. Auch Vancheri, Luc: Cinéma et peinture. Paris: Armand Colin 2007, S. 119 geht davon aus, dass im Film letzteres Gemälde nachinszeniert wird. 11Godard, Jean-Luc: Passion, DVD. Berlin: Arthaus 2010, 01:22:46–01:23:52. 12Ebd., Extra: Einführung zum Film von Colin MacCabe: 00:02:05–00:02:18. Vancheri 2007, S. 115 bringt demgegenüber die Spannung zwischen dem von Godard selbst gedrehten und von ihm gezeigten Film besser auf den Punkt, wenn er schließt: „Jerzy échoue peut-être à réaliser son film, mais Godard réussit le sien.“.

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gestellten Nachtwache von dem Regisseur als „falsch“ bezeichnet und dem dann von Godard mittels eines Gegenschnitts eine Aufnahme das See-Lichts gegenübergestellt wird,13 so erklärt MacCabes Deutungsversuch nicht, wieso, wenn an dem Vorhaben Jerzys generell Kritik geübt werden soll, just die Nachtwache das einzig ‚ungestörte‘ Bild des Unternehmens ist. Tatsächlich nämlich scheint Godards Passion eine andere Absicht zu verfolgen, die an einem Punkt des Films auch von Jerzy indirekt artikuliert wird, wenn er gegen die permanente Frage nach der von seinem Film erzählten Geschichte aufbegehrt, da er sich gegen die Erwartung wehrt, dass Bilder und Filme immer Geschichten erzählen müssten – ihm zufolge ist vielmehr die hinter den Werken stehende Idee das Entscheidende.14 MacCabe hat hierbei ganz richtig beobachtet, dass Godards Film genau betrachtet zu viele und zugleich zu wenige Geschichten erzählt.15 Denn Passion verflicht drei Erzählstränge ineinander: zum einen den der Dreharbeiten zu Jerzys Film, sodann Szenen, welche von der Beziehung des Mannes, in dessen Hotel die Filmcrew wohnt, zu seiner Ehefrau handeln, und schließlich den des Schicksals einer jungen rebellischen Arbeiterin, der gekündigt wurde und die nun ihre KollegInnen zum Streik aufruft. Dass die drei Erzählstränge einander nicht nur durchdringen, sondern sich in ihren Themen auch immer wieder ineinander reflektieren, wird deutlich, wenn sich die von der Arbeiterin eingeklagte Solidarität in einem Statements Jerzys spiegelt, der sich tatsächlich aber über die mögliche Qualität von Filmbildern äußert: „Ein Bild ist nicht stark, weil es brutal oder fantastisch ist, sondern, weil die Solidarität der Ideen weitreichend und gerecht ist.“16 Bei ebendiesen vielen Geschichten, die sich so überlagern und kreuzen, dass sich schließlich gar keine rechte Handlung mehr einstellt, ist aber offenbar just Rembrandts Nachtwache das Vorbild (Abb. 2): Während die meisten der von Jerzy ausgesuchten Gemälde eine Geschichte erzählen, ist Rembrandts Bild insofern eher die Verkörperung einer Idee, als es, wie Godards Film auch, zu viele und damit am Schluss gar keine Geschichten mehr erzählt: Denn um sein Schützengilden-Porträt lebendig gestalten zu können, wich Rembrandt von der üblicherweise gepflegten Tradition ab, die einzelnen Mitglieder der Gruppe klar erkennbar und daher in Form einzelner parataktisch gereihter Konterfeis zu einer Szene zu summieren – stattdessen war er bestrebt, sie im Moment ihres Aufbruchs in einem scheinbar ungeordneten, Spontaneität suggerierenden Modus festzuhalten, der freilich auf Kosten der Klarheit der dargestellten Handlung und vor allem der Erkennbarkeit der einzelnen Porträts geht: Das uneinheitliche Kleidung aufweisende Bildpersonal scheint in verschiedene Richtungen zu streben, Details wie der verschattete bellende Hund unten rechts oder die beiden hell ausgeleuchteten,

13Ebd.,

00:06:22–00:07:12 mit dem Dialog aus dem Off: „Ça ne va pas. […] C’est la lumière.“. 00:28:45 mit der Frage Jerzys: „Pourquoi faut-il toujours une histoire?“ Vgl. zu diesem Aspekt auch Paech 1989, S. 11–12. 15Ebd., Extra: Einführung zum Film von Colin MacCabe: 00:01:43–00:01:46. 16Ebd., 00:30:49–00:30:65. Im Original: „Une image n’est pas forte parce qu’elle est brutale ou fantastique mais parce que la solidarité des idées est lointaine et juste.“. 14Ebd.,

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Abb. 2  Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Die Nachtwache, Rijksmuseum, Amsterdam, 1642

reich gekleideten Mädchen links, von denen das hintere verdeckt wird, lenken von dem ohnehin schon schwer zu überblickenden Hauptgeschehen ab, und von einigen Gesichtern der Gilde-Mitglieder sind lediglich Ausschnitte zu sehen. All dies wurde schon von den Zeitgenossen Rembrandts so empfunden, wie die Kritik Samuel van Hoogstratens, eines früheren Schülers von Rembrandt, in seinem 1678 erschienenen Buch Inleydingh tot de Hooge Schoole der Schilderkonst (Einführung in die Hohe Schule der Malkunst) dokumentiert: Die echten Meister bringen es fertig, dass ihr Werk einem einheitlichen Gedanken unterworfen wird […]. Das hat Rembrandt in seinem Stück im Schützenhaus von Amsterdam sehr wohl, nach der Meinung vieler zu stark getan, indem er sich mehr um das große Bild seiner Gesamtkonzeption kümmerte als um die einzelnen Portraits, die ihm aufgetragen waren. Und doch wird dieses Bild, sei es auch noch so angreifbar, meiner Meinung nach alle Werke seinesgleichen überdauern, weil es so malerisch konzipiert, so kompliziert in der Komposition und so kräftig ist, dass sich nach dem Eindruck vieler alle anderen

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Schützenstücke wie Kartenblätter ausnehmen. Wenn ich auch gewollt hätte, dass er etwas mehr Licht in das Bild gebracht hätte.17

All dies findet sich nun in Godards Passion umgesetzt: Wie Rembrandts Nachtwache erzählt der Film keine einzelne Geschichte, sondern folgt der Idee, den Menschen bei ihrem Treiben zuzuschauen. Zugleich findet sich in Hoogstraatens Kritik ja auch das besondere Licht betont, das Jerzy nachzustellen versucht und das in den aus dem Off eingespielten Dialogen während der Dreharbeiten zu der Nachtwachen-Nachinszenierung immer wieder explizit thematisiert wird: • Monsieur Bonnel, was ist das für eine Geschichte?18 • Weil die Komposition voller Löcher und schlecht ausgenutzter Räume ist. Schauen Sie sich weder den Aufbau noch die Szenen näher an. Machen Sie es wie Rembrandt: Schauen Sie den Menschen aufmerksam zu. Schauen Sie langsam auf die Lippen und in die Augen. […]. • Monsieur Coutard, was ist das für eine Geschichte?19 • Das ist keine Geschichte, es ist alles korrekt ausgeleuchtet, von links nach rechts, ein wenig von oben nach unten und etwas von vorne nach hinten. Das ist keine Nachtwache, sondern eine Tagwache, von einer schon tiefstehenden Sonne erhellt. Schauen Sie, Monsieur, wie an der Stelle, an der sich das Licht befindet, in einer dunkleren Ecke der Leinwand, da, im Hintergrund, zwischen dem Mann in Rot und dem Capitano in Schwarz, es noch viel mehr Energie ausströmt, weil der Kontrast so stark ist. Ohne äußerste Sicherheitsvor-

17Hoogstraten,

Samuel van: Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst. Rotterdam: François van Hoogstraten 1678, S. 176 – im Original: „De rechte meesters brengen te weeg, dat haer geheele werk eenwezich is […]. Rembrant heeft dit in zijn stuk op den Doele zeer wel [gedaan], maer na veeler gevoelen al te veel, waergenomen, maekende meer werks van het groote beelt zijner verkiezing, als van de byzondere afbeeltsels, die hem waren aenbesteet. Echter zal dat zelve werk, hoe berispelijk, na mijn gevoelen al zijn meedestrevers verdueren, zijnde zoo schilderachtich van gedachten, zoo zwierich van sprong, en zoo krachtich, dat, nae zommiger gevoelen, al d’andere stukken daer als kaerteblaren nevens staen. Schoon ik wel gewilt hadde, dat hy’er meer lichts in ontsteeken had.“ Ebendort (S. 190) lobt van Hoogstraten die Nachtwache aber auch und empfiehlt sie als Musterbeispiel für Gruppenporträts gerade wegen der scheinbar so zufälligen Verteilung ihrer Figuren: „Achte auf eine angenehme Staffelung, also eine geschickte aber scheinbar zufällige Anordnung der Figuren, so dass man sie sozusagen nicht alle mit einem Hieb enthaupten könnte – wie in manchen Schützenstücken“. Im Original: „Neem een aerdige sprong waer, dat is een welkunstige, maer in schijn ongemaekte plaetsing uwer beelden: op dat menze niet, bij wijze van spreeken, al te gelijk (als in sommige Doelstukken) de hoofden kan afslaen“. 18Paech 1989, S. 11 weist darauf hin, dass es bei ihm um den Regieassistenten Patrick Bonnel handelt. 19Paech 1989, S. 11 weist darauf hin, dass es sich hierbei um den Kameramann Raoul Coutard handelt.

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kehrungen hätte eine Explosion dieses zufälligen Lichts genügt, um das ganze Gemälde in Unordnung zu stürzen.20 Die Äußerungen machen deutlich, dass es Rembrandt diesem Verständnis zufolge nicht so sehr um eine in sich geschlossene Komposition oder gar eine erzählte Geschichte als vielmehr um die Umsetzung einer einheitlichen Idee sowie um die aus der gewählten Farbzusammenstellung resultierende Energie geht, die aus einem Kontrast gewonnen wird. Godard inszeniert diesen Kontrast mit Hilfe der Montage nach, wenn er gleich darauf hart von einem Personenporträt auf eine Landschaft und dabei zugleich vom Dunklen zum Hellen schneidet.21 Diese Sequenz illustriert zugleich anschaulich, wieso und inwiefern Rembrandt ein Vorbild für den modernen Filmkünstler sein kann: Dem Maler gleich muss er sich fragen, wie er mit seinen Bildern umgeht. Insofern geht es bei Jerzys Versuch offenbar letzten Endes nicht mehr darum, die bereits existierenden Gemälde mit den Mitteln des Films zu verdoppeln, sondern sie laufen auf ein Ausprobieren, ein Experimentieren mit genuin filmischen Mitteln hinaus: So kann hierbei an die Stelle des von dem Maler einzunehmenden, fixen Blickpunktes die bewegliche Kamera treten, welche unterschiedliche Positionen einnehmen, über den Bildraum hinwegstreifen oder aber auch in ihn hineinfahren kann. Hinzu kommt, dass nicht nur die Kamera, sondern auch das Bildpersonal mobil sein kann. Durch all dies werden verschiedene Übergänge möglich: zum einen zwischen den Gemälden – in Passion wird so z. B. ein Transit zwischen Goyas Gemälden ermöglicht, indem die Protagonistin seines Sonnenschirm-Bildes durch die Szenerie der Nackten Maya hin zur königlichen Familie flaniert (Abb. 3 a–b). Aber nicht nur zwischen den Werken ein und desselben Künstlers werden Übergänge geschaffen, sondern z. B. auch dank eines Kameraschwenks zwischen El Grecos Himmelfahrt Mariae und Delacroix‘ Jakobs Kampf mit dem Engel. Letzteres entsteht sogar erst aus einer Passage von der Kunst in das Leben bzw. umgekehrt, wenn Jerzy, in seiner Eigenschaft als Regisseur des von ihm gedrehten Films, mit einem Male mit einem als Engel kostümierten Darsteller zu ringen

20Godard:

Passion: 00:04:13–00:06:17. Im Original: - „Monsieur Bonnel, que’est-ce que c’est cette histoire? - C’est parce que cette composition est pleine de trous d’espaces mal occupés. N’examinez sévèrement ni la construction, ni les plans. Faites comme Rembrandt: regardez les êtres humains attentivement, longuement, aux lèvres et dans les yeux. […] - Qu’est-ce que c’est que cette histoire, Monsieur Coutard? - Il n’y a pas d’histoire. Toute est correctement éclairée, de gauche à droite, un peu d’haut en bas, un peu d’avant et en arrière. Ce n’est pas une ronde de nuit, mais une ronde de jour, éclairée par un soleil déjà bas sur l’horizon. Notez, Monsieur, que la place qu’elle occupe dans l’un des coins sombres de la toile, un peu en bas au second plan, entre un homme en rouge foncé et le capitaine habillé en noir, cette lumière excentrique a d’autant plus d’activité que le contraste avec ce qui l’avoisine est plus subit et que sans des précautions extrêmes, il aurait suffit que cette explosion de lumière accidentelle pour désorganiser tout le tableau.“. 21Ebd., 00:06:38–00:07:12.

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Abb. 3  a−c Screenshots aus Jean-Luc Godard: Passion, 1982

beginnt, der dem Kontext des nachinszenierten El Greco zu entstammen scheint (Abb. 4). Auch von der Protagonistin aus Goyas Sonnenschirm wird angedeutet, dass sie einen Transit von der Kunst in den Alltag vollzieht, wenn sie später im Film mit einem (geradezu im Komplementärkontrast zu dem von ihr gehaltenen grünen Sonnenschutz) roten Schirm durch die graue, außerfilmische Realität zu wandern scheint (Abb. 3 c).22 Sie wie Jerzy selbst vollziehen damit jenen Übergang von der Kunst in das Leben, den der Regisseur als Lehre aus Rembrandts Nachtwache gezogen hat. Er wird zudem auch auf einer formalen Ebene dadurch umgesetzt, dass Godard immer wieder Bezüge mit Hilfe von Bild- und Ton-Montagen stiftet, etwa, indem er – jenseits der visuellen Verknüpfungen zwischen dem Licht des Genfer Sees und dem in Rembrandts Nachtwache – Filmscheinwerfer zu den Lichtquellen in privaten Wohnungen in Beziehung setzt23 oder auf Rembrandts Gemälde gemünzte, aus dem Off erklingende Sätze so mit den Filmbildern kombiniert, dass sie auch auf einen Anblick von der in der Fabrik arbeitenden Angestellten passen (Abb. 5 a-b)24 und

22Ebd.,

00:28:46–00:29:35. 00:16:14–00:16:48. 24Ebd., 00:04:10–00:04:12.

23Ebd.,

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Abb. 4  Screenshot aus Jean-Luc Godard: Passion, 1982

Abb. 5  a–b Screenshot aus Jean-Luc Godard: Passion, 1982

der aus der Nachtwache herausgelesene Appell, ‚wie bei Rembrandt einfach den Menschen‘ zuzuschauen, eingelöst wird.25 Angesichts all dessen wird nun auch deutlich, in welchem Zusammenhang die in dem Film nachgestellten französischen, niederländischen und spanischen

25Vgl.

dazu auch Paech 1989, S. 14.

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Gemälde aus dem 17. bis zum 19. Jahrhundert zueinander stehen: Rembrandts Nachtwache gibt vor dem als Kontrastfolie gezeigten Hintergrund der anderen europäischen Gemälde die von seinem eigenen Film befolgte ästhetische Haltung vor: zu beobachten, Geschehen zu verfolgen, anstatt nach einer Geschichte zu suchen – Godard positioniert sich folglich mit seinem Film innerhalb der europäischen Malereitradition, während er Letztere zugleich mit Hilfe der filmischen Mittel aktualisiert, überprüft und implizit beurteilt. Das direkte Gegenbild zu Godards Narrationsverweigerung kann in Lars von Triers neun Jahre nach Godards Passion gedrehtem Film Europa gesehen werden, wo demgegenüber gerade der Versuch unternommen wird, komplexe historische, politische und menschliche Dynamiken sowie deren Verflechtung untereinander in einer erzählten Geschichte zu fassen.26 Europa wurde u. a. von Lars von Trier selbst als abschließender Teil einer Trilogie ausgewiesen, die 1984 mit The Element of Crime begann27 und drei Jahre später mit Epidemic fortgesetzt wurde.28 Das die drei Filme einende Element hat der Regisseur wie folgt formuliert: „Die drei Filme, die wir als Trilogie sehen, haben mehr oder weniger die gleiche Geschichte. Ein Idealist begibt sich in eine gefährliche Umgebung und ist am Ende auch korrupt. Das ist die Geschichte der drei Filme.“29 Europa spielt zwar im Nachkriegsdeutschland, es geht in dem Film jedoch mehr, wie es zudem schon der Titel nahelegt, um eine Art von Positionsbestimmung Europas. Diese europäische Perspektive wird zuletzt auch durch den Abspann verdeutlicht, der den Film, noch vor der sonst häufig praktizierten Angabe der SchauspielerInnennamen, als durch und durch europäisches Produkt ausweist: Nicht nur wurde diese dänisch-französisch-deutsch-schwedische Koproduktion durch verschiedene europäische Institutionen finanziert (darunter auch der Europarat) und in Dänemark und Polen gedreht, sondern in ihr treffen auch französische, deutsche und dänische SchauspielerInnen auf ihre amerikanischen KollegInnen, wobei Deutsch und Englisch gesprochen wird. Mit diesen beiden Sprachen ist auch bereits die Spannung angedeutet, innerhalb derer die erwähnte Positionsbestimmung stattfindet, denn bei der Hauptfigur handelt es

26Siehe

auch den Beitrag von Stephan Kammer in diesem Band. knapp zusammengefasste Handlung: Ein Hypnotiseur schickt einen Polizisten nach Europa zurück, damit er noch einmal durchlebt, wie er auf der Suche nach einem Serienmörder langsam dessen Identität angenommen hat. 28Die knapp zusammengefasste Handlung: Zwei Drehbuchautoren lassen eine junge Frau von einem Hypnotiseur in das von ihnen erfundene Szenario versetzen, damit sie sieht, wie die dort beschriebene Seuche auf die Wirklichkeit übergreift. 29Lars von Trier im Interview mit Peter Kremski, in: Filmbulletin, H. 3/1991, hier zit. nach dem Presseheft des RealFiction-Filmvereihs zum Start der Wiederaufführung von Europa am 21. Juli 2005, online verfügbar unter URL: http://www.realfictionfilme.de/presse/index_repertoire. php (unter „EUROPA/LARS VON TRIER – EUROPA TRILOGIE 3“, zuletzt abgerufen am 06.06.2020), o. P. [S. 2]. Der Hypnotiseur erscheint auch in Europa, wenngleich aus dem Off: Er gibt dem Publikum zu Beginn und am Ende des Films Anweisungen. Vgl. hier auch die folgende Anmerkung. 27Die

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sich um einen jungen, idealistischen Amerikaner deutscher Abstammung namens Leopold Kessler, der 1945 in das vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Deutschland reist, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Dass Kessler just diese deutsch-amerikanische Herkunft gegeben wurde, hat zwei Gründe: Zum einen verweist sie auf die längerfristige Beziehung zwischen Europa und Amerika durch den Umstand, dass die Herkunft vieler AmerikanerInnen europäisch ist. Interessanterweise lautet der originale Titel des Films auch nicht etwa „Europe“, sondern „Europa“, damit den Namen der mythologischen Namenspatronin des Erdteils, die von Zeus entführte phönizische Königstochter, aufrufend.30 Und in der Tat bezeichnet ein Bahn-Inspektor Kessler gegenüber einmal die eigene Aufgabe, die Länder Europas mit Hilfe eines Zugnetzes zu verbinden, als „mythologisch“.31 Zum Zweiten verweist die Herkunft des Protagonisten auf das besonders markant geprägte Verhältnis zwischen Amerika und Europa, nachdem letzterer Kontinent zum Schauplatz des Zweiten Weltkrieg geworden war – der Film ist daher auch genau an diesem Knotenpunkt angesiedelt. Europa setzt dieses spannungsvolle Verhältnis zwischen der Alten und der Neuen Welt nun auf verschiedenen Ebenen mittels literarisch konnotierter Gegensätze um: So erinnert der einen Erdteil verwendende Titel nicht zufällig an Franz Kafkas Romanfragment Der Verschollene, an dem dieser zwischen 1911 und 1914 geschrieben hatte und das 1927 von Max Brod posthum unter dem Titel Amerika veröffentlicht worden war.32 Kafkas Protagonist Karl Roßmann reist darin mit dem Schiff nach New York, während Leopold Kessler, wie ihm gesagt wird, „aus New York mit dem Schiff“ nach Deutschland gereist ist, also den genau umgekehrten Weg des „Verschollenen“ zurückgelegt hat.33 Und so wie Kafkas Protagonist sich in den ihm merkwürdig erscheinenden, modernen Ordnungssystemen von „Amerika“ verirrt, ergeht es auch Kessler in Europa kaum anders, wenn er in ein Netz aus Intrigen gerät, derer er sich nicht erwehren kann, da er zunächst allen Beteiligten gutgläubig nur die besten Absichten unterstellt. Das ihn zuletzt ins Verderben stürzende Ordnungssystem manifestiert sich dabei in dem deutschen Eisenbahnunternehmen mit dem bezeichnenden Namen „Zentropa“, der von Triers negativen Blick auf Deutschland sprechend auf den Punkt zu bringen scheint: „Alles Bedrohliche an Europa ist für mich in Deutsch-

30Auch

der von Max von Sydow gesprochene Hypnotiseur am Ende des Films sagt: „You want to wake up, to free yourself from the image of Europa, but it is not possible.“ Vgl. Lars von Trier: Europa, DVD. London: Tartan 2002: 01:42:48–01:43:00. 31Von Trier: Europa: 00:11:11. 32Vgl. dazu auch den Hinweis von Triers selbst in dem Interview von Trier/Kremski 1991 [S. 6]: „Mein Co-Autor Niels und ich, wir haben eine Schwäche für Kafka. Wir mögen besonders sein Buch ‚Amerika‘. Dieses Buch war für unseren Film ‚Europa‘ eine Art Inspiration. Wir erzählen die Geschichte anders herum. Kafkas ‚Amerika‘ handelt von einem Europäer, der nach Amerika geht, und unser Film handelt von einem Amerikaner, der nach Europa kommt: zu dem Ort, wo seine Eltern gelebt haben. Es gibt einige Parallelen zwischen der Kafka-Story und unserer Geschichte.“. 33Von Trier: Europa: 00:03:34: „[…] on a ship from New York“.

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Abb. 6  a Signet des Films Europa von Lars von Trier, 1991, b Saul Bass: Filmplakat zu Alfred Hitchcock: Vertigo, 1959

land zusammengefasst.“34 „Zentropa“ steht daher zum einen im übertragenen Sinn für die aus der Sicht des Regisseurs von Europa ausgehenden und in Deutschland brennglasartig gebündelten Gefahren, zum anderen aber ganz konkret für den zentralistischen Wahn der Nazis: In dem Film erweist es sich, dass selbst dieses deutsche Schlafwagen-Unternehmen „Zentropa“ unter dem Deckmantel des Dienstes am guten, bequemen Schlaf der Reisenden tatsächlich an Judentransporten in Konzentrationslager beteiligt war. Von Trier deutet dabei an, dass diese Aktivitäten der Zuggesellschaft nicht etwa aufoktroyiert wurden, sondern dass das bürokratisch streng durchorganisierte Unternehmen offenbar von vornherein eine gewisse Affinität zu solch ideologisch motivierten Untaten aufwies, wie anhand der es prägenden paramilitärischen Elemente deutlich wird: Innerhalb von „Zentropa“ herrscht ein schneidiger, zackiger Ton, der auch zu den Uniformen passt, die denen des amerikanischen Militärs in nichts nachstehen. Dieses wird freilich nicht etwa als tugendhaftes Gegenbild zu „Zentropa“ dargestellt, sondern in der Figur des Colonel Harris, der das Unternehmen für seine Zwecke benutzen will, als vielmehr durch damit ermöglichte Kontrolle korrumpierbar gezeichnet. Harris wird von dem amerikanischen, seit den 50er Jahren in Europa sehr populären Schauspieler Eddie Constantine verkörpert, womit Amerika und Europa nicht nur im Rahmen politischer, sondern auch filmischer Topographien thematisiert sind: Von Trier bringt in Europa eine Vielzahl an Verweisen auf sich

34Interview

von Trier/Kremski 1991 [S. 6]. Der volle Wortlaut der Passage lautet: „Alles Bedrohliche an Europa ist für mich in Deutschland zusammengefasst. Es ist eine historische Tatsache, dass Dänemark und Deutschland sehr oft Krieg miteinander geführt haben und Dänemark jedes Mal böse geschlagen wurde. Der Blick nach Süden ist für uns mit Angst verbunden. Vieles an Deutschland ist interessant: die Industrie auf der einen Seite und dann die Kultur, die Literatur, die Filme. Es gibt so viele Mächte, die in verschiedene Richtungen gehen und aufeinanderprallen.“ Von Trier vermag hier also keine „Concordia“ in der „Discordia“ zu entdecken.

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direkt wie indirekt mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzende Filme wie Michael Curtiz‘ Casablanca von 1942 oder Carol Reedsʼ The Third Man von 1949 unter. Insbesondere aber nimmt er mit Hilfe motivischer, im Abspann auch explizit ausgewiesener Anklänge35 in der von Joachim Holbek komponierten Filmmusik sowie der bewusst als solche ausgewiesenen Technik der Rückprojektion Bezug auf Alfred Hitchcocks Vertigo von 1959:36 Selbst das wie sein Vorbild in Schwarz und Rot gehaltene Signet zu Europa (Abb. 6 a) orientiert sich sichtlich an dem des Hitchcock-Films, und noch die den Namen des Regisseurs in einer sich nach unten perspektivisch verjüngenden Typographie zeigenden Buchstaben rechts des Europa-Schriftzugs lassen sich auf das zentrale Element von Vertigo, die Höhenangst, rückbeziehen (Abb. 6 b). Alles in allem zeichnet von Trier in seinem Film ein pessimistisches, durch das pervertierte Zentropa-Unternehmen geprägtes Europa-Bild: Von Amerika unverstanden, aber von der Siegermacht auch aus selbstsüchtigen Motiven in den Griff genommen, kommt das Europa repräsentierende Deutschland von seiner Schuld und den seine Vergangenheit prägenden negativen Kräften nicht los. Von Trier hat dies auch in die Worte jener von Holbek vertonten Europa-Arie gefasst,37 zu deren Klängen der Abspann läuft. Interpretiert von dem Schweizer Bariton Philippe Huttenlocher und der Deutschen Nina Hagen beschwört der auf Deutsch und Englisch gehaltene Arien-Text jene mythologische Ebene der Namenspatronin Europas herauf, die nun jedoch am Strand nicht auf den in einen Stier verwandelten Zeus, sondern auf einen Wolf trifft und diesem gegenüber ambivalente Empfindungen hegt. So intoniert Nina Hagen in der Rolle der Europa die folgenden Worte: I played on the beach and all of a sudden. a wolf, fierce and mighty. I trembled, I sighed

35Vgl.

die konkrete, die Rechte klärende Angabe im Abspann: Von Trier: Europa: 01:47:00: „Variation of ‚Vertigo Prelude‘ by Bernhard [sic!] Herrmann made on courtesy by of Ensign Music Corporation“. Bei diesem Verlag handelt es sich um die Rechteinhaber an Herrmanns Filmmusik. 36Vgl. dazu auch die Angaben in dem Presseheft 2005 [S.  4]: „EUROPA lässt einige Anlehnungen an Alfred Hitchcock erkennen (s. auch Lars von Trier über Europa). Nicht umsonst ist VERTIGO (1958) einer seiner Lieblingsfilme. Neben dem Drehbuchkonzept verlegte von Trier die größten und wichtigsten Handlungsteile in fahrende Eisenbahnzüge – die Lieblingsschauplätze des Meisters. Auch die Filmmusik von Joachim Holbek mit ihren ‚stechenden‘ Rhythmen und Akkordwiederholungen kann als Hommage an Hitchcocks bekanntesten Komponisten Bernard Herrmann verstanden werden. Wie Hitchcock spielt von Trier in fast jedem seiner Filme kleine Gastrollen. In EUROPA spielt er einen Juden, von dem eine Falschaussage erpreßt wird.“. 37Sie wird bezeichnenderweise stark geprägt durch das immer wieder zitierte Vertigo-Motiv Bernard Herrmanns: Der Anblick des durch Europa eröffneten Abgrundes macht schwindeln.

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I’m wanting you, needing you, pleading you, but you know better. I’m fearing you, hating you, wanting you, but you know better.

Der Wolf steht hierbei zum einen allgemein für die wilden und aggressiven Triebe des Menschen gemäß dem Zitat „Homo homini lupus“ aus dem Widmungstext der Elementa philosophica de cive des englischen Staatstheoretikers und Philosophen Thomas Hobbes von 1657.38 Zum anderen aber nennt sich eine Gruppe nationalsozialistischer Fanatiker, die das Nachkriegsdeutschland in von Triers Film durch terroristische Akte destabilisieren wollen, „Werwölfe“ – der die Europa ebenso faszinierende wie abstoßende und verängstigende „wilde und starke“ Wolf ist also auch ein Sinnbild des lauernden europäischen Totalitarismus, den von Trier offenbar in der Gestalt des deutschen Nationalsozialismus als idealtypisch kondensiert empfindet. Von ihm und dem von ihm ausgehenden bedrohlichen Faszinosum kann sich Europa aus Sicht des Regisseurs ebenso wenig befreien, wie es dem Publikum am Schluss nicht möglich sein soll, sich von dem ihm präsentierten Anblick Europas zu befreien: Zu Beginn des Films spricht der Schauspieler Max von Sydow als Hypnotiseur die Worte: „I shall now count from one to ten. On the count of ten, you will be in Europa.“39 Am Schluss des Films beschwört er: „You want to wake up to free yourself from the image of Europa, but it is not possible.“40 Während Godard in seinem Film Passion das Bild einer Utopie zeichnet, die sich in der Kunst Europas manifestiert, setzt von Trier dem eine Dystopie entgegen, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Es ist interessant, sich zu überlegen, welche Synthese der eingangs zitierte Algarotti aus dem so aufgefächerten Spektrum Europas wohl gezogen hätte.

Literatur Algarotti, Francesco: Opere del Conte Algarotti. Edizione Novissima, Tomo 9: Lettere Varie – Parte Prima. Venezia: Palese 1794. Bellori, Giovan Pietro: Le vite de‘ pittori, scultori et architetti moderni. Rom: Mascardi 1672. Dubois de Groer, Anne: Corneille de La Haye dit Corneille de Lyon. Paris: Arthena 1996. Godard, Jean-Luc: Passion, DVD. Berlin: Arthaus 2010. Hobbes, Thomas: Elementa philosophica de cive. Amsterdam: Elzevier 1657. Hoogstraten, Samuel van: Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst. Rotterdam: François van Hoogstraten 1678. Keazor, Henry: „il vero modo“. Die Malereireform der Carracci. Berlin: Gebr. Mann 2007. Keyserling, Graf Hermann: Das Spektrum Europas. Heidelberg: Niels Kampmann 1928.

38Hobbes,

Thomas: Elementa philosophica de cive. Amsterdam: Elzevier 1657, S. 2 verso. Trier: Europa: 00:00:50–00:01:00. 40S. o., Anm. 30. 39Von

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Paech, Joachim: Passion oder die EinBILDungen des Jean-Luc Godard. Frankfurt a. M.: Deutsches Filmmuseum 1989. Pfeil, Dietmar: „Concordia discors”. Anmerkungen zu einem politischen Harmoniemodell von der Antike bis in die Neuzeit, in: Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand, Klaus Speckenbach (Hgg.): Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters (Münsterische Mittelalter-Schriften, Band 51), München: Wilhelm Fink 1984, S. 401–434. RealFiction-Filmvereih: Presseheft des zum Start der Wiederaufführung von Europa am 21. Juli 2005, online verfügbar unter URL: http://www.realfictionfilme.de/presse/index_repertoire. php (unter „EUROPA/LARS VON TRIER – EUROPA TRILOGIE 3“, zuletzt abgerufen am 06.06.2020). Soukorov, Alexander: Francofonia, DVD. Paris: Ideale Audience, 2015. Vancheri, Luc: Cinéma et peinture. Paris: Armand Colin 2007. Vasari, Giorgio: Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani. Florenz: Torrentino 1550. Vasari, Giorgio: Le vite de’ più eccellenti pitori, scultori, e architettori. Florenz: Giunti 1568. Vendrix, Philippe (Hg.): Johannes Ciconia: musicien de la transition. Turnhout: Brepols 2003. Von Trier, Lars: Europa, DVD. London: Tartan 2002.

Karten, Zonen Figurationen Europas in Lars von Triers frühen Filmen Stephan Kammer

1 E wie Europa? Es gilt als Gemeinplatz, dass die Geschichte Europas eher die Geschichte einer Idee ist als die eines klar umrissenen geographischen Kontinents. Europas Grenzen sind bekanntlich nicht nur im ‚Osten‘ variabel, sondern haben auch in anderen Randzonen stets Anlass zu unterschiedlichsten Überlegungen geboten: Müsste man angesichts seiner eminenten historischen Bedeutung für die griechische und römische Antike ebenso wie für die Geschichte des Christentums nicht den gesamten Mittelmeerraum konstitutiv zu Europa zählen, viel eher noch als die ehemals wilden, barbarischen Gebiete im fernen Norden jenseits der Alpen? Der Mythos der Europa jedenfalls, dieser von Zeus nach Kreta entführten phönizischen Königstochter, spräche dafür. Zählen die Britischen Inseln dazu oder bilden sie ein geographisch und kulturell sicheres Refugium für den Rückzug von den kontinentalen Wirren? Steht Europa für die erweiterte kulturelle Nachfolge des lateinischen (Sprach-)Imperiums oder vielmehr für den Beweis seiner Überwindung? Leicht ließe sich die Reihe solcher Fragen mehren; sie zeigen an, dass die Bestimmung ‚Europas‘ seit jeher auf einer Gemengelage aus geographischen, historischen, religiösen, sprachlichen und politischen Bindungen und Prägungen beruht. Die Gewichtung, die man dabei einzelnen dieser Faktoren gibt, mag sich ebenso ändern wie ihr Verhältnis selbst. Doch kaum einer dürfte für sich genommen dauerhaft entscheidend dafür gewesen sein, was in einem starken Sinn als ‚europäische Identität‘ bezeichnet werden könnte. Eine darauf reagierende Geschichte ‚Europas‘ müsste eine von Denk-, Sprech-, Repräsentations- und

S. Kammer (*)  Department I, deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_11

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S. Kammer

Handlungsweisen sein. Und anstatt von der stets fraglichen ‚europäischen Identität‘ zu sprechen, sollte man die dieser Geschichte zugrunde liegenden Gegenstände vielleicht besser und in keineswegs diskreditierender Absicht als ‚Europäismen‘ bezeichnen, in loser Anlehnung an Edward Said, beziehungsweise ihre Verhältnisgeschicke mit Benedict Andersons Paradigma als Stiftungsversuche von ‚imagined communities‘ zu beschreiben suchen.1 Gerade wenn es um die Darstellungs- und Imaginationsgeschichte Europas geht2 – aber wohl beleibe nicht nur dann –, dürfte man gut damit beraten sein, Substantialismen aller Art zu vermeiden. Die Konsequenzen dieser Komplexität werden nämlich gerade in dieser Geschichte sichtbar, seit sie, vom frühen 20. Jahrhundert an und zunächst als Ideengeschichte, in wiederholten großen Anläufen rekonstruiert worden ist. ‚Europa‘ ist, wie diese Arbeiten gezeigt haben, ein (früh-)neuzeitliches Projekt:3 Chronotopos und imaginäre Setzung eher als Gegebenheit, nur in den Kontexten des jeweiligen Gebrauchs zu verstehen, von zahlreichen und unterschiedlichen Beziehungen der Exklusion und Inklusion bestimmt.4 In die Imaginationsgeschichte Europas, die ihren Gegenstand nicht als Kontinent, nicht als Institution versteht, sondern als semiotisches Produkt oder Projekt entwirft, hat sich der dänische Regisseur Lars von Trier von 1984 bis 1991 mit einer Trilogie von Filmen eingereiht. The Element of Crime (1984), Epidemic (1987) und Europa (1991) sind zu einer Reihe zusammengestellt worden, deren einzelne Filme auf den ersten Blick über den Anfangsbuchstaben ihrer Titelhauptwörter hinaus kaum etwas zusammenzuhalten scheint.5 The Element of Crime, der chronologisch erste Film der nachmaligen Reihe und von Triers erster Langspielfilm, bietet in Plot und Figurenzeichnung die kunstvoll verrückte Wiederaufnahme einer klassischen Film noir-Erzählung, in der auch der selbst schon topische Übertrag zwischen den Prozessen der Detektivgeschichte und der Psychoanalyse nicht fehlen darf. Epidemic schreibt die pointiert metaleptische Film-im-Film-mise en abyme des experimentellen Kinos fort und um und schließt diese ebenfalls mit Erzählelementen des Genrekinos kurz, hauptsächlich des Road-Movies. Europa

1Vgl.

Said, Edward: Orientalism. New York: Pantheon 1978; Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 1983. 2Vgl. zur neueren literarischen Geschichte dieser Imaginationen Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Piper 1992. 3Vgl. Burke, Peter: Did Europe Exist before 1700?, in: History of European Idea 1 (1980), S. 21–29. 4Grundlegend: Todorov, Tzvetan: European Identity, in: South Central Review 25 (2008), H. 3, S. 3–15. 5Auch das gilt übrigens nur, wenn man die internationale Betitelung zugrunde legt: Trier, Lars von (R): Forbrydelsens element [The Elements of Crime] (DK 1984; 104'); Trier, Lars von (R): Epidemic (DK 1987; 106'); Trier, Lars von (R): Europa (DK/S/F/D/CH 1991; 112'); Vgl. Galt, Rosalind: Visualizing Past and Present Europe in „Zentropa“, in: Cinema Journal 45 (2005), S. 3–12; „You Want to Wake up to Free Yourself of the Image of Europa. But It Is Not Possible“: Lars von Trier’s Critique of the European Narrative of Progress in His Europa Trilogy, in: Journal of Contemporary European Studies 20 (2012), S. 517–535.

Karten, Zonen

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schließlich scheint filmisch den einschlägigen Kracauer’schen Buchtitel rückwärts zu buchstabieren: Von Hitler zu Caligari, wenn er die eigentümliche Nachkriegslatenz seiner Erzählwelt samt Nazi-Werwölfen mit einer immer wieder an die Filmsprache des Expressionismus erinnernden Bildgrammatik koppelt. Was verbindet über die bloße Behauptung der Trilogie, über die Titelanfangsassonanz oder die Produktionschronologie des von Trier’schen Œuvres hinaus die drei in Bildsprache, Erzählgrammatik und Diegese denkbar unterschiedlichen Filme? Was erklärt wiederum die Metalepse des dritten Filmtitels zu dem der gesamten Reihe? Der Regisseur selber hat sich über beide Zusammenhänge, über die Reihenstiftung also ebenso wie über deren Benennung, eher ausweichend erklärt. Auf Stig Björkmans Bemerkung, das ‚Europa‘ der Filme Element of Crime und Europa selbst scheine „nahezu identisch mit Deutschland zu sein“, antwortet er: Für einen Dänen ist das wohl so. Denn wenn man einen Blick auf Europa wirft, sieht man als erstes Deutschland. Von Dänemark aus ist Deutschland mit Europa identisch, was natürlich eine ungerechte Betrachtungsweise ist. Denn da gibt es auch noch ein großes Land namens Frankreich und ein Land, das aussieht wie ein Stiefel und Italien heißt, aber diese Länder sind aus dänischer Perspektive schwieriger zu erkennen.6

In einem Werkstattgespräch mit Peter Kremski hat von Trier diese eigentümliche Identifikation differenzierend bekräftigt, nicht ohne indes zwei weitere, diesmal plot-bezogene, aber dafür halbwegs widersprüchliche, von den Filmerzählungen selbst überdies kaum gedeckte Korrelationsargumente zu nennen. Der plot sei, zum einen, im großen Ganzen in allen drei Filmen der gleiche: „Ein Idealist begibt sich in eine gefährliche Umgebung und ist am Ende genauso korrupt.“ So recht will diese Erzählformel allerdings auf keinen der Filme beziehungsweise Protagonisten passen – allenfalls Dr. Mesmer, der Held des intradiegetischen Improvisationsplots von Epidemic, mag ihr im Ansatz entsprechen; einem näheren Blick aber halten als Beschreibungs- und Ordnungskategorien der Figur-Umwelt-Beziehung auch dort weder Idealismus noch Korruption wirklich stand. Zum anderen solle gelten: Wir erzählen keine Geschichte über Europa und wollen nichts ins Bewusstsein rücken von dem, was zurzeit geschieht oder was historisch geschehen ist oder worauf Europa zusteuert. Die Filme der Trilogie sind Märchen. Die gesamte Trilogie ist über Europa, ohne dass ich Ihnen genau erklären könnte wieso. Da es sich nicht um Dokumentarfilme handelt, sollte man diesen Hinweis auf jeden Fall nicht zu wörtlich nehmen. Vielmehr geht es um Gefühle und um kulturelle Aspekte, die für mein Bild, das ich von Europa habe, wichtig sind.7

6Trier

über von Trier. Gespräche mit Stig Björkman, aus dem Schwedischen von Dagmar Brunow. Hamburg: Rogner & Bernhard 2001, S. 76. 7Kremski, Peter: Werkstattgespräch mit Lars von Trier zu seiner Trilogie The Element of Crime, Epidemic, und Europa, in: filmbulletin 177 (1991), S. 60.

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Die Erklärungen sind – eingestandenermaßen, ja vielleicht ihrerseits programmatisch – so diffus wie widersprüchlich: Wahlweise geopolitischer Perspektivismus, eine figurenbezogene Kontaminationsfabel mit Tragödienanklang, der affektive Subjektivismus eines Regisseurs oder Genres sollen die drei Filme zur Trilogie unterm Namen Europa versammeln? Damit wird man sich kaum zufriedengeben dürfen und muss das auch nicht, wenn man die Frage stellt, ob und wie man einen weder beliebigen noch bloß behaupteten Bezug zu ‚Europa‘ für die so unterschiedlichen filmischen Texte veranschlagen kann. Im Folgenden will ich versuchen, anhand zweier Konzepte einer (filmischen) Raumsemiotik beziehungsweise Raumsemantik Elemente einer verdichtenden formalen Kopplung der drei Filme herauszuarbeiten. Ob sie strengeren ästhetischen Formerfordernissen für eine Trilogie bereits Genüge zu leisten vermögen, mag dahingestellt bleiben. Zumindest vergleichbare Formen einer ‚Europa‘-Projektion jedenfalls lassen sich daraus nachzeichnen.

2 Karten Ein erstes korrelierendes Moment lässt sich am Spannungsverhältnis zwischen Karten beziehungsweise funktional kartenähnlichen diagrammatischen Objekten und Diegese beobachten, das alle drei Filme nutzen. Am deutlichsten, da explizit in die Filmerzählung und ihre Struktur eingelassen, sind diese kartographischen Elemente in The Element of Crime zu erkennen.8 Die Erzählanlage des Films sei vorab knapp skizziert: Ihren offenen, da am Filmende nicht komplettierten Rahmen bildet eine anamnestische Situation. Wir erfahren von ihr aus der (zunächst als Off-Stimme einsetzenden) Rede des Analytikers. Der ehemalige Polizist Fisher ist nach 13 Jahren Abwesenheit für zwei Monate nach Europa zurückgekehrt, um an Mordermittlungen in einem Serienfall teilzunehmen. Zurück in Kairo, will er ein dabei aus dem Lot geratenes Verhältnis von „phantasy“ und „facts“ wieder einrenken lassen, das ihm symptomatische Kopfschmerzen erzeugt. Fisher soll in einer Verschränkung von talking cure und Hypnose therapiert werden, wie sie für die frühe Psychonanalyse charakteristisch gewesen ist. An den „Erscheinungen des Hypnotismus“, hält Freuds Kurzer Abriß der Psychoanalyse noch 1924 und damit lange nach der Exklusion der Hypnose aus dem psychoanalytischen Setting fest, sei das Unbewußte „zuerst leibhaft, handgreiflich und Gegenstand des Experiments“ geworden.9 Allerdings verstößt die Ausrichtung der Kur, wie sie in The Element of Crime initiiert wird, dann doch und eklatant gegen die im Methodenrückblick der Psychoanalyse herausgestellte Prämisse, solche Hypnose sei im Grunde „Suggestion gegen die Äußerung der Symptome“.10 Den

8Einige

Bemerkungen dazu bei Shapiro, Michael J.: A Philopoetic Engagement: Deleuze and The Element of Crime, in: Theory & Event 18.2 (2005), https://www-proquest-com.emedien.ub.unimuenchen.de/docview/1673958796?accountid=14596. 9Freud, Sigmund: Kurzer Abriß der Psychoanalyse, GW 13, S. 407. 10Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW 11, S. 466.

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hypnotisierten Polizisten schickt der Analytiker vielmehr auf den Weg – und das ist keineswegs nur metaphorisch zu nehmen – in die Szene des Traumas selbst. Die Ausgangsanamnese lautet nämlich: „Europe has become an obsession to you“, und mit einer Abblende und der Titeleinspielung, die die Grenze zwischen Rahmen- und Binnenerzählung markieren, setzt einerseits das die ganze weitere Erzählung über verwendete Voice-over Fishers ein; auch die Stimme des Analytikers wird gelegentlich gleichsam rhythmisierend als Voice-over in der Binnenerzählung wiederkehren. Allerdings müssen die beiden Stimmen als Bruchstücke eines unvollständigen dialogischen Rahmens betrachtet werden. Denn in dieser Sprechsituation endet die Erzählung auch und macht dabei deutlich, dass der für die hypnotische Situation entscheidende Rapport unterbrochen ist: „I want to wake up now. Are you there? You could wake me up now. Are you there?“, lauten Fishers paradoxe letzte Worte; die zweite Frage fällt erst, nachdem der Titel überund die Diegese abgeblendet worden ist und während bereits der Abspann einzusetzen beginnt. Die phatischen Fragen Fishers sind andererseits nicht von ungefähr auch an die situativ zweideutige Semantik räumlicher Orientierung gebunden – wo ist ‚dort‘ in der Situation hypnotischer Erinnerung? Dank dieser offenen Rahmenverfugung befinden wir uns also buchstäblich in einer Situation nicht nur unendlicher, sondern auch grenzenloser Analyse, und das betrifft nicht allein die Erzählstruktur dieser auf allen Zeichenebenen an Anspielungen an die Psychoanalyse und den ersten Detektiv Ödipus überreichen Darstellung – „I need to know everything. […] I cannot stop until I understand“, sagt Fisher zu seiner Geliebten Kim, nachdem er das Rätsel der Serie gelöst oder vielmehr deren Muster erkannt zu haben glaubt. Beruht nämlich die Erzählinszenierung auf der geschilderten Figuration einer hypnoseinduzierten talking cure, so die Logik der Diegese selbst auf der genannten kartographischen Diagrammatik. „Mr. Fisher, where are you?“, hören wir nach einer guten Stunde das Voice-over des Analytikers erneut; „Europe, it must be“, antwortet Fisher. Während die Kamera über am Boden verstreute Pflanzenbestimmungskarten europäischer Provenienz fährt, Umbrien, Franken, Katalonien, verständigt man sich über den Fortgang der Kur, der Erzählung und Fishers quest gleichermaßen: „Do you want to continue?“ – „I have to“. Fishers (Selbst-)Erkundung wird dementsprechend zwischen zwei Karten gespannt, die auch die Erzählzeit des Films symmetrisch strukturieren. Die erste sehen wir ungefähr nach der ersten halben Stunde des Films an einer Zimmerwand von Fishers kriminologischem Mentor Osborne. Sie zeigt ein Quadrat, das sich aus den vier Tatorten des Serienmörders ergibt. Halbestadt, Friedingen, Oberdorf und Neukalkau, liest man da – mindestens so wichtig wie die fiktionale Referenzbehauptung allerdings dürfte die diagrammatische Einschätzung dieser Karte sein: „the corners of a perfect square“. Denn durch dieses kartographische Diagramm läuft, einer Serpentine gleich, was Osborne als „route“ des Verbrechens bezeichnet. Ohnehin scheint sich der Kriminologe eher an der diagrammatischen Medialität zu orientieren als an einer potenziell indexikalischen Funktion der Karte, wenn er das Arrangement der ihm zufolge längst aufgeklärten, mit dem Tod des Verdächtigen Harry Gray beendeten Mordserie für „a nice little geometric

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Abb. 1  Screenshot aus: Lars von Trier: Forbrydelsens element (1984)

Abb. 2  Screenshot aus: Lars von Trier: Forbrydelsens element (1984)

puzzle“ hält. Doch Fisher stört die ‚perfekte‘ geometrische Figur, indem er darin den Ort des neuen, fünften Falls einträgt und somit die funktionale Gewichtung des Diagramms zugunsten der Karte verschiebt. Sein Zeigefinger markiert es (Abb. 1; 33:46): der Tatort bleibt im Rahmen und fällt, als fünfter, doch aus dem Muster: „So then, tell me: If the square describes a closed figure, this must be an opening“, kommentiert dementsprechend Osborne und antizipiert so, nach wie vor more geometrico argumentierend, Fishers reenactment der Suche nach dem Mörder. Die zweite Karte – sie wird uns gezeigt in der Szene, die an die zitierte Verständigung über den Fortgang des Erzählens und der Suche anschließt – entsteht eine knappe halbe Stunde vor Ende des Films aus Fishers nun nicht mehr deiktischer Manipulation dieses öffnenden fünften Punkts; eine Manipulation, die diesen Punkt ins Zentrum rückt und ihn zur Kipp- und Spiegelstelle von Kartendiagramm und Erzählung, von Ort- und Zeitverhältnissen macht (Abb. 2):

Karten, Zonen

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Abb. 3  Screenshot aus: Lars von Trier: Europa (1991)

If we take the harbor in Innenstadt as the center, take the first four murders and duplicate them, we get two points: Dritten Marsk, Halle. We don’t just have a geometrical figure, but a letter. If the system is going to be closed like this, he will commit his seventh and last murder in Halle in ten to fifteen days.

Kartographie und Diegese werden so verschränkt, gemäß einem Bezugsmuster zwischen „epischer und medial-technischer Dimension“, die laut Lothar van Laak für die Filme Lars von Triers generell charakteristisch ist.11 In der anschließenden Zwischenszene präfigurieren erneut horizontale und vertikale Kamerafahrten über mehrfach überblendete Kartenausschnitte oder -reste vor allem von Mitteldeutschland – man kann „Holzminden“ entziffern, „Rüthen“ und „Dessau“ (1:13:50– 1:14:24) – die künftige Suche nach Morden und Mörder. Strukturell ganz vergleichbar sind die Übertragungsverhältnisse von Kartographie und Diegese in den beiden anderen Filmen der Trilogie angelegt. In Europa integriert sich die entsprechende Divergenz zwischen der Extension eines nun in der Tat europäischen diagrammatischen Streckennetzes, eines Vorkriegsund Kriegsentwurfs gewissermaßen, und der rudimentären Wiederinbetriebnahme des Bahnverkehrs im deutschen Herbst 1945 leicht in die Erzählung der Geschicke und Verstrickungen des zurückkehrenden Emigrantensohns Leopold Kessler, der Schlafwagenschaffner beim Bahnunternehmen Zentropa werden will (Abb. 3). Auch er übrigens wird aus einem diesmal aber unmarkierten Rahmen per Hypnose eingangs in die Erzählung und nach Europa, am Ende aus ihr und in den Tod versetzt – und grammatisch wenigstens deutet sich bei der Schließung dieses Rahmens eine anders adressierte, nicht mehr diegetisch gebundene Metalepse an, während Leopolds Leiche im Fluss Richtung Ozean treibt: „In the morning, the sleeper has found rest on the bottom of the river. […] You want to wake up, to free yourself of the image of Europa, but it is not possible.“. Epidemic schließlich nutzt kartographische Diagrammatik in der Rahmenerzählung der beiden Drehbuchschreiber Lars und Niels, die das wegen eines

11Laak, Lothar van: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier. München: Wilhelm Fink 2009, S. 307.

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Abb. 4  Screenshot aus: Lars von Trier: Epidemic (1987)

Diskettenschadens verlorengegangene Manuskript mit dem Titel Der Kommissar und die Hure – angeblich sollte The Element of Crime nach dem Wunsch eines Produzenten ursprünglich so heißen – durch die Erzählung vom seuchenärztlichen Toren Dr. Mesmer wettmachen wollen. In einer Szene malt Niels den Strukturverlauf der Handlung an die Wand und markiert die dramatisch einschlägigen Funktionsstellen (Abb. 4). Er nimmt diagrammatisch vorweg, was die beiden am fünften Tag ihrem Produzenten aushändigen werden: die „technische Beschreibung des Handlungsstrangs eines Films“, wie es Niels formulieren wird, unmittelbar bevor am Ende die neuerdings hypnotische Verschränkung von Rahmen- und Binnenerzählung all das obsolet werden lässt. Die filmischen Einsätze der Karten in der gesamten Trilogie teilen eine gewisse Form der Darstellung, einer mise-en-image, die den mit dem Begriff von Christine Buci-Glucksmann ‚unreinen‘ Zeichen- und Medienstatus der Karte ins Bild und vor allem in die Diegese bringt: Die „unreine und komplexe Abstraktion“ der Karte,12 die im einzelnen, unbewegten Bild temporär stillgestellt sein mag und ihre semiotischen Abgründe erst im Gebrauch oder in der Transkription offenbart, sucht als Diagramm einer Filmerzählung diese selbst ohne weiteren Verzug mit der ihr innewohnenden Ambiguität heim. Von der klassischen kartographischen

12Vgl.

Buci-Glucksmann, Christine: Une abstraction impure: De Marcel Duchamp á la cartographie, in: Trans > Magazine 3/4 (1996), URL: http://www.transmag.org/nuevo_transmag/ nuevodiseno/content/vols.php?vista=issue&tipoview=Essays&view=98 (zuletzt abgerufen am 06.06.2020): „Car la carte est par nature un abstract qui renvoie à un plan-transfert où le monde est comme projeté en aplat. Connectable à tout, elle hante les surfaces comme les trajets de tous les cartoramas possibles de l’art, et son retour actuel traduit à lui seul les nouveaux enjeux de l’abstraction contemporaine. Une abstraction impure et complexe, sans plan de projection privilégié, qui sanctionne l’épuisement du paradigme formaliste et moderniste.“.

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Medialität eines „Index in Papierform“ hat die Darstellung, wenn überhaupt, ohnehin nur Schnipsel übrig gelassen; als funktionales „Verbundsystem von virtuellen räumlichen Indices“ scheint sie allerdings nicht minder ruiniert.13 Zwar trachten von Triers Filmerzählungen die medienbedingte semiotische Hauptherausforderung der Karte, nämlich die von ihrer Mobilität provozierte deiktische Fraglichkeit,14 immer wieder dadurch zu beheben, dass sie Karten und kartographische Diagramme auf Wänden immobilisieren. Fishers Tatortkarten tun dies ebenso wie das Handlungsdiagramm der beiden Filmemacher Lars und Niels in Epidemic, für den Netzplan in Europa gilt dies ohnehin – er allerdings wird von den kontingenten, Diagrammatik allenfalls ikonisch zitierenden Bruchspuren im Deckglas buchstäblich überformt. Dementsprechend vermögen auch diese Fixierungsversuche die Ambiguität von Referenz und Präfiguration nicht auszutreiben, mittels der die kartographischen Diagramme die angesteuerten Erzählräume in filmische Diegese überführen. Die Frage, ob diese kartographischen Diagramme Wege und Beziehungen – und damit ‚Handlung‘ – auf- oder vorschreiben, wird sich kaum abschließend beantworten lassen. Denn wenn so (mit den Worten Michel de Certeaus) Räumlichkeit als „mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen“ entworfen wird, fehlt das handlungsstabilisierende Komplement „vertragliche[r] Übereinkünfte“, das diese Konfliktprogramme rahmen könnte.15 Darstellungsbezogen heißt das: Weder plot noch Figurenzeichnung noch die genuin filmischen Gestaltungsmittel von Einstellung oder Montage sind für eine derartige Übereinkunft in Beschlag zu nehmen, die die so verstörende wie produktive Ambiguität der kartographischen Diagramme zu entschärfen erlaubte. Die Karten in Lars von Triers Europa-Trilogie sind konsequent des/orientierend. Perspektivismus und Situativität dieser Diagrammatik bilden damit mindestens gleichberechtigte Spielzustände einer raumsemiotische Figuration – und das scheint nun doch strukturell so fern nicht wenigstens von der anamorphotischen ‚dänischen‘ Perspektive auf Europa, die von Trier im Gespräch mit Björkman behauptet hat.

3 Zonen Die Beispiele mögen es bereits angedeutet haben: Kartographische Referenzialität oder Pragmatik sind in diesem eigentümlichen filmischen Medieneinsatz sicher nicht die Nebensache. Wenn Osborne in The Element of Crime von einer „geography of crime“ spricht; wenn Udo in Epidemic die ihm auf deren Sterbebett anvertraute Fluchtgeschichte seiner Mutter im bombardierten Köln samt Straßennamen nacherzählt oder Niels die Autobahnfahrt der beiden Filmemacher

13Stockhammer,

Robert: „An dieser Stelle“. Kartographie und die Literatur der Moderne, in: Poetica 33 (2001), S. 280. 14Vgl. ebd., S. 283. 15Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988, S. 218.

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mit einer Litanei der Städtenamen doubliert, wenn in der intradiegetischen Pesterzählung von Epidemic die Ärzte, die in der unter Quarantäne stehenden Stadt das Regime übernommen haben, unvorsichtigerweise Museum, Universität, Bibliothek niederbrennen: Unter diesen Bedingungen haben wir es mit einer Art von erzählten und Erzählräumen zu tun, für die Leopolds Onkel in Europa mit bedeutungsvoller Akzentuierung den Begriff nennt: „Zone“. Darin wird das Prinzip der Des/Orientierung, das die kartographischen Diagramme der Filme figurieren und diegetisch fruchtbar machen, konstitutiv. Als „dynamische[n] Begriff“ hat Frauke Berndt die Zone definiert; sie „funktioniert wie eine Maschine, die Relationen generiert“, indem sie „sowohl die räumlichen Grenzen (mimetische Ebene) als auch die Grenzen zwischen Ich und Du (pragmatische Ebene) sowie die syntaktischen und semantischen Grenzen (hermeneutische Ebene)“ aufhebt.16 Ihre ästhetische Karriere beginnt die Zone in den Artikulationen der Avantgarde um 1900; Guillaume Apollinaires gleichnamiges Erzählgedicht von 1913 macht diesen Startpunkt nicht nur paratextuell greifbar, sondern dürfte selber wohl auch bereits die erste Europa-Figuration sein, die sich dieser Raum- und Geosemantik bedient: Zweifellos ist „Europe“, früh im Gedicht genannt, Hauptschauplatz dieses ästhetischen Raum(erfahrungs) entwurfs.17 Aleksandar Flaker hat gezeigt, inwiefern die „Zeit- und Raumverschiebungen“ in Apollinaires Gedicht einem ‚Simultanismus‘ verpflichtet sind, den sich die ästhetischen Avantgarden der Epoche teilen und mit dem sie nicht zuletzt auf die Erfahrungshorizonte des technisch beziehungsweise medial neu organisierten Körper- und Zeichenverkehrs reagieren.18 Die zeitlichen und räumlichen Simultaneitätseffekte, die das ästhetische Konzept der Zone mit sich bringt, bleiben als Darstellungsformen allerdings über die modernistischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts hinaus virulent. Zu nennen wäre Andrej Tarkovskijs Stalker (1979), ein Film übrigens, der zum immer wieder beschworenen Kanon von Triers zählt;19 nicht minder bedeutsam ist Thomas Pynchons großer Roman Gravity’s Rainbow (1973), in dessen drittem Teil der ästhetische Begriff der Zone seine womöglich radikalste literarische Gestaltung erfahren hat und den ich umstandslos als Bezugstext der drei Filme bezeichnen wollte. Zonen dürften damit zum einen jener performativen Räumlichkeit am nächsten kommen, die Gilles

16Berndt,

Frauke: Zonen. Zur Konzeptualisierung von Ambiguität in der ästhetischen Theorie, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 16 (2018): Ambiguity in Contemporary Art and Theory, hg. von Frauke Berndt und Lutz Koepnick, S. 18 und 24. 17Apollinaire, Guillaume: Zone, in: Ders., Alcools. Poèmes 1898–1913. 3. Aufl. Paris: Éditions de la Nouvelle Revue Française 1920, S. 7–15. 18Flaker, Aleksandar: Zone. Raumgestaltung in der Dichtung der Avantgarde, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 60 (2001), S. 283. 19Vgl. generell zum filmisch-intertextuellen Universum der frühen Filme von Triers (hauptsächlich Europa) Weinrichter, Antonio: Europa. El capricho alemán de von T., in: Nosferatu 39 (2002), S. 46–50.

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Deleuze und Félix Guattari als Translation und Transformation zwischen ‚glatten‘ und ‚gekerbten‘ Räumen beschrieben haben: Manchmal finden wir einen einfachen Gegensatz zwischen den zwei Arten von Raum. Manchmal müssen wir eine viel komplexere Differenz feststellen, die bewirkt, daß die einander folgenden Terme der betrachteten Gegensätze nicht deckungsgleich sind. Und manchmal müssen wir uns auch daran erinnern, daß die beiden Räume nur wegen ihrer wechselseitigen Vermischung existieren: der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt.20

Zum anderen aber bilden sich Zonen aus der diffusen, zweideutigen Vielstimmigkeit von Rede- und Zeichenereignissen, wie sie ebenfalls bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Michail Bachtin und, an ihn anschließend, Jurij M. Lotman beschrieben haben. Lotman hat in seinem Aufsatz On the Semiosphere (1984) auf den Punkt gebracht, was diese Ambiguität ästhetischer Zonen generiert: „semiotic contacts between two worlds“,21 und dieser Kontakt nun ist ebenso wenig wie die durch ihn verbundenen Welten auf konkrete Raumfigurationen beschränkt. Zonen bilden, so verstanden, Schauplätze des „Widerstreit[s] zwischen sprachlich organisierten Systemen, die räumlich gedacht werden“22 – wobei man ‚sprachlich organisiert‘ wohl durchaus struktural verstehen darf: angesichts der Theorietradition also, in der die Reflexionen zum Begriff der Zone sich ansiedeln, im Sinne des Jakobson’schen Verständnisses von ‚Sprache‘ als Zeichensystem mit syntagmatischer und paradigmatischer Dimension. In von Triers Trilogie jedenfalls finden wir ein Tableau solcher Kontaktzonen, das kein Niveau filmischer Darstellung außen vor zu lassen scheint und sich also keineswegs allein in den beschriebenen, von der Ambiguität der Karte figurierten Verhältnisbildungen von Raum und Handlung Ausdruck verschafft. Die wahrhaft unübersehbaren metaleptischen Irritationen, die man allenthalben trifft, bilden nur die auffälligsten Gestaltungsformen in dieser Hinsicht, wenn sie wie in The Element of Crime oder Epidemic die Architektur diegetischer Ebenen ebenso sabotieren wie die Orientierung der Figuren in ihren erzählten Räumen. Und die von Brian McHale bilanzierten Zonenbildungsregeln der „juxtaposition, interpolation, superimposition, and misattribution“23 steuern auch Bildkompositionen und Einstellungen der Filme: Beleuchtung (hell/dunkel), Farbe (Schwarzweiß-/ Farbfilm), Montage (Schnitt/Blende) etc. Die ästhetischen Zonen der Filme von Triers erschaffen „a purely cinematographic world built only by filmic means.“24

20Deleuze,

Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve 1992, S. 658. 21Lotman, Jurij M.: On the Semiosphere, in: Sign Systems Studies 33 (2005), S. 211. 22Berndt 2018, S. 28. 23McHale, Brian: Postmodernist Fiction. New York: Routledge 1987, S. 45. 24Simons, Jan: Von Trier’s Cinematic Games, in: Journal of Film and Video 60 (2008), S. 6.

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Europa als Zone: Dieser Darstellungsentwurf der Trilogie macht nicht zuletzt auch die eben formulierte Behauptung plausibel, die drei Filme fänden ihren vielleicht auffälligsten Bezugstext in Thomas Pynchons narrativer Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts, Gravity’s Rainbow. Die auffälligste Koinzidenz ist dabei sicherlich der Chronotopos des unmittelbaren Nachkriegsdeutschland, den der besagte dritte Romanteil entfaltet und den er sich mit von Triers Europa teilt. Den intertextuellen Kontakt stiften schon die „zahllosen Züge“,25 in denen Slothrop, der Held des Romans, die Zone durchkreuzt – die historische Zone, in der auch der angehende Schlafwagenschaffner Leopold Kessler unterwegs ist; Züge, denen einer der Songs gewidmet ist, die Pynchons Großerzählung strukturieren wie die Karten diejenigen der Filme von Triers: Slothrop saß in einem schwankenden Eisenbahnwagen, zusammen mit dreißig anderen verfrorenen und abgerissenen Seelen, ihre Augen nur Pupille, ihre Lippen wund und aufgesprungen. Sie sangen, einige von ihnen. Es ist ein Displaced-Persons-Lied, und Slothrop wird es in der Zone noch oft zu hören kriegen, in den Lagern und auf den Straßen, in einem Dutzend Varianten: Hörst du einen Zug heut abend Pfeifen seinen schrillen Schrei, Leg dich auf dein Bretterlaken, Schlaf, und laß den Zug vorbei. Züge riefen jede Nacht uns, Gelaufen tausend Meilen schon, Unterwegs durch leere Städte, Züge ohne Endstation. Keiner steuert die Maschine, Keiner, der die Fahrt bewacht, Züge brauchen keine Menschen, Züge sind ein Stück der Nacht. Bahnstationen liegen einsam, Wegerechte brach und kalt, Was wir verlassen, erben Züge, Züge fahren, wir werden alt. Laß rufen sie wie arme Seelen, Laß sie schreien in den Wind – Züge sind für Nacht und Regen, Unser Gesang und Sünden sind.26

Es wäre, was hier nicht weiter verfolgt werden kann, genauer zu ergründen, in welcher spezifischen Form sich diese intertextuelle Beziehung artikuliert. Der

25Pynchon, 26Ebd.,

Thomas: Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 441. S. 445.

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Verdacht ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass der letzte Film der Trilogie die durchaus global angelegte ‚Zonisierung‘ von Pynchons Roman (zentral-) europäisch redimensioniert – Zentropa –, damit sein ‚Europa‘ bei allen dystopischen Facetten der Darstellung und ihren dezentrierenden Effekten auch reterritorialisiert und dadurch in gewissem Sinn hinter der sowohl konzeptuellen als auch darstellerischen Radikalität von Gravity’s Rainbow zurückbleibt. Für welche Erzählung allerdings gälte dies Letztere nicht? Doch eben nicht nur zu Europa, bei dem die Nähe zu Pynchons Roman bereits in der erzählten Welt des Films überdeutlich angelegt ist, lassen sich solche Korrespondenzen und Allusionen finden. Ich will mich auf zwei Hinweise beschränken: Eine von Pynchons zweideutigen und zwielichtigen Figuren auf dem „Schachbrett der Zone“27 heißt Springer; der Springer ist jene gläserne Schachfigur, die der Mörder in The Element of Crime an seinen Tatorten zurücklässt. Etliche seiner Zonen-Schauplätze müsste man wohl ohnehin, wollte man Pynchons Roman verfilmen, bildästhetisch nicht eben viel anders zur Darstellung bringen, als es der erste Film der Trilogie mit seinem eigentümlich ruinierten, unbestimmt postapokalyptischen Europa tut. Und selbst die (natürlich kartographisch strukturierte) Reise der Protagonisten Niels und Lars zum Hauptsitz der Bayer AG in Leverkusen, von der diese in der Rahmenhandlung von Epidemic mit einer Reisetasche voll Alka-Seltzer zurückkehren, nimmt sich in diesem Zusammenhang aus wie eine parodistische Kontrafaktur von Slothrops mäandernden Investigationen zur IG Farben und seiner eigenen Geschichte. Am Schluss von The Element of Crime blendet die Tonspur beinahe gleichzeitig mit dem Beginn des Abspanns, kurz nachdem Fishers letzte Frage verhallt ist, zu einem Chanson über, dessen Arrangement und Text die letzte Fährte des Films legen. „Ich suche in dem blutenden Europa/ nach dem, wonach ich suchte im Exil,/ ich suchte Künste, ewig bunte Gärten/ mit Bildern Rembrandts und Versen von Vergil“, beginnt der Text in der Tonspur zum Abspann. Es handelt sich dabei, einige Indizien dafür kann man dem Abspann selbst entnehmen, nicht um ein deutsches Chanson, sondern um die Bearbeitung einer Erfolgseinspielung der dänischen Schauspielerin und Sängerin Lulu Ziegler aus dem Jahr 1948: Den siste turist i Europa, komponiert von Henrik Blichmann und mit dem Text von Mogens Dam. Von einer halb verzweifelten, halb hoffnungsvollen Bestandsaufnahme in den noch rauchenden Trümmern des jüngstvergangenen Krieges erzählt die Reise dieses letzten Touristen in Europa; er verspricht zum Schluss – in von Triers Bearbeitung für den Abspann ist das allerdings nicht eingegangen –, auch als Erster wieder zur Stelle zu sein, wenn sich dereinst Europa als Phönix aus der Asche erhoben haben werde: Under asken vil der vågne et liv! Fordi du er som fugl Fønix, Europa! Lad dem kun brænde dig og skænde din sjæl –

27Ebd.,

S. 588.

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der vil dog altid spire nye, unge blomster om din splintrede søjlekapitæl. Jeg var den sidste turist i Europa, der veg forfærdet for våbnenes gny – jeg er den første turist i Europa, når det rejser sig af asken på ny!28

In dieser Ambiguität des ersten und letzten Touristen in Europa sehen sich die Protagonisten und sind die Erzählungen der drei Filme eingespannt. Europa als Zone zu imaginieren, bedeutet dabei auch eine Mobilisierung eines Modells der Verständigung über Europa, das nach Peter Burke und Tzvetan Todorov um die drei folgenden Imaginationskerne gestaltet werden muss: Abgrenzung gegen ein (feindliches) Außen, Übertragungspotenziale eines fremden Blicks, das Konfliktpotenzial interner Differenzen.29 Sie alle kehren wieder in den Binnenverhältnissen der Figuren und Erzählungen. Die Relationsmaschine der filmischen Zonen überschreibt, bis in die Details der teilweise technisch höchst aufwendigen Bildkompositionen, Raumgrenzen; sie überschreibt mit ihrer Faszination für hypnotische Anamnesen und andere Zustände Subjektgrenzen, sie überschreibt mit ihren erzählerischen Metalepsen die Sinngrenzen narrativer Modellierung. Den Optimismus, der Blichmanns und Dams Phönix-Fabel am Ende andeutet, streicht die Europa-Trilogie dabei allerdings ebenso aus wie den Humor von Pynchons Roman.

Literatur Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 1983. Apollinaire, Guillaume: Zone, in: Ders., Alcools. Poèmes 1898-1913. 3. Aufl. Paris: Éditions de la Nouvelle Revue Française 1920, S. 7–15. Berndt, Frauke: Zonen. Zur Konzeptualisierung von Ambiguität in der ästhetischen Theorie, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 16 (2018): Ambiguity in Contemporary Art and Theory, hg. von Frauke Berndt und Lutz Koepnick, S. 18 und 24. Buci-Glucksmann, Christine: Une abstraction impure: De Marcel Duchamp á la cartographie, in: Trans > Magazine 3/4 (1996), URL: http://www.transmag.org/nuevo_transmag/nuevodiseno/ content/vols.php?vista=issue&tipoview=Essays&view=98 (zuletzt abgerufen am 06.06.2020) Burke, Peter: Did Europe Exist before 1700?, in: History of European Idea 1 (1980), S. 21–29. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve 1992.

28Leicht

zugänglich ist eine Einspielung mit dem Pianisten Robert Levin, URL: https://www. youtube.com/watch?v=WftN7G3MctU (zuletzt abgerufen am 06.06.2020); der Text ist zu finden unter URL: https://www.festabc.dk/1/den-sidste-turist-i-europa (zuletzt abgerufen am 06.06.2020). 29Vgl. Burke 1980; Todorov 2008.

Karten, Zonen

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An Europa glauben? Die Staatengemeinschaft in zwei zeitgenössischen Dokumentarfilmen Johannes Wende

Ein junges Paar steht eng umarmt an einer irischen Steilküste. Die Kamera, die sie von hinten filmt, senkt sich etwas und gibt langsam den Blick frei auf das Meer und die Horizontlinie im Hintergrund. Ausgerechnet jetzt kommt etwas Sonne durch die Wolken und scheint auf die beiden. „Are we okay?“, fragt die junge Frau, und nach einer kurzen Pause antwortet der junge Mann: „Yes“. Es folgt der Abspann, der Dokumentarfilm Europe, she loves von 2016 endet mit dieser Einstellung. Dass es in diesem kurzen Dialog um mehr als nur um zwei junge Leute gehen könnte, darauf verweist dieser Film sowohl im Titel als auch schon im Vorspann, in dem eine ganze Reihe von EU-Politikern zu sehen ist. Über diesen Bildern erzählt Martin Schulz als Präsident des Europäischen Parlaments von den großen Verdiensten und Vorteilen, auf die die Bürgerinnen und Bürger der EU trotz aller Probleme stolz sein sollten. Auf persönlichster Ebene verhandelt also die letzte Einstellung des Dokumentarfilms Europe, she loves eine Frage, die seit Beginn der Finanzkrise 2007/2008 die Diskussion um die Europäische Union insgesamt beschäftigt: „Are we okay?“ – Hat diese Gemeinschaft noch Zuversicht in die Zukunft? Bleiben wir zusammen? Geht es uns immerhin noch gut genug, damit diese Verbindung nicht in ihre Einzelteile zerfällt? Europe, she loves ist ein Film, der in Parallelmontagen die Probleme von vier unterschiedlichen jungen Paaren zeigt. Immer wieder ist die tagesaktuelle Berichterstattung zu den Verwerfungen der Finanzkrise als verbindendes Element in die Montage gestreut. Indem der Film mit diesem Bild und mit diesem Dialog endet, bekennt er sich an entscheidender Stelle zu einem positiven Ausblick – und hat doch vorher allen Grund dazu geliefert, diesen skeptisch aufzunehmen: Denn in

J. Wende (*)  Abt.I – Medienwissenschaft, HFF – Hochschule für Fernsehen und Film, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_12

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den Szenen zuvor hatte das junge Paar aus Irland noch einen gemeinsamen Rückfall, sie haben wieder Heroin geraucht, obwohl sie sich fest vorgenommen hatten, damit aufzuhören. Noch haben sie keinen Entzug geschafft; das „Yes“ des jungen Mannes verdient also die Zweifel des Publikums. Schließlich enden auch zwei der vier anderen Erzählstränge dieses Films mit einer Trennung: Das junge Paar aus Griechenland verliert einander auf LSD im psychedelischen Rausch, die junge Frau aus Spanien verlässt allein ihr Land, sie fährt nachts auf der Autobahn davon, während ihr Freund als Wachmann vor einer nächtlichen Bauruine patrouilliert. Aus einer scheinbar ganz anderen Perspektive erzählt dagegen der Dokumentarfilm Democracy (2015) vom europäischen Gemeinschaftsprojekt: Der junge Grünen-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht wird vom EU-Parlament damit beauftragt, eine neue Datenschutzrichtlinie für das Online-Zeitalter zu entwerfen, die sowohl die Zustimmung des Parlaments als auch später der Kommission finden soll. Als am dramatischen Wendepunkt der Stillstand droht und ein Scheitern unausweichlich scheint, weil zu viele mächtige Lobbyvertreter eine Einigung zu verhindern suchen, hilft nur ein Deus ex Machina: Die Enthüllungen von Edward Snowden aktivieren die öffentliche Meinung auf eine Weise, dass auch wirtschaftsliberale und konservative Parteien sich dem Gesetzesentwurf anschließen. Und obwohl damit der Protagonist am Ende triumphiert, zeigt der Film diesen Erfolg nicht in propagandistischer Verklärung: Seine schwarz-weißen Bilder zeigen vor allem die vielen anstrengenden Gespräche mit unterschiedlichen Interessensvertretern in Sitzungen und in den Pausen dazwischen. Das „Happy End“ besteht in einer Runde Sekt auf dem Gang und ein paar Handy-Fotos in kleinen Gruppen. Auch hier könnte man also am Ende sagen: Für dieses Mal „sind wir okay“. Was aber die Zukunft bringt, darf mit Skepsis erwartet werden. Im Schlussbild dieses Films fliegt ein Hubschrauber mit Überwachungskamera hinter einen Horizont, der die verfallene Akropolis samt Baugerüsten der Restauratoren zeigt. Diese Einstellung legt nahe, dass das Projekt der demokratischen Gemeinschaftsordnung sich zwar auf ein legendäres historisches Vorbild berufen kann – seine Erhaltung heute aber gänzlich unheroische Kleinstarbeit erfordert. Diese beiden Dokumentarfilme der jüngeren Vergangenheit, die junge Menschen in Auseinandersetzung mit Europa zeigen, beschäftigen sich ausdrücklich mit der Frage, in welchem Zustand sich Europa heute befindet und welcher Zukunft es entgegensieht. Beide zeigen keine Helden. Sie zeigen den anstrengenden und verwirrenden Alltag, und ihre Suche nach gemeinschaftlichen Werten provoziert begründete Zweifel. Und trotzdem, so wird dieser Text versuchen zu belegen, sind sie geeignet, Vertrauen gegenüber dem Staatenbund zu schaffen. Anders als die tägliche Medien-Berichterstattung können diese beiden Filme etwas befördern, das in den letzten Jahren von vielen Stellen im öffentlichen Diskurs vermisst wird: einen Glauben an Europa. Dass eine weitgehend säkulare Gemeinschaft wie die EU in eine Verbindung zu setzen ist mit Erfahrungen von religiösem Glauben, sollen dabei die Erläuterungen von Georg Simmel über die soziologischen Dimensionen der Religion von 1906 verdeutlichen. Warum und wie sich ausgerechnet der Film als Medium dazu eignet, einen solchen Glauben

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zu bestärken, lässt sich des Weiteren mit Überlegungen aus der Film-Theorie von Gilles Deleuze besser verstehen.

1 Über Glauben und Gemeinschaft, über Film und Glauben Am Ende von Democracy hat es das EU-Parlament geschafft, ein Datenschutzgesetz zu verabschieden. Nicht erfolgreich war dagegen einige Jahre vorher der Versuch, eine gemeinsame Verfassung zu beschließen; unter anderem strittig war dabei die Frage, ob darin ein ausdrücklicher Gottesbezug vorkommen sollte.1 Über die Begründung der EU in religiösen Bezügen herrscht also offensichtlich keine Einigung. Und trotzdem, so schreibt Georg Simmel, trägt auch ein nichtoder noch-nicht-religiöser Glauben an eine Gemeinschaft stets Züge von Gottesglauben. Er verweist auf die Zeugnisse der geschichtlich ältesten Gemeinschaften, die stets auch Kult-Gemeinschaften gewesen seien. Später, beispielsweise im kaiserlichen Rom, hätten unterschiedliche Interessensgruppen häufig für sich eine entsprechende Gottheit etabliert. Im Umkehrschluss habe sich damals das diesen Gottheiten zugeschriebene Ziel auch stets auf diese Gruppe beschränkt und sozial noch nicht auf die Idee einer „gesamten Menschheit“ ausgegriffen. Simmel kommt dabei zu dem Schluss, dass jede persönlich empfundene Verbindung zu einer größeren Menschengruppe, die über eine bloße Zweckgemeinschaft hinausgeht, als quasi-religiös begriffen werden kann, mindestens aber in Begriffen des Glaubens beschrieben werden muss. Gerade die soziale Form einer repräsentativen Demokratie, die nicht alle Einzelentscheidungen jedem Einzelnen zur Abstimmung vorlegt, sondern über gewählte Vertreter funktioniert, ist gemeint, wenn er schreibt: „Daß wir über alles Beweisen hinaus, oft gegen alles Beweisen, an dem Glauben an einen Menschen oder an eine Gesamtheit festhalten, – das ist eines der festesten Bänder, mittels derer die Gesellschaft zusammenhängt.“ Und auch für erklärtermaßen säkulare Verbindungen konstatiert Simmel weiter: Religiös aber wird dieser Glaube nicht erst durch seine Ausspannung ins Transzendente, welche vielmehr nur ein Maß und eine Darstellungsart von ihm ist, sondern er ist es schon in seiner soziologischen Realisierung, die von vornherein von den Energien der formal religiösen Funktion durchdrungen ist.2

Ein gutes Beispiel für diese Verquickung bietet noch heute England, wo das nominelle Staatsoberhaupt gleichzeitig auch als oberste Vertreterin der nationalen Konfession eingesetzt ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es dagegen plausibel, warum ausgerechnet Frankreich in jüngster Zeit gegen einen Gottesbezug in einer

1Große Hüttmann, Martin/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Das Europalexikon. Bonn: Dietz 2013, S. 172. 2Simmel, Georg: Gesamtausgabe Bd. 10. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1995, S. 73 f.

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EU-Verfassung plädiert hat – schließlich bemühen sich hier seit der Revolution von 1789 die offiziellen Stellen stark um eine rituelle Feier und Verehrung des Staates als säkularer Einheit, die wiederum als quasi-religiöse Rituale beschrieben worden sind.3 Nun lässt sich freilich keine dieser Überlegungen direkt in der Handlung der beiden untersuchten Filme wiederfinden. Sie geben beide keine Andeutung einer irgendwie religiösen Motivation ihrer Figuren; im Alltag der noch jungen Paare scheinen weder traditionelle Religionen noch eine kultische Feier einer sozialen Gruppe eine Rolle zu spielen. Vielmehr beziehen sie dezidiert eine andere Perspektive: Europe, she loves zeigt immer wieder den Rückzug ins Innerste, Private, mit den wiederkehrenden Fragen nach romantischer Paarbeziehung, Drogenkonsum und persönlichen Zukunftsentwürfen. Und obwohl Democracy das Entstehen eines neuen Gesetzes begleitet, präsentiert der Film diesen Prozess in erster Linie als Geschichte eines einzelnen Protagonisten, der sich auf persönlicher Ebene nur mit seinem Mitarbeiter austauscht. Aber dennoch, obwohl beide Filme nicht darauf zielen, so wird hier argumentiert, können sie doch einen Glauben an die europäische Gemeinschaft vermitteln. Wie kann das vonstattengehen? Gilles Deleuze schreibt im zweiten Teil seiner Kino-Theorie Das ZeitBild von 1985 von einer Verwandtschaft zwischen Religion und Kino. Er verweist hier zuerst auf Ähnlichkeiten in der rituellen Aufführung und Rezeption von Kathedralen und frühen Kino-Sälen: „Gibt es nicht auch im Katholizismus die große Inszenierung? […] Das Kino scheint als Ganzes unter die Formel Nietzsches zu fallen: ‚worin wir noch fromm sind‘.“4 Als zentrale Funktionsweise stellt Deleuze hier die Fähigkeit des Kinos heraus, – anders als das Theater – die Verbindung zwischen Mensch und Welt nachvollziehbar werden zu lassen. Den Verlust ebendieser Verbindung beklagten Menschen in der Moderne und verwendeten dabei selbst oft noch filmische Metaphern: Das wesentliche Merkmal der modernen Zeit besteht darin, daß wir nicht mehr an diese Welt glauben. Wir glauben sogar nicht mehr an die Ereignisse, die uns widerfahren: an Liebe und Tod, als ob sie uns nur zur Hälfte angingen. Nicht wir machen das Kino, es ist die Welt, die uns als ein schlechter Film vorkommt.5

Eine Diagnose, die gerade auf die Figuren von Europe, she loves zu passen scheint, wenn sie mit ihrer Heroin-Abhängigkeit kämpfen wie das Paar aus Irland, wenn sie ihre Liebesbeziehung der Gegenwart ganz plötzlich aufgelöst sehen von getrennten Auswanderungsplänen wie das spanische Paar oder ganz konkret körperlichen Ekel voreinander entdecken auf einem schlechten LSD-Trip wie

3Willaime,

Jean-Paul: Zivilreligion nach französischem Muster, in: Heinz Kleger, Alois Müller (Hg.): Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa. München: Kaiser 1986, S. 147–174, hier: S. 164. 4Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1997, S. 223. 5Deleuze 1997, S. 224.

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das Paar aus Griechenland am Ende des Films. Ein irgendwie über das Kino vermittelter Glaube muss also offensichtlich nicht von den dargestellten Figuren geteilt oder gespiegelt sein, um ansteckend wirken zu können. Vielmehr muss er, zumindest laut Deleuze, in den medialen Bedingungen zu finden sein, die einen Film als Ganzes ausmachen. Der gedanklich anspruchsvollere Teil dieser Aussage bezieht sich dabei freilich auf den modernen Film; also auf eine Filmepoche, in der die gerade beschriebenen modernen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Welt ihre filmische Umsetzung gefunden haben. Hier zerstören ganze Filme oder einzelne filmische Situationen die vielfach überdeutlich herausgestellten Gewissheiten einer handlungsbetonten Dramaturgie und von psychologisch erklärbaren Protagonisten. Josef Früchtl hat sich, ausgehend von den Überlegungen Deleuzes, wiederholt mit der Frage auseinandergesetzt, wie ausgerechnet Filme der Moderne trotzdem (oder gerade deshalb) ihrer Zuschauerschaft ein „Vertrauen in die Welt“ zurückgeben können.6 Diese Erkenntnis kann aber nicht ohne weiteres auf unsere Beispiele übertragen werden: Beobachtende Dokumentarfilme lassen sich nur in Ausnahmefällen eindeutig einer filmischen Klassik bzw. Moderne zuordnen. Gleichzeitig legen sie aber den „Kurz-Schluss“ nahe, sie ermöglichten es besser, ein Gefühl des Glaubens zu stiften, weil in ihnen ja, im Unterschied zum Spielfilm, die gezeigte Wirklichkeit einer außerfilmischen Realität entsprochen haben muss. Mit dem vom Kino vermittelten „Glauben an die Welt“ ist jedoch nicht ein Glaube an die „tatsächliche Realität“ des Dokumentarfilms gemeint. Denn auch wenn in ihm natürlich der Glaube, also ein Vertrauen auf die Richtigkeit dieses Versprechens, eine wesentliche Rolle spielt, kann dieses Versprechen den von Deleuze angesprochenen Vorgang nicht begründen. Denn zum einen bezieht er sich in seinen Beispielen zur Katholizität des Kinos ja ausdrücklich auf das fiktionale Kino; und zum anderen kann der Glaube daran, dass das Gezeigte stattgefunden hat, allein noch keinen transzendenten Bezug eröffnen. So schreibt schon Simmel über den Gottesglauben, „daß, wenn der Religiöse sagt: ich glaube an Gott, damit noch etwas anderes gemeint ist als ein gewisses Fürwahrhalten seiner Existenz. Es sagt nicht nur, daß diese Existenz […] angenommen wird; sondern es bedeutet ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm […].“7 Welche Möglichkeiten stattdessen bleiben also dem Dokumentarfilm, um im Rahmen des medial Filmischen dennoch einen Glauben zu vermitteln, der über den Film allein ins Soziale hinausweist? Die beiden am nächsten liegenden Motive, die Deleuze nennt, sind entweder erkennbar katholische oder aber sozialrevolutionäre Motive innerhalb des Films selbst – ein Bezug, den wir jedoch für unsere beiden Filme bereits ausgeschlossen haben. Zentral nennt er dann aber die Frage nach einer Verbindung zwischen Mensch und Welt: „Das Band zwischen Mensch und Welt ist zerrissen.

6Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films. München: Wilhelm Fink Verlag 2013. 7Simmel 1995, S. 70.

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Folglich muß dieses Band zum Gegenstand des Glaubens werden“.8 Hier geht es also um ein Verhältnis, das in jüngster Zeit Hartmut Rosa als zentralen Begriff der „Resonanz“ (in Opposition zur „Entfremdung“ der Moderne) auch potenziell im Religiösen verortet sieht: Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig: […] Religion kann dann verstanden werden als die in Riten und Praktiken, in Liedern und Erzählungen, zum Teil auch in Bauwerken und Kunstwerken erfahrbar gemachte Idee, dass dieses Etwas ein Antwortendes, ein Entgegenkommendes –und ein Verstehendes ist. Gott ist dann im Grunde die Vorstellung einer antwortenden Welt.9

Eine wichtige Frage an die untersuchten Filme wird also sein, wie genau sie dieses Band zwischen Mensch und Welt herauszustellen in der Lage sind. Darüber hinaus lässt sich für das klassische Kino aus Deleuzes erstem Band Das Bewegungs-Bild auch noch die Bedeutung der Geschlossenheit bzw. Einheit des Geschehens sowie die besondere Rolle der Kausalität der Handlung anführen – wobei sich auch an dieser Stelle wiederum direkt die Überlegungen von Georg Simmel anschließen lassen, sieht er doch im Fluchtpunkt jeder Religiosität die Vorstellung von Gott als einer Verkörperung jeglicher Kausalität: Ihm entspricht die Unterströmung von Suchen, von „dahin, dahin“, von Unruhe, von der alles einzelne Verändern-wollen nur Erscheinung oder Teil ist. Indem Gott „das Ziel überhaupt“ ist, ist er eben das Ziel des Suchens überhaupt. Damit zeigt sich auch der tiefere Sinn seines Ursprungs als Verabsolutierung des Kausaltriebs.10

Und als zentrale Parallele zu sozialen Fragen stellt er dem Glauben das Gefühl einer Einheit kleiner Gruppen entgegen, die sich wesentlich gegen ein „Anderes“, ein „Außen“ definiert: „Die Synthese zur Gruppe ist das Prototyp [sic!] der gefühlten, bewußten Einheit – jenseits der Persönlichkeit –, und ihre eigentümliche Form spiegelt oder sublimiert sich in der religiösen, durch die Gottesbegriffe zusammengehaltenen Einheit des Daseins.“11 Wie konkret können diese drei Merkmale des Filmischen: die funktionierende Verbindung zwischen Mensch und Welt, die Kausalität der Ereignisse sowie deren Einheit, in den beiden genannten Filmen dazu führen, einen nicht-rationalen Glauben an die europäische Gemeinschaft zu fördern?

8Deleuze

1997, S. 224. Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2016, S. 435. 10Simmel 1995, S. 75 f. 11Simmel 1995, S. 78. 9Rosa,

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2 Die Verbindung zwischen Mensch und Welt Democracy beginnt und endet mit einem Bild von einer sehr extremen Art der medialen Verbindung zwischen Mensch und Welt: der weit entfernten Aufnahme eines einsamen, hoch fliegenden Hubschraubers, an den eine Kameravorrichtung montiert ist, ein „fliegendes Auge“ im Himmel gewissermaßen. Zu Beginn wird dieses sehr lange gehaltene Bild des Fluggeräts langsam invertiert, also vom „Positiven“ ins „Negative“ überblendet. Dieses erste und letzte Bildobjekt des Films steht auch für eine größtmögliche Entfremdung zwischen Mensch und Welt, eine abgehobene Kontrollinstanz, die selbst unkontrollierbar, unerreichbar erscheint – ein Sinnbild dafür, worüber die Filmfiguren verhandeln: Denn das geplante Datenschutzgesetz soll die Bevölkerung der EU gerade davor bewahren, ihre persönlichen Daten im Internet preiszugeben, ohne es selbst zu merken, und die Verfügungsgewalt über sie damit zwangsläufig an die großen US-amerikanischen Internetfirmen zu übergeben. Das im Film gezeigte politische Ringen ist also auch ein Kampf gegen die von zeitgenössischer Technik immer weiter entwickelte Entmündigung. Dabei bildet gerade einen zentralen und pauschal vorgebrachten Kritikpunkt an der EU, dass sie selbst von ihren Bürgerinnen und Bürgern weitgehend entfremdet ist, dass Brüssel zwar bis ins Detail das Leben der Menschen überwacht und beeinflusst, diese politische Einflussnahme aber wiederum der Kontrolle und Einsichtnahme durch den Einzelnen entzogen, abstrakt und weit entfernt erscheint. Die Frage nach einer Verbindung zwischen Mensch und Welt erscheint also diesem Film gleich zweifach als zentrale Frage seiner Hauptfiguren eingeschrieben. Im Gegenzug macht er als zentrales Gestaltungsmittel gerade etwas so Abstraktes wie die Entwicklung einer Gesetzesvorlage zu einer persönlichen Angelegenheit, indem er die meiste Zeit über den damit beauftragten Abgeordneten Jan Philipp Albrecht begleitet, einen Abgeordneten der Grünen, der, ganz parteikonform, wenig Wert auf bürgerliche Kleider-Konventionen legt, der bei der Leitung eines politischen Gremiums ähnlich spricht wie im persönlichen Austausch und der noch im Gespräch mit seiner Freundin dieses, sein zentrales politisches Anliegen diskutiert. Das abstrakte Projekt wird so persönlich. Aber auch die besonderen medialen Bedingungen des Films bemühen sich um eine Verbindung von Dingen, die tagesaktuelle Medien voneinander trennen. So wird zum Beispiel gezeigt, wie die EU-Kommissarin Viviane Reding, in weiter Profil-Aufnahme, mit einer ganzen Gruppe von Reportern und auf sie gerichteter Kameras umgeht. Anders als in der Fernsehberichterstattung nimmt der Film hier die Bedingungen mit auf, unter denen Informationen an die Bürger abgegeben werden, ebenso wie Viviane Redings Ankündigung „I’ll do it first in German, then in English, ok?“ nun im Film zu sehen ist. Ein kurzes Statement, auf das später ein langer Gang durch das Gebäude der Kommission folgt, bei dem die Kamera immer in ihrem Rücken bleibt, kurz bevor sie zur Pressekonferenz auf die Tribüne tritt – das vielfache „Dahinter“ des sonst nur abstrakt wahrnehmbaren Apparates, die vielen Anforderungen an seine Politikerinnen und Politiker macht

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der Dokumentarfilm so unmittelbar nachvollziehbar. Ebenso lässt er wiederholt in Sitzungen die Außengeräusche herein – so z. B. die von Basketballspielern, die sich langsam verstärken, bis die Spieler für eine Außen-Einstellung tatsächlich zentral ins Bild genommen werden. Auch die abgeschlossene Welt der Sitzungszimmer bleibt eingebettet in den Alltag ihrer Bürgerinnen und Bürger. Europe, she loves verfolgt dagegen das fast spiegelgleich konträre Projekt, denn sein zentrales Thema ist nicht die „abgehobene“ Politik, sondern das vielleicht am weitesten verbreitete Ideal gelingender Resonanz, die romantische Paarbeziehung. Daneben bemühen sich alle zentral gezeigten Filmfiguren um einen meist sehr grundlegendenden Anschluss an die Welt: Sie suchen einen Job, finanzielle Unabhängigkeit, Konsequenzen ihrer politischen Überzeugung, sie verhandeln eine gemeinsame Zukunft als Paar. Aber indem dieser Film noch einen großen Schritt näher an seine Figuren herantritt, als Democracy das tut – er zeigt sie beim Sex, beim Ladendiebstahl und gemeinsamen Drogenkonsum –, gibt er auf der anderen Seite Einblick in Varianten ganz existenzieller Entfremdung. So schwankt die junge Frau aus Griechenland ihrem Partner gegenüber zwischen Liebesbekundungen auf der einen und Verachtung sowie Ekel auf der anderen Seite. Die Protagonistin aus Tallinn, die sich zuvor als liebevolle Mutter gezeigt hat, eröffnet ihrer Freundin, all ihre Probleme ließen sich eigentlich darauf zurückführen, dass sie Kinder bekommen habe. Und die junge Irin kämpft damit, dass sie von ihrem Freund im nüchternen Zustand kein Bekenntnis seiner Liebe bekommt, vielmehr „my little poo-poo“ („mein kleiner Scheißhaufen“) genannt wird. Die Unternehmungen dieser Filmfiguren sind also, anders als in Democracy, äußerst intim und stellen dabei ganz zentral das Gelingen einer Verbindung von Mensch und Welt infrage. Anders auch als die Erzählung aus der Regierungszentrale thematisiert Europe, she loves an keiner einzigen Stelle die besondere Situation der Aufnahme. Obwohl das Team aus Regie, Ton und Kamera noch in kleinste Wohnräume vordringt, reagieren die Figuren nie darauf, thematisieren es in Gesprächen kein einziges Mal. Dafür aber zeigt sich die Kameraführung hochsensibel in der Frage, wie sie auf die Bewegungen der Aufgenommenen zu reagieren hat, sie tastet sie vorsichtig ab und scheint sie so bildlich zu „erspüren“. Zudem bleibt auffällig, wie dieser Film auch mit der vielleicht wichtigsten filmischen Operation umgeht, die für eine Verbindung von Mensch und Welt steht: dem Verfahren von „Schuss und Gegenschuss“. Hier handelt es sich um eine kurze Montage aus mindestens zwei Einstellungen, die zuerst eine Figur in Großaufnahme zeigt, deren Gesichtsfeld und Reaktionen sich erkennbar auf etwas konzentrieren, das selbst nicht im Bild enthalten ist; woraufhin im Umschnitt sofort danach das vermeintliche Objekt dieses Blickes gezeigt wird – manchmal sogar in einer Weise aufgenommen (beispielsweise verwackelt oder verwischt), die nahelegt und gleichzeitig nachvollziehen lässt, wie der Anblick auf die zuerst gezeigte Figur selbst gewirkt hat – ein als spezifisch filmisch beschriebenes Verfahren, das vielleicht am besten verdeutlicht, warum eine Verbindung zwischen Mensch und Welt im (Spiel-)Film so nachvollziehbar dargestellt werden kann wie in kaum einer anderen Kunstform. Der beobachtende Dokumentarfilm dagegen operiert meist nur mit einer Kamera, kann

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also diese eigentlich leicht zeitversetzte Schnittfolge des Spielfilms in aller Regel nicht nachbilden. Europe, she loves hingegen zeigt mehrfach Unterhaltungen im Schuss-Gegenschuss-Verfahren oder präsentiert scheinbare Stimmungsbilder von vorbeiziehenden Vogelschwärmen als wahrgenommene Eindrücke seiner Figuren, indem gleich darauf die Großaufnahme ihrer Gesichter folgt. Dem davonfliegenden Hubschrauber aus Democracy schaut niemand hinterher außer dem Film selbst. Dieser kommt daraufhin den sonst stereotyp als abgehoben bezeichneten Politikern ganz nahe, macht sich selbst zum Thema und lässt so die Verbindungen erahnen, die es zwischen der „großen Politik“ und den „kleinen Leuten“ gibt. Den Vögeln aus Europe, she loves, im Umkehrschluss, werden die Probleme der Menschen unter ihnen ganz egal sein; dafür werden sie aber in deren Wahrnehmung zu Stellvertretern ihrer offenen Fragen: Bleiben wir zusammen oder trennen wir uns? Ziehen wir mit dem Schwarm dorthin, wo das Leben leichter ist, oder bleiben wir? Indem die Kamera den Figuren einerseits extrem nahe kommt und andererseits sich selbst zum Verschwinden bringt, stellt sie scheinbare Sicherheiten wie die romantische Paarbeziehung als „sicheren Hafen“ einer Verbindung zwischen Mensch und Welt infrage. Einerseits lotet dieser Film also sehr explizit die Untiefen der modernen Entfremdung aus, andererseits lässt er sein Publikum aber auch direkt teilhaben an Momenten der Resonanz, die seine Figuren erleben.

3 Die Kausalität der Ereignisse Wenn Simmel die Gottesvorstellung als „Verabsolutierung des Kausaltriebs“ beschreibt, kann der Film als Medium der Narration daran anknüpfen. Im erzählenden Film bleibt die Kausalität der Ereignisse ein ihm wesentlich eingeschriebenes Merkmal, das es ihm ermöglicht, überhaupt Sinn zu vermitteln.12 Anders als beim Schuss-Gegenschuss-Verfahren gilt diese Funktionsweise für den Spiel- ebenso wie für den Dokumentarfilm. Auch dem Setting von Democracy ist das Primat der Kausalität bereits eingeschrieben. Denn anders als in autoritären Staatsformen, in denen sich eine Regierung nicht erklären muss, sondern auf blinden Gehorsam setzen kann, ist der demokratische Prozess ein zuvorderst kausal argumentierendes System: So müssen im Verlauf der Handlung stets bestimmte Hürden genommen werden, die als Voraussetzung des später Folgenden dargestellt sind. Zudem zeigt der Film, wie alle Beteiligten, also auch die Kritiker dieses Gesetzentwurfs, sich darum bemühen, ihre Argumente möglichst plausibel vorzubringen, um so eine Mehrheit zu gewinnen. Im Interview für die Kamera überschneiden sich dabei die politischen Teilhaber ganz direkt mit dem Filmpublikum. Die öffentliche Meinung kann auch dieser Film beeinflussen. Und er ist bemüht, das, was in ihm passiert, auch als jeweils folgerichtiges Ergebnis der

12Bordwell,

S. 157.

David: Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press 1985,

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zuvor dargestellten Ereignisse zu zeigen. An einer höchst zentralen Stelle zeigt sich hingegen die dann doch entscheidende Macht des Zufalls: Als nach etwa zwei Dritteln der Filmzeit das Gesetzgebungsverfahren gescheitert scheint, weil die Lobby-Arbeit inzwischen ihren Einfluss ausgespielt hat, hilft nur der Deus ex Machina in Gestalt Edward Snowdens. Erst dessen Enthüllungen verhelfen dem unanschaulichen Problem der Datensicherheit im Internet zu großer Aufmerksamkeit und drehen die öffentliche Meinung gleichzeitig zugunsten der Arbeit von Albrecht. „We have to thank the Americans!“, verkündet Viviane Reding strahlend und mit unverhohlener Schadenfreude – denn schließlich sind es vor allem die US-amerikanischen Digital-Konzerne, gegen deren Geschäftsmodell das Gesetz Schutz bieten will. Auf den ersten Blick könnte diese Abhängigkeit vom Zufall das Vertrauen in die Politik der EU schwächen, schließlich wäre ohne Snowden dieses wichtige Projekt wahrscheinlich gescheitert. Nur dadurch aber, dass schon vor dessen Enthüllungen die Politiker an der Ausformulierung dieses Gesetzes gearbeitet haben, kann dieser Moment überhaupt als glückhaft genutzt werden: Ohne die vom Film gezeigte Vorarbeit hätte die Aufregung sich wahrscheinlich wieder gelegt, bevor es zur Entscheidung gekommen wäre. Der Deus ex Machina verhilft dabei in gleichem Maße dem gezeigten politischen Unternehmen wie dem Film selbst zum Erfolg. Denn dabei zuzusehen, wie die Initiative eines jungen Abgeordneten über Monate und Jahre an zahlreichen, jeweils relativ undramatischen Hürden scheitert, bevor sie zum Ende eventuell nochmals aufgegriffen worden wäre, wäre auch narrativ höchst unbefriedigend gewesen. Das Gelingen des Projekts führt somit auch den Film zu einem befriedigenden Ende. Auch in Fragen der narrativen Kausalität bildet Europe, she loves dazu ein spiegelbildliches Unterfangen: Denn genauso wie eben für den anderen Film hypothetisch beschrieben, zeigt sich das Ende dieses Films tatsächlich offen und unentschlossen, was natürlich zentral damit zusammenhängt, dass seine Figuren zu Beginn kein ähnlich klares Ziel ins Auge fassen wie der junge Politiker in Brüssel. Die Erzählung lässt offen, nach welchen Kriterien sie überhaupt zur Beobachtung ausgewählt worden sind. Viele zentrale Fragen – ob ein Pärchen zusammenbleibt, ob die jungen Leute für sich die richtigen Lebensentscheidungen getroffen haben, ob sich ihr Leben dauerhaft ändern wird – bleiben unbeantwortet. Nur auf niedrigster Ebene ergeben sich hier kausale Verknüpfungen zwischen den Ereignissen; oft steht an deren Ende nicht einmal ein messbarer Erfolg: Es bleibt zweifelhaft, ob die nur von Vernunft motivierte Heroin-Abstinenz des irischen Pärchens wirklich von Dauer sein wird. Auch im Fall des jungen Spaniers, dem der Film bei mehreren Versuchen folgt, eine Arbeit als Sicherheitsmann zu finden, bis er am Ende schließlich erfolgreich ist, wirkt das Bild, in dem er zum Schluss nächtens einen unfertig verharrenden Rohbau bewacht, eher verlassen und traurig, und nur weil seine Freundin im Internet eine Meldefrist nicht beachtet hat, kann sie sich nicht zum Master-Programm bewerben und verlässt daraufhin ihr Land und ihre Beziehung. Anders als im anderen Film scheint die Kausalität hier also nicht befriedigend zwischen den Ereignissen zu vermitteln, es kommt ihr keine ordnende Kraft zu. Stattdessen deutet der Film, indem er immer wieder Rundfunk-Beiträge zur Finanzkrise einblendet, unterlegt oder sie seine Figuren anhören

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lässt, eine ganz zentrale Kausalität an, die allein auktorial vermittelt erscheint. Denn kaum eines der gezeigten Gespräche nimmt direkt Bezug darauf: dass die Probleme und die unbefriedigende Zukunft dieser jungen Leute eine Folge der damals aktuellen Krise sind. Das Private ist eine kausale Folge des Politischen, so ließe sich die zentrale Annahme dieser Montage von Europe, she loves zusammenfassen. Was das Leben dieser Menschen ausdrücklich nicht mitbringt, gibt stattdessen der Film ihnen vor. Democracy also präsentiert höchst kausal motivierte Figuren und eine entsprechende Handlung, die aber, genauso wie der Film selbst, an einer entscheidenden Stelle vom Zufall abhängt. Europe, she loves dagegen nimmt sich die kleinen, als unpassend erscheinenden und vom Zufall durchsetzten Kausalitäten des alltäglichen Lebens vor, um sie in einer Klammerbewegung des Films selbst in eine umfassende Argumentation einzupassen.

4 Die Einheit der Vielfalt Eine Rahmung, also die Auswahl von bestimmten Elementen zu einer Einheit, die darüber verfügt, was zu ihr gehört und was nicht, erscheint ebenfalls gleichzeitig als Grundbedingung für das Medium des Films wie für den religiösen Glauben der Menschen. So muss der Film sich entscheiden, welche Figuren einer Handlung er überhaupt zentral in Szene setzt und welche deswegen im Hintergrund bleiben müssen; er muss des Weiteren entscheiden, welche Handlungen er für seine Handlung als wesentlich erachtet, und die meist viel zahlreicheren unwichtigen übergehen; und schließlich setzt auch das Kamerabild in jedem Moment eine Entscheidung voraus, was (noch) im Blickfeld zu sehen ist und was ausgeschlossen bleibt. Aus mindestens diesen drei Vorgängen einer Auswahl bildet der Film eine Synthese, deren Zusammenhalt zu einer als sinnstiftend codierten Einheit in vieler Hinsicht dem zuvor mit Simmel beschriebenen proto-religiösen Moment der Gruppen-Gemeinschaft entspricht. Wie aber unternehmen die beiden untersuchten Filme solche Operationen der Geschlossenheit? Democracy bemüht dafür das traditionelle Stilmittel der Prolepse, also eines Vorgreifens an fast das Ende der geschilderten Ereignisse, um dann mit einem „Zwei Jahre früher“ zu erklären, wie es überhaupt zu diesem Ergebnis gekommen ist. Sowohl dieser Prolog als Beginn der Erzählzeit als auch der früheste Moment der erzählten Zeit nehmen den Protagonisten Jan Philipp Albrecht in den Fokus. Er wird die meiste Zeit über an seinem Arbeitsplatz, dem EU-Parlament, gezeigt. Wenn es zwischen einzelnen Szenen zu Aufnahmen eines „Außen“ kommt, stammen diese vorwiegend aus der unmittelbaren Umgebung, aus der Stadt Brüssel. Die örtliche und personelle Fokussierung ist also von der Handlung weitgehend vorgegeben. Die auffälligste Operation von Geschlossenheit, die dieser Film vorführt, ist dabei die einer zeitlichen Auswahl. Denn in einer Zeit von anderthalb Stunden, die der Film dauert, sind Vorgänge geschildert, die sich über mehrere Jahre erstrecken. Erst diese Auswahl ermöglicht es, die zuvor erwähnte enge Kausalität der politischen Ereignisse überhaupt als solche nachzuvollziehen,

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an das Gelingen des Projekts zu glauben, gerade weil die Ereignisse zuvor alle darauf hingezielt hatten, selbst noch zu einer Zeit, da ihr eigentlicher Protagonist schon resigniert zu haben scheint. Gleichzeitig vermögen die Notwendigkeit und Fähigkeit des Films zur Auswahl einer Einheit auch die scheinbar kleinen Dinge des Lebens mit einer Bedeutung aufzuladen, die sie in einen größeren Sinnzusammenhang setzt. So beispielsweise, als Jan Philipp Albrecht zu Beginn der Handlung, vor der entscheidenden Präsentation, versucht, sich einen Krawattenknoten zu binden und dabei erkennt: „Das wird der Knoten meines Lebens.“ Und auf ein erstes Scheitern hin eröffnet: „Das müssen wir nochmal machen!“ – ein Vorgriff im Kleinen darauf, was die Handlung im Großen ausmachen wird: einen komplizierten Knoten zu knüpfen und sich von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen. Eine solche Synthese der unterschiedlichen Momente zu einer eng verknüpften Einheit vermag es auch, das scheinbar Unbedeutsame, Lästige als Abbild eines großen Ganzen erscheinen zu lassen. Schließlich bietet Europe, she loves auch in dieser Frage ein Gegenbild, denn die Dauer der gezeigten Ereignisse wird kaum thematisiert. Die Zuschauer können nur erahnen, ob sie bloß eine Woche im Leben dieser Figuren als Zuschauer miterleben oder einen viel längeren Zeitraum. Wo das Erreichen von Zielen nicht im Vordergrund steht, bleibt auch der zeitliche Ablauf der Handlung, ja selbst die Frage nach ihrer tatsächlichen Chronologie, nur zweitrangig. Ein Gefühl für die personelle Einheit der Handlung stellt sich ebenfalls erst spät ein: An keiner Stelle begründet der Film, warum er genau diese Figuren begleiten möchte. Der Umschnitt von einem Ort an den anderen erfolgt häufig völlig unvermittelt; gerade zu Beginn ist also unklar, wer hier porträtiert werden soll und nach welchen Kriterien die Montage vor sich geht. Und so besteht die zentrale Synthese dieses Films aus der Behauptung einer Verbindung zwischen diesen Personen und, vor allem, einer räumlichen Einheit, in die er sie scheinbar versetzt. Schon die zweite Überschrift auf der Hülle der DVD kündet (ohne Satzzeichen) davon: „Tallinn Sevilla Dublin Thessaloniki“. Dieser Film zeigt also eine Montage ähnlicher Settings, jeweils einer jungen Paarbeziehung aus Frau und Mann samt ihren alltäglichen Problemen, aus vier mittelgroßen Städten der EU, die grob auch vier Außenpunkte ihrer räumlichen Ausdehnung bezeichnen. Die Einheit, die dieser Film in seiner Montage herstellt, wird folglich auch programmatisch zur Deckung gebracht mit der örtlichen und kulturellen Einheit der politischen Union. Dabei arbeiten die verschiedenen Figuren auf den ersten Blick nicht an einem gemeinsamen Projekt, ganz im Gegenteil: Der Film zeigt sie fast nur in Auseinandersetzung mit privatesten Themen. Aber auf den zweiten Blick lassen sich genau hier dann Verbindungslinien ziehen, Muster erkennen, die auf ein größeres Ganzes verweisen. So ähneln sich recht bald die gezeigten jungen Erwachsenen in ihrer Verwirrung, ihrer Verhandlung von grundsätzlichen Fragen. Gerade in dem, was die jungen Paare voneinander trennt, erscheint also Verbindendes über Staatsgrenzen hinweg – in der Rolle, die der Drogenkonsum in ihrem Leben spielt, in der Frage nach den Grundlagen der partnerschaftlichen Kommunikation und schließlich darin, dass es fast immer die Frau ist, von der eine bewusste Unzufriedenheit und ein Antrieb zur Veränderung ausgeht.

An Europa glauben?

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Die Einheit, welche Democracy schafft, begründet sich also darin, aus den unendlich vielen Ereignissen im Zeitraum von über zwei Jahren eine sehr kleine Auswahl getroffen zu haben; eine Auswahl, die das komplexe Projekt der Gesetzesfindung zu einer von Kausalität und Intention gelenkten Aktion macht, die die Zuschauer in kurzer Zeit nachvollziehen können. Europe, she loves dagegen scheint sich in seinem Vorgehen genau diesem Anspruch zu widersetzen – und schafft es doch, in scheinbar ungeplanten Sprüngen quer über den Subkontinent von einer Gemeinschaft auf allerpersönlichster Ebene zu erzählen.

5 Ein Schluss In Bezug auf die drei hier untersuchten Fragestellungen unterscheiden sich die beiden Filme in fast gegengleicher Weise, und doch erklären beide zu Beginn ihren (gemeinsamen) Unterschied zu einer medialen Form, die sonst unser Bild von der EU entscheidend prägt: zur Nachrichtenberichterstattung des Fernsehens. So zu Beginn von Democracy, wenn Viviane Reding vorfährt und vor ein Panorama versammelter Kameras tritt. So auch zu Beginn von Europe, she loves, als die Filmkamera noch hinter den TV-Kameras ein Bild von den Übertragungen einer offiziellen politischen Feierstunde gibt, wobei der griechische Protagonist in der Szene zuvor noch räsoniert hatte: „Die meisten Menschen gucken nicht wirklich Fernsehen. Sie lassen es nur laufen.“. Das meiste von dem, was hier aufgezeigt wurde, unterscheidet die beiden Filme ganz wesentlich von der politischen Nachrichtenberichterstattung. Von ihr fordert ein Publikum in der Regel eine Konzentration auf „das Wesentliche“, worunter eine Verbindung von Mensch und Welt nicht gezählt wird: Der Gang eines Politikers durch die Korridore des EU-Parlaments gilt nicht als berichtenswert. Auch bleibt die Kausalität zwischen den von ihr geschilderten Ereignissen in aller Regel insular; sie endet abrupt mit jedem einzelnen ihrer Beiträge beim Wechsel zur nächstwichtigsten Nachricht. Und so bleibt auch die äußere Einheit der politischen Berichterstattung vor allem auf Äußerlichkeiten beschränkt: auf die personelle Konstanz der unpersönlich formulierenden Moderatoren, auf das äußere Erscheinungsbild der Sendung und die wiedererkennbaren, formalen Vorgaben ihrer Formate. Im Vergleich dazu ist der Film als besondere mediale Form besser geeignet, die drei Elemente aufzugreifen, die von Georg Simmel und Gilles Deleuze noch vor jedem transzendenten Bezug als glaubensstiftend beschrieben worden sind. Wenn die Frage also ist: „Wie lässt sich ein zeitgemäßer Glauben an die europäische Staatengemeinschaft vermitteln?“, dann macht die Analyse der gewählten Filme deutlich, dass es im zeitgenössischen Dokumentarfilm nicht um eine naive und durchschaubare Einflussnahme im Sinne des Propagandafilms geht. Vielmehr sind es ganz unterschiedliche und medial bewusste Operationen, mit denen das Kino die Verbindung zwischen Mensch und Welt, die Kausalität zwischen Ereignissen sowie die Einheit ihrer Vielfalt aufzeigt und konstruiert. Denn Deleuze schreibt ausdrücklich nicht von einem einzelnen Film, der glauben mache, sondern fragt

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nach dem medialen Ganzen, nach der möglichen Katholizität des Kinos. Die beiden hier besprochenen Filme stehen in diesem Sinne auch nicht in Konkurrenz zueinander, vielmehr bringen sie gerade ihre Unterschiede zu einer Deckung, die mehr noch für ein gemeinsames Projekt steht als für Widerstreit. Besonders deutlich wird dies immer dann, wenn beide Filme sich zu berühren scheinen: Wenn in Europe, she loves die Aussagen der Politiker plötzlich vom Hintergrundrauschen in den Vordergrund rücken, kennt das Publikum des anderen Films deren Arbeit aus nächster Nähe. Und wenn in Democracy die Geräusche der jungen Ballspieler vor dem Sitzungszimmer immer lauter werden, haben die Zuschauerinnen und Zuschauer des anderen Films in einige existenzielle Abgründe der jungen Menschen geblickt, deren Schutz und Zukunft hier verhandelt wird. Zeitgleich mit der Frage des „Are we okay?“ wird zudem auch ein anderer Diskurs geführt, der diese Frage berührt: der Diskurs um die Aufgaben des öffentlichrechtlichen Rundfunks, dem in Europa wohl wichtigsten Finanzier solcher Filmprojekte wie Democracy oder Europe, she loves. In letzter Zeit mehren sich dabei die Beiträge, die dafür plädieren, seine Aufgaben auf die reine Information, auf die bloße Berichterstattung zu beschränken. Anders als die privaten MedienAnbieter ist ein Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk jedoch von einem Vertrauen in die Politik, von einem Vertrauen auf politische Gemeinsamkeit nicht zu trennen. Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, dessen Selbstverständnis im „öffentlichen Auftrag“ begründet liegt, sollte sich schon aus eigenstem Interesse auch weiterhin über die Fokussierung auf „bloße Information“ hinaus an einer Finanzierung dieses Kinos beteiligen, sollte nicht zuletzt hier auch weiter daran mitarbeiten, den Glauben an diese Gemeinschaft auf der jeweiligen Höhe der Zeitgenossenschaft zu befördern.

Literatur Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press 1985. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1997. Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films. München: Wilhelm Fink Verlag 2013. Große Hüttmann, Martin/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Das Europalexikon. Bonn: Dietz 2013. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2016. Simmel, Georg: Gesamtausgabe Bd. 10. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1995. Willaime, Jean-Paul: Zivilreligion nach französischem Muster, in: Heinz Kleger, Alois Müller (Hg.): Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa. München: Kaiser 1986, S. 147–174.

Europa auf hoher See Meerfahrt mit Hans Pleschinskis Roman Brabant (1995) Michael Braun

In seinem Essay Lʼautre cap (1990), der zeitgleich in fünf Sprachen in der Literaturzeitschrift Liber, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, LʼIndice, El Pais und Le Monde erschien, sucht Jacques Derrida nach etwas, was die Grenzen Europas umreißen kann. Seine Antwort ist recht überraschend. Mit dem ‚anderen Kap‘ findet Derrida ein Bild für eine Identität Europas, die räumlich über die Grenzen des Kontinents hinausweist und den Vorhang vor der kolonialen Vergangenheit Europas beiseiteschiebt. Diese Geschichte ist untrennbar mit der Überquerung der Weltmeere und der Inbesitznahme des Fremden verbunden; als Derridas Essay 1992 in Buchform erschien, wurde des 500. Jahrestags der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus gedacht. ‚Kap‘: das ist ein Wort aus der Sprache der Seefahrt. Es meint „den Pol, das Ende, das Ziel, das Telos einer gerichteten, berechneten, gewollten, beschlossenen, ausgemachten, angeordneten Bewegung“.1 ‚Kap‘ ist also ein Richtungs- und Bewegungsbegriff. Er hat mit dem Kapitän zu tun, der den Kurs eines Schiffs angibt; der Kapitän ist das Haupt (caput) der Besatzung, er verzeichnet die Reiseabschnitte (die Kapitel) im Logbuch. Es ist in unserem Zusammenhang interessant, dass Derrida in Anlehnung an Paul Valérys Europaessays2 das Mittelmeer als Stifter von „‚Geist, Kultur

1Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 15. 2Vgl. Valérys Essays Die Krise des Geistes (1919), Europäischer Geist (1922) und Die Freiheit des Geistes (1939); dazu Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Piper Verlag 1992, S. 301 f. und S. 308.

M. Braun (*)  Philosophische Fakultät, Institut für Deutsche Sprache und Literatur II, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_13

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und Handel‘“ versteht.3 Damit wird das Meer, oder genauer gesagt: das Schiff, zum Medium, zum Transportmittel der europäischen Idee, denn auf Schiffen wurden seit jeher Ideen nach Europa importiert und von dort aus in die Welt gebracht, so dass man mit Fug und Recht sagen kann: auf den Meeren beginnt eigentlich die „Europäisierung des Geschichtsbildes“.4 Das Schiff ist in Derridas dekonstruktivistischer Bildlogik das Medium Europas schlechthin; zugleich ist es ein poetologisches Medium, das den nautischen Kern unserer umgangs- und fachsprachlichen Redewendungen freilegt: „Seemannsgarn, Erzähl fluss, stream of consciousness alias Bewusstseinsstrom“ belegen die „Wahlverwandtschaft von Erzählen und Navigieren.“5 Und von der Medialität Europas kann man desto besser erzählen, je mehr man Europa aus der Entfernung betrachtet, will heißen: auf einer Schiffsreise, auf einer Weg- oder Rückfahrt, wobei man mit den Reiserisiken von Sturm, Schiffbruch und Untergang rechnen muss. Eine positive Probe auf diese Theorie ist Hans Pleschinskis Roman Brabant.6 Das Buch ist 1995 erschienen, und es führt einen Schiffsnamen schon im Titel. Die „Brabant“ ist ein – fiktives – belgisches Hotelschiff. Es gehört einem 1932 gegründeten (24), „paneuropäischen“ (21) Kulturverein mit dem schmucken Namen ‚Artemis‘. Der Dreimaster liegt am Grote Plein in Nieuwpoort vor Anker. Am 1. Oktober 19947 sticht die „Brabant“ in See. Ihr Ziel ist Washington, D. C. Viele Vereinsmitglieder sind empört, weil in Rom ein zweites Disneyland errichtet werden soll. „Micky Maus bei den Ruinen Hadrians“: Dieser „Entscheidungskampf

3Zit.

in Derrida 1992, S. 48. Robert Curtius zufolge (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern. München: Francke Verlag 10. Aufl. 1984, S. 19) entspringt die europäische Literatur zwei Quellen, der antik-mediterranen und der modern-abendländischen. 5Klotz, Volker: Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner. München: Verlag C. H. Beck 2006, S. 119. Vgl. dazu Hielscher, Martin: Der Roman als Schiff. Polyphonie und Emanzipation in Hans Pleschinskis Brabant (1995), in: Laura Schütz und Kay Wolfinger (Hg.): Eleganz und Eigensinn. Studien zum Werk von Hans Pleschinski. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2019 ( = Film – Medium – Diskurs, hg. von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus, Bd. 100), S. 153–164. 6Wohl nicht zufällig wird an einer Stelle auch ein sturmerprobter Odysseus heranzitiert (61). Zitiert wird im Folgenden nach der Taschenbuchausgabe: Pleschinski, Hans: Brabant. Roman zur See. Revidierte Neuausgabe. München: dtv 2004. Die Änderungen betreffen vor allem die Kapitelzählung und die Kapitelnamen; auch hier ist der Kurs des Autors offenbar leicht korrigiert worden. 4Ernst

7„Samstag,

dem 1. Oktober“ (7): mit dieser Datums- und Tagesangabe beginnt der Roman. Das kalendarisch dazu passende Jahr – nämlich 1994 – wird nirgends genannt, stimmt aber mit verschiedenen realhistorischen Ereignissen überein, die der Roman wiedergibt, wie dem Beschuss von Sarajevo im Bosnienkrieg (58), den ersten freien Gouvernementswahlen in Russland (251) und Nelson Mandelas Präsidentschaftsbeginn in Südafrika (550); der Besuch des US-Predigers Billy Graham in Essen wird jedoch, vielleicht mit der epischen Lizenz zur Fiktion, von 1993 auf 1994 verlegt. Pleschinskis Roman ist ja kein Geschichtsbuch.

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der Kulturen“ (597)8 inmitten der Zivilisation des Westens geht gar nicht, bestimmt die Präsidentin des Kulturbunds und sammelt Argumente für ein europäisches Manifest gegen die „Amerikanisierung von Welt und All“ (42). Am Ende kommt das Schiff nach sechswöchiger abenteuerlicher Fahrt in der amerikanischen Hauptstadt an. Mit der alten Bordkanone wird ein Warnschuss aufs Pentagon abgefeuert; zugleich führen die Gegner des paneuropäischen Manifests eine Explosion der „Brabant“ herbei. Pleschinski erzählt von einem tragikomischen Ideentransport aus der Alten in die Neue Welt. Dieser europäische und eigentlich auch transatlantische Abenteuerstoff war Mitte der 1990er Jahre so ungewöhnlich, dass er im Strom der deutsch-deutschen Romane, die ebenfalls im Jahr 1995 erschienen und es zu vieltraktierten, auch verfilmten Bestsellern brachten,9 beinahe unterging.10 Das ist erstaunlich, denn es war ja nicht so, dass die europäische Thematik in den Debatten um die neue nationale und kulturelle Identität, die ein wiedervereinigtes Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa haben sollte, keine Rolle gespielt hätte. Man muss dabei beachten, dass der zeitgeschichtliche Sitz im Leben der – erfundenen – Geschichte, die der Roman erzählt, höchst real ist. Die angesprochenen Daten markieren Wendepunkte in der Geschichte der europäischen Integration. Das Gründungsjahr des Kulturbunds im Roman erinnert an die Europa-Essays von Stefan Zweig (Der europäische Gedanke) und von Hermann Broch (Zerfall der Werte) von 1932.11 Die epische Handlung in Pleschinskis Roman endet am 9. November, dem Jahrestag des Mauerfalls in Deutschland, der auch Gedenktag der Ausrufung der Weimarer Republik 1919 und des Judenpogroms von 1938 ist, und sie spielt sich ab in den ersten Jahren der Europäischen Union, die kraft des Maastrichter Vertrags von 1992 die Europäische Gemeinschaft ablöste12 und 1995 auf 15 Mitgliedsstaaten anwuchs; am 01.01.1995 traten Österreich, Schweden und Finnland der EU bei. Europa

8Der

clash of civilizations wird hier auf einen Binnenkonflikt des westlichen Kulturkreises verlagert; vgl. Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Berlin: Siedler Verlag 6. Aufl. 1998, S. 19. 9Neben Günter Grassʼ Ein weites Feld erschienen Thomas Brussigs Helden wie wir, Thomas Hettches Nox, Christian Krachts Faserland, Erich Loests Nikolaikirche und Bernhard Schlinks Der Vorleser. 10Als „amüsante Romansatire“ wurde Pleschinskis Roman im Focus (11.12.1995) von Jakob Otten bezeichnet; ähnlich gemischt fielen die Kritik von Ruth Klüger (Dampfnudel auf hoher See, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.1995) und die anonyme Kurzkritik im Spiegel (01.01.1996) aus. 11Die Essayfolge vom „Zerfall der Werte“ erschien 1932 im Abschlussband von Brochs Schlafwandler-Trilogie, Huguenau oder die Sachlichkeit), Stefan Zweig hielt seinen Vortrag in Florenz. Vgl. Lützeler 1992, S. 361–363. – 1932 war zudem ein Goethejahr (100. Todestag), in dem Goethe als großer Europäer gefeiert wurde. 12Patel, Kiran Klaus: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte. München: Verlag C. H. Beck 2018, S. 342.

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war Mitte der 1900er Jahre ein beliebtes Thema in der literarischen Essayistik, von Grassʼ Rede Mein Traum von Europa (1992)13 über Peter Sloterdijks Essay Falls Europa erwacht (1994)14 bis zu Thomas Hürlimanns Leipziger Rede Der Kosmopolit wohnt im Kosmos (1994). Mit wechselnden Argumentationsfiguren wird hier das jeweilige Europabild in transatlantische bzw. supraeuropäische Räume gestellt: Grass preist den pikaresken Roman als kanonisches Vorbild der Weltliteratur (Melville, Dos Passos), Sloterdijk feiert die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren Triumphzeichen (der Kuppel von Sankt Peter über dem Kapitol, den römischen fasces am Sockel des Lincoln-Memorials) als „Epigonen der Römer“,15 Hürlimann öffnet die säkularisierte europäische Moderne ins Kosmopolitische.16 Brabant ist, wenn man ihn als den „europäischen Roman“ liest, als der er sich selbst einmal ausgibt (562), ein Ideenroman. Ideen sind das Abenteuer der europäischen Gesellschaft auf ihrer Fahrt über den Atlantik, und es geht dabei um diese Gesellschaft selbst, um ihr Selbstverständnis, ihre Identität, ihre Werteordnung und um die Differenzierung des Eigenen vom Fremden. Fast alle Europadiskurse der Neuzeit, die man grundsätzlich in institutionalistische, politisch-föderale und in philosophisch-kulturelle Varianten unterscheiden kann,17 werden in dem Roman aufgegriffen und ebenso kontrovers wie pointiert, manchmal auch überspitzt ausgehandelt. Da kommen Kants Friedensschriften ins Gespräch (621), die Mitteleuropa-Debatte der 1980er Jahre mischt sich ins Geschehen (202), der Byzantinismus (235), der Antifaschismus (253), der Ökokritizismus (276 f., 535 f.), der Kosmopolitismus (568) sind weitere Positionen.18 Europa findet also als Gespräch statt, ja, man kann sogar sagen, dass Europa in dem Roman ein einziges Gespräch ist, ein wahrer Gesprächsteppich, der weite Teile in fast jedem Kapitel einnimmt und eine große Anzahl von Figuren miteinander vernetzt. Ein idealer Ort für einen solch figurenreichen Diskurs ist das Schiff; ‚discorso‘ meint ja die Seeroute und den Erzählgang,19 und der Schiffsroman ist in diesem Sinne „Richtung, Zauber, Rettung“ (613). Auf diese Weise kann

13In:

Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, hg. von Daniela Hermes und Volker Neuhaus. Göttingen: Steidl Verlag 1997, S. 340–351. 14Sloterdijk, Peter: Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1994. 15Ebd., S. 39. 16Der „Falle der totalen Ebene“ sei „weder mit nationalen noch mit europäischen Mitteln“ zu entkommen, meint Thomas Hürlimann: Der Kosmopolit wohnt im Kosmos, in: Ders.: Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Ende. Zürich: Ammann Verlag 1994, S. 9–25, hier S. 20. 17Vgl. Lützeler, Paul Michael: Streit über Europas Zukunft (2014), in: Ders.: Publizistische Germanistik. Essays und Kritiken. Berlin/Boston: de Gruyter Verlag 2015, S. 275–277. 18„Europa ist ein anderer Name für das neue Weltdorf“, sagt die britische Mäzenatin Crawford (568). 19Vgl. Wolf, Burkhardt: Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt. Zürich/Berlin: diaphanes Verlag 2013, S. 15.

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Pleschinskis Ensembleroman ein „modellhaftes Europa“ (254) an unterschiedlichen Ländern, Regionen, Kulturen „von Porto bis Wilna“ (42) durchspielen. An Bord sind eine Krakauer Ornithologin, die Tagebuch schreibt, ein Genfer Pianist, der Händel intoniert, ein Lütticher Zeitschriftenhändler, ein Utrechter Pfandleiher, ein Flensburger Industriedesigner, eine Stuttgarter Dramaturgin, die Fitnesskurse anbietet, eine Landschaftsarchitektin aus Dresden, ein Zahnarztehepaar aus Winterthur, das eines Nachts über Bord geht, ein Feuilletonchef aus Hannover, der nebenher Gedichte schreibt und sich gerne mit einem Satiriker aus Kopenhagen darüber streitet, „ob Satire oder die Leidenswerke wichtiger seien“ (544), ein Restaurator aus Karlsruhe, ein Dokumentarfilmer aus Pisa, eine flämische Zeitungs-Hospitantin, die zeitweilige Geliebte eines flämischen Nachtfunkredakteurs ist, welcher sich wiederum mit der Vorsitzenden des Vereins erbitterte Wortgefechte über die europäischen Werte liefert; sodann eine französische Bildhauerin, ein luxemburgischer Kriminalschriftsteller mit Schreibblockade, eine Geographielehrerin aus Malmö, eine Wiener Naturlyrikerin, eine lothringische Bildhauerin, eine Catering-Directrice aus Monaco, ein Marburger Altertumswissenschaftler mit seiner Frau, der ein „Testament an die Deutschen“ (553–558) verfasst, ein schwedischer Industriekaufmann, zwei portugiesische Modistinnenschwestern, eine piemontesische Industriellengattin, ein spanischer Numismatiker, der an der Seekrankheit stirbt, ein griechischer Agronom, der mit über 80 Jahren der Nestor der Gesellschaft ist, zwei homosexuelle Paare aus England und aus Deutschland, ein Fotograf aus Dublin, eine litauische Webkünstlerin, die Latein spricht (37), ein flämischer Gastronom, der am Steuer ist – und das sind längst noch nicht alle Figuren mit ihren „insgesamt 29 Staatsangehörigkeiten“ (35); das Schiff, weil auf ihm mehr Staaten vertreten sind, als sie die Europäische Union später nach ihrer Osterweiterung haben sollte, überwölbt sozusagen die EU. Einen Brexit gibt es im Roman übrigens noch nicht, wohl aber kommt keines der schottischen Vereinsmitglieder mit aufs Schiff. Mir geht es im Folgenden um die Frage, was die Gesprächsfigur ‚Europa‘ auf dem Schiff zu suchen hat und was der europäische Ideenwettkampf dort anrichtet. Ich will dies in zwei Perspektiven angehen: Europa auf dem Schiff, das ist die Frage nach einem europäischen Ersatzstaatsschiff als Medium eines transeuropäischen Ideen-Abenteuers. Europa als Gespräch, das ist die Frage nach der Diskursivität des Europabildes.

1 Europa auf dem Schiff Das Interessante an der antiken Allegorie vom Staatsschiff ist, dass Industrialisierung und Modernisierung ihr kaum etwas anhaben konnten. Herder schreibt im Journal meiner Reise im Jahr 1769: Das Schiff ist das Urbild einer sehr besondern und strengen Regierungsform. Da es ein kleiner Staat ist, der überall Feinde um sich siehet, Himmel, Ungewitter, Wind, See, Strom, Klippe, Nacht, andre Schiffe, Ufer, so gehört ein Gouvernement dazu, das dem

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Despotismus der ersten feindlichen Zeiten nahe kommt. Hier ist ein Monarch und sein erster Minister, der Steuermann: alles hinter ihm hat seine angewiesenen Stellen und Ämter, deren Vernachläßigung und Empörung insonderheit so scharf bestraft wird.20

Diese Staatsschiff-Trope zeichnet sich, so Burkhardt Wolf in seiner monumentalen Untersuchung von Literatur und Seefahrt, durch eine „bemerkenswerte Konstanz und Klassizität“ aus, ist aber dann doch im Zuge der Staatszustandswissenschaften des 17. Jahrhunderts umgedeutet worden. Staat wie auch Schiff sind nicht mehr Ideen eines komplexen Zustandes, sondern Experimentalsysteme; die Konstruktion wird wichtiger als die Theorie.21 Auch die „Brabant“ in Pleschinskis Roman ist ein Staatsschiff, aber eines mit ungewöhnlichen Merkmalen. Regierung und Rechtsprechung gibt es nicht, wohl aber eine Tagesplanwirtschaft, die regelt, was an Bord und unter Deck getan werden muss, und die mit der Verteilung der verschiedenen Wach- und Wasch-, Koch- und Kurs-Aufgaben (152, 417) auf jeden Passagier einen durchwegs demokratischen Eindruck macht. Das Schiff ist Rahmen für ein ebenso föderal organisiertes Kulturprogramm, in dem gemeinsames Musizieren und Vorlesen ebenso Platz haben wie Sprach- und Sport-Kurse (240). Man ist also an Bord, um voneinander zu lernen. Aber das Schiff hat keinen Kapitän, stattdessen gibt es die herrschsüchtige, aber labile Präsidentin des Kulturbunds, Jeanne Toussaint. Sie absolvierte, wie vordem Sartre und Derrida, das Lycée Louis-le-Grand, war „Sonderbeauftragte der 4. Republik für Erziehungsfragen in Französisch-Indochina“ (40), spricht fließend fünf Sprachen und übertreibt Thomas Manns Devise eines „militanten Humanismus“22 mit der Forderung: „‚Wir greifen an!‘“ (41). Es gibt weder Matrosen noch Steuermann; am Ruder ist ein Gastronom und ehemaliger „U-Boot-Stabsmatrose“ (26), an seiner Seite der dänische Satiriker, der sich lieber als Tragiker, als „Medusa der Medusa“ sähe, das Elend bestätigend statt nach Glück trachtend (60 f.). Zudem fehlt es an hochseetauglicher Ausrüstung; gleich am Anfang sehen wir, wie zwei Passagiere aus einem Tisch ein zweites Rettungsboot zimmern, während vier andere auf der Suche nach Seekarten vor der Ruderhaustreppe kollidieren; nur begrenzt nützlich für die Orientierung auf hoher See sind die „astrologischen Kenntnisse von Liebgart Borowicz“ (134), der Naturlyrikerin aus Österreich. Wenn etwas auf diesem Staatsschiff herrscht, dann sind es „Chaos, Anarchie, Panik“ (17). Daraus aber kann man wiederum allerhand über den europäischen Kunststaat lernen, den die Passagiere da außerhalb von Europa beschwören. Das kopflose Schiff ist ein

20Herder,

Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769, hg. von Katharina Mommsen. Stuttgart: Reclam Verlag 2002, S. 19 f. 21Wolf 2013, S. 208–213. 22Mann, Thomas: Achtung, Europa! (1936), in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1994, S. 315–327, hier: S. 326. Die Rede wurde 1935 für eine Tagung des Comité de Coopération Intellectuelle in Nizza geschrieben.

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Staat außerhalb der (europäischen) Staaten, unterwegs zu den Vereinigten Staaten, deren Vorbildrolle für ein Modelleuropa umstritten ist; es ist ein exterritoriales Medium, eine „Kompensationsheterotopie“ im Sinne Foucaults: Das Schiff ist „ein schaukelndes Stück Raum […], ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist“.23 Dieses heterotopische Modell des Schiffes wird in einem eigenen Kapitel gleich am Anfang („Herkunft“) vorgestellt. Die „Brabant“ ist ein Medium der Verwandlung und hat gewissermaßen die Modernisierungsprozesse Europas am eigenen Schiffsleib erfahren: die „Umbauten des Kriegsschiffs zum Schulschiff, des Schulschiffs zum Ausflugsschiff, dann die Umrüstung der Brabant zum Hotelrestaurant“ (17) sind auch die Umrüstungen des imperialistisch-kolonialistischen Europas zum Aufklärungseuropa und zur Postmoderne. Die „Brabant“ wird zum fahrenden Europa: „Das Abendland steht auf – es fährt! – und bekennt sich zu seinen eigenen Werten“ (42). Das Schiff ist aber nicht nur älter als die Gesellschaft, die es beherbergt; 1869 lief es vom Stapel, mit 1200 Tonnen, 2500 Quadratmetern Segelfläche, 62 Metern Länge und drei Decks, davon zwei mit Kanonen, von denen eine übrig geblieben ist. Es ist auch so alt, dass sich seine symbolische Herkunft bis in die frühe Neuzeit verfolgen lässt. Davon zeugt die Galionsfigur, der „Meeresgöttinnenkopf“ am Bug (26). So wie der Name der Kulturgesellschaft der Göttin der Jagd und des Mondes (Artemis) huldigt, so bezieht sich die Galionsfigur auf die Göttin am Ruder, die Fortuna di mare, die eine nautische Symbolik hat und auch für den Möglichkeits- und Imaginationsraum der Literatur steht. Dieser „Experimentierraum“24 aber wäre keiner, gäbe es nicht die Abenteuer, die untrennbar zum Seefahrtsroman gehören. Mehrmals entkommt die „Brabant“ nur knapp einer Havarie. Im Ärmelkanal kollidiert sie fast mit dem Containerschiff Cristóbal, in der Biscaya fährt sie auf ein Fackelmüllfeld zu. Sie wird von Zollhubschraubern und einem Schiff von Interpol verfolgt. Ein 62 Tonnen schweres Kühlschiff hievt neuen Proviant auf die Fregatte. Personen verlassen das Schiff (83), gehen über Bord, eine verschwindet zeitweise. Der Probeschuss aus der Bordkanone geht buchstäblich nach hinten los und zerstört eine Kabine (221 f.). Ein Sturm, der sechzig Stunden andauert, richtet verheerende Schäden an. Im Sturmkapitel kann sich die Erzähllust des Autors austoben. Es berichtet vom „Heldenkampf“ (447) der Elemente mit dem Schiff, und das durchaus mit Rückgriff auf Erzählmuster der klassischen und neuen Seeabenteuerromane. Die Seefahrer trotzen dem Orkan, aber das Unberechenbare ist immer noch das Element

23Das

Schiff ist also „die Heterotopie schlechthin“. Foucault, Michel: Andere Räume (1967). Aus dem Französischen von Walter Seitter, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam Verlag 1992, S. 34–46, hier: S. 46. 24Vgl. Wolf 2013, S. 19.

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selbst:25 „Und die Wasser wuchsen gewaltig, und der Bug wollte auftauchen aus dem Wasser. Und er verschwand wieder in der Gischtsee“. So erweist die Kapitelüberschrift dem „letzte[n] Seesturm der Literaturgeschichte“ ihre Reverenz (429).26

2 Europa als Gespräch Es wurde gesagt, dass das Gespräch über Europa der eigentliche Protagonist des Romans ist. Das Gespräch beherrscht die Figuren, nicht umgekehrt, es steuert die Handlung und bestimmt das Erzählen, das nur selten durch szenische Berichte eines heiter darüberstehenden Erzählers unterbrochen wird und seine Polyphonie auch durch eingebaute Lieder, Logbucheinträge, Zeitungsberichte (290), ExcelTabellen 42, 152, 417) unter Beweis stellt. Polyphonisch sind auch die Bindungen, die die Figuren untereinander eingehen. Der Niederländer Corneliszoon und der Spanier Pamplona, deren Vorfahren im 17. Jahrhundert Krieg geführt hatten, spielen nun Schach gegeneinander (57); die Prager Hradschin-Angestellte Eva Kućerová verlobt sich auf den Azoren mit dem norwegischen Industriekaufmann Carl Becker (359); die Danziger Übersetzerin Czeslawa Syrkowa teilt sich eine Doppelkabine mit der litauischen Webkünstlerin Bea Mikunas, beide verstehen die Sprache der jeweils anderen ohne Probleme (303); vielleicht, so heißt es später, „könne ARTEMIS dazu beitragen, daß baltische Künstler und Kunsthandwerker und Intellektuelle demnächst wieder den Weg nach Europa fänden“ (409). Ohnehin wird an sprachlichen Allianzen auf einem Schiff mit 14 Sprachen (255) nicht gerade gespart; die Vorsitzende plant ein „Artemis-Wörterbuch zum Urerhalt der Sprachen“, das den „Jet-Set“ in „Flugfetischisten“ übersetzt (44 f.); zu den „euroglotten Überlegungen“ der Gesellschaft gehört es, für das Wort „Brunch“ nationale Entsprechungen zu finden, „[v]ielleicht ‚Grand déjeuner‘ oder ‚Großfrühmahl‘“ (448), und als „Resultat von knapp zwei Dutzend Beratungen“ kommt ein Manifest mit der Botschaft „Europa und Liebe“ in sieben Sprachen, einschließlich des Lateinischen, heraus (635). Besonders qualifiziert als Gesprächsfiguren sind zwei Personen, Cafours und Pamplona. Es sind die einzigen Figuren, denen – wenn man einmal von „Zebaoth“ (440–457) absieht27 – ein eigenes Namenskapitel gewidmet ist: also

25Vgl.

Klotz, Volker: Abenteuerromane. Eugène Sue, Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe, Karl May, Jules Verne. Reinbek: Rowohlt Verlag 1989, S. 25 und 212. 26Im 119. Kapitel von Moby Dick, dem modernen Klassiker der Seefahrtsepik, kommen Taifun und Elmsfeuer als Untergangsszenarien zusammen; vgl. Melville, Hermann: Moby-Dick oder Der Wal. Deutsch von Matthias Jendis. München: Carl Hanser Verlag 2001, S. 765–773. 27Die wallonische Archivarin Jeannette de Soyencourt kommt auch in der Überschrift eines Kapitels vor, allerdings nur im Inhaltsverzeichnis (654); sie ist zu schwach und zu sehr drama queen, um als Hauptfigur zu taugen (vgl. 23).

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Haupt-Figuren. Zunächst der Schriftsteller an Bord, Raymond Cafours, an dessen Seite (37) die Wiener Naturlyrikerin Liebgart Borowicz nicht viel zu melden hat; sie schafft es am Ende nicht einmal, die Lunte zu legen. Cafours ist der Urheber der Amerikafahrt. Als letzter Tagungsgast der Artemisrunde in Nieuwpoort eingetroffen, hat er die Zeitung dʼLetzelburger Land mit der Meldung des römischen Disney-World-Two-Projekts eingeschleust, die alles ins Rollen bringt. Dass diese Meldung aus einer Provinzzeitung so hohe Wellen schlägt, ist schon komisch genug; noch komischer wirkt, dass Cafours an Schreibhemmungen leidet und von einem „handlungssatten Luxemburg-Krimi“ träumt, der von den Problemen der Gegenwart erzählt: … wenn sich die neue Armut in Europa ausbreitete, wenn nach der Implosion des Ostens sich die Russenmafia mit der Italomafia vereinigte, wenn die ungeheuerlichen Verwerfungen einer neuen Zeit anstünden … was keiner unbedingt wünschen sollte! Dann, in Zusammenbruch und Umbruch konnte man wieder erzählen, was kollidierte, wie auch die mitteleuropäischen Schicksale altertümlich loderten (267).

Ist Cafours als der „einzige freischaffende Künstler“ (264) an Bord so etwas wie ein gehemmter Hüter des Europa-Narrativs, so ist der spanische Numismatiker Francisco Pamplona (35, 227–231) der kranke Pate Europas, unheilbar seekrank von Anfang an und der Erste an Bord, der stirbt. Pleschinski hat nicht an Hinweisen gespart, um die Herkunft Pamplonas kenntlich zu machen. Er habe „noch immer ein bißchen den spanischen Legenden nachgetrauert“, heißt es einmal (230), träumt in seinem letzten Monolog dem spanischen Imperium hinterher, dem „Vaterland der Vaterländer“ (211), und ähnelt überhaupt auch als „lustigste[r] Unterhalter“ (230) so sehr dem Ritter von der traurigen Gestalt, dass er es verdient, im entsprechenden Kapitel mit dessen Titel geadelt zu werden: „Don Francisco“ (227). Es sind der epische Witz, der Erfindungsreichtum und das protoromantische Künstlertum „mit und über der Kunst“, die diesen Don Quichotte im Sinne Thomas Manns auszeichnen.28 Doch Pamplona ist eine tragikomische Don-Quichotte-Figur, die aus „Groteske … Tragödie“ macht (228). Sein Europabild ist paradoxerweise ein amerikanisches; das letzte Buch, das er gelesen hat, ist Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika (1835), ein Reisebericht des späteren Außenministers von Frankreich über das demokratische System in Amerika (237 f.).

28Thomas

Mann hat Cervantesʼ Roman bei seiner ersten Atlantiküberquerung im Mai 1934 gelesen und Reisetagebuch geführt; vgl. Mann, Thomas: Meerfahrt mit Don Quichotte, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. IX. Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1990, S. 427–477, hier: S. 444. Hans Pleschinski hat 2013 einen Thomas-Mann-Roman, Königsallee, veröffentlicht.

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3 Summa Hans Pleschinskis Brabant inszeniert Europa als Gespräch – auf und in einem Medium, das sich wie das titelgebende Schiff von Europa entfernt. „Das Abendland steht auf – es fährt! – und bekennt sich zu seinen eigenen Werten“ (42), so heißt es am Anfang. Dieses Europa-Gespräch funktioniert als „Weltweisheitsvermehrungsmaschine“ (275). Es reflektiert das Gründungszeitalter der Europäischen Union, als dem Europa des Maastricht-Vertrags die „Vision und Energie für einen ungeteilten, freien und dynamischen Kontinent fehlten“.29 Wie unsicher die Gesellschaft über die Identität Europas ist, zeigen nicht nur die Diskurse an Bord, die mächtig auseinandergehen, vor allem bei den gelegentlich sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen der Vorsitzenden des Kulturvereins und ihrem Gegenspieler Huisters. Die Identität Europas auf hoher See wird auch kenntlich durch die Insignien, an denen man ein Schiff und seine Herkunft identifiziert: an den Flaggen. Das Schiff hat eine Außenflagge, die einmal aus der Außenperspektive beschrieben wird, „[e]twas Gekreuztes“, mit „Messer und Gabel“ (13), das der gelb-schwarz-grünen Flagge von Jamaika ähnelt. In der Lounge, in der die Manifest-Sitzungen stattfinden, steht ein Fahnenigel. Darin stecken die Flaggen der heutigen EU-Staaten, der Beitrittskandidaten und der Nicht-EU-Mitglieder, aber auch die „Sowjetfahne“ (104) und das „ungeklärte Eckeuropäertum“ von „Türkei-Kurdistan“ (471). Indem die Schiffsgesellschaft so Flaggen zeigt, demonstriert sie für eine kulturelle Identität Europas, die seine Staaten überwölbt: Europa in Pleschinskis Roman ist multipolar, multikulturell und im Anspruch universalistisch, eine Light-Version von Huntingtons globaler Clash of Cultures-These, und Europa im Roman kann auch kaum etwas anders sein als multipolar, wenn davon in und von einem multinationalen Ensemble erzählt wird. Das Schiff und die Meerfahrt als Modell für diesen Werte- und Identitätsdiskurs sind dabei unlösbar mit dem Erzählen verbunden. Wenn „Seefahrt […] eine Kunst“ ist, wie Pleschinski einen seiner Protagonisten sagen lässt (177), dann gilt das erst recht vom Erzählen auf hoher See. Ob die Europäer „schlechte Amerikaner“ (599) sind oder ob es nicht „zu viel, anstatt zu wenig Europa“ gibt (568), das sind Fragen, die aus dem Roman hinausragen – zum Beispiel in den Dokumentarfilm Where To Invade Next (2016). Der Film hat die genau entgegensetzte Route von Brabant, ein anderes Kap also im Sinne Derridas. Er erzählt davon, wie der Dokumentarfilmer Michael Moore auf einem amerikanischen Flugzeugträger nach Europa reist, um den europäischen Ländern die guten Ideen zu stehlen, die in den USA verloren gegangen sind: eine familienfreundliche Arbeitspolitik in Italien, einen offenen Strafvollzug in Norwegen, eine gewaltlose Drogenpolitik in Portugal, eine Haus-

29Spohr,

Kristina: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2019, S. 20. Vgl. im Roman das eurozentrische Plädoyer der Artemis-Vorsitzenden „für ein freies, selbständiges Europa“ (473).

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aufgaben durch Spielzeit ersetzende Schulpolitik in Finnland, Mehrgängemenüs an französischen Schulen, Gender-Politik in Island, Erinnerungskultur in Deutschland, ein kostenloses Studium an slowenischen Universitäten. Auch das, wovon Moores Film mit dem belehrenden Gestus einer Polemik und getarnt als europäischer Reisebericht erzählt, gehört zur andauernden Debatte um das, was Europa in einer zusammenwachsenden und sich zugleich auseinander differenzierenden Welt zusammenhält.30

Literatur Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 15. Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769, hg. von Katharina Mommsen. Stuttgart: Reclam Verlag 2002. Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Berlin: Siedler Verlag 6. Aufl. 1998, S. 19. Hürlimann, Thomas: Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Ende. Zürich: Ammann Verlag 1994. Foucault, Michel: Andere Räume (1967). Aus dem Französischen von Walter Seitter, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam Verlag 1992. Klotz, Volker: Abenteuerromane. Eugène Sue, Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe, Karl May, Jules Verne. Reinbek: Rowohlt Verlag 1989. Klotz, Volker: Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner. München: Verlag C. H. Beck 2006. Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Piper Verlag 1992. Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1994. Lützeler, Paul Michael: Streit über Europas Zukunft (2014), in: Ders.: Publizistische Germanistik. Essays und Kritiken. Berlin/Boston: de Gruyter Verlag 2015, S. 275–277. Melville, Hermann: Moby-Dick oder Der Wal. Deutsch von Matthias Jendis. München: Carl Hanser Verlag 2001. Patel, Kiran Klaus: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte. München: Verlag C. H. Beck 2018. Pleschinski, Hans: Brabant. Roman zur See. Revidierte Neuausgabe. München: dtv 2004. Sloterdijk, Peter: Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1994. Spohr, Kristina: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989. Aus dem Englischen vonHelmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2019, S. 20. Wolf, Burkhardt: Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt. Zürich/Berlin: diaphanes Verlag 2013.

30Halden,

Stephen: Review of Michael Mooreʼs „Where To Invade Next“, in: New York Times (22.12.2015). Vgl. auch Diez, Georg: Europäisch für Anfänger, in: Der Spiegel (25.02.2016).

Die neoliberale Zersetzung der Demokratie in Alexander Schimmelbuschs Roman Hochdeutschland Michaela Nicole Raß

Wir haben gesehen, dass die Demokratie einer doppelten Gefahr ausgesetzt ist: einmal die Gefahr eines zu geringen Grades an Intelligenz in der Repräsentativkörperschaft und des sie kontrollierenden Volkes, zum andern der Gefahr einer Klassengesetzgebung der numerischen Mehrheit, sobald diese ausschließlich aus Mitgliedern einer einzigen Klasse besteht.1

John Stuart Mill äußert diese Bedenken in einer Zeit, in der demokratische Systeme in Europa in ihrer Entstehung begriffen waren und begannen, sich als stabile Regierungsform zu etablieren. Dass das demokratische System ein krisenanfälliges blieb, zeigt beispielsweise die Wahl von Adolf Hitler. Diese Krisenanfälligkeit und die von Mills angesprochenen Gefahren inspirierten Künstler zur Entwicklung von Dystopien. 1861 kommt Mills zu dem Schluss, dass überlegt werden solle, „inwieweit die Demokratie so organisiert werden kann, dass ohne erhebliche Beeinträchtigungen der charakteristischen Vorzüge demokratischer Regierungen diese beiden großen Missstände beseitigt werden oder zumindest jede menschenmögliche Korrektur erfahren“.2 Seit der Wende zum 21. Jahrhundert häufen sich in der Kunst – und zunehmend auch der Realpolitik – alternative Lösungsvorschläge, die allerdings die Tendenz aufweisen, ein demokratiezersetzendes Potenzial zu haben, wodurch die demokratisch gewählte Repräsentativkörperschaften zunehmend autoritäre Züge bekommen und die sittliche Verfasstheit

1Mill, John Stuart: Betrachtungen über die Repräsentativregierung, hg. von Hubertus Buchstein und Sandra Seubert. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 141 (eBook). 2Ebd., S. 141.

M. N. Raß (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_14

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der Demokratie unterminiert werden würde: Die Demokratie wäre nicht länger „eine Form sittlicher Praxis“.3 Da die Demokratie im Sittlichen und auf normativen Wahrheitsansprüchen gründet und nicht nur eine formal zu bestimmende „Theorie, Institution und Praxis kollektiver Selbstbestimmung“4 ist, zerstört eine „demokratische Praxis, die ausschließlich auf der Verfolgung von Eigeninteressen beruht“,5 die Demokratie. Dahingegen ist eine solche – nicht unbedingt sittliche – Praxis der Kern neoliberalen Wirtschaftens.6 Brisant ist die Imagination einer Bedrohung der Demokratie durch den Neoliberalismus dadurch, dass es tatsächlich unter den „Bedingungen der je individuellen Präferenzoptimierung […] eine fundamentale Instabilität kollektiver Entscheidungsverfahren“7 gibt, die unter idealen Bedingungen zu einer Erosion der Demokratie führen könnte. Es kann also eine grundsätzliche Unverträglichkeit von Demokratie und neoliberaler Wirtschaft festgestellt werden, denn weder stimmen die Prinzipien und die Verfasstheit noch die Praxis der Demokratie mit den profitorientierten und marktoptimierten Prinzipien der neoliberalen Wirtschaft überein, noch ist der Markt mit einer Demokratie zu vergleichen, wie von ‚market populists‘ suggeriert wird.8 Und „dass der Markt demokratieunverträgliche Folgen haben kann, sollte nicht bestritten werden“.9 Dennoch kann auch nach der Wirtschaftskrise 2007/2008 eine Aufwertung neoliberaler Prinzipien,10 allen voran das Prinzip der Gewinnoptimierung und das verwandte der Leistungssteigerung, in der Politik und eine Dominanz der Wirtschaft beobachtet werden: From being one social domain among many (politics, culture, sociality, the state, etc.) the Economy now commands the stage, such that those other domains now appear subordinate or even subservant to the Economy and its needs.11

In der Kunst imaginiert, kann auch in der Realität der Einfluss der Wirtschaft nicht unterschätzt werden, denn bereits jetzt stellt der Wirtschaftswissenschaftler John Clarke fest: 3Nida-Rümelin,

Julian: Was ist Demokratie, in: Ulrike Davy, Manuele Lenzen (Hg.): Demokratie morgen. Überlegungen aus Wissenschaft und Politik. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 17–34, hier: S. 26 (eBook). 4Ebd., S. 24. 5Ebd., S. 25. 6Vgl. z. B. Frevert, Ute: Kapitalismus, Märkte und Moral, Salzburg: Residenz Verlag 2019 oder Harvey, David: A Brief History of Neoliberalism. Oxford: Oxford University Press 2005. 7Nida-Rümelin 2013, S. 30. 8Vgl. z. B. Frank, Thomas: One Market Under God. Extreme Capitalism, Market Populism and the End of Economic Democracy. New York: Anchor Books 2001. 9Nida-Rümelin 2013, S. 31. 10Vgl. z. B. Crouch, Colin: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. 11Clarke, John: Why Imagined Economies?, in: Jessica Fischer, Gesa Stedman (Hg.): Imagined Economies – Real Fictions. New Perspectives on Economic Thinking in Great Britain. Bielefeld: transcript Verlag 2020, S. 17–34, hier: S. 17 f. (eBook).

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The dominance of the Economy […] has transformed social, political and cultural domains, subjecting them to the rule of the market, either in the direct form of ‚market forces‘, or through the creation of quasi-markets (forms of regulation that aim to mimic the dynamics of ‚real‘ markets via mechanisms of competition and contracting […]).12

Wie weit die Macht der Wirtschaft reichen kann, wenn sie ihr demokratiezersetzendes Potenzial entfaltet, und dass sie zur Etablierung autokratische herrschender Politiker führen kann, zeigt Alexander Schimmelbusch im Roman Hochdeutschland.13 Die Hauptfigur Victor ist ein idealer Opportunist, eine, wie Schimmelbusch formuliert, „flexible Persönlichkeit“.14 Kursorisch werden in Rückblicken der Aufstieg des Ich-Erzählers im Berufsleben und sein wirtschaftlicher Erfolg umrissen. Den vorläufigen Höhepunkt stellt die Machtposition dar, die er als einer der Leiter der Birken Bank inne hat, und aufgrund derer er auch in seiner Firma althergebrachte Machtverhältnisse und Verhaltensweisen neoliberalen Wirtschaftens zementiert. Victor verstärkt die Mechanismen des hierarchischen Machtsystems der Birken Bank, das typisch für die Unternehmen der neoliberalen Wirtschaft ist, und genießt ebenso den wirtschaftlichen wie emotionalen Gewinn in Form seiner Machtausübung. Viktors herablassendes Verhalten seinen Angestellten und anderen Dienstleistern gegenüber macht offensichtlich, dass das in der Bank etablierte Herrschaftssystem nicht auf gegenseitiger Achtung und dem Konsens beruht, die egalitäre Menschenwürde, die praktische Vernunft, die Autonomie und das individuelle Vermögen des Gegenüber – über die von ihm erbrachte ökonomische Leistung hinaus – anzuerkennen, sondern den Menschen auf seine Funktion als Befehlsempfänger, der ausschließlich in seiner Rolle als Lohnempfänger zu kooperieren hat, reduziert. Schimmelbusch beschreibt, auf welche Art und Weise Victor Gewinn aus der Deregulierung nationaler Kapitalmärkte im Zuge der von ihm initiierten politischen Reformen, der Globalisierung und der Verdinglichung von Arbeitskräften ziehen kann. Schimmelbusch gibt Einblick in das im Privat- wie im Berufsleben auf Gewinnoptimierung ausgelegte, menschenverachtende und demokratieverdrossene Denken Victors und zeigt, dass der Aufstieg im Berufsleben und das Ausbilden dieser Denkstrukturen einander gegenseitig verstärken. Die Schilderungen von Victors Verhalten seinen Partnern und Untergebenen gegenüber und die Reflexion des Zustands und der Regeln der neoliberalen Wirtschaft sowie der Bank lassen sich als Beschreibungen eines Wirtschaftssystems und des problematischen Verhältnisses von Bankenwesen und Demokratie dechiffrieren. Schimmelbusch wirft hiermit einen Blick auf eine komplexe Problematik, welche alle Banken, auch die Weltbank, betrifft, denn die

12Ebd.,

S. 18. Schimmelbusch, Alexander: Hochdeutschland. Stuttgart: J. G. Cotta'sche Buchhandlung 2018 (eBook). 14Ebd., S. 7. 13Vgl.

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World Bank promotes democracy, but largely in ways serving development in economic terms. On one hand, democratisation and decentralisation are presented as positive processes, and the Bank frequently stresses the need for the state to be responsive to citizens. […] On the other hand, the Bank’s concern with participation actually seems to stem more from ist concern with the eventual success of state reform than with this being a fundamental citizen’s right. […] More than democracy, the Bank is concerned with the state’s effectiveness.15 This explains the Bank’s ambigious position on democracy: citizen partizipation is welcomed as a tool to archive a more effective state and subsequently more groth – not as a right in itself.16

Gemäß den neoliberalen Prinzipien des Wirtschaftswachstums und der stets zu steigernden Leistung wird die Demokratie von der neoliberalen Wirtschaft und dem Bankenwesen unterstützt, solange sie ihre Funktion zum Nutzen der Wirtschaft erfüllt und dem Zweck der Gewinnoptimierung entspricht. Der Banker Victor lehnt dementsprechend die Demokratie nicht grundsätzlich ab, sondern führt unbeabsichtigt ihre Zersetzung herbei, indem er sich anschickt, den Staat wie ein Wirtschaftsunternehmen, die sogenannte Deutschland AG,17 zu führen. Die Vision Viktors ist eine, die heutzutage einige Politiker zu teilen scheinen, nämlich die EU als ein Gebilde miteinander verwobener Sozial- und Wohlfahrtsstaaten zu zerschlagen und den Nationalstaat zu führen wie einen weltweit operierenden Konzern, der danach strebt, als marktbeherrschende Organisationsmacht die Welt nach seinem Vorteil zu ordnen. Schimmelbusch veranschaulicht die Gefahr für die Demokratie, die von der politikverdrossenen Grundhaltung von Wählern ausgeht, die meinen: „Das Parlament kann gehen, Adel und Banken sollen’s richten“.18 Er zeigt auf, dass die Ausrichtung des Staates und die Orientierung der Politik am Neoliberalismus zu einem derartigen Erstarken der Wirtschaft führt, dass sie die staatliche Macht unterminiert. So thematisiert der Autor mit den „de-democratising trends”19 des Neoliberalismus eine Entwicklung, die auch Wirtschaftswissenschaftler beobachten: „While financial and economic liberalisation has contributed to an overall loss of state power, in the process some institutions have gained influence, particularly national banks and ministries of finance.“20 Auch Victor zieht gleichermaßen als Politiker wie als einer der Teilhaber der Birken Bank Gewinn aus der Destabilisierung der Demokratie und dem Machtgewinn der Wirtschaft.

15Demmers,

Joelle/Fernández, Alex E./Hogenboom, Jilberto/Hogenboom, Barbara: Good Governance and democracy in a world of neoliberal regimes, in: Dies. (Hg.), Governance in the Era of Global Neoliberalism. Conflict and depolitisation in Latin America, Eastern Europe, Asia and Africa. London/New York 2017: Routledge, S. 38–159, hier: S. 63 ff. (eBook). 16Ebd., S. 67. 17Schimmelbusch 2018, S. 123 ff. 18Brunkhorst, Hauke: Demokratie in der europäischen Krise, in: Ulrike Davy, Manuela Lenzen (Hg.): Demokratie morgen. Überlegungen aus Wissenschaft und Politik. Bielefeld 2018: transcript Verlag, S. 51–70, hier: S. 55 (eBook). 19Demmers/Fernández/Hogenboom 2017, S. 133. 20Ebd., S. 71.

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Schimmelbusch veranschaulicht auch anhand seiner Hauptfigur die Gefahren von Politikverdrossenheit, Desinteresse und interessenloser Langeweile, denn Viktor hat zunächst keinerlei politische Ambitionen, sondern entwirft aus Langeweile ein politisches Manifest. Er ist kein Politiker, der danach strebt, als Autokrat zu herrschen und entspricht damit einem bestimmten Typus: Manche gewählten Demagogen haben bereits vor ihrer Amtsübernahme einen Plan für den Weg zur Alleinherrschaft. Doch viele […] haben einen solchen Plan nicht. Für den Zusammenbruch der Demokratie braucht es nicht unbedingt einen ausgeklügelten Plan. Vielmehr kann er […] auch das Ergebnis einer Reihe unvorhergesehener Ereignisse sein – etwa eines eskalierenden Schlagabtauschs zwischen einem demagogischen, Normen verletzenden Führer und einem bedrohten politischen Establishment.21

Victor beginnt seine politische Karriere unwillentlich wie unwissentlich, als er eine Rede verfasst, in der – mittels der Verwendung ebenso suggestiver wie nebulöser Begriffe – eine ‚Heimat‘ heraufbeschworen wird, die den internationalen Märkten gegenübergestellt wird. Schimmelbusch kombiniert in seinem Roman zwei Problemfelder, an denen sich zurzeit – aus gegebenem Anlass aufgrund tagespolitischer Ereignisse wie der Umstrukturierung der EU und dem Brexit – viele Künstler abarbeiten,22 nämlich zum einen die Verbreitung von faschistoidem und nationalistischem – wenn nicht gar nationalsozialistischem – Gedankengut und zum anderen die Nähe von Politik und Wirtschaft. Hier wird eine Grundkonzeption greifbar, die im gesamten Roman variiert wird: Der Kontrast zwischen einem durch eine räumliche Verortbarkeit konkreten Heimatbegriff und dem Begriff der Globalisierung, der immer wieder eingeschränkt wird auf die globalen Märkte. Der Roman Hochdeutschland zeichnet sich dadurch aus, dass eine Vorstellung von Europa jenseits eines europäischen Marktes oder gar die Idee einer europäischen Identität oder eines europäischen Kulturraums vollkommen abwesend sind. Auch die EU hat als Wirtschaftsraum angesichts des globalen Marktes keinerlei Bedeutung. Der Autor ignoriert die EU als staatsübergreifendes Gebilde, das regulierend gleichermaßen in die Weltwirtschaft wie in die Wirtschaft der Nationalstaaten eingreift. Die EU hat als wettbewerbsfördernder Faktor keinen Einfluss auf dem Weltmarkt – und das, obwohl er einen technologischen Fortschritt beschreibt,23 die Wende der EU zu einer „‚knowledge economy‘ or even an ‚information society‘“.24 Europa wird von Victor nur als begrenzter internationaler Markt begriffen, auf dem sich einzelne

21Levitsky,

Steven/Ziblatt, Daniel: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. München: Deutsche Verlags Anstalt 2018, S. 74 (eBook). 22Vgl. z. B. Annas, Max: Finsterwalde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2018 (eBook) oder Leroy, Jèrôme: Le Bloc. Paris: Éditions Gallimard 2011, um nur zwei Schriftsteller zu nennen. 23Schimmelbusch 2018, 138 ff. 24Moisio, Sami: Geopolitics of the Knowledge-based Economy. London/New York: Routledge 2018, S. 488 (eBook).

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Firmen im Wettstreit durchsetzen. Europa ist also nur ein Zwischenschritt zwischen dem nationalen Handel und dem globalen Handel. Aufgrund der Konzentration auf den Regionalismus, auf den Heimatbegriff, und die der Heimat entgegengesetzte Globalisierung wird die Möglichkeit einer europäischen Identitätsbildung erst gar nicht in den Blick genommen. Victor beschreibt in seinem Manifest eine ganz auf die Heimat und in erweitertem Sinne aufs Nationale hin ausgerichtete Phantasie, die Phantasie einer rigorosen Leistungsgesellschaft, welche die Wettbewerbsfähigkeit einer nationalen Volkswirtschaft auf dem globalen Markt garantieren soll:25 Die Umstrukturierung des Nationalstaats in ein Wirtschaftsunternehmen.26 Da Wirtschaftsunternehmen hierarchisch strukturiert sind und am effizientesten von einer kleinen Gruppe von Experten geführt werden, liegt es nahe, dass auch das Wirtschaftsunternehmen Nationalstaat von einer kleinen Gruppe von Politikern regiert wird. Die breite Basis, die von Regierungsparteien und Oppositionsparteien gebildet wird und die gemeinhin als Voraussetzung für eine liberale Demokratie betrachtet wird, wird in Schimmelbuschs Roman ersetzt durch ein paar Autokraten, des Wirtschaftsmagnaten Victor und des ehemaligen Grünen-Politikers Ali Osman. Die Demokratieverdrossenheit der Politiker erklärt sich auch aus der Orientierung an der Wirtschaft und den Ansprüchen autokratischer Politiker gleichermaßen. Die Orientierung an der Leistungsoptimierung und der Minimierung des Aufwands birgt einen weiteren „Grund für ihre zunehmend autoritäre Haltung: Demokratie macht Arbeit.“27 Während Familienunternehmen und Armeen mit Befehlen geführt werden können, erfordert die Demokratie Verhandlungen, Kompromisse und Konzessionen. Rückschläge sind unvermeidlich, Siege stets bruchstückhaft. […] Jeder Politiker ist von solchen Einschränkungen frustriert, doch wenn er Demokrat ist, weiß er, dass er sie akzeptieren muss. Und er vermag das ständige Sperrfeuer der Kritik auszuhalten. Aber für Außenseiter, insbesondere solche mit demagogischer Neigung, sind die Frustrationen der demokratischen Politik häufig unannehmbar. Sie empfinden das System aus Kontrolle und Gewaltenteilung als Zwangsjacke.28

Ali Osman, Victors Jugendfreund, wird als ein derartiger – und zudem charismatischer – Politiker beschrieben, der mit Victor ein ‚Schattenkabinett‘ plant, aber bei offiziellen Auftritten zunächst die demokratischen Regeln des Respekts vor dem politischen Gegner und der Zurückhaltung wahrt und deshalb auch von Spitzenpolitikern anderer Parteien gefördert wird.29 Damit demonstriert der Politiker Osman zunächst, dass er auch die ungeschriebenen Regeln und Gesetze der Demokratie kennt und dieses politische System aufrecht erhalten will,

25Vgl.

Schimmelbusch 2018, S. 111. S. 123 ff. 27Levitsky, Ziblatt 2018, S. 75. 28Ebd., S. 75 f. 29Vgl. Schimmelbusch 2018, S. 130 ff. 26Ebd.,

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denn ein respektvoller Umgang, insbesondere politischer Gegner miteinander, ist eine Voraussetzung für demokratische Prozesse: „Ist die Norm der gegenseitigen Achtung schwach ausgeprägt, lässt sich die Demokratie nur schwer bewahren“.30 Zunächst scheint der Grünen-Politiker auch die zweite Norm zu wahren, wenngleich er im Geheimen bereits an deren Demontage arbeitet und danach trachtet, institutionelle Vorrechte schrankenlos auszunutzen:31 Eine zweite, für den Bestand von Demokratien entscheidende Norm ist das, was wir als institutionelle Zurückhaltung bezeichnen. Zurückhaltend zu sein bedeutet, geduldig, selbstbeherrscht, nachsichtig und tolerant zu sein. In unserem Zusammenhang kann man sich institutionelle Zurückhaltung als Unterlassen von Handlungen vorstellen, die zwar den Buchstaben der Gesetze genügen, ihren Geist aber offensichtlich verletzen würde.32

Der Grund für die Ahnungslosigkeit der von Ali Osman und Victor in ihre Pläne und Visionen nicht eingeweihten Politiker und Bürger ist, dass vom respektvollen Auftreten des Parteimitglieds der Grünen und seinem Verhalten anderen Politikern gegenüber, also von seinem demonstrativen Entsprechen der einen Norm, auf das Anerkennen der anderen Norm geschlossen wird. Dies liegt am Verhältnis der Normen: Gegenseitige Achtung und institutionelle Zurückhaltung sind eng miteinander verknüpft, manchmal verstärken sie einander sogar. Politiker neigen eher zur Zurückhaltung, wenn sie andere als legitime Rivalen akzeptieren, und Politiker, die ihre Rivalen nicht als Staatsfeinde betrachten, sind im Allgemeinen weniger versucht, zu Normbrüchen zu greifen, um sie von der Macht fernzuhalten.33

Ali Osman macht sich gemeinsam mit Victor nach seiner Wahl daran, durch eine Umstrukturierung und Umbesetzung der Institutionen, welche die Demokratie schützen und den Ablauf demokratischer Prozesse garantieren sollen, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu demontieren, denn die ‚Regierung Osman‘ zeichnet sich zwar durch eine lange Regierungszeit und autokratische Politiker, welche die Stimmung mit ‚extremistischen Rauschen‘ manipulieren,34 aus, doch werden diese wiedergewählt, das demokratische Wahlsystem bleibt formal intakt.35 Schimmelbusch führt in seinem Roman ein Paradox vor, das sich auch in der Realpolitik beobachten lässt, denn das „tragische Paradox des Abgleitens in den Autoritarismus über Wahlen besteht darin, dass die Mörder der Demokratie deren eigene Institutionen benutzen, um sie zu töten – schrittweise, fast

30Levitsky,

Ziblatt 2018, S. 101. S. 106. 32Ebd., S. 103. 33Ebd., S. 108. 34Vgl. Schimmelbusch 2018, S. 141. 35Vgl. ebd., S. 138. 31Ebd.,

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unmerklich und legal“.36 Der Schriftsteller thematisiert das Ausmanövrieren der politischen Gegner durch eine geschickte Kombination von Inhalten, die unterschiedliche Wählergruppen ansprechen.37 Er schildert in Hochdeutschland aber nicht en détail, auf welche Art und Weise sich die „Erosion der Demokratie […] in […] winzigen Schritten“38 vollzieht, beispielsweise in Form einer Gleichschaltung von nominell unabhängigen Behörden wie Staatsanwaltschaft, Gerichte, Rechnungshof, Verfassungsgericht,39 einer Behinderung oder Verdrängung oppositioneller Politiker und anderer politischer Gegenspieler in Machtpositionen durch Klagen oder Verleumdungen.40 Er wirft auch keinen Blick auf das Ausnutzen von Notstandsgesetzen angesichts von Krisen oder Terrorakten41 oder auf die Folgen einer Revision oder Umdeutung der Verfassung.42 Dahingegen thematisiert Schimmelbusch, wie Ali Osman und sein Schattenkabinett eine Polarisierung der Wähler erreichen, die wiederum das Potenzial hat, die Demokratie zu zerstören:43 Polarisierung kann demokratische Normen zerstören. Wenn sozioökonomische, ethische oder religiöse Differenzen extrem parteilich werden, sodass sich die Gesellschaft in politische Lager spaltet, deren Weltanschauungen nicht nur unterschiedlich sind, sondern sich gegenseitig ausschließen, sind Toleranz und Achtung kaum noch aufrechtzuerhalten. Manche Polarisierungen sind für die Demokratie gesund und sogar notwendig. Tatsächlich lehrt uns die Geschichte der westeuropäischen Demokratien, dass Normen selbst dann Bestand haben können, wenn Parteien durch erhebliche ideologische Differenzen getrennt sind. Wenn eine Gesellschaft aber so tief gespalten ist, dass die Parteien absolut unvereinbare Weltanschauungen vertreten, und insbesondere dann, wenn ihre Mitglieder auch sozial derart getrennt sind, dass sie kaum miteinander in Berührung kommen, wird die normale Rivalität zwischen Parteien abgelöst von einer wahrgenommenen Bedrohung durch die jeweils andere Seite. Da die gegenseitige Achtung schwindet, sind die Politiker versucht, die Zurückhaltung aufzugeben und mit allen Mitteln für den eigenen Sieg zu kämpfen, Dies kann zur Entstehung von systemfeindlichen Gruppen frühen, die die demokratischen Regeln ganz ablehnen. Wenn dies geschieht, steckt die Demokratie in ernsten Schwierigkeiten.44 36Levitsky/Ziblatt

2018, S. 16. Schimmelbusch 2018, S. 144. 38Levitsky/Ziblatt 2018, S. 76. 39Vgl. ebd., S. 77 ff. 40Vgl. ebd., S. 80 ff. 41Vgl. ebd., S. 91 ff. 42Vgl. ebd., S. 86 ff. 43Dies ist auch eine Gefahr der Polarisierung, die im Vorfeld des Brexit-Referendums entfacht wurde und auch an eine soziale wie politische Spaltung der Gesellschaft geknüpft ist. Die ideologische Spaltung zwischen politischen Lagern ist Demokratie-gefährdend, wenn sie mit Weltanschauung, sozialer Stellung, Identität und Zugehörigkeit zu einer Gruppe verknüpft ist und der Wahlsieg der anderen Partei als existenzielle Gefährdung empfunden wird. „In jüngster Zeit sind die westlichen Demokratien von inneren Vertrauenskrisen erschüttert worden. Angesichts einer schwachen Wirtschaft, verbreiteter Skepsis gegenüber der Europäischen Union und des Aufstiegs einwanderungsfeindlicher Parteien gibt Westeuropa durchaus Anlass zur Sorge.“ (Levitsky/ Ziblatt 2018, S. 195). 44Ebd., S. 112 f. 37Vgl.

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Schimmelbusch führt in seinem Roman vor, welche Folgen der Vertrauensverlust in demokratische Werte und Normen und die Konzentration auf wirtschaftliche Erfolge für die Politik eines Landes haben kann. Er kennzeichnet die liberale Demokratie als krisenanfälliges System und schildert die Attraktivität autoritärer Alternativen. Vor allem im letzten Kapitel des Romans beschreibt der Autor ausgrenzenden Nationalismus als wirtschaftlichen Mechanismus, Pluralismus als übergroße wirtschaftliche Konkurrenz, Wirtschaftsmagnaten als autoritäre Alternativen zu demokratischen Politikern. Anhand des Politikers Ali Osman veranschaulicht er, wie schwindender Respekt vor demokratischen Normen zur Notwendigkeit zu werden scheint, da er das Durchsetzungsvermögen der Deutschland AG und ihrer autoritären Führer auf dem globalen Markt stärken soll. Die Umwandlung der Demokratie eines Nationalstaats in die Führungszentrale des Wirtschaftsunternehmens ‚Deutschland AG‘ und der ‚German Investment Authority‘45 scheint die Aufhebung der liberalen Demokratie und ihrer Regulierungsmechanismen zu bedingen, denn wie die Demokratie birgt auch das ökonomische Wissen einen Wahrheitsanspruch: „Das Konzept des Marktes ist darin Modell und Wahrheitsprogramm zugleich und also mit der Aufforderung verbunden, Marktgesetze selbst wahr zu machen“.46 Dieses Wahrheitsprogramm ist auch für den Neoliberalismus signifikant und der Schriftsteller illustriert – bisweilen auch nur andeutungsweise – wie das wirtschaftliche das politische Programm zu verdrängen beginnt. Beginn ist die Idee einer Schattenregierung, welche wiederum einen Wahrheitsanspruch hat.47 Anhand der Dialoge von Victor und seinem Jugendfreund Ali vollzieht Schimmelbusch die Entstehung eines Netzwerks informeller Macht48 von demokratisch gewählten und im Parteisystem der Demokratie aufsteigenden Autokraten nach. Er verweist damit auf die Problematik einer „Reduktion von Politik auf Technik [des Machterhalts] unter Umgehung, Ausschaltung und Manipulation des öffentlichen Meinungskampfes und öffentlicher Willensbildung“.49 Victor und Ali entwerfen eine Wirtschaftsverfassung, in der Wirtschaft, Judikative und Exekutive miteinander verwoben sind und dadurch das nationale Verfassungsrecht den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Marktes entspricht. Dadurch würde das Konzept des homo oeconomicus das des bourgeois und citoyen ersetzen. Schimmelbusch steigert also die Nähe von Politik und Wirtschaft, die heutzutage schon besteht und imaginiert, wie untrennbar sich „neoliberale Weltwirtschaft und rechtlich-politische Strukturbildung verschränken“50 45Vgl.

Schimmelbusch 2018, S. 81 und S. 143. Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 2010, S. 55. 47Vgl. z. B. Fach, Wolfgang: Regieren: Die Geschichte einer Zumutung. Bielefeld: transcript Verlag 2016, S. 142 ff. (eBook). 48Vgl. Möllers, Christoph: Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich. Heidelberg: Mohr Siebeck 2003. 49Brunkhorst 2018, S. 54. 50Möller, Kolja: Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen. Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 43 (eBook). 46Vogl,

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können, wenn der Staat der Wirtschaft keine Grenzen setzt. Dadurch, dass er keine postnationale Konstellation der Weltwirtschaft, sondern die Entstehung eines nationalen marktliberalen Regimes nachzeichnet, veranschaulicht Schimmelbusch, dass „das Weltwirtschaftsregime massiv in die Architektur der Nationalstaaten“51 eingreifen kann: „Mithin bewirkt es eine massive Transformation politischer Steuerung in den nationalstaatlichen Demokratien“.52 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Alexander Schimmelbusch in seinem Roman Regionalismus als wiederkehrende detaillierte Beschreibung von Lebensräumen der Globalisierung gegenüber stellt, deren Erscheinungen und Auswirkungen durch einen Blick auf das Wirtschaftsmilieu veranschaulicht werden. Regionalismus und Globalisierung bilden die beiden Extreme, zwischen denen sich der Spannungsbogen erstreckt. Dieser Spannungsbogen besteht in der Erzählung von der Veränderung der nationalen Politik, von der Erosion der Demokratie und des Aufstiegs von zwei Autokraten, die aus Langeweile und Übersättigung ein über zwölf Jahre haltbares Machtsystem erschaffen. Indem Schimmelbusch die demokratiezersetzende Wirkung beschreibt, die ein Machtgewinn des Neoliberalismus und die Einflussnahme der Wirtschaft auf die Politik haben könnten, verdeutlicht er, dass Wirtschaft und Politik in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, dessen Parameter stets neu definiert werden müssen und stellt die heutzutage – zieht man die Veränderungen innerhalb der EU, die Entwicklungen in Großbritannien und Amerika in Betracht – wieder aktuelle Frage, „inwieweit der nationale Sozialstaat angesichts der international organisierten und agierenden Wirtschaft und angesichts der […] Globalisierung überhaupt noch in der Lage ist, mit seinen Instrumenten gegenzuhalten“.53 Schimmelbusch weist auch auf einen weiteren staatsrechtlich gesehen problematischen Aspekt hin, nämlich auf die Tendenz der neoliberalen Wirtschaft, den Bürger zu verdinglichen und das Marktprinzip absolut zu setzen. Nicht nur Künstler, sondern auch Politikwissenschaftler, Soziologen und Staatsrechtler dringen, wie ich in diesem Aufsatz umrissen habe, darauf, dass die Politik dem Neoliberalismus und der Wirtschaft überhaupt Grenzen setzt, anstatt eine Verflechtung von Wirtschaft zu Politik zuzulassen, wie sie Schimmelbusch in seinem Roman Hochdeutschland beschreibt: Das Marktprinzip bedarf auch über Wettbewerb und Wettbewerbsregulierungen hinaus eines rechtlichen Rahmens, der das Spiel der Marktkräfte einbindet und begrenzt, und zwar um sicherzustellen, dass Subjekt auch des Wirtschaftsgeschehens doch die Menschen bleiben und nicht das Marktprinzip sich als universales normatives Prinzip verselbstständigt.54

51Ebd.,

S. 43. S. 43. 53Wieland, Joachim/Engel, Christoph/Dauwitz, Thomas von: Aussprache und Schlussworte, in: Dies. (Hg.): Arbeitsmarkt und Staatliche Lenkung. Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtler in Heidelberg vom 6. bis 9. Oktober 1999. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2000, S. 143–198, hier: S. 143 (eBook). 54Ernst-Wolfgang Böckenförde in der Diskussion, siehe Wieland/Engel/von Dauwitz 2000, S. 149 f. 52Ebd.,

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Literatur Annas, Max: Finsterwalde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2018 (eBook). Brunkhorst, Hauke: Demokratie in der europäischen Krise, in: Ulrike Davy, Manuela Lenzen (Hg.): Demokratie morgen. Überlegungen aus Wissenschaft und Politik. Bielefeld 2018: transcript Verlag, S. 51–70 (eBook). Clarke, John: Why Imagined Economies?, in: Jessica Fischer, Gesa Stedman (Hg.): Imagined Economies – Real Fictions. New Perspectives on Economic Thinking in Great Britain. Bielefeld: transcript Verlag 2020, S. 17–34 (eBook). Crouch, Colin: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. Demmers, Joelle/Fernández, Alex E./Hogenboom, Jilberto/Hogenboom, Barbara: Good Governance and democracy in a world of neoliberal regimes, in: Dies. (Hg.), Governance in the Era of Global Neoliberalism. Conflict and depolitisation in Latin America, Eastern Europe, Asia and Africa. London/New York 2017: Routledge, S. 38–159 (eBook). Fach, Wolfgang: Regieren: Die Geschichte einer Zumutung. Bielefeld: transcript Verlag 2016 (eBook). Frank, Thomas: One Market Under God. Extreme Capitalism, Market Populism and the End of Economic Democracy. New York: Anchor Books 2001. Frevert, Ute: Kapitalismus, Märkte und Moral, Salzburg: Residenz Verlag 2019 oder Harvey, David: A Brief History of Neoliberalism. Oxford: Oxford University Press 2005. Leroy, Jèrôme: Le Bloc. Paris: Éditions Gallimard 2011. Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. München: Deutsche Verlags Anstalt 2018 (eBook). Mill, John Stuart: Betrachtungen über die Repräsentativregierung, hg. von Hubertus Buchstein und Sandra Seubert. Berlin: Suhrkamp 2013 (eBook). Möller, Kolja: Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen. Bielefeld: transcript Verlag 2015 (eBook). Möllers, Christoph: Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich. Heidelberg: Mohr Siebeck 2003. Moisio, Sami: Geopolitics of the Knowledge-based Economy. London/New York: Routledge 2018 (eBook). Nida-Rümelin, Julian: Was ist Demokratie, in: Ulrike Davy, Manuele Lenzen (Hg.): Demokratie morgen. Überlegungen aus Wissenschaft und Politik. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 17–34 (eBook). Schimmelbusch, Alexander: Hochdeutschland. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 2018 (eBook). Wieland, Joachim/Engel, Christoph/Dauwitz, Thomas von: Aussprache und Schlussworte, in: Dies. (Hg.): Arbeitsmarkt und Staatliche Lenkung. Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtler in Heidelberg vom 6. bis 9. Oktober 1999. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000, S. 143–198 (eBook). Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 2010.

Krise oder Umsturz? Der Brexit im Spiegel von Literatur und Film. Ein Überblick Michaela Nicole Raß

Ihr Lieben, ich glaube, Europa und England, das wird nichts. Wenn du einen Taxifahrer auf einen höllischen Umweg aufmerkssam machst, den er gerade fährt, murmelt er irgendwas deutschenfeindliches vor sich hin. Und der Kellner, den du höflich fragst, ob die Hühnersuppe wirklich nicht aus Rindfleisch ist, redet sofort von einer Verschwörung gegen England. Vermutlich halten die Europa für nichts anderes als den Hort der Maulund Klauenseuche und wollen doch lieber alleine sein. Seid umarmt, Jurek.1

Am 15.12.1996 auf einer Karte an seinen Sohn Lonni Becker stellte der deutsche Schriftsteller Jurek Becker in London eine Fremdheit zwischen Europa und Großbritannien, namentlich zwischen Europa und England, fest und damit zwischen sich, dem Europäer, und ‚denen‘, den ‚silent citizens‘ von London aus dem ‚populären Milieu‘, die sich in Beckers Augen als Europa-feindlich zeigen und die splendid isolation dem EU-Beitritt vorziehen würden. Damit spricht Becker einige Motive an, die sowohl in den politischen Debatten um den Brexit als auch in der Literatur und im Film Brexit wiederholt thematisiert werden. In diesem Aufsatz soll anhand kurzer Analysen beispielhafter Werke gezeigt werden, wie unterschiedlich der Brexit in der Literatur und im Film kontextualisiert wird und welche Problemfelder dabei in den Blick genommen werden. Es soll also ein kursorischer Blick auf die sogenannte „BrexLit”2 geworfen werden. Dabei steht allerdings die Literatur, in welcher der Brexit explizit thematisiert wird, im Fokus. Darüber hinaus wird ein Blick auf Filme und Serien, die in

1Becker, Jurek: „Am Strand von Bochum ist allerhand los“. Postkarten, hg. von Christine Becker. Berlin: Suhrkamp 2018, S. 778 (eBook). 2Vgl. z. B. Shaw, Kristian: BrexLit, in: Robert Eaglestone (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. London/New York: Routledge 2018, S. 15–30 (eBook).

M. N. Raß (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. N. Raß und K. Wolfinger (Hrsg.), Europa im Umbruch, Abhandlungen zur Medienund Kulturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05730-3_15

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engem Bezug zum Brexit stehen, geworfen. Post-Brexit-Dystopien sollen nicht analysiert werden, denn in ihnen wird nicht das Krisenphänomen Brexit selbst beleuchtet, sondern dessen mögliche Folgen und Formen der Umgestaltung Großbritanniens und Europas imaginiert. Aufgrund seiner ästhetischen Möglichkeiten und seiner Popularität erbringt heutzutage das Medium Film dieselbe weltund identitäterklärende Leistung wie die Literatur: „Literature has always been a significant influence on the perception of Britishness (or a narrower Englishness), shaping the identifiers of national identity in the popular cultural imagination“.3

1 Der Brexit: Eine weitere Krise der Gesellschaft In vielen Romanen und Erzählungen, in denen sozio-kulturelle Dynamiken beschrieben werden, werden zumeist Dystopien entworfen. Der Brexit wird als Zeichen einer Gesellschaftskrise gedeutet, die aus vorangegangenen wirtschaftlichen Krisen resultiert, welche wiederum Veränderungen der Sozialstrukturen zur Folge hatten.4 Für diese Deutung, welche die Grundlage für die literarische Darstellung des Brexit bildet, ist signifikant, dass zwei Ansätze, die in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur dazu dienen, die Haltung zu Europa zu analysieren, kombiniert und in Abhängigkeit voneinander dargestellt werden: Der erste [Ansatz] neigt dazu, einer Erklärung durch soziologische Variablen den Vorzug zu geben, die die sozialen Positionen, Eigenschaften und Werdegänge mit den Grundeinstellungen [zu Europa] verknüpfen, ohne den nationalen Aussagekontext als zentrale Variable mit einzubeziehen. Der zweite betrachtet den nationalen Kontext als entscheidend für die Erklärung, die Einteilung und den Vergleich dieser Grundeinstellungen.5

Aus der engen Verflechtung beider Ansätze in der Literatur resultiert auch, dass sich die Autoren ebenfalls mit der Frage auseinandersetzen, ob und unter welchen Umständen eine „Kompatibilität oder Unvereinbarkeit der europäischen, nationalen oder regionalen Identitäten“6 hergestellt werden könnte. Die beiden Ansätze werden im Verbund mit dieser Frage anhand der Darstellung von exemplarischen Individualschicksalen thematisiert, indem eine ‚social history‘ der Figuren skizziert wird.7

3Ebd.,

S. 18. auch Koller, Veronika/Kopf, Susanne/Miglbauer, Marlene (Hg.): Discourses of Brexit. London/New York: Routledge 2019. 5Dakowska, Dorota/Rowell, Jay: Gibt es einen nationalen Effekt? Zeitlichkeit und historische Erfahrungen bei den Grundeinstellungen zu Europa, in: Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lasalle, Jay Rowell (Hg.): Das Europa der Europäer. Über die Wahrnehmung eines politischen Raums, übers. von Franz Weigand und Markus Merz. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 137– 158, hier: S. 137 (eBook). 6Ebd., S. 138. 7Zum Verhältnis zu kulturgeschichtlichen Darstellungstraditionen in Großbritannien vgl. Jordanova, Ludmilla: The Practice of Cultural History in Britain, in: Jörg Rogge (Hg.): Cultural History in Europe. Institutions – Themes – Perspectives. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 63–78 (eBook). 4Vgl.

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Dieses Vorgehen ist beispielsweise für den Roman Autum signifikant. Ali Smiths Roman, der erste Teil eines Jahreszeiten-Quartetts, zeichnet durch die Schilderung von Figuren unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichem Milieu ein Stimmungsbild, das Rückschlüsse auf politische Tendenzen und Konflikte, welche die Bevölkerung Großbritanniens nach dem Brexit-Referendum prägen, zulässt. Im Zentrum stehen die relativ junge, schon aufgrund ihres Arbeitsumfelds kosmopolitische und international vernetzte Akademikerin Elisabeth Demand und Daniel Gluck, der als ehemaliger Flüchtling vor den Nazis eine europäische Identität hat, in der die wechselvolle Geschichte Europas widerhallt, und der nun ein älterer Nachbar aus dem Umfeld von Elisabeths Kindheit ist, der sich als einstiger Immigrant in Großbritannien eingelebt und vollständig integriert und dadurch auch eine nationale Identität entwickelt hat. Rückblicke in die Jugendjahre beider Figuren stellen ein kontrastreiches Verhältnis unterschiedlicher Zeitebenen her und lassen Rückschlüsse auf die Fluidität ihrer nationalen Identität und deren Verhältnis zur Sozialgeschichte des Individuums zu. Differente historische Erfahrungen und Lebenswelten können durch diese Erzählweise aufeinander bezogen werden. Dadurch wird eine facettenreiche social history der Figuren skizziert. Doch gerade die Rekurse auf die Krisenzeiten der 1930er, 1940er und 1960er Jahre relativieren die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die der Brexit haben wird und die im Roman noch nicht in ihrem Ausmaß reflektiert werden, denn die Figuren setzen sich in erster Linie mit dem Referendum und der Gesellschaft auseinander, die nach der Entscheidung für einen Brexit in einem neuen Licht erscheint, da offensichtlich geworden ist, wie unterschiedlich die Weltsicht von Teilen der Bevölkerung ist. Der Brexit wird als eine Krise unter vielen, als weitere Form eines wiederkehrenden Phänomens beschrieben: „Here’s an old story so new that it’s still in the middle of happening, writing itself right now with no knowledge of where or how it’ll end“.8 Die Fokussierung auf den Brexit als Gesellschaftskrise und die gleichzeitige Relativierung dadurch wird verstärkt durch die literaturgeschichtlichen Verweise und implizite wie explizite Bezugnahmen auf kanonisierte und populäre Schriftsteller wie Charles Dickens, Thomas Hardy oder William Shakespeare, die ihrerseits Gesellschaften und Gesellschaftsorganisationen in der Krise thematisiert haben. Gleichzeitig erklärt sich die Intertextualität aus dem Text selbst heraus, denn es werden die Besuche Elisabeths bei Daniel beschrieben, während derer sie ihm vorliest, und die Entwicklung einer eigenen Geschichte, an der Elisabeth und Daniel gemeinsam arbeiten. Dem Erzählen in all seinen Formen wird das Vermögen, Welt zu erschaffen und Realität zu gestalten, zugesprochen. Auch die Macht des Autors, Wirklichkeit zu erschaffen – die gleichermaßen auf Smith, die erzählenden Figuren und die an den Brexit-Diskussionen Beteiligten bezogen werden kann – wird thematisiert, beispielsweise indem Gluck zu Bedenken gibt,

8Smith, Ali: Autum.

London: Penguin 2016, S. 181 (eBook).

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dass „whoever makes up the story makes up the world“.9 Dieser Kerngedanke des Romans wirft ein bezeichnendes Licht auf die Geschichtsschreibung, denn auch hinter weitgehend abstrakten Begriffen wie ‚Nation‘ und auf konkrete Gebiete verweisende Begriffe wie ‚England‘ verbergen sich Phantasmagorien und Vorstellungen, die dann in Beschreibungen der ‚Englishness‘ oder der Nationalgeschichte erfasst werden sollen – und doch nur als Imagination, die in der Kultur ihren Niederschlag findet und fortgeschrieben wird, existieren.10 Neben den immateriellen Ebenen der Erzählung von persönlichen Erinnerungen einerseits und der Literatur – auch gedeutet als Reservoir interpersoneller Erinnerungen – andererseits wird die Frage nach dem Verhältnis zu und der Wertschätzung der Vergangenheit gestellt, indem immer wieder der Umgang mit Antiquitäten beschrieben wird, ein Motiv, das mit der Figur der Mutter von Elisabeth Demand, selbst Kunsthistorikerin und dadurch im Umgang mit Artefakten vergangener Epochen geübt, verknüpft wird. Durch die Beschreibung der Teilnehmer an der TV-Show The Golden Gravel werden unterschiedliche Arten, mit materiell vorhandenen Zeugen vergangener Zeiten umzugehen, skizziert. Elisabeths Mutter nimmt sie schließlich zur Hilfe, um gegen Missstände des Jetzt wie den Bau eines Zauns und die dadurch symbolisierte Abspaltung – ebenso von der EU wie von Teilen der Gesellschaft – und die Rückkehr in die Weltordnung einer vermeintlich historischen Zeit der splendid isolation aufzubegehren: Sie wirft Antiquitäten gegen den Zaun und geht dadurch mit real vorhandenen Zeugen der Vergangenheit gegen den Rekurs auf eine der Imagination entsprungenen Historiographie vor.11 Tenor des Romans Autum ist eine Politikverdrossenheit und Elitenskepsis, welche die Figuren unterschiedlicher politischer Couleur eint: „I’m tired of having to wonder whether they did it out of stupidity or did it on purpose“.12 Trotz der weiteren Gemeinsamkeit, Fakten zu misstrauen,13 skizziert Smith das Bild einer gespaltenen Gesellschaft,14 deren Mitglieder, da sie auf ihren jeweiligen Standpunkten beharren und sich den Argumenten des Gegenüber nicht öffnen oder den Dialog verweigern: „It has become a time of people saying stuff to each other and none of it actually ever becoming dialogue. It is the end of dialogue“.15 Auto- wie medienreflexiv wird im Roman das Erzählen als Möglichkeit der Überwindung der egozentrischen Rede und ihrer Öffnung reflektiert und der Sprache das Vermögen zugesprochen, einen Möglichkeitssinn zu entwickeln und ihm Raum zu

9Ebd.,

S. 119. z. B. Perryman, Mark: Imagined Nation: England After Britain. London: Lawrence & Wishart 2008, S. 31. 11Vgl. Smith 2016, S. 255. 12Ebd., S. 57. 13Vgl. ebd., S. 137. 14Vgl. z. B. ebd., S. 60 f. 15Ebd., S. 112. 10Vgl.

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geben – und aus diesem Raum eine Art Behausung, eine Heimstatt zu erschaffen, so gibt Daniel Elisabeth zu bedenken: „So always try to welcome people into the home of your story. […] And always give them a choice – even those characters […]. By which I mean characters who seem to have no choice at all. Always give them a home“.16 Der Roman schlägt folglich gerade in Momenten der Sprachund Medienreflexion einen versöhnlichen Ton an und hebt auch angesichts des Brexit-Referendums die positiven Aspekte der Wahlmöglichkeit hervor. Die Überlegungen von Daniel Gluck, der als Immigrant ein neues Heim, eine neue Heimat in Großbritannien gefunden hat, klingen wie ein Appell an die sprachmächtigen Wähler wie Politiker, diejenigen Wähler, die sich selbst wie die Charaktere, von denen Daniel spricht, als machtlos und sprachlos erleben, nicht abzulehnen und zu verdrängen, sondern sich auch ihnen zu öffnen und eine gemeinsames Heim zu schaffen. Eine ähnlich versöhnliche Note versucht eine imaginierte nationale Anthony Cartwright in seinem Roman The Cut17 zu vermitteln, wenngleich auch er eine gespaltene Gesellschaft beschreibt. Er rückt nicht nur sprachmächtige Kosmopoliten in den Blick, sondern gibt auch den ‚silent citizens‘ eine Stimme und lässt sie das Gefühl beschreiben, ungesehen zu sein, keine Wahl zu haben und in der Moderne unbehaust zu sein. Damit reiht sich sein Roman in die Riege der literarischen Werke ein, die auf Figuren fokussieren, deren zentrales Charakteristikum ihre Zugehörigkeit zum ‚populären Milieu‘ ist, da sich aus diesem ihr Selbstverständnis speist. Diese Figuren gehören also einer „Lage von Ausführenden [an], die bei der Arbeit von anderen beherrscht werden und außerdem sozial und ökonomisch angreifbar sind“.18 In der Literatur wird die Stimmungslage dieser ‚silent citizens‘ geschildert, die wegen ihrer Existenzängste und der Bedrohung durch einen wirtschaftlichen und sozialen Abstieg eine Handlungsohnmacht empfinden, welche sie durch eine Teilnahme an der Wahl zum Brexit überwinden möchten. Sie hoffen, ihre Selbstermächtigungs- und Handlungsmacht durch eine Abspaltung von der EU und Unabhängigkeit zu erlangen und durch diese ebenfalls das diffuse Gefühl der Bedrohung durch die Währungsunion, die Freizügigkeit und die europäische Integration ablegen zu können, da sie dann ihren Arbeitsplatz und ihre gesellschaftliche Position nicht mehr von ausländischen Arbeitnehmern und Wirtschaftsunternehmen gefährdet sehen würden. Der Autor zeigt, auf welche Art und Weise Sozialisierungsfaktoren, politische Erfahrungen und die Haltung zu Europa von nationalen und internationalen Wirtschaftskrisen

16Ebd.,

S. 119 f. Cartwright, Anthony: The Cut. London: Peirene Press 2017. 18Marchand, Christele/Weill, Pierre Edouard: Die populären Milieus. Wie ‚silent citizens‘ Europa beurteilen, in: Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lasalle, Jay Rowell (Hg.): Das Europa der Europäer. Über die Wahrnehmung eines politischen Raums, übers. von Franz Weigand und Markus Merz. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 261–284, hier S. 262 (eBook); vgl. Schwartz, Oliver: Le Monde privé des ouvriers. Hommes et femmes du Nord. Paris: Presses Universitaires de France 2002. 17Vgl.

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und der damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Umstrukturierung abhängig sind. Er illustriert, welchen Einfluss das Milieu auf die Figuren und damit auf das Individualschicksal haben kann und veranschaulicht in diesem Kontext, wie milieuabhängige Alltagserlebnisse und Erfahrungen mit dem Fremden die Haltung zu Europa und das Selbstverständnis als Europäer, Bewohner einer bestimmten Stadt und Region oder als Bürger einer Nation beeinflussen. Vor dem Hintergrund von Milieuschilderungen zeichnet sich ebenfalls die politische Sozialisierung durch Familie, soziales Umfeld und das Arbeitsleben ab. Die Figuren verstehen Europa häufig nicht als Werte- und Kulturgemeinschaft, sondern reduzieren Europa auf die Funktion, die es als Wirtschaftsraum für den nationalen Markt hat, sofern dieser unmittelbaren Einfluss auf ihre Lebenswirklichkeit und ihren Arbeitsalltag hat. Dadurch wird die Bildung einer europäischen Identität weitgehend ebenso verhindert wie eine kulante Haltung gegenüber gesamteuropäischen politischen und wirtschaftlichen Krisen, denn die „Kulturund Wertegemeinschaft Europas ist das Sicherheitsnetz, in dem die kleinen und großen politischen Abstürze aufgefangen werden können“.19 In der Literatur wird die Intoleranz der Figuren derartigen Abstürzen gegenüber geschildert und die verstärkende Wirkung, die diese auf das diffuse Gefühl der Bedrohung durch politische, wirtschaftliche und soziale gesamteuropäische Krisen und die Angst vor wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Abstieg hat. Bereits der Titel des 2017 erschienen Romans von Anthony Cartwright The Cut zeigt die Thematik des Werks an, das die Peirene Press anlässlich des BrexitReferendums in Auftrag gegeben hat, nämlich zum einen den Cut, der durch die Gesellschaft führt, und zum anderen den Cut, den das Brexit-Referendum und der Brexit in der Geschichte des Landes und im Verhältnis zu Europa darstellen. Wie bereits Ali Smith stellt Cartwright kosmopolitische Weltoffenheit und Nationalismus – in diesem Roman in Form des Regionalismus – einander gegenüber, verkörpert durch die Londoner Dokumentarfilmerin Grace Trevithick und den Protagonisten ihres Films, Cairo Jukes. Jukes Weltbild und Handeln bestimmt seine regionale Identität und deshalb spricht er für die Bevölkerung der Landstriche, die durch Margaret Thatchers Förderung der globalen, post-industriellen Wirtschaft ihren in der frühen Phase der Industrialisierung erworbenen Wohlstand durch den Abbau der Industrie und den damit einhergehenden Arbeitsplatzverlusten verloren haben, nämlich die Midlands und Wales.20 Am Beispiel der Figur

19König,

Helmut: Statt einer Einleitung: Europas Gedächtnis. Sondierungen in einem unübersichtlichen Gelände, in: Helmut König, Julia Schmidt, Manfred Sicking (Hg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität. Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 9–37, hier: S. 9 (eBook). 20Vgl. z. B. Jones, Martin/Orford, Scott/Macfarlane, Victoria (Hg.): People, Places and Policy. Knowing contemporary Wales through new localities. London/New York: Routledge 2016.

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Cairo Jukes wird ersichtlich, auf welche Art und Weise die vergangene, doch bis in die Gegenwart fortwirkende Wirtschaftskrise und die Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher eine diffuse Nostalgie und Sehnsucht nach der halb erinnerten, halb imaginierten wirtschaftlichen Sicherheit, dem Wohlstandsversprechen und dem Stolz auf die erbrachte wirtschaftliche Leistung erzeugen.21 Zudem wird deutlich, wie Nostalgie und Sehnsucht in Verein mit einer Empörung und dem Versuch, das Gefühl der Machtlosigkeit und der Handlungsarmut in einem Gestus des Aufbegehrens zu überwinden, die Entstehung eines nationalistischen Gedankenguts fördern. Cartwright führt das trotzige Hadern mit der Moderne und den Folgen der Globalisierung auch auf das Unverständnis und die Unversöhnlichkeit der Kosmopoliten zurück, die einander selbst in ihrem Versuch der Annäherung doch fremd bleiben, wie er anhand der Interaktion von Jukes und Trevithick veranschaulicht. Während die Dokumentarfilmerin sich auf dem immateriellen Parkett der internationalen Medienlandschaft bewegt und dadurch eine europäische Identität mit geringer Verankerung im Nationalen ausgebildet hat, sieht sich Jukes an einen konkreten Landstrich, eine materiell vorhandene Landschaft – auch eine Industrielandschaft – gebunden und ist dennoch – oder gerade deshalb – ein ‚silent citizen‘, der sich zu den „ghost people […] [,] lost tribes“22 zählt. Er versucht, seine Sprachlosigkeit und das Gefühl der Unsichtbarkeit zu überwinden und damit zugleich die Landstriche, denen er sich verbunden fühlt, in den Fokus der Weltöffentlichkeit und der kosmopolitischen Rezipienten zu rücken und sie ihnen vor Augen zu führen, indem er als Verkörperung des Landes, dem er eine Stimme verleiht, vor die Kamera treten will: „He wanted to say something, about the sense of his world being made invisible, mute“.23 In dieser Hoffnung spiegelt sich die vieler Brexit-Wähler, doch die Abstimmung und der Abspaltungsprozess des Brexit führen ebenso wenig wie die Produktion des Dokumentarfilms zu einer Nähe, einer gegenseitigen Akzeptanz der Weltsicht des Gegenüber, denn die Figuren bleiben – stellvertretend für ganze Gesellschaftsgruppen – unversöhnlich und einander fremd, selbst wenn sie sich ineinander verlieben. Dennoch treten sie in Dialog – und darin liegt die Chance für eine mögliche Versöhnung. Cartwright kontrastiert Aktion und Reaktion, begründenden Ursprung und Resultat in Kapiteln, die mit ‚Before‘ und ‚After‘ betitelt sind, und zeigt so Begründungszusammenhänge auf. Zugleich beschreibt er ein Vertiefen der Konflikte und der Spaltung der Gesellschaft. Das Ringen der so gegensätzlichen Protagonisten um gegenseitiges Verständnis erlaubt jedoch die Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesellschaft und eine allmähliche Überwindung der Gräben zwischen den Gesellschaftsgruppen, die einander vor und nach dem Referendum als Gegner gegenüberstanden; diese Hoffnung soll der Roman nähren, denn er wurde in Auftrag

21Vgl.

Cartwright 2017, S. 111 f. S. 100. 23Ebd., S. 30. 22Ebd.,

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gegeben, um eine „fictional bridge between the two Britains that have opposed each other since the referendum“24 zu bauen. Erzählungen und Romane, die den Brexit als Gesellschaftskrise schildern, zeigen auf, dass die dem Brexit vorangegangene Abstimmung und der Prozess der politischen und wirtschaftlichen Abspaltung von der EU – ähnlich vorangegangenen Zäsuren wie den Anschlägen vom September 2001 in den USA oder das Ende der Ost-West-Spaltung 1989 – „Identitätsfragen und Selbstverständnisdiskurse zurück ins Zentrum der Gesellschaften gebracht“25 haben und damit die „Fragen danach, wer wir sind und wie wir leben wollen“.26 Werden diese Identitätsfragen in Romanen und Erzählungen gestellt, die sich in die Tradition des Gesellschaftsromans eingliedern lassen oder auf literarische Vorbilder rekurrieren, und werden Verweise auf vorangegangene wirtschaftliche oder gesellschaftliche Krisen in einen Erklärungszusammenhang eingebunden, so droht der Brexit als eine weitere Krise unter vielen aufzuscheinen und nicht als ein „unprecedented historic moment for the nation […] [which] has resulted in a form of political isolationism unthinkable at the turn of the millenium“.27

2 Der Brexit: Die Entscheidung einer Nation „Generell gilt, dass es Antworten auf Identitätsfragen, also darauf, wer wir sind und wie wir leben wollen, ohne Einbeziehung der Frage, wer wir gestern waren und wie wir gestern gelebt haben, nicht geben kann“.28 Literatur und Film zeigen selbstreflexiv, dass Antworten auf diese Fragen publikumswirksam weder von der Geschichts-, noch von der Sozialwissenschaft oder der Anthropologie gegeben werden, sondern in literarischen Texten, Filmen und Serien formuliert werden. Sie basieren auf einer tendenziell anti-europäischen Literatur, für die unter anderem „the nostalgic appetite for (an admittedly false) national heritage […] and a mourning for the imperial past“29 signifikant ist. Die BrexLit zeichnet sich dadurch aus, dass bislang Post-Brexit-Utopien, die in der Tradition der antieuropäischen Literatur stehen und explizit den Brexit als Beginn eines ‚goldenen Zeitalters‘ beschreiben, zu fehlen scheinen. Um die Hoffnungen der Brexiteers, die sich an die Referendumsentscheidung für den Brexit knüpfen, und die Nostalgie sowie die Verdrossenheit an der Moderne – und gar der Postmoderne! – zu verstehen, empfiehlt sich ein Blick auf Medien, denen nachgesagt wird, dass sie

24Ebd.,

o. S. 2008, S. 11. 26Ebd., S. 11. Vgl. Eaglestone, Robert: Introduction. Brexit and literature, in: Ders. (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. London/New York: Routledge 2018, S. 1–6, v. a. S. 3 (eBook). 27Shaw 2018, S. 15. 28König 2008, S. 11. 29Shaw 2018, S. 18. 25König

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viele Wähler in ihrer Entscheidung für den Brexit beeinflusst haben. In diesen Medien werden – häufig in Gegensatz zu wissenschaftlichen Darstellungen – das British Empire und ein die Lebensweise und das Weltbild dieser Zeit bewahrendes England als Schutzräume mit weitgehend intakten Sozialräumen frei von grundlegenden gesellschaftlichen Konflikten und mit relativer wirtschaftlicher Sicherheit vorgestellt. Hinter diesem Bild verblasst die Realität des British Empire als relative Wertegemeinschaft mit gemeinsamer und nicht selten konfliktreicher Vergangenheit, wobei nach dem Zerfall des Weltreichs Großbritannien nicht nur seine politische, militärische und kulturelle Vormachtstellung verloren hat, sondern auch seine Bedeutung für die vom Empire abgespalteten Wirtschaftsräume. Die Bewahrung und Herstellung von bilateralen Verpflichtungen und Gemeinsamkeiten kann nicht mehr wie im Empire unter militärischem Zwang erfolgen, sondern basiert auf der Kulanz und dem Entgegenkommen der anderen Staaten, auch wenn eine Selbstverständlichkeit aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit bisweilen suggeriert wird. In den Darstellungen des zerfallenden Empire ebenso wie in den in Romanen wie Filmen thematisierten Brexit-Debatten die Frage nach einer „politischen Bedeutung des Gedächtnisses und die Möglichkeit der Instrumentalisierung von Erinnerungen für politische Zwecke“30 virulent ist. Die Auseinandersetzung prägt eine Konkurrenz von Erinnerungsräumen, denn einerseits wird auf die glorreiche Vergangenheit des Empire mit dem viktorianischen Zeitalter als Höhe- und Bezugspunkt rekurriert und andererseits auf die Zeit des EU-Beitritts, welche allerdings nicht annähernd ein vergleichbares mythisches Potenzial entfaltet. Das kulturell überformte und mythologisch aufgeladene British Empire31 wird als Legitimation und Vorbild für eine politische Ordnung beschworen, die sich aus der Wahl für einen Brexit und dem darauf folgenden Prozess der Abspaltung von der EU ohne weitreichende Verluste ergibt, es wird folglich eine „Deckungsgleichheit zwischen nationaler Kultur und politischer Ordnung“32 suggeriert. Die Darstellungen des Brexit wie die Darstellungen des British Empire, auf welche im Rahmen der Thematisierung des Brexit Bezug genommen wird, verdeutlichen, dass die als national gekennzeichneten Kulturgüter – auch wenn sie ihren Ursprung in anderen Kulturen des Empire haben sollten – nicht in europäische Kulturgüter umgewertet und in einen europäischen Kontext gestellt werden konnten, da sie im kulturellen Gedächtnis der Gegenwart mit einer spezifischen nationalen und anti-europäischen Ordnung verknüpft werden.33 Für die Medien, aus deren Pool die Serie und der

30König

2008, S. 14. auch Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London/New York: Verso 2006. 32König 2008, S. 19. 33Interessanterweise wird, wie beispielsweise die internationale Popularität von Serien wie Downton Abbey, The Crown oder Victoria zeigen, nicht nur in Großbritannien den mit einer Nation verknüpften Erinnerungskonstruktionen der Vorzug vor kollektiven und die Mitgliedsstaaten der EU verbindenden europäischen Erinnerungen und Erinnerungskonstruktionen gegeben. 31Vgl.

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Film Downton Abbey als exemplarisch im Folgenden kurz vorgestellt werden soll, ist signifikant, dass Erinnerungsräume und ein diffuses Heimat- und Nationalgefühl nicht durch die Beschwörung von Nationalhelden hergestellt werden, sondern durch die Skizzierung von – bisweilen politisch bedeutsamen und als Politiker fungierenden – Privatpersonen und ‚silent citizens‘. Deren Individualgeschichten sind eng mit der Veränderung von politischen und wirtschaftlichen Ordnungen, wie sie der Zerfall des Weltreichs und der Erste Weltkrieg mit sich brachten, verknüpft. Es werden also keine Nationalhelden gezeichnet, die in europäische Identifikationsfiguren umgemodelt werden könnten. Das als national Gekennzeichnete und die als national vorgestellte Identität von Figuren werden aufgewertet, anstatt dass sie in europäisches Kulturgut und eine europäische Identität umgewertet werden würden.34 Serien und Filme, die das Empire und die Bewahrung der (Familien-)Ordnung nach dem Zerfall des Weltreichs thematisieren, veranschaulichen ebenso wie der Film Brexit und Romane, welche das Vorgehen hinter den ‚Kulissen‘ des BrexitReferendums und des Abspaltungsprozesses von der EU behandeln, wie eng die literarische Fiktion „mit politischer Realität(sdarstellung) verbunden sein“35 kann. Gleichermaßen führen sie vor Augen, dass die „Realpolitik oft mit Fiktion – Mythen, Stereotypen, Traditionen, Utopien – durchsetzt [ist]. Oft genug ist literarische Fiktion ‚realer‘ als die vermeintliche ‚Realität‘ des politischen Alltags“36 – und sei es eine historische Realität. Auf derartige Stereotype und Mythen, die in Filmen und Serien verbreitet werden und ein großes Publikum finden, wird auch in Aussagen zum Brexit – vor und nach der Abstimmung – Bezug genommen und zwar vor allem von Brexiteers. Mythen kommen „gerade in Umbruchsituationen als gemeinsame Bezugspunkte zum Einsatz“,37 da sie Krisen und Übergänge erleichtern sollen: Sie dienen der Legitimierung der neuen politischen Ordnung aus der mythischen heraus. Nicht nur die in der politischen Rede beschworenen, sondern auch die in Filmen und Serien sowie in der Literatur und der bildenden Kunst variierten Mythen und Stereotype entfalten ihre Wirkung dadurch, dass sie reale geschichtliche Ereignisse und Erfahrungen überformen, verfremden und vergessen machen. Filme und Serien wie Downton Abbey veranschaulichen, dass die geschichtliche Realität, auf die sich die Serie bezieht, hinter die Darstellung zurücktritt. Dadurch können sie „die durch unterschiedliche Lebens- und Geschichtserfahrung getrennten Generationen der

34Vgl. Rother, Rainer: Nationen im Film, in: Ders. (Hg.): Mythen der Nationen. Völker im Film. München. Berlin: Koehler & Amelang Verlag 1998, S. 9–16. 35Marti, Roland/Vogt, Henri: Vorwort der Herausgeber, in: Roland Marti, Henri Vogt (Hg.): Europa zwischen Fiktion und Realpolitik/ L’Europe – fictions et réalités politiques. Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 11–14, hier: S. 13 (eBook). 36Ebd., S. 13. 37Heer, Sebastian: Politischer Mythos, Legitimität und Ordnungskonstruktion, in: Werner J. Patzelt (Hg.): Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 99–126, hier: S. 112 (eBook).

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Bevölkerung verbinden“38 und „sozialstrukturelle Verwerfungen überschreiten oder gar heilen“.39 Serien wie Downton Abbey40 führen auch im 21. Jahrhundert vor Augen, dass das Medium Film „wesentlich zum Selbstbild der Nationen beigetragen“41 hat und dass ihm „bei der Verfestigung und Popularisierung der bereits etablierten nationalen Geschichtsschreibung […] eine bedeutende Rolle zu[kommt]“.42 Sie zeigen darüber hinaus, dass in die Etablierung des Bilds einer Nation nach dem Zerfall des Weltreichs und an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts – die erzählte Zeit reicht von ca. 1914 bis 1925 in der Serie und bis zum Jahr 1927 im Film – ein anti-moderner Reflex eingeschrieben ist, denn die Bewahrung der (Familien) Tradition und deren Fortsetzung sowie die Bewahrung des als heimisch gekennzeichneten Ortes in England werden wiederholt als zentrale Handlungsmaxime der Figuren und als Ursprung ihrer Entscheidungen angegeben. Der Erhalt des Besitzes und des Hausstands der Familie von Graf und Gräfin von Grantham sind nicht nur Thema der Serie, sondern auch des an sie anschließenden Films aus dem Jahr 2019.43 Wenngleich Modernisierungsfragen wie die Suche nach neuen Rollen der sich emanzipierenden Frau als Entscheidungsträgerin, die Abwertung traditioneller Geschlechter- und Familienbilder oder alternative Geschlechterverhältnisse zur Debatte gestellt werden, bestätigt der Film Downton Abbey den dominanten Eindruck, den die Serie vermittelt hat: Diese fokussiert auf Fragen, die sich mit Beginn der Moderne ergeben, nämlich „auf Widersprüchlichkeiten, auf Unübersichtlichkeit, auf die Unkalkulierbarkeit von Rollen, auf die Optionssteigerung von Lebensmöglichkeiten, auf sozialmoralischen Pluralismus, auf den Verlust kollektiver Selbstverständlichkeiten, auf Steuerungs- und Kontrolldefizite und auf ein allgemeines Unbehagen“44 an der Moderne. Diese werden dann durch die Betonung und die weitgehende Rückkehr zu konservativen Werten, Traditionen und Handlungsmustern beantwortet und dadurch Konflikte aufgelöst. Es wird hierbei keine Gleichheitsutopie entwickelt. Wenngleich die Klassenschranken in Extremsituationen formal aufgehoben werden können, bleiben sie weiterhin im Bewusstsein, indem sie andauernd thematisiert und angesprochen werden. Auf Downton Abbey werden nicht nur die aus der viktorianischen Zeit

38Leggewie,

Claus: Der Mythos des Neuanfangs – Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutschland: 1949 – 1968 – 1989, in: Helmut Berding (Hg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 275–302, hier: S. 288. 39Ebd., S. 288. 40Downton Abbey, GB 2010–2015. 41Quenzel, Gudrun: Konstruktionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 154 (eBook). 42Ebd., S. 154. 43Downton Abbey, GB 2019, Regie: Michael Engler. 44Nassehi, Armin: Nicht nur die Rechten. Warum die Moderne so anstrengend ist. Hamburg: Sven Murmann Verlagsgesellschaft 2016, S. 5 (eBook).

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und der Zeit des Empire überlieferten Werte und Traditionen aufrechterhalten, sondern auch das Gesellschaftsverständnis, weshalb die Gesellschaftsordnung – zumindest im Rahmen des Hausstands – stets beibehalten wird. Durch die Konzentration auf den Hausstand und den Besitz Downton Abbey und die wechselvollen Schicksale der aktuellen und ehemaligen Bewohner, der Besitzer und Bediensteten des Hauses, wird eine Beheimatung durch Narration verknüpft mit konkreten Sozialräumen. Die lokale Verortung ermöglicht trotz wechselnden Personals Kontinuität zu suggerieren, die mit dem Festhalten am Besitz und der von Lord Grantham intendierten Erbfolge trotz aller finanzieller Hürden korrespondiert. Es wird zudem an unterschiedlichen Figuren dargestellt, wie Sozialräume Halt und Orientierung geben, denn diese werden an unterschiedliche Arten der Gemeinschaft, – sei es Gemeinschaft in Form eines Familienverbandes, der Dienerschaft eines Hauses, einer politischen oder lebensanschaulichen Gruppierung oder einer in einem Konflikt verbundenen Gruppe –, zurückgebunden. Indem der Hausstand von Downton Abbey über alle sechs Staffeln hinweg im Fokus steht, wird eine umfassende, alle Hauptfiguren und die meisten Nebenfiguren umfassende „soziale (Re-)Konstruktion von Heimat”45 erreicht. Die Ordnung des Haushalts und der Besitztümer spiegelt die Ordnung der Welt von Downton Abbey wider. Heimat wird so greifbar als „eine Ordnungskonstruktion, die ihre scheinbare ‚Natürlichkeit‘ dem Gelingen vieler alltagspraktischer Hervorbringungsprozesse verdankt“,46 die in der Serie ebenfalls umfassend dargestellt und in der Figurenrede thematisiert werden. Heimat scheint in der Serie als eine Konstruktion auf, welche auch die unübersichtliche, facettenreiche Welt der Moderne ordnet. Sie wird hergestellt durch die Narration auf zwei Ebenen. Die Narration der Serie und die Narrationen der Figuren, die auch ihr Individualschicksal vor ihrer Ankunft auf Downton Abbey erzählen, sind hierbei nicht zu verstehen als. detailgetreue Reproduktion historischer Vorgänge in Erzählungen, sondern [es handelt sich] um die Deutung und Bewertung der erlebten Ereignisse aus der Perspektive des Erzählers, um deren Anverwandlung und Sinndeutung von einem gesuchten oder gefundenen ‚Heimatort‘ aus.47

Aufgrund des großen Figurenpersonals, das aus unterschiedlichem Milieu stammt, wird der Eindruck erzielt, es handle sich bei der Narration der Serie um eine intersubjektive Erzählung. Durch die Beziehungen aller Figuren, auch der Figuren, die aus der Fremde kommen oder sich zeitweise in der Fremde bewegen, zu Downton Abbey und den Bewohnern des Hauses wird eine Anknüpfung an bestimmte

45Klose,

Joachim: ‚Heimat‘ als gelingende Ordnungskonstruktion, in: Werner J. Patzelt (Hg.): Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 391–416, hier: S. 412 (eBook). 46Ebd., S. 391. 47Ebd., S. 408.

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(Sozial)Räume erzielt, eingelassen in eine Überlagerung von Historiographie und mit Erlebnisfolgen der Figuren.48 Downton Abbey wird konstruiert als Miniaturversion der Nation, denn die Figuren sind meist als Stellvertreter für Gesellschaftsgruppen oder politische Gruppierungen erkennbar, und anhand der Individualgeschichten werden gesellschaftliche Konflikte sowie politische und wirtschaftliche Krisen erzählt und ausgehandelt. Das Figurenpersonal und deren Erlebnisse fungieren also einerseits als Spiegel der Gesellschaft und der Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts, andererseits verkörpern sie die Werte und Ordnung des Empire und des 19. Jahrhunderts, wodurch sie als Vertreter des Gesellschaftskörpers die Bildung der Nation aus den Trümmern des Weltreichs unter Beibehaltung des mit dieser Staatsform verknüpften Selbstverständnisses für den Zuschauer nachvollziehbar machen. Dadurch wird auch ein Rückschluss von der „Fabel von der weisen Nation“49 auf die Erzählebene ermöglicht. Zudem wird das Festhalten an Vorstellungen und an der Weltsicht des 19. Jahrhunderts als Inbegriff der ‚Englishness‘ vorgestellt. Noch eindrücklicher als durch die lange Laufzeit werden die Inhalte der Serie, indem sie eine Ordnungskonstruktion, ein Figurenpersonal und Konfliktebenen variiert, die bereits in anderen Historienfilmen und Serien wie Upstairs, Downstairs50 erfolgreich vorgestellt worden sind – und das just zu der Zeit, in der Großbritannien der EU beitrat. Hierbei sind das Selbstverständnis und das Auftreten britischer Politiker bei den Verhandlungen mit der EU zu beachten. Trotz des selbstbewussten Auftretens britischer Politiker und des Selbstverständnisses als Weltmacht liegt der Eindruck nahe, dass Großbritannien „tatsächlich nie ein Staat [war], der sich dafür entschieden hatte, andere zu unterstützen, sondern ein auseinanderbrechendes Weltreich, dessen Staatlichkeit durch die europäische Integration gerettet wurde“.51 Die Serie und der Film Downton Abbey stehen in der Tradition dieser Medien und der durch sie vermittelten Inhalte. Die Popularität der Serie und des gleichnamigen Films zeigt, dass der Sirenengesang des in der Serie beschworenen Selbstbilds und einer diffusen, der Moderne und Postmoderne sich entziehenden Nostalgie auch angesichts der Globalisierung nicht verstummt ist, sondern neue Aktualität erlangt hat, da er in großen Teilen mit dem von den Brexiteers propagierten Bild Großbritanniens und der ‚Britishness‘ – wenn nicht gar der ‚Englishness‘ – seiner Bevölkerung übereinstimmt. Sollte es da wundern, dass der Serie ein Einfluss auf das Ergebnis des Referendums nachgesagt wird?52

48Vgl.

ebd., S. 409 f. Timothy: Der Weg in die Unfreiheit. Russland. Europa. Amerika, übers. von Ulla Höbner und Werner Roller. München: C. H. Beck 2018, S. 116 (eBook). 50Upstairs, Downstairs, GB 1971–1975, Produktion: John Hawkesworth. 51Snyder 2018, S. 116. 52Vgl. z. B. Upstone, Sara: Do novels tell us how to vote?, in: Robert Eaglestone (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. London/New York: Routledge 2018, S. 44–58 (eBook). 49Snyder,

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3 Der Brexit: Von Politikern erdacht, von Medien gemacht Die Debatte um den Brexit vor dem Referendum wurde nicht nur beeinflusst von Medienformaten, in denen ein nostalgischer Blick auf die Vergangenheit geworfen wurde und Vorstellungen einer Nation und eines Nationalcharakters entwickelt wurden, sondern auch von der aktuellen journalistischen Darstellung und von Werbekampagnen, die in den Print- und Onlinemedien aufgenommen und kommentiert wurden. Einen Blick hinter die Türen der Medienhäuser und die Büros der Politstrategen, in denen Pro-Leave-Propaganda für die mediale Verbreitung entwickelt wurde, werfen der semi-realistische TV-Spielfilm Brexit. The uncivil war53 und Romane wie Head of State. A Political Entertainment von Andrew Marr. Die erzählte Zeit erstreckt sich über die Tage vor und nach dem Referendum und reflektiert „sensational political times“.54 The referendum was slicing the country down the middle. The British had always been a people slow to feel political enthusiasm – one of the great secrets of their national survival. But now, families were dividing over supper tables, and offices were driven by arguments about a subject bigger than football or waxing.55

In seinem Roman zeigt Marr durch die Beschreibung der Instrumentalisierung „of one of Britain’s once-great newspapers, the National Courier“56 und der Erwägungen des Chefredakteurs Ken Cooper und des Journalisten Lucien McBryde, auf welche Art und Weise Massenmedien durch von persönlichen freundschaftlichen Verbindungen,57 ökonomischen Zwängen und journalistischen Erwägungen beeinflussten Publikationsentscheidungen58 Umfang und Qualität der politischen Debatten steuern und so über ihre Funktionalisierung von Politikern und politischen Gruppen zu einer ‚vierten Gewalt‘ hinauswachsen, die einer politischen Institution vergleichbar ist.59 Als Problem zeigt sich – neben der möglichen politischen Inkompetenz der Journalisten, ihrer Manipulierbarkeit und ihrer mangelnden beruflichen Integrität60 –, dass sich Massenmedien für ihr Handeln nicht zur Verantwortung ziehen lassen.61 Marr führt 53Brexit.

The uncivil war, GB 2019, Regie: Toby Haynes. Andrew: Head of State. A Political Entertainment. London/Sydney/Toronto (u. a.): HarperCollins 2014, S. 39 f. (eBook). 55Marr 2014, S. 39 f. 56Ebd., S. 35. 57Vgl. ebd., S. 75 ff. und S. 144 f. 58Vgl. z. B. ebd., S. 575 ff. 59Vgl. Cook, Timothy: Governing with the News. The News Media as a Political Institution. Chicago: University of Chicago Press 1998, S. 167. 60Vgl. z. B. Marr 2014, S. 180 ff. 61Vgl. Cook 1998, S. 167–169. 54Marr,

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in seiner Medien- und Politsatire Vorstellung von einer überpersönlichen, ‚neutralen Berichterstattung‘, ‚neutralen‘ Medien und Medientechnologien ad absurdum. Er entlarvt die Prämisse eines auf Neutralität zielenden, allgemeinen Erkenntnisinteresses von Journalisten als Illusion. Seine Beschreibungen des Chefredakteurs und des ermordeten Investigativjournalisten McBryde veranschaulichen neben der wiederholten Thematisierung der unterschiedlichen Berichterstattung in den diversen Zeitungen – „none of them was entirely clear about which story to run with“62 –, dass es keine Neutralität der Realitätsvermittlung geben kann und – in selbstreflexivem Gestus – dass auch der Roman selbst eine Interpretation des Geschehens und der historischen Realität darstellt. Marr zeigt, wie Journalisten und Medienmogule durch ihre oder die von ihnen angeregte Berichterstattung zu Akteuren in der nationalen Politik werden und glauben, Exklusivität durch ihre Beziehung zu politischen Machthabern zu erlangen. Dadurch wirft er einen Blick auf den Medieneinfluss auf politische Prozesse im Allgemeinen und skizziert die Mechanismen und die Wirksamkeit der Steuerung von medialen Effekten. Motive wie die Ermordung des Investigativ-Journalisten führen vor Augen, dass „[h]eutzutage […] der investigative Journalismus immer unersetzlicher [wird], weil wachsende Ungleichheit die politische Fiktion befördert”.63 Der Autor des Unterhaltungsromans relativiert jedoch die Relevanz der Medien für die Politik selbst – wenn auch nicht den Einfluss auf die Meinungsbildung der Rezipienten –, indem er in den letzten Kapiteln seines Romans veranschaulicht, dass die Journalisten – und selbst die in die politischen Prozesse durch Freundschaften und die Loyalität zu ermordeten Angestellten involvierten wie Ken Cooper – nicht in die politischen Händel wie die Hintergründe der Ermordung des Premierministers oder des mit dem Referendum damit verbundenen Finanzskandals Einblick nehmen können. Selbst die mit der offiziellen Geschichtsschreibung beauftragten Wissenschaftler64 wie Lord Trevor Briskett kämpfen bei ihren Publikationsentscheidungen mit „the journalist’s age-old dilemma to-do we keep in with the boss classes, keep talking to them, and keep getting the stories; or do we burn our bridges and retire from the fray?“65 Autoreflexiv wird ein Autor der ‚schönen‘ Literatur von derartigen Überlegungen freigesprochen. Dementsprechend rät Myfanwy Davies-Jones, eine walisische Schriftstellerin: „No problem at all, sweetie. […] Make it a novel. Much more fun.“66

62Vgl.

z. B. Marr 2014, S. 576 f. 2018, S. 20. 64Vgl. Marr 2014, S. 53 f. 65Ebd., S. 612. 66Ebd., S. 612. 63Snyder

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Marr versucht eine versöhnliche Geste, indem er im letzten Kapitel Jennifer Lewis, genannt Jen, die Tochter von Myfanwy, und ehemalige Chef-Analystin einer euroskeptischen Gruppierung innerhalb des Parlaments und Mitarbeiterin der Leiterin der ‚No‘- Kampagne Olivia Kite, zu Wort kommen und einen positiven Blick in die Zukunft werfen lässt: And they were living, after all, in a new country. There would be less money about, it was true. But all that money sloshing around in the old days hadn’t made the British happier, or more useful, had it? Now they had the chance of a new start.67

Der Verlauf der Kampagne für einen neuen Start wird im Film Brexit68 umrissen, der zu Beginn auf seinen semi-dokumentarischen Charakter hinweist.69 Durch die wiederholte Thematisierung des Ringens von Cummings um die Macht, die Kampagne allein nach seinen Vorstellungen zu gestalten, die Darstellung der Diskussionen mit Politikern, Lobbyisten und Auftragnehmern wie des kanadischen Beratungs- und Technologieunternehmens Aggregate IQ sowie die Selbsterklärungsversuche Cummings, rückt der Film intendierte Steuerungsabsichten und Mechanismen der gezielten Manipulation in den Blick. Er zeigt, auf welche Art und Weise die Strukturierung der Berichterstattung in Einzelmedien an einen strategischen Gesamtkontext gebunden ist. Im Film wird vor Augen geführt, welche Macht der Manipulation Massenmedien und Werbeauftritte, doch insbesondere gezielte Wahlwerbekampagnen im Internet durch Mikro-Targeting, als ‚neutrale‘ Informationsvergabe oder ‚persönlicher Eindruck‘ getarnt und per Socialbots wie Googlebots, Twitterbots, Chatbots und ähnliche Programmiermöglichkeiten verbreitet, haben und welche Macht die Strategen der Propaganda-Kampagnen entfalten und ausüben. Durch die Platzierung von unterschiedlichen Bots verschwimmen die Grenzen zwischen Nachrichtenberichterstattung und Unterhaltungskommunikation, wodurch die Leser auf unterschiedliche Art und Weise, auch im vermeintlich privaten Austausch mit Gleichgesinnten, angesprochen werden und eine diskursive Vorherrschaft erreicht wird. Eine Prämisse, die die Überlegungen Cummings und seines Teams bestimmt, ist die Annahme, dass Slogans, die wie Affirmationen funktionieren kombiniert mit einer anhaltenden negativen Berichterstattung, zu Skepsis und Ablehnung bei Zuschauern führen. Eine weitere, dass Massenmedien, insbesondere die Möglichkeiten der Informationsvergabe des Internets, die Funktion haben können, politische Prozesse durch die Verbreitung von Appellen und Fehlinformationen sowie ihres Kontextes entfremdeten und dadurch verfälschten Fakten zu beeinflussen und Kontrolle auf das Meinungsbild der Rezipienten auszuüben.

67Ebd.,

S. 608. The uncivil war, GB 2019, Regie: Toby Haynes. 69Ebd., 0:00:10 ff. 68Brexit.

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Der Film vollzieht die Entwicklung und Verbreitung von ständig wiederholten, einfach strukturierten Slogans wie ‚Take back control‘ nach, deren Aussagekraft so diffus ist, dass sie einen weiten Deutungsraum eröffnen und den Ansprechpartner nicht intellektuell stimulieren, sondern an schwer greifbare Gefühle wie unterdrückte Ängste oder eine uneingestandene Nostalgie appellieren. Die durch die Simplizität und die Wiederholung geschaffene „Reduktion politischer Operationswirklichkeit“70 ermöglicht es, auch Fehlinformationen zu verbreiten, ohne diese erklären zu müssen. Im Film wird veranschaulicht, dass dadurch auch auf uneindeutige Art und Weise Patriotismus und Xenophobie geschürt werden können. Aufgrund der Reduktion der Komplexität innen- wie außenpolitischer Zusammenhänge und Vorgänge und der Verschlagwortung sind die digitale wie analoge Werbung und Berichterstattung der im Kriegsfall vergleichbar, denn es werden auch Feindbilder geschaffen und verbreitet. Der Film macht deutlich, dass trotz einer hohen Sichtbarkeit, allgemeiner Zugänglichkeit und Transparenz von Institutionen der EU und deren Selbstdarstellung im Internet und in internationalen Medien, eine Verzerrung des Bildes in nationalen Medien und die Verbreitung von Fehlinformationen möglich sind. Es wird vor Augen geführt, dass die Propaganda nicht aufgrund von Zensur oder einer gezielten Informationsverknappung seitens der Politik funktioniert, sondern auf die Meinungsbildung durch eine gezielte Verzerrung der Darstellung wirkt. Aufgrund der medialen Übersättigung des Rezipienten sehnt sich dieser, da er sich angesichts der Komplexität und des Facettenreichtums der Informationen, die im Internet und in den anderen Medien zugänglich sind, überfordert fühlt, nach leicht begreifbaren klaren Ordnungsmustern und einfach zu erfassenden (Sprach-)Strukturen. Komplexe Zusammenhänge werden also strategisch verwirrt und an den durch den seit den 1970er Jahren in den Medien etablierten EU-Skeptizismus angeknüpft und so bekannte Stereotype und Feindbilder evoziert, um vermeintlich den Zugang zu den in politische Entscheidungsprozesse eingebundenen Diskussionen zu ermöglichen und einen simplifizierenden Überblick zu schaffen – tatsächlich entsteht dadurch aber eine Realitätsverzerrung. Europa dient Cummings als Chiffre für alles Schlechte, das geschehen ist.71 Aufgrund der „Multiperspektivität massenmedialer Berichterstattung“,72 die für konservative Medien wie die BBC typisch ist, kann Cummings eine Dominanz des Diskurses erreichen, da die von ihm und unter seiner Ägide formulierten Schlagworte den ausführlicheren Darstellungen komplizierter Zusammenhänge seiner ‚Gegner‘ gegenübergestellt werden. In den Darstellungen des Brexit und des ihm vorangegangenen Wahlkampfes wird sichtbar, wie sich das Fiktive in die (empirische) Wirklichkeit einschreibt und die Grenzen durchlässig werden. Es zeigt sich, dass und auf welche Art und Weise das „Wirkliche und das Visuelle durchlässig gegeneinander und ­miteinander

70Brand,

Alexander: Medien Diskurs Weltpolitik. Wie Massenmedien die internationale Politik beeinflussen. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 42 (eBook). 71Brexit. The uncivil war, GB 2019, Regie: Toby Haynes, 0:17:33 ff. 72Brand 2012, S. 84.

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v­erwoben [werden] […]. Das Wirkliche ist nicht durch und durch wirklich, sondern schließt Virtualitätsanteile ein, und ebenso gehören zum Virtuellen zu viele Wirklichkeitsmomente, als dass es als schlechthin virtuell gelten könnte“.73

4 Der Brexit: Die Verwandlung von Fiktion in Politik und zurück Im Film Brexit werden die Phantasmagorien, auf die in der Pro-Brexit-Kampagne Bezug genommen wurde, ebenso benannt und in ihrer Wirkmacht diskutiert wie die im Rahmen der Propaganda erzeugten Illusionsbilder. Dadurch wird die Verwandlung von Fiktion in Politik beschrieben. Die Begeisterung von Dominic McKenzie Cummings für die russische Kultur und Politik wird im Film nicht als Motivation seiner Handlungen dargestellt. Die Idee, dass Russland, gelenkt von einem mächtigen russischen Premier, ein gesteigertes Interesse an der Zerschlagung und Schwächung der EU haben könnten, wird von britischen Politikern und Autoren von Politsatiren wie Stanley Johnson in seinem Brexit-Roman Kompromat dargelegt, aber auch von Wissenschaftlern wie Timothy Snyder in The Road to Unfreedom74 vertreten. Die Argumentation in beiden Werken, dem Roman und der wissenschaftlichen Literatur, ähneln einander: In beiden Publikationen wird auf den Machtgewinn Russlands durch eine Schwächung oder gar eine Zerschlagung der EU und einen Stillstand der EU-Erweiterung hingewiesen. Snyder stellt einen direkten Bezug zwischen der EU-Politik Russlands und einer Schwächung der Demokratie in den austretenden oder mit der EU hadernden Ländern her,75 während Johnson undemokratische politische Prozesse und undemokratisches Verhalten von manipulativen und bestechlichen Spitzenpolitikern, die einen Brexit mit der Hilfe und Unterstützung Russlands anstreben, darstellt. Dem Politiker, der als der führende des euroskeptischen Flügels der konservativen Partei Großbritanniens bezeichnet wird,76 Edward Barnard, werden vom russischen Präsidenten Igor Popov und seinem engsten Vertrauten Yuri Yasonov Informationen zugespielt, die zeigen, dass der Premierminister zu seiner Ankündigung eines Referendums zum Verbleib in der EU von russischen Bestechungsgeldern verleitet

73Welsch,

Wolfgang: „Wirklich“. Bedeutungsvarianten – Modelle – Wirklichkeit und Virtualität, in: Sybille Krämer (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 169–212, hier: S. 210. Vgl. auch Benjamin Jörissen: Beobachtungen der Realität. Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der neuen Medien. Bielefeld: transcript Verlag 2007 (eBook). 74Vgl. Snyder 2018. 75Vgl. auch Mounk, Yascha: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, übers. von Bernhard Jendricke. München: Droemer Verlag 2018 (eBook). 76Vgl. Johnson, Stanley: Kompromat. A Brexit Affair. London: Oneworld Publications 2017, S. 108 (eBook).

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worden war.77 Bernards Einblick in die russischen Bestechungsmethoden und seine Erkenntnis, dass führende Politiker wie der Premierminister Jeremy Hartley so leicht zu manipulieren waren, erleichtert ihm das Verständnis internationaler Dynamiken ebenso wie bislang für ihn unverständliche politische Entscheidungen, denn zunächst reflektiert er seine Überraschung über die Ankündigung eines Referendums: I couldn’t believe my ears. Speaking personally, I was over the moon. As Eurosceptics, we all were. We had been hoping for something like that – giving the country a say on the UK’s membership in the EU after forty years – but we never imagined we’d actually get it. […] Politically speaking, it [the announcement of the Referendum] was quite unnecessary. The government wasn’t under any kind of threat. The prime minister wasn’t under any kind of pressure, and so at the time, however delighted I might have been in a personal sense, I simply couldn’t imagine why he had done it.78

Der von den höchsten russischen Politikern gewährte Einblick in die Hintergründe der nationalen und internationalen Politik ermöglicht nicht nur die Fortsetzung von Bernards politischer Karriere, sondern ermöglicht eine Win-Win-Situation aus russischer Sicht, wie die Leiterin des MI5, Dame Jane Potter, darlegt: They hand the tape to Edward Bernard, knowing that if it becomes public the prime minister is finished. […] He is committed, politically and personally, to archive victory for the Remain camp in the Referendum. If he is out on his ear and possibly heading for jail, and if these documents become public, the prospects of Remain winning the vote will suddenly look much thinner than they do today. Precisely the objective the Russians are aiming at. They are fed up with the EU. They would like to get rid of it. Brexit is off to a good start.79

Die Analyse des chinesischen Politikers und Geheimdienst-Analysten Deng Biao-Su reicht sogar noch weiter, denn er gibt zu bedenken, dass der Austritt Großbritanniens die EU nicht nur finanziell und strukturell schwächen würde, sondern dass er – mit Hilfe Russlands – die Wiederwahl des pro-russischen amerikanischen Präsidenten zur Folge hätte.80 Dies hätte wiederum Konsequenzen für die politische Landschaft aller europäischen Staaten: And both events, taken together, will kick-start a great wave of popularism in Europe […]. That wave of popularism is based on the idea that the people themselves will and must take back control‘. We will see a resurgence of the ‚Europe of the nations‘, not the United Europe that the founding fathers like Monnet and Schuman aimed at.81

Snyder analysiert die aktuelle politische Lage ähnlich und stellt auch einen direkten Zusammenhang zwischen der Destabilisierung demokratischer Systeme 77Vgl.

ebd., S. 126 ff. S. 110 f. 79Ebd., S. 143 f., vgl. Snyder 2018, S. 115 f. 80Vgl. Snyder 2018, S. 115. 81Johnson 2017, S. 175 f. und vgl. Snyder 2018, S. 108 ff. 78Ebd.,

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durch populistische Bewegungen, rechte Parteien und populistische Politiker mit autokratischen Zügen und der Schwächung bzw. dem Zerfall der EU durch den Brexit her. Er zeigt die Nähe populistischer, Anti-EU Politiker wie Marie Le Pen, der österreichischen FPÖ-Politiker, Silvio Berlusconi und Pro-BrexitPolitiker wie Nigel Farage oder Matthew Elliott zu Putin auf und verweist auch auf Farages Auftritte in russischen Medien, bei denen er sich begeistert von Putin und seiner Politik gezeigt habe.82 Der Historiker aus Yale zeichnet mehrere Versuche Russlands nach, in die nationale Politik von Mitgliedsstaaten der EU, maßgeblich Großbritanniens, einzugreifen und Politiker und Wähler gleichermaßen zu animieren, für einen Brexit zu stimmen.83 Auch Johnson zeichnet ein – mit Snyders Thesen und Argumentationsmustern oftmals übereinstimmendes – Bild von Russlands Einflussnahme auf die britische Politik vor und nach dem Referendum und auf Politiker unterschiedlicher Parteien. So beschreibt er in einer Szene, wie der russische Premierminister einem Text auf seinem Handy folgt, während die neue britische Premierministerin Mabel Killick das BrexitReferendum ankündigt und mit ihrer offiziellen Rede den Brexit-Prozess einleitet. Er suggeriert, dass die Rede dem russischen Premier schon vorher bekannt war.84 Im fünfzigsten Kapitel seines Romans zeichnet Johnson den weiteren möglichen Verlauf der Außenpolitik von Popov nach und lässt ihn Pläne für eine anhaltende Beeinflussung britischer und amerikanischer Spitzenpolitiker machen. Johnson reflektiert die Wirklichkeitsbezüge seines Unterhaltungsromans, der BrexitPolitsatire, und der Diskussionen um die Beeinflussung des Ergebnisses des Referendums und des Brexit-Prozesses durch die Verbreitung von Fake-News im Fernsehen und im Internet, indem er Popov ausrufen lässt: „Fake News! God, how I hate it! […] They’ll be writing Fake Books next!“85 Wie Johnson kennzeichnet auch John le Carré im Agententhriller Agent running in the Field das Brexit- Referendum als Resultat einer internationalen Verschwörung, das seine Hauptfigur, der Secret-Service-Mitarbeiter Anatoly, genannt Nathaniel, Nat, den sein Vorgesetzter als „British archetype“86 bezeichnet, aufdeckt. Bei dem als ‚Jericho‘ bezeichneten Projekt – ein Hinweis auf den Fall der Mauer der Integrität der EU – handelt es sich um einen Pakt zwischen Großbritannien und den USA,87 der eine Destabilisierung der EU und Desintegration der Mitgliedsstaaten mit allen den Geheimdiensten zur Verfügung stehenden Mitteln zum Ziel hat. Von der Botschaftsangestellten Renate, genannt Reni, erfährt er, dass Ed Shannon aufgedeckt hat, dass ‚Jericho‘ der Name einer

82Vgl.

Snyder 2018, S. 115. ebd., S. 114 ff., S. 221 ff., S. 235 ff.,. 84Vgl. Johnson 2017, S. 781 ff. 85Ebd., S. 798. 86Carré, John le: Agent running in the Field. London/New York/Toronto (u. a.): Penguin 2019, S. 46 (eBook). 87Vgl. ebd., S. 520 ff. 83Vgl.

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„Anglo-American covert operation [ist,] already in the planning stage with the dual aim of undermining the social democratic institutions of the European Union and dismantling our international trading tariffs“.88 Nat sympathisiert mit Ed, denn er genießt die Gesellschaft und die Gespräche mit seinem neuen Freund. In einem Gespräch mit seiner Tochter Stefanie, genannt Stef, zeigt sich, dass sein Blick auf die britische und internationale Politik der Eds ähnelt. Nat umreißt seinen Eindruck vom Zustand der britischen Politiklandschaft: „A minority Tory cabinet to tenth-raters. A pig-ignorant foreign secretary who I’m supposed to be serving. Labour no better. The sheer bloody lunacy of Brexit“.89 Nats jüngerer Badminton-Partner Ed Shannon lehnt ebenso wie Nat den Brexit ab und stellt einen Bezug zu den USA her, deren Präsident er ebenfalls kritisiert: It is my considered opinion that for Britain and Europe, and for liberal democracy across the entire world as a whole, Britain’s departure from the European Union in the time of Donald Trump, and Britain’s consequent unqualified dependence on the United States in an era when the US is heading straight down the road to institutional racism and neofascism, is an unmitigated clusterfuck bar none. […] Brexit is the most important decision facing Britain since 1939, in my opinion.90

Die Radikalität seiner politischen Überzeugungen macht Ed jedoch auch zum Ansprechpartner der Geheimdienste. Selbst Mitarbeiter des britischen, ist er über das Projekt ‚Jericho‘, von dem er beim Kopieren geheimer Unterlagen erfährt, derart empört, dass er selbst Kontakt zum deutschen Geheimdienst sucht und, von diesem abgewiesen, vom russischen angesprochen wird. Nat sucht mithilfe der Verlobten Eds, der Geheimdienstmitarbeiterin Florence, diesen vor den Konsequenzen seines Handels zu schützen und arrangiert die gemeinsame Ausreise. Als Ed jedoch von Nats Anstellung beim Geheimdienst erfährt, bricht er die Freundschaft ab.91 Im unversöhnlichen Abschied der ehemaligen Freunde spiegelt sich die Differenz ihrer Weltsicht wider, die durch geteilte politische Überzeugungen und eine gemeinsame Ablehnung des Brexit zeitweise überwunden werden konnte. In Polit- und Agententhrillern wird der Brexit ebenso wie in Politsatiren als Resultat einer internationalen Verschwörung beschrieben. Sie kommt entweder durch das Machtstreben und die Manipulierbarkeit einzelner britischer Spitzenpolitiker zustande, die ihren persönlichen Gewinn über das Wohl ihres Landes stellen, oder durch das Streben nach wirtschaftlicher Gewinnmaximierung der britischen Regierung. Der Brexit wird als Eliteprojekt von Politikern und den Geheimdiensten Großbritanniens und anderer Länder dargestellt, nicht aber als das Resultat eines unabhängigen und unbeeinflussten Volkswillens.

88Ebd.,

S. 547. S. 103. 90Ebd., S. 145 f., vgl. S. 157 f. 91Ebd., S. 623 f. 89Ebd.,

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5 Der Brexit: Eine Politsatire im Spiegel der europäischen Literatur Der Brexit und das ihm vorangegangene Referendum werden nicht nur in Politthrillern thematisiert, sondern auch in Politsatiren, die explizit auf Vorbilder der europäischen Literatur rekurrieren und sich dadurch nicht nur in diese Tradition einschreiben, sondern auch ihren pro-europäischen Grundton offenbaren. Diesen literarischen Texten liegt entsprechend eine Befürwortung des Verbleibs in der EU zugrunde. Zu dieser Art der Politsatire ist The Cockroach von Ian McEwan zu zählen. Die Ich-Erzählung setzt mit einer Referenz auf Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung ein, die unter den Vorzeichen der Umkehrung zitiert wird, denn im Gegensatz zu Gregor Samsa, der sich als in ein Ungeziefer verwandelt erlebt, findet sich eine Schabe in der Haut des britischen Premierminister Jim Sams wieder. Die Schilderungen der Wahrnehmung der Metamorphose gleichen sich ebenso wie die Namen der Figuren. Durch die intertextuellen Verweise und Zitate knüpft McEwan ebenso an den Kanon der deutschsprachigen wie der europäischen Literatur und an die Deutungstradition der Erzählung Kafkas an wie an sämtliche Bedeutungsebenen des englischen Begriffs ‚Kafka-esque‘. Wie der MIT ihm verwandte deutsche, bezeichnet der Begriff zum einen intertextuelle Verweise, seien es wörtliche Zitate oder die Formulierung einer Situation, die mit den von Kafka beschriebenen übereinstimmt und ähnlich unangenehm, beängstigend, verwirrend oder existenzbedrohend ist. Dieser Definition entspricht McEwan durch die Struktur wie den Inhalt des ersten Kapitels seines kurzen Romans. Im weiteren Verlauf weichen Kafkas Erzählung und McEwans Roman zwar voneinander ab, doch der britische Schriftsteller orientiert sich an den anderen Bedeutungsebenen des Begriffs, indem er die Bürokratie des britischen Verwaltungsapparats und der Hochpolitik sowie die politische Entscheidungsfindung als gleichermaßen absurd und bizarr wie in ihren Konsequenzen trostlos und beängstigend sowie die Politiker als groteske Gestalten, in Menschen verwandelte Schaben, schildert. Politiker des „metamorphosed radical Cabinet“92 werden als Bedrohung des Staatswohls und der Bevölkerung gekennzeichnet, ohne dass zunächst die Gründe dafür – abgesehen von ihrer Schaben-Identität93 – genannt werden würden, gleichermaßen sehen sich andere Politiker und die Bevölkerung von der irrationalen Schaben-Verschwörung bedroht. Zudem werden Paranoia, Macht und Existenzkampf – auch der einer Nation – als zentrale Motive des Romans hervorgehoben. Schaben in Menschengestalt bestimmen in McEwans Roman den Verlauf der britischen Politik und der Desintegrations-Prozesse, sie kämpfen als Reverialists – die unschwer als Parodie der Brexiteers erkannt werden können – gegen die

92McEwan, 93Ebd.,

Ian: The Cockroach. London: Vintage 2019, S. 47 (eBook). S. 47 ff.

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Clockwisers – Parodien der Remainers – und bestimmen das Motto der Tagespolitik: „Hard Reversalism was mainstream. Too late to go back!“.94 Ian McEwan entwirft ein Konzept des Reversalismus, in dem die Gesetze der Wirtschaft und des Marktes auf den Kopf gestellt werden,95 und ein Bild der britischen Politik als Kampf um wirtschaftliche Vorherrschaft auf dem globalen Markt an der Seite Amerikas.96 Der Autor führt im zweiten Kapitel nicht nur die Auseinandersetzungen von Brexiteers und Remainers sowie die Diskussionen um Referendum und die Gestaltung des Brexit-Prozesses ad absurdum, sondern auch die Traditionen der politischen Auseinandersetzungen im Parlament und die Diskussionskultur.97 Im dritten Kapitel wirft er einen Blick auf die Folgen der Desintegration Großbritanniens und die Stilisierung europäischer Länder zu Feinden der Nation, wobei er die Idee einer Erbfeindschaft zwischen Großbritannien und Frankreich aufgreift: „In a difficult time such as this, the country needed a staunch enemy“.98 Zudem wirft er einen ironischen Blick auf die Beziehung Großbritanniens zu seiner ehemaligen Kolonie Amerika. Im vierten Kapitel streift der Autor die Problematik des Machtmissbrauchs und des sexuellen Übergriffs und damit die Me-Too-Diskurs in der Politik und den Medien. Er beschreibt die letzten politischen Manöver vor der Einreichung des ‚Reversalism Bill‘. Die Verwandlung des Gesetzesvorschlags in ein Gesetz „was, of course, a constitutional scandal, a disgrace“.99 Nachdem der Reversalismus als Gesetz angenommen worden ist, folgt die Rückverwandlung – revers – der Politiker in Schaben und die endgültige Aufdeckung der politischen Kampagne als Intrige der Schaben mit dem Ziel, die Menschheit zu schwächen. Der kurze Roman McEwans kombiniert unterschiedliche literarische Genres wie Politsatire oder Verschwörungsthriller und legt ihnen als Folie die Erzählung Kafkas zugrunde. Im Gegensatz zu Johnsons ‚realistischerem‘ Unterhaltungsroman, für den signifikant ist, dass die Vorbilder für die Figuren identifizierbar sind, und der dadurch mit dem Reiz einer Mimesis-Ästhetik spielt, zielt McEwan auf Verfremdung und artifizielle Überhöhung bis hinein ins Groteske, da er auf sämtliche Sinnebenen des Begriffs ‚Kafka-esque‘ anspielt. Ähnlich offensichtlich wie McEwan legt auch Lucien Young unter dem Pseudonym Leavis Carroll die literarischen Bezüge und das Vorbild von Alice in Brexitland offen, schon durch die Illustrationen, die einerseits stilistisch und bezüglich der Gestaltung der Figur Alice mit den Illustrationen, die John Tenniel Lewis Carrolls Alice in Wonderland beigegeben hat, übereinstimmen und andererseits auf Karikaturen von Politikern, die in das Brexit-Referendum und den

94Ebd.,

S. 48. ebd., S. 52 ff. 96Ebd., S. 60. 97Vgl. ebd., S. 77 ff. 98Ebd., S. 86. 99Ebd., S. 138. 95Vgl.

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daran anschließenden Prozess der Desintegration involviert sind, verweisen. Young drängt Carrolls Lust am undidaktischen Nonsense zurück zugunsten einer didaktischen Umwertung, indem er Carrolls Motive und Verkörperungen des Unlogischen aufgreift und sie bei der Beschreibung von Phänomenen instrumentalisiert, etwa der Angst vor Immigranten, eine allgemeine Xenophobie oder populistischen Formeln. Dadurch kennzeichnet er den Brexit als absurd. Nicht nur die bildliche Darstellung, sondern auch die Figurennamen sind vor der Folie der Tagespolitik in der Referendum-Zeit transparent: Der Alice in das scheinbar aussichtslose und gefährliche Brexit-Loch führende David Camerabbit ist leicht erkennbar als David Cameron, die in Rätseln sprechende und sich Fragen stets entziehende, wandelbare und passive Corbyn-Raupe als Jeremy Corbyn, die sich selbst als verrückt bezeichnende, bösartig wirkende, EU-feindliche, Verschwörungstheorien verbreitende, xenophobe, traditionelle Geschlechterbilder verbreitende Grinskatze (‚Cheshire Twat‘) als Nigel Farage, die Mitglieder der Teeparty als Verkörperungen der rechten Parteien Amerikas, beispielsweise des Hasen als Verkörperung der Tea-Party, der ständig tweetende, egozentrische, rücksichtslose und unhöfliche Trumpty Dumpty als Donald Trump, die unmoralischen Zwillinge Tweedleboz als Boris Johnson und der Tweedlegove als Michael Gove, der seinen Bruder rücklings zu erstechen sucht, und die allgemein unbeliebte, opportunistische, bedrohliche und gleichzeitig verunsicherte Queen of Heartlessness als Theresa May. Alle Politiker, gleich welcher Partei, ob Labour oder Tories, werden gleichermaßen negativ gezeichnet und als opportunistische Machtmenschen charakterisiert, die ihre eigenen Interessen über das Staatswohl stellen. Sie flüchten sich hinter formelhafte Propaganda-Parolen, ohne sich je auf eine Diskussion mit Alice, – die Verkörperung der nach Erklärungen suchenden und um auf Fakten beruhenden Informationen über die EU und die Motivation einer Anberaumung des Referendums ringende Bürgerin –, einzulassen. Selbst die stets die Figuren befragende, wissbegierige Alice ist keine reine Sympathieträgerin, denn auch sie zeigt sich anfällig für Propaganda. An ihr wird die Wirkungsmacht der Medien und von Medienmogulen wie Rupert Murdoch auf den leicht zu manipulierenden, uninformierten, naiven und emotional reagierenden Bürger veranschaulicht sowie die Mechanismen der Verbreitung von Fake News und der Lenkung der Sympathien der medienunkritischen Rezipienten.100 Politsatiren und Parodien wie Alice in Brexitland nutzen kanonisierte und ob ihrer anhaltenden Popularität allgemein bekannte und geachtete literarische Werke als Folie, um Kritik am politischen Tagesgeschehen und an politischen Entscheidungsträgern sowie den Medien zu üben. Die Referenzen auf stilistische und inhaltliche Kennzeichen der zitierten Werke, auf allgemein bekannte Motive und das Figurenpersonal ermöglichen eine prägnante Charakterisierung und reduzierte Beschreibung, um kritische Argumente zu vermitteln.

100Vgl. Carroll, Leavis (Lucien Young): Alice in Brexitland. London: Random House UK Ltd 2017, 19 ff., 75 f. (eBook).

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6 Der Brexit: Resultat und Ursprung von Migration In der Parodie Alice in Brexitland wird auch die Xenophobie, welche die Diskussionen um das Referendum und den Brexit stets begleitet, thematisiert. Die Angst vor einem überwältigenden Einbruch des Fremden, verstärkt durch die Immigration von Kriegsflüchtlingen, kann auch als einer der bestimmenden Faktoren bei der Entscheidung für einen Brexit identifiziert werden: In 2015, immigration became the paramount political issue in Europe […]. The impact of the crisis was felt in the United Kingdom, where wariness toward migrants almost certainly spelled the difference between success and failure for the 2016 Brexit referendum, an exercise in economic masochism that Britons will long regret.101

In Alice im Brexitland trifft Alice auf eine Gruppe von Tieren, die sich selbst als „the General Public“102 bezeichnen und auch den Einfluss der Immigration auf die Wirtschaft des Landes diskutieren. Der Igel, der sich gegen den Brexit ausspricht, weist auf den positiven Einfluss der Immigration auf das nationale Wirtschaftswachstum und die Finanzen hin. Er gibt einige Tatsachen zu bedenken, nämlich dass die Immigration generell zurückgeht, die Immigranten mehr Steuern einzahlen, als für sie ausgegeben wird und dass der Aufschwung der nationalen Wirtschaft vom Export abhängt, weshalb führende Wirtschaftswissenschaftler aussagen würden, dass der Brexit das Bruttoinlandsprodukt um 15 Prozent reduzieren würde.103 Der Gockel antwortet ihm mit einem unlogischen und irrationalen Hinweis auf eine alternative Faktenlage, die den Brexiteers bekannt sei.104 Alice unterbricht die Diskussion, indem sie sich als Neuling im Wald zu erkennen gibt und von den Brexiteers unter den Tieren als illegale Immigrantin identifiziert und unter Generalverdacht gestellt wird.105 Auf Alices Hinweis, dass sie auf ihrer Reise sterben hätte können, antwortet der Gockel: „And it would have served you right! […]. You’re probably a criminal, or worse, a health tourist!“106 Als das Kind auf die Verdächtigung, es wolle Einheimische vom Arbeitsmarkt verdrängen, antwortet, es sei noch keiner Arbeit nachgegangen, wird es als Arbeitslosengeldempfängerin identifiziert. Alice flieht die Gesellschaft, Parolen, die aus dem Wahlkampf der Brexiteers bekannt sind wie ‚Go back where you came from‘ oder ‚British jobs for British workers‘ im Ohr.107 Die Beschreibung erinnert nicht nur an die dem Referendum vorausgehenden Diskussionen und an die Wahlkämpfe der Remainers

101Albright, Madeleine/Woodward, Bill: Fascism. A Warning. London/New York/Toronto (u. a.): HarperCollins 2018, S. 372 f. (eBook). 102Young 2017, 28. 103Ebd., S. 30 f. 104Vgl. ebd., S. 31. 105Vgl. ebd., S. 31. 106Ebd., S. 31 f. 107Vgl. ebd., S. 32.

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und Brexiteers, sondern rekurriert auch auf die ausländerfeindlichen An- und Übergriffe nach dem Referendum. Und auch die Grinsekatze, Nigel Farage, offenbart sich als ausländerfeindlich.108 Der Zusammenhang von Brexit und Xenophobie wird vor allem in Politsatiren thematisiert. In Romanen und Erzählungen, die das Bild einer vom Streit um den Brexit zerrissenen Gesellschaft zeigen – auch in der Unterhaltungsliteratur, in der vor allem auf beziehungsinterne Dynamiken fokussiert wird109 – oder ein Nebeneinander von Parallelgesellschaften, deren Differenzen durch den Brexit offensichtlich geworden sind, ähneln die Schilderung der Desintegration und Verdrängung aus dem Wohnraum von Ausländern den Erfahrungen und Erlebnissen, die in den vergangenen Jahrzehnten in der ‚Migration Literature‘ beschrieben worden sind.110 Dementsprechend zeichnet auch Zadie Smith in Fences. A BrexitDiary ein Bild von London als Schmelztiegel der Kulturen und Inbegriff der modernen, ja postmodernen Großstadt, dessen Bewohner doch nicht vor Xenophobie gefeit sind, weshalb der Brexit-Streit die Inhomogenität der Weltsicht der Bewohner offenbart. Mit dem Eindruck, London sei „outward-looking city […] so different from these narrow xenophobic places up north“,111 spielt Smith auf das traditionelle Motiv einer grundsätzlichen Differenz von Peripherie und Zentrum, ländlichen Gebieten und Großstadt an. Doch dann veranschaulicht sie, auf welche Weise das Brexit-Referendum das Image der kosmopolitischen Weltstadt als Illusion entlarvt und die „painful truth […] that fences are being raised everywhere in London“112 zeigt, wodurch die gesellschaftlichen Verwerfungslinien, die Smith auch in Romanen wie NW oder Swing Time thematisiert, auch innerhalb der Großstadt sichtbar werden.113 Dennoch ähneln sich die in der ‚Migration Literature‘ beschriebenen Konflikte und Phänomene der Ausländerfeindlichkeit vor und nach dem Brexit.114 Der Brexit findet zwar aktuell noch

108Vgl.

ebd., S. 49 ff. Einfluss des Brexit auf Beziehungen wird vor allem in Liebesromanen, die im Internet kursieren, thematisiert, vgl. z. B. Talbot, Carolin Elizabeth: Cloudfänger. Für immer jetzt, tolino media ([email protected]) oder Valerie Menton: Leaving Britain (kmi. [email protected]). 110Ein Überblick wird beispielsweise gegeben in Ahmad, Dohra (Hg.): The Penguin Book of Migration Literature. Departures, Arrivals, Generations, Returns. London/New York/Toronto (u. a.): Penguin 2019 (eBook). 111Smith, Zadie: Fences. A Brexit Diary, in: The New York Review of Books (2016), URL: http:// www.nybooks.com/articles/2016/08/18/fences-brexit-diary/ (zuletzt abgerufen am 06.06.2020), o. S. 112Ebd., o. S. 113Ali Smith beschreibt in ihrem Roman Autuum ebenfalls den Bau eines Zauns, der die Spaltung, Aufspaltung und Abspaltung der Teile der Gesellschaft sowie einen xenophoben Gestus veranschaulicht, vgl. Smith, Ali 2016. 114Vgl. auch die Beschreibung Londons und der Gesellschaft Großbritanniens im Roman Exit West von Mohsin Hamid; Hamid, Moshin: Exit West. London/New York/Toronto (u. a.): Penguin 2019, insbes. S. 126 ff., 132 ff., 142 ff. oder 164 ff. (eBook). 109Der

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keinen umfassenden Niederschlag in der ‚Immigration Literature‘, beispielsweise indem der Beschreibung von Begleiterscheinungen, die ausschließlich für den Brexit und das Post-Brexit-Britain spezifisch sind, ein ganzer Roman gewidmet worden wäre, doch steht zu vermuten, dass ein Einfluss auf die Literatur wie die Autoren zu bemerken sein wird, wie ein Schriftsteller annimmt, denn „Brexit means that our national straitjacket- Englishness, not even Britishness – becomes much tighter and the value of a migrant’s perspective becomes increasingly discounted and devalued“.115

7 Zum Schluss. Der Brexit: Umbruch statt weiterer Krise der EU In diesem Artikel wurde durch einen kursorischen Blick gezeigt, wie facettenreich der Brexit in unterschiedlichen Genres thematisiert wird. Durch den Blick auf die zwei Medien wird deutlich, dass aktuell im literarischen Genre des Politthrillers bzw. der Politsatire und gerade im Film – und hier vor allem im Dokumentarfilm, der nicht in den Blick genommen worden ist – der Brexit nicht nur die Debatte über Krisenphänomene der EU und der Aushandlung der funktionalen Rationalität116 befeuert, sondern vor allem zu einem Nachdenken „über die Kapazität von Institutionen […], Konflikte auszuhalten und zu repräsentieren“117 anregt. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die meisten Werke eine proeuropäische Haltung und einen positiven Eindruck von einer Mitgliedschaft bei der EU widerspiegeln, einer positiven Deutung des Brexit wird zumeist nur Raum gegeben, wenn sie von einer negativen kontrastiert wird. Gemeinhin wird der Brexit verstanden als Wucherung eines gesamteuropäischen Rhizoms rechter Politik und Weltanschauung, das auch auf andere außereuropäische Länder wie die USA übergegriffen hat. Die Autoren stellen wiederholt dar, dass für Brexiteers Aussagen charakteristisch sind, die auch von rechten Parteien anderer Länder angesprochen werden und gewissermaßen einen Grundkonsens rechten Gedankenguts und rechter politischer Rede bilden. Einige der in der Literatur und im Film kritisierten zentralen Thesen der Brexiteers lassen sich daher folgendermaßen zusammenfassen: Die Liste der Themen liest sich wie ein Angstszenario vor wachsender Unübersichtlichkeit – von der Angst vor dem ‚Bevölkerungsaustausch‘ durch Fluchtbewegungen und Einwanderung überhaupt über den Generalverdacht gegen alles Islamische bis zur Kritik am 115Cheyette, Bryan: English literature saved my life, in: Robert Eaglestone (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. London/New York: Routledge 2018, S. 66–72, hier: S. 69 (eBook). 116Vgl. Thiel, Thorsten: Die Krise der Demokratie in Europa – und die Krise der Erforschung dieser Krise, in: Winfried Brömmel, Helmut König, Manfred Sicking (Hg.): Europa, wie weiter? Perspektiven eines Projekts in der Krise. Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 101–123, hier S. 118 (eBook). 117Ebd., S. 118.

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‚Genderwahn‘, wie es genannt wird; vom ‚Euro‘ als Symbol für den Verlust nationaler Souveränität über die Kritik an der Hochfinanz und der darin symbolisierten internationalen Verflechtung bis zur generellen Elitekritik; von Klimaskepsis über Kritik an der kulturellen und militärischen Westbindung bis zur generellen Medienkritik […]; von der Abwertung traditioneller Familienbilder bis zur Aufwertung abweichender Lebensund Liebesstile. Diese Liste ist tatsächlich eine Liste, deren Punkte sich auf typische Modernisierungsfragen kaprizieren […].118

Der Brexit wird folglich nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern auch in der ‚schönen‘ Literatur und im Film als Folge des Unbehagens an der Komplexitätssteigerung der Moderne gedeutet und als Anzeichen für einen Verdruss an der Moderne, die aufgrund der Flexibilität, des Facettenreichtums und den zahllosen Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten als überfordernd erlebt wird. Der Brexit scheint in diesem Sinne Anzeichen und Resultat eines „Überforderungssyndroms“119 zu sein. Zudem wird er in einigen Werken als Versuch gedeutet, aus der Prekarisierungsgesellschaft120 auszubrechen und die mit dieser Gesellschaftsform einhergehenden Unwägbarkeiten abzustreifen, vor allem die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit der Lebensverhältnisse, die sich aus der Aufhebung lebenslang normierter Arbeitsverhältnisse ergeben. Dieser Interpretation entsprechend wäre der Brexit als Bewältigungsstrategie und als Versuch, den Pluralismus zu reduzieren, zu verstehen. An den Brexit knüpft sich die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einer strukturierten, übersichtlichen, materielle Sicherheit und Kontinuität versprechenden, relativ konfliktarmen Weltordnung, die dem ‚goldenen Zeitalter‘ ähnlich ist. Als solches stellen Medien das Empire, auch in der Phase seines Zerfalls im viktorianischen und nach-viktorianischen Zeitalter vor dem Zweiten Weltkrieg dar. Sie beschreiben die Zeit zu Beginn des Jahrhunderts als eine, in der – im verklärenden und simplifizierenden Rückblick – konservative Werte, traditionelle Lebensweisen, Geschlechterverhältnisse und Familienbilder vorzuherrschen schienen – und das in einer hierarchisch gegliederten, jedoch nach oben durchlässigen Gesellschaft, die eine reduzierte Palette an Möglichkeiten der Lebensgestaltung vorsieht und relativ vorhersehbare, kalkulierbare Zukunftsperspektiven bietet. Zieht man zudem die Popularität von Medien, insbesondere von TV-Serien, die Übersichtlichkeit und klar erkennbare Strukturen thematisieren, in Betracht, lässt sich der Brexit als Versuch werten, die Differenziertheit der Moderne in vielen Bereichen des Lebens zurückzudrängen, zu reduzieren, wenn nicht gar aufzuheben und in einige wenige Optionen aufzulösen – auch wenn diese Vorstellung angesichts der Realität mit ihren globalen Vernetzungen als Wunschbild entlarvt werden kann. Da die globale Vernetzung nicht nur die Kultur, wie die BrexLit reflektiert, sondern auch die Wirtschaft bestimmt, werden die Entscheidung zum Brexit und der Brexit selbst nicht nur

118Nassehi

2016, S. 5. S. 7. Vgl. auch Ali Smith 2016, S. 197. 120Vgl. Marchart, Oliver: Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung. Bielefeld: transcript Verlag 2013 (eBook). 119Ebd.,

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in Literatur und Film beschrieben als „an exercise in economic masochism that Britons will long regret. Grumbling about their marriage to the EU and threatening to leave gave the British leverage at the bargaining table; calling their own bluff and filing for divorce has left them with none“.121

Literatur Ahmad, Dohra (Hg.): The Penguin Book of Migration Literature. Departures, Arrivals, Generations, Returns. London/New York/Toronto (u. a.): Penguin 2019 (eBook). Albright, Madeleine/Woodward, Bill: Fascism. A Warning. London/New York/Toronto (u. a.): HarperCollins 2018 (eBook). Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London/New York: Verso 2006. Becker, Jurek: „Am Strand von Bochum ist allerhand los“. Postkarten, hg. von Christine Becker. Berlin: Suhrkamp 2018 (eBook). Brand, Alexander: Medien Diskurs Weltpolitik. Wie Massenmedien die internationale Politik beeinflussen. Bielefeld: transcript Verlag 2012 (eBook). Carré, John le: Agent running in the Field. London/New York/Toronto (u. a.): Penguin 2019 (eBook). Carroll, Leavis (Lucien Young): Alice in Brexitland. London: Random House UK Ltd 2017, 19 ff (eBook). Cartwright, Anthony: The Cut. London: Peirene Press 2017. Cheyette, Bryan: English literature saved my life, in: Robert Eaglestone (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. London/New York: Routledge 2018, S. 66–72 (eBook). Cook, Timothy: Governing with the News. The News Media as a Political Institution. Chicago: University of Chicago Press 1998. Dakowska, Dorota/Rowell, Jay: Gibt es einen nationalen Effekt? Zeitlichkeit und historische Erfahrungen bei den Grundeinstellungen zu Europa, in: Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lasalle, Jay Rowell (Hg.): Das Europa der Europäer. Über die Wahrnehmung eines politischen Raums, übers. von Franz Weigand und Markus Merz. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 137–158 (eBook). Eaglestone, Robert: Introduction. Brexit and literature, in: Ders. (Hg.): Brexit and Literature. Critical and Cultural Responses. London/New York: Routledge 2018, S. 1–6 (eBook). Heer, Sebastian: Politischer Mythos, Legitimität und Ordnungskonstruktion, in: Werner J. Patzelt (Hg.): Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 99–126 (eBook). Jörissen, Benjamin: Beobachtungen der Realität. Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der neuen Medien. Bielefeld: transcript Verlag 2007 (eBook). Johnson, Stanley: Kompromat. A Brexit Affair. London: Oneworld Publications 2017 (eBook). Jones, Martin/Orford, Scott/Macfarlane, Victoria (Hg.): People, Places and Policy. Knowing contemporary Wales through new localities. London/New York: Routledge 2016. Jordanova, Ludmilla: The Practice of Cultural History in Britain, in: Jörg Rogge (Hg.): Cultural History in Europe. Institutions – Themes – Perspectives. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 63–78 (eBook).

121Albright/Woodward

2018, S. 373.

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M. N. Raß

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